Aufnahmen und Zuschreibungen: Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche [1. Aufl.] 9783839424919

Cross-media references between literature and photography have always been accompanied by a problematic assumption of tr

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Table of contents :
Inhalt
Abgrenzen durch Angrenzen
Zeichenstatus von Fotografie und Literatur
Fotografie zwischen Index und Ikon
Parameter der Aufnahme I: ›Arché‹
Parameter der Aufnahme II: Das fotografische ›Off‹
Abdruck kommt von abdrücken
Literatur zwischen Index und Symbol
Intention und Konvention
Medialität und Schreibprozess
Handarbeit
Chiastisches Verhältnis von Fotografie und Literatur
Kreuzung der Medien
Intermediale Bezüge mit (inter)materiellen Konsequenzen
Materialästhetische historische Linie
Primat des Signifikanten: Denis Roche und Georges Perec
Selbstauslöser und Sofortbild
Situationen (v)erfassen: Zwei exercices d’épuisement
Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Roche
Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Perec
Präsenzeffekte durch sprachliche Materialität
Perecs Antwort auf Roches Dépôts
Primat des Signifikats: Marcel Proust
Porträtfotografie um 1900
Fotografie und Eigenname
Sprachrealien mit fotografischer Referenz
Primat des Referenten: Gustave Flaubert
Pleinairfotografie um 1850
Die Wanzenformel
Verortung von Gesprochenem
Angrenzen durch Abgrenzen
Literaturverzeichnis
Danksagung
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Aufnahmen und Zuschreibungen: Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche [1. Aufl.]
 9783839424919

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Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen

Lettre

Johanne Mohs (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Bern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind intermediale Bezugnahmen zwischen Literatur und Fotografie, europäische Avantgarden sowie mediale Materialität in zeitgenössischer Kunst.

Johanne Mohs

Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Hochschule der Künste Bern.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Urheber: Georges Perec, Erscheinungsort: Paris, Jahr: 1979; © Ela Bienenfeld. Die Fotografie ist Teil einer Serie mit dem Titel »39 polaroïds« Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2491-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Abgrenzen durch Angrenzen | 7 Zeichenstatus von Fotografie und Literatur | 15

Fotografie zwischen Index und Ikon | 17 Parameter der Aufnahme I: ›Arché‹ | 20 Parameter der Aufnahme II: Das fotografische ›Off‹ | 26 Abdruck kommt von abdrücken | 31 Literatur zwischen Index und Symbol | 35 Intention und Konvention | 38 Medialität und Schreibprozess | 41 Handarbeit | 46 Chiastisches Verhältnis von Fotografie und Literatur | 53

Kreuzung der Medien | 55 Intermediale Bezüge mit (inter)materiellen Konsequenzen | 59 Materialästhetische historische Linie | 65

Primat des Signifikanten: Denis Roche und Georges Perec | 71

Selbstauslöser und Sofortbild | 73 Situationen (v)erfassen: Zwei exercices d’épuisement | 82 Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Roche | 85 Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Perec | 99 Präsenzeffekte durch sprachliche Materialität | 112 Perecs Antwort auf Roches Dépôts | 124 Primat des Signifikats: Marcel Proust | 131

Porträtfotografie um 1900 | 139 Fotografie und Eigenname | 152 Sprachrealien mit fotografischer Referenz | 169 Primat des Referenten: Gustave Flaubert | 187

Pleinairfotografie um 1850 | 196 Die Wanzenformel | 207 Verortung von Gesprochenem | 213

Angrenzen durch Abgrenzen | 225 Literaturverzeichnis | 237 Danksagung | 255

Abgrenzen durch Angrenzen

In einem frühen Aufsatz über das Verhältnis von Literatur und Fotografie vermutet Franz-Joseph Albersmeier, die Hypothese eines Einflusses der Fotografie auf die literarische Produktion werde eine Fata Morgana bleiben.1 Unterdessen scheint sich das Gegenteil herausgestellt zu haben, doch seine Metapher des Trugbildes bleibt, wenn auch in anderer Hinsicht, symptomatisch für viele Untersuchungen zum Thema Literatur und Fotografie: Sie sehen Fotos, wo im Grunde nur Texte vor Augen liegen. Das Bild der Fata Morgana begleitet insofern ein doppeltes Referenzproblem der Intermedialität von Literatur und Fotografie: einerseits die lebensweltliche Referenz, das heißt die Bezugnahme des jeweiligen Mediums auf die außermediale Wirklichkeit und andererseits die intermediale Referenz, das heißt die Bezugnahme der beiden Medien untereinander. Sofern die intermediale Referenz sich auf der Ebene der ›histoire‹, auf der inhaltlichen Ebene der Darstellung abspielt, stellt die lebensweltliche Referenz des jeweiligen Ausgangsmediums selten ein Problem dar. Die Bezugnahme kann dann etwa die Form einer Anspielung, einer Beschreibung oder eines Motivs haben.2 Erst wenn die intermedialen Bezüge auf der Ebene des ›discours‹, auf der Ebene der Schreib- beziehungsweise Darstellungsweise ablaufen, wird meist auch die lebensweltliche Referenz der beiden Medien auf die Probe gestellt. Aus literarischer Perspektive zeigen sich bei intermedialen Bezügen auf die Fotografie zwei Aspekte, die ebenfalls in der Trugbildmetapher anklingen: einerseits die Differenz, andererseits die Konkurrenz von Literatur und Fotografie. Spra-

1

Vgl. Albersmeier 1984: 6.

2

Mit ihrer Zusammenstellung von Texten, die von Fotografien oder Fotografen handeln, verfolgt etwa Jane Rabb eine solche Perspektive (vgl. Rabb 1995). Auch die Untersuchung Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung von Erwin Koppen ist in weiten Strecken motivgeschichtlich ausgerichtet (vgl. Koppen 1987).

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che ist maßgeblich über ein Ideenverhältnis zur Lebenswelt organisiert, Fotografie hingegen über ein Ähnlichkeits- und Verweisverhältnis. Ebendieser Unterschied ist in historischer Hinsicht häufig Ursache für eine unterschwellige Medienkonkurrenz gewesen, die in der Geschichte der Literatur seit der Entdeckung der Fotografie stillschweigende Aneignungs- und lautstarke Absetzungsstrategien hervorgebracht hat. Denn die apparativ geregelte fotografische Bezugnahme von Referent und Bildträger gab literarisch immer wieder Anlass dazu, das technische Medium abzuwerten. Die durch die Kamera erreichte Transparenz war gleichwohl der Auslöser für eine Rivalität um die wirklichkeitsgetreuere Darstellung.3 Die vorliegende Untersuchung dreht sich im weitesten Sinne um die Problematik der Mediendifferenz, wohingegen die Frage nach der Konkurrenz zwischen Literatur und Fotografie nur beiläufig eine Rolle spielen wird. Bedingt durch eine materialästhetische Perspektive auf die Problematik realistischer Darstellungsweisen sollen Phänomene in den Blick genommen werden, die gerade nicht auf einer durchsichtigen Übertragung beruhen und damit nicht an dem Hebel ansetzen, der das Wetteifern um ein Höchstmaß an Ähnlichkeit immer wieder ausgelöst hat. Im Laufe der Untersuchung wird sich vielmehr herauskristallisieren, dass die fotografisch geprägte lebensweltliche Referenz der Texte ein Hervortreten der sprachlichen Medialität zur Folge hat. Sprache tritt dabei als Teil der dargestellten Wirklichkeit hervor, anstatt hinter einer von ihr evozierten Wirklichkeit oder Weltauffassung zu verschwinden. Nicht intermediale Überbietungsstrategien sollen näher in den Blick genommen werden, sondern Annäherungen und Reibungen zwischen den beiden Medien. Daneben hat die Untersuchung auch eine diachrone Dimension, da es darum gehen wird, eine Linie von intermedialen Bezugnahmen auf die Fotografie in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts auszumachen, die von Gustave Flaubert bis zu Tel Quel und OuLiPo reicht. Ohne einen wirklichen Verlauf darzustellen, lässt sich diese Linie als intermedial profilierte Revision eines inspirationsund vorstellungsbasierten zugunsten eines verfahrens- und erfahrungsbasierten Schaffensbegriffs mit materialästhetischen Konsequenzen beschreiben. Da zwei Schreibübungen von Denis Roche und Georges Perec Modellcharakter für zwei Ausformungen dieser Linie haben – historisch müsste man sie als deren Zuspitzung auffassen – verläuft die Analyse entgegen der literaturgeschichtlichen Chronologie. Der textanalytische Teil der Studie beginnt demnach mit den jüngsten Texten und endet mit den ältesten Texten.

3

Philippe Ortel spricht etwa davon, dass die Fotografie im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem uneingestandenen Modell der Literatur geworden sei (vgl. Ortel 2002a: 20). Siehe auch Daniel Fuldas Ausführungen zu literarischen Absetzungsstrategien von der Fotografie in der Gegenwartsliteratur (Fulda 2009: 401-433).

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Die beiden für den Untersuchungszusammenhang modellartigen »exercices d’épuisement«4 von Denis Roche und Georges Perec wenden zwei In-situ-Schreibtechniken an, die sich über die Koordinaten des fotografischen Akts5 begreifen lassen und anhand der Begriffe ›Aufnahmen‹ und ›Zuschreibungen‹ erläutert werden können. Denis Roches Dépôts de savoir & de technique6 basieren auf einem Aufnahmeprinzip, das die Einspeisung von bestehenden Spracherzeugnissen in ein spezifisches Schreibformat regelt und dadurch Texte erzeugt, die der Autor als Porträts von Personen versteht. Die Vor-Ort-Entnahme der sprachlichen Komponenten des Porträts, das heißt die Berücksichtigung von vollzogener Sprache bei der schriftlichen Erfassung von Personen, zieht einen Realzusammenhang nach sich, der den Texten einen hohen Grad an Unmittelbarkeit einbringt. Fotografien vergleichbar, werden diese Texte an einem bestimmten Hier und Jetzt wortwörtlich aufgenommen oder auch aufgesammelt. Für den Untersuchungskontext werfen die Dépôts de savoir & de technique von Roche die Frage nach einem literarischen Umgang mit ›Sprachrealien‹ auf und stellen eine Form des Niederschlags flüchtiger Sprache im Prozess des Schreibens zur Disposition. Sie führen ›Präsenzeffekte‹7 vor, die sich weder zeitlich noch historisch verorten lassen und von einer Teilnahme an Begebenheiten bedingt werden. Im Gegensatz zu der Textsorte von Roche wird die exemplarische Schreibübung von Georges Perec tatsächlich vor Ort verfasst, das heißt niedergeschrieben und nicht aufgesammelt. In seiner Tentative d’épuisement d’un lieu parisien8 appliziert der Autor den Be- und Gegebenheiten in seinem Wahrnehmungsradius einzelne Wörter oder Sätze – er schreibt ihnen Sprache zu. Diese Zuschreibungen bedienen 4

Vgl. Roche 1980: 16.

5

Der Begriff des fotografischen Akts bezieht sich auf ein Fotografieverständnis, bei dem die Genese der Fotografie notwendigerweise das fotografische Bild bestimmt. Philippe Dubois spricht von der Fotografie auch als einem Dispositiv, das die Entstehung und Rezeption des Bildes aber auch das Bild und seine bildgebenden Verfahren umfasst (vgl. Dubois 1990: 9).

6 7

Vgl. Roche 1980. In seinem Buch Diesseits der Hermeneutik betont Hans Ulrich Gumbrecht, dass die »›Produktion von Präsenz‹ keineswegs die Dimension der Interpretation und der Sinnproduktion abschafft« und plädiert für eine »Gleichzeitigkeit von Präsenzeffekten und Sinneffekten« (Gumbrecht 2004: 34). Gumbrecht versteht unter Präsenz eine physische Nähe und Greifbarkeit, an der man nicht festhalten kann (vgl. ebd.: 77). In seiner Aufsatzsammlung Präsenz lässt sich nachvollziehen, wie er diesen Begriff von Präsenz zwischen 1984 und 2004 als ein Phänomen ausdifferenziert hat, das sich im Wechselspiel von Raum, Körpern und Dingen vollzieht (vgl. Gumbrecht 2012).

8

Vgl. Perec 1990.

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sich zwar sprachlicher Konventionen – es werden etwa keine neuen Wörter für die Notiznahme von Dingen erfunden – jedoch tragen die Anordnungen der Wörter in Listen und Blöcken zu dem Eindruck von Arretierungen oder Erfassungen simpler Abläufe bei. Dementsprechend wird die Frage nach der Verankerung von Beschreibungen in der Wirklichkeit bei Perec von einer anderen Warte aus gestellt als bei Roche, aber, genau wie bei ihm, nicht im Sinne von historisch nachweisbaren Datierungen. Sie geht von der zeit-räumlichen Position des Schreibenden zu dem beschriebenen Gegenstand aus und stellt zur Diskussion, inwieweit sich Schreiben mit Erfahr- und Wahrnehmbarem synchron setzen lässt. Insofern strebt seine Übung schriftliche Momentaufnahmen von Begebenheiten am Ort des Schreibens an. Die beiden von Roche und Perec radikalisierten Schreibformen liefern die Eckdaten für die Präsenzeffekte, die daraufhin anhand fiktiver Texte in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen analysiert werden sollen. Im Rahmen des Analyseteils erweisen sie sich so gesehen als Musterfälle für die darauffolgende Untersuchung der Romane. Es wird davon ausgegangen, dass die untersuchten Texte einen Präsenzgehalt aufweisen, der sich jeweils auf die oben skizzierten Strategien zurückführen lässt. Aufnahmen und Zuschreibungen sollen hier also Schreibweisen bezeichnen, die am fotografischen Akt ausgerichtet sind und Irritationen oder Verschiebungen sprachlicher in Richtung fotografischer Referenz zur Folge haben. Entscheidend für diese Mischform des Textbezugs ist der Realzusammenhang mit den beschriebenen Elementen. Das Verhältnis von Fiktion und Lebenswelt oder auch Repräsentation und Repräsentiertem kann in den vorliegenden Fällen demnach nicht als Entsprechung oder Nachbildung verstanden werden – es hat vielmehr den Charakter einer Durchdringung. Entgegen der im traditionellen Realismusverständnis verankerten Vorstellung, Literatur könne Realität transparent abbilden wird hier die Rede davon sein, dass die Texte Gegebenes (im chemischen Sinne des Wortes) abbinden. Die Bezugnahme auf den fotografischen Akt festigt dabei eine Schreibweise, bei der Sprache und Wirklichkeit »literarisch abgemischt« werden, indem die Materialität von Sprache im Dienst der Wirklichkeitsillusion steht. Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Literatur und Fotografie in den 1980er Jahren ist vorrangig der Zusammenhang zwischen der Erfindung des neuen Mediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen des literarischen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht worden. Besonders im offiziellen Entdeckerland der Fotografie, in Frankreich,9 aber auch dort, wo sie sich früh als massentaugliches 9

Die Experimente von Louis Daguerre wurden dem Pariser Parlament 1839 von François Arago vorgestellt und der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Zeitgleich experimentierten in Frankreich etwa auch Joseph Nicéphore Niépce oder Hippolyte Bayard und in England William Henry Fox Talbot mit Verfahren zur Fixierung optisch erzeugter Lichtbilder (zu den Erfindern und dem Erfindungsdatum siehe Kemp 2011: 13ff.).

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Dokumentations- und Porträtmedium durchsetzte, werden auf verschiedensten Ebenen Wechselwirkungen zwischen der für damalige Verhältnisse verblüffenden Realitätsnähe der Fotografien und dem Objektivitätsanspruch bei der Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse im Realismus beobachtet. Dazu geben sowohl die Ansprüche der Autoren selbst Anlass, wie etwa Balzacs Aussage, er verfolge mit der Comédie Humaine die Absicht, die zeitgenössische Gesellschaft zu »daguerreotypisieren«10 oder zu kopieren,11 als auch der Stellenwert, den die Fotografie als Bezugsmedium im ästhetischen Diskurs hatte. Den Kunst- und Literaturkritikern galt sie einerseits als positive Vergleichsgröße für eine neutrale und detailreiche Wiedergabe der Wirklichkeit, andererseits als negative Vergleichsgröße für leblose Natur- und Gesellschaftsbeschreibungen. Je nach Lagerzugehörigkeit war es folglich ein lobendes oder vernichtendes Urteil, wenn Kritiker Romane als Aneinanderreihungen von Fotografien bezeichneten. Die vielschichtige Rolle der Fotografie in der damaligen Debatte um den Gehalt und die Aufgabe von Kunst hat wiederum Einzug in die literarische Produktion gefunden. Das äußert sich etwa in Anspielungen, fotografischen Metaphern oder auch Karikaturen fotografischer Topoi. Die Untersuchungen, die sich diesem Phänomen widmen, setzen meist einen diskursanalytischen Blickwinkel an oder begegnen ihrem Gegenstand, wie Irene Albers, als diskursive Intermedialität.12 Albers etabliert diesen Forschungsansatz in ihrer umfangreichen Studie zu Émile Zola. Nahezu zeitgleich entwickelt aber auch Philippe Ortel in seiner Überblicksdarstellung La littérature à l’ère de la photographie eine ähnliche, zeitlich allerdings schon in der Romantik ansetzende Perspektive.13 Eine Vielzahl weiterer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen beschäftigt sich ebenfalls mit fotografischen Aspekten des Realismus, allerdings unter anderen Prämissen. Für einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz sei vor allem auf Bernd Stieglers Buch Philologie des Auges verwiesen, in dem er eine fotografisch modifizierte Ästhetik des Blicks für das 19. Jahrhundert ausmacht, die sich auch in der Literatur niederschlägt.14 Darstellungsästhetisch orientiert und auf Beschreibungs10 Balzac macht diese Aussage im »Préface de l’édition de 1844« der Splendeurs et misères des courtisanes (zitiert bei Ortel 1997: 56). 11 Vgl. Balzac 1971: 236. Zum Bezug von Balzacs Werk auf Diorama und Daguerreotypie siehe Ortel 2002a: 198ff. 12 Vgl. Albers 2002: 28ff. Siehe auch Albers 2000: 81ff. Indirekt geht auch Michael Neumanns Untersuchung von einer diskursiven Intermedialität aus, da er eine kulturhistorische Verortung des Fotografischen anhand des Metaphernfelds vornimmt, das in der Literatur zum Verständnis des Phänomens Fotografie ausgebildet wurde (vgl. Neumann 2006). 13 Vgl. Ortel 2002a. Siehe auch Ortel 2000: 19ff. 14 Vgl. Stiegler 2001. Für wahrnehmungstheoretische Untersuchungen, die sich auf deutschsprachige Literatur begrenzen, siehe auch Krauss 1999 und Becker 2010.

12 | A UFNAHMEN UND ZUSCHREIBUNGEN

techniken fokussiert, die eine Durchsicht auf die beschriebenen Dinge anstreben, ist dagegen etwa Annika Spiekers Dissertation zu Zola.15 Die Frage nach fotografischer Mimesis für die Herausbildung charakteristischer realistischer Schreib- und Erzählweisen wie etwa Detailfülle, objektive und unpersönliche Erzählinstanz, Blickführungen oder Beschreibungen von Ausblicken, bevorzugt mit Rahmungen, beispielsweise aus einem Fenster, spielt, je nachdem, eine mehr oder weniger prominente Rolle in den Untersuchungen zum Fotografischen in der Literatur des Realismus und Naturalismus.16 Darüber hinaus hat das Verhältnis von Literatur und Fotografie im 19. Jahrhundert auch in der Reiseliteratur einen wichtigen Part. Wie Marta Caraions ausführliche Abhandlung Pour fixer la trace zeigt, finden Literatur und Fotografie in Reisebeschreibungen früh zusammen und ergänzen oder unterlaufen einander in Bezug auf den gleichen Gegenstand. Hier werden die beiden Medien in Form von fotografisch illustrierten Texten miteinander kombiniert oder aber, wie im Fall von Maxime Du Camps Orientreise in der Jahrhundertmitte, die gleichen Erlebnisse sowohl fotografisch als auch literarisch verarbeitet.17 Romane und Erzählungen, die mit Fotografien illustriert sind, werden dagegen erst um die Jahrhundertwende relevant18 und gehören dementsprechend maßgeblich zu dem Untersuchungsbereich von Literatur und Fotografie, der sich in Bezug auf den Symbolismus mit etwa Georges Rodenbachs Bruges-la-Morte oder in Bezug auf den Surrealismus mit André Bretons Nadja herausgebildet hat.19 In beiden Beispielen ergänzen die beigefügten Fotografien die Handlung weniger, als dass sie einen zusätzlichen, tendenziell verrätselnden Zugang zu ihren städtischen Szenerien eröffnen. Auch insgesamt beginnt die Literatur mit der Jahrhundertwende zunehmend einen Bezug über das Unsichtbare zur Fotografie aufzubauen: Während die Fotos bei Rodenbach und Breton noch Schauplätze oder Stimmungen wiedergeben, die latent auch in den Texten herrschen, gewinnt die Fotografie allgemein als poetische Denkfigur an Bedeutung. Sie bildet dann einen wichtigen Angelpunkt für Literaturbegriffe, die um Erinnerungsprozesse kreisen oder auf Erkundungen des Verborgenen und Abwesenden beruhen. Zu diesem Ergebnis kommen etwa Studien

15 Vgl. Spieker 2008. 16 Siehe beispielsweise Ortel 2002b: 93ff., Stiegler 2005: 41ff. oder Kelly 1991: 198ff. Weitere Beispiele für Untersuchungen zum Realismus folgen in dem Kapitel zu Gustave Flaubert. 17 Vgl. Caraion 2003, siehe auch Méaux 1998: 169ff. und Méaux 2001a: 55ff. 18 Siehe etwa Amelunxen 1985: 85ff., Albers 2003: 333ff., Grojnowski 2005: 171ff. oder Baetens/van Gelder 2006: 257ff. 19 Siehe etwa Kapitel II in Grojnowski 2002: 91ff., Edwards 2000: 71ff. oder Asholt 2006: 123ff.

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über die Poetik von Proust, Perec oder Marguerite Duras20 oder aber Untersuchungen zur Funktion der Fotografie in Autobiographien.21 Abgesehen von den vielen Ausformungen des Gegenstandsbereichs Literatur und Fotografie sowie den vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, mit denen er anvisiert wird, lässt sich an seinen gut dreißig Jahren Forschungsgeschichte eine deutliche Steigerung des Interesses ablesen. Die Zahl der Untersuchungen zur Problematik der Wechselwirkungen zwischen Literatur und Fotografie nimmt immer noch zu22 und in Frankreich wird die Anerkennung eines »phénomène photo-littéraire«23 inzwischen apodiktisch als eigenes Studiengebiet eingefordert.24 Wäre die 1992 von Eric Lambrechts herausgegebene Bibliographie Photography and Literature25 fortlaufend konzipiert, hätte sie inzwischen mit Sicherheit weitere Bände hervorgebracht. Wissenschaftlich hat das Verhältnis von Literatur und Fotografie also eine ähnliche Entwicklung hinter sich wie zuvor schon künstlerisch: Nach einer hartnäckigen Phase der Marginalisierung der stillschweigend vollzogenen Annäherung von Literaten an die Fotografie,26 kam es nach einer zögerlichen Offenlegung der Gemeinsamkeiten zu einer regen und produktiven Anerkennung des schon seit der Erfindung der Fotografie währenden intermedialen Austausches. Die von Albersmeier zu Beginn des wissenschaftlichen Interesses an der Thematik geäußerte Befürchtung, die Hypothese des Einflusses der Fotografie auf die Literatur werde eine Fata Morgana bleiben, würde heute in dieser Form niemand mehr äußern. Ohnehin ist es sicherlich sinnvoller, von Wechselwirkungen zu sprechen als von einer einseitigen Einwirkung, da literarische Verbreitungs- und Darstellungsformen der Fotografie zu ihrer künstlerischen Legitimierung genau so verholfen haben27 wie foto-

20 Siehe zu Duras etwa Méaux 2001b: 148ff., Sperti 2005 oder Roche 2009. Beispiele für Untersuchungen zu Perec und Proust folgen in den entsprechenden Kapiteln. 21 Siehe etwa Méaux/Vray 2004, Chauvin-Vileno 2002: 137ff. oder Montémont 2008: 43ff. 22 Die Anzahl der Einträge in Klapps Bibliographie zur französischen Literaturwissenschaft hat sich seit der Einführung des Stichworts »Photographie (et littérature)« im Index Rerum vervielfacht: von zwei Einträgen im Jahre 1981 zu 47 Einträgen im Jahre 2009 (vgl. Klapp 1981-2009). 23 Montier 2008: 11. 24 Vgl. Collomb 2009. Paul Edwards Buch Soleil noir folgt ebenfalls dieser Tendenz der letzten Jahre, die sich um eine Emanzipierung der Wechselwirkungen zwischen Fotografie und Literatur bemüht. Dafür spricht der Titel der Einführung »Qu’est-ce la photolittérature?« und das zweihundert Seiten starke »Répertoire de la photolittérature par auteur« (vgl. Edwards 2008: 9ff., 347ff.). 25 Vgl. Lambrechts 1992. 26 Vgl. Ortel 1997: 58. 27 Vgl. Brunet 2009.

14 | A UFNAHMEN UND ZUSCHREIBUNGEN

grafische Präsentations- und Abbildungsformen der Literatur zu einer produktiven Revision ihrer althergebrachten Parameter.28 Im theoretischen Teil der nachfolgenden Untersuchung wird das Verhältnis der beiden in die Fragestellung involvierten Medien zunächst entlang der eingangs genannten doppelten Referenzproblematik, der lebensweltlichen und der intermedialen Referenz, aufgeschlüsselt: Das erste Unterkapitel des ersten Kapitels erörtert die Relation von Referent, Darstellung und Produktionsprozess in der Fotografie, während das zweite Unterkapitel des ersten Kapitels die Relation von Referent, Darstellung und Produktionsprozess in der Literatur diskutiert. Im zweiten Kapitel wird daraufhin die intermediale Referenz zwischen den beiden Medien genauer eingegrenzt und charakterisiert. Die in den ersten beiden Kapiteln medienspezifisch dargelegte lebensweltliche Referentialität orientiert sich an dem je unterschiedlich gelagerten Zeichenstatus der beiden Medien, wobei die Frage nach der Zeichenhaftigkeit anhand der Konventionalität von Fotografie und Literatur aus produktionsästhetischer Perspektive enggeführt werden soll. Dementsprechend werden sowohl die per se gegebenen medialen Konventionen in Form von instrumentellen und verfahrenstechnischen Vorgaben diskutiert als auch der Umgang mit ihnen im fotografischen Akt sowie im Schreibprozess. Hier deutet sich die Indexikalität der beiden Medien bereits als Potential einer intermedialen Schnittmenge an, welches im darauffolgenden Kapitel genauer dargelegt werden soll. Denn der Mangel an Konventionalität der Fotografie und die Sollbruchstellen sprachlicher Konventionalität bilden über die Indexikalität eine Grenze aus, die sowohl Trennlinie als auch Verbindungsnaht sein kann. Anschließend wird die diachrone Richtung der Untersuchung in den Analysekapiteln eingeschlagen. Jedes der Kapitel beginnt mit einer Einführung in ein fotografisches Verfahren, das die jeweils im Zentrum der Überlegungen stehenden Autoren kennengelernt haben. Sie klären beispielhaft über die technische Entwicklung der Fotografie und die damit einhergehenden Konventionen des fotografischen Akts auf. Daraufhin wird die Poetik der Autoren jeweils auf ihren mehr oder weniger expliziten fotografischen Gehalt hin untersucht, um dann exemplarisch sprachmaterielle Anhaltspunkte für die intermedialen Bezüge in ihrer Schreibpraxis ausmachen zu können. Schließlich wird am Anfang der Kapitel auch immer über den Stand der Forschung zu fotografischen Bezugnahmen im Werk des betreffenden Schriftstellers informiert.

28 Siehe hierzu auch Albers’ Überblicksdarstellung in ihrem Lexikonartikel zum Fotografischen in der Literatur (Albers 2001a: 534ff.).

Zeichenstatus von Fotografie und Literatur

In der Hochphase dekonstruktivistischer Denkansätze in den 1960er und 1970er Jahren lässt sich eine gegenläufige Tendenz der Diskussionen um den Zeichenstatus von Fotografie und Literatur ausmachen. Sie haben zwar einen gemeinsamen Ausgangspunkt, aber unterschiedliche Konsequenzen. In beiden Fällen ist man damit beschäftigt, die Transparenz der Repräsentationsweisen zu hinterfragen – in dem einen Fall mit dem Ergebnis, die Konventionalität des Mediums zu stärken, im anderen Fall mit dem Ergebnis, sie zu schwächen. Während man der Fotografie ihren Status als natürliches Zeichen abspricht und an ihrer vermeintlich absoluten Mimesis zweifelt, beginnt man die seit de Saussure gefestigte Arbitrarität sprachlicher Zeichensysteme als unzulänglich zu erachten. Die Dekonstruktion des Mediums Fotografie wurde zunächst von einem polemischen Diskurs über ihren ideologischen Gehalt in Gang gesetzt. Nachdem sich Misstrauen gegenüber der objektiven fotografischen Reproduktion der empirischen Wirklichkeit verbreitet hatte, wurde sie gezielt als politisch instrumentalisierte Bildtechnik entlarvt. Diese kritische Haltung setzte eine Revision des fotografischen Realismus voraus. Anstatt die transparente Abbildung der Realität als eine mediale Eigenschaft zu verstehen, wurde sie von Autoren wie Pierre Bourdieu als ein gesellschaftlich bedingter Realitätsglaube angeprangert. Die Fotografie wäre demnach kein per se objektives Reproduktionsmedium. Vielmehr hätte sich seit ihrer Erfindung die Übereinkunft durchgesetzt, fotografische Bilder als transparente Wiedergabe der Realität zu betrachten. Die ideologisch orientierte Dekonstruktionsfraktion einigte sich somit darauf, dass der Fotografie ihr Realismus zugeschrieben worden sei und auf einem Objektivitätsglaube beruhe, der beispielsweise im Journalismus oder in der Werbung gezielt zu Täuschungszwecken ausgenutzt werde.1

1

Siehe Dubois 1990: 41ff. Dubois beobachtet ideologisch motivierte Dekonstruktionsansätze an Autoren wie Hubert Damisch, Pierre Bourdieu, Jean-Louis Baudry und den Beiträgern der Cahiers du cinéma.

16 | A UFNAHMEN UND ZUSCHREIBUNGEN

Die Arbitrarität von Literatur wird im Zuge der semiotisch-dekonstruktivistischen Welle zunächst nicht minder polemisch als implizit operierendes Machtgefüge verstanden. Das Vertrauen in Sprache als einem autonomen Ordnungssystem, mit dessen Hilfe der Sprechende oder Schreibende souverän die Welt in Ideen unterteilt, geht verloren. Dagegen wird jegliche Art von Sprachführung als eine Herrschaftsstruktur entlarvt, die nach geschlechtlichen, kapitalistischen oder ideologischen Regeln funktioniert. Dem Autor des literarischen Textes wird in der Folge dieser Polemik seine sinnstiftende Autorität entzogen und dem Leser oder einer abstrakten Textualität übereignet.2 Daneben wird etwa im Umfeld der Zeitschrift und gleichnamigen intellektuellen Bewegung Tel Quel dafür plädiert, die Diskursgrenzen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Kunst zu überwinden und Sprache von ihrer doppelten konventionellen Last zu befreien: den offen liegenden linguistischen (lexikalischen und grammatikalischen) und den verdeckt manipulierenden diskursiven Normen. Bestrebungen, aus diesem Plädoyer eine Textpraxis zu entwickeln, führten dann häufig zu absichtlich unlesbaren Schrifterzeugnissen wie etwa Philippe Sollers Paradis von 1981. Sie erwecken den Eindruck, einigen zeitgleich kursierenden intertextuellen Metaphern wie »rhizome«3 oder »mosaïque de citations«4 eine Schreibweise an die Seite stellen zu wollen. Die gegenläufige Tendenz in der Debatte um die Konventionalität von Fotografie und Literatur hat jeweils zur Folge, dass die Indexikalität der beiden Medien stärker berücksichtigt wird. Im Zuge der Revision fotografischer Mimesis wird nicht nur ihre vermeintliche Transparenz als Fehlglauben angeprangert, sondern auch zu ermitteln versucht, woher dieser Fehlglaube rührt. Dabei zeichnet sich ab, dass der Realismus des Fotos im Grunde mehr aus dem Verweischarakter des Bildes und weniger aus seiner Ähnlichkeit mit dem Referenten resultiert. Auch die Dekonstruktion sprachlicher und literarischer Konventionalität geht mit einer stärkeren Berücksichtigung der indexikalischen Dimension von Literatur einher. Der lange gültige Vorrang des Bedeutungsproblems wird dabei allmählich von Überlegungen zur Performativität, Medialität und Materialität von Literatur re-

2

Vgl. Barthes bekannten Aufsatz vom Tod des Autors und der Geburt des Lesers (1968) oder Julia Kristevas ›offenen Intertextualitätsbegriff‹, bei dem Schreibender, Lesender und Geschriebenes im Diskurs fusionieren (Barthes 1984a: 63ff., Kristeva 1967: 439ff.).

3

Deleuze/Guattari 1977.

4

Kristeva 1967: 440. Die Metapher ist eine Umschreibung von Kristevas offenem Intertextualitätsbegriff. In Barthes’ Aufsatz zum Tod des Autors findet sich der Gedanke in ähnlichem Wortlaut (vgl. Barthes 1984a: 67). Kristeva und Barthes verband nach Kristevas Ankunft in Paris im Jahr 1965 ein enges Mentor-Schülerinnen-Verhältnis (vgl. Dosse 1992: 71).

Z EICHENSTATUS

VON

FOTOGRAFIE

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lativiert, indem etwa über die Beschreibbarkeit des »Sich-Zeigens« von Zeichen5 oder über die Geste des Schreibens nachgedacht wird. In den nachfolgenden Kapiteln soll diesen Ausformulierungen des Indexikalischen von Fotografie und Literatur seit den 1970er Jahren anhand exemplarischer Positionen nachgegangen werden. Dabei geraten insbesondere die Parameter der Hervorbringung von Fotografie und Literatur in den Blick, da indexikalische Zeichen stärker als symbolische oder ikonische auf ihren Entstehungsmoment verweisen.

Fotografie zwischen Index und Ikon Im Zuge der kritischen Revision der fotografischen Mimesis in der eingangs angeführten Debatte steht auch das Ausloten des semiotischen Status von Fotografie auf dem Plan. Roland Barthes’ Auseinandersetzung mit dem Medium fällt in diese Anfänge der semiotischen Legitimierungsphase der Fotografie. In seinen frühen Aufsätzen aus den 1960er Jahren geht er von einem visuellen Entsprechungsverhältnis, einer »plénitude analogique«,6 zwischen dem Foto und seinem Referenten aus. Der fotografische Übertragungsprozess bringe demnach keinerlei signifikante Umwandlung des Referenten mit sich, sodass Fotografien, wie Barthes zuspitzt, nur zeigen, nicht aber beschreiben oder gar bedeuten können.7 Sobald das Bild aber in einen kulturellen Umlauf gerate, könne es mit Botschaften ausgestattet werden. Barthes unterscheidet insofern zwischen einer denotativen Ebene des fotografischen Bildes hinsichtlich seiner Repräsentationsweise und einer konnotativen Ebene hinsichtlich seiner Gebrauchsweisen. Die Denotation entspricht dem eigentlichen Sinn beziehungsweise dem Abbildcharakter des Fotos, dem, was von ihm übrig bleibt, wenn man die Konnotationen, also die gesellschaftlichen, rhetorischen und symbolischen Zusatzbedeutungen, abziehen würde, und damit einer Art »état adamique de l’image«.8 Für diese Reibung zwischen analoger Fülle und codierter Verwendung prägt Barthes die paradoxe Formel, die Fotografie sei ein »message sans code«.9 Was die Unterscheidung eines gebrauchsbedingten und eines naturgegebenen Bedeutungsgehaltes der Fotografie anbetrifft, kann man Barthes den weniger beachteten Semiotiker und Fototheoretiker Henri van Lier an die Seite stellen.10 Entspre-

5

Vgl. Mersch 2002.

6

Barthes 1982a: 12.

7

Vgl. ebd.

8

Barthes 1982b: 34.

9

Ebd.: 28.

10 Neben einer ausführlichen Abhandlung über die Philosophie der Fotografie (vgl. Van Lier 1983) hat Henri Van Lier seit den 1980er Jahren regelmäßig Artikel in Les Cahiers

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chend zu Barthes’ Unterscheidung zwischen denotativer und konnotativer Ebene problematisiert auch Van Lier das bedeutungserzeugende Moment der Fotografie. Weil er die Fotografie nicht als »vrai système de signification«11 erachtet, unterscheidet Van Lier für ihre semiotische Einordnung zwischen ›Indexen‹ und ›Indizes‹. Indexe versteht er als autonome Zeichen, wohingegen Indizes aufgrund ihres Mangels an intendierter und konsistenter Sinnproduktion nicht als Zeichen anzuerkennen wären.12 Da Fotografie über ein Analogieverhältnis zwischen Referent und Signifikant operiere und keinem Konventionssystem angehöre, rechnet Van Lier sie zu den als »innocent«13 bezeichneten Indizes. Den Konnotationsvarianten von Barthes14 entsprechend nennt Van Lier allerdings auch Mittel wie etwa Ausschnitt, Tiefenschärfe, Perspektive, Körnigkeit etc., mit denen die Fotografie indexikalisiert werden könne. Darüber hinaus beschreibt er einen Verschlüsselungsprozess, bei dem nicht das Medium, sondern die abgebildeten Dinge sinnstiftend sind, da sie ihre Bedeutung auf die Fotografie übertragen. Wenn Fotografien solche »objet-signes«15 abbilden, setzen sie laut Van Lier beim Rezipienten ein unreflektiertes Verhalten in Gang, eine »action presque instantanée«,16 und keinen wissens- und vernunftgeleiteten Dekodierungsprozess. Der Grund dafür sei die erhöhte Aktivität des Referenten bei Abdruckverfahren und die damit verbundene Möglichkeit, ihn während der Betrachtung absolut zu setzen: »Dans la signification, le signe est plus actif et le référent plus passif. Dans l’imprégnation, c’est l’inverse: l’empreinte est plus passive et l’imprégnant plus actif.«17 Sowohl für Barthes als auch für Van Lier gilt damit gleichermaßen eine Aberkennung der konventionellen Grundstrukturen der Fotografie, da die Repräsentationsmuster des Mediums nicht von einem Verschlüsselungssystem motiviert werden. Sie gehen beide von einem sprachlich dominierten Zeichenbegriff aus und klammern die Rolle des Fotografen weitgehend aus ihren Überlegungen aus. Bede la photographie veröffentlicht (siehe zum Beispiel Van Lier 1982: 13ff. oder Van Lier 1986: 66ff.). 11 Van Lier 1982: 13. 12 Vgl. ebd.: 14, siehe auch Van Lier 1983: 23. 13 Van Lier 1982: 14. 14 Barthes unterscheidet die folgenden sechs Möglichkeiten, Fotos zu konnotieren: »truquage«, »pose«, »objets«, »photogénie«, »esthétisme« und »syntaxe«. Die ersten drei Möglichkeiten operieren auf der Ebene des außerbildnerischen Referenten, die letzten drei Möglichkeiten auf der Ebene des fotografischen Bildes (vgl. Barthes 1982a: 14ff.). 15 Van Lier 1982: 18. Bei Barthes entsprechen den »objet-signes« von Van Lier die »objets« und auch die »pose«, also die in das Foto mitgebrachten Bedeutungsträger. 16 Ebd., siehe auch Van Lier 1983: 36f. 17 Van Lier 1982: 15.

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deutungszuschreibungen lassen sie jeweils nur seitens der Rezeption, nicht aber seitens der Produktion zu. Barthes setzt seine Überlegungen zum Denotativen der Fotografie in seinem 1980 veröffentlichten Buch La chambre claire18 fort. Da er hier davon abkommt, der Fotografie eine diskursive Funktionsweise abzuverlangen, wäre es unangemessen, ihn in Jean-Marie Schaeffers Urteil über Van Lier, dieser sei ein »victime du modèle linguistique«,19 mit einzubeziehen. In La chambre claire wird nicht nur die Frage, ob Fotografie auch die Prinzipien eines symbolischen Zeichensystems erfülle, unwichtig; auch die Ergründung ihrer ikonischen Eigenschaften wird für Barthes sekundär. Ohne daraus ein Geheimnis zu machen, gibt er sich vielmehr seiner persönlichen Faszination für den fotografischen Referenten hin und der Gewissheit, Fotografie werde von einer »résistance éperdue à tout système réducteur«20 geleitet. Dass er sich nicht dazu äußert, ob und inwiefern Ähnlichkeit zwischen dem Referenten und seiner bildhaften Wiedergabe besteht, entspricht dem Bekenntnis seiner Fixierung auf die rätselhafte Präsenz des Referenten. Diese Art durch das Foto hindurch- oder über es hinwegzusehen kann zunächst den Eindruck entstehen lassen, Barthes wolle darauf hinaus, einen naiven Glauben an die mediale Transparenz des Fotos zu rehabilitieren. Im Verlauf des Buches charakterisiert er das spezifisch fotografische Präsentwerden des Referenten aber nach und nach als Emanation des Vergangenen21 und als »frottée de réel«,22 das durch seine Kontingenz mit Existierendem eine subjektive Rührung hervorrufen kann. Es resultiert aus dem, was die abgelichteten Körper über das Foto noch aus- oder abstrahlen. Löst diese Strahlung beim Betrachter Betroffenheit aus, nennt Barthes die Rezeptionsweise des Fotos bekanntermaßen ›punctum‹ und setzt sie von einem wissensgeleiteten ›studium‹ von Fotografien ab.23 Das ›punctum‹ gleicht damit einem Präsenzeinbruch des Referenten, der mit der paradoxen Erkenntnis einhergehen kann, dass etwas gewesen ist und gleichzeitig da zu sein scheint.24 Da Barthes sich selbst auf das ›punctum‹ und die Strahlkraft des Referenten beschränkt, wurde ihm von Bernd Busch eine »Neubewertung der Magie des Mediums«25 nachgesagt.26 Bernd Stiegler schließt sich dieser Einschätzung an, wenn er 18 Barthes 2002: 784-892. 19 Schaeffer 1987: 50. 20 Barthes 2002: 794. 21 Vgl. ebd.: 861. 22 Ebd.: 882. 23 Vgl. ebd.: 809. 24 Vgl. ebd.: 851. 25 Busch 2001: 532. 26 Das Fotografische als eine magische Selbsteinschreibung der Natur zu verstehen, hat eine fotohistorische Tradition und kann bis zu Talbots Vorstellung der Fotografie als einem

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Barthes den »letzte[n] Alchemist[en] der Photographiegeschichte«27 nennt, während Herta Wolf Barthes’ Auffassung vom fotografischen Referenten schlichtweg als »Sturheit«28 bezeichnet. In fototheoretischer Hinsicht ist aber die Tatsache entscheidender, dass Barthes mit La chambre claire die Indexikalität der Fotografie aufwertet, die in der Folge immer mehr Zustimmung findet. Barthes kommt so gesehen der Spur am Foto auf die Spur und gibt damit einen starken fototheoretischen Reflexionsimpuls.29 In den 1980er Jahren entwickeln etwa Jean-Marie Schaeffer und Philippe Dubois ihre fototheoretischen Ansätze aus der Idee des Indexes heraus, und zeitgleich zu Barthes, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, heben bereits Rosalind Krauss30 und, implizit auch Denis Roche, das Indexikalische an der Fotografie hervor. Heute hat man sich darauf geeinigt, die Fotografie als semiotischen Zwitter zu verstehen, der ikonische und indexikalische Darstellungsanteile in sich vereint. Allerdings hebt Peter Geimer in seinen Theorien der Fotografie von 2009 hervor, dass der Index in letzter Konsequenz der kleinste gemeinsame Nenner aller Fotografien ist, wenn er schreibt: »Ganz gleich, was sie zeigt, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jede Fotografie zwangsläufig indexikalisch. Unhintergehbar ist nicht der mimetische Gehalt der Einschreibung, sondern die Gewissheit, dass eine Einschreibung stattgefunden hat.«31 Parameter der Aufnahme I: ›Arché‹ Die Konzentration auf die Indexikalität des Fotos führt unweigerlich zu einer Beschäftigung mit dem Moment ihrer Aufnahme. Denn eine Spur zu verstehen, bedeutet zurückzuverfolgen, wie und wodurch sie entstanden ist. Am Ende der Suche nach den Entstehungsbedingungen der Spur steht wiederum ihr Referent, sodass Betrachter und Verursacher der Spur am Ort und im Moment ihrer Hervorbringung aufeinander treffen können.

»Zeichenstift der Natur« nachvollzogen werden. In seinem Essay L’instant et son ombre rückt Jean-Christophe Bailly Talbots Ansatz in die Nähe des naturphilosophischen »Alles-spricht-Gedankens« deutscher Romantiker (vgl. Bailly 2008: 45f.). 27 Stiegler 2006a: 127. 28 Wolf 2002: 94. 29 Wie einschneidend Barthes’ Überlegungen in der Geschichte der Theorie der Fotografie sind, suggeriert etwa auch die Überschrift »Nach Roland Barthes« in der von Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen herausgegebenen Anthologie mit Quellentexten zur Fotografie (Kemp/von Amelunxen 2006: 23). 30 Vgl. Krauss 1986: 196ff. 31 Geimer 2009: 54.

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In den folgenden zwei Unterkapiteln sollen zwei fototheoretische Ansätze vorgestellt werden, die den Moment der Aufnahme aus der Perspektive des Betrachters und aus der Perspektive des Fotografen, oder, anders ausgedrückt, hinsichtlich des Rezeptions- und hinsichtlich des Produktionsvorgangs in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Jean-Marie Schaeffer beschäftigt sich in seinem Buch L’image précaire von 1987 aus kommunikationstheoretischer Sicht mit dem Moment der Aufnahme und wägt ab, inwiefern dieser Moment auf der fertigen Fotografie eine intendierte Nachricht an den Empfänger hinterlassen kann. Philippe Dubois konzentriert sich in seinem Buch L’acte photographique von 1990 stärker darauf, was im Augenblick des Auslösens geschieht. Er versteht das Foto als einen Akt, mit dem das Bild aus einem spezifischen Raumzeitkontinuum herausgelöst wird. Im dritten Unterkapitel sollen zudem die praxisnahen Reflexionen zum fotografischen Akt von Denis Roche vorgestellt werden. Mit einer Kombination aus Fotografien und Texten setzt er radikal auf das Verhältnis des Fotografen zur Kamera und betont in poststrukturalistischer Manier nicht das Resultat der Fotografie, sondern den Prozess des Fotografierens, nicht »produit«, sondern »productivité«.32 Die von ihm entwickelten fotografischen Größen und Konzepte entstehen aus einer konsequenten Vermischung von Theorie und Praxis und dienen u.a. Philippe Dubois explizit als Denkanstoß.33 Die drei Positionen zum fotografischen Akt bilden das heute etablierte Fundament für ein »Verständnis der Fotografie als Spur des Realen«34 und richten sich nach dem, was Herta Wolf »das fotografische Ereignis schlechthin« genannt hat: »de[n] Augenblick des Auslösens«.35 Ende der 1980er Jahre war es noch weit verbreitet, die Fotografie ausschließlich als Bild und als Analogon ihres Referenten zu betrachten. Aus diesem Grund betont Schaeffer zu Beginn von L’image précaire, dass es selten sei, »que la notion d’empreinte joue un rôle décisif au niveau de la constitution même de la théorie de l’image photographique«.36 Schaeffer widmet sich dieser Perspektive mit dem Argument, dass Fotografie nur über die physikalischen und chemischen Komponenten ihres Mechanismus zu begreifen ist. Um Fotografien als Indexe und nicht nur als Ikone erfassen zu können, ist die Kenntnis von den Bedingungen des fotografiespezifischen Abdruckverfahrens für Schaeffer unerlässlich. Denn anders als bei vielen anderen indexikalischen Zeichen wohnt die verweisende Dimension dem materialisierten Teil des Zeichens nicht inne, sondern kann nur auf einer abstrakten Ebene rekonstruiert werden. Im Gegensatz zu einem Fußabdruck etwa, der durch Direktkontakt entstanden ist und über seine Konturen, Höhen und Tiefen die Konstitution 32 Zu der Unterscheidung von Produktivität und Produkt siehe etwa Kristeva 1969: 246ff. 33 Vgl. Dubois 1989: 71. 34 Wolf 1986: 72. 35 Wolf 1998: 9. 36 Schaeffer 1987: 14.

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seines Referenten vermittelt, verweist das Foto auf eine Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt. Schaeffer geht davon aus, dass sich die Verweiskraft des Fotos immer auf seine Zeitlichkeit bezieht und letztere nur rekonstruiert werden kann, wenn Einsicht in die technischen Voraussetzungen für die Entstehung der Fotografie besteht.37 Er nennt diese technischen Voraussetzungen die »arché«38 der Fotografie. In physikalischer Hinsicht beruht die ›arché‹ der Fotografie auf elektromagnetischen Gegebenheiten und erlangt durch lichtempfindliche Chemikalien seine materialisierte Form. Nur wer diese physikalisch-chemische Abhängigkeit des fotografischen Moments kenne, nur wer wisse, dass das fotografische Bild ein Lichtabdruck sichtbarer Elemente in eine chemische Substanz ist, könne es, laut Schaeffer, in angemessener Weise rezipieren. Schaeffer ersetzt damit das codespezifische Wissen, auf das symbolische Zeichensysteme zurückgreifen, durch ein Wissen um die Technik der Bilderzeugung. Außerdem setzt er durch die ›arché‹ die Materialität des fotografischen Dispositivs als mediales Differenzkriterium voraus.39 Ohne die Kenntnis oder Erfahrung mit der Technik können laut Schaeffer nur in visueller und in räumlicher Hinsicht Rückschlüsse auf den Referenten gezogen werden.40 Was die Auslegung der zeitlichen Dimension und des Informationsgehalts der Fotografie anbelangt, sei ein Wissen um die ›arché‹ allerdings unerlässlich. Für diese Trennung von ikonischen und indexikalischen Elementen im Fotografischen erinnert Schaeffer an die geläufige und ihm zufolge sehr stimmige Definition der Fotografie als einem »image du temps«.41 Mit anderen Worten ist nicht die »plénitude analogique«42 des Fotos dafür verantwortlich, dass sich der Betrachter dessen gewahr wird, dass etwas gewesen ist,43 sondern das Wissen über den fotografischen Aufzeichnungsvorgang. Demnach entspricht der Referent in Schaeffers Überlegungen dem Signifikanten in keiner Weise, wie dies der Emanationsgedanken Roland Barthes’ nahelegt hatte. Zur Veranschaulichung von Schaeffers Plädoyer für die ›arché‹ und die damit verbundene Abgrenzung von Ikon und Index kann folgendes Beispiel dienen: Ein dreijähriges Kind, das in seinem kurzen Leben bereits oft fotografiert wurde, wird vor einem Foto aufgefordert, die abgebildeten Personen zu identifizieren. Auf die Frage, wer alles auf dem Foto sei, zählt es die Namen der sichtbaren Personen auf 37 Vgl. ebd.: 65. 38 Ebd.: 14. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd.: 63. Im Gegensatz zu Barthes setzt Schaeffer keine absolute Analogie zwischen Referent und Signifkant voraus, sondern spricht vom »icône photographique en tant que vue analogique«. 41 Ebd. 42 Barthes 1982a: 12. 43 Vgl. Barthes 2002: 851.

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und ergänzt am Ende, wie selbstverständlich, den Namen des Fotografen, der natürlich nicht auf dem Foto zu sehen ist. Auch wenn das »savoir de l’arché«44 hier kaum so weit ausgebildet sein dürfte, dass chemische oder physikalische Prozesse nachvollzogen werden können, ist dem Kind bereits klar, dass Fotografie nicht nur mit dem Abgebildeten, sondern auch mit dem Aufnahmemoment zu tun hat. Die Aktivierung der ›arché‹ im Rezeptionsvorgang setzt voraus, dass Fotografien als Informationsträger verstanden werden. Schaeffer unterscheidet hier explizit zwischen ›Informationen‹, die ein Foto kommuniziert und einer ›Botschaft‹, die über ein Foto kommuniziert wird. Die ›Information‹ wäre im Sinne Schaeffers indexikalischer Ordnung. Sie besteht ungeachtet der Intention des Fotografen und reduziert sich auf den technisch bedingten Registrierungsprozess.45 Unabhängig davon, ob man die Informationen, die auf dem lichtempfindlichen Material gesammelt werden, als Fotograf zu beeinflussen versucht, wird letztlich immer das gespeichert, was da ist, weshalb Schaeffer auch von »la collecte d’informations«46 spricht. Wenn beispielsweise ein Rotfilter vor das Objektiv gesetzt wird, würde die ›Information‹ lediglich in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht verändert: das heißt »mehr rot« anstatt etwa »Hitze« oder »Wut«. Die Intention eines solchen Eingriffs durch den Sender – er entspricht in diesem Fall dem Fotografen – ist im Sinne Schaeffers »entièrement facultative et non transmissible par l’image«.47 Seitens der Rezeption können die auf dem Negativ gesammelten ›Informationen‹ je nach Betrachter in ihrer Vollständigkeit variieren. Sie rufen einen unterschiedlichen Grad der Redundanz, eine »redondance partielle«48 in Hinblick auf das Gedächtnis, das Wissen und die Erfahrung des Betrachters hervor. Im Gegensatz zur ›Information‹ ist die ›Botschaft‹ laut Schaeffer keine der Fotografie innewohnende Größe. Sie ergibt sich vielmehr über den fotografisch bedingten Austausch zwischen Sender und Empfänger beziehungsweise Fotograf und Betrachter. Angestoßen durch den Sender, besteht dieser Austausch in einer die reine Informationsvermittlung übertreffenden Aussage, die den Empfänger über die Fotografie erreichen soll. Schaeffer unterstreicht bei diesem Prozess die phatische Komponente, wenn er betont, dass es nicht reiche, eine Bedeutung seitens des Senders in dem Träger der Botschaft zu »deponieren«. Um überhaupt von Botschaft oder Bedeutungserzeugung sprechen zu können, müsse der Empfänger einerseits überhaupt erst erkennen, dass ihm eine Botschaft übermittelt werden soll und anderseits herausfinden, worin diese Botschaft bestehe.49 Da diese Art der gezielten 44 Schaeffer 1987: 41. 45 Vgl. ebd.: 78. 46 Ebd.: 79. 47 Ebd.: 78. 48 Ebd.: 90. 49 Vgl. ebd.: 79ff.

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Mitteilung aber »de manière indissoluble«50 an Sprache gebunden sei, beschränkt sich Schaeffer darauf zu betonen, dass jeder Versuch, eine intendierte Botschaft mit einer Fotografie zu vermitteln, von dem Verweischarakter der Fotografie unterlaufen werde und insofern kaum möglich sei. Abzüglich der zeigenden und betrachtergebundenen Dynamik der Bedeutung bleibt der Fotografie mit Schaeffer als kleinster kommunikativer Nenner ihre »force auto-authentifiante«.51 Aber auch das Sich-selbst-Ausweisen des Fotos unterliegt letztlich einer »finalité interprétative«,52 da ihre Produktion menschlichen Beweggründen unterstehe. Demzufolge ist auch der automatische Nachweis der eigenen bildtechnischen Identität als per se bestehende fotografische Größe von einem Interpretationsvorgang abhängig, der wiederum auf dem »savoir de l’arché« beruht – dem Wissen um die Entstehungsbedingungen des Fotos. Jegliche Bedeutung im semiotischen Sinne, die über die Vermittlung der technischen Entstehungsbedingungen hinausgeht, ufert für Schaeffer letztlich ins Unbändige aus: »Le signe photographique reste en grande partie un signe sauvage, intermittent: signe (éventuellement) pour le photographe, puis signe, toujours autre et inédit, pour chaque récepteur.«53 Die von Schaeffer herausgearbeitete rezeptionsbedingte Variabilität der Botschaft des Fotos geht auch mit dem problematischen Fiktionsstatus der Fotografie einher. Zwar kann die Betrachtung eines Fotos die Vorstellung stark anregen, sie kann aber keine im Foto verschlüsselte Vorstellung reproduzieren. Egal wie sehr der fotografische Referent inszeniert, manipuliert oder verfremdet wird, wird der medieninhärente Existenzbezug jeden Versuch unterminieren, einen ›Fiktionspakt‹ zwischen Fotograf und Betrachter zu etablieren. Aufgrund des Wissens um die Technik wird der Betrachter den Referenten nie als etwas frei Erfundenes, sondern immer als etwas Vorgefundenes auffassen. Auch wenn sich herausstellt, dass das Vorgefundene arrangiert wurde, hat es im Moment der Aufnahme als Arrangement dem Objektiv gegenüber gestanden. Mit Andreas Kablitz’ Unterscheidung von ›Fiktivität‹ als Eigenschaft des Referenten und ›Fiktionalität‹ als Eigenschaft der Darstellung54 könnte Fotografie demnach fiktional, aber nicht fiktiv sein, da man das Motiv zwar inszenieren oder verfremden, aber nicht vollständig fingieren kann. Die ›arché‹ ist insofern der Grund dafür, dass Fotograf und Rezipient sich nicht im Einvernehmen eines Unglaubens, sondern allenfalls im Einvernehmen eines Realitätsglaubens einrichten können. Der über das Foto ermöglichte Austausch zwischen Sender und Empfänger ist also prädestiniert für einen Realitätspakt, nicht aber für einen ›Fiktionspakt‹. 50 Ebd. 51 Ebd.: 85. 52 Ebd. 53 Ebd.: 103f. 54 Vgl. Kablitz 2008: 15.

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Abbildung 1: WOLS Ohne Titel (1932-1941)55

Eine Fotografie von Wols aus den 1930er Jahren (siehe Abbildung 1) kann den Existenzbezug der Fotografie abschießend verdeutlichen. Sie zeigt frontal eine geöffnete Konservenbüchse, in der fein-säuberlich Fisch eingelegt ist. Der Hintergrund sieht aus wie eine Tischplatte mit Kratzern und Flecken. Seine Oberfläche ist in der oberen linken Ecke wie ein Blatt Papier umgeknickt und bildet eine formale Analogie zu der aufgerollten Abdeckung der Dose. Fotografie und Motiv ergeben eine Art Staffelungsfigur, da der Fisch von der Fischkonserve wie die Fischkonserve von der Fotografie aufgenommen wurde. Das doppelte Konservierungspotential von Dose und Fotografie stattet das Foto mit einem selbstreferentiellen Verweis aus, der die ›arché‹ thematisiert. Denn genau wie der Fisch, kann auch der Referent der Fotografie nur erhalten werden, indem ihm etwas zugesetzt und er in einer luftbeziehungsweise lichtundurchlässigen Dose verschlossen wird. Der Betrachter des Fotos wiederum muss genau wie der Konsument des Fisches um den Konservie55 Abbildung in: Roche 1999: 153.

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rungsvorgang, um die »hinter« dem Foto und »hinter« der Dose stehende Technik wissen, um etwas mit dem Inhalt anfangen zu können. Er muss wissen, dass jeweils ein existenter Referent unter Verschluss genommen und dadurch haltbar gemacht wurde.56 Somit setzt Wols die ›arché‹ nicht nur voraus, sondern gibt dem Betrachter auch ein Sinnbild für den physikalisch und chemisch bedingten Existenzbezug der Fotografie an die Hand. Parameter der Aufnahme II: Das fotografische ›Off‹ Genau wie Jean-Marie Schaeffer begreift auch Philippe Dubois die Medienspezifik der Fotografie mithilfe semiotischer Kategorien aus den Parametern der Aufnahme. In seinem Buch L’acte photographique begrenzt er die Bedeutungsdimension der Fotografie aber nicht auf die physikalisch und chemisch definierte Registrierung von Informationen, sondern koordiniert sie vollends mit ihrer Genese. Für ihn verweisen Fotografien deshalb nicht vorrangig auf ihren Referenten, sondern auf die Handlung, die sie hervorgebracht haben. Ihr Realzusammenhang beruht weniger auf dem Paradox einer »empreinte à distance«,57 wie Schaeffer ihn beschreibt, als vielmehr auf dem Akt des Auslösens, mit dem Fotografien an ein bestimmtes Raumzeitkontinuum gebunden werden. Dadurch geraten bei Dubois die Umstände des Fotografierens oder auch das Umfeld des Bildraumes in den Blick, sodass er nicht nur das, was sich tatsächlich auf der fotochemischen Oberfläche eingeschrieben hat, als wichtig erachtet, sondern auch das, was auf ihr nicht zu sehen ist. Fotografieren ist an zeitliche und räumliche Implikationen gebunden, die Dubois aus der Logik des Aktes heraus als ›Schwelle‹ oder ›Übergang‹ und ›Ortsgebundenheit‹ umschreibt.58 Durch das Betätigen des Auslösers erfolgt allerdings ein Schnitt durch Raum und Zeit, der eine für die Fotografie grundlegende Diskontinuität im Moment der Aufnahme erzeugt.59 Das zum Zeitpunkt der Aufnahme Anwesende wird durch den fotografischen Einschnitt zu einem zukünftig Abwesenden, genau wie die Betrachtung eines Fotos das Abwesende als ein vergangenes Anwe-

56 Abgesehen davon wird auch über das fotografierte Objekt selbst die Existenzthematik aufgerufen, sodass die Fischkonserve im Sinne Henri Van Liers ein ›objet-signe‹ wäre. Sie ermöglicht ja Menschen, die keinen Zugang zu frischen Nahrungsmitteln haben, sich weiterhin zu ernähren, und kann auch als ein Sinnbild für Armut verstanden werden. 57 Schaeffer unterscheidet zwei Kategorien indexikalischer Zeichen. Solche, die erst durch den Eingriff eines Vermittlungsorgans entstehen können wie die Fotografie, und solche, die durch materiellen Kontakt einen Abdruck erzeugen: die »empreinte à distance« und die »empreinte à contact direct« (Schaeffer 1987: 16ff.). 58 Vgl. Dubois 1990: 154. 59 Vgl. ebd.: 101.

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sendes vorführt. Dieses zweifache zeiträumliche Referenzparadox des zukünftigen Vergangenseins und der vergangenen Gegenwärtigkeit resultiert aus einem fundamentalen fotografisch bedingten Abstand. Der fotografische Akt hält an einem Hier und Jetzt für ein Dort und Später fest und das Foto legt während der Betrachtung im Dort und Später von einem vergangenen Hier und Jetzt Zeugnis ab. Dubois versteht den fotografischen Raumzeitausschnitt als Resultat einer ›Entnahme‹ aus dem weltlichen Raumzeitkontinuum. Die Kamera hat bei dieser Geste der Entnahme Ähnlichkeit mit einem Messer, mit dem der Fotograf arbeitet, indem er »passant le monde qui l’entoure au fil de son rasoir«.60 Das, was der Fotografierende mit seinem Apparat vollzieht, ist eine Art Zuschnitt von Gegebenem mit einem hohen Einsatzrisiko. Diese beiden Aspekte veranschaulicht Dubois über die verschiedenen Bedeutungen des französischen Wortes ›coup‹: Der fotografische Akt ist einerseits Einschnitt in Raum und Zeit, ein ›cut-up‹, andererseits zielt er darauf ab, einen Coup zu landen. Mit der Betätigung des Auslösers geht der Fotograf ein je nach Dauer und Beweglichkeit des Referenten mehr oder weniger hohes Risiko ein, da jedes Mal die Gefahr besteht, den entscheidenden unwiederbringlichen Augenblick zu verpassen.61 ›Coup‹ bedeutet auch ›Schuss‹ und verweist damit nicht zuletzt auf metaphorische Wendungen wie ›Bilder jagen‹, ›Fotos schießen‹ usw., die im Sprachgebrauch fest verankert sind.62 Der fotografische Schnitt durch den Raum greift das weltliche Kontinuum nicht wie bei dem zeitlichen Einschnitt, im Sinne einer Unterbrechung, an, sondern im Sinne eines Ausschlusses oder Abzugs. Dubois versteht diesen räumlichen Einschnitt als eine Subtraktionsoperation,63 bei der dem unendlichen, referentiellen Raum ein Teil für den fotografischen Bildraum entzogen wird. Das Übriggebliebene, das heißt alles, was nicht in den Bildraum geraten ist, nennt er »le hors-champ, ou espace ›off‹«64 der Fotografie. Dieser Rest, der räumliche Ausschuss des fotografischen Akts, bleibt im Foto zwar außen vor, aber dennoch virtuell präsent, insofern, als er »se marque là comme exclu«.65 Auch wenn das ›Off‹ in der Abbildung nicht auftaucht, bleibt es aufgrund seiner Kontiguität zum Bildraum latent: »cet absent, on le sait présent, mais hors-champ«.66 Die Geste des räumlichen Einschnitts bedingt also ein Mitdenken des abgelichteten Raums über die Bildränder hinaus.

60 Ebd.: 153. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. zu fotografischen Metaphern, die diesen Aspekt thematisieren, auch Stiegler 2006a: 143ff., 233ff., 255ff. 63 Vgl. Dubois 1990: 191. 64 Ebd.: 170. 65 Ebd.: 171. 66 Ebd.

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Seit der Entstehung der Fotografie hat die künstlerische fotografische Praxis eine Vielzahl von Strategien etabliert, mit denen das ›Off‹ aus seiner passiven Anwesenheit in den Bildraum einbezogen werden kann. Dubois nennt diese Strategien »indices embrayeurs de hors-champ«67 und führt als Beispiele den Blick in die Kamera, Bewegungsindikatoren des Referenten, Spiegelungen und in das Bild ragende Körperteile des Fotografen an.68 Auf einer Fotografie des Schweizer Künstlers Anselm Stalder von 2011 hat eine metareferentielle Lichtreflexion diese Funktion (siehe Abbildung 2). Sie kann Dubois’ Überlegungen zum ›Off‹ veranschaulichen. Abbildung 2: Anselm Stalder as if a plant could be a house (2011)69

67 Ebd.: 173. 68 Vgl. ebd. ff. 69 Abbildung in: Kunstmuseum Solothurn 2012: Faltblatt zur »as-if-Serie«.

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Auf den ersten Blick scheinen die hellen Quadrate in der überwucherten Efeuwand auf Stalders Fotografie Fenster des Gebäudes zu sein. Sie erwecken den Eindruck von Öffnungen in der dichten Belaubung und tun so, wie auch der Titel unterstreicht, als könnte eine Pflanze ein Haus sein – as if a plant could be a house. Tatsächlich kann durch diese Ausschnitte aber nichts hindurchgelangen und nur das Licht selbst in die Oberfläche der Blätter eindringen. Wie auf dem lichtempfänglichen Film im fotografischen Prozess materialisiert sich auf der Efeuwand eine Lichtzufuhr und bringt eine Figur zum Vorschein. Deren Sichtbarkeit bemisst sich wiederum am Sonnenstand: Erst bei zu wenig Licht verschwindet sie, während die Figur auf dem fotochemischen Material zwar ebenso durch Licht entsteht, aber erst durch zu viel Licht ausgelöscht werden kann. Damit hat Stalder nicht nur ein Lichtphänomen angehalten, das dem Fortlauf der Zeit unterliegt, er erinnert auch an das Umkehrprinzip im fotografischen Belichtungsprozess: Die hellen Rechtecke auf der Efeuwand erscheinen bei Tag wie eine Hauswand mit beleuchteten Fenstern bei Nacht, obwohl sie nur tagsüber zu sehen sind. Die Lichtfenster auf der Efeufläche verwehren aber nicht nur den Blick in das Haus, sondern leiten die Aufmerksamkeit auch aus dem Bild heraus. Denn sie sind ja nichts anderes als Lichtreflexionen eines vermutlich gegenüber gelegenen, nicht abgebildeten Hauses. Damit verbinden die Fenster auf der Efeuwand das Foto mit der Umgebung des Bildes im Moment seiner Aufnahme. Sie sind die Indikatoren für etwas, das während des Auslösens da war, aber nicht in das Bildfeld geraten ist. Insofern zeigen die Lichtfelder bei Stalder auf, dass Fotografien aus einem spezifischen Raumzeitkontinuum herausgeschnitten sind und neben dem Bildraum auch einen angrenzenden Raum festhalten. Im Sinne Dubois’ gehört dieser angrenzende Raum dem Foto aufgrund seiner Hervorbringung an, auch wenn er im Ergebnis nicht sichtbar wird. Er wird in der Fotografie von Stalder nicht zuletzt durch die angeschnittene Treppe einbezogen, da sie uns ja bedeutet, man könne noch über die Bildränder hinausgehen. Anhand der drei Metaelemente Oberflächenbehandlung, Fensterspiegelung und Treppenlauf vermittelt Anselm Stalders Aufnahme die Fotografie als einen prekären, An- und Abwesenheiten austarierenden Lichtbildakt. So wie der eigentliche Referent auf Stalders Fotografie, das Haus mit der Efeufassade etc., buchstäblich den fotografischen Akt und seine raumzeitliche Kontiguität reflektiert, dient der Referent auch in Dubois’ Fotografiebegriff vorwiegend dazu, auf die Parameter der Aufnahme zu verweisen. Er wird nicht mit Ähnlichkeitsfaktoren im Verhältnis zu seinem Abbild bemessen, sondern im Verhältnis zum fotografischen Akt, von dem er im Foto eine Spur hinterlässt.70 Seine unabdingbare 70 Die Ikonizität des Fotos thematisiert Dubois nur für den Rezeptionsvorgang und räumt ihr damit eine Nachträglichkeit ein. Er beschränkt sie mit Derridas Begriff des ›processus d’attribution‹ auf den Wiedererkennungsakt, mit dem das Bild vom Betrachter unweigerlich seinem Referenten zugeordnet wird (vgl. Dubois 1990: 21).

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Nähe im Moment des Auslösens bildet ein Gegengewicht zu den komplexen zeiträumlichen Distanz- und Bezugnahmen, die von der Fotografie hervorgerufen werden.71 Aus der physikalischen Nähe des Referenten während des Einschreibe- beziehungsweise Abdruckvorgangs leitet Dubois die primäre, dem ›Off‹ vorausgehende Indexikalität der Fotografie ab und begründet sie in drei fotografischen Grundeigenschaften: in ihrer Singularität, ihrer Beweiskraft und ihrer Bezeichnung.72 Die Singularität rührt daher, dass »elle [die Fotografie] ne renvoie qu’à un seul référent, le ›sien‹, celui-là même qui l’a causée«.73 Dubois hält dieses Prinzip der Singularität trotz der Reproduzierbarkeit des Fotos aufrecht, indem er einwendet, dass die Möglichkeit der Vervielfältigung eines Fotos eine Reproduzierbarkeit sei, die sich »seulement entre signes«74 abspiele. Die Beziehung zwischen dem Referenten und dem Negativ zeichne sich dagegen durch Einmaligkeit aus, weshalb er auch vom Negativ als dem eigentlichen Foto spricht.75 Beweisend wirkt die Fotografie wiederum durch die Notwendigkeit der physischen Präsenz des Referenten während des Produktionsaktes. Sie lässt den Rückschluss zu, dass alles, was auf dem Foto zu sehen ist, im Moment der Aufnahme am Ort der Aufnahme zugegen war. Und bezeichnend ist die Fotografie ebenfalls aufgrund der zwangsläufigen Gegenüberstellung von Referent und Kamera inklusive Fotograf. Durch den Druck auf den Auslöser wird auf dieses Gegenüber verwiesen, sodass fotografieren Ähnlichkeit mit einem Fingerzeig hat. Roland Barthes hat diesen Aspekt der Fotografie in die Nähe der infantilen Geste gerückt, mit der ein Kind »Das da!« sagt und das Objekt seiner Begierde auswählt.76 Wie Peter Geimer bemerkt, führt Dubois’ Fokussierung auf das Indexikalische dazu, dass er zum Metaphysiker der Referenz wird.77 Denn indem er den fotografischen Akt als referentiellen Beweggrund der Fotografie etabliert, vergesse er, dass die fotografische Referenz in letzter Instanz auf einer Materialeigenschaft beruhe. In einem Aufsatz über fotografische Bildstörungen weist Peter Geimer auf die Gleichgültigkeit des fotochemischen Materials hin. Es reagiere immer in Form einer materialspezifischen Lichttransformation, unabhängig davon ob eine Störung der

71 Vgl. ebd.: 90. 72 Vgl. ebd.: 48, 60, 65, 68. 73 Ebd.: 69. 74 Ebd.: 70. 75 Vgl. ebd. 76 Vgl. Barthes 2002: 792. 77 Für Dubois’ eigenen Hinweis auf die Gefahr einer Metaphysik der Referenz siehe Dubois 1990: 81. Für Geimers Einschätzung, Dubois sei dieser Gefahr erlegen, siehe Geimer 2009: 57.

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Verweisung vorliege oder nicht.78 Aus diesem Grund fasst Geimer Störungsprozesse in der Verweisung zwischen Signifikant und Referent als »Heimsuchungen der Repräsentation«79 auf, da sie im Grunde nichts Außergewöhnliches sind und sogar demonstrieren, unter welchen Bedingungen Fotografie möglich wird. Bevor sie irgendetwas darstellt, ist Fotografie zunächst das Resultat einer geschickt gelenkten Materialeigenschaft. Sowohl durch eine Über- oder Unterdosierung der Lichtzufuhr als auch durch einen Fehleinsatz der Optik kann ihr indexikalisches Referenzpotential schnell angegriffen werden. Abdruck kommt von abdrücken Nachdem der fotografische Aufnahmemoment mithilfe von Jean-Marie Schaeffer, Philippe Dubois und Peter Geimer auf die Parameter ›arché‹, ›Off‹ mitsamt seinen raumzeitlichen Implikationen der Angrenzung sowie materiell bedingte Lichtempfänglichkeit gebracht wurde, sollen die Konstanten des fotografischen Akts anhand von Denis Roches Text- und Fotopraxis nun noch stärker aus der Perspektive des Fotografen aufgezeigt werden. Roche Praxis umkreist den fotografischen Akt und wird in Frankreich als Wegbereiterin der fototheoretischen Etablierung des Indexes in den 1980er Jahren angesehen.80 Roche begreift den Referenten des fotografischen Akts als ein Zusammenspiel von momentan Gegebenem, das sich ihm aufdrängt und das er mit der Kamera zu fassen bekommt. Der Referent ist für ihn weniger ein Moment, den er für einen zukünftigen Zeitpunkt festhalten kann, denn eine spannungsgeladene Verschiebung von Eindrücken, die er durch den Druck auf den Auslöser aufeinander abstimmt. Dadurch wird zwar keine Verschlüsselung zwischen Referent und Negativ hervorgerufen, wie Dubois insistiert,81 und auch keine Botschaft mit der Fotografie vermittelt, wie von Schaffer beobachtet.82 Aber Roches Beharren auf einer subjektiven Spannungsentladung im fotografischen Akt verdeutlicht, dass Fotografien aus einem Impuls des Fotografen resultieren. Damit relativiert er den fotografischen Abdruck, die Spur des Realen, von der das Foto zeugt und hebt hervor, dass die »Berührung« zwischen Referent und Trägermaterial von einem Subjekt koordiniert und ausgelöst wird. Im Grunde ist es also nur der Auslöseknopf, der während des fotografischen Akts abgedrückt wird. Auch wenn damit kein Ausdruck des Fotogra-

78 Vgl. Geimer 2002: 319. 79 Ebd.: 320. 80 Für eine detaillierte Einschätzung der Rolle Roches bei der fototheoretischen Anerkennung des fotografischen Akts siehe Dubois 1989: 80 und Mora 1998: 40. 81 Vgl. Dubois 1990: 47. 82 Vgl. Schaeffer 1987: 79ff.

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fen gesichert wäre, haftet Fotografien zumindest die Motivation des Auslösens noch an. Wie Letztere gelagert sein kann und wie sie aus bestehenden Verhältnissen resultiert, können Roches Formel der »montée des circonstances«83 und sein Verhältnis zur Kamera veranschaulichen. Mit der »montée des circonstances« meint Roche einen Druck der Gegebenheiten, dem der Fotografierende in einer Situation anheimfallen muss, bevor es zu einer Spannungsentladung kommen kann, die das Foto hervorbringt. Das Ansteigen der Umstände beschreibt er in Kommentaren, die über die Bedingungen berichten, unter denen seine Fotos entstanden sind. Für Roche sind diese sich zuspitzenden, im ›Klick‹ des Auslösers kulminierenden Umstände die eigentliche Fotografie – »la photo c’est ce qui précède, c’est ce qui préside«.84 Sie lenken die Aufnahme des Fotos durch eine Fügung der Linien und Formen, die sich vor dem Auge des Fotografen abspielt und die ihn dazu bringt, die Kamera anzusetzen und den Auslöser zu betätigen. Diese Manifestation eines Bildgefüges stellt sich für Roche plötzlich ein. In Kommentaren wie dem folgenden mystifiziert er diesen Moment zu einer schlagartigen, ihn überwältigenden Eingebung – »je vis tout s’installer, comme par miracle, à nouveau, dans le viseur«85 oder auch »[t]out se met en place«.86 Dementsprechend stellt er das Fotografieren nicht als eine gezielte Suche oder gar Jagd nach Bildern dar, sondern als eine bildhafte Konstellation, die sich ihm zeigt und aus sich heraus auf ihn zukommt.87 Als Fotograf ist Roche allerdings darauf vorbereitet und dafür sensibilisiert, dass ihn Bilder in dieser Weise erreichen können. Er hat nicht nur das entsprechende Gerät parat, sondern ist auch mit einer Art Spürsinn für die Witterung ausgestattet. So nennt er in allen Beschreibungen der Entstehungsumstände seiner Fotografien einen meteorologischen Aspekt, der zur Betätigung des Auslösers beigetragen hat. Das können plötzliche Wetterumschwünge sein oder die Beobachtung der Lichtverhältnisse – sei es, dass sich der Himmel zuzieht und Windböen aufkommen,88 ein Sandsturm die Konturen der Dinge verwischt,89 die Sonne blendet90 oder dass sich das Winterwetter in einer Fensterscheibe fängt.91 Genau wie der Fotograf muss auch die Kamera für die »montée des circonstances« präpariert sein. Mit einer von Roche kultivierten Entladungsmetaphorik wird 83 Roche 1991: 67ff. 84 Ebd.: 69. 85 Ebd.: 73. 86 Ebd.: 79. 87 Vgl. ebd.: 73. 88 Vgl. ebd.: 71. 89 Vgl. ebd.: 73. 90 Vgl. ebd.: 75. 91 Vgl. ebd.: 77.

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ihr zudem ein aktiver Part im Aufnahmeprozess zuteil, da ihre Ladung während des Fotografierens auf den Referenten übergeht.92 Mithilfe seiner Vorstellung eines »chargement de l’appareil«93 geht Roche davon aus, dass der Bildträger den Referenten nicht passiv einbehält, sondern ihm etwas zufügt. Durch das Abdrücken des Auslösers kollidiert die Ladung des Apparats für Roche mit Realem und lässt dadurch eine Bildrealität entstehen, die sich in ihrem Verhältnis zum Aufnahmemoment bemisst. Inwiefern dieser Moment der Entladung auf einem Zusammenspiel von Kamera und Fotograf beruht, kann eine Fotoserie von Roche mit dem Titel 11 octobre 1987, Paris (siehe Abbildung 3 a-b) vor Augen führen. Es handelt sich um eine Serie von drei Aufnahmen, die stark kontrastierende Licht- und Schattenflächen in einem Türrahmen zeigen. Durch die halb geöffnete Tür fällt ein greller Lichtstreifen auf einen am Boden liegenden Teppich, der vom Schatten einer Kleinbildkamera auf einem Stativ unterbrochen wird. Von der oberen Bildkante ragt der Schatten einer Hand mit einer Zigarette zwischen den Fingern in Richtung des Kameraschattens und nähert sich, von einer Aufnahme zur nächsten, sukzessive dem Auslöser. Abbildung 3 a-b: Denis Roche 11 octobre 1987, Paris94

92 Roche konnotiert diese Entladungsmetaphorik auch explizit sexuell und rückt sie in die Nähe des Orgasmus (vgl. Roche 1978: 29f.). 93 Ebd. 94 Abbildung in: Roche 1991: 84f.

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Zunächst werden Kamera und Fotograf hier in einem Komplementärverhältnis porträtiert, da der Kamera das vom Menschen hinzugefügt wird, was ihrer »Anatomie« fehlt. Der Kameraschatten wird mit dem Schatten der Beine des Fotografen am rechten Bildrand gleichgesetzt, was auf die wörtliche Bedeutung des französischen Wortes für Stativ, ›trois-pieds‹, anspielt. Bedenkt man nun noch, dass das Kameragehäuse, der Hauptteil der Kamera, im Fachjargon als ›body‹ bezeichnet wird und auch für das Objektiv die Metapher ›Kameraauge‹ gängig ist, fehlt der Kamera für ihre Inbetriebnahme (fast) nur noch der Finger. Roche hilft dem Fotoapparat aber nicht nur mit seinem Finger aus, er inszeniert das Zusammenspiel von Finger und Auslöser auch in einem Dreiertakt aus Vor, Während und Nach dem Abdrücken. Diese das fotografische ›Off‹ und seine Zeitlichkeit strukturierende Dramaturgie spiegelt sich in der Abfolge der drei Bilder: Auf der ersten Fotografie scheint der Finger sich auf den Auslöser zuzubewegen, auf der zweiten berührt er den Auslöser und auf der dritten scheint er sich von dem Auslöser wegzubewegen. Irritierend bei der ersten und der letzten Aufnahme ist der Abstand zwischen Finger und Kamera, der ja im Moment des Auslösens normalerweise nicht gegeben sein dürfte. Nur der Einsatz eines automatischen Auslöseverfahrens wie Selbstauslöser oder Reihenaufnahme kann diesen Umstand erklären. Auch die Seiten- und Perspektivführung ist verwirrend, da sich der Auslöseknopf auf der linken Seite des Kameraschattens befindet, obwohl er für gewöhnlich rechts angebracht ist. Das wiederum lässt darauf schließen, dass die Aufnahme in Richtung des Sonneneinfalls gemacht und der Schattenwurf dementsprechend kopfüber abgelichtet wurde. Insofern führt Roche mit der Serie nicht nur die Symbiose von Kamera und Fotograf im fotografischen Akt vor. Er zeigt auch, wie Kamera und Fotograf in Anlehnung auf die Lichtverhältnisse und den Augenblick des Abdrückens interagieren. Da aber nicht restlos nachvollzogen werden kann, wie das Foto entstanden ist, entsteht eine Komplizenschaft zwischen dem Fotografen und seinem Apparat: Sie gewähren dem Betrachter Eintritt ins fotografische ›Off‹, ohne ihn vollständig einzuweihen. Roche bezeichnet die Kamera aufgrund dieses nur teilweise aufgedeckten fotografischen Entstehungsprozesses als »Komparsen«.95 Der Fotoapparat hätte demnach die Rolle eines stummen Darstellers, der zwar im Bild auftaucht und mit seiner Erscheinung an den fotografischen Akt gemahnt, aber nichts Genaues über ihn verlauten lässt. Auch Roches Fotografiebegriff macht demnach deutlich, dass Fotografien einerseits ihr spezifischer Aufnahmemoment anhaftet, und dass sie andererseits eine eigene, an Apparatur und Bildträger gebundene Materialität aufweisen. Insofern kann man mit den vorgestellten fototheoretischen Positionen sagen, dass die Fotografie –

95 Roche 2007: 43.

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ob nun »signe sauvage«96 oder »le pire des signes«97 – nicht ausschließlich über ihre Analogie zur visuellen Wahrnehmung begriffen werden kann. Die so naheliegende Augenscheinlichkeit der Fotografie hat sich im Zuge des Nachdenkens über ihren Zeichenstatus als sekundär herausgestellt. Betrachtet man die Beziehung zwischen dem fotografischen Referenten und seiner medialen Materialisierung, so stellt sich heraus, dass letztlich nicht Ähnlichkeit die entscheidende Größe ist, sondern Kontiguität und Verweis. Die Referentialität und der Realismus der Fotografie basiert also vorwiegend auf einem Realzusammenhang, weshalb man sie auch als Metonymie begreifen kann, 98 und nicht auf einem Abbildungsverhältnis.

Literatur zwischen Index und Symbol Die kritische Revision sprachlicher Arbitrarität in der eingangs skizzierten Debatte hat zu einer Hinterfragung sprachlicher Sinndimensionen geführt. Seit den 1960er Jahren wird in verschiedenen linguistischen und literaturtheoretischen Ansätzen die symbolische Grundstruktur als absolutes semantisches System in Zweifel gezogen und von Überlegungen zu relationaler Bedeutungskonstituierung verdrängt. Dazu gehören etwa Roman Jakobsons Beobachtungen zu einer Bipolarität der Sprache genauso wie die radikalen poststrukturalistischen Absagen an Autorintention und eindimensionale literarische Referenz. In seiner bekannten »Zwei-Achsen-Theorie«99 hat Jakobson eine bis dato wenig berücksichtigte Weise der Bedeutungserzeugung prominent gemacht, die er anhand der Metonymie beschreibt. Sie basiert auf Kontiguitätsprinzipien und entsteht bei der Kombination von Wörtern zu Syntagmen. Wie die Metonymie eine Bedeutungsverschiebung durch eine Namensvertauschung erreicht und Begriffe aufgrund ihrer lebenspraktischen Nachbarschaft miteinander verknüpft, erkennt Jakobson grundsätzliche kontextuell bedingte Formen der Sinnerzeugung in sprachlichen Zusammenhängen. Metonymische Bedeutungen entstehen somit erst in einer expliziten Textumgebung und resultieren aus einer begrifflichen Wechselwirkung, aus dem Zeigen von Wörtern unter sich.100 An den anderen Pol sprachlicher Bedeutungsgenerierung setzt Jakobson ein Prinzip, das auf Similarität beruht und das er mit der Funktionsweise der Metapher er-

96 Schaeffer 1987: 103. 97 So lautet der Titel einer Sonderausgabe der Cahiers de la Photographie zu Roland Barthes’ Auseinandersetzung mit der Fotografie (vgl. Les Cahiers de la Photographie 1990:25). 98 Vgl. Dubois 1998: 73, Barthes 2002: 823 oder Derrida 1986: 23. 99 Elmar Holenstein, zitiert bei Weinrich 1987: 105. 100 Vgl. Jakobson 1983: 167.

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klärt. Es kommt bei der Selektion von Wörtern aus Paradigmen zum Tragen und besteht damit schon bevor ein Kontext entsteht. Die Bedeutungen, auf die dabei zurückgegriffen wird, sind im System Sprache verankert und entsprechen Sachverhalten oder Objekten. Sie sind vordeterminiert und können nur durch Auswahl eingeschränkt werden.101 Jakobson kommt anhand dieser beide Pole zu dem Schluss, dass das »Zusammenwirken von simultanen Einheiten und die Verkettung der nacheinanderfolgenden Einheiten die zwei Wege [sind], die wir als Sprecher bei der Kombination sprachlicher Bestandteile beschreiten.«102 Jakobson hat mit seiner Theorie eines Doppelcharakters der Sprache nicht nur der Metonymie, wie Harald Weinrich schreibt, »unverhoffte Gunsterweisungen«103 zuteil werden lassen und sie aus der rhetorisch bedingten Abhängigkeit von ihrer »glanzvolleren Schwester«,104 der Metapher, befreit. Vor allen Dingen hat er die symbolische, auf Entsprechungsprinzipien und Selektion basierende Grundstruktur von Sprache mit Überlegungen zu ihrer Kontiguität105 relativiert. Dadurch hat er die vorgängige Bedeutungsstruktur von Sprache um eine nachträgliche, aus ihrem Gebrauch resultierende Erzeugung von Bedeutung ergänzt. In der Literaturtheorie wurde zunächst mit radikalen Absagen auf die lange währende Überbewertung des Symbolischen reagiert. Julia Kristeva schlug mit ihrer Idee des ›offenen Intertextualitätsbegriffs‹ beispielsweise ein Literarizitätskriterium vor, das jegliche Form von intendierter Sinngebung für hinfällig erklärte. Es sei vielmehr das Kennzeichen literarischer Texte, dass sie ihre Bedeutung von sich aus, allein durch eine universale Verknüpfung mit anderen Texten erlangten.106 Wie bei einem Perpetuum mobile wird Bedeutung dabei von einem sich unaufhaltsam fortsetzenden Schriftzeichengebilde generiert, auf das der Schreibende keinerlei

101 Vgl. ebd.: 166. 102 Ebd.: 164. 103 Weinrich 1987: 106. 104 Ebd.: 110. 105 Harald Weinrich weist in seiner Definition der Metonymie darauf hin, dass der Begriff Kontiguität seinem Ursprung bei Aristoteles nach eine »physikalische Theorie der Nähe« (ebd.: 107) impliziert. Seine häufig unpräzise Verwendung sei Weinrich zufolge einer unkorrekten Übertragung dieses ursprünglichen Sinns auf semantische oder sprachpraktische Zusammenhänge geschuldet, die er auch bei Jakobson beobachtet. Anhand der Geschichte der Rhetorik kann Weinrich dagegen nachvollziehen, dass mit metonymischer Kontiguität im Grunde eine argumentative Nachbarschaft gemeint war. Diese wiederum stammt aus der rhetorischen Mnemotechnik und meint ein Verfahren, mit dem der Redner sich anhand von Metonymien Erinnerungshilfen für den argumentativen Verlauf seiner Rede bauen konnte (vgl. ebd.: 108ff.). 106 Vgl. Kristeva 1967: 440.

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Einfluss hat. Als »scripteur«107 ist er nur abstraktes kulturelles Medium im intertextuellen literarischen Prozess – ein nichts als dem »Rauschen der Sprache«108 lauschender Übersetzer. Julia Kristevas Idee einer eigendynamischen literarischen Sinngenerierung findet sich auch in Michael Riffaterres These der »illusion référentielle«109 wieder. Wie Kristeva geht auch er von einer autonomen literarischen Verweisstruktur aus. Wo Alltagssprache noch vorgebe, einen mittelbaren Zusammenhang zur Realität aufrecht zu halten, der tatsächlich bloß »mythologie du réel«110 sein könne, entledige sich poetische Sprache dieser Illusion einer Bezugnahme auf Realität vollständig. Die lexikalisierte Semantik von sprachlichen Einheiten weise in einem poetischen Kontext die Tendenz auf, einer vollkommen neuen Bedeutung zu weichen. Ignoriert der Leser diesen neuen Referenzrahmen und geht weiterhin von den konventionalisierten Bedeutungen aus, stößt er unweigerlich auf »non-sens«.111 Diese Selbstgenügsamkeit des poetischen Textes kann wiederum nur durch Verweise auf andere Texte erweitert werden: »[…] s’il y a référence externe, ce n’est pas au réel – loin de là. Il n’y a de référence externe qu’à d’autres textes.«112 Kristevas und Riffaterres Überlegungen entstehen zu einer Zeit, in der man begann, den literarischen Realismus als eine ideologische Strömung zu hinterfragen. Tzvetan Todorov bezeichnet den Realismus etwa als literarischen Stil, der sich durch seine Nähe »au monde occidental moderne et à ses sociétés capitalistes«113 auszeichnet. Anders als andere literarische Stile lege der Realismus seine Regeln aber nicht offen. Eines seiner zentralen Gesetze sei es vielmehr, jegliche Gesetzmäßigkeit zu kaschieren und den Eindruck zu erwecken, dass »le discours est en luimême parfaitement transparent«.114 Diese Kritik an einer vermeintlichen Analogie zwischen literarischem Diskurs und Realität entwickelt sich parallel zu Jacques Derridas eingehender Absage an sprachliche Identitätsstrukturen. Mit seinem ›Differenzgedanken‹ aus den 1960er Jahren hebt Derrida hervor, dass der Ideengehalt von Sprache nicht mit ihren lautlichen oder graphemischen Erscheinungsweisen übereinstimme.115 Diese logozentris107 Barthes 1984a: 67. 108 So lautet der Titel eines bekannten Aufsatzes von Roland Barthes (vgl. Barthes 1984b). 109 Riffaterre 1982. 110 Ebd.: 93. 111 Ebd.: 94. 112 Ebd.: 118. 113 Tzvetan Todorov, in Genette/Todorov 1982: 8. 114 Ebd.: 9. 115 Diesen Gedanken entwickelt Derrida maßgeblich in De la grammatologie von 1967 und dem Sammelband L’écriture et la différence, der im gleichen Jahr erschienen ist (vgl. Derrida 1970 und Derrida 1967).

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tische Haltung sei vielmehr einer Denktradition der abendländischen Philosophie geschuldet, die den Sinn sprachlicher Zeichen »jenseits ihrer materiellen Verkörperungen«116 ausmachte. Tatsächlich entsteht Bedeutung für Derrida in einer andauernden Semiose, bei der Zeichen immer auf Zeichen verweisen. Dabei erlangen sie ihre Bedeutung durch Differenz und nicht durch ihre Entsprechung mit einem außerhalb der Sprache gelagerten Sinn. Da Derrida seine Kritik am westlichen Ursprungsdenken an der Schrift veranschaulicht, hat er dazu beigetragen, die »écriture comme pratique signifiante spécifique«117 zu etablieren. Damit bewirkt er auf einer weitläufigeren Ebene als Jakobsons ›Zwei-Achsen-Theorie‹ eine Anerkennung von spezifischen sprachlichen Erscheinungsweisen. Zwar grenzen sich beide Autoren von de Saussures Vorliebe für die ›langue‹ ab und damit von einer Bevorzugung sprachlicher Symbolstrukturen.118 Doch während Jakobson sich auf die Kombinationstechniken der ›parole‹ konzentriert, ebnen Derridas Beobachtungen einer medientheoretischen Erschließung des Sich-Zeigens unterschiedlicher Zeichen den Weg und fördern die Anerkennung und Ermittlung medienspezifischer Sinngenerierung. Wie diese Hinwendung zur Medialität sich literaturtheoretisch in einer indirekten Aufwertung des Indexikalischen niedergeschlagen hat, soll in den nachfolgenden Kapiteln beispielhaft geklärt werden. Dafür werden Ansätze vorgestellt, die den literarischen Schreibprozess unter Berücksichtigung der Intention des Schreibenden, der Medialität und Materialität von Sprache und der Geste des Schreibens aufarbeiten. Intention und Konvention Ende der 1990er Jahre kritisiert Jean-Marie Schaeffer in einem Artikel über antiintentionalistische Literaturtheorien die von den Poststrukturalisten behauptete Verselbstständigung der Semiose. Obwohl Ansätze wie die von Kristeva, Riffaterre oder Derrida bereits zwanzig bis dreißig Jahre zurückliegen und teilweise von den Autoren selbst revidiert wurden, beobachtet Schaeffer, dass sie auch 1998 noch kursieren. Aus diesem Grund spricht er sich für eine logisch-pragmatische Rehabilitierung der angeschlagenen Konventionalität von Sprache aus. Er erinnert an die Un-

116 Roesler 2008: 74. 117 Kristeva 1981: 36. Kristeva beanstandet in ihrem 1969 erstmals erschienenen Buch Le langage, cet inconnu noch das Fehlen einer solchen, die spezifische Bedeutung des Schreibens berücksichtigende »science de l’écriture«. 118 Vgl. Jakobson 1983: 166. Siehe für Derridas Kritik an de Saussures Reduktion von Sprache auf Laute vor allem Derrida 1970. Johannes Fehr hat Derridas These in einer Untersuchung von de Saussures unveröffentlichten Aufzeichnungen zu geschriebener Sprache widerlegen können (vgl. Fehr 2005: 110).

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erlässlichkeit sprachlicher Konvention und zeigt auf, dass auch antiintentionalistische Literaturtheorien letztlich auf sie angewiesen bleiben. Ihre Absage an festgelegte Bedeutungszuschreibungen beansprucht eine »exception littéraire«119 und vollzieht sich im Grunde auf einer sekundären Verständnisebene. Unterschlagen wird dabei, dass auch die literarische Lossagung von gerichteter Semantik zunächst auf Bedeutungskonventionen und ihre implizite Intentionalität baut. Diesen logischen Widerspruch nehmen entsprechende Ansätze aber um der Radikalität willen in Kauf, mit der sie in einem Generationenkonflikt gegen autoritär festgelegte Sinngehalte aufbegehren. Adressat der Zurückweisung festgeschriebener Bedeutungen ist eine dem Geniekult verpflichtete Interpretationstradition, die Autorintentionen als »intention préalable«120 auffasst und das Werk als in sich geschlossenes Bedeutungsganzes betrachtet. Um seine Beobachtungen zu stützen argumentiert Schaeffer ähnlich wie der amerikanische Literaturtheoretiker Eric D. Hirsch Anfang der 1960er Jahre. In seinem Plädoyer für objektive Interpretation hatte Hirsch sich für eine dezidierte Rekonstruktion der Autorintention in Interpretationsvorgängen ausgesprochen, um das, was er »die Theorie vom ›Leben eines Textes‹«121 nennt, zu kritisieren. Sowohl Hirsch als auch Schaeffer setzen den Überlegungen zum Eigenleben von Texten und Zeichen eine differenzierte Betrachtung sprachlich manifestierter Intention entgegen. Dafür unterscheiden sie zwischen einer konventionalisierten und einer auktorialen Intention. Die konventionalisierte Intention wohnt jedem Sprachereignis a prioiri inne und ist der Grund dafür, dass Aussagen überhaupt mitteilbar sind. Man könnte auch sagen, dass sie auf der Kommunikationsabsicht beruht, mit der lexikalische Bezeichnungen vereinbart werden. Hirsch nennt diese sprachbasierte Intention den ›Wortsinn‹ und unterstreicht seine kommunikative Dimension wie folgt: »Der Wortsinn ist per definitionem jener Aspekt einer ›Intention‹ des Sprechers, der innerhalb sprachlicher Konventionen mit anderen geteilt werden kann.«122 Schaeffer betont ebenfalls die Zusammengehörigkeit von sprachlicher Konvention und sprachlicher Intention. Seine Begründung verläuft aber in entgegengesetzter Richtung, wenn er schreibt »les conventions linguistiques ne sont elles-mêmes que des faits intentionnels socialement cristallisés«.123 Die auktoriale Intention ist dagegen nicht konventionalisiert. Sie hängt von der unmittelbaren Aussageabsicht eines Sprechers in einer spezifischen Situation ab. Hirsch nennt sie den ›Textsinn‹ und bringt sie mit de Saussures Begriff der ›parole‹ 119 Schaeffer 1998: 27ff. 120 Ebd.: 28. 121 Hirsch 2000: 157. 122 Ebd.: 161. 123 Schaeffer 1998: 17.

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in Verbindung.124 Der Texsinn hat nichts mit dem »Geist des Autors, sondern nur etwas mit dessen verbaler Schöpfung zu tun«.125 Als »unveränderliche Wortfolge«126 steht diese Schöpfung nicht für sich, sondern wird notwendigerweise jemandem zugeschrieben.127 Auch Schaeffer betont, dass Intentionalität immer auf einer »relation de renvoi«128 beruhe, die im Falle von Sprech- und Schreibhandlungen eine Verbindung zwischen den Worten als »porteurs de signification« und den »états mentaux«129 ihrer Sprecher herstelle. Sofern die konventionalisierte und die auktoriale – oder die sprach- und sprecherbasierte – Intention bei einer Aussage übereinstimmen, gibt es selten Zweifel an der Absicht der Aussage. Erst wenn sie voneinander abweichen, und Gesagtes und Gemeintes einander nicht entsprechen, kann ein Interpretationsspielraum oder eine Ungewissheit in Bezug auf die Aussageabsicht aufkommen. Den Unterschied verdeutlicht ein Beispiel aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen: Aber warum sollte ich nicht, umgekehrt, den Satz »Bring mir eine Platte!« eine Verlängerung des Satzes »Platte!« nennen? – Weil der, der »Platte!« ruft, eigentlich meint: »Bring mir die Platte!«. – Aber wie machst du das, dies meinen, während du »Platte« sagst? Sprichst du dir inwendig den verkürzten Satz vor? […] Aber wenn ich »Platte!« rufe, so will ich doch, er soll mir eine Platte bringen! – Gewiß, aber besteht ›dies wollen‹ darin, daß du in irgend einer Form einen anderen Satz denkst, als den, den du sagst?130

Das Beispiel von Wittgenstein macht einerseits die Verschiedenheit von sprachbasierter und sprecherbasierter Intention klar, zeigt andererseits aber auch, dass die Aussageumstände das Gemeinte häufig zu verstehen geben, selbst wenn es stark vom Gesagten abweicht. In literarischer Hinsicht gibt es Phänomene, bei denen die Abweichung der beiden Intentionstypen wiederum konventionalisiert wurde. Für rhetorische Figuren wie die Ironie ist beispielsweise festgelegt, das Gesagtes und Gemeintes in Form der Nennung des Gegenteils divergieren. Es ist aber ein grundsätzliches literarisches Anliegen, den Gedankenspielraum zwischen konventionalisierter und auktorialer Intention auszugestalten. Mit dem Abstand zwischen Gesagtem und Gemeintem kann also bewusst umgegangen werden, ohne dass sich der Autor einem per se unkontrollierbaren Eigensinn von Sprache unterordnen müsste.

124 Vgl. Hirsch 2000: 171f. 125 Hirsch 2000: 167. 126 Ebd. 127 Vgl. ebd.: 176. 128 Schaeffer 1998: 12. 129 Ebd.: 14. 130 Wittgenstein 2003: 21f.

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Schaeffer und Hirsch gehen beide davon aus, dass die auktoriale Intention oder das Gemeinte zwangsläufig auf der konventionalisierten Bedeutung, das heißt auf dem Wortsinn aufbauen muss. Was die Manifestation der auktorialen Bedeutung anbetrifft argumentiert Hirsch allerdings rezeptions-, Schaeffer hingegen produktionsorientiert. Hirsch geht davon aus, dass die Autorintention sich durch den Kontext herauskristallisiert. Sie wird als Gesamtsinn eines Textes von einem Horizont eingegrenzt, der »prinzipiell die Normen und Grenzen bestimmt, die für den durch den Text ausgedrückten Sinn gelten«.131 Schaeffer schließt sich dagegen Michael Baxandalls Vorstellung einer »intention procesuelle«132 an, bei der die Autorintention sich im Verlauf des Schreibprozesses herausbildet. Sie ist dass Resultat einer Wechselwirkung zwischen dem Autor und seinem Text und modifiziert sich immer wieder neu in Bezug auf das bereits Geschriebene.133 Ungeachtet der verschiedenen Blickwinkel machen beide Ansätze allerdings deutlich, dass die Autorintention eine relationale Bedeutung ist, die sich aus der Verbindung eines literarischen Textes zu seinem Entstehungskontext beziehungsweise -prozess ergibt. Sie entsteht durch einen spezifischen Schreibanlass und der Arbeit mit sprachlich konventionalisierter Intentionalität. Während des Schreibprozesses entsteht noch eine weitere nicht konventionalisierte Bedeutungsdimension, eine Art semantische Nebenwirkung, und zwar auf der Ebene der Medialität. Wie sich diese mediale Bedeutungsebene mit aktuellen Medientheorien greifen lässt, wird im folgenden Unterkapitel geklärt. Medialität und Schreibprozess In der Medientheorie werden seit Ende der 1990er Jahre Bedeutungsprozesse verhandelt, die nicht aus einem Informationssatz und dem Umgang mit einem festgelegten sprachlichen Code resultieren. Dabei ist man übereingekommen, dass es eine spezifische Materialität der jeweiligen Übertragungsweise gibt, die sich auf die Botschaft auswirkt. Prominente Vertreter wie Sybille Krämer sprechen deshalb von einer »sinnmiterzeugenden Kraft«134 oder von einem »Überschuss an Sinn«,135 der durch Medialität entstehe und im bisherigen Mediengebrauch als »blinder Fleck«136 behandelt wurde. Andere, wie etwa Georg Christoph Tholen, dekonstruieren die

131 Hirsch 2000: 165. 132 Schaeffer 1998: 29. 133 Vgl. ebd. 134 Krämer 1998: 73. 135 Ebd: 78. 136 Ebd.: 73.

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»wuchernde Metaphorik«,137 die sich in Medientheorien herausgebildet hat, um die Unbeholfenheit vorzuführen, die den Umgang mit diesem blinden Fleck begleitet. Anstatt von Materialität zu sprechen, fragt Tholen nach dem Ort des Medialen und charakterisiert ihn als einen nicht vorgegebenen Ort der »Mit-Teilbarkeit«.138 Dieser Ort ist seinerseits nur metaphorisch zu begreifen, hebt aber die Autonomie des Medialen hervor. Die mit Krämer und Tholen angesprochene aposteriorische Annäherung an Medialität geht häufig mit einem Diffusionsgedanken einher. Das Medium wird dabei als etwas begriffen, das mit der Hervorbringung in das von ihm Hervorgebrachte übergeht. Anders als Medien im Sinne von technischen Apparaten, haben Medien in diesem weit gefassten Medienbegriff keine vom Darstellungsprozess ablösbare Existenz.139 Ihre Präsenz kann allenfalls als »die unbeabsichtigte Spur [des] absichtsvoll gebrauchten Zeichens«140 begriffen werden oder, in Tholens Worten, als das »sich in den Gestalten [Verlierende], in denen wir sie wahrnehmen können«.141 Auch Dieter Mersch nähert sich dem Medialen als Rückständiges der Vermittlung. Er setzt einen ähnlichen Verschmelzungsgedanken wie Tholen an, um das »Paradox des Medialen, sein Verschwinden im Erscheinen«142 zu fassen, wenn er schreibt: »Kein Medium vermag seine eigene Medialität mitzuteilen, weil die Form der Mitteilung selbst kein Mitgeteiltes sein kann: Sie geht in diese ein.«143 Medientheoretische Ansätze, die dagegen das Apriorische von Medien betonen, neigen dazu, Medien absolut zu setzen. Als Beispiel sei hier auf Alexander Roesler verwiesen, der Medialität für die Erschließung von Gegenständlichkeit voraussetzt und zu dem apodiktischen Schluss kommt: »Ohne Medien gäbe es also auch keine ›Gegenstände‹«.144 In seiner medientheoretischen Auslegung von Derridas Differenzkonzept setzt er Medien mit Signifikanten gleich. Genauso wie Derrida davon ausgeht, dass das Signifkat von der Reibung der Signifikanten abhängt, mithin dass Ideen nicht vorgängig sind, sondern sich aus den Differenzgraden ihrer Entäußerungen ergeben, folgert Roesler, dass »Sinn ohne Medien nicht existent wäre«.145

137 Tholen 2002: 8. 138 Ebd.: 60. 139 Vgl. Krämer 1998: 82ff. 140 Ebd.: 80. 141 Tholen 2002: 60. 142 Mersch zitiert bei Roesler 2008: 88. 143 Mersch 2007: 87. 144 Roesler 2003: 45. Siehe auch Roesler 2008: 76. Auch bei Friedrich Kittler etwa sind Medien ein Apriori »eine diskursive Voraussetzung des Menschen und seiner Wissensformen« (Oliver Simons über Kittler in: Simons 2009: 162). Siehe auch Renner 2008: 421. 145 Roesler 2008: 73.

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Dieses Verständnis von Medien als Bedingung von Vergegenwärtigung, die gleichwohl nur als Überschuss des Vergegenwärtigten zugänglich wird, führt die widerspruchsreiche Tragweite vor Augen, mit der in der Medientheorie die Frage nach medial bedingter Erzeugung von Sinn verhandelt wird. Der Grund dafür ist die prekäre Greifbarkeit des Medialen, die sich u.a. in einer medientheoretischen Vorliebe für die Schrift widerspiegelt. Ludwig Jäger etwa kritisiert die Fixierung der Medientheorie auf Schriftlichkeit und hält ihr vor, sie täte so, »als gebe es für die Sprache ohne die Schrift keinen Modus medialen Erscheinens«.146 Der Vorwurf von Jäger ist auch ausschlaggebend in Bezug auf ein derridasches Erbe der Medientheorie: Hatte Derrida noch Anstoß an der Hegemonie des gesprochenen Wortes genommen, wird seinen Nachfolgern nun das Gegenteil vorgehalten. Die medientheoretische Vorliebe für die Schrift muss aber nicht ausschließlich eine Folge der Leitfunktion sein, die Derridas Differenzgedanke für viele Medientheoretiker spielt. Sie kann auch als Ausdruck einer epistemologischen Verunsicherung gegenüber der Beschreibbarkeit des Medialen verstanden werden. Denn, wie soll man etwas bestimmen, das nur durch visuelle und auditive Vergegenwärtigung aktiviert wird, darin aber nicht mehr in Erscheinung tritt? Das Mediale dort ausmachen zu wollen, wo es sich potentiell dem Blick zeigt und nicht dem Gehör, wäre dann der höheren erkenntnistheoretischen Zuverlässigkeit geschuldet, die dem Auge gegenüber dem Ohr generell zugestanden wird. Folgt man Dieter Mersch, dann ist allerdings jeglicher Versuch hinfällig, intakte Medialität erfassen zu wollen. Er geht davon aus, dass »eine Wahrnehmbarkeit des Medialen nur dort gelingt, wo die Medialität des Mediums ausgesetzt wird oder zusammenbricht«.147 Dieter Merschs Vorschlag, Medialität aus ihrer Negativität heraus zu begreifen, findet sich in vielen aktuellen Auseinandersetzungen mit Störungsvorgängen wieder148 und scheint vorläufig einer der am besten handhabbaren Ansätze zu sein, sich dem Medialen zu nähern. Die von Ludwig Jäger lancierte ›Transkriptionstheorie‹ setzt zwar einen konstruktiveren Maßstab an die Auseinandersetzung mit Medialität. Aber auch hier kommt dem Störungsprinzip erhöhte Aufmerksamkeit zu. Das

146 Jäger 2000: 18. 147 Mersch 2007: 86. Diesen Gedanken veranschaulicht auch seine Internetseite, die sich dem Leser in Gestalt einer Fehlermeldung präsentiert, wie sie normalerweise angezeigt wird, wenn die Verbindung zum Internet unterbrochen wurde (vgl. http://www.dietermersch.de/). Auch das Kapitel mit dem Titel 4. Hauptstück: Materialität in seinem Buch Was sich zeigt demonstriert den Gedanken, dass die Materialität von Medien nur durch Störungen präsent wird, da dem Leser hier nichts weiter als eine leere Seite unter die Augen gerät (vgl. Mersch 2002: 354). 148 Vgl. Jäger 2012: 111f, 122f., 29 oder Koch/Petersen/Vogl 2011 und Kümmel/Schüttpelz 2003.

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Störungsprinzip hat neben den vier anderen Prinzipien,149 mit denen Jäger seine Theorie referenzbedingter Bedeutungskonstituierung bestreitet, eine Art Metafunktion, da es ermöglicht, mediale Transparenz zu veranschaulichen.150 Herman Melvilles bekannte Novelle von Bartleby dem Schreiber führt die Rolle der Störung bei der Sichtbarmachung des Medialen nahezu parabelartig vor Augen. Die ganze Geschichte basiert auf einem medialen Ausfall, der sich in Bartlebys einzigen stoisch wiederholten Satz »I would prefer not to«151 versinnbildlicht. Die freundliche Verweigerung des Protagonisten, die von ihm kopierten Schriftstücke mit seinem Vorgesetzten durchzusehen und zu korrigieren, steigert sich zu einem stufenweisen Zusammenbruch der gesamten Logistik des Bürobetriebs – von dem letztlich nur Bartleby selbst in den verlassenen Arbeitsräumen zurückbleibt. An Bartlebys Sprachgebrauch lässt sich eine Art Umkehr des Medialitätsparadoxes beobachten. Bei ihm geht das Medium nicht in der Mitteilung auf, sondern die Mitteilung im Medium. Als Kopist eines Notars wird geschriebene Sprache für ihn schon berufsbedingt auf eine Geste reduziert, durch die der Inhalt des Geschriebenen hinter der Speicherkapazität von Schrift zurücktritt. Und auch mit seiner gesprochenen Äußerung scheint er weniger auf einer Idee zu beharren, als seiner Aussage eine überdeutliche physische Präsenz zu verleihen. Anstatt sich in der mitgeteilten Idee zu verflüchtigen, nimmt Bartlebys Sprache den Raum ihrer Ausübung buchstäblich in Beschlag. In der Schreibprozessforschung werden dergleichen physische Auswirkungen von Schriftmedien nicht – wie in der Geschichte von Bartleby – demonstriert, sondern in Bezug gesetzt zu Gedanken- und Ideenvermittlung in literarischen Texten. Die Aktivierung von Sprache wird insbesondere im Kreis der Baseler Forschergruppe zur Genealogie des Schreibens um Martin Stingelin im Verhältnis von Schreibgerät und schreibendem Subjekt analysiert und als ein Prozess der Auseinandersetzung verstanden.152 Dabei beansprucht Stingelin für schreibprozessuale Untersuchungen ein »produktionsästhetische[s] Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses, der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zur Veröffentlichung verschiedene Phasen umfasst«.153 149 Dazu gehören das ›Spur-Prinzip‹, das ›Übersetzungs-Prinzip‹, das ›Medialitäts-Prinzip‹ und das ›Rekursions-Prinzip‹ (vgl. Jäger 2012: 22ff.). 150 Vgl. ebd. 151 Melville 1985: 19. 152 Unter das Stichwort ›Schreibprozessforschung‹ fallen ebenso Ansätze wie der der ›critique génétique‹, in der verstärkt mit der Analyse von Manuskripten gearbeitet wird (vgl. etwa den Artikel von Almuth Grésillon in Zanetti 2012), genauso wie die Studie Wissen, Können und literarische Praxis von Tasos Zembylos und Claudia Dürr, die den literarischen Schreibprozess bei drei jungen Schriftstellern in actu verfolgt (vgl. Zembylos/Dürr 2009). 153 Stingelin 2004: 15.

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Die Parameter dieses Prozesses werden von Rüdiger Campe unter dem Obergriff ›Schreibszene‹ zusammengefasst und in die drei Kriterien ›Sprache‹ (Semantik des Schreibens), ›Instrumentalität‹ (Technologie des Schreibens) und ›Geste‹ (Körperlichkeit des Schreibens) unterteilt.154 Problematisiert ein Schriftsteller die ›Schreibszene‹, indem er einen expliziten Metadiskurs zu einem dieser drei Kriterien eröffnet, spricht Campe dagegen von ›Schreib-Szene‹.155 Das Ungleichgewicht der drei Faktoren der Schreibszene äußert sich in einer Widerständigkeit, die dem Schreiben aus unterschiedlichen Gründen anhaften kann. Sie zeigt sich erst im Prozess des Schreibens und je nach Autor gilt es, sie so wenig wie möglich zu reizen oder aber auch demonstrativ herauszufordern. Wie die Schreibprozessforschung zeigen konnte, wird dieser Widerstand häufig an den Schreibinstrumenten festgemacht. Goethe sah seine Schaffenskraft zum Beispiel ganz konkret von den Schreibgeräuschen seiner Feder beeinträchtigt. Deshalb ging er zu Bleistiften über, die lautloser über Papier gleiten und ihn dadurch weniger von seinen Gedanken ablenken konnten.156 Bei anderen Schriftstellern führen diese Listen oder die Notwendigkeit sie einzuführen, um dem Eindruck einer Widerständigkeit des Schreibens aus dem Weg zu gehen, dazu, den raren Schreibfluss zu mystifizieren oder die von ihnen bevorzugten Schreibinstrumente wie Fetische zu behandeln.157 Abgesehen von solchen persönlichen Vorlieben wird die ›Schreib-Szene‹ in der Schreibprozessforschung aber vorwiegend an medienhistorischen Paradigmenwechseln untersucht.158 Gerade an solchen Übergangsphasen, in denen die Gewöhnung an neue Medien die Charakteristika des überkommenen Mediums besonders hervortreten lassen, zeigt sich, dass (literarische) Texte nicht schlichtweg Gedankenwürfe sind, die unbehelligt mithilfe eines Codes kanalisiert werden. Der Anteil des Schreibwerkzeugs an der gedanklichen Fertigung kann laut Stingelin sogar soweit führen, dass der Schreibende sich in seiner Aussagesouveränität beschnitten fühlt und damit »ein Teil der poetischen Autonomie an das Schreibwerkzeug abgetreten [würde]«.159 Die von der Schreibprozessforschung initiierte Reihe mit Sammelbänden zur Genealogie des Schreibens setzt einen eng gefassten oder auch technischen Medienbegriff an. In ihrer »chronologischen Abfolge vom handschriftlichen zum me154 Vgl. ebd. 155 Ebd. Vgl. auch den Artikel von Rüdiger Campe in Zanetti 2012. 156 Vgl. ebd.: 9. 157 Vgl. ebd.: 7ff. 158 Siehe zum Beispiel die von Davide Giuriato verglichenen Texte aus den 1920er Jahren, die sich mit der Bedeutung des Schreibmaschinenschreibens beschäftigen: Giuriato 2005: 8ff. 159 Stingelin 2004: 9.

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chanisierten hin zum digitalen Schreiben«160 fokussiert sie jeweils einen Gerätetyp und seine Auswirkungen auf das Schreiben in spezifischen historischen Zusammenhängen. Das Medium wird dabei auf das Schreibinstrument reduziert und als eines von drei produktionsästhetischen Momenten der Sprache und der Körperlichkeit des Schreibenden gegenübergestellt. Dadurch wird der mediale Charakter von Sprache selbst außer Acht gelassen, was sich u.a. darin zeigt, das Sprache nur hinsichtlich ihrer semantischen Dimension in den Prozess des Schreibens einbezogen wird, nicht aber hinsichtlich ihrer Materialität. Indem Davide Giuriato zwar eingesteht, dass sich Widerstände »eigentlich auf allen Ebenen der Schreibpraxis«161 einstellen können, letztlich aber die medientechnisch bedingten Konflikte in den Vordergrund gestellt werden, geraten die medial aktivierten Reibungen aus dem Blick, die sich etwa über die Materialität von Sprache oder über intermediale Bezugnahmen einstellen können. Grundsätzlich wird das Schreiben in der Schreibprozessforschung aber als ein »Beziehungsgefüge«162 anerkannt, das dem Schreibenden eine Auseinandersetzung auf verschiedensten Ebenen abverlangt. Sofern er Schrift nicht nur als effektives Kommunikationsmittel begreift, das helfen soll, gesellschaftliche Abläufe zu garantieren, stößt er unweigerlich auf die Bedingungen ihrer Verarbeitung. Auch wenn dabei die Kenntnis des sprachlichen Codes eine Basisvoraussetzung bleibt, zeigen produktionsorientierte Literaturbegriffe wie der der Schreibprozessforschung, dass die schriftliche Verarbeitung von Sprache weiteren Faktoren unterliegt. Wie bei allen symbolischen Zeichensystemen tritt die Zeichenhaftigkeit von Sprache im Moment ihrer Aktivierung zwar besonders hervor, weil ihre Inbetriebnahme die Kenntnis des Codes voraussetzt. Es gibt aber auch einen nicht konventionalisierbaren Grad von Schrift, der sich im Umgang mit ihr zeigen kann wie etwa in Form einer material- und medienästhetischen Widerständigkeit. Berücksichtigt man diese Ebene des Schreibens, fällt unweigerlich der Moment der Hervorbringung eines Textes und damit der Akt des Schreibens stärker ins Gewicht. Handarbeit Der in den vorherigen Kapiteln aufgearbeitete Diskurs bedingt einen Literaturbegriff, bei dem die handwerkliche Komponente des Schreibens eine untergeordnete Rolle spielt. Die antiintentionalistischen Literaturtheorien sind grundsätzlich auf die Wirkung von Texten fokussiert und klammern die tatsächliche Verarbeitung von Sprache tendenziell aus. Das gilt auch für die Medientheorie, die sich zwar mit den

160 Giuriato 2005: 7. 161 Ebd.: 8. 162 Ebd.: 7.

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Bedingungen sprachlicher Darstellung auseinandersetzt, aber die daraus resultierenden Folgen für den Einsatz des Mediums kaum berücksichtigt. Nur mit der Schreibprozessforschung und ihrer Fixierung auf Schreibwerkzeuge wurde bereits ein literaturtheoretischer Ansatz angesprochen, der die konkrete Anfertigung von Texten mitreflektiert. Dieser über das Entwerfen und die Intention literarischer Texte hinausgehende Aspekt wurde von Roland Barthes – ungeachtet seiner Absage an den Autor – berücksichtigt. Immer wenn Barthes sich dem Schreibenden nicht als Autorität, sondern als tätigem Subjekt nähert, kommen die physischen Bedingungen literarischer Produktion in seinen Überlegungen zum Tragen. Zwar dekliniert er die Beziehung von Literatur und Handwerk nicht anhand der Fähigkeiten des Schreibenden durch. Aber er nähert sich ihr an, indem er sich fragt, was die Hand mit der schriftstellerischen Arbeit verbindet oder, weiter gefasst, wie sich die körperliche Präsenz des Schreibenden im Text niederschlägt. Es hat sich etabliert, Barthes’ Texte in verschiedene Phasen zu unterteilen, mindestens in zwei, Früh- und Spätwerk, und seine intellektuelle Biographie durch eine Wende zu kennzeichnen, die sich mithilfe seines ›écriture‹-Begriffs umschreiben lässt.163 Anfangs versteht er unter ›écriture‹ den Stil eines Autors oder einer Epoche. Später, mit etwa zwanzig Jahren Abstand, legt er den Begriff »par une sorte de remontée vers le corps«164 in motorisch-praktischer Hinsicht aus. Mit Gabriele Röttger-Denker kann man insofern festhalten, der Körper sei »das Thema des späten Barthes«.165 Inwiefern dieses Thema bei Barthes nun eine Bestimmung des Literarischen streift und dabei die literatursemiotischen Dominanten Konvention und Codierbarkeit zugunsten literarischer Indexikalität hinter sich lässt, soll im Folgenden unter Rückgriff auf den 1973 verfassten, aber erst 2002 posthum veröffentlichten Band Variations sur l’écriture geschildert werden. Die Ausgangsüberlegung des späten Barthes für die Annäherung an das Phänomen Literatur besteht in einer simplen indirekten Setzung: Sie basiert auf einer überzeitlichen und transnationalen Konstante literarischer Texte – der Schrift. Da 163 Vgl. hierzu etwa das Nachwort von Hanns-Josef Ortheil in: Barthes 2006: 197; Simons 2009: 71 oder auch Gabriele Röttger-Denker, die in ihrer Einführung ausschließlich das Spätwerk fokussiert (vgl. Röttger-Denker 1997: 33ff.). Auch Vincent Jouve spannt die Entwicklung von Barthes’ ›écriture‹-Begriff zwischen zwei Polen auf: von dem »tribut indispensable de l’écrivain à la société« zum »acte textuel d’une libération culturelle« (Jouve 1986: 40). In L’Aventure sémiologique nimmt Barthes im Übrigen selbst eine Unterteilung vor, die einem Dreierrhythmus folgt: In der ersten Phase seines Schaffens habe er sich maßgeblich mit einer Kritik der kleinbürgerlichen Mythen beschäftigt, die zweite Phase sei die der Wissenschaftlichkeit und die dritte die des Textes (vgl. Zima 1991: 271). 164 Barthes 2006: 6. 165 Röttger-Denker 1997: 37.

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Komponenten wie Weltanschauung, Ideen oder Moral einer zu starken historischen und gesellschaftlichen Prägung unterliegen, verwundert es nicht, dass bei Barthes der Signifikant am Beginn eines Reflexionsprozesses über die Beschaffenheit von Literatur steht und nicht das Signifkat. Damit wendet er sich von einem klassischen Literaturbegriff ab, bei dem eine Überwindung des Materials zugunsten des Inhalts und der Form angestrebt wird. Wie Derrida in seiner Grammatologie geht auch Barthes davon aus, dass Sprache sagen und Sprache schreiben zwei sehr weit voneinander entfernte Tätigkeiten mit unterschiedlichen Funktionen, unterschiedlichen Konsequenzen und einer verschiedenen Medialität sind.166 Ihre Differenz demonstriert Barthes zunächst an kinetischen und wahrnehmungstheoretischen Aspekten, indem er auf den unterschiedlichen Einsatz der verschiedenen Körperteile verweist: Gesprochene Sprache findet im Gesicht statt, wird von den im Mundbereich angesiedelten Organen, Lippen, Zunge, Zähne und Gaumen erzeugt und vom Hörsinn gesteuert, während geschriebene Sprache vom Bewegungsapparat des Rumpfes, insbesondere den Händen, betrieben und durch den Blick gelenkt wird.167 Dadurch werden verschiedene Wahrnehmungskanäle für die schriftliche oder mündliche Realisierung von Sprache aktiviert, die von unterschiedlichen Reizen stimuliert werden. Barthes leitet die von ihm beobachtete Tendenz einer Gleichschaltung von Laut und Graphem mithilfe von sprachhistorischen, anatomischen aber auch soziologischen Argumenten168 von einer positivistisch bedingten Überbetonung der kommunikativen Leistung von Sprache ab. Die Überbetonung der sprachlichen Kommunikationsfunktion geschehe wiederum auf Kosten des ästhetischen Gehalts von Sprache,169 sodass man sagen kann, Barthes geht von einer Unterdrückung des sprachlichen Gestaltungswertes durch ihren Gebrauchswert aus. Um seine These zu stützen, argumentiert er mit Jacques Van Ginneken und André Leroi-Gourhan, dass Schrift nicht aus dem Bedürfnis einer Fixierung von gesprochener Sprache entstanden sei, sondern aus graphischen Darstellungsformen wie Gebärde, Figur und Einkerbung.170 Demnach durchzieht die Variations sur l’écriture indirekt die (nach wie vor) poststrukturalistische Kritik einer Indienstnahme der geschriebenen von der gesprochenen Sprache. Die Kritik an der beherrschenden Ausrichtung gesprochener Sprache kulminiert bei Barthes in zwei Bildern: das Bild des freien Bürgers im alten 166 Vgl. Barthes 2006: 26. 167 Vgl. ebd.: 68. 168 So spricht Barthes zum Beispiel von der »vérité noire de l’écriture« (ebd.: 24), die über Jahrhunderte dazu geführt habe und immer noch dazu führe, eine gesellschaftliche Spaltung zwischen den wenigen besitz- und bildungsmächtigen Schriftinitiierten und den vielen von Schrift und damit von Besitz und Bildung Ausgeschlossenen hervorzurufen. 169 Vgl. ebd.: 30. 170 Vgl. ebd.: 56ff.

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Rom, der seinem Sklaven das, was er zu notieren wünscht, diktiert171 und sein modernes Substitut, die Sekretärin, die als »prothèse manuelle du patron«172 seine Worte in die Maschine tippt. Anders als Derrida, der anhand der Schrift seine Kritik eines lautzentrierten abendländischen Wahrheitsdenkens illustriert, versucht Barthes jedoch, die Autonomie der Schrift zu rehabilitieren, indem er ihr eine Art eigenes Lustprinzip zuschreibt. Gesteuert wird dieses der Schrift beziehungsweise dem Schreiben innewohnende Lustprinzip bei Barthes von einem Drang nach Übertretung. Es begehrt nicht nur gegen die Hegemonie gesprochener Sprache auf, sondern auch gegen alle Bereiche, in denen Schrift normgerecht und verständigungseffizient eingesetzt wird. Hierzu gehört das gesamte von Barthes aufgeführte »registre légal de marques indélébiles«,173 das Schrift bedient, wenn sie über Zeit, Vergessen, Irrtum und Betrug triumphieren soll. Genauso zählt dazu aber auch die »obsession économique«,174 die, so Barthes, die Geschichte der Schrift begleitet. Damit meint er eine Tendenz zur Beschleunigung des Schreibens in Form von beispielsweise Kurzschriften, die immer dann erhöht ist, wenn es gilt, Zeit und Raum des Sprechens zu überwinden.175 Barthes beobachtet diese Formen des Schreibens in einem juristischen oder auch bürokratischen, also Recht, Besitztum und Macht regelnden Diskurs. Es handelt sich jeweils um Anwendungen des Schreibens mit einer effektiven kommunikativen Ausrichtung an ein Gegenüber, um ein Mittel zum Zweck, das möglichst unmissverständlich eingesetzt werden soll. Folglich verlässt sich dieses einer Kommunikationsabsicherung gleichkommende Schreiben auf die Konventionalität von Sprache und fördert sie, indem sie mittels Schrift gesellschaftliche Absprachen festigt, deren Zuverlässigkeit in eindeutig verhandelten sprachlichen Konventionen verankert ist. Entscheidend für Barthes Interesse an der ›écriture‹ ist allerdings die lustgesteuerte Weise des Schreibens, die er als eine Praxis versteht, »où s’engage tout le sujet«.176 Sie setzt sich vom erstgenannten Umgang mit Schrift vorwiegend dadurch ab, dass sie nicht zur »simple transcription des messages«177 dient. Dieses Desinteresse daran, mit dem Schreiben Mitteilungen zu produzieren, resultiert aus einer an171 Vgl. ebd.: 114. 172 Ebd. 173 Ebd.: 112. 174 Ebd.: 130. 175 Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht sei der Traum vom »automatischen Schreiben«, der sich von Quintilian bis zu den Surrealisten ziehe und bei dem der Wunsch nach Beschleunigung immer von dem Streben nach einer möglichst absoluten Deckung des Schreibens mit dem Denken motiviert sei (vgl. ebd.: 132). 176 Ebd.: 112. 177 Ebd.

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derweitigen Befriedigung, die sich bereits mit dem Schreiben selbst einstellt und daher nahezu abgelöst von seinem Endergebnis auftritt. Es ist eine Art Lust, den eigenen Körper nach außen zu kehren oder auch zu verlängern, die durch eine ständige Reibung mit der semiotischen Einheit von Signifkant und Signifikat in Gang gehalten werden kann. Der rotierende Angelpunkt dieser Reibung ist der Signifkant. Er wird durch seinen Widerstand erst präsent und legt laut Barthes am deutlichsten im Duktus der Handschrift Zeugnis vom Übertritt der eigenen Körpergrenzen ab.178 Das Signifikat gerät dagegen in eine fortlaufende Dynamik, die sich über das Prinzip »position/déception de sens«179 als ein Wechselspiel von Be- und Entdeuten gestaltet. Während der Akt des Schreibens in Barthes’ spätem ›écriture‹-Begriff also einer Leibesübung gleichkommt, die dem Schreibenden an dessen Körpergrenzen sein physisches Selbst zugänglich macht, wird ihm im Schriftbild eine Art Protokoll dieses Vorgangs vor Augen geführt. In Variations sur l’écriture arbeitet Barthes diesen Aspekt über eine Annäherung von Schrift an ikonische beziehungsweise unkonventionelle Zeichensysteme heraus. Sein Hauptargument für die von ihm beobachtete »mariage de la peinture […] et de l’écriture«180 betrifft den Ursprung der Schrift. Die beiden bereits genannten Sprachhistoriker gehen davon aus, dass die Schrift sich aus visuellen Praktiken entwickelt hat.181 Gerade die Theorie von LeroiGourhan, die auf der Geburt der Schrift aus dem Graphismus beruht, wird von Barthes immer wieder herangezogen, um Schrift neben ihrer symbolischen auch eine abstraktere, vorwiegend rhythmische Funktionsweise an die Seite zu stellen.182 Insgesamt entsteht durch die Annäherung der Schrift an nicht-symbolische Zeichensysteme also eine Bedeutungsoffenheit mit gleichzeitiger Sinnstiftung. Gerade die nicht festgelegte und nicht festzulegende Bedeutung führt dabei in ihrer Instabilität eine anders geartete Sinnhaftigkeit herbei. Für Barthes ist solch eine ins Ungewisse getriebene und kommunikativ nur sekundär Rechenschaft ablegende Schreibweise potentiell literarisch. Literatur wird bei Barthes somit zu einem sekundären Aussagesystem, das auf der Ebene der zweiten Ordnung nicht etwa einen doppelten Code ausbildet,183 son178 Vgl. ebd.: 150. 179 Jouve 1986: 29. 180 Barthes 2006: 182. 181 Vgl. ebd.: 181. 182 Vgl. ebd.: 180. Die Offenkundigkeit der Verwandtschaft von Kunst und Schrift tritt besonders in der asiatischen Schreibtradition zu Tage, weshalb Barthes häufig auf sie referiert. In der Kalligraphie ähneln sich nicht nur die Werkzeuge und die Gesten des Schreibenden und des Malenden, der Kalligraph wird auch als der eigentliche Dichter verstanden. 183 Diese These vertritt Jurij Lotman bekanntermaßen in seinem Buch Die Struktur literarischer Texte (vgl. Lotman 1993).

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dern den Code der ersten Ordnung durch eine andauernde Bewegung oder Verschiebung von Sinn irritiert. Diese Verschiebung der Konventionalität hängt maßgeblich vom Einsatz des schreibenden Subjekts ab, von seiner Lust, Bedeutungsgrenzen auszuloten, im Schreibprozess Haltung zu gewinnen und Spuren seiner Präsenz im Text zu hinterlassen. Weniger ein ›être de papier‹, das sich über den Wissenshorizont eines Textes und die Zutaten der ›histoire‹ definiert, gibt sich dieses schreibende Subjekt im Text über den Umgang mit Rückständen des Sprachvollzugs als ein être de l’écriture zu erkennen. Wie die Überlegungen zur Autorintention, zur Medialität und zum Schreibprozess gezeigt haben, hält Literatur neben ihrer arbiträren Ausgangsstruktur auch einen großen Bereich nicht konventionalisierter Bedeutungsebenen bereit, die meist in einem Spannungsverhältnis zu ihrer Symbolhaftigkeit stehen. Er wird von einer Indexikalität zweiter Ordnung organisiert, da mit ihm Bedeutungsdimensionen aufgerufen werden, die auf den Verursacher des Textes und seine medialen Umgangsformen verweisen.

Chiastisches Verhältnis von Fotografie und Literatur

Intermediale Bezüge zwischen Literatur und Fotografie sind häufig dokumentarisch motiviert. Literarische Referenzen auf fotografische Abbildungsweisen dienen dann dazu, den historischen Referenzrahmen von Beschreibungen zu stützen oder zu dementieren. Dazu können konkrete Fotografien, stereotype fotografische Motive oder spezifisch fotografische Darstellungsweisen in ihrem Dokument- oder auch Pseudodokumentcharakter herangezogen werden. Émile Zola baut etwa auf das Dokumentarische der Fotografie, um seinen Texten einen hohen Grad historischer Glaubhaftigkeit zu verleihen und das Erzählgeschehen in einer verifizierbaren Umgebung anzusiedeln. Wie eine Untersuchung von Annika Spieker zeigt, nutzt Zola insbesondere die Romananfänge für Rekurse auf die Fotografie, um die Handlung in einem historischen Kontext zu situieren und seine Programmatik zu bestärken. Laut Spieker konstituiert sich der Naturalismus, »indem das Milieu eingeführt wird, und zwar nicht als erdachtes, sondern als real vorhandenes, das über den Bezug zur Photographie beglaubigt wird.«1 Die Anleihe bei der Fotografie hätte damit bei Zola die Funktion, seinen Anspruch auf Objektivität der Beschreibungen zu gewährleisten. Willi Sebald wäre dagegen ein prominentes Beispiel für die literarische Verarbeitung der in den letzten Jahren stark gewordenen Kritik am Dokumentarischen der Fotografie, die in der Fototheorie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit fotografischer Fiktionalität geführt hat.2 Dabei stehen Inszenierungs- und Verrätselungspraktiken im Zentrum des Interesses, mit denen die Nachweisbarkeit des Aufnahmemoments verkompliziert wird. Auch Willi Seebald unterläuft die Aussagekraft von Fotografien über die Realität, indem er den fotografischen Illustrationen seiner Erzählungen einen direkten Bezug zur Handlung andichtet. Er nutzt die Fotografien also als Pseudodokumente und stiftet Verwirrung hinsichtlich des Fik1

Spieker 2008: 247.

2

Vgl. für fototheoretische Auseinandersetzungen dieser Art Blunck 2010 und Vogel 2006.

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tionsstatus der Texte, indem er die »verlässliche Beglaubigungsleistung«3 der Fotografie gezielt unterläuft. Die anschließend untersuchte Art der intermedialen Bezugnahme zieht die Fotografie allerdings nicht für (Des-)Objektivierungsstrategien heran, sondern für eine literarische Praxis der Konfrontation mit Gegebenem. Deshalb spielt die Debatte um fotografische Realitätsbeglaubigung und ihre Übertragbarkeit auf Literatur eine untergeordnete Rolle. Die hier untersuchte Form des intermedialen Bezugs nähert sich der Fotografie als Dispositiv, das sich auf alle Phasen der fotografischen Produktion erstreckt. Insofern geht es darum, fotografische und literarische Entstehungsprozesse und ihre verfahrenstechnischen und produktionsästhetischen Implikationen einander gegenüberzustellen. Wie die Diskussionen und Erläuterungen um den Zeichenstatus von Fotografie und Literatur gezeigt haben, unterliegen die Darstellungsvorgänge der beiden Medien verschiedenen Parametern. Fotografieren beruht auf einem Mechanismus, den man als Übertragung oder Transfer kennzeichnen kann. Er geht von der Anwesenheit der Dinge aus, die entweder vor oder nach dem Abdruck, nicht aber währenddessen mit verschiedensten Bedeutungen ausgestattet werden können. Schreiben beruht dagegen auf einem Umwandlungs- oder Transformationsprinzip. Es geht von Bezeichnungen aus und operiert somit per se auf einer Bedeutungsebene. Insofern baut Literatur ihren lebensweltlichen Zusammenhang auf Absenz, da die Darstellungsweise von Sprache auf Ideen basiert und nicht auf die unmittelbare Präsenz der Phänomene angewiesen ist, die sie veranschaulicht. Der unabdingbaren Präsenz des Referenten während des fotografischen Aktes steht damit die weitgehende Absenz des Referenten während der Genese eines Textes gegenüber. Andersherum gilt, dass gerade die Präsenz des Referenten während der fotografischen Aufnahme seine Absenz auf dem Foto besonders hervorkehrt, wohingegen Texte das von ihnen geschilderte Abwesende meist von neuem oder auch anders präsent machen wollen. Insofern ergänzen sich die Präsenz des Referenten im fotografischen Aufnahmeprozess und seine Absenz im Rezeptionsprozess gegenläufig zur Absenz des Referenten im literarischen Entstehungsprozess und dem Versuch seiner Vergegenwärtigung im Rezeptionsprozess. Dieses chiastische Verhältnis von Fotografie und Literatur zu der Ab- und Anwesenheit ihrer Referenten wirkt sich auch auf den Bezug des Erzeugers zu dem von ihm Erzeugten aus. Der Fotografierende befindet sich zwangsläufig physisch an einem Ort mit dem Referenten und kann unmittelbar über seine Erscheinung Teil der Darstellung werden, während der Schreibende »nur« psychisch oder geistig mit dem Referenten an einem Ort verweilt und nur mittelbar Teil der Darstellung werden kann. Denis Roches’ wörtlich zu nehmende Überlegung zum autobiografischen Schreiben trifft einen für die vorangegangenen Überlegungen wichtigen Punkt: »[…] aucun genre 3

Fulda 2009: 406.

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littéraire ne permet à l’écrivain d’entrer dans ce qu’il écrit«.4 Die Fotografie dagegen erlaubt diesen »Eintritt in die Darstellung« laut Roche durch die Technik des Selbstauslösers oder durch Spiegelungen. Allgemein kann man also sagen, Fotografie gestaltet nach der Formel gegeben ist XY und Literatur nach der Formel gegeben sei XY. Die hier untersuchte Form der Annäherung von Literatur und Fotografie versucht das Grundmuster des gegeben ist XY der Fotografie auf den Schreibprozess zu übertragen. Aus diesem Grund setzt sie in der Phase des fotografischen Aktes an, der auf die Präsenz des Referenten angewiesen ist, das heißt im Moment der Aufnahme und nicht im Moment der Bildbetrachtung. In der Terminologie von Irina Rajewskys Intermedialitätstypologie ließe sich der Untersuchungsrahmen wie folgt grob fassen: Die für die intermediale Analyse gewählte Perspektive setzt die Literatur als ›kontaktnehmendes System‹ oder ›Objektmedium‹ an, die Fotografie dagegen als ›kontaktgebendes System‹ oder auch ›Referenzmedium‹. Die Rekursart zwischen den beiden Medien fällt in den Bereich der ›intermedialen Bezüge‹ und ist weithin als ›Systemkontamination‹ zu bezeichnen.5 Kreuzung der Medien Die Intermedialitätstheorie beschreibt ihren Gegenstand häufig mithilfe eines räumlichen Adverbs, das immer wieder auch zum Substantiv und zu einer zeiträumlichen Metapher gerät: das ›Dazwischen‹ (der Medien).6 Damit wird der Abstand zwischen den zueinander in Beziehung gesetzten Medien betont, ihr unüberwindbarer Unterschied bei gleichzeitiger Annäherung. Dieselbe Metapher wird in der Medientheorie für den medial bedingten Übersetzungsmoment selbst herangezogen, sodass ›Dazwischen‹ hier die Medialität der Medien umschreibt.7 In beiden Terminologien wird damit ein Verhältnis der Distanz beschrieben, das mit der Übertragung zwischen der übertragenden und der übertragenen Größe entsteht. In der Intermedialitätstheorie wird diese Distanz auch »intermedial gap«8 genannt. Sie

4

Roche 2007: 77.

5

Vgl. Rajewsky 2002: 205.

6

Vgl. ebd.: 22. Auch Joachim Paech und Jens Schröter machen aus dem ›Inter‹ eine Wesensform des Medialen, wenn sie die Debatte darüber, was ein Medium sei, mit Marshall McLuhan wie folgt zusammenfassen: Medien bestehen nur »aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien. Intermedialität ist so gesehen gegenüber dem ›Einzelmedium‹ das fundamentalere Konzept.« (Paech/Schröter 2008: 11).

7

Vgl. Tholen 2012: 43-63. Tholen spricht auch von »Dazwischenkunft« (Tholen 2002: 9).

8

Rajewsky 2002: 70.

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bildet die theoretische Legitimationsgrundlage und gleichzeitig den gemeinsamen Ansatzpunkt der unterschiedlichen Intermedialitätstypen. Das Intermedialitätsmodell von Irina Rajewsky unterscheidet vor dem Hintergrund dieser zwangsläufigen Mediendifferenz drei Phänomene von Intermedialität: Die Ergänzung oder auch Interaktion unterschiedlicher Medien, dem entspricht der Modus der ›Medienkombination‹, die Übersetzung oder der Transfer zwischen unterschiedlichen Medien – der Modus des ›Medienwechsels‹ – oder die darstellungsästhetische Anleihe eines Mediums an einem anderen – der Modus der ›intermedialen Bezüge‹.9 Alle drei Modi basieren auf der Grenze der Mediendifferenz, sie definieren sich über den »intermedial gap«.10 Im Modus der ›Medienkombination‹ wird er aufrechterhalten, im Modus des ›Medienwechsels‹ respektiert, aber überschritten und im Modus der ›intermedialen Bezüge‹ wird er überschritten und dabei verschoben. Für die ersten beiden Intermedialitätstypen ist das Beharren auf der strikten Trennung der miteinander kombinierten oder aufeinander bezogenen Medien unproblematisch. Bei der ›Medienkombination‹ stellen verschiedene Medien miteinander – gleichzeitig aber jedes für sich – etwas dar wie etwa in der Oper. Beim ›Medienwechsel‹ wird Medienunspezifisches an ein anderes Medium übergeben, zum Beispiel ein Stoff oder ein Motiv in einer Literaturverfilmung. Nur für den dritten Modus, die ›intermedialen Bezüge‹, scheint die Betonung der Differenz der beiden in Kontakt tretenden Medien in manchen Fällen problematisch, wie bei der ›Systemkontamination‹, da sie eine intermediale Durchdringungsfigur darstellt. Laut Rajewsky setzen ›intermediale Bezüge‹ zwar mindestens zwei als distinkt wahrgenommene Ausgangsmedien voraus, ihre Rezeption ist bei Rajewsky allerdings auf ein illusorisches Verschwinden dieser Distinktion ausgelegt. Die Ursache dafür liegt in einem Grundparadoxon des Intermedialen: Die Mediendifferenz ist einerseits konstitutiver Ausgangspunkt für Intermedialität und wird andererseits durch die intermediale Annäherung auf die Probe gestellt. Um einen Umgang mit diesem Paradox zu finden, bei dem die Differenz der Medien weder übergangen, noch apodiktisch herauskehrt wird, setzt Irina Rajewsky eine notwendige Illusionsbildung hinsichtlich des ›Referenzmediums‹ voraus. Angenommen man läse einen »fotografisch systemkontaminierten« Text, hieße das zum Beispiel, man müsste sich darauf einlassen, den Text zu lesen, als ob er ein Foto wäre. Dementsprechend richtet Rajewsky eine Art Intermedialitätspakt ein, der ähnlich funktioniert wie der ›Fiktionspakt‹ oder der ›pacte autobiographique‹. Bei bereitwilliger Fügung in ein unmögliches oder zumindest unwahrscheinliches Konstrukt wird der Rezipient mit einem ästhetischen oder intellektuellen Erkenntnisgewinn belohnt. Rajewsky löst das Paradox also, indem sie ein rezeptionsorientiertes Als-Ob-Konstrukt entwickelt. Da das ›Objektmedium‹ die Illusionsbildung 9

Vgl. ebd.: 19.

10 Ebd.: 70.

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anregen muss, legt Rajewsky fest, dass die intermedialen Systemreferenzen von rezeptionslenkenden Markierungen begleitet werden müssen.11 Diese expliziten Signale lösen im gleichen Zuge das Problem der Nachweisbarkeit intermedialer Bezüge für die Textanalyse. Es fragt sich allerdings, ob man durch diesen Kompromiss nicht vorab subtile Systemreferenzen ausklammert. Rajewskys Markierungskonzept hätte in solchen Fällen wohl einen ähnlichen Effekt wie eine ironische Bemerkung, die mit dem Kommentar »Achtung: ich werde jetzt ironisch!« eingeleitet wird. Auch für ›intermediale Bezüge‹ kann im Grunde keine strikte Markierung vorausgesetzt werden, mit der darauf hingewiesen wird, wie das Gesagte zu verstehen sei. Wie intermediale Bezüge, ob markiert oder nicht, vorgenommen werden können, hängt zunächst von den involvierten Medien ab und folgt der jeweiligen Produktionslogik und den Entscheidungen des Autors. Der Interpretationsspielraum, der durch ›intermediale Bezüge‹ entstehen kann, muss zunächst auf der Seite der Produktion koordiniert werden, bevor der Rezipient sich in ihm bewegen kann, sodass die Bereitschaft, sich auf ein Als-ob einzulassen, nur eine von vielen möglichen Rezeptionshaltungen wäre. Eine andere Variante wäre etwa die gezielte Suche nach Produktionsparametern, die sich an den Darstellungsmöglichkeiten eines anderen Mediums ausrichten. In jedem Fall begrenzt man die ›intermedialen Bezüge‹ mit einem per definitionem angesetzten Als-ob-Konstrukt12 auf Täuschungsoperationen. Sie belaufen sich dann auf Bezugnahmen, mit denen das ›Objektmedium‹ als das ›Referenzmedium‹ ausgegeben werden soll. Intermediale Annäherungen können aber genauso gut zu einem gesteigerten Darstellungspotential des ›Objektmediums‹ führen. Sie dienen sogar häufig dazu, die gestalterischen Möglichkeiten des Ausgangsmediums auszuloten oder zu erweitern. Rajewskys Ansatz zur Überwindung der medialen Differenz setzt einen enggefassten Materialitätsbegriff voraus. Monomedialität wird darin als ein signifikantes Merkmal ›intermedialer Bezüge‹ verstanden, wonach nur das ›Objektmedium‹ in seiner Materialität präsent sein kann.13 Dadurch wird mediale Materialität zu einem Differenzkriterium und spielt für die ›intermedialer Bezüge‹ selbst keine Rolle. Übereinkünfte zwischen den miteinander in Kontakt tretenden Medien leitet Rajewsky stets von Darstellungsprinzipien ab, die von einem Zeichensystem in das andere übertragen werden. Die Materialität von Medien beschränkt sich bei Rajewsky damit auf die von ihnen hervorgebrachten Produkte und auf die Materialien, die im Entstehungsprozess und im Ergebnis präsent bleiben. Unterschlagen wird dagegen die verfahrenstechnische Materialität und Materialien, die im Verarbeitungsprozess eingesetzt werden. Im Rahmen von Rajewskys Intermedialitätsmodell ist es eine logische Konsequenz des rezeptionsorientierten Illusionskonstruktes, dass die Mate11 Vgl. ebd.: 126 oder 200. 12 Vgl. ebd.: 120ff. 13 Vgl. ebd.: 17.

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rialität der Medien nur hinsichtlich der Mediendifferenz thematisiert wird. An Rajewskys Analyse von ›intermedialen Bezügen‹ in Romanen wird allerdings deutlich, wie zentral die mediale Materialität auch für sie bei der Überwindung medialer Grenzen wird. Wenn die Autorin zum Beispiel davon spricht, es werde in einem Roman von Andrea De Carlo auch »textuell etwas ›gemacht‹«14 während er sich dem Medium Film annähert, kommt eine materielle Dimension des Ausgangsmediums zum Tragen, die der Leser, wenn man Rajewsky beim Wort nimmt, gar nicht wahrnimmt, da er ihn liest, als ob er einem Film beiwohne. Anders formuliert beruht Rajewskys Illusionskonstrukt auf dem Ideal einer Materialitätsüberwindung, dem sie in der Anlayse immer dann indirekt widerspricht, wenn sie die ›intermedialen Bezüge‹ an der Materialität des Ausgangsmediums festmacht. Im Gegensatz zum ebenfalls monomedial organisierten ›Medienwechsel‹ vollzieht sich die Referenz zwischen den Medien bei ›intermedialen Bezügen‹ nicht entlang einer semantischen Vorher-Nachher-Achse bei der einzelne, meist inhaltliche Komponenten von einem in das andere Medium übertragen werden. ›Intermediale Bezüge‹ sind vielmehr auf Simultaneität hin angelegt, auch wenn dem ›Objektmedium‹ von Rajewsky die alleinige materielle Präsenz zugesichert wird. In einem weit gefassten Verständnis medialer Materialität wäre die Präsenz des Mediums an sich ein Aspekt seiner Materialität. Das erlaubt wiederum den Rückschluss, dass mediale Materialität nicht ausschließlich die eingesetzten Materialien umfasst, sondern auch die spezifische Vergegenwärtigungsweise des Mediums, die ihrerseits eine Folge der eingesetzten Techniken und Verfahren ist. Anstatt also zu sagen, ›intermediale Bezüge‹ basieren zwangsläufig auf einer illusionistischen Nachbildung des ›Referenzmediums‹, könnte man sie auch auf der Basis einer Kreuzung oder Durchdringung materieller Teilaspekte betrachten. Dabei würde zum Beispiel ein Medium seine Ausgangsmaterialien zur Verfügung stellen und das andere seine Verfahren und seine verfahrensbedingte Materialität. Unabhängig davon, welche Zugeständnisse man an die Materialität des Bezugsmediums macht, muss aber wiederholt betont werden, dass die vorgetäuschte Präsenz eines Mediums mithilfe der tatsächlichen Präsenz eines anderen Mediums nur eine der möglichen Folgen von ›intermedialen Bezügen‹ ist. Ebenso ist denkbar, dass sich dabei die materielle Erscheinungsform des Ausgangsmediums besonders herauskehrt.15 Aus diesem Grund soll im Folgenden ein weit gefasster Begriff medialer und insbesondere sprachlicher Materialität die Basis bilden, von der aus die intermedialen Annäherungen beobachtet werden. Folglich wird der bei Rajewsky system- und 14 Ebd.: 127. 15 Rajewsky macht Abstufungen hinsichtlich der illusionistischen Ambitionen intermedialer Verfahren. Die ›Systemerwähnung‹ etwa reduziert sie auf Anspielungen, während bei der ›Systemkontamination qua Translation‹ »die literarischen Vertextungsverfahren als ›filmhafte‹ wahrgenommen werden« (ebd.: 129).

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ergebnisorientierte Rahmen ›intermedialer Bezüge‹ um die materiellen und verfahrenstechnischen Komponenten der involvierten Medien erweitert. Die Perspektive verschiebt sich von der Rezeption auf die Produktion, sodass nicht mehr erschlossen wird, wie es zu einer intermedialen Wirkung der Texte kommt, sondern welchen poetischen Beweggrund die intermedialen Korrelationen haben und welche Rolle sie für den Schreibprozess spielen. Weiterhin wird es darum gehen, eine Schnittmenge zwischen den miteinander in Kontakt tretenden Medien zu ermitteln, die sich nicht auf die ›histoire‹ bezieht wie beim ›Medienwechsel‹ und nicht auf die gleichzeitige Darbietung von medialen Erzeugnissen wie bei der ›Medienkombination‹, sondern auf die materiell bedingten Darstellungsqualitäten der involvierten Medien. Dafür ist wesentlich, dass man Mediendifferenz nicht als absolute Größe versteht, sondern als durchlässige, sich verlagernde Grenze. Teilweise Übereinstimmungen zwischen den Darstellungsweisen von Fotografie und Literatur können insofern bei gleichzeitig bestehender Differenz herausgebildet werden. Mehr noch – die Bezugnahme ist, um die Annäherung erst zu ermöglichen, sowohl auf eine intermediale Grenze angewiesen als auch auf eine graduelle intermediale Gemeinsamkeit. Zeichentheoretisch ausgedrückt wäre ein Index so gesehen selten ausschließlich indexikalisch, sondern meist auch ikonisch oder symbolisch. Genauso wie ein Symbol auch indexikalische und ikonische Anteile haben kann und ein Ikon zwar vorrangig auf Ähnlichkeit zwischen Darstellendem und Dargestelltem beruht, aber dennoch indexikalische oder symbolische Züge tragen kann.16 Hinsichtlich der intermedialen Bezugnahme zwischen Fotografie und Literatur lässt sich diese Schnittmenge im Indexikalischen ausmachen, auch wenn Sprache dominant symbolisch organisiert wird und Fotografie ein Zwitter aus Ikon und Index ist. Das verschieden gelagerte Potential also, das Literatur und Fotografie mitbringen, um einen Realzusammenhang zwischen Signifikant und Referent herzustellen, der auf mehr oder weniger unmittelbarem Kontakt beruht, ist der Ausgangspunkt des hier verfolgten intermedialen Ansatzes. Intermediale Bezüge mit (inter)materiellen Konsequenzen Aus den Vorüberlegungen zu Rajewskys Intermedialitätsmodell und seinem illusorischen Rezeptionskonstrukt lässt sich nun eine engere, an den Konsequenzen der intermedialen Bezugnahme orientierte Bestimmung des hier anvisierten Gegenstandsbereiches ableiten. Bevor dies erfolgt, soll allerdings konkretisiert werden, was im weiteren Verlauf unter Materialität von Sprache verstanden wird.

16 Vgl. auch Wirth 2007: 96ff. Zwar bespricht Wirth die Interferenzen des Indexikalischen, beobachtet aber auch, dass bei den anderen Zeichentypen Überlagerungen entstehen können.

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Ein materialästhetisch fundierter Literaturbegriff muss sich grundsätzlich den beiden Polen ›Form‹ und ›Inhalt‹ stellen, von denen Materialität, historisch gesehen, meist dominiert wird. Der bildenden Kunst in vielerlei Hinsicht entsprechend, kann man auch für die Literatur ein subtil tradiertes Werteverständnis ausmachen, das dem Verhältnis von Inhalt und Form einen wichtigeren Stellenwert einräumt als sprachlicher Materialität.17 Das können beispielhaft die Literaturbegriffe des Strukturalismus und des Existenzialismus veranschaulichen, die Julia Kristeva in ihrer Darlegung einer doppelten Materialität von Sprache einander gegenüberstellt. Die »attitude ›formaliste‹« der Strukturalisten gebe der Form den Vorrang, während die „attitude ›réaliste‹« der Existentialisten dem Inhalt den Vorrang gegenüber dem Material gebe.18 Für eine genauere Definition sprachlicher Materialität distanziert sich Kristeva von diesen beiden Haltungen und unterscheidet die physisch erfassbaren Aspekte von Sprache wie Lautlichkeit, Graphemik und Gestik von ihren Gesetzmäßigkeiten, die beispielsweise Kombinatorik, Abfolge, Variation, Grammatik usw. bestimmen und sich im Grunde in allen linguistischen Teilbereichen wiederfinden.19 Zur Orientierung soll hier der erstgenannte Teilbereich als ›primäre Materialität‹ von Sprache bezeichnet werden, da er an Erscheinung und Wahrnehmbarkeit orientiert ist. Der an zweiter Stelle genannte Teilbereich wird im Folgenden ›sekundäre Materialität‹ von Sprache genannt, da er sich erst durch den Gebrauch von Sprache manifestiert und weniger offensichtlich den Sinnen mitteilt als das Aussehen und der Klang der Wörter. Kristeva genügt es, dass einer der beiden Teilaspekte aktualisiert wird, um von sprachlicher Materialität zu sprechen. Allein die Tatsache, dass sie auch Kommunikationsweisen, die nicht mit Graphemen oder Lauten operieren, als Sprachen versteht, legt nahe, dass sie die beiden von ihr ausformulierten Teilaspekte sprachlicher Materialität autonom voneinander betrachtet. Das wird offensichtlich, wenn sie Mitteilungen, bei denen Referent und Signifikant identisch sind, als »écriture, c’est-àdire un langage« bezeichnet. Für so genannte ›Objektsprachen‹ geht Kristeva etwa davon aus, dass die Objekte bereits sprachliche Elemente sind.20 Ganz im Sinne des 17 In der Kunstgeschichte hat Monika Wagner diese Hierarchie aufgearbeitet und die Emanzipation des Materials mit ihren Untersuchungen maßgeblich vorangetrieben (vgl. etwa Wagner 2001b: 865-882, Wagner 2003: 230-233 und Wagner 2001a). Ihr Interesse einer Befreiung des Materials aus seiner untergeordneten Stellung gegenüber Form und Inhalt wurde unterdessen eingelöst und mitunter auch als »Apotheose des Werkstoffes« kritisiert (Schneemann 2002: 276). 18 Kristeva 1981: 42. 19 Vgl. ebd.: 23ff. 20 Als Beispiel nennt Kristeva ein Knotensystem der Inkas und erzählt eine Anekdote aus dem Krieg von König Darius mit den Skythen, die bei Herodot überliefert ist. Demnach sollen die Skythen König Darius bei seinem Einmarsch in ihr Land eine Kriegserklärung

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theoretischen Zeitgeistes der 1960er und 1970er Jahre neigt Kristeva in diesem Punkt dazu, jegliche Form von Kommunikation und Darstellung durch eine linguistische Brille zu betrachten. Entsprechend verwundert es nicht, dass Fotografie, Malerei, Kino oder Musik im Verlauf ihrer Ausführungen ebenfalls als Sprachen bezeichnet werden.21 Kristevas Auffassung von sprachlicher Materialität ist also ausgesprochen weitläufig. Sie ist nicht zu vereinbaren mit dem derzeitigen Materialitätsverständnis in der Linguistik, das sich häufig auf Veröffentlichungs- und Aufführungspraktiken von Sprache beschränkt.22 Ein solch eng gefasster Materialitätsbegriff erschöpft sich in der Frage, wie und mit welchen Trägern Sprache in Umlauf gebracht wird. Das wiederum setzt voraus, Sprache als kontext- und sprecherfreies System zu verstehen, das sich absolut realisieren lässt. Sprache wäre damit etwas dem Sprechen Vorgängiges, das man im Akt des Formulierens auf einen unabhängig von ihr existierenden materiellen Träger setzt. Tatsächlich sind System und Träger allerdings zu stark miteinander verknüpft, als dass man sie, wie es der klassische Strukturalismus eingeführt hat, sauber auseinander dividieren könnte.23 Literaturwissenschaftler neigen momentan hingegen dazu, sprachliche Materialität auf ihre sekundären Aspekte zu reduzieren. Die Materialität von Sprache wird dabei über Einschränkungserfahrungen im Schreibprozess ausgelotet. Wegen ihres Mangels an begrifflicher Objektivierbarkeit werden solche Erfahrungen oft überhöht und in die Nähe von Schmerzerfahrung gerückt.24 Das immer wieder auch als Widerstand beschriebene Gefühl resultiert dabei aus kulturellen sprachlichen Einübungspraktiken wie dem Erlernen von Rechtschreibung. Materialität von Sprache

in Form eines Paketes mit einem Vogel, einer Maus, einem Frosch und fünf Pfeilen gesendet haben. Die Zusammenstellung der Objekte bedeutet: »Wenn Du Dich nicht in einen Vogel verwandelst und durch die Luft fliegst oder in eine Maus und unter die Erde kriechst oder in einen Frosch und Dich in den Sümpfen versteckst, wirst Du unseren Pfeilen nicht entkommen.« (ebd.: 30ff.). 21 Vgl. ebd.: 291ff. 22 Symptomatisch für dieses Verständnis wäre zum Beispiel eine Reduktion von sprachlicher Materialität auf die »Gestaltung der Textträger«, das heißt auf Typographie und Lesefläche (Fix 2008: 347ff.). 23 Vgl. hierzu beispielsweise Hausendorf 2009: 187-199. Hausendorfs Artikel versteht sich als ein Plädoyer für eine oberflächenorientierte Sprachwissenschaft und nimmt damit das Anliegen auf, sich von den Basiserkenntnissen des Strukturalismus abzusetzen »und weg[zu]führen […] von der Idee eines ›hinter‹ der Gegenwart des Sprechens (oder Schreibens) gedachten und davon letztlich ablösbaren Systems der Sprache« (ebd.: 187). 24 Vgl. Genz 2005: 375-389.

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wird in solchen Überlegungen also anhand ihrer körperlichen Auswirkungen während des Schreibens erfasst.25 Gegenüber den genannten Reduktionen auf die wahrnehmbare primäre Materialität von Sprache und die im Schreiben und Sprechen erfahrbare sekundäre Materialität von Sprache wird hier dagegen eine zugespitzte Form des weit gefassten kristevaschen Ansatzes vertreten. Im Unterschied zu Kristeva wird jedoch gerade das Zusammenspiel der beiden Teilaspekte für die Erfassung sprachlicher Materialität als wesentlich erachtet. Es gilt insofern Dieter Merschs Beobachtung, dass »im Bereich der Zeichen, der symbolischen Ordnung Materialität und Performanz zusammen [gehören], sowohl in Ansehung dessen, daß ihnen notwendig eine sinnliche Präsenz zukommt, als auch, daß sie vollzogen werden müssen.«26 Entscheidend für diese notwendige Verschmelzung von primärer und sekundärer Materialität ist also die Tatsache, dass sprachliche Materialität einerseits eine Voraussetzung für die Fixierung und Kanalisierung von Sprache ist und sich andererseits erst im Akt des Formulierens zeigt. Unabhängig von seinem Mitteilungsdrang oder der Genialität seiner Idee, stößt der Schreibende oder Sprechende somit früher oder später auf die Materialität seines Mediums. Eine Konsequenz dieses Materialitätsbegriffs ist die Unmöglichkeit der »reinen Mitteilung«, die etwa Sartre noch als Maßgabe philosophischen Schreibens verstanden hat.27 Der auf die Bedeutung setzende Aspekt von Sprache, das Signifikat, das Konzept oder die Idee, wäre mithin auch Teil der sekundären linguistischen Materialität, und zwar nicht nur, weil Semantik auch von Regeln bestimmt wird, die man im Schreiben berücksichtigt und gegebenenfalls abwandelt, sondern auch, weil sie eine Art Archiv oder Schichtung der Verwendungsweisen einzelner Wörter und Ausdrücke bildet. Wie das anrührende Sprüchlein auf dem Deckblatt des Petit Larousse illustré von 1913 zum Ausdruck bringt, »Un dictionnaire sans exemples est un squelette«,28 sind Bedeutungen zwar konstante Vereinbarungen, werden aber auch durch ihren Gebrauch modifiziert. Man kann diesen Aspekt von Sprache entsprechend als einen Handlungsspielraum begreifen, der auf dem jeweiligen Umgang mit ihr basiert, das heißt ihrer singulären Realisierung, der ›parole‹ bei Saussure oder dem ›Stil‹ bei Kristeva und auch bei Sartre, sofern es sich um eine agrammatikalische,29 von der Regel abweichende Realisierung handelt.30

25 Vgl. auch Bleich 2006: 607-629. Bleich leitet die Materialität von Sprache allerdings aus der gegenteiligen Wirkung ab, das heißt aus sprachlich bedingten Heilprozessen. 26 Mersch 2002: 26. 27 Vgl. Sartre 1971: 87. 28 Augé 1913. 29 Kristeva 1981: 43. 30 Vgl. ebd.: 44 und Sartre 1971: 91.

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Hier soll dieser Aspekt des Umgangs mit Bedeutungen aber nicht nur als Regelabweichung verstanden werden. Entsprechend einer Definition von Helmut Heißenbüttel aus dem Jahre 1964 werden aus dem Sprachgebrauch resultierende Zusatzbedeutungen vielmehr zum Standardrepertoire sprachlicher Materialität gezählt: »Sie [Materialität von Sprache] ist der Vorrat der Bedeutungen, die sich in ihr angesammelt haben und immer noch ansammeln. Ein Schatz, dem immer noch unabmeßbare Reichtümer zuzufließen vermögen.«31 Sofern man Semantik also einen gewissen Verschleiß zugesteht, bildet sie nicht zwangsläufig das Gegenteil sprachlicher Materialität. Je nachdem, welche Bedeutung man ausformulieren will, können die Rückstände des Sprachgebrauchs mit bearbeitet oder auch wieder hervorgeholt werden, wenn es zum Beispiel darum geht, feststehende Metaphern aufzubrechen oder verschüttete Bedeutungsschichten zu reaktivieren. Sartres Definition des Schriftstellers als jemandem, der im Grunde nichts zu sagen hat, sich als »gardien du langage commun«32 versteht, und dessen »matériau est le langage comme non-signification ou comme désinformation«,33 unterliegt demnach einer hypothetischen Trennung von Schriftsteller und Intellektuellem. Zwar strebt der Intellektuelle, wie Sartre beobachtet, im Sprachgebrauch tendenziell einen Höchstgrad an Präzision an und erreicht dies durch ein fortwährendes Abgleichen und Justieren der Ideen,34 während der Schriftsteller tendenziell damit arbeitet, dass »la langue commune se développe par les hommes qui la parlent mais sans accords«.35 Aber da Ideen, Sprachgebrauch und sprachliche Materialität einander bedingen, teilt auch der Schriftsteller mit seinem »travail sur la matérialité des mots«36 etwas mit. Der Intellektuelle weicht in Sartres Verständnis nur von der reinen Mitteilung, von einer »alles umfassenden Symbolik«37 ab, sofern es um den persönlichen Bezug des Schreibenden, um seine intime Beziehung zu den Wörtern geht.38 Auch wenn sich Sartre und Kristeva in diesem letzten Punkt einig sind, muss noch erwähnt werden, dass ihre Auffassungen von sprachlicher Materialität voneinander abweichen und sich im Paris der 1960er und 1970er Jahre in zwei konträr zueinander stehenden literarischen Bewegungen spiegeln: Tel Quel und die littérature engagée. Während es für Sartre allenfalls einen persönlichen »Bodensatz«39 von Sprache gibt, der auch in Mitteilungsaussagen noch zurückbleiben kann, macht 31 Heißenbüttel 1964: 37. 32 Sartre 1972: 93 33 Ebd. 34 Vgl. ebd.: 91. 35 Ebd.: 92. 36 Ebd.: 93. 37 Ebd.: 90. 38 Vgl. ebd. 39 Sartre 1971: 89.

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der Bodensatz für die Tel Queliens das Wesentliche von Sprache aus, wohingegen der kommunikative, auf Mitteilungen abzielende Gehalt von Sprache so weit wie möglich von ihnen verabschiedet wird.40 Eine alternative, weniger restriktive Position entwickelt dagegen das sich zeitgleich formierende Ouvroir de littérature potentielle (»OuLiPo«), dessen Mitglied Jacques Jouet, in einem Widerhall von Sartres berühmter Formel, zu der Beobachtung kommt, dass »le texte précède le sens«.41 Es ist denn auch die arbeitspraktische oder auch verfahrenstechnische Ausrichtung der Oulipiens auf das Material Sprache, die im Analyseteil eine zentrale Orientierungsgröße bilden wird. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Frage nach der Fotografie im Schreiben ganz allgemein zu einer Modifikation von sprachlicher Materialität führt, die sich an der Medialität von Fotografie orientiert. Da Medialität von Fotografie hier als ein spezifisches Aufzeigen von Gegenwärtigkeit verstanden wird, die dem fotografischen Material innewohnt und durch den fotografischen Akt freigesetzt wird,42 nimmt diese Vermutung die bereits zu Beginn des Kapitels angeschlagene These wieder auf: Intermediale Bezüge auf die Fotografie können eine prekäre Präsenz des Schreibenden und des Referenten im Text fördern. Sie greifen dann eine Eigenschaft der Fotografie auf, die laut Roland Barthes darin besteht, dass der Referent an seiner Fotografie zu haften scheint.43 Für Texte, die dieser »referentiellen Klebrigkeit« nachzukommen versuchen, müsste man dementsprechend eine Formel Barthes’ leicht abändern: Ihr »effet de réel«44 wäre im Grunde eine »trace de réel«, die den Fiktionsrahmen zwar nicht bricht, aber nahezu unbemerkt aus ihm heraustritt.

40 Vgl. Barck 1988: 131ff. Barck stellt Kristevas Materialitätsbegriff in die Folge von Derrida und Lacan und umschreibt ihn wie folgt: »der von J. Kristeva u.a. gebrauchte Begriff Materialität der Sprache [bezeichnet] die jeder Sinngebung vorausliegende und sie durchkreuzende eigene (Text-)Produktivität der chaine signifiante. Materialität ist dieser Theorie zufolge wesentlich ein prozessualer, handlungsorientierter Begriff (›das Arbeiten der Sprache‹), dessen mögliche Nähe zur Marxschen Analyse des Warenfetischismus explizit hergestellt wurde« (ebd.). 41 Jouet 2009: 702. 42 Vgl. Busch 1996: 186. Busch bezeichnet die als »Bild-Haut« konservierte »Spur der körperlichen Erscheinung« als das Material, dem sich der Betrachter eines Fotos gegenübersieht. 43 Vgl. Barthes 2002: 794. 44 Barthes 1984c.

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Materialästhetische historische Linie Anhand des Intermedialitätstypus, der als »trace de réel« charakterisiert wurde, lässt sich eine diachrone Perspektive einschlagen, die gegen den Lauf der Zeit besonders anschaulich wird. Er soll zunächst anhand zweier Schreibübungen von Denis Roche und Georges Perec aus den 1970er Jahren herausgestellt und daraufhin bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Diese gezielte Einschränkung bedingt, dass die Vielfalt der Intermedialitätsgeschichte von Literatur und Fotografie vernachlässigt wird. Um dennoch einen groben Überblick über deren unterschiedliche Ausprägungen zu bekommen, sei anhand von zwei unlängst erschienenen Studien in die Geschichte des Austausches von Literatur und Fotografie eingeführt, bevor die drei im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit anvisierten Etappen dieses Austausches kurz vorgestellt werden. Paul Edwards regt in seinem 2008 erschienenen Buch Soleil noir – Photographie et littérature des origines au surréalisme an, die Geschichte der Intermedialität zwischen Literatur und Fotografie anhand zweier Leitlinien zu untersuchen: einerseits eine »tradition documentaire, qu’on pourrait nommer tradition réaliste«,45 die um die Frage des Realismus fotografischer Bilder und Schreibweisen kreist, und andererseits eine Tradition des Imaginären,46 die das fotografische Bild als Stimulation für Fiktion und Vorstellung versteht. Edwards konzentriert sich in seiner Studie auf die zweite Linie, weil ihm die realistische Tradition ausreichend erforscht zu sein scheint. Die Ausbreitung der beiden Tendenzen begrenzt er geographisch auf die wichtigsten Entdeckerländer, das heißt den anglo-amerikanischen und den frankoromanischen Raum47 und zeitlich auf die ersten hundert Jahre nach der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839. Laut Edwards ist das Säkulum 1839-1939 »le berceau de cette technologie et de cet art«.48 Als Grund für das Versiegen der fruchtbaren Verbindungen zwischen Literatur und Fotografie nennt er das Aufkommen des Films, des Fernsehens und des Computers.49

45 Edwards 2008: 9. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd.: 11ff. 48 Ebd. 49 Ebd. Es gibt allerdings Befunde, die Edwards’ zeitliche Eingrenzung indirekt für hinfällig erklären. Fulda geht beispielsweise davon aus, dass die 1990er Jahre eine versöhnliche und produktive Zusammenführung von Literatur und Fotografie auszeichnen (vgl. Fulda 2009: 407). Auch Jan Baetens und Hilde van Gelder attestieren den 1970ern hinsichtlich des fotografisch illustrierten Romans ein »retour à la photographie« (Baetens/van Gelder 2006: 263). Letztlich sprechen auch die Ab- und Zuneigungen vieler (post-)moderner Autoren für die Fotografie wie Pierre Michon, Michel Tournier, Hervé Guibert, Claude Si-

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Edwards unterteilt den von ihm fokussierten Bereich des Fotografisch-Imaginären in die drei Kategorien ›photo-fiction‹, ›photo-idée‹ und ›photo-illustration‹.50 Für die ›photo-fiction‹ stellt er die Subjektivität fotografischer Bildbetrachtung in den Vordergrund und untersucht ihre Auswirkung auf poetische Konzepte und fiktive Konstrukte. Mit der Kategorie ›photo-idée‹ zielt er dagegen auf den Zusammenhang zwischen ästhetischem Diskurs und literarischem Schreiben ab und mit der letzten Kategorie umfasst er jegliche Form von fotografischer Illustration literarischer Werke. Seine Studie beschäftigt sich vorwiegend mit der letztgenannten Kategorie und zeichnet ihre Entwicklungen von Walter Scott, dem ersten Autor, dessen Romane fotografisch illustriert wurden, bis zum Surrealismus nach. Er untersucht, wie die beigefügten Bilder die Handlung begleiten, anreichern, aber auch unterlaufen können, und kommt zu dem Schluss, die Fotografie habe zu einer Erneuerung der »expression du fantastique«51 geführt. Mehr noch – die weitreichenden Wechselwirkungen zwischen Vorstellungsbildern, Ideen und Fotoabzügen widerlegen für ihn den oft bestätigten Zusammenhang zwischen Realismus und Fotografie: »La photographie fut plongée pendant cent ans dans le bain révélateur de la littérature, et elle en est sortie inversée: témoin non du réel, mais de l’imaginaire.«52 Jan Baetens und Hilde van Gelder führen Edwards’ Beobachtungen zur fotografischen Illustration in gewisser Weise fort, wenn sie dem Foto am Ende ihrer Petite poétique de la photo mise en roman eine unterstützende Rolle in der postmodernen Verunsicherung der »parole littéraire«53 attestieren. Der Grund dafür liege darin, dass der Effekt der Medienkombination häufig nicht auf eine Korrespondenz zwischen dem Referenten des Fotos und demjenigen des Textes abziele, sondern ihre Referentialität konterkariere.54 Die Relation zwischen Foto und Text regt dadurch ein »double imaginaire«55 an, das sich weitgehend vom Realitätsgehalt des Fotos loslöst. Neben diesen Verquickungen von Text und Foto-Illustration sind es auch die beiden anderen bereits erwähnten Ausprägungen der von Edwards aufgemachten Forschungslinien, die sich auf die Phantasie stiftende Kraft des Fotos stützen. Die mon, Anne-Marie Garat oder Jean-Philippe Toussaint für eine anhaltende intermediale Aktivität zwischen Literatur und Fotografie. Nicht zuletzt kann die Beschäftigung mit narrativen oder literarischen Strategien von Fotografien wie etwa im Fotoroman als ein lebendiger, aktuellerer Zweig der Wechselwirkungen zwischen Literatur und Fotografie angeführt werden (vgl. Saint-Michel 1979, Baetens 1993 oder Baetens/Gonzalez 1996). 50 Edwards 2008: 9. 51 Ebd.: 310. 52 Ebd.: 312. 53 Baetens/van Gelder 2006: 269. 54 Vgl. ebd. 55 Ortel 1999: 5.

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Vieldeutigkeit, die sich in diesem Zusammenhang ergibt, veranlasst Philippe Ortel bereits Ende der 1990er Jahre darauf hinzuweisen, dass es bei der Analyse literarischer Texte auf fotografische Aneignungen zu unterscheiden gelte, »ce qui est dit de la photographie et ce qui en est montré«.56 Gerade weil die Fotografie selbst aber zeigt und nicht sagt, kann sie in literarischen Texten, sei es nun als Motiv oder aber als tatsächlich eingefügtes Bild, zum Vorstellungs- oder auch Fiktionsmotor werden. Wie Danièle Méaux ausführt, hat sie in Bezug auf die ›histoire‹ häufig die Funktion eines Prismas, das den Erzählverlauf bricht.57 So können Fotografien die Handlung abrupt ändern, auflösen und anstoßen,58 sie können zeichenhaft Emotionen transportieren (ein Foto zerreißen als Zeichen des Bruchs, ein Foto behalten als Zeichen der Zuneigung usw.)59 oder aber in Erinnerungstexten (Autobiografie, Memoiren, Tagebuch usw.) zur Schreibstütze und zum Verbindungsglied zwischen Text und erinnertem Ereignis werden.60 Der zweite zu Beginn des Kapitels erwähnte historische Abriss zur Intermedialität von Literatur und Fotografie ist 2009 erschienen. Er wurde von François Brunet verfasst und trägt den Titel Photography and Literature. Wie schon die Reihenfolge im Titel sowie das Titelschema der Serie »Photography and X«61 nahelegen, widmet Brunet sich dem Phänomen überwiegend aus der Perspektive der Fotografie. Deshalb konzentriert er sich darauf, wie Fotografie durch Literatur verbreitet, aufgewertet, autorisiert und codiert wurde. Literatur hat bei Brunet also den Status einer fotografischen Begleiterin in Buchform. Dementsprechend legt der Autor seiner Untersuchung einen recht unspezifischen Literaturbegriff zu Grunde, der sowohl unterschiedlichste Schriftstücke als auch narrative und rhetorische Strukturen umfasst. Als Bezugsmedium spielt Literatur in Brunets Überlegungen vorrangig die Rolle eines Veröffentlichungsorgans. Der Gegenstandsbereich wird demnach auf konkrete Begegnungen der beiden Medien beschränkt, von denen er folgende fünf Ausprägungen kapitelweise vorstellt: Die Erfindung der Fotografie begleitende Schriften, Foto-Essay und Foto-Buch, ästhetische Diskurse über Fotografie, (programmatische) Texte von Fotografen, Autorenporträts und fotografische Illustration. Anhand des ersten Typus analysiert der Autor unter dem Titel »Writing the Invention of Photography« die Rolle der Literatur in der Erfindungsphase der Fotografie Ende der 1830er Jahre. Am Beispiel von François Aragos Rede zur offiziellen Bekanntgabe von Daguerres Erfindung und Henri Fox Talbots Notizen zu sei56 Ebd.: 13. 57 Vgl. Méaux 2006a: 3ff. 58 Vgl. ebd.: 6ff. 59 Vgl. ebd.: 10ff. 60 Vgl. ebd.: 19ff. 61 Bereits erschienen sind Bände mit folgenden Titeln: Photography and Australia, Photography and Spirit, Photography and Cinema, Photography and Science.

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nem Negativ-Positiv-Verfahren veranschaulicht Brunet, dass gesprochene und geschriebene Sprache »photography’s primary channel of communication«62 waren. Darüber hinaus demonstriert er, wie der Einsatz von rhetorischen und narrativen Mitteln die Erfindungsphase der Fotografie in Legenden überformt, die sich im Laufe der Fotogeschichte zu unterschiedlichen Erzähltraditionen entwickeln. Nach dieser gesellschaftlichen Legitimierungsphase der neuen technischen Errungenschaft bestimmt die Literatur bei Brunet auch die kurz darauf einsetzende künstlerische Legitimierungsphase der Fotografie. Die Kombination der beiden Medien im Buch fördere zum Beispiel die Autorschaft der Fotografen und auch ihr Selbstverständnis als Künstler. Das gilt insbesondere für Gattungen wie den zwischen den beiden Weltkriegen aufkommenden Foto-Essay oder die Praxis des FotoBuchs.63 Zu der Anerkennung der Fotografie als Kunst haben allerdings auch Anspielungen und Systemreferenzen in literarischen Texten beigetragen, die zunächst verdeckt, mit steigender künstlerischer Wertschätzung der Fotografie aber immer offener vorgenommen wurden. Brunet beobachtet diesen Sachverhalt daran, dass die »Literary Discoveries of Photography«,64 so der Titel des dritten Kapitels, anfangs oft anonym oder in privaten Aufzeichnungen erfolgten. Mit der graphischen Revolution um 1900 wird die Fotografie dann ein immer gängigeres, aber nach wie vor zweischneidiges Motiv in literarischen Texten. Dieses zwischen Entfremdung und Anregung taumelnde Verhältnis durchzieht die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre, in denen Literatur und Buch schließlich, so Brunet, zum »natural partner«65 der Fotografie werden. Auch die um die Jahrhundertwende einsetzende schriftstellerische Tätigkeit von Fotografen trägt zur Anerkennung der Fotografie als künstlerisches Medium bei. Brunet stellt für diese Entwicklung zwei Textsorten vor, die die fotografische Praxis vielfach begleiten: erstens Texte nach dem »pioneer pattern«,66 das heißt Memoiren von Fotoveteranen wie zum Beispiel Nadar, die meist mit der nostalgischen Erkenntnis einhergehen, durch die eigene Fotopraxis Geschichte geschrieben zu haben,67 und zweitens manifestartige Texte, die die Fotografie als Kunst verteidigen. Laut Brunet haben Alfred Stieglitz und die Photo-Succession mit Texten dieser Art den »aesthetic turn« der Fotografiegeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeläutet.68 Im letzten Kapitel werden die Begegnungen von Literatur und Fotografie noch flüchtig aus dem Blickwinkel der Literatur beleuchtet und analysiert, inwiefern die 62 Brunet 2009: 16. 63 Vgl. Kapitel 2 mit dem Titel Photography and the Book, in Brunet 2009: 35ff. 64 Ebd.: 63. 65 Ebd.: 83. 66 Ebd.: 96. 67 Vgl. ebd.: 90ff. 68 Vgl. ebd.: 96ff.

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Fotografie seit ihrer Erfindung als literarische Vermarktungs- und Verrätselungsstrategie zum Einsatz kam. Diese Öffnung der Literaten gegenüber der Fotografie führt Brunet anhand von Autorenporträts, von fotografischen Illustrationen sowie anhand der Entwicklung der Autofiktion vor. In den drei Feldern wird die Fotografie jeweils zum Verbündeten des Schriftstellers und seines (selbst)darstellerischen Anliegens, sodass Brunet für das ausgehende 20. Jahrhundert euphorisch resümiert, die Fotografie sei eine »new muse of literature«69 geworden und es habe eine »successful hybridization of the two mediums«70 stattgefunden. Im Hinblick auf Edwards’ und Brunets Studien lässt sich zu dem hier verfolgten Intermedialitätstypus ergänzen, dass er keiner der beiden Leitlinien von Edwards zugeordnet werden kann. Der »tradition réaliste« entspricht er nicht, da er das Realismusproblem nicht in einem dokumentarischen Sinn aufgreift. Genauso wenig kann man ihn in eine Tradition des Imaginären stellen, da er nicht auf eine Anreicherung des Imaginären abzielt. Zwar hat die Fotografie bei der Erzeugung der hier verfolgten Schreibweise zunächst den Charakter einer Idee, die die Poetik der Autoren mehr oder weniger stark bestimmt. Dennoch trifft diese Form der Intermedialität Edwards’ Kategorien der ›photo-fiction‹ oder der ›photo-idée‹ nicht, da sie gleichzeitig eine verfahrenstechnische Präsenz erlangt, die ihrerseits für den Realitätsanschluss des Geschriebenen sorgt und nicht etwa einen phantastischen Prozess in Gang setzt. Die von François Brunet aufgefächerte Palette literarisch-fotografischer Begegnungen könnte mit einigen der hier untersuchten Beispiele ergänzt werden, insbesondere mit Denis Roches Fotobüchern und seinen fototheoretischen Texten. Insgesamt bringt das Zusammentreffen der Autoren des Untersuchungskorpus mit fotografischer Praxis aber kaum Text-Bild-Kombinationen oder konkrete Kollaborationen mit Fotografen hervor. Vielmehr lässt sich anhand der persönlichen Erfahrungen der Autoren als Fotografierte und Fotografierende eine Einsicht in unterschiedliche fotografische Verfahren gewinnen, die Aufschluss über den jeweiligen technischen Stand der Fotografie und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Konventionen des fotografischen Akts geben. Je nachdem wie weit die fototechnische Entwicklung fortgeschritten war und welche Mittel zur Verfügung standen, unterlag der fotografische Akt dabei sehr unterschiedlichen Bedingungen. Aus diesem Grund wird zu Beginn der Analysekapitel immer ein fotografisches Verfahren vorgestellt, mit dem die Autoren in Berührung gekommen sind. Für die Gegenüberstellung von Denis Roches und Georges Perecs Schreibpraxis fallen in diesem Sinn einige Anmerkungen über die Sofortbildtechnik und den Selbstauslöser, deren autoreferentielles und materialästhetisches Potential sich auch in Roches und Perecs Konzentration auf den Signifikanten wiedererkennen lässt an. Das zweite Analysekapi69 Ebd.: 143. 70 Ebd.: 114.

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tel zu Marcel Proust wird von einem Abriss zur Porträtfotografie um 1900 eingeführt. Durch ihr hohes Maß an Konventionalität kann man sie als eine auf das Signifikat zugespitzte Fototechnik begreifen, an der sich Prousts Schreibweise reibt. Dem Kapitel zu Flaubert wird schließlich eine Einleitung zur Kalotypie vorangestellt, dem ersten Negativ-Positiv-Verfahren, das Flaubert während seiner Orientreise mit Maxime de Camp von 1849 bis 1851 kennenlernte. In dieser Zeit unterstand die Fotografie noch ganz dem Zauber eines Zeichenstifts der Natur,71 der sich mit Flauberts Faszination für den Referenten in Verbindung bringen lässt. Der historischen Primate des Zeichenbegriffs ungeachtet, lässt sich aber auch eine materialästhetische Linie zwischen den drei Stationen des Analyseteils erkennen. Der Schritt von einem Kapitel zum nächsten geht also nicht nur mit einer Verlagerung der semiotischen Gewichtung einher, sondern knüpft genauso an ein über den fotografischen Akt gewonnenes Selbstverständnis der Schreibenden gegenüber ihrem Material an. Wie bereits erwähnt, wird die Schreibpraxis von Denis Roche und Georges Perec in dieser Hinsicht als prototypisch angesehen. Ihre in der Einleitung anhand der Begriffe Aufnahmen und Zuschreibungen erklärten In-situSchreibtechniken lassen sich implizit auch in Prousts und Flauberts Texten wiederfinden. In dieser Hinsicht sind alle Autoren des Untersuchungskorpus für den Signifikanten sensibilisiert, auch wenn die intermediale Bezugnahme auf die Fotografie bei Proust zunächst über das Signifikat und bei Flaubert zunächst über den Referenten erfolgt.

71 So lautet der Titel des bekannten ersten Fotobuchs von William Henry Fox Talbot.

Primat des Signifikanten: Denis Roche und Georges Perec

Schreiben von der Schrift, aus der Sprache und ihrer Materialität her zu denken und aus ihr zu entwickeln, ist Teil der Basisprogrammatik klassischer europäischer Avantgarden und wird auch in den beiden Autorenverbänden kultiviert, denen Denis Roche und Georges Perec angehören. Der theoretische und arbeitspraktische Hintergrund von Roche war die Avantgarde-Bewegung und gleichnamige Zeitschrift Tel Quel, der er als Redaktionsmitglied von 1962 bis 1973 angehörte,1 derjenige von Perec das OuLiPo. Beide Autorengruppen wurden 1960 in Paris gegründet, zeichnen sich darüber hinaus aber durch einen unterschiedlichen Werdegang aus.2 Während sich Tel Quel dem revolutionären Zeitgeist der 1960er und 1970er Jahre verpflichtete und nach einer systematischen Zergliederung von ideologischen, poetischen und linguistischen Konventionen Anfang der 80er Jahre vor einem programmatischen Trümmerhaufen stand, der widerspruchsfrei nicht mehr zu kitten, geschweige denn zukunftsträchtig auszubauen war,3 haben die Autoren von OuLiPo ihre Schreib- und Gruppenpraxis konstruktiver angelegt: Bis heute produzieren alte und neu hinzu gekommene Mitglieder fortlaufend Literatur.4 Tel Quel war ein Zirkel von Schriftstellern, Philosophen und Semiotikern, der von Philippe Sollers ins Leben gerufen wurde und sich stark über sein Organ, die 1

Roche war zusammen mit Marcelyn Pleynet für das Ressort ›Poesie‹ zuständig. In seiner Zeit bei Tel Quel rechnete er mit poetischen Konventionen ab, um der Gattung zu neuer Frische zu verhelfen (vgl. das Kapitel »Haine de la poésie«, in: Forest 1995: 131ff.). Siehe weiterhin Föcking 2010a: 293ff.

2

Peter Kuon spricht hinsichtlich dieses Werdegangs von einer »trajectoire à l’inverse: L’Oulipo émerge au grand jour, quand Tel Quel […] s’éteint« (Kuon 1999: 15).

3

Zur Auflösung von Tel Quel im Jahre 1983 siehe Forest 1995: 554ff. und Ffrench 1995: 264ff.

4

In poetologischer Hinsicht lassen sich dagegen einige Parallelen zwischen Tel Quel und OuLiPo ziehen. Für eine explizite Gegenüberstellung der beiden Poetiken siehe zum Beispiel Arts 1999 oder Mohs 2010.

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Zeitschrift Tel Quel, definierte. Als programmatische Grundlage gilt der Sammelband Théorie d’ensemble von 1968, der Texte von regelmäßigen Beiträgern der Zeitschrift wie etwa Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida beinhaltet, aber auch Positionen der teils weniger bekannten festen Redaktionsmitglieder wie Denis Roche, Marcelyn Pleynet, Jean-Louis Baudry, Jaqueline Risset oder Jean Ricardou einbezieht. Zunächst durch ein stark antiideologisches Anliegen verbunden, entwickelte die Gruppe im Laufe der zwanzig Jahre ihres Bestehens selbst ein starkes Dogma, das schon von Zeitgenossen aus dem literarischen Establishment als »théoricisme terroriste« überzeichnet wurde.5 Das zentrale ästhetische Anliegen von Tel Quel ist die Entwicklung einer »materialistischen Textsemiotik«,6 die in letzter Konsequenz zu einer völligen Entsemantisierung von Sprache führen sollte. Unter Rückgriff auf den Differenzbegriff Derridas7 praktizieren die Tel Queliens Literatur nicht als Abbild oder Ausdruck von jenseits der Schrift gelagerten Ideen oder Bedeutungen, sondern reduzieren sie radikal auf die sinnlich erfassbaren Komponenten von geschriebener Sprache. Es geht also darum, den Signifikanten vom Signifikat zu emanzipieren und ihn durch typographische Eingriffe, Tilgung von Satzzeichen oder Missachtung grammatikalischer Regeln freizustellen. Während die Tel Queliens die arbiträren Komponenten ihres Zeichensystems gezielt zu bekämpfen suchen, um zu einer Hegemonie des Signifikanten zu gelangen, steigern die Oulipiens sprachliche Konventionalität mit eigens auferlegten Schreibvorschriften, den sogenannten ›contraintes‹. Letztlich dienen die ›contraintes‹ aber dem gleichen Zweck wie die Satz- und Bedeutungszergliederungen der Tel Queliens: auch das OuLiPo arbeitet daran, Materialität von Sprache zum Ausgangspunkt literarischen Schreibens zu machen. Wie schon die Auflösung des Namenskürzels verdeutlicht – Ouvroir de Littérature Potentielle – verstehen die Oulipiens Schreiben als eine Tätigkeit, die man in einer Werkstatt an einem jedermann zugänglichen Material ausüben kann. Mit den ›contraintes‹ – konzisen, teils historisch überlieferten (zum Beispiel Leipo- oder Anagramme), teils selbst erfundenen Schreibverfahren (zum

5

Forest 1995: 299ff. Im Wesentlichen wurde der Gruppe vorgeworfen, sie stelle Literatur in den Dienst gesellschaftskritischer und philosophischer Debatten und gefährde damit die ästhetische Autonomie der Kunst.

6

Barck 1988: 131.

7

Für die Tel Queliens ist Derrida die elementare philosophische Bezugsgröße. Sein Aufsatz »La différance« in der Théorie d’ensemble von Tel Quel hat für die anderen Autoren, insbesondere für Philippe Sollers, eine Autoritätsfunktion (vgl. insbesondere die Aufsätze von Derrida und Sollers in: Tel Quel 1968). Für OuLiPo war Derrida nie eine explizite theoretische Referenz, allerdings wird Derridas Differenzdenken in der Kritik inzwischen auch mit der Poetik der Oulipiens in Verbindung gebracht (vgl. zum Beispiel Schleypen 2004: 45ff.).

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Beispiel Akkumulationsverfahren wie »boules de neige«8) – wollen die Autoren gemeinschaftlich literarische Potentialität steigern und einen inspirations- und geniegeleiteten Schaffensbegriff kritisieren. Georges Perec war von 1967 bis zu seinem Tod im Jahr 1982 Mitglied von OuLiPo und gehört neben den beiden Gründungsvätern, François Le Lionnais und Raymond Queneau, zu den wichtigsten Autoren der Gruppe. Er hat das Schreiben nach ›contraintes‹ exzessiv betrieben, beispielsweise in Form eines über fünftausend Zeichen langen Palindroms.9 Wie die Textanalysen im Laufe des Kapitels zeigen werden, bildet die auf den Signifikanten ausgelegte Poetik der beiden Gruppen die Grundlage für die literarische Referenz auf den fotografischen Akt. Das Anheimgeben an Material und Verfahren spiegelt sich aber nicht nur in der Schreibweise der beiden Autoren wider, sondern auch in den fotografischen Verfahren, mit denen sie in Berührung gekommen sind. Für Denis Roche, der seine eigene fotografische Praxis besonders nach seiner Zeit bei Tel Quel professionalisiert, ist dieses Verfahren der Selbstauslöser, für Georges Perec ist es dagegen die Sofortbildtechnik.10 Perec war zwar nicht selbst Fotograf wie Roche, aber er hat eine Fotoserie mit Polaroids veröffentlicht, die er auf einer Schiffsreise nach Amerika aufgenommen hat (siehe Abbildung Buchcover). Die Bilder sind ein Begleitprodukt des Filmes und der gleichnamigen Buchdokumentation Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir, für die Perec 1979 mit Robert Bober nach New York gefahren war.

Selbstauslöser und Sofortbild Der Selbstauslöser, auch Vorlaufwerk genannt, ist eine Funktion der Kamera, die automatisch den Verschluss steuert. Er zieht den Aufnahmevorgang in die Länge, indem er die Betätigung des Auslösers und die Belichtung des Negativmaterials

8

Die ›contrainte‹ »boule-de-neige« wird wie folgt definiert: »Une boule-de-neige de longueur n est un poème dont le premier vers est fait d’un mot d’une lettre, le deuxième d’un mot de deux lettres ou de deux mots d’une lettre… et le énième vers, de n lettres. Il existe également des boules-de-neige métriques, des boules-de-neige de mots…« (Ministère des Affaires étrangères 2005: 54). Dem Selbstverständnis nach gehören die ›contraintes‹ zur schöpferischen Arbeit der Gruppe, wohingegen das Erforschen von überlieferten Schreibverfahren – humorvoll auch »plagiaires par anticipation« genannt – den analytischen Teil ihrer literarischen Tätigkeit ausmacht. Ersterer Bereich wird mit »LiPo synthétique« abgekürzt, das heißt »littérature potentielle synthétique« und letzterer Bereich mit »LiPo analytique« (vgl. Le Lionnais 2007a und Le Lionnais 2007b).

9

Vgl. Perec 2007c: 97-102.

10 Vgl. für Roche zum Beispiel Mora 2001 oder Roche 1991 und für Perec Perec 1997.

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durch ein festgelegtes Zeitintervall voneinander trennt. Durch den Knopfdruck erfolgt also nicht die Aufnahme, sondern die Inbetriebsetzung einer Schaltuhr, die das Aufziehen der Verschlussvorrichtung ein paar Sekunden hinauszögert. In der Regel hat der Selbstauslöser die Funktion, verwackelte Bilder zu verhindern oder dem Fotografen die Möglichkeit zu geben, selbst mit auf dem Foto zu erscheinen. Beim Fotografieren per Selbstauslöser wird zwar ein Bildfeld festgelegt, aber was genau darin erscheint, bleibt – je nachdem ob Innen- oder Außenaufnahme – weniger oder mehr dem Zufall überlassen. Das Sofortbildverfahren, auch Polaroid(technik) genannt, ist dagegen ein fotografisches Entwicklungsverfahren, das ohne weitere Handgriffe des Fotografen direkt nach der Bildaufnahme den fertigen Positivabzug liefert. Die im Filmmaterial angelegte Sofortentwicklung des fotografischen Resultats wird durch einen Direktkontakt des Negativ- und des Positivmaterials mit spezifischen Entwicklerchemikalien ermöglicht. Bei den frühen, 1947 von Dr. Edwin H. Land erfundenen Sofortbildmaterialien, den sogenannten Trennbildfilmen,11 wurden zwei getrennte Rollen mit dem Negativ- und dem Positivpapier im Fotoapparat zusammengeführt. Später wurden sie durch Integralfilme ersetzt, bei denen Positiv- und Negativschichten in einem Blatt verbunden sind.12 Ob getrennt oder in einer Trägereinheit zusammengefasst, die Reaktion zwischen Positiv und Negativ wird immer durch eine Reagenzpaste hervorgerufen, die sich in einer länglichen Kapsel am unteren Rand der einzelnen Blätter befindet. Zwei in den Polaroidfotoapparaten angebrachte Walzen zerquetschen diese Kapsel und verteilen ihren Inhalt regelmäßig zwischen Positiv und Negativ, während man das belichtete Filmblatt aus der Kamera herauszieht (siehe Abbildung 4 a-b). Der im Wesentlichen auf Silbersalz- beziehungsweise Farbstoffdiffusionsverfahren13 basierende chemische Vorgang, der dadurch in Gang gesetzt wird, entwickelt Negativ und Positiv in einem Zug und führt zu einem direkten Erscheinen des Bildes.14 11 Vgl. Maas 1966: 14ff. 12 Das gilt für das 1972 von Land entwickelte SX-70-System. Daniel Gethmann erachtet das SX-70-System als die Selbstverwirklichung des Unternehmens und klärt auch die Herkunft des Kameranamens auf: »Unter der ursprünglichen, geheimen Aktenbezeichnung ›S(pecial) X(periments)-70‹ – beide Vorgängerprojekte SX-68 und SX-69 waren militärische Auftragsforschung gewesen – kam Polaroid damit zu sich selbst als ProtoFarbfilmverfahren« (Gethmann 2005: 60). In den Jahren zwischen Roll- und Integralfilmen waren seit 1963 auch Packfilme auf dem Markt (vgl. Koshofer 1981: 211). 13 Für eine genaue Auflistung der chemischen Schichten und ihrer Reaktionen untereinander siehe: Teicher 1997: 210 oder Koshofer 1981: 214. 14 Da Positiv und Negativ von einem Entwicklerkonzentrat in einem einzigen Schritt bearbeitet werden, nennt man das Polaroidverfahren auch »One-Step Photography« oder Einstufenfotografie (vgl. Koshofer 1981: 205).

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Abbildung 4 a-b: Schemata Polaroidfilm und -kamera15

Als populäres Massenmedium setzt sich Polaroid in den 1970er Jahren durch, nachdem die Kameras und das Filmmaterial preisgünstig und bedienerfreundlich geworden waren.16 Neben seinen professionell-pragmatischen Gebrauchsweisen in Wissenschaft, Medizin und Werbefotografie, entwickelt das Polaroidbild auch eine eigene Ästhetik, obwohl oder gerade weil ihm »Kunstlosigkeit«17 nachgesagt wird. 15 Abbildung in: Maas 1966: 15. 16 Vgl. Koshofer 1981: 211 und Olonetzky 2002: 40. 17 Honnef 1980: 2.

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Unternehmensgeschichtlich ist das Urteil der Kunstlosigkeit sehr treffend, da die Sofortbildtechnologie auf Anfrage des US-amerikanischen Militärs in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs entwickelt wurde. Zwar hat sich die Firma in den 1970er Jahren mit Stipendien und Geldpreisen auch erfolgreich darum bemüht, ihr Verfahren in Künstlerkreisen zu etablieren, aber der verfahrenstechnische Vorzug von unmittelbarer Bildproduktion gegenüber einer stabilen Bildqualität ist ein militärisches Erbe.18 Grundlegend für den künstlerischen Gebrauch der Sofortbildtechnik ist zunächst der Effekt der zwischen Positiv- und Negativpapierstreifen abgemischten Chemikalien. Ihr Zusammenspiel bewirkt die aufgeschwemmte Farbigkeit,19 die diffuse Unschärfe oder auch Grobkörnigkeit und die verhältnismäßig geringe Bildtiefe, die dem Polaroidbild eigen ist. Hinzu kommt das ebenfalls verfahrensbedingte quadratische Format mit weißer Rahmung. Klaus Honnef bezeichnet diese Materialeigenschaften als »antinaturalistische Tendenzen«20 der Sofortbildfotografie, da sie eine charakteristische Verfremdung und Freistellung des Referenten hervorrufen. Abgesehen von ihrer materiellen Eigentümlichkeit wird die Ästhetik des Polaroidbilds aber auch durch einen spezifischen Einsatz der Kamera geprägt. Die aus dem Einsatz der Kamera resultierende verfahrenstechnische Ästhetik weist Parallelen zum Umgang mit der Funktion des Selbstauslösers auf. Sowohl die Sofortbildfotografie als auch der Selbstauslöser beruhen auf einer gesteigerten Automatisierung des fotografischen Aktes. Diese zeitweilige Verselbstständigung der fotografischen Apparatur führt häufig zu einem Umgang mit den beiden Anwendungen, der dem Bildmotiv und seiner Komposition einen weniger entscheidenden Platz einräumt als dem Aufnahmevorgang selbst. Dadurch, dass beim Fotografieren mit dem Selbstauslöser ein Teil des Motivarrangements den Umständen überlassen wird und der Fotograf bei Polaroidaufnahmen nicht in die Entwicklung des Fotos eingreifen kann, bestimmt weniger das Ergebnis die künstlerische Auseinandersetzung als der Weg zum Resultat. Denis Roche entwickelt für den vom Sucher begrenzten Raum im Moment der Aufnahme die Metapher »la chambre blan18 Eine genaue historische und physikalische Herleitung des Forschungsinteresses von Edwin Herbert Land und seiner daran orientierten Unternehmensführung liefert der Artikel »Das Prinzip Polaroid« von Daniel Gethmann (vgl. Gethmann 2005). Gethmann schildert hier sehr einleuchtend, inwiefern Polaroid-Produkte eine »Dual-Use-Technologie« sind, das heißt sowohl im Krieg als auch unter zivilen Marktbedingungen zum Einsatz kommen. 19 Norman Rothschild beschreibt die Farbgebung des 1967 entwickelten Polacolor 2 Farbfilms wie folgt: »sehr warm und kräftig. Fleischtöne tendieren nach Orange, was die meisten Leute erfreut… Rottöne liegen etwas auf der orangefarbenen Seite, Gelb recht naturgetreu und Grün ziemlich gedämpft« (zitiert bei Koshofer 1981: 212). 20 Honnef 1980: 6.

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che«.21 Die weiße Kammer tritt besonders bei der Arbeit mit dem Selbstauslöser zu Tage, da man sie während des Aufnahmemoments durchschreiten kann. Roche versteht diesen Raum als einen Lichtkubus,22 den er nach der Betätigung des Selbstauslösers betritt und dessen hintere Grenze mit der Position des Gehenden im Moment der Öffnung des Verschlusses festgelegt wird. Als buchstäblicher Weg zum Resultat, kommt es in Roches Praxis des Selbstauslösers also auf die Strecke an, die er während des aufgeschobenen Auslösens läuft, beziehungsweise auf den Abstand, den er in dieser Zeit zur Kamera gewinnt. Im Zusammenhang mit der »chambre blanche« erzählt Roche eine Anekdote über sein erstes Selbstporträt per Selbstauslöser. Da der Selbstauslöser seiner damaligen Kamera nur fünfzehn Sekunden Zeit gab, hatte er Schwierigkeiten, an die für ihn bestimmte Position im Bild zu gelangen. Nach einigen Fehlversuchen überlistete er seine Kamera: »Je rusai, tirant mon bras au maximum, le corps projeté déjà vers le bout de la piste, les pieds comme calés dans des starting-blocks, bref: disposé à « faire la chambre à fond », à couvrir l’espace de la photo dans un temps donné, […].«23 Bezeichnenderweise schließt Roche zwei Absätze später ein kleines Wortspiel mit dem Namen des Erfinders der Sofortbildtechnik an: »World is a small room. / Polaroïd Land. / ›Terre‹ du photographique, ›terre‹ du photographié, n’est-ce pas?«24 Die Betonung von »terre« kehrt den Boden als wortwörtlichen Beweggrund des Aufnahmeprozesses heraus und verweist darauf, dass sowohl die Praxis des Selbstauslösers als auch die der Sofortbildtechnik vom fotografischen Akt dominiert werden. Die Kunst liegt hier nicht im perfekten Bild, sondern sie entsteht durch den Einsatz des Apparats. Eine entscheidende verfahrensästhetische Konsequenz sowohl des Polaroids als auch des Selbstauslösereinsatzes ist die Steigerung der Intimität des Aufnahmevorgangs, die wiederum das Selbstdarstellungspotential der beiden Anwendungen fördert. Die Arbeit mit dem Selbstauslöser ermöglicht es, Fotograf und fotografiertes Motiv zugleich zu sein, ohne dass für den Moment des Fotografierens eine weitere Person zur Bedienung der Kamera nötig wäre. Dadurch ist der Blick des Anderen aus dem Aufnahmevorgang verbannt oder auf eine imaginäre Stufe versetzt, auf der er allenfalls in der nachträglichen Betrachtung des erstellten Fotos antizipiert wird.25 Janos Frecot spricht in diesem Zusammenhang von intensiveren Chiffren der Bedeutsamkeit und demonstriert diese an Selbstauslöser-Gruppenfotos von Matthias Koeppel. Die Augen der dargestellten Personen, die sich gerade noch dankbar an 21 Roche 1981: 8. Der Aufsatz ist auch in Roches Sammelband La disparition des lucioles: réflexions sur l’acte photographique integriert. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. Frecot 1984: 9.

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der führenden Tätigkeit des Fotografen orientierten, »klappen nun [nachdem der Selbstauslöser in Gang gesetzt wurde] sozusagen nach innen um«.26 Auf den Fotos erkennt Frecot Blicke, »die starr festhalten an dem verschwundenen Bild, die wie eingefroren wirken«, Personen, die »den Blick entspannen und […] in die Weite sehen, sich selbst und in den nächsten Sekunden ihr Sein anheimstellen« oder solche, die »hinter geschlossenen Augenlidern zu beten scheinen«.27 Die Kamera kann durch den Einsatz des Selbstauslösers eine Spiegelfunktion für die abgelichteten Personen einnehmen, die bei konventionellen Aufnahmevorgängen durch die Anwesenheit des Fotografen zurücktritt. Auch wenn man durch den Selbstauslöser nicht unmittelbar sein Abbild vor sich hat wie bei einem Spiegel, stößt die Kamera eine Reflexion darüber an, welche Erscheinung man von sich abgeben will, beziehungsweise in welcher Pose man in Erscheinung treten will.28 Das Sofortbildverfahren dagegen steigert die Intimität des Aufnahmevorgangs durch die Abgabe der Bildentwicklung an die Kamera. Dabei stiften die Möglichkeit zur direkten Zensur des Resultats und die Kontrolle über alle Stadien der Entstehung des Fotos zu intimen Momentaufnahmen und Motiven an. Die Schnelligkeit des gesamten Entwicklungsprozesses sowie die stark automatisierten Kameras fördern zusätzlich einen spontanen Einsatz des Apparats. Das Gerät inklusive seiner Filmmaterialien ist durch die hohe Automatisierung dafür prädestiniert, ausgerichtet zu werden, sodass der zentrale gestalterische Eingriff des Fotografen die Wahl von An- und Ausschnitt ist. Jegliche Verzögerung der Aufnahme durch aufwendige Abstimmung von Lichtverhältnissen erübrigt sich und eine komplizierte Einrichtung oder Inszenierung des Motivs scheint überflüssig, wenn die Möglichkeiten der technischen Einflussnahme derart beschränkt sind. Dagegen lädt das schnell auf der Hand liegende Resultat zu fortlaufenden Aufnahmen ein, die untereinander reagieren und die Ursache dafür sind, dass dem Sofortbild häufig ein Dialogcharakter zugesprochen wird.29 Gemeint ist damit einerseits ein erhöhter Austausch zwischen den Personen, die an der Entstehung des Bildes beteiligt sind, das heißt zwischen Fotograf und Fotografierten, anderseits aber auch eine Art Dialog zwischen Bild und Fotograf. Im letzteren Fall wäre das fertige Foto als eine Aussage aufzufassen, 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Zur Funktion und Bedeutung von Posen während des fotografischen Akts vgl. Kröncke und Nohr, die das Posieren in Anlehnung an Craig Owens »als einen Akt der Aufführung und als eine ›Strategie‹ der Aneignung […] des Selbst« erachten (Kröncke/Nohr 2005a: 8). In den 1970er Jahren wurde die Frage nach der Inszenierung in und von Fotografie aber auch grundsätzlicher diskutiert (vgl. etwa Coleman 2006: 239ff. und Brock 2006: 235ff.). 29 Vgl. etwa Lischka 1977: 8, 55; Honnef 1980: 3. Kröncke und Nohr sprechen allgemeiner von »partizipatorische[n] und kommunikative[n] Faktoren« (Kröncke/Nohr 2005a: 7), die bei Polaroids eine wichtige Rolle spielen.

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zu der sich der Fotograf mit einem Folgefoto verhält, das heißt sie kontrastiert, variiert oder eben einfach fortsetzt. Er gerät in ein Zwiegespräch mit sich selbst, bei dem das Gegenüber nicht imaginiert, sondern auf das Foto verlegt wird. Dadurch rücken das Vor und das Hinter der Kamera enger zusammen, weshalb Peter Weibel auch vom Polaroidbild als einem »intimen Spiegel«30 spricht. Neben der Steigerung der Intimität ist es aber auch der hohe Präsenzgrad des Mediums, der die Lust zur Selbstdarstellung per Polaroid bedingt. Das Potential sich mit Aufnahmen zu überraschen, ist dem Polaroid als »eine[r] Praxis nichtredigierter Plötzlichkeit«31 geradezu eingeschrieben. Als Ursache der medialen Gegenwärtigkeit von Polaroid können die Faktoren Unikat, Unmittelbarkeit und Mobilität betrachtet werden, da sie dem fotografischen Akt eine stärkere Bedeutung beimessen als auf externe Entwicklung angewiesene fotografische Verfahren. Durch seine Einmaligkeit wertschätzt, bewahrt und zelebriert Polaroidfotografie den Augenblick. Der Grund dafür liegt in dem stark momentabhängigen Einsatz der gesamten Technologie: Der Abdruck auf den Auslöser erzeugt einmalige Bilder mit einem annähernden Dingstatus, eine augenblickliche Materialisierung von Geschehnissen, derer man mit einer Schnappbewegung habhaft wird. Bereits ein früher Werbeslogan von Polaroid »Snap it, see it«32 vermittelt dieses schnelle, aus dem Augenwinkel angepeilte Greifen nach einem Motiv, das man erst sieht, nachdem man es fotografiert hat. Es gleicht einem Erfassen von Augenblicken, zu denen man nicht unmittelbar, sondern erst im Nachhinein und über das Foto einen Zugang bekommt. Als Unikat nimmt das Ergebnis dieser Aufnahme beim Polaroid zudem die Eigenschaft des Moments wieder auf, der ja ebenfalls und unwiderruflich nur einmalig sein kann, auch wenn ein Eindruck von ihm zurückbleiben sollte. Das Fotografieren mit Sofortbildkameras ist dann wortwörtlich »aufgehobene Zeit«, wobei hier die Geste des Aufhebens noch passender scheint als bei konventioneller Fotografie, da man wie ein Sammler den Fund mit der Kamera aufliest, ihn in die Falten des Apparats einzieht und kurz darauf in den Händen hält.33 Eine weiteres Vergleichsverfahren, das den Präsenzgehalt der Sofortbildfotografie zum Ausdruck bringt und sie historisch in die Zeit der Anfänge und Vorgänger der Fotografie rückt, ist das der Frottage. Wesentlich ist dabei der Moment der Direktübertragung, weshalb etwa Johann G. Lischka dem Polaroid eine Verwandtschaft mit »dem Durchpausen eines leicht profilierten oder reliefartigen Gegenstandes« oder dem »Nachzeichnen eines Umrisses oder einer schnell hingeworfenen

30 Weibel 1977: 126. 31 Steiger 2002: 92. 32 Koshofer 1981: 206. 33 Auch Lischka betont den Zusammenhang zwischen Unikat und Augenblick (vgl. Lischka 1977: 6).

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Skizze«34 attestiert. Mit diesem Zusammenhang im Hinterkopf ist es vermutlich kein Zufall, dass Dr. Edwin Herbert Land auf den Dokumentationsfotos der Präsentation seiner Erfindung vom 21. Februar 1947 im Begriff zu sein scheint, eine zweite Haut von seinem Gesicht abzuziehen (siehe Abbildung 5). Auf den Fotos sieht man den Erfinder auf Schulterhöhe ein etwa Din-A-4 großes Polaroid trennen. Während die linke Hand das Negativ herunterklappt, kommt in der rechten Hand das Positiv mit einem Porträt von Land zum Vorschein, auf dem er genau so aussieht wie zum Zeitpunkt der Präsentation selbst. Wäre das Gesicht auf dem Polaroidabzug nicht etwas kleiner als das des präsentierenden Erfinders, könnte man meinen, er habe sich soeben das Papier auf sein Gesicht gedrückt und wie von Wunderhand hätten sich seine Züge darauf übertragen. Die Geste des Abziehens, die Land auf dem Foto vollführt, steigert die Suggestion der Häutung, auch wenn er tatsächlich weder seine Haut noch das Papier von seiner Haut ablöst, sondern lediglich die oberste Schicht des Fotopapiers. Haut und Häutung sind von Beginn an Metaphern für die Fotografie und auch etymologisch mit ihr verbunden.35 Der Trennbildfilm von Polaroid liefert allerdings erst die passende Geste zu der Metapher. Es ist vor allem dieses Abziehen des Negativblatts, dem häufig noch ein Schütteln, Drücken und wärmendes Reiben der Papieroberflächen vorausgeht, das den Vergleich von Sofortbildern mit Verfahren wie Frottage oder Pause begründet. Auch wenn der Begriff ›Momentaufnahme‹ in der Fotogeschichte für einen anderen Kontext steht,36 kann man die Überlegungen zum Selbstauslöser und zur 34 Lischka 1977: 5. 35 Vgl. Stiegler 2006a: 121ff. Zu Beginn des Eintrags zu »Haut, Häutung« zitiert Stiegler folgende Bemerkung von Stenger aus dem Jahr 1929: »Das Wort ›Film‹ bedeutet ›Haut‹ und wird von dem angelsächsischen Wort ›Felmen‹, das ist Haut auf abgekochter Milch, abgeleitet«. 36 Mit ›Momentaufnahme‹ wird gängigerweise ein Kapitel der Fotografiegeschichte aus den 1930er und 1940er Jahre aufgerufen, das für Fotografen wie Henri Cartier-Bresson und seiner Apotheose des entscheidenden Augenblicks oder für Brassaïs Streifzüge durch Paris steht. Ihre Herangehensweise an das Motiv sucht das Wesentliche einer flüchtigen Wirklichkeit einzufangen und »aus dem unablässigen Strom des Lebens einzelne Ausschnitte herauszugreifen und festzuhalten« (Newhall 1998: 230). Willfried Baatz fasst diese Jahre und ihre Anliegen unter dem Titel »Die Entdeckung des Alltags« zusammen und betont damit, dass gerade die Ungezwungenheit und Banalität, die häufig von den Motiven ausgeht, ihre Momentaneität vermittelt (vgl. Baatz 1997: 112ff.). Um aber überhaupt eine solche Nähe zum alltäglichen Geschehen und einen fotografischen Zugang zu ungestellten Situationen zu erlangen, mussten die Kameras erst so handlich geworden sein, dass man sie immer bei sich tragen und nahezu unbemerkt einsetzen konnte. Deshalb strukturiert Beaumont Newhall sein Kapitel zu Momentaufnahmen anhand der Entwicklung der Kleinbildkamera und hebt die Erfindung der transportablen Blitzbirne Ende

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Polaroidfotografie mit der Beoabchtung schließen, dass sie den Moment der Aufnahme ins Bild setzen. In beiden Fällen kann die technische Übereignung der Tätigkeiten des Fotografen an den Apparat dafür sorgen, Intimität, Überraschung und Spontaneität sowohl auszulösen als auch festzuhalten. Besonders für die Polaroidfotografie gilt daher, dass der Zwangsläufigkeit ihres Aufnahmevorgangs – die Automatisierung der Kamera und der Bildentwicklung – eine Ungezwungenheit ihres Einsatzes gegenübersteht. Beides zusammen äußert sich in einem verfahrensbedingten Präsenzgehalt der Bilder. Abbildung 5: E. H. Land bei der Präsentation des Polaroidverfahrens am 21.2.194737

der 1920er Jahre als entscheidendes Ereignis für die Entstehung der Schnappschussfotografie hervor (vgl. Newhall 1998: 234). 37 Abbildung in Gethmann 2005: 63.

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Situationen (v)erfassen: Zwei exercices d’épuisement Die beiden Textsorten von Denis Roche und Georges Perec, die im Folgenden auf ihre Parallelen zum fotografischen Akt hin untersucht werden sollen, sind zu Beginn der 1970er Jahre entstanden.38 Es sind eigens von den beiden Autoren entwickelte Praktiken, die vor der Niederschrift der Texte und weitgehend unabhängig davon, worüber geschrieben werden soll festgelegt wurden. Dieser Fokus auf das Verfahren wird bereits in den »Gattungsbezeichnungen« der beiden Textsorten deutlich. Perec nennt seine Erfindung Tentative de description39 oder auch Tentative d’épuisement, Roche nennt sie Dépôts de savoir & de technique, wobei er sie ebenfalls als »exercice de style et d’épuisement« versteht.40 Die beiden Bezeichnungen lassen sich zunächst mit Ablagerungsvorgängen in Verbindung bringen: Während Perec seine Texte als Versuche bezeichnet, bestimmte Orte »aus- oder leerzuschöpfen«, während er also die dort stattfindenden Vorgänge, Situationen und Erscheinungen in Geschriebenes überführt und so gewissermaßen ablegt, werden Roches Texte explizit als »Dépôts« aufgefasst, als Lagerstätten von »savoir« und von »technique«. Ähnlich wie die Gestalt und die sprachgeschichtliche Funktion41 des Akzents auf dem »ô« des titelgebenden Wortes, schafft Roche mit den Dépôts also für Rudimente von Spracherzeugnissen ein Dach, unter dem sie überdauern können. Darüber hinaus eröffnet die recht ungewöhnliche Bezeichnung des Schreibens mit dem Substantiv »épuisement« einen ersten Zusammenhang zum fotografischen

38 Für Roche ist der Zeitraum genau auszumachen: Er schreibt in den Jahren 1975-79 genau 19 Dépôts de savoir & de technique. Siehe auch folgende Präzisierung: »[…] je devais attendre la fin de l’année 1975 pour entreprendre de rédiger le premier ›dépôt‹ et le mois de février 1977 pour en affiner les principes et écrire la première ›antéfixe‹« (Roche 1980: 107). Perec bricht sein auf zwölf Jahre angelegtes Schreibprojekt dagegen 1975 nach der Hälfte der Zeit ab. Die Tentative ist zwar ein fertiger Text, aber auch Teil eines umfangreichen Schreibprojekts. Weitere Angaben dazu folgen. 39 Die Texte stehen für einen soziologischen Fragenkomplex aus Perecs Poetik. Er beschreibt ihn wie folgt: »La première de ces interrogations peut être qualifiée de ›sociologique‹: comment regarder le quotidien; elle est au départ de textes comme les Choses, Espèces d’espaces, Tentative de description de quelques lieux parisiens, et du travail accompli avec l’équipe de Cause commune autour de Jean Duvignaud et de Paul Virilio« (Perec 2003: 10). 40 Roche 1980: 16. 41 Der ›accent circonflexe‹ zeigt u.a. das sprachhistorisch verloren gegangene ›s‹ nach langen Vokalen an und kann insofern als ein Überrest dieses Buchstabens verstanden werden.

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Akt. Denn auch der Moment der Aufnahme kann räumlich gesehen als Subtraktion verstanden werden, als »[a]ffaire d’extraction, de sortie d’une infinie contiguïté«.42 Die Geste des Fotografierens gleicht demnach einer Entnahme, bei der ein zeiträumlicher Ausschnitt aus einem weltlichen Kontinuum herausgetrennt wird, wohingegen die Geste des Schreibens in erster Linie den Charakter eines Ausfließens oder einer Füllung hat. Diese Anlehnung an den fotografischen Akt spiegelt sich auch in der Realisierung der Texte wider: Beide Autoren richten ihren Schreibprozess vor Ort auf gegebene Situationen, Erscheinungen und Dinge aus und setzen einen Vorgang an, der auf einem mehr oder weniger unmittelbaren Kontakt zwischen dem Text und den Faktoren Referent, Autor und Instrumentarium seiner Entstehungssituation beruht. Dadurch verfassen Roche und Perec sehr unterschiedliche Schriftstücke, obwohl ihnen der fotografische Akt in ähnlicher Weise als ein Kompositionsprinzip oder auch ›écriture‹-Modell zu Grunde liegt. Für Roche ist diese Auffassung über das Verhältnis seiner Schreibweise zur Fotografie nicht zuletzt aufgrund seiner expliziten intermedialen Poetik in der Forschungsliteratur etabliert. Das lässt sich sowohl an frühen Anthologien zu Roche wie der Sonderausgabe der Cahiers de la Photographie von 198943 beobachten, als auch in aktuellen Anthologien wie einem Tagungsband zu Roche aus dem Jahr 2007.44 Im erstgenannten Band kommt Philippe Dubois etwa zu dem Schluss, die Fotografie sei »la pensée de l’écriture rochienne«45 und im letztgenannten Band beobachtet Jean-Marie Gleize, dass Roche im Schreiben »dispositifs (ou systèmes réglés de contraintes) conçus au contact de la pratique photographique«46 entwickelt. Allerdings wird der fotografische Gehalt seiner Dépôts de savoir & de technique dabei häufig nur im Rahmen einer Diskussion um Montage- und Collagetechniken dargelegt47 oder aber mit einem kurzen Verweis auf den Zusammenhang des Titels mit dem fotografischen Prinzip des Lichtabdrucks abgehandelt48 und bedarf insofern einer präziseren Auslegung. Abgesehen davon werden die Dépôts de savoir & de technique überwiegend hinsichtlich ihrer problematischen Gattungszuschreibung untersucht.49 42 Dubois 1990: 169. 43 Vgl. Les Cahiers de la Photographie: Denis Roche, 1989:23. 44 Vgl. Gleize 2007. 45 Dubois 1989: 73. 46 Gleize 2007a: 18. 47 Vgl. etwa Quintyn 2007. Für eine Infragestellung des Montageprinzips siehe Baetens 1986: 77. 48 Vgl. etwa Dubois 1990: 50. 49 Die immer noch recht überschaubare kritische Auseinandersetzung mit Roches Dépôts hält sich meist mit der Frage nach der Gattungszugehörigkeit der Dépôts auf. Für zwei gegensätzliche Tendenzen sei hier auf die Untersuchungen von Eva Maria Regler und

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In Hinsicht auf Perec widerspricht die These des fotografischen Akts als ›écriture‹-Modell dagegen einer der nicht sehr zahlreichen Autoren, die sich intensiv mit dem Wechselverhältnis von Fotografie und Literatur in Perecs Werk befasst haben, und zwar Cristelle Reggiani.50 In expliziter Abgrenzung zu Roches Schreibweise vertritt sie die Auffassung, die Rolle der Fotografie in Perecs Werk habe die Funktion eines »déclencheur de l’écriture«51 oder auch eines »embrayeur de récit«.52 Diese Beobachtung gilt sicher in mancherlei Hinsicht, etwa bei fotografischer Ekphrasis in Romanen wie La vie mode d’emploi oder W ou le souvenir d’enfance, kann aber nicht als ausschließliche Annäherung der perecschen ›écriture‹ an die Fotografie bezeichnet werden. Reggiani pflichtet mit ihrem Untersuchungsergebnis der gängigen Forschungsmeinung bei, Perecs Werk unterstehe der Beschäftigung mit den Themen Abwesenheit und Verschwinden. So betont sie in dreifacher Hinsicht die Verbindung von Fotografie mit Absenz im Werk Perecs: hinsichtlich seiner Kindheit und des Verschwindens seiner Eltern,53 hinsichtlich seiner ungetreuen Mimesis, das heißt ihrer mangelhaften Nachbildung der Realität, und damit auch hinsichtlich ihrer Unzuverlässigkeit bei Aussagen über die Vergangenheit.54 Die nachfolgende Untersuchung wird jedoch aufzeigen, inwiefern die Fotografie in Perecs Texten auch Formen der Präsenz steigern kann. Ein wesentlicher Aspekt für die fotografisch orientierte ›écriture‹ sind die Regeln, mit denen die beiden Autoren den Schreibprozess an ein Aufnahmesetting binden. Genau genommen geht die Anordnung ihres Schreibvorhabens mit einer zweifachen Standortbestimmung einher, bei der sie einerseits mit Worten abstecken, unter welchen Bedingungen das Abfassen ihrer Texte erfolgt und andererseits den Ort thematisieren, an dem die Niederschrift der Texte stattfindet. In diesem Ann-Marie Lilti verwiesen: Auch wenn Lilti nicht explizit zu einer Klärung des Gattungsproblems beitragen möchte, stützt ihre Analyse der babylonischen Schreibweise der Dépôts indirekt die Literarizität der Texte, ohne dass sie durch einen Gattungsbezug gerechtfertigt wäre. Eva Maria Regler kommt in dem Kapitel »Weder Poesie noch Prosa: Die Dépôts de savoir et de technique« ihrer Dissertation über Roche zu dem Schluss, dass die Dépôts keiner Gattung zugeordnet werden können und daher tendenziell nicht literarisch seien (Regler 1995: 248). Für weitere Positionen zu dieser Problematik aus dem französischsprachigen Raum siehe auch die kurze Zusammenfassung bei Lilti 2006: 161ff. 50 Neben Reggiani haben sich außerdem Valeria Sperti und Roger-Yves Roche mit Perecs Poetik unter fotografischen Gesichtspunkten beschäftigt (vgl. Sperti 2005 und Roche 2009). 51 Reggiani 2003a: 84. 52 Reggiani 2003a: 86. 53 Vgl. Reggiani 2003b: 55. 54 Vgl. Reggiani 2003b: 51.

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Sinne wäre die erste Standortbestimmung poetologischer Natur. Sie erfolgt größtenteils in Vorwörtern oder Präliminarien zu den Texten. Die zweite Standortbestimmung ist raumzeitlicher Natur, manchmal auch mit Rückbindung zum programmatischen Auftakt, und erfolgt in Metakommentaren des Fließtextes. Wie sich der tatsächliche Standort des Autors und sein Standort im übertragenen Sinne auf die Texte auswirken und inwiefern ihre Verfertigungspraxis im Einzelnen an diejenige des fotografischen Aktes angelehnt ist, soll nun erst anhand von Roches Dépôts de savoir & de technique und dann anhand von Perecs Tentative d’épuisement d’un lieu parisien55 genauer analysiert werden. Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Roche Die Dépôts de savoir & de technique können grob in zwei Gruppen unterteilt werden: eine Meta-Gruppe und eine Porträt-Gruppe. Die Dépôts aus der ersten Gruppe befassen sich mit Zeichenerzeugnissen aus Literatur, Fotografie oder Musik und sind im weitesten Sinne Beiwerke zu Kunst, die Dépôts aus der zweiten Gruppe befassen sich mit Zeichenerzeugnissen einzelner Personen oder Paare und sind eine Art Lebensbeiwerk. Sie tragen die aus der etruskischen Architektur stammende Zusatzbezeichnung »Antéfixes«.56 Roche erzeugt die meist recht kurzen Texte (eine bis achtzehn Seiten) mithilfe eines Akkumulationsverfahrens. Zunächst sammelt er Sprachmaterialien in seinem direkten Umfeld, in seiner Wahrnehmungsreichweite oder in der Umgebung der zu porträtierenden Personen, in Schubladen, Regalen, Unterlagen, Büchern oder in Hosen- und Jackentaschen. Das können Notizzettel, Eintrittskarten, Bücher, Plattenhüllen, Programmhefte, Tagebucheinträge, Kalendereintragungen, Schmierzettel, Packungsbeilagen oder auch von ihm aufgeschnappte Sätze, Wörter oder Zurufe sein. Daraufhin überträgt er sie per Schreibmaschine in ein fest vorgegebenes Raster, das aus einer bestimmten Anzahl von Zeilen pro Seite und einer bestimmten Anzahl von Zeichen pro Zeile besteht. Ungeachtet der Kohärenz der eingegebenen Sätze und Wörter zerteilt Roche dabei die jeweils eingespeiste Buchstabensequenz zu Be-

55 Der Text wurde zum ersten Mal 1975 in einer der Selbstzerstörung moderner Gesellschaften gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Cause Commune veröffentlicht (vgl. Perec 1975: 59-108). Für Näheres zu der Ausgabe von Cause Commune mit dem Titel »Les Pourissements des sociétés« siehe Schilling 2006: 118. 56 Architektonisch sind ›Antefixa‹ aus Terrakotta gefertigte, meist figurative Ornamente, die unter der Traufrinne angebracht wurden, um Dachgesimse oder Friese abzudecken. Roche erwähnt in seiner Einleitung zu den Dépôts de savoir & de technique, dass es für ihn einen Unterschied zwischen ›Dépôt‹ und ›Antéfixe‹ gäbe, führt diesen aber nicht explizit aus (vgl. Roche 1980: 15).

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ginn und am Ende der Zeilen. Das augenscheinliche Ergebnis dieser Kadrierung57 von Schriftzeichen ist eine Aneinanderreihung scheinbar willkürlich gesetzter Wortzeilen, die vordergründig keinerlei anderen Zusammenhang aufweisen als ihre Anwesenheit auf einem Blatt Papier. Das Buch mit dem gleichnamigen Titel – Dépôts de savoir & de technique – versammelt ein Vorwort und neunzehn nach dieser ›contrainte‹ erstellte Texte. Sie sind durchnummeriert und chronologisch sortiert und tragen neben der jeweiligen Ordnungsnummer einen weiteren Titel. Zwei der Dépôts, Nummer neun und Nummer neunzehn, werden von auffälligen Paratexten begleitet: Sie haben einen Fußnotenapparat, in dem die Herkunft jeder Zeile angegeben und häufig auch kommentiert wird. Dépôts Nummer neun mit dem Titel Notre antéfixe verfügt zusätzlich über ein Vorwort.58 Roches eigens formuliertes Ziel bei dieser Übung ist es, eine Schreibweise zu entwickeln, die an die Oberfläche drängt, »une écriture définitive, non nodale, mais tout entière évidente et retournée vers le haut, vers ses surfaces«.59 Sie operiert über das Verschieben und Zerteilen von Zeichenmaterial, indem sie es in eine vorgegebene Form überträgt und fixiert. Der Autor versteht sich bei dieser Tätigkeit als Beobachter des »étrange commerce de signes«,60 der inmitten des Milieus der Wörter61 seine Sendung aufbereitet. In Roches eigener Wahrnehmung hatte die Idee der Dépôts für seinen Schreibfluss eine Art Weichenfunktion, da er erst nach der Festlegung des Verfahrens ein Mittel gefunden hatte, das seinem Bedürfnis gerecht wurde, auf ihn eindrängende und einwirkende Zeichen zu übertragen.62 Wie seine metaphorische Umschreibung der Dépôts als »machines capteuses«63 verdeutlicht, ermöglichten deren Parameter Roche, das unerschöpfliche Wort-, Bild- und Tonmaterial seines Wahrnehmungsumfeldes zeitweilig zu erfassen. Die Darlegung des Verfahrens macht bereits deutlich, dass die Dépôts über ihr Material an eine spezifische Lebenswelt angebunden sind. Auch umgibt sie eine verfahrensbedingte Aura der körperlichen Präsenz des Autors, da ihr Entstehungsvorgang einer expliziten Leibgebundenheit unterliegt. Sie besteht hier recht konkret 57 Vgl. Roche 1980: 16. 58 Für eine genauere Beschreibung der Zusammensetzung der Dépôts siehe Lilti 2006: 163ff. Eva Maria Regler hat sich zudem die Mühe gemacht, die Herkunft der Zeilen des fünften Dépôts zu rekonstruieren (vgl. Regler 1995: 210ff.). Claudia Reeder fasst die Fußnoten und die Vorwörter der Dépôts als »Paratexte« auf und beobachtet ihr paradoxes Verhältnis zum Fließtext (vgl. Reeder 1984: 48). 59 Roche 1980: 11. 60 Ebd.: 10. 61 Vgl. ebd.: 9. 62 Vgl. ebd.: 13. 63 Ebd.: 12.

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und unumgänglich zwischen den eingespeisten Sprachrealien und dem Sammler, in diesem Fall Roche, dem sie begegnet beziehungsweise zugestoßenen sein müssen.64 Er hat jedes der übertragenen Wörter sozusagen in den Händen (und nicht nur »im Geiste«) gehalten, bevor er es zu Papier gebracht hat. Vor allen Dingen lassen die Voreinstellungen der Dépôts aber Analogien zu den technischen und materiellen Voraussetzungen der Entstehung eines fotografischen Bildes erkennen. Sie stellen, genau wie das unter Verschluss gehaltene Zelluloid, eine begrenzte Oberfläche für das Abspeichern von Zeitraumfragmenten – hier in Form von Sprachrealien – zur Verfügung. Die rechteckigen Buchseiten und das exakt austarierte Textrechteck auf der Seite bilden dabei eine formale Entsprechung zu dem Rechteck des Negativs sowie der Verschlussöffnung. Die einzelnen Zeilen führen dagegen eine verfahrenstechnische Analogie von Text und Fotografie vor, da der Eingriff für die Bestückung der Dépôts-Zeilen auf Selektion basiert und mit Aus- und Anschnitt der zu übertragenden Einheiten arbeitet. Die auf der konzeptuellen Ebene dargelegte Parallele zwischen dem fotografischen Akt und den Dépôts ergibt sich nicht nur indirekt über das Vertextungsverfahren, sondern ist auch ein explizites Anliegen von Roches später Poetik. 65 Auch in den beiden Vorwörtern, die sich in der Dépôts-Anthologie befinden, »Entrée des machines – Préface«66 und »L’escalier de Copán – Préface«, wird dieses Anliegen

64 Diese Leibgebundenheit der Sprachstücke ist insofern explizit, als Sprache auch eine sehr viel subtilere Leibgebundenheit aufweist, die man mit Harald Weinrich als »Gedächtnis des Leibes« bezeichnen kann. Weinrich gelangt zu dieser Erkenntnis, indem er eine grammatikalisch bedingte Speicherfunktion von Sprache beobachtet (vgl. Weinrich 1988: 86ff.). 65 Roches Literaturbegriff verschiebt sich im Laufe seines schriftstellerischen Werkes. Wie »ein von der Poesie Kurierter« (Hubert Damisch in Roche 1991: 14) entwickelt er in seinen späteren Texten eine von traditionellen Gattungen weitgehend losgelöste Poetik. Das bezieht sich auf alles, was Roche seit ca. Mitte der 1970er Jahre verfasst hat, wie zum Beispiel Louve Basse, Kommentare und Erzählungen zu und über Fotografie(n), wie zum Beispiel in Le boîtier de mélancolie und Ellipse et laps oder eben die Dépôts de savoir & de technique. Seine frühe Poetik entwickelt er dagegen in seiner Zeit bei Tel Quel und damit in seinem gesamten dichterischen Werk. Sie setzt viel stärker als die späte Poetik auf Bruch und Auseinandersetzung mit poetischen und linguistischen Konventionen, sodass die Texte aus dieser Phase insgesamt einer sehr viel expliziteren Geste des Aufbegehrens unterstehen als seine späteren Texte (vgl. Roche 1995). 66 Roche 1980: 96-112. Dieses Vorwort wurde zusammen mit dem Dépôt »Notre Antéfixe« und Fotografien von Roche und seiner Frau Françoise auch als eigenständiges Buch veröffentlicht. Zudem ist ein Ausschnitt daraus auch ins Deutsche übersetzt (eine Seltenheit für Roches Texte!) und in der Anthologie zur Theorie der Fotografie von Wolfgang

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metaphorisch nahegebracht, bevor man sich der Lektüre der auf den ersten Blick unlesbar scheinenden Dépôts widmet. Aus der Palette der Metaphorik, die Roche um seine Vorstellung eines Zusammenspiels von Schreiben und Fotografieren aufbaut,67 sei im Anschluss das Metaphernfeld ›Aus-/Zuschnitt‹ in den beiden Vorwörtern exemplarisch näher betrachtet. Es betrifft einerseits das durch die DépôtsEinstellungen zugeschnittene Sprachmaterial und andererseits die Geste des Zuschneidens – somit den Schriftsteller und sein Instrument. Im Verlauf des Vorworts »Entrée des machines« findet sich beispielsweise eine Metapher, bei der die Sprachrealien der Dépôts mit Hilfe eines Bildspenders beschrieben werden, der nicht nur ähnlich zugeschnitten ist wie sie, sondern mit dem sie auch einen materiellen Zusammenhang aufweisen. Bei dem Bildspender handelt es sich um Baumstämme, die, zu Papier verarbeitet, tatsächlich einen Bestandteil des Trägermaterials der in die Dépôts geschleusten Sprachfragmente bilden. Roche kehrt den Realzusammenhang der Sprachrealien allerdings weniger über die materielle Gemeinsamkeit von Bildspender und Bildempfänger heraus als über die ihnen gemeinsame Entwurzelung, indem er die Dépôts-Zeilen als »troncs d’arbres qu’on balance du haut des pentes et qui dégringolent, se ressemblant tous par leur longueur et leur couleur, jusque dans le cours d’eau où on les assemblera pour leur faire faire un chemin imprévu«68 beschreibt. Genau wie die Bäume gefällt werden und flussabwärts einen unbekannten Weg einschlagen, werden auch die Sprachrealien der Dépôts aus ihrem ursprünglichen Umfeld herausgelöst und einer offenen Auslegung entgegen getrieben.69 Die Geste des Zuschneidens verlangt ein gutes Zusammenspiel von Augen und Händen des »opérateur«.70 Dementsprechend schreibt Roche euphorisch über das Sprachmaterial, er »fülle« sich mit ihm seine Augen und »schleudere« es über seine Fingerspitzen und die Tastatur hinweg in sein neues Gefüge.71 Wie sich an einer Kemp und Hubertus von Amelunxen veröffentlicht (siehe Kemp/Amelunxen 2006: 386398). 67 Ein weiteres sehr präsentes Metaphernfeld, dass Roche entwickelt, um über den fotografischen Akt zu schreiben, wäre das der Ejakulation. So versteht er den Druck auf den Auslöser etwa als einen Moment höchster Anspannung, bei dem eine »charge« austritt (vgl. Roche 1978: 31f.). 68 Roche 1980: 109. 69 Im neunten Dépôt, »Notre antéfixe«, taucht eine ähnliche Metapher als Leitmotiv in einem Satz von Marguerite Duras auf. Der Satz ist ein Zitat aus Marguerite Duras’ Roman Détruire dit-elle und wird, leicht abgewandelt, achtmal wiederholt. Er lautet: »La [le/nous] voici en effet, fracassant les arbres, foudroyant les murs« (ebd.: 115ff.). Für eine genauere Interpretation des Dépôts und die Bedeutung des Duras-Zitats siehe Mohs 2009. 70 Roche 1980: 111. 71 Vgl. ebd.: 108.

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Passage aus »L’escalier de Copán« zeigt, kann das Zuschneiden aber auch eine Belastung darstellen. Über das Material und seine Verabeitung heißt es hier: »Un convoi effarant sort des histoires des hommes et défile lentement sous mes yeux tandis que je le détaille à en mourir, […].«72 Mit der Metapher des Schreckens- oder auch Trauerzugs wird das Sprachmaterial durch den Blick des ›opérateurs‹ und die Tätigkeit seiner Hände zugleich personifiziert und mortifiziert. Nicht nur, dass ihm das Zuschneiden nahezu selbst Leid zufügt, die Augen des Schreibenden verhelfen den Sprachrealien erst zu ihrer Verlebendigung und stellen einen Kontakt zu ihrem Ursprung her. Weniger menschlich wird die Geste des Ausschneidens, wenn Roche sie zu einem vermutlich eher mit den Augen als mit den Händen vollzogenen Laserschnitt metaphorisiert. Zwar haftet der Zettelsammlung auch hier noch etwas Beängstigendes an, »l’affolant matériau d’écritures«,73 aber der ›opérateur‹ wirkt recht unberührt, wenn er daraus, »comme au laser«,74 »fines lamelles de même longueur«75 ausschneidet, bevor er sie auf das Papier transplantiert. Auch beim Fotografieren ist für Roche »toute la machine […] vissée à l’œil«,76 genau wie die Finger beim Schreiben eine »liaison«77 mit der Tastatur der Schreibmaschine unterhalten. Wenn Roche also seine Augen zu dem eigentlichen Laserschnittwerkzeug der Dépôts verbildlicht, greift er damit einen von ihm generell kultivierten Apparate-Fetischismus auf, der sich immer wieder in symbiotischen Mensch-Maschine-Metaphern zeigt und in der Bezeichnung seiner Schreib- und Aufnahmegeräte als »machines amoureuses«78 gipfelt. Mit der Metaphorik um die Geste des Zuschneidens, die bei der Anfertigung der Dépôts im Gegensatz zu Cut-up-Gedichten oder Collagen gar nicht tatsächlich vollführt wird, schließt Roche seinen Schreibvorgang an den Aspekt des fotografischen Akts an, den Dubois als Schnitt durch Raum und Zeit charakterisiert. Wie Dubois versteht auch Roche den zeitlichen Aspekt dieses Einschnitts metaphorisch als Schwellenmoment einer sich vollziehenden zu einer erstarrten Zeit. Er nimmt dazu einen Mythos zur Hilfe, der ihn während der titelgebenden Episode des Vorworts L’escalier de Copán begleitet. Die in das Vorwort eingelassene Episode dreht sich um einen Besuch Roches in Copán, einer Ausgrabungsstätte einer Maya-Stadt im Urwald von Honduras. Anlass für den Bericht über und den Besuch in Copán ist Roches sich zu einer Obsession 72 Ebd.: 16. 73 Ebd.: 112 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd.: 111. 77 Ebd.. 78 Roche 1982: 118.

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steigernde Überzeugung, er produziere mit seinen Dépôts etwas ähnlich Schönes wie die sehr gut erhaltene Hieroglyphentreppe einer Stufenpyramide in der Maya-Stadt. Bevor er von seinem Besuch vor Ort berichtet, erzählt Roche, wie ihn ein Foto der Treppe während des Schreibens der Dépôts begleitete. Schon das Foto habe ihn vor den Kopf gestoßen, da er plötzlich das Gefühl hatte, seine Texte wären in diesem Gebäuderest real oder lebendig geworden, sodass er zu dem Schluss kommt, dass Geschriebenes »ça se vérifie«.79 Außerdem identifiziert er sich mit der Treppe über ein Gefühl des Verlorenseins, das ihr Anblick und das Abfassen der Dépôts in ihm auslösen: »[…] un simple escalier de pierre perdu dans la forêt de l’Amérique centrale, au Honduras, et j’étais quelque part, interdit, non situé et tout à fait putrescible.«80 Der »choc«,81 den die Fotografie der Treppe bei Roche verursacht hatte, steigert sich bei dem Besuch der realen Treppe in eine an Wahnsinn grenzende Euphorie: »J’ai couru, je l’avoue, vers l’escalier, criant à Françoise [Roches Frau] de m’y joindre, connaissant par cœur le plan du site, transpirant comme un fou«.82 Da das von Roche vor Ort gemachte Foto der Treppe (siehe Abbildung 6) auch auf der ersten Seite des Buches abgedruckt ist, begleitet das Abbild der Treppe auch den Leser während der Lektüre der Dépôts. Wie dem Autor beim Verfassen der Dépôts wird dem Leser durch das Foto eine visuelle Hilfestellung für die Analogie zwischen den Dépôts und der Stufenpyramide83 geboten und über die Architekur der Treppe eine erste Anspielung auf die Metapher der Schwelle gemacht.

79 Roche 1980: 17. 80 Ebd. Der Einschub »interdit« in dem genannten Zitat ist, wie so häufig bei Roche, wörtlich zu nehmen, sodass er nicht ›verboten‹, sondern ›zwischen Gesagtem‹ bedeutet. 81 Ebd. 82 Ebd.: 18. 83 Dazu gehört die formale Analogie zwischen den in der Vertikalen angeordneten DépôtsZeilen und den Treppenstufen (vgl. ebd.: 18), die Tatsache, dass weder alle Hieroglyphen der Treppe noch alle Zeilen der Dépôts wohl jemals vollständig entziffert werden können (vgl. ebd.: 19); auch der enge Bezug zur Zeit, den sowohl die Treppe als auch die Dépôts aufweisen: Die Inschriften der Treppe sind größtenteils Daten und die Dépôts-Zeilen werden ihrem Auffindungszeitpunkt zugeschrieben (vgl. ebd.: 20). Siehe hierzu auch Lilti 2006: 170.

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Abbildung 6: Denis Roche 29 juillet 197884

Bei dem Mythos, der den Bericht rahmt und erzählerisch einen Schwellenmoment aufruft, handelt es sich um den berühmten von Isis und Osiris. Roche verweist gleich zu Beginn des Berichts auf ihn, um die Gewissheit zu veranschaulichen, die er durch die Ähnlichkeit der Hieroglyphentreppe mit den Dépôts über seine Tätigkeit erlangt hat: Er fühle sich beim Anblick der Treppe und beim Verfassen der Dépôts wie im Angesicht Osiris’, der ihn in das Totenreich winke und sage: »Passe, tu es pur«.85 Die Vorstellung von Osiris’ Aufforderung, mit dem Verfassen der Dépôts die Unterwelt zu betreten, oszilliert vergleichbar mit der Metapher des »convoi effarent« zwischen Leben und Tod. Wie der Fotograf beim Fotografieren 84 Abbildung in: Mora 2001: 46. 85 Roche 1980: 17. Am Ende der Copán-Anekdote wird dieser Schwellenmoment zusätzlich über die Anlage der Ausgrabungsstätte in Erinnerung gerufen. Denn Roche fallen beim Verlassen von Copán bunte Papageien auf, die an dem Absperrzaun entlanglaufen (ebd.: 20).

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einen bewegten Gegenstand erstarren lässt, hat Roche den Eindruck mit seinen Zeilen etwas zu erzeugen, das sich im Übergang von Lebendig zu Gestorben veranschaulicht. Auch dass die Hieroglyphe für Osiris ein stilisiertes offenes Auge ist86 und sich der Übertritt in das Totenreich dadurch gewissermaßen vor den Augen des Gottes abspielt, unterstützt den fotografischen Charakter des von Roche imaginierten Schwellenmoments. Die Analogie zu den Dépôts-Zeilen stellt sich dabei nicht nur über den direkt von Roche geäußerten Vergleich ein, sondern auch indirekt über die Wirrungen um Osiris’ eigenen Tod. Denn dem Mythos nach wurde die Leiche von Osiris – ähnlich wie die zu Baumstämmen metaphorisierten Dépôts-Zeilen – zuerst in einen Fluss geworfen87 und, nachdem seine Frau Isis sie geborgen hatte, von seinem wütenden Bruder Seth zerstückelt und über die ganze Welt verteilt. Dass Isis sich daraufhin auf eine lange und mühevolle Reise macht, um die Einzelteile ihres Mannes wieder zusammenzusuchen, ist wiederum vergleichbar mit der Rolle und der Arbeit des Lesers der Dépôts: Auch er kann nur mit Mühe die zerteilten Zeilen der Dépôts nachvollziehen und sie, sofern er es auf sich nimmt, als Teile eines aus der Welt geklaubten Ganzen zu begreifen versuchen. Der Mythos von Osiris kann damit als Versinnbildlichung des raumzeitlichen Schnitts verstanden werden, den Roche in Anlehnung an den fotografischen Akt mit seinen Dépôts vollzieht. Einerseits evoziert er den Moment des Erstarrens in der imaginierten Passage vom Reich der Lebenden ins Reich der Toten, andererseits findet auch die Metapher des Schnitts in ihm Widerhall. Roches notorischer Gebrauch des Verbs »prendre« und seiner Derivate und Synomyme verdeutlicht zudem, wie die Geste des Schnitts in den Vorwörtern auch als Entnahme dargestellt wird, und soll die expliziten Beobachtungen zur fotografischen Poetik der Dépôts abschließen. Roche bezeichnet die Tätigkeit seiner Mithelfer, das heißt der Personen, die ihm das Material für die Antefixa liefern, als »prises«88 aus Intimräumen und die des

86 Die Hieroglyphe spielt in dem Vorwort zwar keine Rolle, taucht aber im Dépôts Nummer neunzehn in einem knapp einseitigen, aus Hieroglyphen bestehenden Abschnitt auf. Ohne den Abschnitt entziffern zu können, kann allein die Anwesenheit der Osiris-Hieroglyphe als indirekte Bezugnahme auf den Mythos verstanden werden (vgl. ebd.: 214, unterer Abschnitt). 87 Die Verbindung von Leichen oder Leichenteilen mit fließendem Wasser wird auch auf einer politischen Ebene aufgerufen. Auf der Hinreise nach Copán erfährt Roche von einem jungen Guatemalteken, dass im Fluss zu der Zeit häufig Leichen schwimmen und dass »depuis, on surnommait ce fleuve du nom du président qui avait ordonné les fusillades« (ebd.: 18). 88 Ebd.: 110.

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Fotografen als »cueillette […] n’ayant jamais besoin de se baisser pour ramasser«.89 Aber nicht allein die Tätigkeit des Fotografen respektive des Verfassers der Dépôts hat mit nehmen zu tun, auch seine gesamte Umwelt stellt sich ihm als etwas ZuNehmendes dar, als etwas, das nur darauf wartet, aufgenommen zu werden. Entsprechend schreibt Roche über den Effekt des Dépôts-Erstellens: »Tout me venait donc, tout était à prendre, je voulais tout: voilà les Dépôts de savoir & de technique.«90 Dieses Verlangen Roches, das Christian Prigent als »une gourmandise violente pour les choses«91 bezeichnet, entwickelt sich im Verlauf des Schreibens wiederum zu einem Zwang, der Roche »aux prises avec le Temps & la Mort«92 treibt. Das Nehmen konnotiert am Ende also nicht mehr die Freiheit der Wahl, sondern führt in die Fänge der fortschreitenden Zeit. Weiterhin taucht ›prendre‹ in Zusammenhang mit den Dépôts selbst, genauer gesagt mit ihren metaphorischen Entsprechungen auf. So sind etwa die einzelnen Dépôts-Zeilen »prises dans des écrits différents, variés, littéraires ou non«.93 Und die Hieroglyphentreppe in Copán wird als Aufschwung aus 63 Stufen bezeichnet, »qui en ne rien changeant du tout, faisait que tout prenait«.94 Das hier sogar kursiv gesetzte »prenait« markiert die ungewöhnliche, ins Passive gerichtete Verwendung des Verbs ›prendre‹, die an die Rolle der Kamera im fotografischen Akt erinnert. Die Treppe bedient sich nicht aktiv einer Sache, nimmt nichts an sich oder in sich auf, sondern verwahrt Dinge, die ihr zugefügt werden, wie die Schriftzeichen oder die sie umgebende Landschaft.95 An anderer Stelle wird wiederum die zeitliche fotografische Transformation auf die Dépôts übertragen, wenn Roche sie als Luken bezeichnet, »dans quoi tout ce qui se trouve pris se voit instantanément augmenté d’une vie nouvelle«.96 In einem Artikel zu Roches Écrits momentanés kommt Luigi Magno zu dem Schluss, sie beruhen auf einer »art poétique du provisoire«.97 Provisorisch, weniger im Sinne von ›vorläufig‹ und mehr im Sinne von ›vorübergehend‹, ist Roches Poetik auch in den Dépôts, da er den Moment der Niederschrift als Aufnahmen versteht, bei denen die aus dem Leben entnommenen Sprachrealien zu einem starren Textraster zurechtgestutzt werden. Dieser Moment der Entbindung des Materials von einer lebendigen Person oder einem lebendigen Kontext versteht Roche als 89 Ebd.: 106. 90 Ebd.: 12. 91 Prigent 1991: 165. 92 Roche 1980: 112. 93 Ebd.: 108. 94 Ebd.: 19. 95 Vgl. ebd. 96 Ebd.: 16. 97 Magno 2007: 272.

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einen Schnitt, der einen Zwischenraum eröffnet. Ein Teil der Herkunft des Materials bleibt in diesem Zwischenraum erhalten, während ein anderer auf Kosten des neuen textlichen Zusammenhangs darin verloren geht. Die Lücke des Einschnitts gewährt außerdem dem Produktionsmoment selbst Eingang, sodass auch die Entstehungsbedingungen und -orte in die Dépôts integriert sein können. Magnos Formel kann in dieser Hinsicht nicht nur der poetologischen, sondern auch der konkreten Standortbestimmung des Verfassers in den Dépôts einen Anstoß geben. Provisorisch, verstanden als ›Zwischen‹, wären dann nicht nur die medialen Koordinaten von Roches künstlerischer Praxis; auch die zeiträumliche Situierung des Produktionsmoments der Dépôts kehrt das Provisorische, Bewegte, nicht endgültig Verharrende heraus. Die meisten der vorübergehenden zeitlichen und räumlichen Situationen des Dazwischen finden sich in Form von Metakommentaren zum Schreibmoment in den Fußnoten zu den Dépôts. Dort, wo Roche seine Dépôts schreibt, befindet er sich nach eigenen Angaben in dem buchstäblichen »interdit«, das heißt ›zwischen Gesagtem‹. Aber nicht nur der Verfasser sieht sich inmitten von Gesagtem hantieren, auch Gesagtes, das zwischen Leuten stattfindet, Äußerungen, die zwischen zwei Gesprächspartnern während des Schreibens fallen, finden sich in die Dépôts ein. Solcherart sind etwa Zeilen wie Zeile Nummer 144 aus Dépôts Nummer neun oder Zeile Nummer 69 aus Dépôts Nummer neunzehn. Erstere lautet wie folgt: »/a va chérie à quoi tu penses à des tas de choses tjs en colla144/«.98 Und sie wird folgendermaßen im Anhang des Dépôts erläutert: »144. A l’instant, entre Françoise (collant des photos) dans la salle à manger, et moi qui finis juste de taper les mots du 143 […]«.99 Neben der Herkunft des Fragments wird auch die Zuschreibung der in Zeile 144 genannten Pronomen nur durch den ergänzenden Kommentar ersichtlich: »moi« ist offensichtlich der männliche Sprecher, der eine »chérie« anspricht und der gerade dabei ist, den vorliegenden Text zu schreiben. Dass es sich dabei wiederum um Roche und seine Frau Françoise handelt, lässt sich aus der Widmung und den restlichen Zeilen des Dépôts schließen.100 Die Schreibsituation wird hier über eine von Roche während des Tippens gemachte Äußerung eingefangen und im Text deponiert. Das zwischen den beiden Protagonisten, besser gesagt zwischen den Zeichenspendern, »entre-nous« Gesagte wird auch an anderer Stelle aufgegriffen. Die Zeile 69 aus Dépôts Nummer 19 bringt folgende Aussage inklusive nachträglicher Erläu98 Roche 1980: 120. 99 Ebd.: 133. 100 Auch wenn der Text nicht namentlich Françoise gewidmet ist, zeugt der Anlass davon, dass es sich um ein Porträt von Roche und seiner Frau handelt, da es um »le 10e anniversaire de notre liaison« geht (ebd.: 96). Zudem tauchen über das gesamte Dépôts immer wieder die Namen Denis und Françoise auf, namentlich in Zeilen erotischer Natur (vgl. zum Beispiel ebd.: 117 Zeile 74, 122 Zeile 203).

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terung: »/omme toi, survirilisés! – Elles & leurs pissous musicaux!…69/ […] 69. Conversation entre nous deux, aujourd’hui, l’un dans la chambre, l’autre dans la salle de bains«. In beiden Beispielen wird die Unmittelbarkeit der eingeschobenen Zeile durch direkte Ansprache in den Zeilen betont und durch die offene, das Jetzt unterstreichende, temporale Deixis, »à l’instant« und »aujourd’hui«, gefestigt. Zudem markiert das stenographisch geschriebene »toujours« (»tjs«) im ersten Beispiel den Versuch, Gesprochenes möglichst schnell mitzuschreiben. Ironischerweise wird gerade das Wort dabei beschnitten, das den Gegenwert dessen bedeutet, was seine Notationsweise nahelegt: »toujours«, das Immerwährende, Anhaltende. Im zweiten Beispiel transportieren zudem die Ausrufungszeichen, dass es sich um die Mitschrift oder zumindest Nachschrift einer im Affekt geäußerten, mündlichen Aussage handelt. Darüber hinaus wird das Schreiben von einer vorübergehenden räumlichen Komponente bestimmt, und zwar von Strecken, die Roche während der Produktion der Dépôts abläuft. Um den Stellenwert dieser Bewegung im Raum während der Aufnahme zu verstehen, sei noch einmal auf das Konzept der »chambre blanche«101 verwiesen. In Roches vorwiegend per Selbstauslöser aufgenommenen Fotos sieht man ihn, wohl aufgrund dieser Überlegung, fast ausschließlich als vom Apparat wegschreitende Rückenfigur.102 Dieser an die gestalterische Aktion gebundene Raum und die Bewegung, die ihn ihm stattfindet, begleitet auch das Hier und Jetzt des Schreibens von Roche. Er wird u.a. in banalen Äußerungen angesprochen wie in folgendem Zeilenkommentar, der über die Herkunft der sechsten Zeile aus dem Dépôts Nummer 19 aufklärt: /êtes et tel je suis. Compatissez, fleur d’amour; j’ai besoin6/ […] 6. (Jeudi 21.) Ce que Michelet, dans son Journal de l’année 1842, imagine que Rubens dit à Hélène Fourment. ›Telle vous êtes et tel je suis…‹ Je me lève pour aller noter sur le bloc qui est dans l’entrée d’avoir à acheter les deux tomes qui me manquent.103

Der letzte, fast fehlplatzierte Satz gibt keine Auskunft mehr über die Herkunft des Geschriebenen und schwenkt vielmehr auf die Verrichtungen des Autors während des Schreibens über. Die Information über Roches Vorhaben, sich die beiden Bände 101 Vgl. Roche 1982: 18ff. 102 Entsprechend ist auch das Foto auf dem Rückumschlag der Dépôts de savoir & de technique konstruiert. Und das ausnahmsweise auch auf dem Buchdeckel, direkt unter dem Titel, angebrachte Logo der von Roche gegründeten Reihe Fiction & Cie, »The Traveller hesteth in the Evening« von William Blake erinnert ebenfalls an die Prämisse des »chambre blanche« (vgl. Roche 1980, Vorder- und Rückseite des Buches). Roche bringt die Figur von Blake selbst in Verbindung mit seiner Vorstellung des künstlerischen InAktion-Seins (vgl. ebd.: 14). 103 Ebd.: 211, 219.

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der Michelet-Korrespondenz zu kaufen, die ihm fehlen, hat für den Leser und den Text keinerlei Relevanz. Entscheidend ist dagegen, dass der Kommentar auf den Moment des Schreibens aufmerksam macht. Die aufgezeichneten Wortfetzen aus den beiden ersten Beispielen haben das Hier und Jetzt des Schreibens als Primärmaterial in das Dépôts überführt, in dem letzten Beispiel hat der Verweis auf das Hier und Jetzt des Schreibens dagegen den Status einer Zerstreuung und die ausschließliche Funktion, aufzuzeigen, dass während des Schreibens etwas passiert. An anderer Stelle wird das Hin- und Herlaufen während des Aufzeichnens der Dépôts-Zeilen allerdings nicht nur vom Schreiben in die Wege geleitet, sondern darin eingebunden. Auch dieser Einschub ist losgelöst von der eigentlichen Funktion der Kommentare und wird der Information zur Herkunft der Zeile nachgestellt. 60. […] Aujourd’hui, pour mieux développer le travail en cours, j’ai mis en ›batterie‹ deux machines à écrire sur ma table, deux Hermès 3000 comme d’habitude: celle de gauche enregistre les lignes numérotées du ›Dépôt‹, celle de droite les notes & commentaires. Au fur et à mesure que le travail avance, la machine de droite est obligée de rattraper celle de gauche. Le piano emmagasineur est là, cliquetant sous mes mains, les pages se déroulent vers le haut tandis que les touches sèment du noir devant mes yeux. Je vais d’une machine à l’autre, traînant ma chaise et mon angoisse.104

Der Absatz beschreibt die Anordnung der Instrumente, zwei nebeneinander installierte Schreibmaschinen des Typs Hermès 3000, und Roches pseudo-vierhändige Schreibtaktik, die Philippe Dubois »le dispositif même, technique et symbolique, de l’acte d’écriture«105 nennt. Zu dem Dispositiv zählen weiterhin alle Faktoren, die auf den Autor im Moment des Schreibens einwirken und das Instrumentarium und die Verfahrensweise bedingen. Für Roche ist zum Beispiel Musik oder der Fensterausblick während des Schreibens genauso wichtig wie das Textformat, das er bedienen will, oder der Gemütszustand, in dem er sich befindet. Alle diese äußeren, während des Schreibens präsenten Faktoren münden dann in »une sorte de grand cube de signifiant: une chambre très forte où je peux enfin retrouver mon erre, mon style«.106 Bis zu welchem Grad diese Faktoren dann tatsächlich auch im Text präsent bleiben, ist – abgesehen von den expliziten Verweisen auf die Schreibsituation – schwer zu belegen. Allein dass die Metakommentare zum Schreibakt synchron zu den Referentialisierungen der Dépôts-Zeilen gesetzt sind, verschafft dem Autor und seiner Tätigkeit aber eine ähnlich verdeckte Präsenz in seinem Text wie dem Fotografen im Foto. Zudem wird durch diese Überlagerung von Inhalt und Moment des Schreibens der Fokus stärker darauf gelenkt, dass geschrieben wird und nicht da104 Ebd.: 228. 105 Dubois 1989: 76. Zu Roches Präsens des Schreibens siehe auch Gleize 2007a: 16f. 106 Roche 1982: 14.

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rauf, was geschrieben wird. Diese Geste des Schreibens wird dann wiederum geleitet von all dem, was in dem Zeitraum ihres Vollführens vorfällt. Anders als im ›offenen Intertextualitätsbegriff‹ angenommen und von dem Sprachmaterial der Dépôts suggeriert, lässt sie die Tatsache, dass schon alles geschrieben wurde, außer Acht und konzentriert sich auf den momentanen gestischen Ablauf: »tout est déjà écrit, ici et là, dans tous les recoins des villes ou des sables, dans la mémoire ou les légendes, mais rien n’est vraiment écrit puisque je ne l’écris qu’ici, à mon tour, comme eux tous, sous vos yeux.«107 Der Zeitpunkt des Schreibens, seine Einwirkungen und seine örtliche Einbindung wird damit die Bedingung, die darüber entscheidet, was im Schreiben ausund was eingeblendet wird. Er bildet den Rahmen der Dépôts, während überlieferte Vorgaben wie etwa rhetorische Gesetze oder Fiktivität keinerlei Grenzen mehr darstellen. Programmatischer als die vorangegangenen Beispiele zeugt davon ein weiterer Kommentar Roches, der nicht die spezifische Schreibsituation der Dépôts thematisiert, sondern darauf abzielt, autobiographische Texte mit den Begebenheiten während ihrer Niederschrift zu zersetzen: Un journal intime publié devrait comprendre aussi tout ce que l’écrivain a écrit pendant le laps de temps recensé (le roman parsemé, en longs paragraphes intempestifs en italiques, des événements de la vie quotidienne de l’écrivain; les scènes de la pièce de théâtre brusquement envahies par les ennuis de santé de la femme de l’auteur ou de minutieux descriptifs de leurs coïts…)108

Der Sinn einer solchen Übung wäre es, so Roche im Anschluss, dass der Autor sich alles vor Augen führe, was er während des Schreibens gemeint hat zu wissen, um daraufhin zu der Erkenntnis zu kommen, alles erneut schreiben zu müssen.109 Wenn auch nicht eindeutig ist, was Roche genau damit meint, so wird doch klar, wie sehr er Texte in Abhängigkeit zum Zeitraum ihrer Niederschrift denkt. Das Zitat ist ein Plädoyer dafür, jeglichen Text als Fortsatz oder Ableger bestimmter Lebensmomente seines Autors zu verstehen. Und zwar nicht derer, die sich nachweisen lassen, sondern Ableger von Augenblicken und ihren kurz darauf schon wieder verschobenen Konstellationen. Das ›Zwischen‹ des die Situation des Schreibens begleitenden Standortes in den Dépôts wäre mithin nicht nur räumlich (der Schreibende zwischen den nebeneinander positionierten Schreibmaschinen, zwischen Schreibtisch und den Begrenzungen des Raumes, in dem er sich befindet, Zwischenort für Gesagtes und Geschriebenes), sondern auch zeitlich bedingt. Denn die Augenblicke, die aus der Schreibsituation 107 Roche 1980: 227, Kommentar zu Zeile 51. 108 Ebd.: 220. 109 Vgl. ebd.

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in den Text übertragen werden, sind natürlich im Moment ihrer Niederschrift schon wieder vergangen. Die Person, die sie erlebt hat, kann nur eine Spur oder eine Form hinterlassen, »objeu, objet parmi les objet«,110 schreibt Christian Prigent hinsichtlich der Dépôts, während »le sujet de ce jeu s’éclipse, ›se regarde s’en aller‹, ayant dit son action et rien d’autre qu’elle«.111 In diesem Sinne wäre Literatur etwas, das man hinter sich lässt, indem man es durch das Aufzeigen von Vorüberziehendem im Schreiben kurzfristig »vor sich bringt«. Roche zeigt seinen Standort und die in ihm vollzogene Bewegung auf und führt gleichzeitig vor, dass er ihn nie mehr einnehmen wird. Hierin setzt er wieder die Arbeit mit dem Selbstauslöser mit dem Abfassen der Dépôts gleich, wenn er für beides feststellt: »qu’il faut y passer: […] quelques semaines d’un travail itératif épuisant parce qu’on s’y sent passer, comme dans un grand désespoir d’amour, de ligne de vie en ligne de vie«.112 Insofern bestätigt Philippe Dubois Roches Literaturbegriff mit der Aussage, Roches gesamtes Werk sei von einer »fente centrale« durchzogen, von einer »ligne ouverte de démarcation, et que toute la question est celle du passage«.113 Führt man sich vor Augen, dass ›passer‹ im Französischen sowohl ›zeigen‹ als auch ›vorüberziehen‹ oder ›vorbei gehen‹ heißen kann (›passer un film‹ vs. ›le temps passe‹), wird deutlich, dass die Frage nach der ›passage‹ des Schreibens sowohl auf ein Nachhinein als auch auf Gleichzeitigkeit abzielt. Der Moment, den Roche im Schreiben hinter sich bringt, soll nicht durch das Schreiben überwunden oder überbrückt werden, sondern im Schreiben so aufgezeigt sein, dass ein anderer ihn später nachvollziehen kann. Entsprechend ist auch folgende Aussage Roches aus seinem Roman Louve basse zu verstehen: »et ce que moi j’écris en tout cas c’est parce que c’est maintenant et que demain un autre pensera que si j’ai écrit tout ça c’était parce que je l’avais écrit à ce moment-là et il aura bien raison!«.114 Damit ein anderer aber diesen Simultanbezug zwischen Geschriebenem und Moment des Schreibens herstellen kann, muss etwas von diesem Moment im Geschriebenen aufgehoben werden. Roche erreicht dies über die bereits vorgeführten Verweise auf die Bedingungen und Konstellationen der Schreibsituation, aber auch über das Transkribieren von gesprochenen Dialogen zur Zeit des Schreibens oder der Niederschrift von Ereignissen, die das Schreiben begleiten. Indem er den Vollzug des Schreibens thematisiert, lotet er aus, woher er rührt. Mit dieser Vorgehensweise verfolgt er ein Anliegen, das die ganze Generation von Schriftstellern zur Zeit der Entstehung der Dépôts beschäftigt hat. Roland Bart110 Prigent 1991: 172. 111 Ebd. 112 Roche 1980: 110. 113 Dubois 1989: 88. 114 Roche 1976: 127.

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hes hat es 1975 als den »second degré du langage« bezeichnet und beschreibt es lakonisch: »J’écris: ceci est le premier degré du langage. Puis, j’écris que j’écris: c’en est le second dégré«.115 Ist der »second degré du langage« bei Barthes maßgeblich dadurch motiviert, sprachliche Aussagen in Frage zu stellen, tritt bei Roche die Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Schrift und Moment hinzu. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass sie die Tätigkeit des Schreibens über ihre physischen Gegebenheiten reflektieren und sie weniger als Mittel zum Ausdruck eines Gedankens oder zur Konstruktion einer Welt betrachten, die einen Gedanken exemplarisch ausdrückt. Nicht eine Idee setzt bei ihnen das Schreiben in Gang, sondern das Erscheinungsbild von Sprache: Dazu können neben den offensichtlichen Komponenten des Signifkanten, wie Klanglichkeit und Visualität, auch buchstäbliche oder verloren gegangene Bedeutungen von Wörtern gehören, die hinter ihrem dominant gesetzten oder konventionalisierten Wortsinn zurückgetreten sind. Dass die ›écriture‹ letztlich ein »règne du signifiant«116 vorantreiben will, liegt in dieser entkonventionalisierenden Arbeit an und mit Sprache begründet. Der fotografische Akt als écriture-Modell bei Perec Auch Georges Perec entwirft mit seiner Schreibübung Tentative d’épuisement d’un lieu parisien eine Art Passepartout, das sich, wenn auch weniger gezielt als bei Roche, an den Koordinaten des fotografischen Aktes orientiert. Auch hier wird der Moment des Schreibens zu einem Moment der Aufnahme von Gegebenem, die den Gegenstand des Textes und seinen Entstehungsmoment einander überlagern lässt. Die Produktion in situ ist allerdings nicht wie bei Roche ein Nebeneffekt, sondern zentrales Element der selbst gesetzten Vorschrift, der ›contrainte‹ im oulipotischen Sinne. Für Tentative d’épuisement d’un lieu parisien besteht die ›contrainte‹ darin, von verschiedenen Standpunkten aus einen zentralen Ort in Paris, die Place SaintSulpice, schriftlich zu erfassen.117 Das Ziel dieses Vorhabens ist eine regelrechte Inventur dessen, was sich in der jeweiligen Wahrnehmungsreichweite des Autors

115 Barthes 1975: 70. Eine ganz ähnliche Art über das Schreiben zu schreiben, findet man bei Georges Perec zu Beginn seines 1974 erstmals erschienenen Buches Espèces d’espaces. Auch wenn er hier die räumliche Dimension von Schrift und Papier aufgreift, stehen die Zeilen in Verbindung zu Barthes’ »second degré du langage«: »J’écris… / J’écris: j’écris… / J’écris: ›j’écris…‹ / J’écris que j’écris … / etc. / J’écris: je trace des mots sur une page« (Perec 2000: 21). 116 Barthes 1975: 80. 117 Dass es sich dabei um einen Platz mit literarischer Vergangenheit handelt (zum Beispiel bei Raymond Queneau), wird in der nachfolgenden Analyse nicht Thema sein (vgl. hierzu Schilling 2006: 125).

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befindet. Allerdings reguliert er seine Notiznahmen, indem er sich vornimmt, gerade das aufzuzeichnen, was einem wegen seiner Banalität oder Flüchtigkeit meist entgeht. Ihn interessiert der aus einer sinngefügten Welt gefallene Rest, das, was von den Dingen und Ereignissen übrig bleibt, nachdem man Bedeutung, Kultur und Herkunft abgezogen hat. Realisiert wird das Vorhaben an den drei Tagen des 18., 19. und 20. Oktober 1975, die im Text mit römisch I, II und III durchnummeriert sind. Die unterschiedlichen Stationen werden, ungeachtet der Tageseinheiten, laufend mit lateinischen Ziffern betitelt und nehmen von vier Stationen am ersten Tag über drei Stationen am zweiten bis hin zu zwei Stationen am dritten Tag kontinuierlich ab. Die einzelnen Stationen werden jeweils mit den Angaben »La date, L’heure, Le lieu, Le temps« eingeleitet.118 Aufgrund dieser Vorgabe gehört das Unternehmen zu einer Reihe von Texten, die Perecs Interesse an einer Beschreibung des Tagtäglichen oder auch ›InfraOrdinären‹ ausdrücken. Das Kernstück dieses Interesses bildet ein Langzeitprojekt mit dem Titel Lieux, das Perec von 1969 an, über mehrere Jahre verfolgt hat. Dafür hatte er vorgesehen, in einem Zeitraum von zwölf Jahren zwölf von ihm ausgesuchte Orte in Paris (Straßen, Plätze und Kreuzungen mit einem mehr oder weniger engen biografischen Bezug)119 je 24 Mal zu beschreiben. Pro Monat wollte er einen dieser Orte jeweils an Ort und Stelle und einen anderen aus der Erinnerung beschreiben. Ein mathematisches Permutationsverfahren hätte es ihm ermöglicht, nie den gleichen Ort mit dem gleichen Monat zu kombinieren. Hätte er das Projekt nicht 1975 abgebrochen,120 wären dabei am Ende 288 in Umschlägen versiegelte 118 Zum Beispiel wie folgt: »La date: 18 octobre 1974 / L’heure: 10h30 / Le lieu: Tabac Saint-Sulpice / Le temps: Froid sec. Ciel gris. Quelques éclaircies.« (Perec 1990: 12) Chloé Conant vergleicht diese Angaben mit denen eines Tage- oder Lokbuches (vgl. Conant 2009: 132). Treffender versteht man sie als Ausdruck der »allure pseudoscientifique« (Schilling 2006: 119) des Textes. 119 Perec 2000: 108. Für eine genaue Auflistung und Aufschlüsselung der autobiografischen Bezüge Perecs zu diesen Orten siehe Montfrans 1999: 143 und Lejeune 1991: 164. 120 Aus verschiedenen Gründen war Perec immer unzufriedener mit dem Prozess, sodass er das Projekt 1975 aufgab und auf andere Medien übertrug. In seinem Film Un homme qui dort sind die 12 Orte beispielweise als Schauplätze der Handlung untergebracht. Fünf der Vor-Ort-Beschreibungen (nicht die aus der Erinnerung verfassten) veröffentlichte er zwischen 1977-1980 in Zeitschriften (vgl. Magné 1997: 58ff. und Lejeune 1991: 143) oder nutzte sie für andere Texte. Nach Abbruch des Projekts lagen 133 mit Wachs versiegelte Umschläge vor, in denen teils mit der Schreibmaschine getippte, teils von Hand geschriebene Texte und mitunter Fotos von Perec während der Entstehung des jeweiligen Textes lagen. Die erste Beschreibung datiert vom 27.1.1969 und die letzte vom 27.9.1975 (vgl. Lejeune 1991: 141). Einer der Gründe, warum er mit den Beschreibun-

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Texte herausgekommen, die er 1981, nach Ablauf der zwölf Jahre in der Erwartung hätte öffnen wollen, auf viele kleine »bombes du temps«121 zu stoßen. Er erhoffte sich dadurch, einen dreifachen Alterungsprozess vor Augen geführt zu bekommen: »celui des lieux eux-mêmes, celui de mes souvenirs, et celui de mon écriture«.122 Zeit spielt nicht nur für den Ablauf des gesamten Projektes und ihre längerfristige Einwirkung auf das Geschriebene eine entscheidende Rolle, sondern auch für die an Ort und Stelle gemachten Beschreibungen selbst. Sie bildet den beschränkenden und koordinierenden Rahmen, in dem sich die Niederschrift bewegt, sodass man mit Bernard Magné von einer »description en temps réel«123 sprechen kann, bei der die Zeit den Status einer oulipotischen ›contrainte‹ erhält.124 Insofern geben Projekte und Texte wie Lieux und Tentative d’épuisement d’un lieu parisien von Erfahrungen Auskunft, die man im doppelten Sinne des Wortes als Notiznahmen bezeichnen kann: Sie erproben einerseits, wovon man in einem bestimmten Zeitraum Notiz, im Sinne von Kenntnis, nehmen kann, und andererseits, wie erschöpfend man von dem zur Kenntnis Genommenen Notizen nehmen, im Sinne von Aufzeichnungen machen, kann. Da das Ganze darauf abzielt, Dinge und Ereignisse zu beobachten, die man gewöhnlich übersieht, kann es auch als Übung zur Überlistung der selektiven und beurteilenden Wahrnehmung verstanden werden. Perec bemühte sich um diese unvoreingenommene Wahrnehmung des Tagtäglichen auch im Rahmen eines Zeitschriftenprojekts, das mit der entsprechenden Programmatik in den Jahren 1972-74 unter dem Titel Cause Commune lief. Die gleichnamige Zeitschrift wurde von Jean Duvignaud und Paul Virilio herausgegeben, Perec war festes Redaktionsmitglied.125 Weitere Texte, in denen Perec den Unterscheid von Perzeption und Apperzeption auf die Probe stellt, sind zum Beispiel L’Infra-ordinaire,126 Espèces d’espaces127 oder die Radiosendung Tentative de description des choses vues au carrefour Mabillon le 19 mai 1978.128

gen aufhörte, war seinen Angaben nach das Gefühl, er schreibe bei den Texten aus der Erinnerung nicht das, was er vor Ort wahrgenommen habe, sondern das, was er davon aufgeschrieben habe (vgl. Magné 1997: CD 3). 121 Perec 2000: 109. 122 Ebd.: 110. 123 Magné 1997: 62. 124 Vgl. ebd.: 60. 125 Vgl. Montfrans 1999: 134ff. 126 Perec 2010. 127 Perec 2000. 128 Die Sendung wurde am 25.2.1979 zum ersten Mal auf France Culture in der Reihe Atelier de Création Radiophonique Nummer 381 ausgestrahlt. Inzwischen gibt es eine CD, auf der auch diese Sendung aufgezeichnet ist (vgl. Magné 1997: CD 3).

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Für die Analyse der Analogien von Perecs Schreibübung zum fotografischen Akt soll im Folgenden ähnlich vorgegangen werden wie bei Roche. Dementsprechend wird der intermediale Gehalt des Textes zunächst poetologisch anhand von Paratexten ausgemacht und daraufhin hinsichtlich der raumzeitlichen Situierung des Schreibenden untersucht. Allerdings findet man bei Perec weder eine solch apodiktische Gegenüberstellung des Schreibens und des Fotografierens wie bei Roche, noch dessen facettenreiche Metaphorik, um diese Gegenüberstellung zu bebildern. Vielmehr sind es eher das indirekte Interesse und sein Umgang mit Beschreibungen, die Anlehnungen an den fotografischen Akt aufweisen. Der grundlegende Hinweis darauf, dass die intermedialen Anlagen des Textes auch programmatisch sind, findet sich bei Perec in dem kurzen Vorspann von Tentative d’épuisement d’un lieu parisien. Hier kündigt er für die Beschreibung Folgendes an: Un grand nombre, sinon la plupart, de ces choses [die Gebäude u.ä. an der Place SaintSulpice] ont été décrites, inventoriées, photographiées, racontées ou recensées. Mon propos dans les pages qui suivent a plutôt été de décrire le reste: ce que l’on note généralement pas, ce qui ne se remarque pas, ce qui n’a pas d’importance: ce qui se passe quand il ne se passe rien, sinon du temps, des gens, des voitures et des nuages.129

Die Tatsache, dass Perec die Fotografie heranzieht, um sich von ihr abzugrenzen und sie in einer Reihe mit den Verben beschreiben, inventarisieren, erzählen und erfassen aufzählt, gibt Aufschluss über sein Verständnis von Fotografie. Er subsumiert sie unter Tätigkeiten, die dokumentarisch ausgerichtet sind und den Anspruch auf eine repräsentative Bestandsaufnahme haben. Sie beziehen sich auf die Dinge, hauptsächlich Häuser und Geschäfte, die man auffindet, wann immer man sich auf den Platz begibt. Solange diese Gebäude nicht abgerissen oder die Geschäfte aufgelöst werden, verändern sich allenfalls ihre Fassaden oder Schaufenster, sodass sie zumindest für einen längeren Zeitraum Garanten der Identität des Platzes sind. Will man diese Identität überliefern, so muss man beim Beschreiben oder Fotografieren den Fokus auf diese gleich bleibenden Aspekte des Platzes legen und sie möglichst wiedererkennbar darstellen. Sie haben dann den Charakter eines historischen Dokuments, da sie über den Status Quo einer bestimmten, meist außerordentlichen und gesellschaftlich relevanten Begebenheit informieren. Bezeichnenderweise fotografieren in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien auch nur die Touristen, das heißt Personen, die sich jenseits ihres Alltags befinden.130 Man kann daraus schließen, dass diese Art zu fotografieren für Perec wohl der gängige gesellschaftliche Um129 Perec 1990: 12. 130 Fotografierende Touristen werden insgesamt viermal genannt (vgl. Perec 1990: 17, 41, 44, 60).

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gang mit der Fotografie ist. Er hingegen lässt sich mehrfach beim Schreiben der Texte fotografieren, das heißt bei einer für ihn alltäglichen Verrichtung, die ausgerechnet der Erkundung des Alltags dient (siehe Abbildung 7).131 Abbildung 7: Georges Perec im Café de la Mairie (1974)132

Perec interessiert das Einmalige, nicht im Sinne von einzigartig, sondern im Sinne von nicht wiederkehrend, das Momentane, nicht Überlieferte, was sich an diesem Platz abspielt. Aus einer historisch orientierten Perspektive würde es immer eine Rolle spielen, um welchen Ort es sich handelt, wohingegen sich Perecs Vorhaben auf jedweden anderen Ort beziehen könnte. Wichtig ist nur, dass es sich um einen Durchgangsort handelt, wie zum Beispiel eine Straße oder ein Treppenhaus, und dass dieser Ort bestenfalls noch eine Art Anziehungskraft ausübt wie ein Platz, zu dem mehrere Straßen führen. Ein sehr viel aufgeladeneres Beispiel für einen solchen Ort, über den Perec an anderer Stelle etwas Ähnliches sagt wie zu Beginn von Tentative d’épuisement d’un lieu parisien über die Place Saint-Sulpice, ist Ellis Island: Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Ellis Island die Schleuse für unzählige Menschen aus aller Welt, die nach Amerika einwandern wollten, und damit ein Anzugs- und Durchgangsort schlechthin.133 In einem Text

131 Perec ließ sich bei seinen Vor-Ort-Beschreibungen öfter fotografieren (vgl. Lejeune 1991: 176ff.). 132 Abbildung in: Hartje/Neefs 1993: 134. 133 Zwischen 1892 und 1924 sind etwa sechzehn Millionen Menschen nach Ellis Island gekommen. Der größte Teil von ihnen wurde nach einigen Stunden in Amerika willkom-

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für ein Filmprojekt über Ellis Island, das Perec Ende der 1970er Jahre mit Robert Bober verfolgte, notiert er folgende Fragen: »Comment saisir ce qui n’est pas montré, ce qui n’a pas été photographié, archivé, restauré, mis en scène? / Comment retrouver ce qui était plat, banal, quotidien, ce qui était ordinaire, ce qui se passait tous les jours?«134 Auch hier setzt Perec sein Vorhaben von der Fotografie ab und bringt sie auf eine Ebene mit Tätigkeiten wie Restaurieren und Archivieren, also Tätigkeiten, die einen bestimmten Ausschnitt der Vergangenheit unter einem bestimmten Interesse für die Zukunft herrichten oder konservieren wollen. Dagegen bezieht Perec den Standpunkt der interesselosen Frontalerfassung der Gegebenheiten und kapituliert damit von Anfang an gegenüber dem Versuch, die auf Ellis Island lastende Vergangenheit darstellen zu wollen. Denn wie soll er beschreiben, was schon stattgefunden hat? Wie soll er Gewesenes darstellen, dem er nicht mehr gegenüber steht, wie Abläufe wiedergeben, die er nicht vor Augen hatte? Genau in diesem Dilemma befindet sich auch die Fotografie: Will man Vergangenes fotografisch darstellen, so kann man es allenfalls nachbilden und dann abfotografieren. Die Darstellung des Vergangenen findet dann aber größtenteils über die Konstruktion oder Installation des Motivs statt und das Foto überträgt die momentane Gestalt dieser Anordnung. Dieses Visavis überliefert das Foto wiederum zwangsläufig, ob es nun als Inszenierung erkennbar ist oder nicht. Ein Foto wird also über seinen Referenten immer die Aussage machen können, dass er im Moment der Aufnahme da war und sich der Kamera gegenüber befand, ganz gleich, ob er natürlich oder real, simuliert oder inszeniert war. Dieser Moment des direkten Gegenübers interessiert auch Perec und die Frage, wie das gegenwärtig Vorüberziehende durch das Schreiben fixiert werden kann. In seinen eigenen Worten liegt ihm daran, die Zeit einzufrieren und »figer l’histoire en quelque sorte en instantanés«.135 Während das Verb ›passer‹ in dem zweiten Zitat von Perec zu Ellis Island, in »ce qui se passait tous les jours«, die Bedeutung von ›ereignen‹ annimmt und danach fragt, was tagtäglich an diesem historisch bedeutungsvollen Ort stattgefunden hat, wird es am Ende des erstgenannten Zitats, in »ce qui se passe quand il ne se passe rien, sinon du temps, des gens, des voitures et des nuages«, auf seine kinematisch gelagerte Hauptbedeutung reduziert. Die Geschehnisse, die Perec in Tentative men geheißen; etwa drei Prozent wurde die Immigration verweigert (siehe auch Perec/ Bober 1995: 10). 134 Perec/Bobet 1995: 37. Den beiden Zitaten kann noch ein weiteres an die Seite gestellt werden, das die gleichen Fragen aufwirft: »Ce qui se passe vraiment, ce que nous vivons, le reste, tout le reste, où est-il? Ce qui se passe chaque jour et qui revient chaque jour, le banal, le quotidien, l’évident, le commun, l’ordinaire, l’infra-ordinaire, le bruit de fond, l’habituel, comment en rendre compte, comment l’interroger, comment le décrire?« (Perec 2010: 11ff.). 135 Georges Perec zitiert bei Thibaud/Tixier 1998: 53.

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d’épuisement d’un lieu parisien erfassen will, haben also kaum noch den Status von Ereignissen. Es sind allenfalls Körper in Bewegung, die gegenüber dem still sitzenden Schreiber Flüchtigkeit produzieren. Genau genommen vereint das zweite »se passe« im letzten Satz sogar beide der genannten Bedeutungen in einer zeugmaähnlichen Verwendungsweise: Wenn es hier heißt: »ce qui se passe quand il ne se passe rien, sinon du temps, des gens, des voitures et des nuages«,136 dann wird in »quand il ne se passe rien« die ereignisbezogene Bedeutung von ›passer‹ aktiviert, die in der zweiten Hälfte des Satzes in dessen kinematische Bedeutung kippt, wenngleich das Verb nicht noch einmal wiederholt wird. Im Grunde hätte das Verb für die zweite Hälfte des Satzes aber nicht reflexiv sein dürfen, denn Zeit, Menschen, Autos und Wolken finden nicht statt, sondern sie ziehen am Betrachter vorüber. Die Inkongruenz der beiden Satzhälften hat eine programmatische Tragweite und entfernt sich damit von dem komischen Effekt des klassischen Zeugmas. Denn die Abfolge der verschiedenen Bedeutungen des Verbs ›passer‹ in besagtem Satz differenziert auch Perecs Anliegen aus: Ihn interessiert die Ereignislosigkeit, das heißt Geschehnisse, die keine Bedeutung oder Besonderheit und keinen expliziten Anfang oder Ende haben und denen man sprachlich am ehesten tautologisch, über ihre doppelnde Benennung, gerecht wird. Jede ausführlichere Beschreibung würde Gefahr laufen, sie zu sehr zu erklären, zu kommentieren, zu ordnen oder sie mit Bedeutung zu versehen. Von dieser tautologischen Haltung gegenüber der Beschreibung von Geschehnissen zeugt auch eine andere Aussage Perecs, die er, fast wie eine Kapitulation, in einem Radiointerview macht: »Ce qui se passe, passe…«.137 Über das, was vorübergeht, kann man nur sagen, dass es vorübergeht – aufhalten können wird man es nicht, auch nicht, wenn man es ausspricht oder aufschreibt. Neben dem kurzen Vorspann in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien gibt es einen weiteren Text, der den programmatischen Hintergrund der Schreibübung offenlegt, und zwar das Kapitel »La rue« in Espèces d’espaces. Es beginnt mit einer Beschreibung, die sich an der materiellen Erscheinung der Straße orientiert, und kommt im dritten Abschnitt, Travaux pratiques, darauf zu sprechen, wie man dem Phänomen Straße über Schau- und Schreibübungen begegnen kann. Perec empfiehlt dem Leser das zu tun, was er in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien gemacht hat, gibt eine genauere Anleitung für diese Form der Echtzeitbeschreibung und präzisiert, worauf es ihm dabei ankommt. Im Verlauf der Beschreibung, was er mit den Übungen beabsichtigt, insistiert er: »Il ne se passe rien, en somme«.138 Die semantische Stoßrichtung des Satzes scheint zunächst eindeutig: Er steht frei auf der Seite, zwischen zwei kürzeren Absätzen, die auflisten, welche Art von Lebewesen man 136 Perec 1990: 12. 137 Magné 1997: CD 1. 138 Perec 2000: 104.

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auf der Straße zu sehen bekommt, wie sie sich fortbewegen und dass man versuchen könnte, an ihren Verhaltensweisen zu unterscheiden, ob sie aus dem Viertel stammen oder nicht. Da sich in diese Aufzählungen auch Phantasien über mögliche Ereignisse ebenso wie Klassifizierungen oder Erklärungen für das Gesehene einschleichen, wirkt der durch Absätze stark hervorgehobene Satz wie eine Disziplinierungsmaßnahme sich selbst gegenüber. Er bestärkt das Ziel, die Aufmerksamkeit auszunüchtern und der Tendenz zu entsagen, sich von auffälligen Ereignissen in den Bann ziehen zu lassen. Das verdeutlicht auch ein in Klammern gesetzter Einschub zwei Absätze weiter: »Une land-rover que l’on dirait équipée pour traverser le Sahara (malgré soi, on ne note que l’insolite, le particulier, le misérablement exceptionnel: c’est le contraire qu’il faudrait faire)«.139 Das Verb ›passer‹ aktiviert im Kontext des Satzes »Il ne se passe rien, en somme« aber auch seine kinematische Bedeutung und gibt dem Satz damit einen weiteren Sinn. Etwas holprig ließe sich diese zweite Auslegung des Satzes mit ›Es geht/zieht nichts insgesamt herüber‹ übersetzen. Bezogen auf die Ordnung von Geschehnissen, die Perec anvisiert, differenziert der Satz, was Perec wahrgenommen und wie er es notiert wissen will. Man könnte diese von Perec angestrebte Ebene als Denotat von Ereignissen bezeichnen, da sie alles, was im Begriff ist, sich abzuspielen, ungefiltert und hierarchielos zur Verfügung stellt. Und eben dieser Ebene wird man eher mit Aufzählungen als mit Zusammenfassungen gerecht, da diese sich einer Direktübertragung der jedes für sich vorübergehenden Geschehnisse annähern, wohingegen einer Zusammenfassung immer schon eine Einschränkung vorangegangen sein muss. Die der Selektion entsagende Wahrnehmung ist in diesem Sinne ein Verzicht auf Zusammenfassung und Fokus, der sich im Text durch die Benennung des Singulären widerspiegeln soll. Was nun die genaue Konstitution der erweiterten, aselektiven und in gewisser Weise ausgenüchterten Wahrnehmung anbetrifft, äußert sich Perec vor allem über die Art und Weise des Schauens, die durch Übungen wie Tentative d’épuisement d’un lieu parisien ausgebildet werden soll. Dabei ist der Gedanke zentral, dass man seine eingeschliffene, auf Reize und gezielte Interessen ausgerichtete Sehweise umerzieht zu einer Sehweise, für die nichts, was sie erfasst, hervorspringt und die alles gleichermaßen aufnimmt. Dass Perec diese Umerziehung als eine Art Disziplinierungsübung ansieht, machen Äußerungen wie »[s]’obliger à voir plus platement«140 deutlich. Sie vermittelt die Idee, dass uns von sich aus nichts ins Auge springt und wir erst durch bestimmte Prämissen dafür sorgen, dass dies geschieht. Perec folgert daraus, dass wir im Grunde nicht wirklich sehen können: »Nous ne savons pas voir«.141 Im Gegenzug wäre also die Sehweise, die er durch die Übungen einzustudie139 Ebd.: 105. 140 Ebd.: 101. 141 Ebd.: 100.

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ren versucht, eine gezielte Rückentwicklung zum unvoreingenommenen Schauen oder auch die Befreiung von einem Ballast, mit dem man sich über die Jahre das Sehen verstellt hat. Ariane Steiner nennt Perec daher einen oft verkannten »aufrührerischen Wahrnehmungsrevolutionär«.142 Der Weg, der einem zu dieser Erleichterung verhilft, ist die Benennung des Einzelnen. Zusammenfassungen, das betont Perec in folgender Passage explizit, gilt es dagegen zu vermeiden: »Ne pas dire, ne pas écrire ›etc.‹. Se forcer à épuiser le sujet, même si ça a l’air grotesque, ou futile, ou stupide. On n’a encore rien regardé, on n’a fait que repérer ce que l’on avait depuis longtemps repéré«.143 Das kontrollierte Schauen soll dem Ausübenden also dabei helfen, sein Sehvermögen wiederzuerlangen und seine Augen samt Blickfeld als eine Art Werkzeug zu begreifen. Ähnlich kleinschrittig wie die »descriptions en temps réel«144 erfolgen sollen, geht Perec in folgendem Absatz vor, um dieses Werkzeug ins Bewusstsein zu rufen: Nous nous servons de nos yeux pour voir. Notre champ visuel nous dévoile un espace limité: quelque chose de vaguement rond, qui s’arrête très vite à gauche et à droite, et qui ne descend ni ne monte bien haut. En louchant, nous arrivons à voir le bout de notre nez; en levant les yeux, nous voyons qu’il y a un haut, en baissant les yeux, nous voyons qu’il y a un bas; en tournant la tête, dans un sens, puis dans un autre, nous n’arrivons même pas à voir complètement tout ce qu’il y a autour de nous […]. Notre regard parcourt l’espace et nous donne l’illusion du relief et de la distance. […] Lorsque rien n’arrête notre regard, notre regard porte très loin. Mais s’il ne rencontre rien, il ne voit rien; il ne voit que ce qu’il rencontre: l’espace, c’est ce qui arrête le regard, ce sur quoi la vue bute: l’obstacle […]. Ça n’a rien d’ectoplasmique, l’espace; ça a des bords, ça ne part pas dans tous les sens […]. 145

Ausgehend von dieser neutralen, an den Dimensionen des Körpers ausgemessenen Beschreibung des Sichtfeldes aus Espèces d’espaces soll im Folgenden an dem Beispieltext analysiert werden, wie das ruhende Werkzeug reagiert, wenn es eingesetzt wird. Sobald das Blickfeld zum Medium wird, unterliegt es einer Relativierung, durch die sich im Laufe von Tentative d’épuisement d’un lieu parisien herausstellt, dass Perecs Vorstellung vom unvoreingenommenen Sehen ein unerreichbares Leitbild bleibt. Idealiter würde der Schreibende all das und nur das sehen, was sich in seinem Blickfeld befindet und sich in ihm abspielt, aber die Umsetzung der Übung verdeutlicht sehr schnell, dass sich das Sehen zu seinem Kontext verhält und von diesem bedingt wird. Dazu gehören in erster Linie der Schauende selbst und seine 142 Steiner 2002: 199. 143 Perec 2000: 101. 144 Magné 1997: 62. 145 Perec 2000: 159ff.

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Gewohnheiten oder Prägungen durch Erinnerungen, Gefühle, Ideologie, Wissen oder Sprache, die er bei der Annäherung an sein Umfeld automatisch aktiviert. Aber auch die sinnesphysiologische Erkenntnis, dass das vom Menschen wahrgenommene hic et nunc eine Dauer von drei Sekunden nicht überschreitet, trägt zu der Relativierung des Perec’schen Ideals bei.146 Manet van Montfrans beobachtet, dass schon frühere Texte von Perec, wie zum Beispiel Un homme qui dort, Wahrnehmungsgewohnheiten und -prämissen auszumerzen und eine unmittelbare Begegnung mit dem jeweils präsenten Umfeld zu erlangen versuchen. Der Protagonist in Un homme qui dort erreicht diesen ernüchterten Erfahrungsgrad allerdings nicht durch Neutralitätsübungen, sondern durch eine sich plötzlich einstellende Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umwelt.147 Der bis hierhin dargelegte programmatische Standpunkt Perecs wird in der Tentative d’épuisement d’un lieu parisien gewissermaßen von dem räumlichen Standpunkt abgelöst. Wie nun anhand des Textes gezeigt werden soll, wird das Ideal des »flachen Sehens« im Verlauf des Schreibens immer stärker durch die physische und psychische Haltung des Schreibenden in Frage gestellt. Man kann diese Entwicklung als vergeblichen Versuch bezeichnen, Subjektivität zu überwinden. Bei Perec mündet sie in die Einsicht, dass man trotz größter Anstrengungen nicht in der Lage ist, alles wahrzunehmen (und wiederzugeben!), was wahrnehmbar ist.148 Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der zunehmenden Verflüchtigung des Sichtfeldes im Laufe der Schreibübung nachvollziehen: Tritt es zunächst genauso auf, wie Perec es in Espèces d’espaces vorschwebt, das heißt als Organ, das alles, was in seine Reichweite gerät, systematisch abtastet, wird es mit fortschreitender Übung zunehmend instabiler. Im Text begegnet man dem Sichtfeld zunächst in zwei konkreten Nennungen: zum ersten Mal während der eingangs erstellten »[e]squisse d’un inventaire de quelques-unes des choses strictement visibles«.149 Hier werden u.a. die Wörter und Buchstaben aus dem Alphabet, die Nummern, die konventionellen Symbole, die Slogans, aber auch die Arten des Steins und die Fortbewegungsmittel aufgelistet, die sich in Perecs Sichtweite befinden. Im Unterschied zu den anderen Abschnitten ordnet der Autor das Sichtbare hier nach Form, Farbe, Materialität, Spezies usw. In dieser Inventur findet sich u.a. folgender Punkt: »Un morceau assez grand de ciel 146 Vgl. Sebeok 2000: 98. 147 Vgl. Montfrans 1999: 75. 148 Vgl. Kerbrat-Orecchioni 1980: 133. Kerbrat-Orecchioni widmet der Tentative in ihrer Untersuchung das Unterkapitel 2.3.2 »Un texte de G. Perec«. Sie zeigt textnah auf, dass sich, trotz Perecs Bemühung um eine sachliche Wiedergabe, in kleinsten Spracheinheiten affektive, interpretative, stilistische und ähnliche Züge von Subjektivität wiederfinden lassen. 149 Perec 1990: 13.

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(peut-être 1/6e de mon champ visuel)«.150 Das Sichtfeld scheint hier noch so exakt vermessen zu sein, wie es seine Beschreibung in Espèces d’espaces nahegelegt hat, sodass Perec sogar Bruchteile von ihm genau zuweisen kann. Die zweite Nennung des Sichtfeldes erfolgt am Ende des zweiten Abschnitts, 13 Seiten und ca. dreieinhalb Stunden später. Hier heißt es: »J’ai l’impression que la place est presque vide (mais il y a au moins vingt être humains dans mon champ visuel)«.151 Zwar wird das »champ visuel« hier dem persönlichen Eindruck des Schreibenden gegenübergestellt und fungiert damit als Garant des noch auszumachenden flachen und interesselosen Sehens. Allerdings birgt allein die Gegenüberstellung schon den Zweifel an dem Ideal, das noch einmal als Metakommentar in Klammern aufgerufen wird. Unterdessen scheint bereits ein anderes Element das Ideal des neutralen und fest gerahmten Sichtfeldes abgelöst zu haben, und zwar die Fensterscheibe des Cafés, in dem Perec sitzt. Zwischen den beiden Metakommentaren zum Sichtfeld wurde sie drei Mal genannt: Zunächst auf Seite 21 – »[j]uste en bordure du café, au pied de la vitrine et en trois emplacement différents, un homme, plutôt jeune, dessine à la craie sur le trottoir une sorte de ›V‹«152 – dann auf Seite 24 – »je l’ [Geneviève Serreau] appelle en frappant à la vitre et elle vient me dire bonjour«153 – und zuletzt auf Seite 25 – »[u]n enfant fait glisser un modèle réduit de voiture sur la vitre du café (petit bruit)«.154 Der Verweis auf die Fensterscheibe des Cafés und die Betonung ihrer materiellen Präsenz durch Klopfen und Auf-ihr-Entlangfahren, wirkt wie der Versuch, sich an den unumstößlichen Faktoren eines »champ visuel« festzuhalten, das sehr viel weniger der physischen Verfassung des Schreibenden ausgesetzt ist als das sensomotorische Sichtfeld. Die Scheibe aus Glas stellt immer einen ganz bestimmten Ausschnitt der Umgebung zur Disposition. Unabhängig davon, wer sich ihr annähert, grenzt immer die gleiche Kante am oberen und unteren sowie rechten und linken Rand die Aussicht ein. Nur das, was dieser Ausschnitt einfasst, ändert sich stetig. Daraus, dass die drei Erwähnungen der Fensterscheibe zwischen den beiden konträren Hinweisen auf das »champ visuel« erfolgen und die Fensterscheibe daraufhin nur noch einmal in einer ganz anderen Funktion (als spiegelnde Oberfläche) Erwähnung findet, lässt sich schlussfolgern, dass das Zusammenspiel von Sichtfeld und Fensterscheibe einen pervertierten Desillusionierungsprozess nachzeichnet. Versucht der Schreibende zunächst illusionslos auf die Geschehnisse zu blicken, muss er sich bald eingestehen, dass dieses Vorhaben immer stärker von Illusionen 150 Ebd.: 14. 151 Ebd.: 27. 152 Ebd.: 21. 153 Ebd.: 24. 154 Ebd.: 25.

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durchkreuzt wird. Im Verlauf dieser Erkenntnis fungiert die Fensterscheibe als Ausweichmanöver, das die Zuverlässigkeit des Sichtfeldes für eine Weile auf das architektonische Sichtfeld auslagert, bis auch dieses nicht mehr die Sicht auf die Geschehnisse abzuflachen vermag. Am Ende des ersten Tages und nach der Feststellung, dass der subjektive Eindruck des Schreibenden letztlich schwerer wiegt als das neutral ausgerichtete Sichtfeld, wird die Fensterscheibe zum letzten Mal in folgendem Einschub erwähnt: »C’est à peine si je peux voir l’église, par contre, je vois presque tout le café (et moi-même écrivant) en reflet dans ses propres vitres«.155 Auch der Versuch, auf ein baulich gefasstes Sichtfeld auszuweichen, um sich bei der vollständigen Erfassung einer unübersichtlichen Realität zu behelfen, kehrt sich schließlich gegen die Versuchsperson: Wie man auch schaut, welche Hilfsmittel und Praktiken man bei der Betrachtung seiner Umwelt auch anwendet, wird sie stets nur auf das reagieren, was man ihr entgegenbringt. Demnach fungiert die Spiegelung des Schreibenden in der Fensterscheibe als ein Resümee zum Verhältnis von Perecs idealer Auffassung des Schauens und dessen Relativierung im Verlauf der Schreibübung. Weder die konzentrierte Reduktion auf das tatsächliche Sichtfeld noch der Behelf eines äußeren Sichtfeldes kann die Auswirkung der physischen und psychischen Konstitution des Schauenden eindämmen. Die Spiegelung in der Fensterscheibe versinnbildlicht das Scheitern einer interesselosen Notiznahme und verdeutlicht, dass Perecs Sicht auf die Geschehnisse selbst einem Interesse unterliegt, und zwar Interesse, sie möglichst unmittelbar niederzuschreiben. Konsequenterweise und wie eine Art Vorbereitung auf das Resümee der Spiegelung beginnt bereits der dritte Absatz, eine Seite nach dem zweiten, anzweifelnden Metakommentar zum »champ visuel«, mit einer beschreibenden Auflistung dessen, was Perec während des Standortwechsels getan hat. Die gesamte Auflistung geht nun von einem »je« aus und hat den noch für den Einstieg des Textes an den Tag gelegten Charakter einer Bestandsaufnahme weitgehend verloren. Alles, was nun erfasst und vollzogen wird, lässt sich in Aussagen wie »J’ai revu des autobus, des taxis, des voitures […]«156 deutlich einem wahrnehmenden Subjekt zuordnen. Am Ende der Aufzählung wird auch die genaue Position des schreibenden Ich, inklusive seiner Körperausrichtung, angegeben: »Je suis maintenant à la Fontaine St-Sulpice, assis de telle façon que je tourne le dos à la place: les voitures et les gens que mon regard découvre viennent de la place ou s’apprètent à la traverser […]«.157 Während der erste Abschnitt noch apodiktisch mit einer Auflistung der »choses strictement visibles« beginnt, gesteht sich der Schreibende hier schon ein, dass die Sichtbarkeit der Dinge auch davon abhängt, was er durch seine Körperaus155 Ebd.: 38. 156 Ebd.: 29. 157 Ebd.

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richtung in sein Blickfeld geraten lässt. Abgesehen davon stellt sich im Laufe des Textes auch heraus, dass Faktoren wie Erinnerung oder das Schreiben selbst im Blick am Werk sind.158 Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen Schauen und Schreiben, dieser besteht aber nicht in einer naht- und spurenlosen Aufnahme und Entleerung von Geschehnissen auf das Papier. Auch wenn die Augen der schreibenden Hand vorgeschaltet sind, lassen sie sich nicht wie Schleusen einsetzen und nur bedingt willentlich konditionieren. Einschübe wie »Il est quatre heures cinq. Lassitude des yeux. Lassitude des mots«159 verdeutlichen das Abhängigkeitsverhältnis von Schauen und Schreiben und bezeugen gleichzeitig die Anfälligkeit der Augen in ihrer Rolle als Mediatoren des Schreibens. Das Blickfeld ist also kein Schreibwerkzeug, das einem bedingungslos zur Verfügung steht. Zwar kann man es durch Positionierung einstellen und im Hinblick auf ein bestimmtes Interesse einrasten lassen, dennoch werden es Ermüdung und Vorstellung nach einer gewissen Zeit überwältigen.160 Dass Perec sich trotz seines impliziten Scheiterns dem Versuch einer Simultanbeschreibung stellt, bedeutet, sich dem Antrieb seines Tuns zu übereignen. Momentaneität wird dabei zu einem zentralen Parameter, da der Moment des Schreibens und der der Aufnahme von Geschehnissen Teil des Beschriebenen sind. Der Text wird einerseits an einen spezifischen Produktionsort und -moment und andererseits an den Akt der Beschreibung selbst angeschlossen. Die Beschreibung in actu161 ist bei Perec auf Gleichzeitigkeit ausgerichtet und strukturell indexikalisch organisiert: 158 Vgl. Thibaud/Tixier 1998: 57. 159 Perec 1990: 30. 160 Im Ermüdungszustand werden die Ereignisse nicht mehr einzeln aufgenommen und entsprechend summarisch notiert (vgl. ebd.: 45). Darüber hinaus ist das erschöpfte Schauen immer wieder Ausgangspunkt für phantastische Abschweifungen. So etwa in folgendem lakonischen Einschub, der erfolgt, nachdem bereits vier Mal apfelgrüne Enten aufgezählt wurden (vgl. ebd.: 22, 24, 30): »Lassitude de la vision: hantise des deux-chevaux vert pomme.« (ebd.: 45). Wenn die phantastischen Abschweifungen auch zunächst Indizien des Scheiterns zu sein scheinen, muss berücksichtigt werden, dass Perec dieses Scheitern voraussieht. In dem programmatischen Kaptel »La rue« aus Espèces d’espaces nennt er das Aufkommen von Phantasien als eine Konsequenz des erschöpfenden Schauens (vgl. Perec 2000: 105). Dieser Aspekt des selbst bedingten und vorweggenommenen Scheiterns gilt in der Perecforschung als ein zentraler Punkt in seiner Poetik (vgl. etwa Steiner 2002: 199). Jürgen Ritte nennt Perecs Roman La Vie mode d’emploi zum Beispiel »eine Universalgeschichte des Scheiterns« (Ritte 1992: 131). 161 Vgl. hierzu auch Schilling 2006: 119 und Thibaud/Tixier 1998: 54. In den Texten aus Lieux wird diese Art der Aktionsbeschreibung noch stärker forciert. Den Großteil des Textes schreibt Perec, während er die Straße entlanggeht oder sich zumindest auf der Straße befindet (vgl. Perec 1979: 28, 33).

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Es geht darum, aufzuzeigen, was da ist, indem man es möglichst zeitgleich benennt.162 So wie man Roches Produktionsweise eine »littérature en actes«163 nennen kann, wird das Verfassen eines Textes auch bei Perecs Tentative zu einer Handlung in Echtzeit und -raum, die sich auch im Resultat noch als solche wiederfindet. Wenn Roche und Perec in ihren expliziten Verweisen auf den Moment des Schreibens auch zwei verschiedene Schreibwerkzeuge in den Vordergrund stellen, einmal die Schreibapparate und einmal das Blickfeld, zielen sie doch auf etwas ab, das man Konfrontationsrealismus oder »réalisme du face à face« nennen könnte. Allerdings müsste man dem Wort Realismus seine literaturhistorischen und moralischen Implikationen entziehen oder einfach von Präsenz(ismus) sprechen. Für den Anspruch an ihre Schreibweise referieren beide Autoren mehr oder weniger direkt auf den fotografischen Akt: Roche, indem er seine Arbeit an der Schreibmaschine zu einem ähnlichen Einbruch der Zeit metaphorisiert wie den Druck auf den Auslöser, und Perec, indem er einen Umgang mit seinem natürlichen Blickfeld sucht, das dem eines fotografischen Suchers ähnelt. Zudem schöpfen beide ihre Texte aus Gegebenheiten, denen sie im Moment der Niederschrift gegenüberstehen oder auf die sie gestoßen sein müssen, wie es im Momente der Aufnahme mit der Kamera geschehen sein muss. Abgesehen von diesen poetologischen Komponenten entstehen aber (auch) auf der Ebene des sprachlichen Materials Präsenzeffekte, die im Folgenden noch genauer aufgezeigt werden sollen. Die Eigenschaft des Films, Anwesendes abzulichten und damit die Darstellung in einem bestimmten Hier und Jetzt zu verankern, wird zwar nicht chemisch auf die Primärmaterialien von Schrift, auf Papier und Tinte, übertragen, sodass »l’encre« hier nur bedingt zum »ancre« wird,164 auch wenn Homonomie und Metapher das suggerieren. Dennoch wird die Materialität der Texte gerade auf der Ebene der Typographie, der Interpunktion und der Kombinatorik abgeändert, um ähnliche Effekte von Präsenz zu erreichen, wie sie Material und Technik der Fotografie ermöglichen. Präsenzeffekte durch sprachliche Materialität In den bisher erfolgten Textanalysen wurde wiederholt das Interesse an Gegenwärtigkeit geltend gemacht, das poetologisch und anhand von Verfahrensanalogien zwischen den Texten und dem fotografischen Akt vorgeführt wurde. Perecs und

162 Claude Burgelin bezeichnet Perecs Art zu benennen als tautologisch: »Du monde alors, il n’y a plus rien à dire. On ne peut en rester qu’à une dénomination tautologique« (Burgelin 1988: 65). 163 Gleize 2007a: 17. 164 Vgl. Le Tellier 2006: 280.

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Roches Anliegen einer literarischen Verarbeitung von Gegenwart lässt sich schwer unter dem Begriff ›Realismus‹ fassen, da sie nicht den Gegenstand ihrer Texte in den Vordergrund stellen, sondern das Verfahren, mit dem sie ihn erfassen. Die Verfahren unterstreichen jeweils, dass der Gegenstand nicht phantastisch oder fiktiv generiert ist, sondern aus konkreten Begebenheiten resultiert. Diese Begebenheiten sind jedoch nur bedingt faktisch referentialisierbar und erheben keinerlei Anspruch auf eine historische oder auch Bericht erstattende Dimension. Sie beharren vielmehr auf Unmittelbarkeit. Insofern spielt Realität bei Perec und Roche für die Frage, wie man ihr (im Schreiben) begegnet, eine Rolle und nicht, wie man (durch das Schreiben) allgemeingültig Zeugnis von ihr ablegen kann. Dieser Fokus wiederum verrät die Skepsis der beiden Autoren gegenüber Sprache als einem der Welt vorgelagerten System, mit dessen Hilfe man diese problemlos ordnen und erfassen kann. Die sprachlichen Verfahren in den untersuchten Texten vermitteln im Gegenteil den Eindruck des »chaos d’un réel qui refuse obstinément de se laisser penser et classer«.165 Sie haben sich davon losgesagt, mit Sprache die Welt im Griff haben zu wollen, obwohl Perec durchaus noch für diesen Gedanken empfänglich ist: »Tellement tentant de vouloir distribuer le monde entier selon un code unique. […] Maheureusement ça ne marche pas, ça n’a même jamais commencé à marcher, ça ne marchera jamais«.166 Diese Skepsis erklärt wiederum, warum die beiden Autoren für ihre Begegnung mit realen Begebenheiten bei den sprachlichen Verfahren ansetzen und die Art und Weise, in der Sprache und Realität aufeinander Bezug nehmen, nicht als selbstverständlich voraussetzen. Darüber hinaus impliziert der Ausgangsgedanke aber auch die Konsequenz, dass von der Realität zu schreiben auch immer heißt, von der Sprache zu schreiben oder sich zumindest ihres Anteils an der Realität bewusst zu sein. Insofern scheint es zu stark vereinfacht, formalistische und realistische Schreibweise miteinander zu kontrastieren, wie es etwa Montfrans in folgender Beobachtung zu Perec tut: D’un côté, les années 1967-1975 sont donc marquées par une écriture extrêmement formaliste, par le travail sur la matérialité du langage, par la gamme des exercices oulipiens, productrice de fictions. De l’autre, il y a une écriture qui se veut absolument transparente par rapport au réél contemporain, et qui se limite à l’enregistrement énumératif de micro-événements et à la description neutre de lieux parisiens.167

Die nun folgenden abschließenden Beobachtungen zur Tentative gehen im Gegensatz zu Montfrans davon aus, dass die sprachliche Wiedergabe der Realität bei Pe165 Prigent 1991: 149. 166 Perec 2003: 153. 167 Montfrans 1999: 137.

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rec die Arbeit am Material Sprache jeweils voraussetzt und erst über sie erreicht wird.168 Inwiefern sprachliche Materialität dadurch im Ergebnis hervortritt und den Wiedergabemodus des Beschriebenen ausdifferenziert, soll nun noch abschließend an Perecs Text analysiert werden. Die gesamte Tentative d’épuisement d’un lieu parisien ist von einer Listenstruktur geprägt. Das äußert sich in der Form des Schriftbilds und wirkt sich auf den Erzählverlauf aus. Um auf die Liste gesetzt zu werden, müssen Geschehnisse sich in unmittelbarer Umgebung des Autors abspielen. Das Selektionskriterium der Liste ist folglich die Wahrnehmungsreichweite des Autors, sodass alles, was ihm unter die Augen kommt, in derselben Reihenfolge, in der es ihm unter die Augen kommt, untereinander aufgelistet wird. Dadurch spiegelt die Liste eine Zeitlichkeit wider, die an die Perspektive eines schauenden Subjekts gebunden ist169 und im Ganzen einen Verlauf nachbildet: Das, was zuerst aufgelistet wird, hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem früheren Zeitpunkt ereignet, als das, was zuletzt aufgelistet wird. So lassen sich anhand der Aufzählung etwa Tagesabläufe wiedererkennen, die durch Stoßzeiten170 oder Lichtverhältnisse gekennzeichnet sind.171 Die Listenstruktur vermittelt aber nicht nur das Hintereinander der Ereignisse, sondern auch ihr Nebeneinander. Immer wieder wird die Auflistung typographisch durch Einschübe von kompakten Textblöcken, vergrößerten Abstand zum linken Seitenrand oder durch Spiegelstriche unterbrochen und verdeutlicht damit, dass sich etwas simultan oder zumindest zeitlich verdichtet abspielt. Das augenscheinlichste Beispiel findet sich gleich zu Beginn des Textes in den Einstiegsinventuren des Autors: Mit Spiegelstrichen und kurz genannten Unterkategorien oder Einrückungen werden hier Gleichzeitigkeiten sondiert. Dazu gehören u.a. Modi der Fortbewegung, des Tragens oder des Ziehens, aber auch: »degrés de détermination ou de motivation: attendre, flâner, traîner, errer, aller, courir vers, se précipiter (vers un taxi libre, par exemple), chercher, musarder, hésiter, marcher d’un pas décidé«,172 die als Blocksatz und durch vergrößerten Abstand sowie durch leichtes Einrücken der ersten Zeilen vom vorherigen und dem nachfolgenden Aufzählungselement typographisch abgesetzt sind. Die genannte Raffung der Simultanbewegungen in Textblöcken erfolgt zu Beginn der zweiten Station am ersten Tag und wird auch explizit von einer Art Überschrift eingeführt: »plusieurs dizaines, plusieurs centaines d’actions simultanées, de micro-événements dont chacun implique des postures, des 168 Auf dieses Zusammenspiel verweist auch Magné 1997: 66. 169 Kerbrat-Orecchioni macht den Einbruch von Subjektivität in Perecs Objektivitätsanspruch im Wesentlichen am Blick und an der Sprache fest (vgl. Kerbrat-Orecchioni 1980: 145). 170 Vgl. zum Beispiel Perec 1990: 22, 38. 171 Vgl. zum Beispiel ebd.: 36ff., 51ff. 172 Ebd.: 19.

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actes moteurs, des dépenses d’énergie spécifiques«.173 Nach den darauf folgenden sechs Untergruppierungen geht der Text ohne Markierung wieder nahtlos in die Auflistung von singulären Ereignissen über: »Trois personnes attendent près de l’arrêt des taxis«.174 Trotz der auf zeitliche Abläufe angeglichenen ›contrainte‹ des Schreibvorgangs schleicht sich die nach Kategorien organisierte Wahrnehmung mitunter auch in die Aneinanderreihung der wahrnehmbaren Geschehnisse ein. Das ist zum Beispiel gegen Ende des Textes unter Abschnitt III 8 der Fall, wenn kurz hintereinander zweimal Blumensträuße mit nach oben zeigenden Stielen und ein Hund mit aufgerichtetem Schwanz aufgelistet werden: »Passe une femme élégante tenant, tiges en haut, un grand bouquet de fleurs. […] Passe un chien qui court, queue en l’air, en reniflant le sol. […] Des bouquets de fleurs tenues tiges en l’air.«175 Nicht nur die analoge Ausrichtung der Blumen und des Hundeschwanzes setzt die drei Einschübe gegen die lineare Grundordnung der Liste in ein paradigmatisches Verhältnis, auch wird über die Formulierung ein Wechselspiel zwischen ihnen suggeriert, das nicht auf der bloßen Abfolge ihres Eintreffens basiert. Der letzte Einschub, die Blumen mit den »tiges en l’air«, ist lexikalisch gesehen ein Verschnitt der beiden vorherigen Einschübe, da die Blumenstängel nicht mehr, wie beim ersten Mal nur nach oben zeigen, sondern wie der Hundeschwanz in die Luft. Ein ähnliches Beispiel findet man am Ende der siebten Station: »Passe un homme qui marche le nez en l’air, / suivi d’un autre homme qui regarde par terre«.176 Die beiden Einschübe bilden inhaltlich ein Oppositionspaar mit anteilsmäßigen Überschneidungen. Zwei Männer gehen hintereinander am Autor vorbei, einer schaut in die Luft, der andere zu Boden. Auch hier werden die beiden Männer auf der Ebene des Textes sprachlich zu einer Einheit stilisiert, die davon zeugt, dass der Autor in der Wahrnehmung seiner Umwelt auch dazu neigt, Paare oder Ketten zu erstellen, die sich an Analogien oder Oppositionen orientieren. Nicht nur, dass die beiden Zeilen eine schwache Reimfülle aufweisen, sie sind auch metrisch jeweils auf elf Silben getaktet. Es ist zwar möglich, dass sich auch im Hintereinander der eintretenden Geschehnisse zufallsbedingt Überschneidungen einstellen, ihre sprachliche Markierung hebt sie aber von dem Selektionskriterium der Registrierung wahrgenommener Begebenheiten ab. Abgesehen von Ausnahmen dieser Art, bleibt die Abfolge der aufgelisteten Elemente durchgehend und ausschließlich von der 173 Ebd.: 18. 174 Ebd.: 19. Im Verlauf des Textes schalten sich dieserart klassifizierende Aufzählungen und auch Überlegungen zu Klassifizierungsprojekten immer wieder zwischen Beobachtung und Notiznahme (vgl. etwa ebd.: 54). 175 Ebd.: 53, 55, 56. Dass die Abweichung von der unmittelbaren Wahrnehmung auch vom Vorwissen des Autors abhängt, zeigt Kerbrat-Orecchioni 1980: 142. 176 Perec 1990: 52.

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Reihenfolge des wahrgenommenen Referenten motiviert. Die einzelnen Elemente der Liste stehen also nur in einem Abfolgezusammenhang, es sei denn ihr paradigmatischer Zusammenhalt ist wie in den anfangs erwähnten Inventuren durch Simultangeschehen nach explizit genannten Kriterien gekennzeichnet. Im Rahmen dieser durch Aufzählung hervorgerufenen Linearität gibt es allerdings auch Kombinations- und Variationsmodi der Listenstruktur, die zeitliche oder räumliche Abstufungen evozieren. Hierfür rückt die ›sekundäre Materialiät‹ von Sprache stärker in den Vordergrund und ergänzt die ›primäre Materialität‹, genauer gesagt die typographischen Eigenschaften der Liste. Man könnte dabei von einer Listensyntax sprechen, da es um die Stellung der Listenelemente zueinander geht. Je nachdem, wie die Elemente zueinander positioniert sind, wirken sie sich semantisch auf die Zeit- und Räumlichkeit dessen aus, was sie wiedergeben. Zur Verdeutlichung der Listensyntax sollen anschließend zwei unterschiedliche Beispiele miteinander verglichen werden. Es handelt sich um ein treppenstufenartig angeordnetes Segment, dem unmittelbar ein im Block gesetztes Segment folgt. Beide Passagen werden maßgeblich von aufgezählten Busnummern geprägt, die Art der typographischen Setzung und Kombination mit anderen Elementen vermittelt aber einen stark voneinander abweichenden Bezug zu Raum und Zeit. Im ersten Segment sind die aufgelisteten Elemente wie folgt auf der Seite gesetzt: [1] Un 86 passe [2]

Deux hommes à pipes et sacoches noires

[3]

Un homme à sacoche noire sans pipe

[4]

Une femme en veste de laine, hilare

[5] [6] [7]

Un 96 Un autre 96 (talons hauts: chevilles tordues)

[8]

Une deux-chevaux vertpomme

[9]

Un 63

[10]

Un 70177

Allein die Anordnung der Zeilen legt nahe, dass sich Zeile zwei bis vier auf Zeile eins beziehen, dass sich Zeile fünf und sechs sowie acht bis zehn im Hintergrund abspielen und dass Zeile sieben auf der gleichen Ebene vonstatten geht wie Zeile eins. Auf den wahrgenommen Referenten bezogen würde das heißen, die drei Männer und die Frau befinden sich im nah am Autor vorbeifahrenden Bus Nummer 86, die beiden 96er Busse, die apfelgrüne Ente, der 63er und der 70er Bus bewegen sich im Hintergrund und die hohen Absätze, in denen krumme Knöchel stecken, laufen

177 Perec 1990: 22.

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in unmittelbarer Nähe des Autors vorbei, höchstwahrscheinlich auf dem Gehweg vor der Fensterscheibe des Cafés. Diese Zuordnung vermittelt nicht nur die stufenartige Einrückung der Zeilen, sondern auch die Art der Anschnitte der wiedergegebenen Elemente: Von Menschen, die im Bus sitzen, sieht man von außen nur die Gesichter und Oberkörper, wie es bei den drei genannten Männern und der Frau der Fall ist. Man erfährt, dass sie schwarze Umhängetaschen und eine Leinenweste tragen, Pfeife rauchen und fröhlich ausschauen, von ihren Schuhen, Hosen oder Beinhaltungen erfährt man dagegen nichts. Genauso suggeriert auch die Synekdoche in Zeile sieben, dass vermutlich eine Frau nah am Autor vorbeigelaufen ist, weil er ein Detail von ihr fokussieren konnte, das zudem noch ein im Stadtbetrieb häufig durch Passanten, Autos o.ä. verstelltes Körperteil ist. Bedenkt man außerdem, dass Pariser Cafés häufig direkt an den Gehweg anschließen,178 so ist zu vermuten, dass den Schreibenden nur die Fensterscheibe von der vorbeilaufenden Dame mit den hohen Absätzen im Moment der Niederschrift trennte und die Zeile sieben somit ein Geschehen im unmittelbaren Vordergrund wiedergibt. Für die Zuordnung der Zeilen zwei bis vier spricht nicht zuletzt auch ihre rhetorische Aufbereitung. Die drei Zeilen sind in zweifacher Hinsicht sprachlich miteinander verwoben, sodass anzunehmen ist, der Autor habe sie auch außertextuell als Einheit wahrgenommen. Eine Einheit wiederum können die drei Personen (in einem Bus) stehend oder sitzend besser darstellen, als wenn sie an Perecs Aussichtsfenster vorbei gelaufen wären. Die Zeilen zwei und drei sind durch einen Chiasmus miteinander verbunden, da die »sacoche noire« und die »pipe« über Kreuz angeordnet sind, und Zeile vier fügt sich an die Zeilen zwei und drei mit einem umarmenden Reim, da »noire« am Ende der ersten Zeile und »hilare« am Ende der dritten Zeile einen Gleichklang im Tonvokal aufweisen. Das zweite Segment, das direkt an die oben zitierte Passage anschließt, differenziert durch Setzung und Kombination der Elemente die zeitliche Ebene der beschriebenen Geschehnisse aus. Die ansonsten untereinander aufgelisteten Ge- und Begebenheiten werden hier dicht hintereinander in einem kompakten Textblock wiedergegeben: Il est 13 h 35. Des groupes, par bouffées. Un / 63. La deux-chevaux vertpomme est main- / tenant garée presque au coin de la rue Férou, / de l’autre côté du parvis. Un 70. Un 87. Un 86. / Trois taxis à l’arrêt des taxis. Un 96. Un 63. / Un cycliste télégraphiste. Des livreurs de / boissons. Un 86. Une petite fille avec un / cartable sur les épaules.179

178 Auch der Text gibt eine Seite vorher die Information, dass die Fensterscheibe des Cafés direkt an den Gehsteig angrenzt (vgl. Perec 1990: 21). 179 Ebd.: 22 f.

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Hinsichtlich der Anordnung und ihrer Funktion kann man zunächst beobachten, dass die paradigmatische Selektionsstruktur der Liste hier kurzzeitig auf die syntagmatische Achse der Kombination projiziert wird, um eine Verdichtung der Ereignisse zu vermitteln. Inhaltlich wird das Verfahren durch die Zeitangabe zu Beginn des Blocks gestützt und von den schubartig vorbeiziehenden Gruppen gespiegelt. Wie die Gruppen dem Autor entgegentreten, wird auch dem Leser eine Ereignisfolge in einem Schub entgegengebracht, sodass die darin aneinander gereihten Geschehnisse den Anschein erwecken, sich nahezu gleichzeitig, zumindest aber unmittelbar hintereinander zu ereignen.180 Die Gegenüberstellung der beiden Sequenzen hat gezeigt, wie unterschiedlich sich der Umgang mit der sprachlichen Materialität auf die Bedeutung auswirkt: Während sich im ersten Beispiel eine mit Vorder- und Hintergrund koordinierte Blickführung durch die Typographie und die Kombinationsweise der aufgelisteten Elemente ergibt, vermittelt sie im zweiten Beispiel ein Schauen per Augenaufschlag, das heißt das Erfassen mit einem Blick. Insofern wird die erste Wiedergabe von einem beweglichen Blick gesteuert, die zweite dagegen von einer alles registrierenden, fixierten Totale. Gerade im zweiten Fall könnte man zusätzlich von einer Interferenz sprachlicher und fotografischer Materialität sprechen, da die sprachliche Materialität, das heißt die kompakte Setzung und die kurzzeitige Verschiebung des Paradigmas zu einem Syntagma, von der fotografischen Materialität, das heißt der momentanen Fixierung eines begrenzten Ausschnittes des visuellen Wahrnehmungsfeldes, durchdrungen ist. Der Abschnitt erweckt den Eindruck, dass, wie beim Foto, alles auf einmal aufgenommen wurde.181 Entsprechend dem im vorherigen Kapitel herausgearbeiteten kameraähnlichen Umgang des Autors mit seinem Blickfeld kommt der Einschub einer Momentaufnahme gleich, die zwar nicht in Bruchteilen von Sekunden erfolgt, aber doch minutengenau, nämlich am 18. Oktober 1974 um 13 Uhr 35. Zusätzlich wird das Hier und Jetzt des Aufnahmemoments durch Deiktika und genaue Ortsbestimmung hervorgehoben, wenn es über die apfelgrüne Ente heißt, sie sei »jetzt« fast an der Ecke der Rue Férou, auf der anderen Seite des Bürgersteiges, geparkt. Das »maintenant« bezieht sich auf den Zeitpunkt der Notiznahme zu der genannten Uhrzeit und grenzt sich von der einfachen Nennung der Ente vier Zeilen zuvor ab. Dass es sich um die gleiche Ente handelt, verdeutlicht wiederum der Artikel, der von unbestimmt zu bestimmt gewechselt hat. 180 Weitere Beispiele dieser Art wären folgende: »Beaucoup de monde, beaucoup d’ombres, un 63 vide; le sol est luisant, un 70 plein, la pluie semble plus forte. Il est six heures dix. Coups de klaxons; début d’embouteillage« (Perec 1990: 38) und »Quatre enfants. Un chien. Un petit rayon de soleil. Le 96. Il est deux heures« (Perec 1990: 60). 181 Dubois schreibt über den fotografischen Akt, dass er alle Halogenidkristalle gleichzeitig von ihrer Lichtquelle abschneide und beim Fotografieren somit alles auf einen Schlag – »tout, d’un seul coup« – entstehe (vgl. Dubois 1990: 158f.).

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Die Folge dieser Überlagerung ist eine Art Präsenzeffekt, ein durch das Herauskehren der Materialität verstärkter Verweis auf das Hier und Jetzt der Niederschrift, der sich auch durch andere Beschreibungsverfahren einstellt. Ein weiteres Beispiel wären die Werbeslogans, Beschriftungen und Eigennamen die – so wie Perec sie in seinen Text überträgt – metonymischen Charakter haben. Genanntes und Gemeintes weisen einen Realzusammenhang auf, der durch fehlende Markierungen im Text lakonisch vorgeführt wird. Weil die in die Aufzählung eingefügten Slogans und Aufschriften weder durch Anführungszeichen als Zitate noch durch eine spezifische Typographie als Sprachrealien markiert sind, weisen sie den gleichen Wirklichkeitsstatus auf wie die aufgelisteten Menschen, Bewegungen, Ereignisse und Objekte. Gerade zu Beginn des Textes häufen sich Einschübe wie »Exigez le Roquefort Société le vrai dans son ovale vert«,182 »Danone: Yoghourts et desserts«,183 »Un camion livre de la bière en tonneaux de métal (Kanterbräu, la bière de Maître Kanter)«,184 »Darty Réal«,185 »Casimir maître traiteur. Transports Charpentier«,186 »Berth France S.A.R.L.«,187 »Le Goff tirage à bière«,188 »Walon déménagements«,189 »Fernand Carrascossa déménagements«,190 »Braun reproductions d’art«191 oder »Malissard Dubernay transports rapides passe«.192 Bis auf das an dritter Stelle genannte Beispiel, bei dem die Klammer darauf verweist, dass der Slogan auf den Metallfässern geschrieben steht, lassen sich die Beschriftungen allenfalls durch Zusatzwissen oder Vermutungen verorten: Die Namen der Umzugsunternehmen sind höchstwahrscheinlich auf den Transportfahrzeugen angebracht, diejenigen von Läden und Unternehmen wie Darty, Berth oder Casimir dagegen eher auf Schildern an Häuserfassaden oder auf Schaufenstern. Die Eigennamen werden anstelle der Dinge oder Firmen genannt, für die sie stehen, und durch die Art, wie sie in die Liste gefügt sind, bekommen sie den gleichen Status wie die vorbeiziehenden Busse oder Menschen. Diese Gleichstellung von Sprache und Objekten in einer sich unmittelbar zeigenden Wirklichkeit wird besonders in dem letztgenannten Beispiel deutlich. Die Namensvertauschung tritt hier verstärkt hervor, da sie nicht nur auf der Ebene der 182 Perec 1990: 15, 16. 183 Ebd. 16. 184 Ebd. 185 Ebd.: 17. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd.: 18. 192 Ebd.: 26.

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Listensyntax, sondern auch auf der des Satzes greift: Natürlich fährt nicht das Unternehmen »Malissard Dubernay transports rapides«193 vorbei, sondern ein Fahrzeug, auf dem der Schriftzug angebracht ist. Das gleiche trifft für folgenden Einschub zu, der darüber hinaus eine komische Dimension hat: »Passent les œufs extra frais NB«.194 Der Effekt von Präsenz, den diese Einschübe erzeugen, basiert demnach auf der Tatsache, dass sie ohne den Kontext, dem sie angehören, nicht oder kaum zuzuordnen sind und diesen in gewisser Weise mit sich führen oder nach sich ziehen. Außerdem sind die Eigennamen Bezeichnungen, die auf ganz spezifische Dinge und Geschäfte hinweisen und sich nur über das reale Umfeld, in das sie gefügt sind, referentialisieren oder aber durch ihre Kenntnis identifizieren lassen.195 Für den hier verfolgten Zusammenhang ist aber vorwiegend ihre Referentialisierung entscheidend, da sie latent einen Verweistypus stabilisieren, der zwar für alle Einschübe vorgegeben wird, im Grunde aber nicht für die Verankerung des gesamten Textes tragbar ist: Während die Notiznahme der Geschehnisse und Objekte letztlich immer zu Lasten ihrer Gegenwärtigkeit geht, die dann von einer Präsenz anderer Ordnung – derjenigen der Schrift – überlagert wird, ist die Schnittmenge zwischen den realen Werbeslogans und Schriftzügen und ihren Doppelungen im Text sehr viel größer. Sie erhalten ihre Materialität aufrecht und begegnen dem Leser im Text genauso unvermittelt wie dem Passanten auf der Straße. Auf der Ebene des Textes strahlen sie wiederum auf die anderen Elemente der Liste ab, da sie weder typographisch noch syntaktisch markiert sind und sich durch Zugehörigkeit und Platzierung unzweifelhaft in die Aufzählung fügen. Insofern stützen sie den im Grunde nur poetologisch gesetzten, verfahrenstechnisch aber keineswegs durchgehend garantierten Realzusammenhang des Textes und der Ereignisse, die der Text wiedergibt. In einer ähnlichen Weise sorgen auch die Eigennamen der in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien genannten Personen für den Realitätsbezug des Textes. Auch für sie ist ihre genaue Identifikation gegenüber dem Verweis auf den Schreibmoment von geringerem Interesse. Es kommt also weniger darauf an, wer genau Geneviève Serreau,196 Jean-Paul Aron,197 Paul Virilio,198 Duvignaud199 oder 193 Ebd. 194 Ebd.: 37. 195 Marie-Noëlle Gary-Prieur weist auf diesen Zusammenhang zwischen Eigennamen und außersprachlichem Objekt hin (vgl. Marie-Noëlle Gary-Prieur, zitiert nach Reggiani 1998: 237). Bernard Magné bezeichnet den Eigennamen als ›asémantème‹, weil sein Signifikat sich darauf begrenzt, seinen Referenten auszuweisen. 196 Vgl. Perec 1990: 24, 54. 197 Vgl. ebd.: 29, 33. 198 Vgl. ebd.: 45. 199 Vgl. ebd.: 41.

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Michel Martens200 sind, als vielmehr ihre Singularität und die Art ihres Auftritts zu verzeichnen.201 Sie begegnen dem Schreibenden während seiner Schreibübung und ohne dass der Text weitere Informationen zu ihrer Identität gibt, wird ausschließlich erwähnt, dass sie ihn begrüßen, an ihm vorbeigehen oder spontan einen Kaffee mit ihm trinken. Von Paul Virilio erfährt man zudem, dass er sich Gatsby le dégueulasse202 im Bonaparte anschauen geht, woraus sich schließen lässt, dass Perec und Virilio im Vorbeigehen ein Gespräch geführt haben müssen. Dass die beiden aber auch Kollegen sind und gemeinsame Schreibprojekte haben, erfährt man aus dem Text genauso wenig, wie etwa die Identität von Geneviève Serreau oder Michel Martens und ihren Bekanntschaftsgrad zu Perec. Das, was der Text von den Personen mitteilt, wird also explizit auf die Begegnungen zum Zeitpunkt seiner Niederschrift beschränkt. Die einzige zusätzliche Information ist der Name selbst, der wiederum eine Aussage über den Hintergrund (alle genannten Personen sind im kulturellen Bereich tätig) und den Bekanntenkreis des Schreibenden macht. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass Eigennamen einen starken Wirklichkeitsgehalt haben, weil sie einen spezifischen Referenten, ein singuläres existierendes Pendant ausweisen. Je nach Kenntnis der Person kann der Name mehr oder weniger stark mit Ereignissen, Orten oder Begegnungen semantisch erweitert werden.203 Aufgrund der Tatsache, dass Eigennamen auf etwas verweisen, das bereits bekannt sein muss, bezeichnet Christelle Reggiani sie als »indices paradoxaux«.204 Für Tentative d’épuisement d’un lieu parisien scheint dieses Paradox allerdings weniger virulent, da die Referenzmerkmale der Eigennamen im Zentrum des Interesses stehen und nicht ihre Referenten. Reggianis Beobachtung, dass der von Derrida am Eigennamen ausgemachte Ursprungsmythos einer transparenten und gegenwärtigen Lesbarkeit für Perec eine untergeordnete Rolle spielt, lässt sich folglich auch für den Umgang mit den Eigennamen in Tentative d’épuisement d’un lieu parisien feststellen. Auch in der Tentative bleiben die Eigennamen der Präsenz oder zumindest dem Erscheinungsbild eines einzigen Wesens vorbehalten. Sie zu identifizieren und 200 Vgl. ebd.: 58. 201 Dennoch wurden alle im Text genannten Personen (bis auf Michel Martens) bereits identifiziert (vgl. Kerbrat-Orecchioni 1980: 143). 202 Vgl. Perec 1990: 45. 203 Der Rückgriff auf eine spezifische, wenn auch nicht persönliche, sondern medial vermittelte Lebenswelt kommt auch bei Eigennamen zum Tragen, die unkommentiert als Vergleiche herangezogen werden. So tauchen im Laufe des Textes etwa zwei Hunde des Typs »Struppi« auf (vgl. ebd.: 21, 32), ein Doppelgänger von Peter Sellers (vgl. ebd.: 27), ein Passant, der wie Michel Mohrt aussieht (vgl. ebd.: 43, 45) und gleich viermal am Café vorübergeht, und ein Polizist, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Michael Lonsdale hat (vgl. ebd.: 48, 52). 204 Reggiani 1998: 237ff.

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ihrem realen Ursprung zuzuweisen, ist allerdings der Tatsache untergeordnet, dass sie sich nur einem einzigen Wesen zuschreiben lassen. Darüber hinaus fällt die Nennung der Eigennamen indirekt in einen Problembereich der Tentative, den Kerbrat-Orecchioni »l’exhaustivité de la description«205 betitelt. Sie behandelt unter dem gleich betitelten Abschnitt in ihrer Studie zu sprachlicher Subjektivität die Grenzen des Wahrnehmbaren und dessen Verschriftlichung. Die Grenzen, auf die Perec bei seinem Vorhaben einer erschöpfenden Beschreibung stößt, führt Kerbrat-Orecchioni ausschließlich in linguistischer Hinsicht aus und spitzt sie an zwei Fragen zu: erstens, wann man sich wiederholende Ereignisse gerafft wiedergeben kann, und zweitens, wann man ein Hyperonym anstelle seines Hyponyms verwenden darf, ohne dabei die Vollständigkeit wahrgenommener Geund Begebenheiten zu stark mit ihrer Beschreibung zu beschneiden.206 Der Perec’sche Einsatz der Eigennamen fällt in die an zweiter Stelle aufgezählte Problematik, da er ihnen ein Hyperonym verweigert. Würde er ihnen etwa noch ihren Beruf, ihre Erscheinung, seinen Freundschaftsgrad oder eine Balzac’sche Typisierung à la ›un de ceux‹ an die Seite stellen, so ließen die Personen sich auch über die im Text gegebenen Informationen genauer einordnen und wären nicht auf ihr Erscheinen im Moment der Niederschrift des Textes reduziert. Für die Bezugnahme des Textes auf den fotografischen Akt ist dagegen die erste von Kerbrat-Orecchioni aufgemachte Frage nach der Iterativität entscheidend, da die Fotografie verfahrenstechnisch darauf beschränkt ist, Momente eins zu eins wiederzugeben. Eine Fotografie kann dementsprechend sich wiederholende Ereignisse nicht in einem Bild zusammenfassen und ist auf Repetition angewiesen, wenn sie sich mehrfach Ereignendes darstellen will. Durch Perecs Vorhaben der Erfassung momentaner Gegebenheiten bedingt, lässt sich die Tentative als ein an dieser verfahrenstechnischen Beschränkung orientierter Text auslegen. Das äußert sich zunächst über seine dezidiert antiiterative, strukturelle Grundeinstellung: die Aufzählung. Darüber hinaus macht Perec aber auch explizite Anmerkungen zu unvermeidbaren Iterationen, häufig in ironischer oder kapitulierender Manier. KerbratOrecchioni nennt dazu das Beispiel »[l]es feux passent au rouge (cela leur arrive souvent)«207 und sie kommentiert knapp: »[V]oilà le problème réglé une fois pour toutes«.208 Noch offensichtlicher wird die Raffung jedoch in Ermüdungszuständen. Wenn bei voller Aufnahmefähigkeit einzelne Autos und Menschen aufgezählt werden, heißt es dann zum Beispiel nur noch: »Je regarde d’un œil torve le passage des oiseaux, des êtres et des véhicules«,209 »Des autobus passent. Je m’en désintéresse 205 Kerbrat-Orecchioni 1980: 133ff. 206 Vgl. ebd.: 134. 207 Perec 1990: 49. 208 Kerbrat-Orecchioni 1980: 134. 209 Perec 1990: 45.

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complètement«,210 »Des gens, par paquets, toujours et encore«211 oder »Tout plein de gens, tout plein de bagnoles«.212 Am Ende einer solchen, der nachlassenden Aufmerksamkeit geschuldeten Sequenz mit einigen iterativen Einschüben findet man einen Kommentar, der ähnlich ironisch ansetzt, wie der zu den auf rot wechselnden Ampeln: »Passe un homme qui mange un gâteau (la renommée des pâtisseries du quartier n’est plus à faire)«.213 Ohne dass die Erwähnung von Kuchen essenden Menschen sich damit ein für alle mal erledigt hätte, greift der Kommentar ironisch auf, dass bereits vier und insgesamt sechs Menschen214 mit Kuchen in der Hand an Perec vorbeigegangen sind und dass eine einzige Erwähnung samt Kommentar die einzelnen Nennungen erübrigt hätte. Trotz dieser vielen Gegenbeispiele bleiben die iterativen Kommentare die Ausnahme und der Großteil des Textes wird von Nennungen bestritten, die sich jeweils auf ein einziges Geschehnis beziehen. Die Versprachlichung des Wahrgenommenen eröffnet damit nicht nur eine verfahrenstechnische Analogie zur Fotografie, sie entspricht auch dem beschriebenen Gegenstand selbst. Denn die aufgezählten Begebenheiten sind ja nichts anderes, als sich aneinander reihende singuläre Momente, die sich nicht zusammenfassen lassen, sondern je einzeln durchlebt werden müssen. Und was scheint angemessener, als auf jeden einzelnen von diesen Momenten zu verweisen, um aufzuzeigen und gleichzeitig aufzuzeichnen, was vor sich geht, wenn Zeit vorüber zieht?215 Dennoch ringt Perec in eigenen Worten vergeblich darum, sie aufzuhalten: »L’espace fond comme le sable coule entre les doigts. Le temps l’emporte et ne m’en laisse que des lambeaux informes: / Écrire: essayer méticuleusement de retenir quelque chose, de faire survivre quelque chose«.216 Das, was er durch das Schreiben zu überdauern lassen versucht, könnte flüchtiger nicht sein, wie Perec an anderer Stelle bemerkt: »Je cherche en même temps l’éternel et l’éphémère«. 217

210 Ebd.: 40. 211 Ebd.: 25. 212 Ebd.: 50 213 Ebd. 214 Vgl. ebd.: 17, 46 (2x), 50, 53, 56. 215 Siehe auch den zu Beginn des Kapitels angesprochenen Vorlauf der Tentative (vgl. ebd.: 12). 216 Perec 2000: 180. 217 Perec 2007: 574. Der Satz kommt in den beiden Romanen Les Revenentes und La Vie mode d’emploi vor und Perec bezeichnet ihn als das Schönste, was er je geschrieben hat. Jacques Jouet, ein Nachkomme von Perec bei OuLiPo, hat Perecs Arbeitsweise in sieben Regeln zusammengefasst, von denen eine wiederum aus Perecs Lieblingssatz abgeleitet ist: »Ex-vedette, l’éternel est défenestré« (Jouet 2009: 701).

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Perecs Antwort auf Roches Dépôts Ungeachtet der verfahrenstechnischen und poetologischen Parallelen gibt es auch einen Text, der Perecs und Roches Schreibweise durch eine gezielte Übernahme verknüpft, und zwar Georges Perecs Fragments de déserts et de culture.218 Sowohl die übereinstimmende Syntax des Titels als auch die kurz darunter gesetzte Widmung »à Denis Roche« indizieren von Beginn an die Bezugnahme auf die Dépôts de savoir & de technique von Roche. Perecs Text ist bis zu einem gewissen Grad eine Anwendung von Roches Schreibverfahren aus den Dépôts. Er übernimmt die formalen Voreinstellungen der Dépôts de savoir & de technique, mit denen Geschriebenes in einen durch Zeichen pro Zeile und Zeilen pro Seite begrenzten Rahmen eingespeist und dadurch zerteilt wird. Allerdings verzichtet Perec auf den von Roche definierten außerliterarischen Bezugspunkt, wodurch das Kriterium der Direktentnahme des Sprachmaterials an bestimmten Orten oder in der Umgebung bestimmter Personen entfällt. Stattdessen konstruiert Perec seinen Text ausschließlich aus Zitaten zum Thema ›Wüste‹.219 Das können Passagen aus der Bibel sein, die in der Wüste spielen, Lexikoneinträge zu dem Wort »désert«, Zitate von verschiedensten, jeweils in Klammern angegebenen Autoren, die meist metaphorisch die Wüste verhandeln usw. Wo die Dépôts von Roche ihren Zusammenhalt über das Bezugsdispositiv des fotografischen Akts erlangen, den Direktbezug zu ihrem Gegenstand suchen und an den Moment der Aufnahme gebunden werden, entwickelt Perecs Text eine hermetische Kohärenz über ein innertextuelles Raster. Auf den ersten Blick wirken die Zeilen tatsächlich wie unzusammenhängende Fragmente, aber mit fortgesetzter Lektüre wird einerseits klar, dass allen Fragmenten die Isotopie [Wüste] unterliegt und andererseits, dass sie sich immer wieder zu kurzen zusammenhängenden Passagen verbinden lassen. Allerdings sind die Einzelteile dieser Abschnitte, bis auf die ersten und die letzten beiden direkt aneinander anschließenden Zeilen, quer über den gesamten Text verteilt und lassen sich allenfalls nach beendeter Lektüre wie ein Puzzle zusammensetzen.220

218 Perec 1980: 115-119. 219 Anlass dafür ist ein Heft zum Thema ›Wüste‹ der Zeitschrift Traverses, in der der Text 1980 veröffentlicht wurde (vgl. Magné 2008). 220 Zum Beispiel werden die Zeilen S. 117, Z. 6; S. 117, Z. 24; S. 117, Z. 42; S. 117, Z. 52; S. 118, Z. 10; S. 118, Z. 28 und S. 118, Z. 51 zu folgender Passage: »/pas seulement le désert de sable, le désert de glace, le pi / ton rocheux, mais une plage l'hiver, un blockhaus à demi imme / rgé dans la sable, une rue, parfois, le dimanche, un salon au / x meubles couverts de housses grises, un parking vide, une sa / lle des machines où des ordina-

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Das Konstruktionsprinzip des Textes – feststehendes Raster plus Satzfragmente zum Thema ›Wüste‹ im engeren Sinne, im weiteren Sinne ›Leere‹ oder ›grenzenloser Raum‹ – wird zusätzlich von drei Fotos vermittelt, die auf der ersten, der zweiten und der letzten Seite in den Text gefügt sind: Das erste Foto von Paul Virilio zeigt die Eisenkuppel einer Sternwarte, das zweite ist eine Luftaufnahme der Wüste El Mreyyé in der Islamischen Republik Mauretanien, auf der nur weiße Fläche und kleine schwarze Punkte zu sehen sind, und das letzte Foto ist eine Nahaufnahme von einem Gitter mit dem Titel »Grande grille noire, (1974)« von Peter Klasen.221 Auch wenn die inhaltliche Homogenität von Perecs Text zunächst ein Differenzmerkmal zu den Dépôts darstellt, ist auch sie letzten Endes zugleich eine Anspielung auf Roche. Tatsächlich nimmt der gemeinsame semantische Nenner der Fragments nämlich eine von Roche zu seinen Dépôts gemachte Äußerung auf, die wie folgt in seinem Vorwort L’escalier de Copán zu finden ist: »voyez comme le chant général ›everywhere‹ s’étend sur l’horizon, comme l’écriture n’en finit jamais de s’écouler le long des civilisations, comme elle s’est mise au fond des puits du désert«.222 Roche setzt hier »chant général« mit »écriture« gleich und sieht sie wiederum in den ihm alltäglich und wirklich entgegentretenden Sprachrealien verkörpert, die er in seinen Dépôts zu verarbeiten sucht. Dass der »chant général« von Sprache sich in Roches metaphorischer Umschreibung auf dem Boden der Brunnen in den Wüsten absetzt, lässt zweierlei Auslegungen zu, die auch in Perecs Fragments anklingen: Zunächst besagt die Metapher, dass sich die ›écriture‹ überall ausbreitet, in unbegrenzten Räumen wie dem Horizont, aber auch in senkrechten, schmalen Räumen wie einem Brunnenschacht. Damit greift Roche indirekt das etymologisch abgeleitete Grundparadigma des literarischen Textes aus der Textur auf, das heißt seine semantischen Verwebungen über horizontale und vertikale Bedeutungsketten. Auch verleiht er der ›écriture‹ dadurch eine existentielle Dimension, weil er sie zu etwas überlebenswichtigem metaphorisiert, und zwar zu Wasser in der Wüste. Darüber hinaus klingt in der Wüstenbrunnenmetapher aber auch das Sprichwort »La vérité est au fond d’un puit« an, womit dem von Roche angestimmten ›écriture‹-Allgesang letztlich ein Wahrheitsgehalt zugestanden wird, der auch für Perec entscheidend ist. Wenn sich dieser im banalen und alltäglichen Sprach- und Schriftgebrauch angesiedelte Wahrheitsgehalt bei Roche nur über metaphorische und buchstäbliche Andeutungen ausmachen lässt, entwickelt Perec daraus eine explizite Poetik. Die wiederum macht streckenweise den Anschein, als wäre sie die Anleitung zum Abfassen der Dépôts gewesen. In seiner Erkundung von alltäglicher Räumlichkeit, in teurs caducs débitent des listi / ngs que plus personne ne lira jamais, casernes, écoles, coulo / irs de ministères, tout ce qui évoque l'aride, le sauvage, l/« (Perec 1980). 221 Vgl. Perec 1980: 119. 222 Ebd.: 9.

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Espèces d’espaces, beobachtet Perec, dass wir unser Leben, ohne es zu merken, nahezu vollständig in Papier umsetzen. Ein Großteil alltäglicher Handlungen und Momente produziert Schrifterzeugnisse, die man, je nachdem für kürzere oder längere Zeit, als Existenzbeleg hinter sich lässt: Il y a peu d’événements qui ne laissent au moins une trace écrite. Presque tout, à un moment ou à un autre, passe par une feuille de papier, une page de carnet, un feuillet d’agenda ou n’importe quel autre support de fortune (un ticket de métro, une marge de journal, un paquet de cigarettes, le dos d’une enveloppe, etc.) sur lequel vient s’inscrire, à une vitesse variable et selon des techniques différentes selon le lieu, l’heure ou l’humeur, l’un ou l’autre des divers éléments qui composent l’ordinaire de la vie […].223

Was in Espèces d’espaces als recht nüchterne Beobachtung zu Alltäglichkeit daherkommt, hat in einem etwa ein Jahr jüngeren Text von Perec noch den Charakter eines zur Nachahmung auffordernden Bekenntnisses: Faites l’inventaire de vos poches, de votre sac. Interrogez-vous sur la provenance, l’usage et le devenir de chacun des objets que vous en retirez. […] Qu’y a-t-il sous votre papier peint? Combien de gestes faut-il pour composer un numéro de téléphone? Pourquoi? […] Il m’importe peu que ces questions soient, ici, fragmentaires, à peine indicatives d’une méthode, tout au plus d’un projet. Il m’importe beaucoup qu’elles semblent triviales et futiles: c’est précisément ce qui les rend tout aussi, sinon plus, essentielles que tant d’autres au travers desquelles nous avons vainement tenté de capter notre vérité.224

Stellt man diese beiden Textpassagen nun Roches Dépôts und ihrem impliziten Wahrheitsverständnis gegenüber, so scheinen sich die beiden Autoren einig darüber zu sein, wo sich in Sprache und Schrift Wahrheit ausmachen lässt. Die Frage, wie man sich ihrem Gehalt mit der eigenen ›écriture‹ nähert, führt allerdings in verschiedene Richtungen. Roche begibt sich mit seinen »machines capteuses«225 auf einen Weg, auf dem ihm das weiße, unbeschriebene Blatt Papier zum Maß wird und auch zur synthetisierenden Kraft der Sprachrealien. Perec bringt in seiner Wiederaufnahme des Dépôts-Prinzips dagegen eine Metaphorik ins Spiel, die das unbeschriebene Blatt Papier und die von ihm ausgehende Leere von den fragmentarisierten Sprachrealien distanziert. Die letzten beiden Zeilen der Fragments deuten unmissverständlich darauf hin, dass Perec die Gestalt der Wüste mit der eines weißen Blattes gleichsetzt. Sie lauten wie folgt: »bout et pas de détail: c’est uniforme, sans accidents, sans f/ aille, comme 223 Perec 2000: 24. 224 Perec 2010: 12. 225 Roche 1980: 12.

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le blanc de la page avant qu’on ne commence à éc«.226 Auch wenn hier nicht explizit das Wort ›désert‹ fällt, legt das Thema des Textes nahe, dass der abgeschnittene Satzteil sich auf die ebene Oberfläche der Wüste bezieht, die dann in der letzten Zeile explizit mit dem Weiß der leeren Seite gleichgesetzt wird. In einer Analyse dieser Zeilen kommt Bernard Magné zu dem Schluss, dass der zweite Teil der vorletzten Zeile ein ironischer Metakommentar zu der Machart des Textes ist, da die Sequenz »sans accidents, sans f/aille« zwar eindeutig eine Wüstenoberfläche beschreibt, aber den fragmentarischen und alles andere als makellosen Text von Perec als deren genaues Gegenteil ausweist.227 Ob man das von Magné zugewiesene Paradox nun berücksichtigt oder nicht, bezieht auch er die erste Hälfte des Satzes auf die Wüste. Vor dem Hintergrund dieser Bezugnahme lassen sich über den Text verteilt Eigenschaften der Wüste ausmachen, die mit dem noch unbeschriebenen Blatt semantische Schnittmengen aufweisen. In einem Zitat von Leclerc fungiert die Wüste beispielsweise als Metapher für mangelnde Ideen: »/Que d’écrivains prodiguent un déluge de mots dans un désert d / ’idées (Georges Louis Leclerc, comte de Buffon). La parution/«.228 Hier wird das Ausbleiben von Ideen zwar mit Wortfülle in Verbindung gebracht, häufig wird es aber auch im Topos des ›horror vacui‹ veranschaulicht, der sich wiederum auf die Angst vor der Leere und dem unbeschriebenen Blatt bezieht. In einer anderen Passage fällt das Wort ›désert‹ außerdem in einer Aufzählung mit »le rien, le vide, le plat«, von denen gesagt wird, dass sie schwer zu vergegenwärtigen seien.229 Bleibt die Seite unbeschrieben, kann das ein Zeichen dafür sein, dass etwas nicht vor- oder darstellbar ist, da Geschriebenes ja dafür sorgt, es präsent zu machen. Ein letztes Beispiel für eine semantische Überschneidung von Wüste und leerem Blatt sei mit folgender Passage genannt: /Agréables déserts, séjours de l’innocence/Où loin des vanités / de la magnificence/ Commence mon repos (Racan). Tout était cal / me et superbe au désert (Chateaubriand). En ce temps-là, le d / ésert était peuplé d’anachorètes (Anatole France). Elevez-vou [sic.]/230

226 Perec 1980: 119. 227 Vgl. Magné 2008, 2. Abschnitt. Magnés Untersuchung zur Perec’schen Ironie ist ein seltenes Beispiel aus der Perecforschung, das sich weitergehend mit den Fragments de déserts et de culture beschäftigt. Im Allgemeinen wird allenfalls auf den Text verwiesen. 228 Perec 1980: 117, Z. 26; 118, Z. 5. 229 Die beiden Zeilen lauten wie folgt: »/jours dans ce désert sans trouver d’eau (Ex. 15,22). Difficile / de se représenter vraiment le rien, le vide, le plat, le dése/« (ebd.: 118, Z. 11, Z. 29). 230 Ebd.: 115, Z. 5; 115, Z. 13; 117, Z. 5; 117, Z. 40.

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In verschiedenen Facetten wird die Wüste hier als Rückzugsort beschrieben, an dem man wohltuende Einsamkeit, Erholung und Ruhe findet. Über die Gleichsetzung von Wüste und weißem Blatt Papier wird dessen Leere durch diese Zitate positiv gewendet, und zwar in einen Schaffensprozess, der sich im Zurückgezogenen entzündet. Allein diese indirekten Zuschreibungen sprechen dafür, dass Schreiben für Perec ein einsamer Vorgang ist, der an einem menschenleeren Ort stattfindet. Das wiederum bedeutet aber auch, dass die in den Sprachrealien von Perec ausgemachte Wahrheit des Alltäglichen an diesem Ort keinen Einzug erhält. Im Gegenteil ist Schreiben für Perec eine sehr nüchterne, wenn nicht sogar ernüchternde Tätigkeit, die von dem Eindruck einer Leere angetrieben wird,231 aber diese nicht aufzufüllen im Stande ist und sie allenfalls und immer wieder neu vor Augen führt. Perecs ›écriture‹ bewegt sich damit in einem Spannungsfeld, das zwar von der Leere motiviert ist, aber nicht über diese zu schreiben im Stande ist, da es ihm scheint, als ob Sprache »s’est avéré inapte à décrire ce rien, ce vide, comme si l’on ne pouvait parler que de ce qui est plein, utile et fonctionnel«.232 Entgegen der Erwartung, dass sich diese Leere irgendwann durch Sprache mit Wahrheit füllt, stellt Perec fest, dass Sprechen und Schreiben flüchtige Gesten bleiben, die durch ihren Vollzug allenfalls Präsenz vor Augen führen können: Pendant longtemps, on croit que parler cela voudra dire trouver, découvrir, comprendre, comprendre enfin, être illuminé par la vérité. Mais non: quand cela a lieu, on sait seulement que ça a lieu; c’est là, on parle, on écrit: parler, c’est seulement parler, écrire, c’est seulement écrire, tracer des lettres sur une feuille blanche.233

Da aber die Satzfragmente in Perecs Fragments keine alltäglichen Sprachrealien sind, sondern Zitate aus enzyklopädischen, religiösen und literarischen Texten, die gängigerweise, doch in Perecs Augen vergeblich, als Garanten von Wahrheitswerten gelten, kann man schlussfolgern, dass die Fragments für Perec keinen Zugang zu dem von Roche postulierten All- und Wahrheitsgesang darstellen. Gerade weil die Sprachfragmente im Gegensatz zu den Sprachrealien der Dépôts jeglichen Kon231 Diese Leere bezeichnet Perec auch explizit als seine Motivation zu schreiben (vgl. Magné 1997: CD 1). Auf der Grundlage dieser Äußerung ist es in der Perecforschung schon nahezu ein Allgemeinplatz geworden, Perecs Texte auf verschiedenste Leerstellen hin auszulegen: biografisch in Bezug auf die früh im Zweiten Weltkrieg verlorenen Eltern, verfahrenstechnisch auf das Auslöschen bestimmter Buchstaben in seinen leipogrammatischen Romanen, thematisch auf das Verschwinden von Figuren in seinen Romanen usw. (vgl. etwa Montfrans 1999: 7, 51). 232 Perec 2000: 67. 233 Perec zitiert bei Prigent 1991: 152.

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takt zu einer unmittelbaren und »realiter abgeschöpften« Sprache verloren haben, wird ihnen das im Grunde auch von Perec vertretene Wahrheitspotential alltäglicher Unmittelbarkeit genommen. Er nutzt die Textzeilen vielmehr, um die Leere der Seite mit einem ungeordneten Zitatenmosaik zu füllen und sie gleichzeitig vorzuführen. Das Mosaik aus Zitaten als Ursprungsmetapher des offenen Intertextualitätsbegriffs à la Kristeva,234 dessen gestisches Potential auch Roche lange angetrieben hat, läuft in Perecs Fragments also buchstäblich in die Leere und kann damit als Antwort oder zumindest als Reaktion auf ein zentrales tel quelsches Theorem verstanden werden. Wie in einem Zitat aus der Einleitung von Perec zu seinem leipogrammatischen Roman La disparition deutlich wird, inspiriert er sich zwar an einem »support doctrinal au goût du jour qui affirmait l’absolu primat du signifiant«, er tut dies aber, um »l’outil qu’il avait à sa disposition« zu vertiefen.235 Das heißt, er stiftet sein Schreiben durch Laut- und Schriftbild von Sprache an, ohne daraus einen theoretischen Grundsatz, eine Ideologie, »die letzte Wahrheit« oder, wie Roche, einen apparativen Enthusiasmus zu machen.

234 Vgl. Kristeva 1969: 440. 235 Perec 2007a: 90. Es ist anzunehmen, dass Perec mit dieser Aussage u.a. auf Tel Quel anspielt, da die Autoren von Tel Quel – flankiert von Derridas Differenzbegriff – zu den Hauptpropagandisten der Hegemonie des Signifikanten zur Zeit der Erscheinung von La Disparition (1969) gehörten. Das Verhältnis, das Perec zu zeitgenössischem literaturtheoretischen Ideengut hat, ist auch in folgender Feststellung von Montfrans treffend gefasst: »Alors que ses contemporains [Tel Quel, Nouveau Roman] dénoncent ‘l’arbitraire’ des conventions du roman du XIX siècle, montrent l’impossibilité de la mimésis ou l’écartent au profit de la notion de création autonome, Perec transforme l’arbitraire formel en moteur d’invention, tout en accordant dans son œuvre une place centrale à la représentation de la réalité.« (Montfrans 1999: 3).

Primat des Signifikats: Marcel Proust

In Marcel Prousts À la recherche du temps perdu1 spielt der Bezug auf die Fotografie sowohl für die Schreibweise als auch für die Konstruktion und den Gegenstand der Romane eine entscheidende Rolle. Anders als bei Georges Perec und Denis Roche fokussiert Proust in seiner intermedialen Annäherung an das Bezugsmedium allerdings nicht nur den Moment der Aufnahme, sondern alle Phasen des analogen fotografischen Prozesses vom Moment der Aufnahme über die Entwicklung des latenten Bildes bis hin zur Rezeption des fertigen Bildes. Prozess, Ergebnis und Verfahren der Fotografie stehen in verschiedenster Hinsicht in Bezug zu Erzählweise und Erzählgegenstand der Recherche. Die Proustforschung hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verstärkt mit Prousts Verhältnis zur Fotografie und dessen Auswirkung auf sein Werk beschäftigt. So verschieden die unter diesem Interesse zusammengetragenen Ergebnisse auch sind, betrachten die meisten Untersuchungen die Rolle der Fotografie im Werk von Proust auf der Ebene des Signifikats. Dieser Fokus scheint daraus zu resultieren, dass die Fotografie in der Recherche häufig als Vergleichsfeld herangezogen wird, wenn es um den Zugang (des Schreibenden) zur Wirklichkeit geht, das heißt, wenn das textinterne Realitätskonzept anhand von Überlegungen zu Wahrnehmung, Erinnerung oder Identität entwickelt wird. Für die Frage nach dem Umgang mit Erinnerungen hat die Fotografie bei Proust eine ambivalente Schlüsselfunktion. Über die gesamte Recherche, insbesondere aber im letzten Band, Le temps retrouvé, dienen fotografische Prozesse als poetologische Differenzierungsmetaphern der ›mémoire involontaire‹. In einer viel zitierten Textstelle etwa wird die Unempfänglichkeit für unwillkürliche Erinnerungen mit der Fehlentwicklung, besser gesagt der nicht erfolgten Entwicklung von belichteten

1

Proust hat seit 1908/09 bis zu seinem Tod im Jahre 1922 an der Recherche geschrieben. Die sieben Bände wurden seit 1913 sukzessive, teilweise erst nach seinem Tod, bis 1927 veröffentlicht.

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Negativen verglichen.2 Wem diese Bilder der ›mémoire involontaire‹ unzugänglich bleiben, heißt es dort, der verliert den wesentlichen Teil des Lebens. Denn die unwillkürlich erinnerten Eindrücke und ihre Fixierung in Formulierungen sind für Proust bekanntermaßen die eigentliche Wirklichkeit, »[l]a vraie vie, la vie enfin découverte et éclaircie«,3 derer man sich im Moment ihrer unmittelbaren Erfahrung eben nicht gewahr wird. Sie stiften das Schreiben an, weil sich über die erinnerten Eindrücke und den Moment des Erinnerns etwas Außerzeitliches einstellen kann,4 dessen Realitätsgehalt der Schriftsteller durch Kombination und Übersetzung herausfiltern muss. Insofern scheint Jérôme Thélots Auffassung von Prousts Realitätsbegriff zu sehr auf das Vergangene fixiert, wenn er schreibt, die »réalité essentielle« sei bei Proust »un moment par excellence photographique, celui où s’épiphanise présentement comme retrouvaille l’image tracée dans la mémoire photosensible«.5 Nicht allein die unwillkürliche Erscheinung der Vergangenheit als fotografisch eingeschriebene Erinnerung spielt für Prousts Verständnis von Realität eine wichtige Rolle, sondern auch ihr Verhältnis zur Gegenwart des Erinnerns.6 Trotz dieser expliziten metaphorischen Anbindung der ›mémoire involontaire‹ an die Fotografie wurde Prousts Haltung zur Fotografie zunächst vorwiegend an der ›mémoire volontaire‹ festgemacht. Fotografien sind in dieser Auslegung der Recherche zwar Mittel zur Vergegenwärtigung von Vergangenem, allerdings steigern sie das Gefühl der Entfremdung gegenüber der Vergangenheit und verdrängen die Erinnerung letztlich mehr, als dass sie sie fördern. Dementsprechend weisen diese frühen Beobachtungen, die u.a. von Walter Benjamin und Susan Sontag stammen, der Fotografie im Werk Prousts eine negative Rolle zu und kennzeichnen die Recherche als eine »Verteidigung unmediatisierter gegen mediatisierte Erinnerung«.7 Zum Teil wird diese Auffassung auch in der heutigen Proustforschung, zum Beispiel von Rainer Warning, noch vertreten. Er hält daran fest, dass Proust es vermeide, die »Latenz des verwahrenden Vergessens« und die »Latenz photographischer Entwicklung« gleichzusetzen und sich durchweg bemühe, die Fotografie »zum Auratischen der Erinnerungspoetik in größtmögliche Distanz zu bringen, und zwar […] als Mortifikation«.8

2

Vgl. Proust 2008: 2285.

3

Ebd.: 2284.

4

Vgl. ebd.: 2266.

5

Thélot 2003: 188.

6

Vgl. Proust 2008: 2280.

7

Albers 2001b: 23. Für eine genauere Herleitung der kulturpessimistischen Auslegung von

8

Warning 2004: 280f. Auch Sophie Kérouack reduziert die Rolle der Fotografie bei Proust

Prousts Verhältnis zur Fotografie siehe auch Thélot 2003: 188f. auf die ›mémoire volontaire‹ (vgl. Kérouack 2005: 99ff.).

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Der französische Fotograf Brassaï räumt der Fotografie dagegen eine durchweg positive Funktion in Prousts Ästhetik ein, sodass seine Haltung gegenüber Prousts Werk bereits als »photocentrisme«9 kritisiert wurde. In seiner ausführlichen Studie Marcel Proust sous l’emprise de la photographie von 1997 macht er die Fotografie u.a. als Inspirationsquelle der ›mémoire involontaire‹ aus und bezeichnet sie in Prousts Auseinandersetzung mit möglichen Vorläufern seines Erinnerungskonzepts als »précurseur occulte«.10 Vor ihm hat 1982 bereits Jean-François Chevrier in seinem Essay Proust et la photographie auf die positiv besetzten Analogien zwischen fotografischen Prozessen und der unwillkürlichen Erinnerung hingewiesen. Er vergleicht die ›mémoire involontaire‹ mit Momentaufnahmen, die von einer emotionalen Teilnahme zeugen und nicht vorwiegend, wie etwa bei konventionellen Porträtfotografien, das Können des Fotografen vorführen und darüber hinaus nur »simulacres vides d’émotion« sind.11 Aktuellere Studien zu Prousts Poetik der Erinnerung und ihrer Verbindung zur Fotografie gehen bereits von dieser ambivalenten Rolle der Fotografie in der Recherche aus. Irene Albers bezeichnet Prousts Haltung zur Fotografie beispielsweise als »Photomnemonik« und setzt sie von der »Photomimesis« realistischer und naturalistischer Programmatiken ab. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Fotografie bei Proust »zugleich Modell und Gegenmodell der Erinnerung, Medium der Arretierung und Mortifikation einerseits und einer uneinholbaren Kontingenz flüchtiger Momentaufnahmen andererseits ist«.12 Am Text macht sie dieses Fotografieverständnis über explizite Erwähnungen und eine stark ausdifferenzierte Metaphorik fest, die Erinnerungsprozesse mit fotografischen Verfahren über Verben wie »enregistrer«, »fixer«, »capturer«, »poser«, »développer« etc. gleichsetzt.13 Die ambivalente Rolle der Fotografie in der Recherche wird aber nicht nur an Prousts Mnemopoiesis festgemacht, sondern auch an seiner Positionierung zur zeitgenössischen ästhetischen Debatte, insbesondere zu der Frage nach dem Stellenwert der Fotografie unter den Künsten. Als Beleg für Prousts Geringschätzung der Fotografie gegenüber der Malerei wird häufig eine Textpassage herangezogen, in der die ungewöhnlichen Perspektiven der Bilder des fiktiven Malers Elstir vom Erzähler als überholt abgetan werden, da sie von der Fotografie, hier deutlich als industrielle Technik markiert, vulgarisiert worden seien.14 Als künstlerische Aufwertung der 9

Edwards 2008: 82.

10 Brassaï 1997: 281. 11 Chevrier 2009: 36. 12 Albers 2001b: 27. 13 Ebd.: 19. Vgl. auch Albers 2004: 171. 14 Vgl. Thélot 2003: 192 und Albers 2004: 223. Nur Brassaï legt auch den gängigerweise negativ ausgelegten Vergleich von Elstirs Bildern mit der Fotografie noch positiv aus: Er schätzt den Vergleich der impressionistischen Bilder Elstirs mit der Fotografie als Auf-

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Fotografie wird dagegen häufig auf die positive Rolle fotografischer Reproduktionen von Kunst- und Bauwerken in der Recherche verwiesen. Gerade die Rezeption von Architektur erfährt der Erzähler über Fotografien oft intensiver als in der direkten Betrachtung des Bauwerks.15 Diese indirekte Bewertung wird dann üblicherweise mit einem Kommentar von Proust zu den fotografischen Illustrationen von Stones of Venice des englischen Kunstkritikers John Ruskin expliziert. Die Venedigbilder aus dem Archiv der Gebrüder Alinari haben Proust nicht nur Anlass zu Lob gegeben, sie waren auch der Grund für seine Befürwortung des umstrittenen Plädoyers für künstlerische Fotografie von Robert de la Sizeranne aus dem Jahre 1897.16 Wie bei den Details der Kirche von Balbec, die dem Erzähler durch Fotografien, nicht aber bei seinem Besuch der Kirche zugänglich werden, operiert die Fotografie in der Recherche häufig an der Schwelle von Sichtbarem und Unsichtbarem oder auch Bewusstem und Unbewusstem.17 Der Umgang der Figuren mit und ihre Reaktionen auf Fotografien bringen diese Funktion des Bezugsmediums auf der Ebene der ›histoire‹ wiederholt ins Spiel:18 Sei es in der berühmten Profanation am Ende des Eingangsteils, in der die Geliebte der Tochter des ehemaligen, inzwischen verstorbenen Komponisten Vinteuil auf das Porträt des Vaters spuckt,19 sei es in der Passage, in der Robert de Saint-Loup seine Enttäuschung beim Anblick des Porträts der entflohenen Geliebten des Erzählers nicht verhehlen kann20 oder sei es die anklagende Wirkung des Fotos von Monsieur de Charlus auf seinen Schützling Morel, der sich durch das unvermittelt auftauchende Porträt bei einer heimlichen Verabredung mit dem Prince de Guermantes ertappt fühlt und die Flucht ergreift.21 Die Reaktionen auf die Fotografien fördern dabei immer etwas zu Tage, das ihr bloßer Referent nicht abbildet: Den Sadismus von Mademoiselle Vinteuil, die Illusionen des wertung ein und versteht ihn als indirektes kunsthistorisches Eingeständnis an die Fotografie (vgl. Brassaï 1997: 55). 15 Vgl. zum Beispiel Thélot 2003: 213. 16 Vgl. Albers 2004: 208, Brassaï 1997: 55 oder Montier 2003: 171ff. Im Hinblick auf Robert de la Sizerannes Aufsatz von 1897 siehe Kemp/Amelunxen 2006: 212ff. 17 Vgl. Chevrier 2009: 40. Chevrier erwähnt auch, dass Proust an der Fotografie die »puissance de révélation« reize (ebd.). 18 Brassaï spricht in diesem Zusammenhang von einer nicht ganz nachvollziehbaren Hierarchie der Fotografien, die in der Recherche eine Rolle spielen. In dieser Hierarchie stellt er etwa eine Passage aus À l’ombre des jeunes filles en fleurs, in der sich die Großmutter zum Missfallen des Erzählers von Saint-Loup fotografieren lassen will, der Profanation des Porträts von Vinteuil durch seine Tochter an die Seite und schreibt ihnen ein komplementäres Verhältnis zu (vgl. Brassaï 1997: 92). 19 Vgl. Proust 2008: 135. 20 Proust 2008: 1933, siehe dazu auch Brassaï 1997: 73. 21 Proust 2008: 1568, siehe dazu auch Brassaï 1997: 107ff.

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Erzählers oder das Gewissen von Morel. Einerseits geben Fotografien in der Recherche durch Abbildung Gewissheit über eine sichtbare Wirklichkeit, andererseits stellen sie diese aber auch immer wieder in Frage, indem sie Dinge vor Augen führen, die das eigentliche Foto gar nicht darstellt, dafür aber um so mehr bedingt oder relativiert. Insbesondere eine objektive Wahrnehmung der sichtbaren Welt und die Emotionen, die man ihr entgegenbringt, werden in der Recherche durch Fotografien unterminiert. Aus diesem Grunde steht auch der Proust’sche Relativismus, die vielschichtige Dynamik von Illusion und Desillusion in der Recherche, mit der Fotografie in Verbindung: Über Fotografien können Dinge und Personen sowohl mit Träumen, Erwartungen und Wünschen überhöht, als auch durch sie entzaubert werden.22 Der Einblick in den Stand der Forschung zu der Rolle der Fotografie im Werk Prousts zeigt, dass sich die bisherige Auseinandersetzung mit dem Thema vor allem in einer Aufarbeitung der expliziten Poetik unter fotografischen Gesichtspunkten erschöpft und an Fragen nach der Rolle der Fotografie im Erinnerungsakt, bei der Wahrnehmung und nach ihrem Verhältnis zum ästhetischen Diskurs aufgearbeitet wurde. Diese Fragen werden dann häufig auf der Ebene der ›histoire‹ an einer begrenzten, immer wieder neu herangezogenen Auswahl von Textpassagen analysiert,23 die von Fotografien oder von Momenten handeln, in denen fotografiert oder 22 Für eingehende Überlegungen zu dem Zusammenhang von Relativität und Fotografie bei Proust vgl. Chevrier 2009: 32, Brassaï 1997: 158ff., Edwards 2008: 82 ff. In diesen Bereich fällt auch die in der Recherche allgegenwärtige Reflexion über Ähnlichkeit. Während die Ähnlichkeit zwischen Fotografie und Wirklichkeit, das heißt die im Foto reproduzierte Welt im negativen (unter Künstlern) und im positiven Sinne (unter Wissenschaftlern) im 19. Jahrhundert als unumstritten und objektiv galt, relativiert Proust sie und hebt die fotografische Unähnlichkeit und Entfremdung gegenüber der Wirklichkeit hervor. Für Proust stellen vor allem Porträts die Möglichkeit dar, die Erscheinung von abwesenden Personen zu studieren und mit den unmittelbar gewonnenen Eindrücken in ein Verhältnis zu setzen. Häufig werden die Fotos auch genutzt, um genealogische Ähnlichkeiten zu befragen (vgl. etwa die Betrachtung des Porträts von Madame de Guermantes in Saint-Loups Zimmer in Doncière, Proust 2008: 807, siehe hierzu auch Chevrier 2009: 29ff.). 23 Hohe Konjunktur haben u.a. folgende Textbeispiele: die Profanation von Vinteuil (vgl. Proust 2008: 133), der Vergleich von Eindrücken eines geliebten Wesens mit »photographies manquées« (ebd.: 391), Swanns Vorliebe für eine alte Daguerreotypie von Odette (vgl. ebd.: 489), Monsieur de Charlus’ Kommentar darüber, dass Fotografien an Würde gewinnen, sofern sie uns etwas zeigen, das nicht mehr existiert (vgl. ebd.: 604), die Koketterie der Großmutter des Erzählers, als Saint-Loup sie beim Abschied in Balbec mit seiner Kodak-Kamera fotografieren will (vgl. ebd.: 620), die Betrachtung der Fotografie von Madame de Guermantes in Roberts Zimmer in Doncière (vgl. ebd.: 803ff.) oder die Wiederaufnahme der in Balbec gemachten Fotografie der Großmutter während der Trauer

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in denen die Fotografie als expliziter Vergleich für bestimmte Wahrnehmungs- und Erinnerungsweisen herangezogen wird. Analogien zwischen fotografischen Verfahren und Schreib- oder Erzählweise werden dagegen eher am Rande behandelt. So findet man beispielsweise Überlegungen zur Orientierung der Metaphorik an fotografischen Prozessen,24 zur fotografischen, das heißt teilnahmslosen oder aber voyeuristischen Perspektivführung des Erzählers,25 zur Erzählrhythmik mit einem »effet-instantané«26 oder zu fotografischen Figurenkonzeptionen.27 Gemessen an den Fokussierungen auf ›histoire‹ und ›discours‹ soll im Folgenden die Rolle der Fotografie für Prousts Schreibweise vertieft und um die Auswirkung der fotografischen Referenz auf Prousts Umgang mit sprachlicher Referenz ergänzt werden. Einen ersten Anhaltspunkt für diesen Übertragungsprozess liefert eine in der Recherche immer wieder hergestellte Verbindung zwischen Eigennamen und Fotografien, mit der beiden der Status eines veräußerlichten Identitätsträgers eingeräumt wird. Der Bedeutungsgehalt von Eigennamen und Fotografien wird in dieser Verbindung darauf reduziert, einen spezifischen Referenten auszuweisen – die dargestellte Person oder der Namensträger – und ist darüber hinaus nur durch subjektive Erfahrung oder Träumereien motivierbar. Diese sind jeweils der Gefahr von plötzlichen »Entladungen« ausgesetzt, sofern sie bei konkreten Begegnungen des Erzählers um ihren Tod bei seinem zweiten Besuch in Balbec (vgl. ebd.: 1329, 1341ff.). 24 Vgl. Albers 2001b: 19 und Albers 2004: 208. 25 Im Allgemeinen wird diese Blickführung an Textpassagen festgemacht, in denen die Augen mit interesselos registrierenden Apparaten in Verbindung gebracht werden. Mit besonderer Vorliebe dient dazu eine Sequenz, die den Erzähler bei seiner Rückkehr aus Doncière zu einem Fotografen stilisiert, weil er für einen kurzen Moment Zeuge seiner eigenen Abwesenheit wird, während er seine Großmutter wie eine ihm unbekannte alte Frau anschaut (vgl. Proust 2008, S. 853). Brassaï nennt diese Art des Schauens »la vision ›a-humaine‹ de Proust«, weil sie frei von Gedanken, Gefühlen, Gedächtnis und Bewusstsein sei (Brassaï 1997: 150ff.). Mieke Bal arbeitet an dieser Textstelle zudem den Zusammenhang von »regard objectivant« und Voyeurismus heraus (Bal 1994a: 247ff.). Vgl. auch Chevrier 2009:19f. oder Thélot 2003:198f. 26 Vgl. Bal 1994b: 119. 27 Mieke Bal beobachtet, dass Robert de Saint-Loup »le personnage le plus ›photographique‹ de la Recherche« ist (vgl. ebd.: 121). Auch Albertine wird wegen ihrer Flüchtigkeit und der Schwierigkeiten, die der Erzähler hat, sie zu erfassen, häufig als eine fotografisch konzipierte Figur behandelt. In einem Vortrag, den Wolfram Nitsch im Oktober 2010 auf einer Tagung der Proust Gesellschaft in Köln gehalten hat, arbeitet er u.a. heraus wie der Erzähler daran scheitert, seinen Eindruck von Albertine zu »fixieren« (Nitsch, Wolfram: »Die Photographie Albertines. Stillstellung von Bewegung zwischen Ästhetik und Kriminalistik«, siehe: http://www.dmpg.de/aktuelles /koeln_chihaia.pdf ).

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mit dem tatsächlichen Referenten konfrontiert werden. In diesem Prozess wird die Referenz der Eigennamen und Porträts durch Imagination aufgeschwemmt, sodass sie ihre spezifische Bezüglichkeit verlieren und in der Vorstellung des Erzählers eine Art Eigenleben entwickeln, bis sie in Frontalerfahrungen mit den Namensträgern oder den Porträtierten brüsk relativiert werden. Ein dazu gegenläufig organisiertes Konzept, so die These, ist das der Sprachrealien. Sie durchsetzen den Referenzradius von Wörtern nicht wie die Eigennamen, sondern fixieren ihn in konkreten Äußerungsmomenten. Die Sprachrealien sind bei Proust meist durch Anführungszeichen gekennzeichnete Sätze oder Texte aus einer spezifischen sprachlichen Realität. Abgesehen davon, dass sie den Moment, in dem sie fallen, transportieren oder mit sich führen, porträtieren sie auch einzelne Sprecher. Dies geschieht weniger durch den Inhalt des Gesagten als vielmehr über die jeweilige Redeweise und die Art, wie die Aussagen in den Kontext der Handlung gefügt sind. Insofern sind die Sprachrealien Einschübe einer fremd gefertigten Sprache, die sich explizit vom Stil und der Ausdrucksweise des Erzählers abheben. Ihre Fügung in den Fließtext ist nicht durch Dialoge motiviert, obwohl sie die Charakteristika direkter Rede aufweisen, sondern durch den Effekt, Figurenpräsenz und Realitätsnähe aufzubauen. Dies erfolgt nicht zuletzt auch durch eine besondere Aufmerksamkeit für ihre je spezifische Materialität, sei es der Klang der Stimme, die Aussprache oder die Art und Weise, Wörter und Sätze zu bilden.28 Während der Referenz der Eigennamen eine explizite Gemeinsamkeit mit Fotografien zugeschrieben wird, die darin besteht, Identität in einem repräsentativen und eindimensionalen Sinne auszuweisen, entwickeln die Sprachrealien eine implizite fotografische Referenz, da sie erstens einem der Fotografie vergleichbaren Aufnahmeverfahren unterliegen und zweitens individuelle Züge ihrer Sprecher als sich randweise ereignende, an Details festzumachende Präsenz überliefern. Im Gegensatz zu Eigennamen, die zwar von Natur aus in einem Realzusammenhang mit ihren Referenten stehen, diesen aber wie ein Etikett bezeichnen, bilden die Sprachrealien 28 Mitunter können die Sprachrealien auch auf Figurentypen abzielen. Das erfolgt meist, wenn sie klischeeartig sind, das heißt durch häufige Wiederholung nahezu bedeutungslos gewordene Aussagen wiedergeben. Inwiefern solche klischeeartigen Aussagen im Zusammenhang zur Fotografie stehen, skizziert David McCallam in seinem Artikel »Cast in a New Light: Clichés in Prousts ‘Combray’«. Er verweist hier auch auf den Umstand, dass der junge Erzähler gerade die Art und Weise in Bergottes Umgang mit Sprache bewundert, mit der er ebensolche Klischees in seine Texte einzufügen und ihnen damit zu neuem Glanz zu verhelfen weiß. McCallam schließt daraus, dass Proust damit einen impliziten Hinweis auf sein eigenes Schreibideal gibt. (vgl. McCallam 2001: 17). Auch Sylvie Pierron verweist in ihrem Kapitel zu Allgemeinplätzen bei Proust darauf, dass das »cliché« im fotografischen Sinne auch auf sprachliche Wendungen der Figuren übertragen werden kann (vgl. Pierron 2005: 131f.).

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einen Referenztypus aus, der Realitätsnähe durch Zuschreibungen aufbaut, die sich auf den Moment ihrer Aufnahme beziehen. In diesem Sinne sind die Sprachrealien konkrete Erzeugnisse der ›parole‹, die in einem fotografischen Referenzrahmen agieren, da sie Eindrücke von Personen und Situationen in Ausdrücken festhalten. In Le temps retrouvé grenzt der Erzähler diese Eindrücke von solchen ab, die man bewusst wahrzunehmen und zu behalten versucht, und begründet ihre Gegenwärtigkeit wie folgt: […] la différence qu’il y a entre chacune des impressions réelles – […] tenait probablement à cette cause que la moindre parole que nous avons dite à une époque de notre vie, le geste le plus insignifiant que nous avons fait était entouré, portait sur lui le reflet de choses qui logiquement ne tenaient pas à lui […].29

Damit der »reflet de choses«, der auch die Gestalt unbedeutender Aussagen haben kann, in der Zukunft essentiell Gewesenes, das heißt »l’essence des choses«,30 in Erinnerung rufen kann, muss er zunächst vollständig in Vergessenheit geraten. Im Gedächtnis konserviert, »resté à sa place, à sa date«,31 können diese Eindrücke in einem zukünftigen Moment jäh freigesetzt werden und einen Zugang zu Vergangenem öffnen. Zwar gehören die Sprachrealien nicht zu den vom Erzähler geschilderten Impulsgebern für diese »identités entre le présent et le passé«,32 aber sie gehören dem Universum an, das sich durch sie auftut und aus der Vergangenheit in die Gegenwart abstrahlt. Sie sind keine aus der Logik der Sprache gebildeten Sätze, sondern Überbleibsel getätigter Sprache, die weniger den Gesetzen der Grammatik als denen ihrer Verwendung und ihres Umlaufs unterliegen. Dementsprechend kann man sagen, dass sie Eingriffe auf der Ebene der ›sekundären Materialität‹ von Sprache darstellen, da sie einen Kombinations- und Bezugsmodus verwirklichen, der sich über eine spezifische Lebenswelt erschließen lässt.33 Als Einschübe spicken sie den Erzählerdiskurs mit Stichproben aus anderen Sprachfeldern und Sprechsituationen. 29 Proust 2008: 2264f. 30 Ebd.: 2267. 31 Ebd.: 2265. 32 Ebd.: 2266. Die Impulsgeber der ›mémoire involontaire‹ sind bekanntermaßen der Geschmack der Madeleine, die ungleichen Pflastersteine im Hof der Guermantes oder die steife Serviette, mit der sich der Erzähler den Mund abtrocknet usw. 33 Die der These zugrundeliegende Form der Intermedialität wirkt sich in diesem Sinne auf die Schreibweise aus und kann nicht, wie Rainer Warning feststellt, auf den Charakter einer Zitation beschränkt werden. Auch wenn die fremdmediale Auswirkung der Fotografie auf die Sprache, die ›Systemkontamination‹ im Sinne Rajewskys, bei Proust vergleichsweise gering ist und er den Bezug zur Fotografie überwiegend poetologisch funktionalisiert, soll mit den Sprachrealien gezeigt werden, dass auch eine Modifikation von

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Bevor aber genauer analysiert wird, woran sich die mit dem »reflet de choses« verbundenen Eingriffe an der sprachlichen Referenz genau äußern und inwiefern sie ein Gegengewicht zu der eindeutigen Referenz von Eigennamen und Fotografien bilden, soll ein kurzer Vorlauf Einsicht in die fotografische Porträtproduktion um 1900 geben. Für Paris lassen sich zu dieser Zeit zwei Tendenzen ausmachen, das kommerzielle und das künstlerische Porträt, die in der Geschichte der Fotografie gerne an zwei Fotografen kontrastiert und illustriert werden: André Adolphe-Eugène Disdéri und Nadar, mit eigentlichem Namen Gaspard-Félix Tournachon.34 Während Disdéri ein Patent für ein standardisiertes, an Visitenkarten orientiertes Porträtformat anmeldete, das ihn zum Millionär werden ließ, weil es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Mode entwickelte,35 konzentrierte Nadar sich zunächst auf individuelle Porträts von Künstlern und Persönlichkeiten seiner Zeit. Was die Ästhetik und Funktion der beiden nachfolgend näher vorgestellten Porträttypen anbetrifft, kann man sie den beiden Referenzphänomen annähern, die anhand der Eigennamen und der Sprachrealien in der Recherche untersucht werden sollen. Das Visitkartenporträt à la Disdéri repräsentiert die abgebildete Person in einem ähnlichen Sinne wie ein Eigenname, da es Attribute und Verwendungsweisen einbezieht, die auf Stand beziehungsweise gesellschaftliche Zugehörigkeit abzielen und als Ausweise öffentlicher Identität verstanden werden. Das künstlerische Porträt à la Nadar, von ihm auch als »Intimporträt«36 bezeichnet, verzichtet dagegen weitgehend auf gesellschaftliche Zuweisungen der dargestellten Person, versucht die ihr eigene Präsenz (oder Aura) einzufangen und eine historisch losgelöste, individuelle Identität der abgelichteten Person festzuhalten.

Porträtfotografie um 1900 Um Aspekte der fotografischen Referenz in Prousts Schreibweise differenzierter erfassen zu können, sollen nachfolgend die beiden genannten, zur Zeit seines Schaffens präsenten Tendenzen der Porträtfotografie zusammenfassend vorgestellt und

Sprache in Richtung fotografischer Verfahren vorzufinden ist. Das hier verfolgte Verständnis der intermedialen Bezugnahmen der Recherche auf die Fotografie weicht also von dem Erwartungshorizont Warnings ab, der in seiner Studie vorwegnehmend unterstreicht: »Was wir erwarten dürfen, ist also die Zitation oder auch Evokation anderer Künste, ohne daß damit sogleich auch das sprachliche Medium selbst miterfasst und transformiert würde« (Warning 2004: 267). 34 Vgl. zum Beispiel Baatz 1997: 36ff. 35 Vgl. Sagne 1994: 109f. 36 Vgl. Gosling 1977: 37.

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ihre ästhetischen Implikationen aufgezeigt werden. Félix Nadar vereint in seiner Laufbahn beide dieser Tendenzen, weshalb hier davon abgesehen wird, die kommerzielle Porträtfotografie anhand von Disdéris, in historischer Hinsicht zwar exemplarischeren, für diesen Zusammenhang aber nicht signifikanteren Karriere zu illustrieren.37 Anders als Disdéri beschränkte Nadar seine fotografische Tätigkeit zwar nicht auf das Atelierporträt,38 aber es verhalf ihm sowohl künstlerisch als auch kommerziell zu seinen größten Erfolgen. Sein 1853/54 eröffnetes und 1894 an seinen Sohn Paul Nadar übertragenes Atelier bestand fast ein Jahrhundert lang, bis in das Jahr 1949, und kann diese Erfolge in unterschiedlichen Phasen seines Bestehens verzeichnen. Gaspard-Félix Tournachon machte unter dem Künstlernamen Nadar39 vor allem zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Fotografie Porträtaufnahmen von befreundeten Künstlern, die bis heute bekannt sind und als Vorläufer des modernen Porträts gelten. Der Grund dafür ist die eindringliche und gleichzeitig schlichte Darstellung der Porträtierten. Dazu verzichtete er weitgehend auf Attribute oder Requisiten und konzentrierte sich auf den Gesichtsausdruck, den er durch Lichtführung und Tiefenschärfe in den Vordergrund rückte. Nadars Arbeit an den Fotografien bedurfte nicht nur optische, sondern auch chemische Genauigkeit, da er mit einem Verfahren arbeitete, das auch während des Aufnahmeprozesses chemikalische Handgriffe erforderte: das nasse Kollodiumverfahren. Für das 1851 von dem Engländer Frederick Scott erfundene Belichtungsverfahren mussten die zuvor in der Dunkelkammer sensibilisierten Glasnegativplatten im noch nassen Zustand verarbeitet, das heißt belichtet werden. Nachdem also die Kamera und das Motiv eingerichtet waren, übergoss der Fotograf eine Glasplatte gleichmäßig mit Kollodium, sensibilisierte sie danach in der Dunkelkammer in 37 Disdéris Erfindung des Visitkartenporträts ist einer der Faktoren, der die Fotografie zu einem Massenmedium gemacht hat. Da es hier aber nicht darum gehen soll, die Blütezeit der Porträtfotografie mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen historisch aufzuarbeiten, kann das Visitkartenporträt auch anhand von Aufnahmen betrachtet werden, die in Nadars Studio entstanden sind. 38 Nadar machte u.a. auch die ersten Luftaufnahmen von Paris aus seinem Riesenballon »Le Géant« und um seine Experimente mit künstlichem Licht aus den 1860er Jahren effektvoll zu illustrieren, machte er die ersten Fotografien der Katakomben in Paris. Man kann seine fotografische Erschließung des unterirdischen Paris’ als »ein logisches Pendant zu dem Paris aus der Luft« verstehen (Aubenas 1995: 103). 39 Nadar arbeitete anfangs auch zusammen mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Adrien unter diesem von ihm erfundenen und geprägten Pseudonym. Er hatte Adrien zwar zur Fotografie ermutigt und ihm auch einen Teil seiner Ausbildung finanziert, aber als dieser anfing, seine eigenen Fotografien mit dem inzwischen bekannten Namen ›Nadar‹ zu signieren, sah Félix sich gezwungen, einen Prozess gegen Adrien zu führen (vgl. Gosling 1977: 39ff. oder Morris Hambourg 1995: 1).

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einem Silbernitratbad und setzte sie in eine Holzkassette ein, die wiederum in die Kamera eingefügt werden musste (siehe Abbildung 8). Erst jetzt und nur solange die Glasplatte noch nass war, konnte sie belichtet werden. Nach der Belichtung wurde die Glasplatte in Pyrogallussäure entwickelt, fixiert, gewässert, nach dem Trocknen gefirnisst und konnte ab diesem Zeitpunkt als Negativ für Kontaktkopien auf Albuminpapier verwendet werden. Der Vorteil des Verfahrens war seine relative Lichtempfindlichkeit, sein Nachteil der komplexe Ablauf und die aufwendige Ausrüstung, weshalb es fast ausschließlich für Porträtaufnahmen im Atelier eingesetzt wurde. Zudem benötigten die Fotografen Assistenten, die ihnen zuarbeiteten.40 Abbildung 8: Schema nasses Kollodiumverfahren41

Die Belichtungszeit der präparierten Glasplatte betrug zwischen drei und fünfzehn Sekunden, weshalb Nadar seine Modelle ohne Kopfstützen in einer für sie bequemen und natürlichen Haltung aufnehmen konnte. Da die ungezwungene, wesensnahe und unmittelbare Wiedergabe der Porträtierten zu den ästhetischen Prämissen Nadars gehörte, war diese für die damalige Zeit kurze Belichtungsdauer des nassen Kollodiumverfahrens eine technische Voraussetzung für Nadars Porträtfotografien. Zudem gehörte die nahezu vollständige Verweigerung gegenüber jeglicher Retusche der Abzüge zum künstlerischen Selbstverständnis Nadars.42 Eine bekannte Porträtserie des Malers Honoré Daumier, die zwischen 1856 und 1858 datiert wird, kann diesen Anspruch beispielhaft veranschaulichen (siehe Abbildung 9 a-d). Die Serie besteht aus vier Halbfiguren, auf denen Daumier aufrecht und leicht versetzt zur Kamera steht. Sein Körper vollzieht von der ersten bis zur letzten Aufnahme etwa eine Vierteldrehung im Uhrzeigersinn, sein Kopf folgt auf

40 Vgl. für eine genauere Auflistung der einzelnen Arbeitsschritte: Frizot 1994: 92. Siehe außerdem Gosling 1977: 30. 41 Abbildung in: Frizot 1994: 92. 42 Vgl. hierzu Heilbrun 1995a: 55.

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den ersten drei Aufnahmen der Drehung des Oberkörpers und schwenkt nur auf der letzten Aufnahme in die Gegenrichtung aus. Der Blick ist jeweils an der Kamera vorbei auf einen Punkt außerhalb des Aufnahmefeldes gerichtet. Im Ganzen besteht das Motiv aus zwei Hauptpartien: dem Gesicht und dem in einen weit fallenden Mantel gehüllten Oberkörper. Zwischen Kopf und Oberkörper schichten sich in dichter Abfolge die leicht zerknitterten Kragen des Mantels und des Hemdes sowie der unterhalb von Kinn und Wangen verlaufende Bart des Malers. Dieses Mittelstück hält die beiden Hauptpartien wie ein Scharnier zusammen und setzt sie gleichzeitig voneinander ab, was wiederum ihrer vom ersten bis zum letzten Bild komplementär verlaufenden Gewichtung zuspielt. Abbildung 9 a-d: Nadar Honoré Daumier (ca. 1856-58)43

43 Abbildung in: Heilbrun 1995: Tafel 47-50.

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Auf dem ersten Bild erhält die Mantelpartie die größere Gewichtung, da sich Faltenwurf und Knöpfe detailliert abzeichnen und der ins Profil gedrehte Kopf die Augen kaum erkennen lässt. Dieses Verhältnis verkehrt sich im Laufe der Serie, da der Mantel mit jeder Aufnahme stärker verschwimmt und auf dem letzten Bild kaum noch wie ein Kleidungsstück, eher wie ein großzügig um Daumier gewickeltes Stück Stoff wirkt. Die Gesichtspartie gewinnt dagegen allmählich an Prägnanz. Im zweiten und im dritten Bild hebt sich der jeweils von schräg hinten beleuchtete Kopf stark vom Hintergrund ab.44 Allerdings scheint der Fokus des Bildes durch Licht- und Blickführung außerhalb des Bildraumes zu liegen, der sich zwischen dem Modell und dem Fotografen, respektive dem Betrachter ergibt. Erst in der letzten Aufnahme, auf der das Licht von schräg vorne auf das Gesicht fällt, der Kopf kaum gedreht und der Blick knapper an der Kamera vorbei gerichtet ist, wird der Porträtierte vollends zugänglich und seine Bildpräsenz konzentriert. Das nahezu frontal ausgerichtete Gesicht ist zu etwa zwei Dritteln ausgeleuchtet, sodass der Schattenwurf die Falten auf der Stirn und um das rechte Auge detailliert nachzeichnet. Veränderte Körperausrichtung und Lichtführung sind die Ursachen der gegenläufigen Gewichtung der beiden Hauptpartien des Motivs. Sie können in zweierlei Hinsicht als programmatisch für die frühen Porträts von Nadar gelten: Zunächst bedingen sie die Plastizität der Aufnahmen und die Körperlichkeit des Porträtierten und darüber hinaus stellen sie die charakteristischen Züge, die Individualität des Dargestellten, heraus. Diese Prämissen Nadars sollen anhand von zwei weiteren seiner Aufnahmen bestärkt werden, auf die nur kurz verwiesen sei. Dass Nadar seine Modelle nicht flächig erfassen wollte, das heißt nicht reduziert auf die im Foto sichtbare, vordere Körperseite, sondern als plastisches Ganzes, zeigt schon die angedeutete Drehbewegung in der Serie von Daumier und wird in einer knapp zehn Jahre älteren Selbstporträtreihe von Nadar nachträglich zum Programm erklärt (siehe Abbildung 10).

44 Françoise Heilbrun erachtet Nadars Art, das Gesicht vom Hintergrund abzuheben, als Ursache für die charakteristische Präsenz der Modelle auf seinen Fotografien (vgl. Heilbrun 1995a: 36).

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Abbildung 10: Nadar Selbstporträt (ca. 1840-1871)45

Bei der Selbstporträtreihe handelt es sich um einen Abzug mit zwölf in Reihe gesetzten Aufnahmen, auf denen sich der Fotograf einmal um seine eigene Achse dreht. Das erste und das letzte Foto zeigen ihn jeweils von hinten, wodurch das Mittelstück der Serie zu einer langsam fortschreitenden, ins Zentrum des ganzen Aufnahmevorgangs gesetzten Offenbarung des Gesichts wird. Dessen Ausdruckskraft wiederum betonen die beiden mittleren Bilder, auf denen Nadar einmal verschmitzt lächelt und, kurz darauf – das suggeriert der Bewegungsablauf – ernst in die Kamera schaut. Darüber hinaus inszeniert Nadar sich hier verdeckt auch als Fotograf, ist er doch sowohl in der Position zu sehen, in der man ihn als Fotograf beobachten könnte, das heißt von hinten, als auch frontal und damit so wie sein Modell ihm als Porträtfotografen für gewöhnlich entgegentritt. Was Nadar an seinen Selbstporträts

45 Abbildung in: Schweizerische Kunststiftung für Photographie 1987: 21.

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vorführt – die unvermittelte Art, seine Persönlichkeit,46 aber auch seine berufliche Tätigkeit im Foto erfassen zu können, ohne dabei hinweisende Arbeitsutensilien wie etwa eine Kamera o.ä. einzusetzen47 – gelingt ihm bereits in der Serie von Daumier. Anstatt den Maler in Aktion zu porträtieren, wie es für konventionelle Künstlerporträts üblich gewesen wäre, schärft Nadar die Augenpartie und lässt die Hände und damit das ausführende Körperteil des Malers vollständig in dem Umhang verschwinden. Das von dieser Körperhaltung vermittelte Verständnis von Malerei erhebt den Blick und die Beobachtung zum privilegierten Organ des Malens, sodass die geistige Leistung des Malers über seine handwerkliche gestellt wird. Dieser Fokus erklärt sich noch eindeutiger, wenn man in Betracht zieht, dass Daumier (genau wie Nadar selbst) auch Karikaturist war. Die kritische Distanznahme, die aus seinem Blick spricht, ist also berufsbedingt und eine der herausragenden Fähigkeiten von Daumier.48 Auf einem Foto von seiner Frau Ernestine pointiert Nadar Blick und Haltung zu einem ähnlichen Wesensindikator wie bei Daumier (Abbildung 11). Die wie ein aufsässiges Mädchen wirkende Ernestine schaut hier mit skeptischem Blick und auffordernd übereinander geschlagenen Armen in die Kamera. Sie scheint noch nicht ganz überzeugt von der neuen beruflichen Tätigkeit ihres Mannes und prüft sie im Selbstversuch. Gerade aber diese offene und widerwillige Skepsis zeugt auch – ohne dass man um die Beziehung zwischen Fotograf und Porträtierter weiß – von der Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschen muss.

46 Hier könnte man noch ergänzen, dass die Drehbewegung seinem scheinbar sehr vitalen Charakter entspricht. Ein von Baudelaire überlieferter Kommentar bringt es wie folgt auf den Punkt: »Nadar […] das ist der erstaunlichste Ausdruck von Vitalität. Adrien sagte mir, dass sein Bruder alle inneren Organe doppelt besitze« (zitiert bei Gosling 1977: 40). 47 Selbstporträts von Nadars Kollegen und Mitstreitern aus der Zeit sind häufig mit den Werkzeugen des Fotografen, das heißt mit der Kamera oder mit Chemikalien, ausgestattet (vgl. zum Beispiel ein Selbstporträt von Robert Cornelius oder eines von Sully in Frizot 1994: 55, 114). Ebenso typisch war es, dass Fotografen sich auf Selbstporträts beim Malen abbildeten. Das erklärt sich nicht nur über die anfänglich stark ausgeprägte Medienkonkurrenz zwischen Malerei und Fotografie, sondern auch darüber, dass die frühen Fotografen häufig noch ausgebildete Maler waren (vgl. hierfür das Selbstporträt von Gustave Le Gray in ebd.: 107). 48 Auf den konventionellen »cartes de visites«-Porträts von Malern, die auch als Sammelbilder verkauft wurden, sind die Maler dagegen meist mit dem Pinsel oder der Palette in der Hand und in stolzer Pose neben oder vor ihrer Staffelei dargestellt. Damit wird an Selbstdarstellungen des Künstlers aus der Malerei angeknüpft (vgl. McCauley 1985: 81).

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Abbildung 11: Nadar Ernestine (ca. 1854-55)49

Zusammenfassend kann man also sagen, dass Nadar auf die Ungezwungenheiten und die Aufmerksamkeit des Porträtierten Wert legt, sich auf den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung konzentriert und darüber hinaus fast ausschließlich mit der Wirkung des Lichtes arbeitet. Außerdem macht er, gemessen an der damaligen Zeit, Abzüge in ungewöhnlich großem Format, ca. 30 x 24 cm, und versucht, sein Material optimal zu präparieren, um nachher auf Retusche verzichten zu können.50 Sowohl das große Format als auch das Absehen von Nachbearbeitung steigern wiederum die Unmittelbarkeit der Darstellung und machen aus Nadars frühen Porträts eher »Zustandsabnahmen« als dauerhafte Insignien der Porträtierten. Bewies Nadar in seinen Künstlerporträts einerseits ein hohes Maß an Feinfühligkeit seinem Medium gegenüber und verstand er es auch, seinen Möglichkeiten gerecht zu werden, so wusste er die Fotografie ebenso zu kommerziellen Zwecken zu

49 Abbildung in: Heilbrun 1995: Tafel 40. 50 Vgl. Heilbrun 1995a: 36, 40.

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nutzen. Dafür schwor er seinem auch schriftlich niedergelegten Berufsethos in großen Teilen ab51 und machte Zugeständnisse an den breiten Publikumsgeschmack. Er ließ das Kolorieren von Bildern zu, beleuchtete stereotyp und setzte Atelierrequisiten wie den Säulenstumpf oder das Ziertischchen ein, »auf den die Modelle ihren Arm stützen sollten – eine Geste, so konventionell wie das Mobiliar selbst«.52 Zur gleichen Zeit begann Nadar, sich stärker für die Luftfahrt zu interessieren und verlegte seine Leidenschaft für die Fotografie mehr und mehr aus dem Atelier in die Luft und unter die Erde. Seit den frühen 1860er Jahren waren Visitkartenporträts aber eine gewinnbringende Einnahmequelle, sodass Nadar sich ebenfalls der »tyrannie du portrait-carte«53 unterwarf und der Bekanntheitsgrad seines Ateliers somit stetig wuchs. Nadars Interesse an der Fotografie nahm jedoch immer mehr ab, auch wenn er um 1870 aus finanziellen Schwierigkeiten begann, »le tout-Paris bourgeois et aristocratique et le monde du spectacle«54 zu fotografieren. Dabei bezog er seinen Sohn Paul, auf den er in den späten 1880er Jahren das Atelier nach und nach übertrug, immer stärker in die Arbeit mit ein.55 Die kommerzielle Produktion des Ateliers, so kann man es mit André Jammes zusammenfassen, verkehrt »im Laufe fast eines ganzen Jahrhunderts die Pionierarbeit des Meisters in ihr Gegenteil […], um es dem Zeitgeschmack anzupassen«.56 In den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, also zu der Zeit der Übergabe des Ateliers an Paul Nadar, lässt sich auch die Familie Proust wiederholt in den Ateliers Nadar fotografieren.57 Von diesen Aufnahmen sind u.a. zwei Bilder von Prousts Mutter erhalten, die eine erste Annäherung an die nachfolgend präzisierte Ästhetik des konventionellen Visitkartenporträts ermöglichen. Es handelt sich um zwei Aufnahmen, die beide am 5. Dezember 1904 gemacht wurden (siehe Abbildung 12 a-b). Madame Proust ist auf den beiden Fotografien in unterschiedlicher Kleidung, jedoch nahezu identischer Haltung abgebildet. Ihr Haar ist aufwendig frisiert und Kopf und Körper sind leicht nach rechts gedreht, ihr Blick verläuft nach schräg vorne rechts, das heißt an der Kamera vorbei. 51 1857 hatte Nadar einen programmatischen Text mit dem Titel Revendication verfasst (vgl. ebd.: 50). 52 Ebd.: 51. 53 Sagne 1994: 111. 54 Bernard/Blondel 1977: 5. 55 Vgl. Nadar 1994: 380f. 56 Jammes 1995: 121. 57 Vgl. Bernard/Blondel 1977: 8, 9. Schon als kleines Kind wird Marcel Proust regelmäßig beim Fotografen porträtiert, da seine Mutter darauf achtete, eine dichte »Familienikonographie« zu erstellen. Auch als Erwachsener geht Proust oft zum Fotografen. Neben dem Atelier von Nadar frequentierte er auch andere bekannte Fotostudios seiner Zeit (vgl. Brassaï 1995: 24ff.).

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Abbildung 12 a-b: Paul Nadar Madame Proust (5. Dezember 1904)58

Die von der einen zur anderen Aufnahme gewechselte Kleidung bei kaum unterscheidbarer Haltung verdeutlicht einerseits die starke Konventionalisierung der Posen für Porträtaufnahmen und führt andererseits vor Augen, dass der Besuch beim Fotografen ein besonderer Anlass war, zu dem man in Feiertagsgarderobe erschien.59 Die Gegenüberstellung der beiden Fotografien gibt aber vor allen Dingen Auskunft über die gängigen Nachbearbeitungen, da eine unretuschiert, die andere aber retuschiert ist. Hatte sich Félix Nadar noch mit jeglicher Art von Eingriff am Positiv zurückgehalten, verwandelt die Retusche auf den Bildern des Sohnes Paul Madame Proust vom unretuschierten zum retuschierten Bild in eine rund zwanzig Jahre jüngere Frau. Auf dem linken Bild ist ihr Gesicht stark von Falten und Augenringen gezeichnet und wirkt im Ganzen recht eingefallen, auf dem rechten Bild strahlen die Wangen, Augen und das Kinn dagegen sichtbar geglättet und aufgehellt, die Haut wirkt rosig und fest. Auch das Haar hat durch weiße Glanzlichter an Vitalität und Spannung gewonnen. Auch wenn die inszenatorischen Eingriffe auf den Bildern von Madame Proust noch auf die Retusche begrenzt sind und für die Aufnahmen keine Szenerie konstruiert wurde, die vorgibt, etwas anderes als das Atelier eines Fotografen zu sein, deuten sie bereits an, dass die Wirklichkeit auf den kommerziellen Porträts eine Kulisse ist. In Timm Starls Worten hatten die damaligen Atelierporträts »nie die Funktion einer angemessenen Wiedergabe der Wirklichkeit«,60 sie waren vielmehr Sta58 Abbildung in: Bernard/Blondel 1977: 8. 59 Vgl. auch die Beschreibung des Besuchs beim Fotografen in Starl 1991a: 50. 60 Starl 1991b: 43.

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tussymbole, die durch einen hohen Grad an Konformität in der Darstellung ein Gefühl der sozialen Zugehörigkeit erzeugten. Die Voraussetzung dafür war die bereits erwähnte Erfindung des Visitkartenporträts von Disdéri. Sie machte das fotografische Porträt nicht nur für das Bürgertum erschwinglich, sondern wurde auch zu einem »vecteur de nouveaux rapports sociaux«.61 Entscheidend dafür war das kleine, etwa der Größe von Visitenkarten entsprechende Format (5,5 cm x 9 cm, das sich beim Aufzug auf Karton um jeweils ca. 1 cm erweiterte) und die von Disdéri entwickelte Kamera, mit der es möglich war, acht Aufnahmen auf ein und dasselbe Negativ zu bringen.62 Das handliche Format der Porträtaufnahmen war für eine Sammel- und Tauschtätigkeit vorgesehen, die wiederum an bestimmte Darstellungskonventionen gebunden war. Da das Porträt sich durch diesen Gebrauch aus der Privatsphäre heraus bewegte und zu einem öffentlichen Gegenstand wurde, nahm man Posen ein und stattete sich mit Attributen aus, die man für angemessen hielt. Dabei ging es keineswegs um eine authentische Wiedergabe des eigenen lebensweltlichen Zustands, das heißt, es ging nicht darum, über das Foto die individuellen Leistungen, Güter oder Verbindungen zu illustrieren. Im Gegenteil, der gesamte Aufnahmevorgang war so stark konventionalisiert und von der Mimik über den Kleidungsstil bis zum stilisierten Interieur vorgegeben, dass die Porträts eine gleichmachende vorrangig gesellschaftlich zu verstehende Wirkung hatten, die mitunter aber auch dazu führte – so will es eine Anekdote von Nadar – dass die Porträtierten sich selbst nicht wiedererkannten.63 Abgesehen von solchen, im Nachhinein exemplarisch scheinenden Einzelfällen war das Atelierporträt aber vor allem ein gesellschaftlicher »Gleichmacher«, durch den gerade das keineswegs geeinte Bürgertum eine Stabilität seiner Werte und Ziele vorgeben konnte, die nicht den realen Verhältnissen entsprach. Zwar war das Großbürgertum die finanzstarke Klasse, doch wurden die repräsentativen Herrschaftsfunktionen und Machtpositionen noch oft durch den Adel vertreten. Das wiederum konnte dazu führen, dass sich die Bürgerlichen vom Adel absetzen wollten oder ihm, im Gegenteil, nacheiferten und sich Herkunft zu ihrem Reichtum durch Heirat zu erkaufen suchten. Zudem gab es innerhalb des Bürgertums extreme Unterschiede in Lebensformen und -möglichkeiten. Das Porträt des erfolgreichen Großbürgers diente also auch als Vorbild für den Kleinbürger, der sich durch die gleiche Darstellungsweise auf eine Stufe mit ihm heben und die eigentlichen Unterschiede der Le61 Sagne 1994: 110. 62 Für eine genauere Herleitung der technischen Entwicklung und der Verbindung zur Tradition der Visitenkarte siehe McCauley 1985: 28ff. 63 In seinen Mémoiren schildert Nadar die Begegnung mit einem Kunden, dem er versehentlich das Porträt eines anderen vorgelegt hatte, ohne dass sein Gegenüber daran zweifelte sein eigenes Abbild zu inspizieren und es noch als ausgesprochen getroffen zu beurteilen (vgl. Nadar 1994: 166f.).

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bensstandards verdecken konnte. Der Adlige und Machthaber mit prominentem Namen bediente wiederum die Darstellungskonventionen, um sein Porträt als Sammelbild unter das Volk zu bringen.64 Timm Starl schließt deshalb aus der Stereotypie der Atelierporträts, dass sie im Gegensatz zu der Zeit stehen, in der sie entstanden,65 oder, anders gesagt, das Bürgertum über die Bilder seine eigenen Werte – Individualisierung und Innovation – negierte. Die stärkste Ähnlichkeit, die durch diese Porträts entstand, ist also die zwischen den Bildern66 und nicht die zwischen Referent und Foto, obwohl sie als Visitenkarten sowohl die Identität des Einzelnen auswiesen und als Modeerscheinung die Selbstdarstellung des Bürgertums stärkten.67 Der Grund für das Klischeehafte der Porträts ist der gesellschaftliche Umlauf, in den die Aufnahmen gerieten, sobald sie das Labor und das Atelier verlassen hatten. Als Sammelbilder wurden sie in eigens dafür vertriebenen Steckalben abgelegt, die im Empfangszimmer an prominenter Stelle platziert und bei Besuchen vorgeführt wurden. Neben den Fotografien von Verwandten und Bekannten wurden auch Visitkartenporträts von bekannten Persönlichkeiten gesammelt, sodass jeder seine tatsächliche Entourage um die gewünschte oder verehrte erweitern konnte. Auch Marcel Proust unterlag dieser Sammelleidenschaft und wenn bei ihm das ästhetische zu dem repräsentativen Interesse hinzukam, so scheint er doch ein sehr hartnäckiger Vorführer seiner Sammlung gewesen zu sein.68 Er gebrauchte die Bilder also nicht ausschließlich als Anregung für seine Figuren69 und Reflexionen über Ähnlichkeit, sondern auch im alltäglichen und freundschaftlichen Umgang. Viele der Personen, nach denen Proust seine Figuren in der Recherche entwickelt hat, sind inzwischen identifiziert und mit von Paul Nadar stammenden Porträts in Sammelbänden zusammengetragen.70 Allerdings handelt es sich bei den literarischen Versionen um Kompositporträts,71 sodass sich allenfalls Ähnlichkeiten zwischen Einzelheiten der abgelichteten Personen und den nach ihnen entstanden Figuren ausmachen lassen. 64 Vgl. Starl 1991b: 31. 65 Vgl. ebd.: 27. 66 Vgl. Starl 1991a: 51. 67 Außerdem muss noch einschränkend angemerkt werden, dass gerade die Rigidität der Konventionen schon die leichtesten Abweichungen von ihnen zu Manifestationen der Individualität werden lassen (vgl. Sagne 1994: 112, 123ff.). 68 Brassaï hat aus Prousts Korrespondenz und aus Biographien von Zeitgenossen einige Aussagen zusammengetragen, die davon zeugen, dass nicht alle, denen Proust seine Sammlung zeigte, davon in demselben Maße angetan waren wie er selbst (vgl. Brassaï 1997: 34ff.). 69 Vgl. Adams 2000. 70 Vgl. Adams 2000, Bernard/Blondel 1977, Hartmann 1991, Clarac 1965. 71 Vgl. Edwards 2008: 81. Danièle Gasiglia-Laster vergleicht Prousts Methode der Figurengenerierung aus diesem Grunde mit der des Doktor Frankenstein (vgl. Gasiglia-Laster

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Abbildung 13 a-b: Paul Nadar Madame Benardaky (30. Juni 1891)72

Abschließend sollen nun noch zwei Fotografien von Madame Benardaky betrachtet werden. Sie stellt eine der historischen Komponenten dar, nach der die Figur Odette de Crécy in der Recherche entwickelt wurde. Diese für ihre ausschweifende Lebensweise und ihre üppigen Salons bekannte Pariser Berühmtheit, die Marcel Proust über eine ihrer Töchter kennenlernte, ließ sich im Juni 1888 und am 30. Juni 1891 von Paul Nadar fotografieren. Von diesen Besuchen beim Fotografen sind u.a. zwei unbeschnittene Abzüge überliefert, die in dieser Form sicher nicht das Atelier verlassen hätten (siehe Abbildung 13 a-b). Für den hier verfolgten Zusammenhang eignen sie sich aber besonders gut, da sie eine der Hauptkonventionen sichtbar machen – die

1992: 17). In der Geschichte der Fotografie gibt es auch ein Verfahren, das man Kompositfotografie nennt. Ende des 19. Jahrhunderts diente es als kriminalistische Identifikationsmethode. In seinem Vortrag über »Die Photographie Albertines. Stillstellung und Bewegung zwischen Ästhetik und Kriminalistik« brachte Nitsch diese Methode mit dem Blick des Erzählers auf Albertine in Verbindung und stellte sie einer anderen weit verbreiteten fotografischen Darstellungsweise von Tätern gegenüber – der Bertillonage. Zur Bertillonage gehörte u.a. eine standardisierte fotografische Erfassung des mutmaßlichen Täters von vorne und im Profil, während bei der Kompositfotografie mehrere Bilder übereinander gelagert wurden, um sich der potentiellen Physiognomie des Täters anzunähern. Im Gegensatz zur Bertillonage, bei der Details gleichwertig neben das Hauptsächliche treten, versucht die Kompositfotografie das »Wesen«, das »Typische« des Täters auszumachen. 72 Abbildung in Bernard/Blondel 1977: S. 11.

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Ausstattung des Atelierporträts als Kulisse. Auf dem ersten Bild bricht das Treppengeländer am linken Bildrand nach den ersten Stufen ab und die Mauer, vor die es gefügt ist, endet am rechten Bildrand kurz nach dem zweiten Pilaster. Der Boden ist ebenfalls nur vor dem Wandstück und um die Porträtierte mit Kiesel bestreut und wird am unteren Bildrand, nach vorne hin, lichter. Auf dem zweiten Porträt ist dagegen zu sehen, dass es sich bei dem Hintergrund um einen auf Leinwand gemalten Ausblick über eine Waldlandschaft handelt, deren Aufhängung in den oberen Bildrand hineinragt. Das Mauerstück mit Treppenaufgang und der illusionistisch bemalte Leinwandhintergrund gehören neben dem Säulenstumpf und in das Bild fallenden Vorhängen und Möbelstücken wie Tisch, Stuhl und Kamin zu den gängigsten Beigaben der Atelierporträtfotografie.73 Zusammen mit den aufwendigen Kleidern machen sie aus der abgebildeten Person nahezu eine Nebensache. Im zweiten Porträt ist Madame Benardaky darüber hinaus als Walküre kostümiert, sodass ihre Person vollständig hinter einem mythologischen Typus zu verschwinden scheint. In der zugeschnittenen Version sieht die gesamte Fotografie und nicht nur der Hintergrund vermutlich wie eine Malerei aus. In jedem Fall aber sind die Gesichtszüge und Körperformen der Porträtierten neben der Ausstattung des Bildes kaum auszumachen. Daran ändert auch die zugeschnittene, auf die Figur konzentrierte Version des ersten Bildes nichts: Im Gegenteil lenkt auch der nach unten gesenkte Blick und die Haltung der Hände die gesamte Aufmerksamkeit auf das Kleid, sodass man meinen könnte, es sei keine lebendige Frau, sondern eine Schaufensterpuppe, die hier für Nadar posierte. Doch die Zeitgenossen wussten das Kleid als ausgefallene Kreation des Pariser Haute Couturier Worth zu identifizieren, das die »beauté sculpturale«74 von Madame Benardaky ideal entfaltete. Für sie war die Ausstattung also kein Hindernis bei der Ausweisung der Porträtierten, sondern eine Untermalung, die zugleich Anhaltspunkte ihres gesellschaftlichen Status mitlieferte. Der Zweck des Visitkartenporträts wäre damit auf eine idealtypische Weise erfüllt: Madame Benardakys Erscheinung wird durch Kleidung und Hintergrund zu einer Allegorie ihres Zeitgeistes. An ihr zählt nicht das Partikulare, sondern ausschließlich gesellschaftliche Attribute. Fotografie und Eigenname In der Recherche werden Eigennamen und Fotografien immer wieder vor dem Hintergrund ihres Realitätsbezugs parallel gesetzt und hinterfragt. Zwar verweisen sie auf eine ganz bestimmte Person, fixieren ihre Züge und stehen so in diesem unwiderruflichen Kontakt zu ihrem Referenten. Solange sie bei einem Hörer oder Be-

73 Vgl. Starl 1991b: 31. 74 Bernard/Blondel 1977: 11.

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trachter keine zusätzlichen Bedeutungen wachrufen, bleibt ihre Referenz also denotativ. Geleichzeitig werden sie aber auch auf diesen einen Referenten beschränkt und kippen durch symbolische, assoziative oder imaginierte Zuschreibungen sehr leicht in referentielle »Ankerlosigkeit«. Diese Zuschreibungen verschütten die realen Bezugspunkte von Eigennamen und Fotografien gewissermaßen unter Vorstellungen, Wünschen und Erwartungen. Was passieren kann, wenn man Namen als Bezeichnungen auffasst, die nur durch die denotative Referenz mit der Lebenswelt, aus der sie stammen, verbunden sind, kann eine Vorliebe Swanns verdeutlichen. Swann, der Nachbar des Erzählers aus Kindheitstagen und lange Zeit eine Art gesellschaftliches Chamäleon, macht sich nach seiner Hochzeit mit der demi-mondainen Odette de Crécy ein Vergnügen daraus, ohne Rücksicht auf jegliche gesellschaftliche Zugehörigkeit, Personen aus den unterschiedlichsten Kreisen, »prises ici et là«,75 zusammenzubringen. Bei ihm ist es nicht das mangelnde Feingefühl, das ihn die persönlichen Zuschreibungen der Namen ignorieren lässt, da er sowohl die mondäne »gymnastique du ›Faubourg‹«76 beherrscht als auch die gutbürgerliche éducation bedienen kann. Da er sich problemlos in verschiedensten Gesellschaften bewegt, kennt er deren Zusammensetzungen und den Verlauf ihrer unsichtbaren Grenzen. Wie der Anfang des Satzes über seine Vorliebe für heterogene Gästelisten klarstellt, weiß Swann auch darum, dass Namen in die Gesellschaft eingeschrieben sind und ein »simple plaisir de lettré et d’artiste«77 befriedigen können, wenn man sich damit begnügt, die Zuschreibungen historisch zu entziffern. Aber nachdem er seinen Ruf durch die Heirat mit Odette, wenn auch nicht vollständig ruiniert, so doch stark beeinträchtigt hat, nimmt er sich die Freiheit, seinem »divertissement assez vulgaire«78 nachzugehen, bei dem er Namen wie Bilder in einem Steckalbum kombiniert und Personen von hohem Rang mit solchen aus dem Kreis seiner Frau zu sich einlädt. Da er in gesellschaftlicher Hinsicht nichts mehr zu verlieren hat, vergnügt er sich damit, seine Erfahrungen und Kenntnisse über die Namensträger gezielt zu ignorieren, die Namen somit künstlich wieder auf ihre denotative Referenz zurückzusetzen und ganz nach seinem Geschmack »bouquets sociaux«79 zusammenzustellen. An einer anderen Textpassage lässt sich nachvollziehen wie Eigenname und Visitkartenporträt durch einen assoziativen Überschuss aus ihren lebensweltlichen An75 Proust 2008: 415. 76 Ebd.: 891. Die Anpassungsfähigkeit des konvertierten Juden Swann (vgl. ebd.: 269) kann dem jungen jüdischen Schriftsteller Bloch gegenübergestellt werden, dessen Unzugehörigkeit zu den vornehmen Kreisen des Faubourg Saint-Germain laufend hervorsticht und nur für einen »amateur d’exotisme, aussi étrange et savoureux à regarder« bleibt (ebd.). 77 Ebd.: 415. 78 Ebd. 79 Ebd.

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geln kippen, wobei die denotative Referenz durch imaginäre Referenzen nachträglich aufgeladen wird. Der Absatz findet sich im Laufe der Beschreibung eines Neujahrstages, den der jugendliche Erzähler, seine Mutter und deren Köchin Françoise damit verbringen, der Bekanntschaft Besuche abzustatten. Am Ende der Besuche gehen der Erzähler und Françoise auf die Champs-Elysées und kaufen Visitkarten mit Fotografien. Für Françoise erwerben sie Karten mit Abbildungen von Pius IX und Raspail, für den Erzähler eine Karte der von ihm verehrten Schauspielerin Berma. Gemessen an der Fülle der bewundernden Blicke scheint dem Erzähler die Abbildung der Berma etwas armselig, da sie den Betrachtern des Fotos immer nur das gleiche Gesicht, »immuable et précaire«,80 entgegenbringen kann. Denn die Unbeweglichkeit des Gesichts ist ja tatsächlich nur eine des Bildes, wohingegen das eigentliche Gesicht nur einen kurzen Moment während der Aufnahme in dieser Haltung verharrt hat und inzwischen sogar die, auf der Fotografie so unveränderlich wirkenden physischen Züge, wie es am Ende des Satzes heißt, längst einer Verbrennung oder einem Stoß ausgesetzt gewesen sein könnten.81 Zudem ist der Gesichtsausdruck der Berma, »coquettement tendre«82 und das Lächeln »artificieusement ingénu«,83 das heißt eigens für das Foto eingerichtet und scheint insofern alles andere als die Bewunderung für die Person zu rechtfertigen. Dementsprechend fühlt sich der Erzähler auch nicht von dem abgebildeten Gesicht angezogen, sondern von der Vorstellung der vielen Küsse, die das Gesicht dieser »carte-album« bereits angezogen hat.84 Die Konventionen des Porträts und der »couvert du personnage de Phèdre«85 – die Berma ist in ihrer bekanntesten Rolle abgebildet – transponieren den Referenten des Fotos, wodurch das tatsächliche Gesicht der Schauspielerin seiner eigenen Abbildung im Grunde nicht mehr standhalten kann und durch die eindimensionale Referenz zu ihr verkümmert. Erst der vom Erzähler imaginierte Direktkontakt zwischen dem Bild und seinen Bewunderern gibt ihm eine Aura, die allerdings nur noch wenig mit der Aura der eigentlichen Person oder einer authentischeren Abbildung von ihr86 zu tun hat. Im Folgesatz wird auch der Name der Berma unter diesen Prozess der oktroyierten Auratisierung

80 Ebd.: 389. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd. 85 Ebd. 86 Eine solche, unmittelbarere Darstellungsweise veranschaulicht ein berühmtes Foto, das Nadar von Sarah Bernhardt gemacht hat, die u.a. als historisches Äquivalent der Berma identifiziert wird (vgl. Proust 1987: 1136 und für das Foto Heilbrun 1995, Abbildung 86 und 87).

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subsumiert, da der »prestige de son nom«87 nicht aus sich heraus strahlt, sondern von dem Erzähler durch seine Anziehungskraft für Bewunderung und Sehnsüchte konstruiert wird.88 Die beiden Passagen haben gezeigt, dass Fotografien und Eigennamen in der Recherche mit einem »seidenen Faden« an ihren Referenten hängen, der jederzeit Gefahr läuft, durch ein Übermaß an Vorstellung zu reißen oder sich durch Konventionen und historische oder symbolische Zuschreibungen zu »verheddern«. Beides verwässert den Präsenzgehalt des Fotos oder des Eigennamens, wodurch sowohl der Moment der Aufnahme als auch das Wesen der leiblichen Person in den Hintergrund rücken.89 In einer Reflexion über die Wahrnehmung der unmittelbaren Welt im zweiten Kapitel des vorletzten Romans der Recherche, Albertine disparue, expliziert der Erzähler das Verhältnis von Fotografien und Eigennamen mit ihren lebensweltlichen Referenten. Der zentrale Satz dieser Überlegung setzt Eigennamen und Fotografie auf eine Stufe und lautet: »Notre tort est de présenter les choses telles qu’elles sont, les noms tels qu’ils sont écrits, les gens tels que la photographie et la psychologie donnent d’eux une notion immobile«.90 Die Distanzierung von Eigennamen und Fotografien zu ihren Referenten ist also der verstandesmäßige Normalzustand, dessen Mangelhaftigkeit nur in seltenen Fällen aufgedeckt wird. Auch wenn sich Swann und der Erzähler in den zuvor angeführten Passagen dieses Fehlers im Grunde gewahr sind oder ihn zumindest erahnen, leiten sie nicht die Konsequenzen ein, die ihn beheben würden: Swann, der genau um die Personen und den Kontext weiß, die sich hinter den Namen verbergen, berücksichtigt sie nicht in seinem Umgang mit ihnen, sondern nutzt sein Wissen für ein schadenfrohes Vergnügen über den Unwillen, den er damit bei den Namensträgern erzeugt. Und 87 Proust 2008: 389. 88 Vgl. ebd. 89 Diese Instabilität der denotativen Referenz äußert sich auf der Ebene der ›histoire‹ der Recherche u.a. auch über die zahlreichen Namensverwechslungen. So sind Eulalie und Françoise nicht in der Lage, Madame Sazerin bei ihrem richtigen Namen zu nennen, und beharren statt dessen auf »Madame Sazerat« (vgl. ebd.: 64, 2036), die Großmutter des Erzähler bringt – zum Vergnügen des Rests der Familie – die Namen der Adelsgeschlechter durcheinander (vgl. ebd.: 90), in Doncière wird der Erzähler fälschlicherweise ans Telefon gebeten, weil ein anderer Hotelbewohner einen ähnlichen Namen hat wie er (vgl. ebd.: 851), der Duc de Guermantes nimmt seine Tante Madame de Villeparisis aufs Korn, indem er sich bei ihr als Prinzessin von Schweden ankündigen lässt (vgl. ebd.: 894) und der Erzähler wird verschiedentlich für jemand anderen gehalten. Die Hofdame der Prinzessin von Parma nimmt etwa an, er sei mit dem Admiral Jurien de la Gravière verwandt, und ein Freund der Guermantes denkt, er sei gut mit der Cousine von Madame de Chaussegros bekannt (vgl. ebd.: 1128), usw. 90 Ebd.: 2036.

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der Erzähler, der sich beim Anblick des Porträts der Berma darüber klar wird, wie wenig es mit ihrem tatsächlichen Gesicht zu tun hat, begnügt sich nicht damit, es als ein (Ab)bild anzuschauen, sondern füllt es in seiner Vorstellung mit einer künstlichen, von seiner Verehrung abgeleiteten Aura an. Im ersten Band der Recherche gibt ein am Rande erwähnter Vorfall Auskunft darüber, woher der zunächst entlarvende Blick des Erzählers auf die Fotografie der Berma rührt und verdeutlicht sein Wissen um die Distanz zwischen fotografischem Abbild und Person. Am Ende einer der alljährlichen Familienaufenthalte in Combray steht ein Besuch beim Fotografen an, für den der junge, zum ersten Mal von schwärmerischer Verliebtheit befallene Erzähler mit einem noch nie getragenen Hut, einer ordentlich gekämmten Frisur und einer Samtjacke ausgestattet wird. Alles andere als froh über seine propere Aufmachung, entflieht er seinen Eltern und reißt sich auf dem Anstieg zu dem Anwesen, das seine Verehrte Gilberte Swann bewohnt, die sorgfältig angelegte Kleidung vom Leib. Seine Mutter findet ihn in einer verzweifelten Umarmung mit dem Weißdorn am Wegesrand, der für den Erzähler in einer direkten Verbindung mit Gilberte steht und dem er an ihrer statt die Treue schwört. In der Beschreibung der Auffindungsszene wird deutlich, wie sehr der junge Porträtanwärter bereits unter den Vorbereitungen des Fotografenbesuchs leidet und wie wenig sie mit seiner Natur zu tun haben, auch wenn sie sich direkt an seinem Körper vollziehen. Die am Boden liegende, zertrampelte Festtagskleidung steht hier für eine abgestoßene und zuschnürende Konvention, der eine Berührung mit der Natur vorgezogen wird. Ein eingeschobener Vergleich, der den Erzähler zu einer »princesse de tragédie à qui pèseraient ces vains ornements«91 erhebt, weist die Zurechtmachung des Heranwachsenden nicht nur als überflüssig aus, sondern stellt auch einen Zusammenhang mit der Fotografie der Berma her.92 Auf dem Porträt, das der Erzähler später auf den Champs-Elysées in den Händen hält, trägt die »princesse de tragédie« zwar keinen Schmuck, aber ihr aufgesetztes Lächeln hat hier den gleichen Status wie für das Foto aufgetragener Zierrat. Obwohl der Erzähler also bereits im Kindesalter am eigenen Leib erfahren hat, dass der Besuch beim Fotografen nichts mit dem eigentlichen Befinden und die aus dem Besuch resultierenden Aufnahmen fast genauso wenig mit der eigentlichen Erscheinung zu tun haben, weiß er das stark relativierte Faszinosum gegenüber dem konventionellen Porträt, im Falle der Aufnahme der Berma, durch eine mentale Verschiebung künstlich aufrechtzuerhalten.

91 Ebd: 121. 92 In der Beschreibung des Erzählers wird in dieser Passage auf Verse aus dem ersten Akt von Racines Phèdre angespielt: »Que ces vains ornements, que ces voiles me pèsent! / Quelle importune main, en formant tous ces nœuds / A pris soin sur mon front d’assembler mes cheveux ?« (vgl. Proust 1987: 1166).

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Die Ursache für die gezielt auf das Foto applizierten Illusionen liegt in den mangelnden tatsächlichen Begegnungen des Erzählers mit Schauspielerinnen und seinem im Vergleich dazu äußerst geübten Umgang mit ihren Namen und Porträts. Als Schuljunge hat er eine Leidenschaft für das Schauspiel entwickelt, die er durch tägliche Visiten an einer Litfaßsäule mit Theaterplakaten und das Studium von Porträtkarten bekannter Schauspielerinnen entfacht. Die von den Namen und Fotografien markierte Absenz der verehrten Wesen wird dabei durch eine verstärkte Materialität der Zeichen aufgefangen, die auf sie verweisen. So regt etwa »la couleur des affiches encore humides et boursouflées de colle«,93 auf denen die Namen, Stücke und Schauspieler angekündigt werden, die Vorstellung des Erzählers an. Auch erstellt er nach den Informationen, die er mit den Namen verbindet, Rangordnungen in Form von Listen, die er im Geiste wiederholt und »qui avaient fini par durcir dans mon cerveau et par le gêner de leur inamovibilité«.94 Die nahezu fleischlichen Namensträger in Form von aufgequollenem Plakatpapier korrespondieren mit den rippenartig ausgehärteten Namenslisten und bilden eine Art Ersatzkörper, der von dem Erzähler kaum noch von den tatsächlichen Körpern, auf die sie verweisen, zu unterscheiden ist. Dementsprechend physisch reagiert der Erzähler auf einzelne Namen »d’une étoile flamboyante à la porte d’un théâtre«,95 die ihn in ein »trouble plus prolongé«96 versetzen und ihm unter Kraftanstrengungen und Schmerzen seine Phantasien abringen.97 Dass der Erzähler in dieser Lebensphase kaum zwischen Namen und Fotografien und ihren Referenten unterscheidet, verdeutlich auch die kurz darauf geschilderte Zufallsbegegnung mit einer »dame en rose«98 bei seinem Onkel Adolphe. Insgeheim darauf spekulierend, eine der vielen Schauspielerinnen zu treffen, mit denen sein Onkel verkehrt, stattet der für das Theater fiebernde Erzähler diesem einen unangekündigten Besuch ab.99 Dort trifft er auf Odette de Crécy, deren Name ihm allerdings von Adolphe vorenthalten wird, und stellt bei ihrem Anblick enttäuscht fest, dass sie keineswegs dem »aspect théâtral que j’admirais dans les photographies d’actrices«100 entspricht. Im Gegensatz zum Erzähler, dessen Name ebenfalls unausgesprochen bleibt,101 bestätigt sich für die Besucherin des Onkels beim direkten 93 Proust 2008: 66. 94 Ebd.: 67. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd. 98 Ebd.: 71. 99 Vgl. ebd.: 68. 100 Ebd.: 69. 101 Sylvie Pierron reiht diese erste Vorstellungsszene in die Serie der von ihr so betitelten »non-présentations« des Erzählers ein, die so konzipiert sind, dass der Name des Erzäh-

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Anblick des Neffen ihres Liebhabers der Eindruck, den sie bereits durch eine Fotografie von ihm gewonnen hatte. Trotz des Einwands von Adolphe beharrt sie darauf, dass der Junge seiner Mutter ähnlich sieht, was sie vorher bereits anhand der beiden Fotografien von Sohn und Mutter auf dem Kamin festgestellt hatte. Wie ein Kommentar Odettes zu einer Begegnung mit der Mutter des Erzählers verdeutlicht, deformiert sich der Realzusammenhang der denotativen Referenz in ihrem Verständnis zu einer vollkommenen Übereinstimmung zwischen fotografisch abgebildeter und direkt wahrgenommener Person. Das suggeriert zudem die Blitzlichtmetapher in der Beschreibung, die Odette von der Begegnung mit der Mutter gibt: »Il est vrai que je ne l’[ die Mutter des Erzählers] ai vue que le temps d’un éclair et que votre escalier [die Treppe zu Adolphes Wohnung] est bien noir, mais […]«.102 In der Enttäuschung des heranwachsenden Erzählers deutet sich die denotative Referenz zwischen Fotografie und Modell hingegen durch die Relativierung seiner Vorstellung an. Er merkt nicht nur, dass die anwesende Person keineswegs mit dem von ihm phantasierten Referenten der »photographies d’actrices« übereinstimmt, sondern wird bei dem Anblick von Odette zusätzlich auf ein ihm sehr vertrautes, ganz im Gegensatz zu seinen Vorstellungen stehendes Milieu zurückgeworfen. Die Gesichtszüge der »cocotte« in Adolphes Büro erinnern ihn an die Tochter einer seiner Cousins, sodass er, wenn er die üppige Kutsche und die Kleidung in Gedanken abzieht, fast annehmen könnte, er mache einen regulären Besuch bei Verwandten.103 Tatsächlich ist aber u.a. die »dame en rose« ein Grund dafür, warum die Familie des Erzählers letztlich mit dem Onkel Adolphe bricht. Auch nach dessen Tod bleiben die Schauspielerinnen und Kurtisanen, mit denen er verkehrte und deren Fotografien er sammelte, »les dernières images de cette vie de vieux viveur qu’il séparait, par une cloison étanche, de sa vie de famille«.104 Jahre später gelangt der Erzähler über den Sohn des ehemaligen Dienstboten seines Onkels, Charles Morel, in den Besitz von dessen Fotografien, unter denen sich auch eine von Odette befindet, die er inzwischen gut kennt und deren damalige Identität er erst jetzt über das Foto ermitteln kann.105 Die Odette, die er kennengelernt hat, trägt den Namen ihres Mannes Swann und unterscheidet sich so stark von seiner Erinnerung der »dame en rose«, dass er trotz des fotografischen Beweises Schwierigkeiten hat, in ihr ein und dieselbe Person zu erkennen.106

lers nie ausgesprochen wird (Pierron 2005: 218). Sie stuft die Anonymität des Erzählers als größte Destabilisierung des Namens in der Recherche ein (vgl. ebd.: 103). 102 Proust 2008: 69. 103 Vgl. ebd. 104 Ebd.: 948. 105 Vgl. ebd.: 950. 106 Vgl. ebd.

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Zunächst kann man damit festhalten, dass die leiblichen Referenten von Eigennamen und Fotografien für den Erzähler häufig enttäuschend sind und er einen immer wieder neu angesetzten Desillusionierungsprozess durchläuft, wenn er seine Vorstellungen zu Namen und Porträtfotos mit den dazugehörigen Personen abgleicht. Vorausgesetzt er kennt den Namen oder das Porträtfoto einer Person, bevor er auf sie trifft, erfindet er eine »fée«,107 so nennt er die vorgestellten Wesen weiblicher Namensträgerinnen, die den realen Personen nicht standhalten können. Erst nachdem er selbst einige Male diese Desillusionierung durchlaufen hat, schlussfolgert er, dass bei der Begegnung mit dem Referenten der Fee »le Nom […] n’est plus que la simple carte photographique d’identité à laquelle nous nous reportons pour savoir si nous connaissons, si nous devons ou non saluer une personne qui passe«.108 Die Sequenz der Betrachtung des Visitkartenporträts der Berma liegt zwischen zwei Theaterbesuchen, bei denen der Erzähler die Schauspielerin in ihrer Rolle als Phädra erlebt. Der erste Theaterbesuch findet vor der Einsicht statt, dass Namen sich durch die Anwesenheit ihrer Träger auf einen Identitätsverweis reduzieren, der dem einer Ausweisfotografie gleicht, der zweite Besuch danach. Außerdem hat sich die Schwärmerei des jungen Erzählers für die Schauspielerin zwischen den beiden Besuchen längst auf andere Frauen verschoben, sodass die von ihm imaginierte Fee des Namens Berma bei der zweiten Aufführung nur noch in seiner Erinnerung, nicht aber in seiner momentanen Vorstellung existiert.109 Beides sind Voraussetzungen für ein sich vom ersten zum zweiten Besuch diametral wandelndes Rezeptionsverhalten des Erzählers, das anhand einer ausdifferenzierten fotografischen Metaphorik veranschaulicht wird. Während der Betrachter bei der ersten Aufführung nicht fähig ist, die Ideen, die er in seinem Bewunderungseifer auf den Namen ›Berma‹ projiziert hatte, mit der leibhaftigen Person in Einklang zu bringen, wird der zweite Besuch zu einem regelrechten Präsenzeinbruch der Berma, gerade weil der Erzähler im Grunde nichts mehr mit ihrem Namen verbindet.

107 Ebd.: 754. 108 Ebd. 109 Jean Rousset kommt in seiner Analyse der Figureneinführungen zu dem Schluss, dass sie nach dem Schema eines »dédoublement de la première rencontre en deux volets séparés« aufgebaut sind (Rousset 1980: 50). Besonders bei Frauenfiguren, auf die der Erzähler trifft (in der Untersuchung von Rousset am Beispiel von Gilberte und Madame de Guermantes vorgeführt), stehen die beiden Teile der Einführung in einem Missverhältnis, das sich aus dem Verhältnis von Eigennamen und direkter Begegnung ergibt. Das heißt, die zu der Frau über den Namen von dem Erzähler imaginierte »fée« kann nicht mit der präsenten Person identifiziert werden. Die Einführung der Berma folgt entsprechend dem von Rousset entwickelten Schema.

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Aus der Perspektive des zweiten Besuchs, das heißt aus der des geläuterten Erzählers, liest sich der erste Besuch wie ein fehl gerichteter Aufnahmeprozess oder wie eine »technisch tadellos eingerichtete Rezeption«, deren Auswertung sich aber nicht mit den Vorstellungen vereinbaren lässt, die der Rezipient sich im Vorhinein gemacht hatte. Maßgeblich für eine solche Auslegung des ersten Theaterbesuchs ist eine Metapher, die während der Beschreibung des zweiten Theaterbesuchs an den ersten erinnert. Nicht ohne Bedauern stellt der Erzähler fest, dass ihm nichts mehr von seinem jugendlichen Eifer, seiner Aufmerksamkeit und seinem damals »comme ces plaques sensibles«110 präparierten Geist geblieben ist. Bezeichnenderweise werden die für den Vergleich herangezogenen Fotoplatten für die Aufnahme von Phänomenen in hoher Distanz, »en vue de l’observation scrupuleuse d’une comète ou d’une éclipse«,111 verwendet. Im übertragenen Sinne wären die »plaques sensibles« also eigentlich präpariert für die Aufnahme der weit vom tatsächlichen Bühnengeschehen angesiedelten Vorstellungen des jungen Betrachters. Aber da Ideen nicht fotografisch festgehalten werden können, schwingt in der Metapher vielmehr Selbstironie des gereiften Erzählers gegenüber seinen Vorstellungen von damals mit. Tatsächlich haben die sensibilisierten Platten im Geist des jungen Erzählers aber genau das aufgezeichnet, was vor Ort zu sehen war, und zwar gänzlich unbeeindruckt von den im Voraus konstruierten Ideen ihres Trägers. Ebenfalls aus der Retrospektive folgt der Fotoplatten-Metapher eine Auflistung der Dinge, die der junge Erzähler während seines ersten Besuchs wahrgenommen hat. Es stellt sich heraus, dass er im Grunde vollständig mit der Aufnahme von Nebenschauplätzen beschäftigt war, auch wenn er damals versuchte, sie als Ausstattung des Auftritts der Berma einzustufen. In der retrospektiven Auflistung dessen, was ihn während seines ersten Besuchs beschäftigte, nennt er dementsprechend »les contrôleurs à œillet blanc […], le soubassement de la nef au-dessus d’un parterre plein de gens mal habillés, les ouvreuses vendant un programme avec sa photographie [der Berma], les marronniers du square«.112 Diese als »compagnons« und »confidents de mes impressions«113 bezeichneten Aspekte zeugen nicht nur von einer visuell differenzierten, auf Details ausgerichteten Wahrnehmung des unmittelbaren Umfelds, sie decken am Rande auch auf, dass die eigentliche Hauptperson des ersten Theaterbesuchs nicht die Berma, sondern der Erzähler selbst war.114 Denn sofern man berücksichtigt, dass 110 Proust 2008: 780. Vgl. für die Technik Proust 1987: 1551f. 111 Proust 2008: 780. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Für diesen Fokus auf die eigene Person spricht auch der einleitende Kommentar über die Ausrichtung der Zuschauerplätze, wie Bryan Reddick bemerkt: »In all perception, then, one feels that he [der Erzähler] is the ›centre of the theatre‹, almost that he is the only spectator or at least that no one sees as well as he.« (Reddick 1969: 684).

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der Ausdruck »confidents« im dramentheoretischen Vokabular Nebenfiguren bezeichnet, denen von der Hauptfigur Intimitäten anvertraut werden, wäre der Erzähler der Protagonist des Abends, der die zu »confidents« personifizierten Nebenschauplätze in seine Ideen über das Theater einweiht. Im Gegensatz zum zweiten Theaterbesuch erkennt der junge Zuschauer während seines ersten Besuchs aber nicht, dass er die wahrgenommenen Einzelheiten unter seine im Voraus gefassten Vorstellungen von der Berma und dem Schauspiel an sich subsumiert. Erst rückblickend kommentiert der Erzähler, dass er diese Dinge schlicht »en retrait du monde de l’expérience courante«115 situiert hatte, obwohl sein Eindruck der ersten und der zweiten Interpretation der Phädra durch die Berma im Grunde der gleiche war.116 Der Grund für die verschobene Haltung der eigenen Wahrnehmung gegenüber ist ein stark ausgebildetes Misstrauen des jungen Erzählers gegenüber dem Blick. Bei der epistemologischen Auswertung seiner Wahrnehmung urteilt er visuelle Erscheinungen ab oder weiß sie nicht einzuschätzen, wohingegen er dem Klanglichen ein spezifisches Wahrheitspotential zuspricht. Diese implizite Hierarchisierung der Sinne in der Einleitung des ersten Theaterbesuchs gehört zu den Standardauslegungen der Berma-Passagen. So verweist etwa Jagendorf darauf, dass sich der Erzähler kurz vor Beginn der Vorstellung in einen »space dominated by sound« zurückzieht und legt dieses Verhalten als »last refuge of a consciousness afraid of vision«117 aus. Auch Danièle Gasiglia-Laster schlussfolgert aus den Beschreibungen der Vorfreude des Erzählers, dass »la Berma doive être entendue plus encore que regardée«.118 Als Grund für die Fokussierung auf das Gehör wird meist die intensive Begegnung des Erzählers mit dem Text von Racine angegeben, dessen Verse er schon lange bevor er damit rechnet, das Stück in einer Aufführung sehen zu dürfen, auswendig rezitieren kann.119

115 Proust 2008: 780. 116 Vgl. ebd.: 783. 117 Jagendorf 1995: 874. 118 Gasiglia-Laster 1992: 25. Auch die Enthüllung einer zusätzlichen historischen Vorlage für die Berma – die Sängerin Marie Brema – spricht für den Fokus auf die stimmlichen Qualitäten des Schauspiels, dem der Erzähler beiwohnt. Gasiglia-Laster rückt damit von der häufig vorgenommenen Gleichsetzung der Romanfigur mit der realen Schauspielerin Sarah Bernhardt ab und verlagert auch die Vorgabe des Talents: »Je [Gasiglia-Laster] crois plutôt qu’à un moment donné Sarah Bernhardt et Marie Brema ont fusionné pour transmettre à la Berma leurs qualités, celles d’une grande tragédienne et celles d’une grande cantatrice« (ebd.: 28). Pedro Kadivar hebt in seiner Interpretation der Bermapassagen allerdings den visuellen Aspekt hervor, nachdem er hören und sehen gegeneinander aufgewogen hat (vgl. Kadivar 2006: 11ff.). 119 Vgl. Proust 2008: 354, 356.

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Dem kann noch hinzugefügt werden, dass auch anderes Sprachmaterial den jungen Leser vor seinem ersten Theaterbesuch prägt, und zwar aus verschiedenen Quellen stammende Einschätzungen des Schauspiels der Berma. An ihnen bewegt ihn weniger die Klangqualität als vielmehr ihr Ideengehalt und auch sie wiederholt er im Stummen wie ausgestanzte Sätze. Zu diesen Sprachrealien gehört u.a. ein Urteil des Schriftstellers Bergotte, das im Laufe der Einführung des Theaterbesuchs zu einer Liste von Qualitätsmerkmalen kondensiert, die sich der Erzähler im Geiste vorspricht. Zunächst als vergriffener Druck eingeführt, der ihm von Gilberte Swann beschafft wurde, findet die Broschüre mit Bergottes Kommentar zur Berma bis zu dem Zeitpunkt keinerlei Erwähnung mehr, an dem der Erzähler auf dem Höhepunkt seiner Schwärmereien für die Schauspielerin steht. Neben den Versen aus dem Stück kommen ihm dann auch die Worte Bergottes wieder in den Sinn: »des mots de Bergotte – dans la plaquette retrouvée par Gilberte – qui me revenait à l’esprit: ›noblesse plastique, cilice chrétien, pâleur janséniste, princesse de Trézène et de Clèves, drame mycénien, symbole delphique, mythe solaire‹«.120 Zwei Absätze später und nachdem der Erzähler endlich die lang ersehnte Erlaubnis seiner Eltern für den Theaterbesuch erhalten hat, klingen sie als Echo nach, bevor sie ganz von Spracherzeugnissen aus dem Umkreis der Vorstellungspraxis abgelöst werden: »cinglé que j’étais par ces mots magiques qui avaient remplacé dans ma pensée ›pâleur janséniste‹ et ›mythe solaire‹: ›Les dames ne seront pas reçues à l’orchestre en chapeau, les portes seront fermées à deux heures‹«.121 Dieses und weitere Beispiele ähnlicher Art122 bewirken neben den Versen Racines ein sowohl klanglich als auch ideentechnisch stark vorgefertigtes Rezeptionsverhalten des jungen Lesers, das mit 120 Ebd.: 356. 121 Ebd.: 357. Vgl. zu dem zeitgenössischen Verbot für Frauen, mit Hüten im Parkett zu sitzen Proust 1987: 1332. 122 Hier ist vor allem die Zeitungslektüre des jungen Erzählers zu nennen. Im Voraus aus Zeitungen erhaltene Informationen über die selbst gewählte Rolle der Schauspielerin erhöhen zum Beispiel seine Wertschätzung der Berma (vgl. Proust 2008: 355). Genauso spielt nach seinem enttäuschen ersten Besuch eine in der Zeitung wiedergegebene Theaterkritik eine wichtige Rolle bei der Relativierung seiner Erfahrung. Nach der Notiz heißt es selbstironisch: »Dès que mon esprit eut conçu cette idée nouvelle de ›la plus pure et haute manifestation d’art‹, celle-ci se rapprocha du plaisir imparfait que j’avais éprouvé au théâtre, lui ajouta un peu de ce qui lui manquait et leur réunion forma quelque chose de si exaltant que je m’écriai: ›Quelle grande artiste!‹« (Ebd.: 384f.). Wichtig sind darüber hinaus die vorgefertigten Aussagen des Diplomaten Monsieur Norpois, die der Erzähler ebenfalls echoartig wiederholt, um sich von der Unzulänglichkeit seiner vor Ort gewonnenen Eindrücke zu überzeugen: »C’est vrai, me disais-je, quelle belle voix, quelle absence de cris, quels costumes simples, quelle intelligence d’avoir été choisir Phèdre! Non, je n’ai pas été déçu.« (Ebd.: 367).

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der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung des Schauspiels im Theater in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Um das Ringen des Erzählers mit seinen Ideen und den vor Ort aufgenommenen Eindrücken zu verdeutlichen, differenziert Proust die chemische und die optische Komponente der Fotografie metaphorisch aus. Dabei unterscheidet er die beiden Ebenen, indem er der Fotografie »sur le plan optique«123 etwas von einem »envoi«124 verleiht, »sur le plan chimique«125 hingegen etwas von einem »dépôt«.126 Um die »impression fragile et précieuse«127 zu beschreiben, die der Ich-Erzähler während seines ersten Theaterbesuchs einholt, zieht Proust die Metapher der sensibilisierten Fotoplatten heran. Sie verbildlichen den perzeptiven Teil des Wahrnehmungshaushaltes, der, von den Ideen des Erzählers unbeeindruckt, die sinnlichen Reize abspeichert, die an ihn geraten. Wie das indifferente, fotochemische Material zeichnet die Perzeption des Erzählers alle sensuell erfassbaren Details des Theaterabends auf, ohne das Interesse des Erzählers an ihnen zu berücksichtigen. Seine Apperzeption von der verehrten Berma wird dagegen mit optischen Komponenten in Verbindung gebracht. Sie erweist sich als hinfällig128 und kann auch mithilfe von externen Linsen nicht verbessert werden. Zunächst wird die urteilende Ausrichtung der Wahrnehmung in dem paradoxen Wunsch des Erzählers problematisiert, die Intonation und die Gesichtsausdrücke der Schauspielerin während der Aufführung immobilisieren zu wollen, um sie besser durchdringen zu können.129 Da es schwer ist, ein Schauspiel anzuhalten oder einzufrieren, versucht der Erzähler, die Darstellung der Berma mithilfe eines Opernglases freizustellen, um sie besser beurteilen zu können. Auch dieser Versuch erweist sich als vergeblich, denn »quand on croit à la réalité des choses, user d’un moyen artificiel pour se les faire montrer n’équivaut pas tout à fait à se sentir près d’elles. Je pensais que ce n’était plus la Berma que je voyais, mais son image dans le verre grossissant«.130 Ein nach der Vorstellung geäußerter Kommentar des Vaters, der die Opernglasszene retrospektiv zur zentralen Metapher des Rezeptionsverhaltens seines Sohnes erhebt, besiegelt den Zusammenhang von Apperzeption und optischen Hilfsmitteln schließlich. Auf die von seinem Sohn geäußerte Enttäuschung entgegnet der Vater empört: »Mais comment […] peux-tu dire que tu n’as pas eu de plaisir? Ta grand-mère nous a raconté 123 Bailly 2008: 48. Jean-Christophe Bailly bezieht diese Unterscheidung auf die Fotografie im Allgemeinen. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Proust 2008: 360. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. ebd. 130 Ebd.: 361.

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que tu ne perdais pas un mot de ce que la Berma disait, que tu avais les yeux hors de la tête«.131 Das gezielte Entgegenstrecken der Augen und die »optische Sendung« seines Blicks in Richtung Bühnengeschehen ermöglichen es dem Erzähler nicht, seine a priori gefassten Ideen mit der direkten Anschauung der mimenden Berma in Einklang zu bringen. Es kann nur dazu führen – wie es etwas später in einer viel zitierten Textpassage heißt – »photographies manquées«132 von der bewunderten Person zu produzieren, denn »notre attention en face de l’être aimé [est] trop tremblante pour qu’elle puisse obtenir de lui une image bien nette«.133 Die Eindrücke, die der Erzähler bei seinem zweiten Theaterbesuch vom Schauspiel der Berma erlangt, werden nicht mehr durch seine Ideen und seine Emotionen irritiert. Er begegnet ihnen unmittelbar über seine Sinne und durch seine Anwesenheit, ohne sie durch seine Erwartungen zu verzerren. Kurz nach dem bedauernden Rückblick auf seine erste Begegnung mit der Schauspielerin in der Rolle der Phädra wird die zweite Aufführung wie folgt, mit Hilfe einer relativierenden Blickmetapher, eingeführt: Mais maintenant, comme une colline qui au loin semble faite d’azur et qui de près rentre dans notre vision vulgaire des choses, tout cela avait quitté le monde de l’absolu et n’était plus qu’une chose pareille aux autres, dont je prenais connaissance parce que j’étais là […].134

Der zuschauende Erzähler, der seine Läuterung gegenüber dem Theater hier zu einer Entwicklung vom Romantiker zum Realisten stilisiert, hat jegliche Vorstellung von absoluter Erhabenheit abgelegt, blickt nicht mehr in die sehnsuchtsvolle Ferne des Azur, wenn er zur Bühne schaut, sondern nimmt die Gegebenheiten aus dem schlichten Grund seines Zugegenseins auf. Dementsprechend sind die Schauspieler für ihn »gens de même essence que ceux que je connaissais«,135 die »continuaient à exprimer l’insignifiance de la vie de tous les jours et à mettre en lumière, au lieu des nuances raciniennes, des connexités musculaires«.136 Erst diese ernüchterte Aufnahmedisposition in einer »heure d’indifférence«137 eröffnet dem Erzähler 131 Ebd.: 366. 132 Ebd.: 391. Die Reflexion über den unscharfen, mit misslungenen Fotografien verglichenen Eindruck einer nahestehenden Person macht der Erzähler im Zusammenhang seiner Schwärmerei für Gilberte. Sie kann aber problemlos auf seine Haltung zur Berma übertragen werden, nicht zuletzt, da der Erzähler selbst seine Gefühle für die beiden Frauen immer wieder parallel setzt (vgl. zum Beispiel ebd.: 783, 786). 133 Ebd.: 391. 134 Ebd.: 780. 135 Ebd. 136 Ebd.: 781. 137 Ebd.: 782.

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den beim ersten Besuch vergeblich gesuchten Zugang zum Schauspiel der Berma. Dieser wird wiederum mit einer Metapher gefasst, die ein sehr geläufiges Bild für die illusionistische Wirkung des fotografischen Bildes ist, und zwar die des Fensters, das dem Schauenden Durchsicht gewährt. Die Fenstermetapher findet sich in einer erstaunten Feststellung des Erzählers während der Aufführung und stellt das Medium der darstellenden Kunst in den Vordergrund. Sie bezieht sich auf die Mimik und die Gestik der Berma, die vollkommen durchlässig für ihren Gegenstand geworden ist: »ce jeu est devenu si transparent, si rempli de ce qu’il interprète que lui-même on ne le voit plus, et qu’il n’est plus qu’une fenêtre qui donne sur un chef-d’œuvre«.138 Im Gegensatz zu dem Spiel der anderen Schauspieler, das zu bemüht wirkt, nimmt der Zuschauer das Spiel der Berma als eine »donnée de la vie«.139 Die »störungsfrei« und perfekt gesteuerten Mittel – die Bewegung, Intonation und Stimmführung der Schauspielerin – lassen also die Darstellungsabsicht in den Hintergrund treten. Sie gehen vollständig in dem von der Akteurin dargestellten Gegenstand auf und stören so weder das ästhetische Empfinden des Erzählers, noch müssen sie seinen Vorstellungen gerecht werden wie bei seinem ersten Theaterbesuch. Der Wandel der Perspektive des Erzählers auf sein Aufnahmeverhalten wird nicht zuletzt durch den Wechsel der grammatikalischen Person markiert: während die Beschreibung der Aufführung bei dem ersten Besuch immer auf ein ›je‹ bezogen und mit dessen Erwartungen gekoppelt wird,140 spricht der Erzähler in der zweiten Beschreibung distanzierter von sich als einem »spectateur fasciné«.141 Setzt man nun die beiden Theaterbesuche zu der Fotobetrachtungssequenz ins Verhältnis, lässt sich daraus ableiten, dass der Erzähler seine Vorstellungen von der Berma, ihrem Talent und ihrem Wesen mit ihrer Person in Übereinstimmung bringen kann, solange er sie auf ihren Namen und ihr fotografisches Abbild reduziert. In der direkten Betrachtung der darstellenden Person geraten seine vorgefassten Ideen dagegen ins Schwanken. Diese unterschiedlichen Reaktionen liegen in der Disposition seiner subjektiven Aufnahmefähigkeit begründet – ergeben sich aber auch aus der Natur der Zuschreibungen von Begriffen und Eigennamen. Während die Begriffswelt in der Auffassung des Erzählers stets durch einen Abstand von der realen Welt getrennt ist, der dazu führt, dass wir mit unseren sprachlichen Bezugnahmen auf die Welt im Grunde einem ständigen, nur selten aufgedeckten Irrtum unterliegen, besteht zwischen Eigennamen und ihren Referenten zunächst eine punktuelle Verbindung, ein seidener Faden, wie er zu Beginn des Kapitels beschrieben wurde. Die Denotation zwischen Begriff und dem von ihm bezeichneten Gegenstand er138 Ebd. 139 Ebd.: 783. 140 Vgl. ebd.: 360ff. 141 Ebd.: 783.

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folgt vor allem auf symbolischer Ebene, während die von Eigennamen sich zunächst indexikalisch einstellt. Folgt man nun den Ausführungen Prousts in der Recherche, dann lässt uns Gewohnheit im Allgemeinen den Abstand zwischen Begriffs- und Lebenswelt übersehen, bis wir perzeptiv auf den Referenten stoßen, wie der Erzähler bei seiner ersten Begegnung mit dem Schauspiel der Berma. Die unmittelbar gewonnenen Eindrücke zeichnen sich in unserem Wahrnehmungshaushalt wie Lichtverhältnisse auf empfindlichen fotochemischen Oberflächen ab und geraten dabei in einen Widerstreit mit begrifflich erwirkten Erkenntnissen. Nach dem zweiten Theaterbesuch weiß der Erzähler bereits um den Abstand zwischen Sinneseindrücken und Weltanschauung und kann seine Betrachtung der Berma als unmittelbare Erfahrung wirken lassen, der er seine Bezeichnung im Nachhinein an die Seite stellt, indem er sich sagt: Das ist es also, was man für gewöhnlich mit »noblesse d’interprétation« und »originalité«142 meint. Die Betrachtung des Bermafotos zeigt dagegen, dass die Verbindung zwischen Eigennamen und Fotografien mit ihren Referenten auf eine eindimensionale und instabile Identifizierung reduziert ist. Sie weisen zwar eine singuläre Person und einen spezifischen Moment aus, lassen dabei aber mehr Spielraum für Vorstellungen und persönliche Bedeutungszuschreibungen. Insofern versöhnt das Foto den Erzähler mit der Enttäuschung seiner ersten Theatererfahrung und lässt ihn vorübergehend seine Ideen von der Schauspielerin rehabilitieren. Obwohl er sich insgeheim bereits dessen bewusst ist, dass Schwärmereien einer unmittelbaren Begegnung genauso wenig Stand halten können wie das konventionelle Lächeln der Schauspielerin auf dem Foto der Zerbrechlichkeit ihres tatsächlichen Gesichts, kann er anhand des Fotos vorläufig an seinen Illusionen festhalten. Einen ähnlich paradoxen Illusionismus verfolgt der Erzähler auch an anderer Stelle in Bezug auf die Namen von Adelsgeschlechtern. Die perzeptiv gewonnenen Erkenntnisse werden auch hier wieder mit chemischen Prozessen in Verbindung gebracht und stehen im Gegensatz zu der Vorstellungswelt des Erzählers. Bei seinem ersten Abendessen bei der Herzogin von Guermantes hebt Marcel sich als Neuling ohne bedeutende Genealogie von den anderen Gästen ab. Wie bei der Berma kannte er die Namen der anwesenden Adligen allerdings schon lange vor der direkten Kontaktaufnahme, verbindet sie mit konkreten Orten143 oder lange gehegten 142 Ebd. 143 Vgl. ebd.: 1153ff. In Sodome et Gomorrhe wird diese in den Augen des Erzählers sehr starke Verbindung zwischen Eigennamen und Orten in einem Bild konzentriert: Während er die Liste ihm unbekannter adliger Namen auf einer Traueranzeige studiert, steigen vor seinem inneren Augen Orte aus der Umgebung von Balbec auf. Zwar kann der Erzähler die Namen nicht bestimmten Personen zuordnen, aber ihre Ähnlichkeit mit Ortsnamen rund um das Strandbad lassen die Buchstaben in seiner Vorstellung zu Kirchtürmen und Häuserdächern werden (vgl. ebd.: 1349f.).

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Phantasien und bekommt bei der Begegnung mit ihren Referenten eine »impression de plate vulgarité«.144 Über seinen Träumereien zu den Namen hatte er vergessen, dass »un nom dénote aussi et d’abord la personne nommé«.145 Die Geladenen selbst jedoch kannten zuerst die Gesichter und dann die Namen der anwesenden Personen und laufen deshalb nicht Gefahr, einer solchen Desillusionierung zu unterliegen: »ils [die Gäste] avaient connu, avant même tous ces noms, le visage de la duchesse de Guise que, dès lors, ce nom leur reflétait«.146 Im Anschluss an die Bekanntmachung mit der Princesse de Parme gerät die Vorstellungswelt des Erzählers zum ersten Mal in Konflikt mit den aus der Nähe gewonnenen Eindrücken. Da der Herzog von Guermantes nur seinen Namen, nicht aber denjenigen der ihm vorgestellten Dame erwähnt, kann der Erzähler sein Gegenüber zunächst nicht identifizieren. Über die von herablassender Liebenswürdigkeit geprägten Ausdrucks- und Umgangsformen schließt er im Laufe der kurzen Konversation jedoch darauf, dass es sich um eine »Altesse« handeln muss, aber erst später trägt ihm ein Tischgespräch den Namen der Dame beiläufig zu. Die Kenntnis des Namens setzt bei dem Erzähler einen Zuschreibungsprozess in Gang, der durch seine persönlichen Vorprägungen des Namens Princesse de Parme gehemmt ist. Der Name ist gedanklich von seiner Stendhal-Leküre besetzt und kann kaum mit der unmittelbaren Wahrnehmung seines Gegenübers in Verbindung gebracht werden. Erst mithilfe von »nouvelles malaxations chimiques«,147 das heißt durch Konzentration auf die perzeptiv ermittelten Gegebenheiten, kann der Erzähler »toute huile essentielle de violettes et tout parfum stendhalien«148 aus dem Namen der Prinzessin verdrängen und stattdessen »l’image d’une petite femme noire«149 in seine Gedankenwelt einfügen. Die auf die Begegnung mit der Princesse de Parme folgende mentale Identifizierung der Gestalt der Hoheit mit ihrem Namen wird von dem Erzähler als chemische Abmischung erfahren, mit deren Hilfe sich wie bei der Fotografie ein unmittelbarer visueller Eindruck in Form eines Bildes festigt. Am Ende der Veranstaltung nimmt der Erzähler den gleichen geistigen Vorgang in umgekehrter Richtung vor. Dieses Mal will er den Namen des Prince d’Agrigente von seinen vulgären, unmittelbar gewonnenen Eindrücken »comme d’un compagnon chimique instable«150 befreien, um ihn in seiner Vorstellung mit den noch nicht von ihren Referenten durchkreuzten Namen »Damas« und »Modène« zu verbinden

144 Ebd.: 1154. 145 Rousset 1980: 48. 146 Proust 2008: 1154f. 147 Ebd.: 1075. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 Ebd.: 1162.

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und so eine »combinaison infiniment plus séduisante«151 zu erstellen. Anders als bei der Princesse de Parme wird hier nicht die Perzeption der konkreten Person mit dem eigentlich anders besetzten Namen chemisch abgebunden. Der Erzähler separiert den Namen hier vielmehr im Geiste von der aufdringlichen Präsenz des Prinzen in Form eines chemischen Begleiters, das heißt von den direkt gesammelten Anschauungen der Person. Auch die Beispiele zu den Namen der Adligen unterstreichen durch ihre Metaphorik den von Proust aufgestellten Zusammenhang der denotativen Referenz des Eigennamens und der des fotografischen Bildes. Dadurch dass sie zunächst auf nichts als ihren Referenten schließen lassen, verringern sie einerseits den Abstand zwischen Begriffs- und Wahrnehmungswelt. Sie weisen einen referentiellen Realzusammenhang auf und werden von der Präsenz des Referenten bedingt. Ist der Referent aber außer Reichweite oder unbekannt, kann der Name oder die Fotografie umso effektiver mit Illusionen ergänzt werden. Da der Erzähler der Recherche die Neigung hat, seine Vorstellung an realen Gegebenheiten zu entfachen, spielen Fotografien und Eigennamen seinen Träumereien bis zu dem Moment optimal zu, in dem sie mit dem Referenten konfrontiert werden. Die zwangsläufige sensorische Registrierung seines Gegenübers lässt sich in diesen Momenten nur schwer mit seinen zuvor gemachten Vorstellungen in Einklang bringen. Wie eine Art Gegenbeispiel in einer anderen Vorstellungsszene zu Beginn von Sodom et Gomorrhe veranschaulicht, sind Namen aufgrund ihrer denotativen Referenz irreduzibel. Anders als Begriffe lassen sich Namen im Verständnis des Erzählers der Recherche also nicht von anderen Namen ableiten. Das erfährt Marcel, während er einer jungen Dame gegenübersteht, mit der er auf einer Soirée bei der Princesse de Guermantes Konversation betreibt, und sich dabei vergeblich an ihren Namen zu erinnern sucht.152 Während er sich bemüht, seinem Gedächtnis den Namen abzuringen, muss er feststellen, dass es weder über Dinge, die er von der Dame erinnert, noch über potentiell ähnliche Namen eine graduelle Annäherung an den vergessenen Namen gibt.153 Namen sind, so könnte man schließen, zu sehr den Gesetzen der Wirklichkeit untergeordnet und zu wenig in ein System der Beschreibung von Wirklichkeit eingefügt, als dass sie zuverlässige, vom Referenten losgelöste Bezüge aufbauen könnten. Einen damit einhergehenden Druck der Wirklichkeit erfährt der Erzähler auch während er in der besagten Szene sein Wissen vergebens zu reanimieren versucht: »Certes mon esprit aurait pu créer les noms les plus difficiles.

151 Ebd. 152 Vgl. ebd.: 1248. Für eine ausführlichere Analyse der Soirée de Guermantes im Zeichen des Namens und der Namenslisten siehe Pierron 2005: 206ff. 153 Vgl. Proust 2008: 1248.

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Par malheur il n’avait pas à créer mais à reproduire. Toute action de l’esprit est aisée si elle n’est pas soumise au réel. Là, j’étais forcé de m’y soumettre.«154 Sprachrealien mit fotografischer Referenz Die im vorangehenden Zitat als Reproduktion bezeichnete Denkleistung ist für die explizite Poetik der Recherche in Bezug auf Erinnerungen entscheidend, wirkt sich aber auch stark auf einen Aspekt der impliziten Poetik der Recherche aus, und zwar auf den Umgang mit vorgefertigter Sprache. Abgesehen von literarischen Zitaten finden sich auch immer wieder Aussagen, meist aus unbestimmbaren Quellen, die wie aus realsprachlichen Kontexten ausgestanzt und in den Fließtext der Recherche eingefügt wirken. Meist werden ihre sprachmateriellen Eigenschaften daraufhin im Erzählerdiskurs kommentiert wie zum Beispiel in einer langen Aufwachsequenz, in die Verkaufsrufe von Straßenhändlern eingefügt sind. Der Erzähler vergleicht hier Intonation, Klang und Rhythmus der im Wortlaut wiedergegebenen Dienstleistungs- und Produktanpreisungen, die von der Straße in sein Zimmer dringen, mit liturgischen Strophen oder dramatischen Versen.155 Diese wie Sprachrealien behandelten Sätze sind entscheidend für die in der Recherche verfolgte Figurenkonzeption, da sie den Eindruck erwecken, die Figuren seien Personen, die (im direkten Gegenüber) erfasst werden und nicht Typen oder Individuen, die (im Geiste) erschaffen werden. Entsprechend gibt es kaum »ein für alle Mal« gemachte Beschreibungen der Gestalt oder des Charakters der Figuren. Es finden sich vielmehr stetige Wiedergaben, Analysen und Kommentierungen ihrer Äußerungen, Intonationen und Ausdrucksweisen, also ihrer Sprech- oder auch Schreiberzeugnisse.156 Reproduktion ist in diesem Sinne die ständige Erneuerung und Vervielfältigung von realisierter Sprache durch die Imitation ihres Wortlauts. Die Voraussetzung für diese Sprachimitation ist zunächst eine sensible Wahrnehmung für den Klang von Stimmen und die Fähigkeit, in Sprechrhythmen, Stimmlagen und Tonfällen Falschaussagen oder gesellschaftliche und geographi-

154 Ebd.: 1247. 155 Vgl. ebd.: 1690-1698. Am Beispiel des Anpreisungsrufs für Artischocken hat Leo Spitzer den Bezug der Verkaufsrufe zu mittelalterlicher Poesie historisch nachweisen können. Er attestiert Proust in Bezug auf die Aufwachszene zu Beginn von La prisonnière, ein Zivilisationshistoriker »malgré lui« zu sein (vgl. Spitzer 1959: 359). 156 Auf die Wiedergabe und Analyse von gesprochener Sprache fällt allerdings deutlich mehr Gewicht. Ein Beispiel für die Eigenheit von Geschriebenem findet sich in einem Kommentar zu Swanns Schreibweise. Odette äußert ihr Bedauern darüber, dass man Swanns charakteristische Ausdrucksweise aus Briefen und im Gespräch nicht wiederfindet, »quand il faisait métier d’écrivain, quand il publiait des études« (Proust 2008: 376).

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sche Zugehörigkeiten diagnostizieren zu können. Der Erzähler ist großzügig mit diesen Gaben ausgestattet wie die vielen Diagnosen zu Stimmen und Ausdrucksweisen in der Recherche bezeugen.157 Auf einer Soirée der Princesse de Guermantes vergleicht er sich zum Beispiel mit einem Arzt, der über ein Symptom souverän die Krankheitsursache bestimmt. Im Anschluss an ein Gespräch zwischen Monsieur de Vaugoubert und Monsieur de Charlus, dessen homosexuelle Neigungen der Erzähler am Morgen desselben Tages erkannt hatte, kommentiert er: Un clinicien n’a même pas besoin que le malade en observation soulève sa chemise ni d’écouter la respiration, la voix suffit. Combien de fois plus tard fus-je frappé dans un salon par l’intonation ou le rire de tel homme, qui pourtant copiait exactement le langage de sa profession ou les manières de son milieu, affectant une distinction sévère ou une familière grossièreté, mais dont la voix fausse suffisait pour apprendre: »C’est un Charlus« à mon oreille exercée comme le diapason d’un accordeur.158

Darüber hinaus muss der Sprachimitator auch in der Lage sein, sich in andere Personen hineinversetzen und ihren Sprachhabitus annehmen und Wortlaute abspeichern zu können. Der Erzähler übt sich darin seit seiner Kindheit. Schon früh kann er literarisch gefertigte Sprache wie die Verse Racines auswendig, die er im Geiste häufig auf erlebte Situationen überträgt.159 Die Aufnahme- und Wiedergabefähigkeit des Erzählers bezieht sich aber auch auf die Sprache von Personen, denen er tatsächlich begegnet. Ein markantes Beispiel, bei dem er in den Imitationsmodus verfällt und sich dabei als »médium« bezeichnet, findet sich während eines Gesprächs mit Madame de Cambremer und ihrer Schwiegertochter bei seinem zweiten Besuch in Balbec.160 Ausgelöst durch den Wunsch seinem Gegenüber zu gefallen, »je [der Erzähler] me mis instinctivement à parler à Mme de Cambremer, née Legrandin, de la façon qu’eût pu faire son frère«.161 Zwar bezichtigt er sich daraufhin als gefallsüchtig, an anderer Stelle hebt er die Fähigkeit, Mimik und Sprechweise 157 Als ein besonders auffälliges Beispiel sei hier auf Charlus verwiesen. In Gesellschaft hat er eine schrille und laute Stimme, die ihm gleichzeitig Aufmerksamkeit und Distanz verschafft (vgl. zum Beispiel ebd.: 1239); während er Informationen über potentielle Liebhaber einholt, gibt er sich hingegen einen betont desinteressierten Tonfall (vgl. ebd.: 965). In der Proustforschung wurde bisher vor allem darauf hingewiesen, dass es »viel [zu sagen gäbe] über das Vorherrschen des stimmlichen Porträts bei Proust, denn weit mehr als der Körper verraten die Worte die verborgene Wahrheit eines Wesens« (Vgl. Henrot 2009: 674). 158 Proust 2008: 1258. 159 Vgl. beispielsweise ebd.: 1259 oder 1340. 160 Vgl. ebd. 1365. 161 Ebd.: 1365 f.

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anderer zu kopieren aber als positiv hervor und leitet daraus literarisches Geschick ab. Ebenfalls während seines zweiten Aufenthaltes in Balbec freundet der Erzähler sich mit zwei Bediensteten an, die ein ausländischer Gast mit in das Hotel gebracht hat: die Schwestern Madame Céleste Albaret und Madame Marie Ginèste. Die wenigen Seiten, die dem Austausch mit diesen beiden Damen gewidmet sind, stellen indirekt die Frage nach der Kunst des Porträts, verweisen mehrfach auf Porträts in unterschiedlichen Medien und lesen sich im Ganzen wie ein Porträt der Schwestern,162 von denen die eine, Céleste Albaret, den Namen von Prousts realer Haushälterin trägt. Gleich zu Beginn der Beschreibung von Céleste und Marie verweist der Erzähler darauf, dass ihre Sprache trotz bäuerlicher Herkunft und mangelnder Schulbildung etwas »de si littéraire« habe, »que sans le naturel presque sauvage de leur ton, on aurait cru leurs paroles affectées«.163 Direkt im Anschluss folgen in direkter Rede Kommentare der Schwestern zur Erscheinung und zu den Gesten des Erzählers, wie er ihnen während des Frühstücks in seinem Bett gegenübersitzt. Es sind kurze, zwischen Lob und Kritik schwebende Wortergüsse, die zu der Feststellung führen: »On devrait bien tirer son portrait [das des Erzählers] en ce moment«,164 und in dem Ausruf münden: »Ô miniature parfaite, plus belle que la plus précieuse qu’on verrait sous une vitrine, […]!«165 Nicht nur, dass Céleste hier Feingefühl für einen fotogenen Moment aufweist, kurz zuvor hatte sie bereits an einem fotografischen Porträt des Erzählers als kleiner Junge dessen Bescheidenheit dementiert, indem sie seine Aufmachung auf dem Foto mit dem eines kleinen Prinzen verglichen hatte.166 Die Kommentare des Erzählers verdeutlichen allerdings, dass nicht die Beschreibungen seiner eigenen Person durch die Schwestern überzeugen, die er als »portrait si peu véridique«167 abtut, sondern ihre Nachahmungen von ausländischen Hotelgästen. Erst wenn sie – wie er selbst bei seinem Gespräch mit Legrandins Schwester – zu einem Medium werden und sprechen und sich bewegen wie die nachgeahmten

162 Dass sich die ganze Passage über die beiden »courrières« wie ein literarisches Porträt liest, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Es sei nur erwähnt, dass ein Großteil der von ihnen geschilderten Handlungen und Eigenschaften auf ihre Herkunft zurückgeführt wird. Ihre Heimat bildet eine Art Rahmung des Porträts, aus der ihr gesamtes Wesen abgeleitet wird (vgl. ebd.: 1394ff.). Für diese Auslegung spricht auch, dass die Passage nachträglich in den Text gefügt wurde (vgl. Proust 1988b: 1476). 163 Proust 2008: 1394. 164 Ebd.: 1395. 165 Ebd.: 1396. 166 Vgl. ebd.: 1395. 167 Ebd.

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Gäste,168 gelingt ihnen ein »portrait inimitable«.169 Aufgrund dieses unnachahmlichen Nachahmungstalents attestiert der Erzähler ihnen kurz darauf, dass sie »aussi douées qu’un poète«170 sind, wenn auch bescheidener als ein Dichter, da sie keinerlei Bewusstsein für ihr Talent haben. Céleste ist zudem nicht im Stande dem Erzähler etwas Außerordentliches, das sie gesagt hat, zu wiederholen, da sie es immer schon vergessen hat. Daraus folgert der Erzähler, dass die beiden Schwestern niemals werden lesen und vor allem niemals ein Buch werden schreiben können. Was den impliziten poetischen Gehalt der Sequenz über Céleste und Marie anbetrifft, kann man weiterhin festhalten, dass intuitive Nachahmungsgabe für Proust zwar ein wichtiges Element schriftstellerischen Talents ist, es sich aber nur entfalten kann, wenn auch ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen vorliegt. Sofern ein zum Medium geratener Körper literarisch zum Einsatz kommen soll, reicht es also nicht aus, dass er vollkommenen durchlässig für sein Gegenüber ist. Er muss die Aufnahme nicht nur gegenwärtig, sondern auch zukünftig wiedergeben können, ihr Gestalt verleihen und sie verwahren können. Wie nun der Erzähler, vielmehr der implizite Autor, der wohl sein eigenes Talent und seine Motivation zu schreiben durch diese Reflexion über die beiden Schwestern profiliert,171 seine eigene Aufnahmefähigkeit umsetzt, soll an einigen Aussagen aufgezeigt werden, die den Charakter von Sprachrealien mit fotografischer Referenz haben. Die Sprachrealien verleihen den Figuren, denen sie zugeschrieben werden, eine momentane Präsenz und stellen sie exemplarisch dar, ohne sie auf bestimmte Züge festzulegen. Dieses Spezifikum unterscheidet sie von vielen anderen sprachlichen Realientypen in der Recherche172 und räumt ihnen bei Figurenporträts die Funktion ein, den Text als eine durch den Erzähler bedingte Direktaufnahme seines Gegenübers erscheinen zu lassen. Ohne eine systematische Typologie der unterschiedlichen Sprachrealien erstellen zu wollen, sei zur besseren Differenzierung zunächst auf zwei Typen hingewiesen, die ebenfalls in Zusammenhang mit Figurenporträts stehen, aber zu Karikaturen dienen. Ein solcher Typus wären zum Beispiel literarische Zitate, die mit Charakter- oder Gesichtszügen einzelner Figuren kombiniert werden und häufig in den 168 Vgl. ebd.: 1396. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Es ist hinlänglich bekannt, dass Proust ein sehr talentierter Imitator war. Dafür sprechen sowohl seine literarischen Pastiches als auch die von Freunden überlieferte Anerkennung für seine Fähigkeit, Sprech- und Bewegungsweisen von Bekannten zu karikieren (vgl. Milly/Keller 2009: 646). 172 Andere Sprachrealien wären etwa Briefe oder Zeitungsartikel, die, typographisch abgesetzt und dem vorgegebenen Ursprungskontext stilistisch angeglichen, in den Fließtext eingefügt sind (vgl. zum Beispiel Proust 2008: 1179).

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Bereich der Parodie fallen.173 Hierbei ist nicht nur entscheidend, dass es literarisch vorgefertigte, das heißt aufwendig bearbeitete Sprachrealien sind, sondern auch, dass sie vom Erzähler vertretene Ideen auf die entsprechend nach Vorurteilen porträtierten Figuren übertragen. Dies ist etwa in einer kurzen Gesichtsstudie von Madame de Villebon der Fall, eine der Cousinen von Madame de Guermantes. Ihre Zugehörigkeit zu einem Familienzweig, der das Gegenstück zu den Guermantes bildet,174 lässt sie beim Betreten von gewissen Gästen im Salon ihrer Cousine ein Mienenspiel hervorbringen, das der Erzähler im Geiste mit Versen spickt. Wenn beispielsweise die charmante »Comtesse G***« bei den Guermantes eintritt, »le visage de Mme de Villebon prenait exactement l’expression qu’il eût dû prendre si elle avait eu à réciter le vers: /Et s’il n’en reste qu’un, je serai celui-là,/ vers qui lui était du reste inconnu«.175 Auf einen weiteren Gesichtsausdruck wird hingegen ein anderer Vers gelegt, »que la comtesse ne connaissait naturellement pas davantage: /Grâce aux dieux! Mon malheur passe mon espérance/«.176 Die Zitate ersetzen in diesen Momentaufnahmen ihrer Mimik jegliche Beschreibung der Gesichtspartien und der jeweils wiederholte Einschub über ihre Unkenntnis der Verse eröffnet indirekt Einblicke in den Charakter der Gräfin. Das zweite Beispiel für einen hier nicht weiter verfolgten Sprachrealientypus sind Aussagen mit nahezu sprichwörtlicher Qualität. Sie werden mit einer bestimmten Figur so stark in Verbindung gebracht, dass sich ein Teil ihres Charakters in ihnen kondensiert zu haben scheint. Diese »geflügelten Worte« wären zum Beispiel die Paradoxa von Oriane de Guermantes wie der Kalauer »Taquin le Superbe« über den Baron de Charlus, auf die ihr Umfeld allzeit gefasst ist und die schnell in Umlauf geraten, sobald sie in Gesellschaft von ihr geäußert wurden.177 Die Wortspiele von Oriane werden von ihren Besuchern und Bewunderern auf ihren »esprit« zurückgeführt und als Inbegriff des »génie de Guermantes« weitergegeben, auch wenn mitunter nicht jeder ihre genaue Bedeutung erfasst. Ähnliches gilt für eine Sentenz des Vaters von Swann, die über seinen Tod hinaus in der Familie des Erzählers fortlebt. Nachdem seine Frau gestorben war, sagte er zu seinem Freund Amédée, dem Großvater des Erzählers: »C’est drôle, je pense très souvent à ma pauvre femme,

173 Es ist in der Proustforschung gängig, parodistische Zitate, die Figuren in den Mund gelegt werden, als Charakterisierung der zitierenden Person zu verstehen (vgl. zum Beispiel Bouillaguet 2009: 645). 174 Die Courvoisier besitzen den »génie de Guermantes« nicht und können ihn auch bei anderen nicht erfassen (vgl. zum Beispiel Proust 2008: 1100f.). 175 Ebd.: 1087. 176 Ebd. 177 Vgl. ebd.: 1102ff. Siehe auch ebd.: 1113.

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mais je ne peux y penser beaucoup à la fois«.178 Der Großvater des Erzählers verdichtet die Äußerung seines Freundes daraufhin und lässt sie fortan bei jeder passenden Gelegenheit fallen: »Souvent, mais peu à la fois, comme le pauvre père Swann«.179 Wenn auch stark von seinem ursprünglichen Aussagekontext losgelöst, da Amédée den Satz von Monsieur Swann Senior zu seinem Lieblingssatz kürt und ihn »à propos des choses les plus différentes«180 anbringt, illustriert er die zum Einstieg des Porträts gemachte Aussage, der alte Swann sei ein »homme excellent mais singulier, chez qui, paraît-il, un rien suffisait parfois pour interrompre les élans du cœur, changer le cours de la pensée«.181 Im Gegensatz zu den für sich stehenden Äußerungen, die nachfolgend näher betrachtet werden sollen, bieten die Paradoxa von Oriane und der Sinnspruch des alten Swann keinen unmittelbaren Eindruck von den Figuren, die sie von sich gegeben haben, sondern bringen ihr Wesen auf eine unabhängig von ihrer Präsenz bestehende Formel. Als Formel können diese wie Sprachrealien vom Erzähler eingeführten Aussagen wiederum unverständlich für nichteingeweihte oder nicht abstraktionsfähige Personen werden, wie bei Orianes Wortspielen, oder aber zu einem allgemein gültigen Schlüssel für Vergleichssituationen, wie bei der Sentenz von Swann. Nachdem nun zwei Sprachrealientypen vorgestellt wurden, die durch häufige Wiederholung zu klischeehaften Porträts der Personen werden, die sie ursprünglich geäußert haben und die einen mittelbaren Konsens über sie schaffen, soll nun noch der Typus von Sprachrealien näher betrachtet werden, der einen direkteren und unmittelbareren Zugang zu den porträtierten Figuren ermöglicht. Nur dieser Typus verweist auf die Sprecher, während die anderen für ihre Sprecher stehen, sie also repräsentieren oder charakterisieren. Er suggeriert einen unmittelbaren, auf Direktübertragung basierenden Zusammenhang zu den Figuren, denen die Aussagen zugewiesen werden. Dieser indexikalische Gehalt, aber auch ihre Augenblicklichkeit, bringen den Sprachrealien dieses Typs den Charakter fotografischer Referentialität ein, der nachfolgend an zwei Beispielen genauer untersucht werden soll. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um eine Textpassage aus Le côté de Guermantes I, die aus der Beschreibung des Salons von Madame de Villeparisis hervorgeht und Bloch porträtiert, den Jugendfreund des Erzählers. Die Ankunft des Erzählers wird mittels einer erklärenden Aufzählung der anwesenden Personen und einigen Hinweisen auf die Ausstattung des Zimmers vorgeführt, in dem sich, neben der Marquise selbst, ein Archivar, ein Historiker und Bloch befinden. Im Anschluss an die Auflistung, die auch Auskunft über die Beweggründe der Besuche aller Gäste gibt, folgt ein Porträt von Bloch, das von einer Aufzählung zu seinem momenta178 Ebd.: 22. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Ebd.

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nen Äußeren182 und einer von ihm nebenbei gemachten Äußerung gerahmt wird. Während die geraffte Wiedergabe von Blochs Aussehen lediglich einer kurzen Fokussierung auf die Figur dient, läuft das gesamte Porträt ex negativo auf die banale Aussage des jungen Autors heraus, in die es mündet. Die auf diese Weise über ihr Gegenteil eingeleitete Sprachrealie bekommt dadurch die Funktion einer drastischen Pointe, die einem Präsenzeinbruch gleicht und den zuvor dargelegten kulturellen und intellektuellen Hintergrund Blochs, was die Erfassung seiner Persönlichkeit anbetrifft, weit in den Schatten stellt. Das Scharnier zwischen dem Porträt vor und nach der Pointe bildet eine vom Erzähler imaginierte Geisterfotografie. Und zwar heißt es unmittelbar vor der Einleitung der Kehrseite: Il me [dem Erzähler] semblait que si j’avais dans la lumière du salon de Mme de Villeparisis pris des clichés d’après Bloch, ils eussent donné d’Israël cette même image, si troublante parce qu’elle ne paraît pas émaner de l’humanité, si décevante parce que tout de même elle ressemble trop à l’humanité, que nous montrent les photographies spirites.183

Zunächst nimmt das Gedankenspiel zu der Geisterfotografie Bezug auf die vorher vorgenommene Zuschreibung Blochs zu seinem Volk, für die er als Verlebendigung orientalischer Vasengestalten stereotypisiert wird. Wie der erste Teil der Beschreibung zeigt, profiliert sich Blochs Fremdheit im Kreise des Pariser Salons von Madame de Villeparisis dergestalt, dass ihm sein Ursprung anzuhaften scheint und er für den Erzähler zu einer Inkarnation seines Volkes wird. Das auf diese Weise bereits vor der Erwähnung der imaginierten Aufnahme eingeführte Metaphernfeld aus dem Bereich des Spiritismus – Bloch wird als Geist seines Volkes beschrieben, der kurzzeitig, »par un effort médiumnimique«,184 in die Hülle einer seiner gängigen Darstellungsweisen schlüpft – erfährt im Anschluss an die Erwähnung der Geisterfotografie eine ironische Erweiterung. Es führt vor Augen, was Bloch bis dato für den Erzähler war, was er nun aber aufzuhören beginnt, und zwar ein »homme de génie«.185 Diese Wendung zeigt sich im Laufe des Satzes, der am Ende mit einem Doppelpunkt die Pointe serviert, da der Ausdruck »un homme de génie« wörtlich genommen und damit die Achtung des Erzählers für die intellektuellen Fähigkeiten seines alten Kameraden deutlich in Frage gestellt wird. Mit »homme de génie« ist hier nämlich die Person gemeint, die bei einer spiritistischen Sitzung als Medium dient und »de qui nous attendons, rassemblés comme autour d’une table tournante, 182 »Il avait maintenant le menton ponctué d’un ›bouc‹, il portait un binocle, une longue redingote, un gant, comme un rouleau de papyrus à la main.« (ebd.: 891). 183 Ebd.: 892. 184 Ebd. 185 Ebd.

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le secret de l’infini«.186 Nicht aber die Wahrheit über das Unendliche weiß die Person, in diesem Fall Bloch, zu lüften, sondern lediglich einen banalen Satz zu äußern, wie es die als Pointe angeführte, ausführlich vorbereitete Sprachrealie ist: »›Qu’on fasse attention à mon chapeau haute forme‹«.187 In zweierlei Hinsicht bekommt der Satz den Charakter einer Sprachrealie. Einerseits stellt sich mittels einer angedeuteten Metalepse der Eindruck ein, es handele sich um eine Direktübertragung aus einem im Moment des Schreibens geführten Gespräch. Andererseits wird die Materialität des Satzes hervorgehoben und damit seine Unabhängigkeit vom Ideen- und Gefühlshaushalt des Sprechers betont. Er wirkt wie automatisch und aus sich selbst heraus produziert, so, als ob er im Ganzen abgerufen und nicht aus seinen Einzelteilen gebildet worden wäre. Beide Aspekte, Präsenzeffekt und Materialität, werden durch folgende, als verbum dicendi angeführte Formel hervorgerufen: »un homme de génie […] prononce seulement ces paroles – les mêmes qui venaient de sortir des lèvres de Bloch«.188 Die angedeutete Metalepse findet sich in der Wendung »venaient de«, die einen Bruch in der Zeitlichkeit bedeutet. Denn sie erweckt den Anschein, als hätte der Erzähler während seines Besuchs bei Madame de Villeparisis den Text redigiert, in den ein soeben gefallener Satz direkten Eingang findet. Dem Leser wiederum wird dadurch der Eindruck vermittelt, er nehme über den Text unmittelbar an der Gesellschaft bei Madame de Villeparisis teil, das heißt, er sähe sich einem im Vollzug der geschilderten Handlung entstandenen Text gegenüber. Die Freistellung der Materialität des Satzes erfolgt wiederum durch eine Art Verdinglichung des von Bloch ausgesprochenen Satzes, da er nicht aktiv von ihm formuliert oder durchdacht scheint, sondern wie eine von ihm unabhängige Lautfolge aus seinen Lippen heraustritt. Am Ende der Beschreibung des Salons von Madame de Villeparisis spricht Bloch ein zweites Mal wie auf Knopfdruck, dieses Mal allerdings im Rahmen eines Dialogs. Er reagiert hier spontan auf einen Angriff des Duc de Châtellerault auf seine jüdische Herkunft.189 Als Argument für Blochs Unfähigkeit, den Angriff mit einem ironischen Kommentar zu parieren, führt der Erzähler an, diese Sätze seien zweifelsohne nicht »prêtes«.190 Statt dessen vermutet er einen mechanischen inneren Auslöser, der vorgefertigte Sätze aus dem Mund Blochs befördert: »Mais au lieu d’une de ces phrases [ironische Sätze über seinen jüdischen Hintergrund], lesquelles sans doute n’étaient pas prêtes, le déclic de la machine intérieur en fit monter une autre à la bouche de Bloch.«191 Das Verb, das daraufhin den von Bloch me186 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd.: 892. 189 Vgl. ebd.: 935. 190 Ebd. 191 Ebd.

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chanisch hervorgebrachten Satz einleitet, verleiht dem Gesagten zusätzlich den Charakter einer Sprachrealie. Es unterstützt den Eindruck, der Erzähler, respektive der Autor, habe den Satz irgendwo tatsächlich gehört und ihn unverändert in die Recherche einfließen lassen. Heißt es hier doch: »Et on ne put recueillir que ceci: ›Mais comment avez-vous pu savoir? Qui vous a dit?‹«192 Blochs Antwort wird von dem Erzähler also als etwas geschildert, das er »pflücken«, auflesen und aufheben kann. Beides, sowohl die Metalepse als auch die Autonomie der Sätze, geben der Erzählsituation den Charakter einer Aufnahmesituation, bei der unmittelbar Geäußertes in den produzierten Text eingeschoben wird. Abgesehen davon sind beide so in den Text eingefügte Aussagen von Bloch stereotype Phrasen, die wegen ihrer Banalität und ihrer Performativität dem Bereich der Alltags- und Gebrauchssprache angehören, sich dadurch zusätzlich von dem Erzählerdiskurs abheben und den Eindruck erwecken, sie wären einem nicht bemerkenswerten Teil der Lebenswelt entnommen. Ihre Botschaft erschließt sich weniger aus dem Inhalt des Gesagten als aus dem durch das Verfahren forcierten Äußerungskontext. Zieht man nun diese Mischung aus starker Kontextgebundenheit und schwachem Ideengehalt in Betracht, runden sie das Porträt von Bloch als einem Mann von zweifelhaftem Esprit ab, das während der Schilderung des Salons von ihm gegeben wird. Das an eine fotografische Aufnahmesituation erinnernde Verfahren wurde bereits erläutert, im Folgenden soll nun noch die Kontextabhängigkeit der sprachrealen Aussagen dargelegt werden. Erscheint Blochs Aufforderung, auf seinen Zylinder zu achten, im Kontext des spiritistischen Metaphernfelds zunächst vor allem banal, allenfalls snobistisch und unpassend für jemanden, der den Geist und die Geschichte seines gesamten Volkes auszustrahlen vermag, stellt sie sich rückwirkend als treffsichere Aufzeichnung von Blochs Wesensart dar. Die Ursache dafür liegt in dem Verhältnis von Blochs Bemerkung zu dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie fällt. Dessen Gesetze verdichten sich im Laufe der Salonszene wiederum in dem »chapeau de haute-forme« zu einem Leitmotiv. Der Umgang mit dem Zylinder entwickelt sich im Verlauf des Salons zu einem Signum mondäner Arriviertheit und begleitet die gesellschaftliche Initiation Blochs sowie die des Erzählers. Für Bloch verläuft sein erster Besuch bei einer gesellschaftlich hochgestellten Dame trotz seines Arrivierungsdrangs sehr viel weniger erfolgreich als für den Erzähler. Bloch gilt im Allgemeinen als Prousts »Beispielfigur für den ›gaffeur‹«,193 was sein Besuch bei Madame de Villeparisis idealtypisch vorführt: Er stößt eine Vase um, forciert Gespräche über die Dreyfus-Affäre, die alle anderen Gäste lieber ausgespart hätten, und äußert sich zum Unbehagen aller 192 Ebd. 193 Hassine 2009: 119.

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Anwesenden negativ über Robert de Saint-Loup, den Neffen der Gastgeberin.194 Die erste Sprachrealie, sein warnender Hinweis auf den Zylinder, profiliert diesen Zug von Bloch dagegen indirekter. Der Kommentar zu seinem Hut legt erst allmählich Zeugnis davon ab, wie wenig Geschick Bloch dabei aufbringt, sein Streben in aristokratische und gesellschaftlich höher gestellte Kreise zu realisieren. Denn sein Kommentar erweist sich erst im Lichte anderer Erwähnungen und Gespräche über Tragekonventionen von Hüten als Fauxpas für sein Vorhaben. Unmittelbar nach Blochs Kommentar erwähnt Madame de Villeparisis in einer Anekdote aus ihrer Kindheit die Gewohnheit Monsieur de Molés, bei eigens ausgerichteten Diners mit dem Hut in der Hand die Treppe herunterzukommen. Bloch, der daraus schlussfolgert, »c’était sans doute une habitude universelle d’avoir son chapeau à la main chez soi«,195 wird daraufhin von Madame de Villeparisis über das Gegenteil aufgeklärt. Dabei freut er sich, etwas über längst in Vergessenheit geratene Sitten im Tragen von Hüten zu lernen. So führt die Marquise im Zuge ihrer Aufklärung darüber, dass es keinesfalls üblich war, im eigenen Hause Hüte zu tragen, etwa auch folgende Ausnahme an: Nur wenn der König zu Besuch kam, behielt man den Hut auf dem Kopf, »puisque le roi étant partout chez lui, le maître de la maison n’est plus qu’un visiteur dans son propre salon«.196 Im Gegensatz zu Monsieur de Molé, dem Madame de Villeparisis sein Betragen als originellen Zug anrechnet, legt Blochs Bemerkung den Versuch offen, einer in aristokratischen Kreisen seit kurzem verbreiteten Mode nachzukommen. Sie besteht darin, seinen Hut nach dem Eintreffen neben sich auf dem Boden abzustellen. Allerdings ist die sich in der Kommentierung ausdrückende Sorge, dass man gegen seinen Hut stoßen könnte, ein Zeichen für Blochs Unvertrautheit mit dieser Sitte und »outet« ihn als Neuling. Dies zeigt sich im Vergleich mit weiteren Textpassagen, in denen die Selbstverständlichkeit und Überlegenheit der Adligen in Hinblick auf die neue Umgangsform zum Tragen kommen. So gehört der auf dem Boden abgestellte Hut für den Baron de Guermantes bereits genauso zur Ausstattung seines Wohlbehagens wie das ihm dargebotene Gebäck: »M. de Guermantes se redressa dans le fauteuil où il s’était affalé, son chapeau à côté de lui sur le tapis, examina d’un air de satisfaction les assiettes de petits fours qui lui étaient présentées«.197 Und für den Hinweis des Historikers, dass sein Hut Schaden davon tragen könnte, wenn er ihn auf dem Boden abstellen würde, hat der Baron nur einen verächtlichen Blick übrig.198 Madame de Vil194 Vgl. Proust 2008: 920. 195 Ebd.: 893. 196 Ebd. 197 Ebd.: 922. 198 Auch an anderer Stelle weiß der Baron anzumerken, dass ein Hut nicht den Umständen angemessen getragen wird. Während des ersten Diners des Erzählers bei den Guerman-

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leparisis besitzt dagegen die Liebenswürdigkeit, den nicht eingeweihten Gelehrten, der wegen seines titellosen Namens, Monsieur Pierre, zusätzlich von Monsieur de Guermantes herabgewürdigt wird, darauf hinzuweisen, dass es eine neue Gewohnheit dieser Herren sei, ihre Hüte auf dem Boden abzustellen. Indem sie meint, sich nicht daran gewöhnen zu können, erklärt sie sich großzügig mit Monsieur Pierre solidarisch, führt aber auch an, dass die neue Sitte ihr dennoch lieber sei, als wenn man den Hut im Vorzimmer ließe, wie ihr Neffe es zu tun pflegt.199 Da Saint-Loups Distanznahme seiner aristokratischen Herkunft gegenüber bereits im zweiten Band der Recherche ausführlich geschildert wurde, indiziert der Kommentar von Madame de Villeparisis nebenbei, dass er auch über die stillschweigende Verweigerung von neu aufkommenden Gepflogenheiten gegen seine Abstammung aufbegehrt. Nicht nur was diese Geste anbetrifft stellt er die Gegenfigur zu Albert Bloch dar: Während Saint-Loup eine Mode in aristokratischen Kreisen boykottiert, um sich von seinem Ursprung abzusetzen, eifert Bloch ihr nach, um sich in diesen zu etablieren. Die mangelnde Souveränität Blochs dem gesellschaftlichen Kreis gegenüber, in dem er sich während des Besuchs bei Madame de Villeparisis bewegt, wird allein über die Platzierung seiner Aufforderung transportiert und nicht, wie so häufig, explizit vom Erzähler kommentiert. Mit der zweiten auf Knopfdruck hervorgebrachten Phrase von Bloch wird sein Fehlschlag zu arrivieren gewissermaßen besiegelt. Kurz nachdem er ihn hervorgebracht hat, belästigt er ein letztes Mal die falsche Person mit Fragen zur Dreyfus-Affäre, in diesem Fall den erzkonservativen Archivar, mit dem sich Madame de Villeparisis gut stellen will, bevor die Gastgeberin Bloch dezent, aber unmissverständlich den Weg zur Tür weist.200 Zieht man in Betracht, dass Bloch bereits einige Tage nach diesem Vorfall wieder bei der Marquise vorspricht, da er sich des negativen Eindrucks, den er hinterlassen hat, keineswegs bewusst ist, wirkt eine kurz darauf folgende Reflexion des Erzählers über Eigenwahrnehmung wie auf Blochs Salonbesuch zugeschnitten. Hier denkt der Erzähler darüber nach, wie fern es einem liege »telle parole minuscule, oubliée de nous-mêmes«201 bei dem Bild, das man von sich abzugeben bemüht ist, zu berücksichtigen. Denn schon die Worte, die man absichtlich äußert, um Eindruck tes bemerkt er über ein Gemälde von Elstir, dass der dargestellte Herr wie ein »petit notaire de province en goguette« aussehe, da er offensichtlich nicht wisse, »dans quelles circonstances on met un chapeau haut de forme« (Ebd.: 1130). In der Proustforschung wird dieses Gemälde von Elstir auf Das Frühstück der Ruderer von Auguste Renoir zurückgeführt, auf dem ein Herr wegen seiner eleganten Garderobe hervorsticht (vgl. Karpeles 2010: 172). 199 Vgl. Proust 2008: 908f. 200 Vgl. ebd.: 935. 201 Ebd.: 954.

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zu machen, erzielen selten den gewünschten Effekt. Allerdings muss er feststellen, dass diese Details häufig zuverlässiger weitergeleitet werden als die bewusst gemachten Aussagen. Wenn man ausnahmsweise von ihnen erfährt, glaube man dann, einer Röntgenaufnahme von sich gegenüberzustehen.202 Denn diese über Nebensächlichkeiten transportierten Züge sind uns so wesensnah, dass wir sie schnell oder sogar zwangsläufig übersehen wie unser Skelett beim Anblick unseres Körpers in einem Spiegel. Eine die Reflexion abschließende Metapher zeigt dagegen, dass konventionelle Fotografien sehr gut das eigene Wunschbild vor Augen führen, auch wenn alle anderen sehen, wie gering die Ähnlichkeiten zu dem von sich Geblendeten sind: Plus tard cet écart entre notre image selon qu’elle est dessinée par nous-même [sic.], ou par autrui, je devais m’en rendre compte pour d’autres que moi, vivant béatement au milieu d’une collection de photographies qu’ils avaient tirées d’eux-mêmes tandis qu’alentours grimaçaient d’effroyables images, habituellement invisibles pour eux-mêmes, mais qui les plongeaient dans la stupeur si un hasard les leur montrait en leur disant: ›C’est vous‹.203

In der hier analysierten Sequenz scheint Blochs Eigenwahrnehmung in diesem Sinne von konventionellen Selbstporträts geprägt, während der Erzähler Züge an Bloch erkennt, die ihm zwar sehr eigen, für ihn selbst aber verborgen sind. Dementsprechend zeichnen sich die vom Erzähler herangezogenen Fotografietypen, Geisterund Röntgenfotografie, auch metaphorisch dadurch aus, Unsichtbares sichtbar zu machen. Nachdem untersucht wurde, inwiefern die wie Sprachrealien behandelten Aussagen Blochs bei Madame de Villeparisis ein wesentliches Verfahren zur Erstellung eines Intimporträts darstellen, soll nun ergänzend die poetische Funktion der Sprachrealien aufgezeigt werden. Der reflektierende Umgang mit Gesagtem, die Aufnahme und wörtliche Wiedergabe von flüchtig erzeugter, an einen momentanen Kontext gebundener Sprache gehört zu den in der Recherche exemplifizierten Schreibanlässen des Erzählers. Eine darüber Aufschluss gebende Szene, ein wutentbrannter Gewaltakt des Erzählers gegen den Zylinder von Monsieur de Charlus, ist ebenfalls an das Hut-Motiv gekoppelt und bildet in mancherlei Hinsicht das literaturästhetische Nachspiel zur gesellschaftlichen Initiation der beiden jungen Schriftsteller im Salon von Madame de Villeparisis. Bevor der poetische Gehalt dieser Szene genauer untersucht wird, soll noch nachgetragen werden, dass der Erzähler sich bei dem Besuch von Madame de Villeparisis geschickter aus der Affäre zieht als sein Kamerad Bloch, obwohl er im Grunde genauso unerfahren in dem »répertoire mondain« ist wie sein wenige Jahre 202 Vgl. ebd. 203 Ebd.

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älterer Kollege. Wie bei Bloch kann auch die mondäne Probe des Erzählers anhand einiger in die Schilderung des Salons von Madame de Villeparisis gestreuter Bemerkungen zu seinem Zylinder gerafft nachvollzogen werden. Offenbar nicht unterrichtet über die neuesten mondänen Umgangsformen, lässt der Erzähler seinen Hut zunächst im Vorzimmer des Salons. Dadurch unterscheidet er sich zwar schon bei seinem Eintritt von der eingeschworenen Besucherschaft, fällt aber nicht weiter auf, da man nur indirekt und ohne diesbezüglichen Kommentar, durch eine Verwechslungsszene, von seinem Hut erfährt.204 Auch dass er sich nachträglich an die neue Sitte anpasst, zeigt sich erst sehr viel später und indirekt im Zuge der Erwähnung eines angstvoll fixierten Blickes des Erzählers auf seinen auf dem Teppich stehenden Hut.205 Hier droht sein Zylinder in der Schar der vielen abgestellten Hüte verloren zu gehen, da er sich – anders als ein neugierig vom Blick des Erzählers erfasster Hut mit einem eingravierten ›G‹ – nicht von den anderen Hüten abhebt. Die in diesem Moment entfachte Neugier auf den Buchstaben wird anhand eines Lapsus während der Verabschiedungsszene aufgeklärt: Davon überzeugt, dass es sich um ein Versehen handelt, weist der Erzähler Monsieur de Charlus, der mit dem geprägten Hut in der Hand aufbricht, darauf hin, dass er Gefahr laufe, einen fremden Hut aufzusetzen, bevor er von diesem mit Entrüstung an seine guermantsche Familienzugehörigkeit erinnert wird.206 Im Gegensatz zu Blochs ambitioniertem, über das Hut-Motiv versinnbildlichten Versuch, sich eine gesellschaftliche Stellung zu verschaffen, die gerade wegen seiner Ambitionen missglückt, erweist sich die ebenfalls über das Hut-Motiv transportierte Naivität und Ängstlichkeit des Erzählers als eine Art Schutzschild, mit dessen Hilfe er den ersten Schritt seiner gesellschaftlichen Laufbahn erfolgreich geht. Sein Fehltritt in Bezug auf Monsieur de Charlus erfolgt unbemerkt auf der Schwelle des Salons und bleibt in gesellschaftlicher Hinsicht ohne Konsequenzen. Was sein Verhältnis zu Charlus anbelangt, stellt sich der irritierende Dialog über den Zylinder mit der Familieninitiale allerdings als konsequenzenreiche Einleitung des Bruchs ihrer noch im Aufkeimen begriffenen Bekanntschaft heraus. Während des kurzen gemeinsamen Gangs, der auf die Verabschiedung aus dem Salon von Madame de Villeparisis folgt, gibt Monsieur de Charlus dem Erzähler bedeutungsschwanger zu verstehen, dass er ihn gerne als regelmäßigen Besucher von sich sähe. Erst am Ende 204 Der Diplomat Monsieur de Norpois greift bei seinem Eintritt einen beliebigen Hut im »antichambre«, um seine Liebschaft mit der Gastgeberin zu tarnen (vgl. ebd.: 915). Der Erzähler identifiziert den Hut kurz darauf als seinen eigenen und während eines kurzen Begrüßungsgesprächs mit Monsieur de Norpois gelangt der Hut unauffällig wieder zurück zu seinem Eigentümer (vgl. ebd.: 916). Nun offensichtlich instruiert, stellt der Erzähler ihn auf dem Boden ab. 205 Vgl. ebd.: 953. 206 Vgl. ebd.: 958.

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des zweiten Teils von Le Côté de Guermantes kommt es zu einer ersten Visite des Erzählers bei Monsieur de Charlus, bei der er überraschenderweise verbal von dem Baron gezüchtigt wird. Bis zu dieser Szene spielt das Hut-Motiv keine Rolle mehr, kulminiert dann aber nach einer kurzen Wiederaufnahme207 in einem Angriff des Erzählers auf den Zylinder von Charlus.208 Das in dem zerfetzten Hut gipfelnde Motiv bekräftigt hier die Autonomie des Erzählers in seinem mondänen Gelingen, da er seiner Wut auf die Anschuldigungen des Barons, ohne einen Verlust seines gesellschaftlichen Ansehens fürchten zu müssen, freien Lauf lassen kann. Die Wut des Erzählers richtet sich aber nur vordergründig gegen die unbegründeten Vorwürfe des Hutbesitzers und dient darüber hinaus als Ausdruck der Frustration über ein (abermals) verfehltes Initiationsmoment in das Schreiben. Das Zertrampeln des Hutes korrespondiert in dieser Hinsicht mit dem Ausruf »Zut, zut, zut, zut«209 bei einem der Spaziergänge des jungen Erzählers in Combray. Denn auf der Hinfahrt zu dem Haus des Barons war der Erzähler in einen sprachlichen Erregungszustand, in eine »ivresse de paroles«,210 geraten, der in ihm das dringende Bedürfnis nach Erzählungen hatte aufkommen lassen. Da er aber von den unerwarteten Anschuldigungen des Barons übermannt wird und es ihm nicht möglich ist, selbst das Wort an Charlus zu richten, tritt das ein, was ihn schon im Vorhinein als bloße Befürchtung »cruellement déçu«211 hatte, und zwar seinen mit Worten angefüllten Geist nicht entleeren zu können. Die Worttrunkenheit ist die Folge eines Diners bei Madame de Guermantes, zu dem der Erzähler sich vor seinem Besuch bei Charlus begeben und bei dem er erstmals ein Übermaß an »conversations aristocratiques«212 vernommen hatte. Er grenzt die Eindrücke, die diese Gespräche bei ihm hinterlassen, explizit von den Urerweckungsszenen seines Berufungsbewusstseins ab (beim Geschmack der Madeleine oder vor den Weißdornbüschen), hebt aber gleichzeitig hervor, dass sie einen anderen, fremden Drang zu erzählen in ihm angestoßen haben.213 Die Schilderung dieses 207 Während des durchkomponierten Empfangs bei Charlus ist der Zylinder Teil der inszenierten Ausstattung und soll den Eindruck erwecken, der Baron wäre gerade erst nach Hause gekommen (vgl. ebd.: 1170). 208 Vgl. ebd.: 1174. Die Attacke auf den Hut von Charlus ist biografisch inspiriert. Proust schreibt seiner Mutter in einem Brief, dass er Fénelon aus Zorn dessen Hut in gleicher Weise zerstört hat wie der Erzähler den von Monsieur de Charlus. Als Beweis legt er ein Stück des herausgerissenen Hutfutters dem Brief bei (vgl. Proust 1988a: 1814). 209 Vgl. Proust 2008: 129. 210 Ebd.: 1169. 211 Ebd. 212 Ebd.: 1168. 213 Zu Beginn der Passage setzt der Erzähler seinen Zustand außerdem in Bezug zu den Wahrnehmungs- und Schreiberweckungen im Anblick der Kirchtürme von Martinville

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Erzähldrangs skizziert wiederum einen sprachlichen Aufnahme- und Wiedergabeprozess, der an den fotografischen Akt erinnert, bei dem der Erzähler selbst als Apparat auftritt. Das von ihm Aufgenommene und Abgegebene sind keine visuellen Gegebenheiten, sondern vorgefundene Spracheinheiten, sprachliche Realien: »Entrées un instant en moi, qui n’en étais que physiquement possédé, on aurait dit que (de nature sociale et non individuelle) elles [die Äußerungen, die er bei Madame de Guermantes gehört hat] étaient impatientes d’en sortir«.214 Für den Vergleich spricht auch die Tatsache, dass der Erzähler keineswegs von den Ideen beeindruckt ist,215 die er bei der Baronin zu Gehör bekommen hat, sondern von der Materialität der Sprache. So betont er etwa, dass der Charme der Tischgespräche im Kreise der Guermantes darin liege, dass sie in einem exzellenten Französisch abgehalten werden und dadurch legitimierten, dass die Duchesse sich an manchen Ausdrücken genauso ergötzen könne wie an Möbelstücken.216 Bereits während der Schilderung des Diners fallen immer wieder Kommentare des Erzählers über die für ihn neuartige Sprache. Gerade das Gastgeberehepaar fällt dabei durch sprachlichen Konservatismus auf, da es die Reinheit von Sprache mit einer Aufwertung von überholtem Vokabular bemisst. Dem Duc de Guermantes gefällt es etwa, sich mit Ausdrucksweisen »à la Ancien Régime« zu schmücken217 und die Intonation und der Wortschatz der Duchesse begrenzen sich auf antiquierte Aussprache und alte Ausdrücke.218 Abgesehen davon führt der Erzähler auch die Analogie zwischen Aufgenommenem und Wiedergegebenem an, indem er darauf hinweist, dass er es in der Kutsche auf dem Weg zu Monsieur de Charlus kaum abwarten kann, die belauschten Konversationen zu imitieren. Er drängt darauf, bei nächster Gelegenheit selbst »une sorte de prince X, de Mme de Guermantes«219 zu werden. Dass er sich in dieser Phantasie als Inkarnation von Sprechern unterschiedlichen Geschlechts sieht, zeigt deutlich, wie sehr er als Medium bei der Wiedergabe des Aufgenommenen zurücktritt und der Reproduktion des Gehörten Vorrang gibt. Zuletzt haftet dem apparativ wirkenden Erzähldrang auch etwas Automatisches an, da der Erzähler sich nicht dagegen wehren zu können scheint, die bei Madame de Guermantes aufgenommenen Worte in der Kutsche und im Vorzimmer des Barons laut vor sich hinzusprechen.220

und der Baumreihe in Balbec, die sich ebenfalls bei Kutschfahrten ereignet haben, einmal mit Doktor Percepied und einmal mit Madame de Villeparisis (vgl. ebd.: 1165f.). 214 Ebd. 215 Vgl. ebd.: 1166. 216 Vgl. ebd.: 1168. 217 Vgl. ebd.: 928, 1119. 218 Vgl. ebd.: 1131f. 219 Ebd.: 1168. 220 Vgl. ebd.: 1169.

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Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass die poetische Implikation der Kutschfahrt zu Monsieur de Charlus sich explizit auf das Verfahren bezieht, mit dem Sprachrealien aufgenommen und wiedergegeben werden. Auch wenn das, was dem Erzähler hier widerfährt, den Charakter einer Heimsuchung hat und vorwiegend als Erfahrung und nicht als ausformulierte Poetik beschrieben wird, macht Proust deutlich, dass er nicht auf das Verwahren an sich, sondern auf die Art der Übertragung vorgefundener Sprache in einen literarischen Text abzielt.221 Das geht aus einem ebenfalls in die Kutschsequenz eingelassenen Negativbeispiel hervor. Der Erzähler schildert hier die Gefahr literarischer Totgeburten, wenn man sich als Schriftsteller damit begnüge, die in altem Französisch abgehaltenen Gespräche bei Madame de Guermantes als Wörterbücher zu verstehen. Der »littérateur«, der sich darauf beschränke, gefallene Ausdrücke »telles quelles« in sein Werk zu übertragen, irrt darin »de croire que les choses du passé ont un charme par ellesmêmes«222 und tröstet sich über die von ihnen ausgehende Langeweile damit hinweg, indem er sich sagt »›C’est joli parce que c’est vrai, cela se dit ainsi‹«.223 Für Proust reduziert sich der Umgang mit Sprachrealien also nicht auf ein reines Interesse an deren Konservierung. Vielmehr, das hat die Analyse gezeigt, setzt er sie gezielt ein, um den Präsenzgehalt seiner Figuren zu stärken.224 Wie weitreichend der Schreibimpuls (in) der Recherche verfahrenstechnisch motiviert ist, zeigt sich auch an einer Beobachtung von Roland Barthes.225 Der in der 221 Berücksichtigt man die latente Parallele dieses Interesses zur Fotografie, könnte man es als Plädoyer für eine sich ihrer Mittel bewussten Fotografie verstehen. Damit ist u .a. eine Sensibilität für die Art der Übertragung gemeint, mit der vorgefundene visuelle Phänomene in das fotografische Bild überführt werden. Dass Proust auch im Bereich der Fotografie für diese Problematik empfänglich war, lässt eine Anspielung auf die Extremperspektiven der künstlerischen Fotografie seiner Zeit erahnen (vgl. ebd.: 1029 und Albers 2004). Im Sinne einer Studie Wolfgang Kemps ausgedrückt, geht es Proust darum, den »Abstand zu gestalten«, der zwischen hier und dort, zwischen Erfahrung und Darstellung der Erfahrung liegt (Kemp 1981: 66). 222 Proust 2008: 1168. 223 Ebd. 224 Jacques Chaurand zeigt in seiner Analyse des Vokabulars von Françoise, dass auch einzelne Vokabeln Präsenzmarkierungen der Figuren sein können. Am Beispiel von Françoises Wendung »plumer les asperges« zeigt er, dass Proust darauf Wert legt, den einzelnen Figuren ihr spezifisches Vokabular zuzuschreiben, um sie unmittelbarer zu Wort kommen zu lassen (vgl. Chaurand 1981: 28 ff.). Annick Deakin zeigt darüber hinaus, dass Françoises Sprache auch syntaktische Charakteristika aufweist (vgl. Deakin 1986): 65-75). 225 Die wichtige Funktion von Schreibtechniken für das Auslösen von Schreibprozessen wird auch innerfiktional, häufig über eine Abkehr vom Gegenteil, in selbstironischen

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Recherche erzählten literarischen Initiation des Erzählers, der unwillkürlichen Erinnerung oder »réminiscence«, stellt er auf der Ebene des Autors die sprachliche Kategorie des Eigennamens an die Seite. Was sich innerfiktional als psychologisches Phänomen kennzeichnet, bekommt dadurch für den Akt des Schreibens eine linguistische Gestalt. Dementsprechend lautet die These von Barthes: »[L]e nom propre est en quelques sorte la forme linguistique de la réminiscence«.226 Genau wie die Erinnerung ist auch der Eigenname zwar an eine spezifische, durch Ort, Zeit und Person bestimmte Begebenheit gebunden, die er wie eine Essenz in sich trägt, lässt sich aber auch durch Vorstellungen und Erfahrungen semantisch erweitern, verschieben oder verfälschen. Dieser Abgleich von Idee, Erfahrung und Signifikant, die Dynamik, die zwischen persönlicher Zuschreibung und gegebener Verweisung des Eigennamens entsteht, wird, so Barthes, zum Auslöser und Antrieb der Recherche, oder, wie er es an anderer Stelle formuliert, einer der Gründe dafür, dass die Ingredienzien der Recherche sich ab September 1909 plötzlich zu einem Werk verbinden:227 »L’onomastique proustienne parait à ce point organisée qu’elle semble bien constituer le départ définitif de la Recherche: tenir le système des noms, c’était pour Proust […], tenir les significations essentielles du livre«.228 Wie die Untersuchung gezeigt hat, wird in der Recherche sowohl der sinnesphysiologische Schreibimpuls des Erzählers als auch der sprachliche Schreibimpuls des Autors explizit mit fotografischen Verfahren, Techniken und Gattungen in Verbindung gebracht. Berücksichtigt man nun noch die an den Sprachrealien vorgeführte, im Schreiben verfolgte Art des Zugriffs auf das unmittelbare Umfeld und die Tatsache, dass Proust für die Konstruktion seiner Figuren immer wieder auf seine Visitkartenporträtsammlung zurückgegriffen hat, so ist man geneigt, dem von Barthes bestimmten Schreibanlass der Namen, die Fotografie an die Seite zu stellen. Auch wenn sie sicher nicht in dem Sinne wie die Eigennamen die Weichen für den Beginn der Recherche stellt, motiviert die Fotografie, im negativen wie im positiven Kommentaren des Erzählers thematisiert. Das ist beispielsweise der Fall, wenn er in Combray von einem »trou noir« spricht, zu dem sein Geist wird, sobald er sich das Thema seiner zukünftigen Schriften vorzustellen versucht (Proust 2008: 143). 226 Barthes 1967: 152. 227 Barthes erweitert in diesem Text mit dem Titel Ça prend von 1979 die potentiellen Auslöser für den Anstoß von Prousts Schreibfluss um drei weitere Komponenten. Neben der Bestimmung des Systems der Eigennamen nennt er hier auch folgende Gründe: »1) une certaine manière de dire ›je‹ […] 2) une ›vérité‹ (poétique) des noms propres finalement retenus […] 3) un changement de proportions […] 4) enfin, une structure romanesque, dont Proust a la révélation dans la Comédie Humaine, et qui est (je cite Proust) ›l’admirable invention de Balzac d’avoir gardé les mêmes personnages dans tous ses romans‹« (Barthes 1997: 46). 228 Barthes 1967:156.

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Sinne, Prousts Umgang mit Sprache. Sie ist einer der Gründe, aus denen Gérard Genette sagen kann, die Unabgeschlossenheit der Recherche basiere auf einer Osmose zwischen Prousts Leben und Werk229 und gehöre nicht dem »ordre (déprimant) de l’interminable, mais […] celui (gratifiant) de l’inépuisable«230 an.

229 Ohne diese Problematik, die sich auch in der viel diskutierten Frage um den autobiografischen Status der Recherche ausdrückt, näher behandeln zu wollen, seien hier nur zwei in diesem Kontext interessante Anmerkungen gemacht. In dem letzten Seminar vor seinem Tod behandelt Barthes Prousts Verhältnis zur Fotografie und deutet ihre Scharnierfunktion zwischen Prousts »vie mondaine épuisante, comme un véritable profession« und seinem zurückgezogenen Leben während der Niederschrift der Recherche an (Barthes 2003: 394). 230 Genette 1980: 9.

Primat des Referenten: Gustave Flaubert

In einer Notiz von seiner Reise nach Ägypten bricht Flaubert in eine entgeisterte Erkenntnis über den Stand von (seiner) Sprache aus. Nachdem er die Ankunft in Luxor bei mondheller Nacht beschrieben und die Anordnung der Sterne mit der Form eines nicht mehr voll besetzten Diamantenkolliers verglichen hat, endet er mit dem Ausruf: »triste misère du langage! Comparer des étoiles à des diamants!«1 Der Anblick des Mondes und der vom Mondlicht wie ein Meer beschienenen Ebene2 haben ihn, wie es später im Dictionnaire des idées reçues auf den Punkt gebracht wird, weder melancholisch gestimmt noch poetisch inspiriert oder auf »grandes pensées«3 gebracht. Stattdessen verfällt er beim Anblick der Sterne in Luxor in ein sprachliches Stereotyp und ist fassungslos darüber, dass er klischeehaft einen zigfach geäußerten Vergleich reproduziert. In der gängigen Auslegung des zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Reiseberichts von Flauberts 1849 bis 1851 unternommener Reise in den Orient würde diese Passage als symptomatisch für eine innere Wandlung verstanden werden, die der Autor in dieser Zeit durchlaufen hat. Für Biographen zeichnet sich diese Wandlung vor allem an Flauberts Entscheidung ab, sich fortan ausschließlich dem Schreiben zu widmen,4 und kontrastiert mit dem auf schnelle Anerkennung ausgerichteten

1

Flaubert 1991: 374.

2

Vgl. ebd.: 373.

3

In seinem Dictionnaire des idées reçues kommentiert Flaubert Mond, Meer und poetische Inspiration wie folgt: »Inspiration poétique = Choses qui la provoquent: la vue de la mer, l’amour, les femmes, etc. Lune = Inspire de la mélancolie. Est peut-être habitée? Mer = N’a pas de fond. Image de l’infini. Donne de grandes pensées« (Flaubert 2011: 439, 441, 443).

4

Flaubert fragt sich in einem Brief vom 2. Juni 1850 an seinen Freund Louis Bouilhet auch selbst, ob er im Begriff sei, eine innere Wandlung zu durchlaufen. Zu diesem Zeitpunkt zweifelt er allerdings noch an seiner Berufung, wenn er schreibt: »Est-ce que je touche à une période nouvelle? Où à une décadence complète?« (Vérain 2002: 51).

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fotografischen Interesse seines Freundes und Reisebegleiters Maxime Du Camp. Die unterschiedlich gelagerten Ambitionen der beiden schon reiseerprobten Kameraden5 führten letztlich zu einer Abkühlung ihres Verhältnisses.6 In stilistischer Hinsicht wird der Reise häufig ein Effekt der Ausnüchterung zugeschrieben, durch den sich Flaubert – der mystischen Tendenzen seines letzten Textes vor der Abreise entledigt7 – nach seiner Rückkehr als unbeeindruckter Beobachter an die Erzählung der Liebesverzückungen Madame Bovarys setzen kann. Sein Stil reift in dieser Auslegung des Wandels durch Abstinenz, da er auf der Reise wenig schreibt.8 Wahrnehmungstheoretische und -ästhetische Auseinandersetzungen mit Flauberts Werk betrachten die Wandlung auf der Orientreise wiederum als Anheimgabe 5

Im Mai 1847 hatten Flaubert und Du Camp eine zweimonatige Wanderung durch die Bretagne unternommen. Dabei führten sie ein Tagebuch, das sie nach ihrer Rückkehr gemeinsam zu einem Reisebericht mit dem Titel Par les champs et par les grèves ausarbeiteten. Abwechselnd verfasste je einer der beiden Freunde ein Kapitel (vgl. die Einleitung von Pierre-Marc Biasi, in: Flaubert 1991: 38f.).

6

Vgl. etwa Steegmuller 1972: 218f.

7

Flaubert hatte kurz vor der Abreise die erste Fassung von La Tentation de Saint Antoine fertig gestellt und sie seinen Freunden Maxime Du Camp und Louis Bouilhet in einer viertägigen Sitzung vorgelesen. Nach Abschluss der Lektüre sollen die beiden Freunde ihm geraten haben, das Manuskript zu verbrennen und sich einem realistischeren Thema zuzuwenden (vgl. Flaubert 1991: 51).

8

Francis Steegmuller verweist zum Beispiel auf die Rolle des Reisetagebuchs bei der Entwicklung des »Romantic Flaubert towards Realism« (Steegmuller 1972: 48, siehe auch: 136, 221). Er führt auch eine Passage aus Maxime Du Camps Souvenirs littéraires an, in denen der Reisgefährte zu dem Schluss kommt, dass Flaubert nie Madame Bovary geschrieben hätte, wenn er mit seinem ersten Entwurf der Tentation de Saint Antoine zufrieden gewesen wäre (vgl. ebd.: 14f.). Kreidler betont ebenfalls, »[d]ie lapidare Klarheit aller Phänomene, ihre scheinbar gefühllose Sektion beim Schreiben werden als Kennzeichen der Kunst Flauberts hier [in den Reisenotizen] vorbereitet« (Kreidler 1997: 46). Auch Pierre-Marc de Biasi vertritt in seiner Einleitung zu Voyage en Égypte die Auffassung, Flaubert entwickele auf der Reise die Charakteristika seines Stils. Er leitet sie wie folgt von Flauberts »qualité du regard« ab: »Flaubert raconte ce qu’il a vu sans juger, presque sans intervenir, en appliquant déjà, dans les récits des ›choses vues‹, ce principe d’impersonnalité, ce refus de conclure et cette relativité généralisée des points de vue, qui vont bientôt lui servir à révolutionner l’art du roman« (Flaubert 1991: 63). Für eine Kritik dieser Auffassung de Biasis vgl. Edwards 2008: 133. Auch auf Jérôme Vérain sei noch verwiesen, der subsumiert: »Le voyage d’Égypte lui [Flaubert] a peut-être servi, surtout, à conjurer les fantasmes romantiques de sa jeunesse, au profit d’une observation réaliste et précise de l’humanité« (Vérain 2002: 87).

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an den Blick. In einer viel zitierten Passage aus einem Brief an seinen Bruder, in dem Flaubert den Effekt des atemberaubenden Ausblicks von den Pyramiden mit den Worten »on tait sa gueule, voilà tout«9 beschreibt, kommt indirekt der Vorrang zum Ausdruck, den das Schauen gegenüber dem Sprechen und dem Schreiben auf der Reise gewinnt. Drei Monate später, in einem Brief vom 13. März 1850 an seinen Freund Louis Bouilhet, kommt Flaubert dann auch explizit zu dem Schluss: »Les premiers jours je m’étais mis à écrire un peu, mais j’en ai Dieu merci bien vite reconnu l’ineptie. Il vaut mieux être œil tout bonnement«.10 Gerade im Vergleich mit dem fotopraktisch motivierten Blick Du Camps wird Flauberts Blick auf der Reise immer wieder als gleichgültig und unmotiviert verstanden, der dennoch alles bis ins kleinste Detail aufzeichnet, was ihm unter die Augen kommt. Du Camp hat diesen Blick Flauberts später, in seinen Souvenirs littéraires, mit dem Balzacs verglichen, indem er bemerkt: »il ne regardait rien et se souvenait de tout«.11 Sich dem Schauen zu überlassen, ohne es in sprachliche oder literarische Raster zu fügen,12 entwickelt sich bekanntermaßen zu einem Schaffensideal von Flaubert, das indirekt bereits den eingangs zitierten Ausruf zu bedingen scheint. Denn er klagt sich ja deshalb der Diamantenmetapher an, da sie nicht wiedergibt, was er tatsächlich sieht. Für Medientheoretiker steht die Wandlung von Flauberts Schreibweise durch die Ägyptenreise ganz im Zeichen des neuen Mediums, in dessen Gegenwart sich Flaubert immerhin ein Jahr lang13 tagtäglich befand – im Zeichen der Fotografie. Zwar ging er Du Camp, der von der französischen Regierung beauftragt war, Kulturdenkmäler in Ägypten zu fotografieren, allenfalls bei den Aufnahmen zur Hand und äußert sich nahezu ausschließlich negativ über die fotografischen Tätigkeiten des Freundes. Aber gerade diese strikte Ablehnung gegenüber dem noch sehr jun-

9

Naaman 1965: 157.

10 Vérain 2002: 37. 11 Du Camp 1994: 315. Wie Bernd Stiegler gezeigt hat, veranlasst dieser Blick den Physiologen Hippolyte Taine zu einer Zusammenarbeit mit Flaubert. Für Taine hatte Flauberts Blick die Aufnahme- und Wiedergabekapazität eines Fotoapparats. Überwältigt von der visuellen Dichte von Flauberts (erinnerten) Eindrücken, interviewte er ihn und überprüfte seine Erkenntnissen zur Sinnesphysiologie an Flauberts Aussagen (vgl. Stiegler 2001: 371ff. und Stiegler 2006b: 39ff.). 12 Adrianne Tooke kommt bei ihrer Analyse des Reiseberichts etwa zu dem Schluss: »These are not questions and reflections of a writer who is imposing any kind of preformed grid on what he sees« (Tooke 2000: 133). 13 Du Camp verkaufte die Fotoausrüstung nach etwa einem Jahr der Reise und nachdem die Aufnahmen in Ägypten abgeschlossen waren, weil der Transport ihm zu lästig wurde.

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gen Medium wird inzwischen häufig als eine tiefgreifende Negativerfahrung Flauberts verstanden, die, ex negativo, einen Bezug zu seiner Schreibweise eröffnet.14 Im Sinne dieser letzteren, intermedialen Herangehensweise an Flauberts Texte könnte der eingangs zitierte Ausruf auch als Eingeständnis des Scheiterns gegenüber der Fotografie verstanden werden. So wird Flauberts Verhältnis zum Schreiben auf der Reise immer wieder als krisenhaft aufgefasst; von ihm selbst wird behauptet, er sei sich der Unzulänglichkeiten des eigenen Mediums bewußt geworden. Sprache tritt in dieser Auslegung hinter die Fotografie zurück, die »s’est appropriée triomphalement cette réalité qui réduisait l’écrivain au mutisme ou qui désorganisait son discours«.15 Eine ähnliche Interpretation des Verhältnisses von Schreiben und Fotografieren besteht darin, Flauberts Schreibweise in den Reisenotizen als Resultat einer Medienkonkurrenz zu verstehen. Die Omnipräsenz von Farben und flüchtigen Bewegungen in Voyage en Égypte resultiert demzufolge daraus, dass der Autor sich bemüht, in Szene zu setzen, was die Fotografie eben (noch) nicht festhalten konnte.16 Andererseits, und auch davon zeugt das Eingangszitat, strebt Flaubert in seinen, häufig schlicht die Gegebenheiten benennenden Aufzeichnungen des Reiseverlaufs einen Verzicht auf Idealisierung und Illusion an, der seine Schreibweise in die Nähe fotografischer Wirklichkeitswiedergabe rückt. Das ist wiederum der Grund dafür, warum Flauberts Passiverfahrung mit der Fotografie eine Schlüsselfunktion bei der Überwindung seiner romantischen Schaffensideale hin zu einer realistischen Wirklichkeitsannäherung zugeschrieben wird. Autoren wie Philipe Ortel oder Marta Caraion betrachten die Fotografie auch weitläufiger als ein »modèle inavoué«17 der gesamten zwischen Romantik und Realismus stehenden Schriftstellergeneration, der Flaubert angehört. Diesem Verständnis nach hat die Fotografie im 19. Jahrhundert stillschweigend die Welt des Schreibens revolutioniert und eine »pensée de type positiviste« mit den »rêveries mélancolique du romantisme«18 zusammengeführt. Im Folgenden soll der Ausruf Flauberts aber nicht als Kapitulation oder implizite Herausforderung an die Fotografie aufgefasst, Flauberts Schreibweise also nicht als schadenfrohe Demonstration der Über- oder Unterlegenheit seines Mediums 14 Flauberts Ablehnung der Fotografie wird häufig aus einer zu großen Nähe seiner literarischen Anliegen zur Fotografie erklärt; so auch bei Ortel: »Sa haine [de Flaubert] de la photographie ne s’explique que parce qu’il explore en partie le même territoire qu’elle« (Ortel 2002a: 207). Vgl. auch Leclerc 1999: 103. 15 Ortel 2002a: 211. 16 Vgl. hierzu Leclercs Einschätzung, dass »la note est pour lui [Flaubert] une façon de défaire la représentation que l’appareil fixe; seul l’imphotographiable est pour lui notable« (Leclerc 1999: 100). Siehe auch Schuller-Procopovici 1997: 34 oder Caraion 2000: 334. 17 Ortel 2002a: 20. 18 Caraion 2003: 200.

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verstanden werden, sondern als Ausdruck einer konstruktiven Läuterung. Lässt man die Medienkonkurrenz außen vor,19 geht man also nicht von einem Wetteifern Flauberts mit der Fotografie um die höchstmögliche Transparenz der Wirklichkeitswiedergabe aus, dann lassen sich bei Flaubert Techniken ausmachen, die den fotografischen Akt sprachlich umsetzen, ohne dass der Vergleich mit fotografischer Abbildung geltend gemacht werden muss. Es ist nämlich ein Charakteristikum sowohl zeitgenössischer Kritik20 als auch aktueller Intermedialitätsforschung, den Texten Flauberts das Attribut ›fotografisch‹ im Hinblick auf ihre Beschreibungen zuzuweisen. Die entsprechenden Passagen werden dabei als »tableaux« gelesen und über ihre Detailliertheit, ihren Rhythmus oder ihre Objektivität21 Bezüge zur Fotografie hergestellt. Tatsächlich sind die Beschreibungen aber keine bildhaften Unterbrechungen der Handlung, sondern meist eine verschlüsselte Symbolik oder Vorwegnahme des Geschehens, selbst wenn sie den Erzählverlauf vorübergehend anhalten.22 Die häufig gezogene Schlussfolgerung aus dem Vergleich der Beschreibungen mit Bildern führt zu der Aufwertung einer »lecture par visualisation« gegenüber einer »lecture par déchiffrement«,23 das heißt einer Lektüre, die das Geschriebene nicht symbolisch auswertet, sondern im Geiste visualisiert.24 Das wiederum führt zu der Deklaration einer Hegemonie des Referenten in Flauberts Texten, eines Primats der Dinge, die »als solche« durch die Beschreibung imaginiert werden, wie sie von Flaubert »als solche« durch das Schreiben erfasst wurden. 19 Exemplarisch für eine solche Auslegung sei auf Adrian Tookes apodiktische Einschätzung der Medienkonkurrenz verwiesen: »In the course of the Voyage en Orient he [Flaubert] discovers a new rival: photography, There is no doubt that he perceived photography as constituting a real threat« (Tooke 2000: 171). 20 In einer Kritik, die am 22. Dezember 1862 in der Zeitschrift Le Moniteur erschien, bezeichnet Théophile Gautier Flauberts Beschreibungen in Salammbô wegen ihrer Genauigkeit als Fotografien und führt begeistert aus: »Les images du monde antique semblent s’y être fixées comme sur un miroir de métal poli qui eût gardé leur empreinte« (zitiert bei Caraion 2003: 260). Für eine Charakterisierung des Vergleichs von Literatur und Fotografie in der Realismusdebatte siehe auch Kelly 1991: 197ff. 21 Vgl. zum Beispiel Ortel 2002a: 213, Caraion 2003: 261. 22 Vgl. etwa Marc Föckings Interpretation der Beschreibung von Emmas Hochzeitstorte (Föcking 2010b: 132 ff.). 23 Ortel 2002a: 215. 24 Dass gerade die Detailliertheit der Beschreibungen aber die Möglichkeit der geistigen Visualisierung irritiert, wurde in der poststrukturalistischen Flaubertforschung erkannt und für die eigenen Zwecke als Strategie selbstreferentieller Sprachlichkeit ausgelegt. Christine Schmider kommt in ihrem Plädoyer für »Flauberts Poetik des Materiellen« ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Beschreibungen »das Sich-Verlieren des lesenden Blicks in der Materialität der Dinge« bewirken (Schmider 2005: 66).

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In der folgenden Untersuchung soll allerdings aufgezeigt werden, dass Flaubert die Sprache selbst zu seinem Referenten macht, mit ihrer Materialität arbeitet und ihr Anschlusspotential an Wirklichkeit einsetzt. Seine Texte erhalten dadurch einen Anhaltspunkt in Sprache, die in diesem Sinne nicht mehr das Mittel zum Zweck einer transparenten Wiedergabe realer Gegebenheiten wäre, sondern Ausgangspunkt des Verwebens von Fiktion und Gegenwart. Man kann Flauberts literarische Praxis als eine Verschiebung bezeichnen, mit der er, aus Sprache heraus, eine Teilnahme an Gegebenem zu erzeugen versteht. Repräsentationsform und Gegenstand, Text und Gegenwart überlagern einander dabei punktuell. Wie die Einkerbungen von Namen auf den Monumenten, denen Flaubert auf seiner Ägyptenreise begegnet und die ihn erst faszinieren, als sie mit ihrem Untergrund verschwimmen und neue Figuren bilden, versucht Flaubert in den zu untersuchenden Überlagerungsmomenten nicht der »imbécile«25 zu sein, der meint, Namen oder Wörter könnten Stellvertreter für die Präsenz des von ihnen Bezeichneten sein.26 Die Erkenntnis, die ihn zu dieser Auffassung bewegt, kann man in seiner ebenfalls während der Ägyptenreise angestellten Beobachtung vermuten, Verbundenheit zwischen zwei Personen stelle sich nicht über die Übereinstimmungen ihrer Ideen ein, sondern beruhe auf der Ausübung einer gemeinsamen Sprache: »le vrai lien est dans la langue [Hervorhebung von mir]«.27 Um Teil einer gemeinsamen Wirklichkeit zu sein, komme es 25 Flaubert 1991: 213. 26 Erst in dem Moment, in dem Flaubert davon absieht, über die Mittelung der »Schmierereien« auf den Ruinen nachzudenken, und sich nicht mehr um seine Kontemplation betrogen fühlt, bildet er über eine Annäherung an ihre Materialität ein Interesse für sie heraus. Bei der zweiten Erwähnung der Namen, begnügt er sich damit, sie samt des Datums, das neben ihnen steht, aufzuzählen: »[D]es noms de troupiers français – mur de l’est – et la date 1799: Louis Ficelin, Ladouceur, Lamour, Luneau, François Dardant« (ebd.: 291). Im Folgenden zeugt ein Kommentar zu der vermutlichen Dauer des Einritzens der Namen (»il y en a qui ont dû demander trois jours à entailler« (ebd.: 317)) indirekt davon, dass Flaubert sich über die Gestalt der Schriftzüge Gedanken zu machen beginnt. Bei den nächsten Begegnungen mit den Einkerbungen hebt er zunächst die Fertigungsweise hervor: »le nom a été gravé par petits trous« (ebd.: 356) und stellt sie zuletzt sogar mit den historischen Inschriften auf eine Ebene: »[L]es noms des voyageurs écrits au couteau y disparaissent les uns sous les autres – c’est tout aussi hiéroglyphique que les hiéroglyphes qui entourent les trois autres côtés de la chambre« (ebd.: 395). Erst durch die Überlagerung verschwimmen die Namen mit ihrem Trägermaterial zu einer neuen Figur, die ihren Betrachter nicht mehr an die stupide (präfotografische) Tourismusformel denken lassen, die ihr eigentlicher Beweggrund ist. Sobald Flaubert sich nicht mehr das Zeugnis des Besuchs aufdrängt, das die vorherigen Reisenden von ihrer Besichtigung abzulegen wünschen, entwickelt er ein ästhetisches Interesse an den Kritzeleien. 27 Ebd.: 365.

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also stärker darauf an, die gleichen Mittel zu haben, um sie auszudrücken als die gleichen Ideen oder Anschauungen von ihr. Demnach kann man, so die These, bei Flaubert einen Berührungspunkt zwischen Referent und Signifikant ausmachen, der besonders dann zur Geltung kommt, wenn eine Annäherung oder ein Anschluss zwischen Erzähltem und Erzählung erzeugt werden soll. Sprache repräsentiert dann nicht nur Gegebenheiten, sondern weist einen der Fotografie vergleichbaren Realzusammenhang mit ihnen auf. Auch wenn es ebenso ein explizites Bestreben Flauberts war – ob nun in An- oder Ablehnung an die Fotografie oder nicht – die Dinge über seine Formulierungen erscheinen zu lassen, »›faire voire‹ les choses«,28 macht er durch das Schreiben zunächst nur Sprache, Schriftzeichen und Lautabfolgen sichtbar.29 Begreift man dieses Bestreben als den Wunsch, einen unmittelbareren Zusammenhang zwischen Referent und Signifikant herzustellen, der möglichst auf einer Art Wiedererkennungsmoment beruht und kein über den sprachlichen Code hinaus reichendes Wissen erfordert, dann lässt sich womöglich auch auf der Ebene von mentalen Bildern, die Flaubert gezielt beim Leser aufzurufen versucht, ein Zusammenhang zwischen seiner Schreibweise und der Fotografie herstellen. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass es auch Verfahren in Flauberts Schreibweise gibt, die Distanz zwischen Referent und Signifikant dadurch zu verringern, dass sie a) über einen Ort verbunden werden und b) die gleiche Materialität aufweisen. Dafür soll in dem Unterkapitel »Die Wanzenformel« zunächst gezeigt werden, welche Strategie Flaubert entwickelt, um sich eines möglichst geringen Abstandes zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zu vergewissern. Man kann hier fast von einer »Selbstüberlistung« sprechen, da die ›Wanzenformel‹ dem Wunsch entspricht, sich selbst vor Idealisierungen oder metaphorischen Höhenflügen zu bewahren. Sie scheint die Konsequenz der Erkenntnis zu sein, die schon in dem eingangs angeführten Zitat anklingt und in Madame Bovary expliziert wird: Mit Worten nach den Sternen greifen zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch.30 Das bereits von den Zeitgenossen erkannte,31 aber auch in der aktuellen Forschung zu Flaubert berücksichtigte Mittel,32 sich dieser Vergeblichkeit bewusst zu 28 Ortel 2002b: 207. 29 Dafür spricht auch Flauberts Methode, sich die Sätze bei der Korrektur vorzuschreien. Sie ist in der Flaubertforschung unter dem Namen »gueuloir« bekannt (vgl. auch Schmider 2005: 72). 30 Vgl. Flaubert 1999: 301. Vgl. dazu auch: Barnes 2010: 215. 31 Der zeitgenössische Kritiker Gustave Merlet »remarked of Flaubert that each time any semblance of an ideal tried to express itself in Madame Bovary, it was shot down by a barrage of pointless trivial details« (Kelly 1991: 201). 32 Culler beobachtet, dass die Erwähnung von Vulgärem oder Niederem eine literarische Absetzungsstrategie ist. Die Einführung von Sujets, die für Romantiker Tabu waren, half

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bleiben, besteht darin, die Beschreibungen durch die Erwähnung von Ungeziefer oder gleichwertig »störenden Details« wie Exkrementen oder Schweißproduktion wortwörtlich auf dem Boden der Tatsachen zu halten. Während die Zeitgenossen darin einen Mangel an Entscheidungsfähigkeit sahen und die Gleichwertigkeit, mit der Nobles und Vulgäres bei Flaubert häufig auftritt, immer wieder Anlass zu negativen Vergleichen seiner Texte mit der Fotografie gab,33 wird diese Vermischung in der aktuellen Flaubertforschung als ein Problem des Realismus verhandelt. Hier wird die Erwähnung abstoßender oder lästiger Details in Liebesszenen u.ä. zu den Konventionen gezählt, die der Realismus ausgebildet hat, um Realität darzustellen.34 Die wiederkehrenden Details sind also explizit dem angestrebten Realismus der Darstellung geschuldete Elemente und können als romantische Antiindikatoren eines spezifischen Realitätskonzepts verstanden werden. In diesem Sinne wären sie die innerfiktionale Miniaturvariante einer allgemeinen diskursiven Kontrastierung – kurz: Ungeziefer vs. Herzensergießungen entspricht Realismus vs. Romantik. Mit der ›Wanzenformel‹ soll ergänzend zu diesem Einvernehmen in der Flaubert- und Realismusforschung aufgezeigt werden, dass die Erwähnung von Ungeziefer zunächst eine spezifische Realitätserfahrung Flauberts ausdrückt. Deren Ursprungszene findet sich in den Reiseaufzeichnungen aus Ägypten und wird erst im Nachhinein zu einem ästhetischen Konzept ausformuliert. Dementsprechend soll anhand der Reisenotizen und der Korrespondenz Flauberts zur Zeit der Niederschrift von Madame Bovary nachvollzogen werden, wie sich Ungeziefer für ihn zu einem Sinnbild antisymbolischer, kontrastiver Schreibweise entwickelt. Die mit dem bloßen Auge kaum erkennbare Gestalt von Flöhen, Läusen oder Wanzen, aber auch ihre sich in unangenehmen körperlichen Spontanreaktionen äußernde Kontaktaufnahme mit dem Menschen lassen bereits vermuten, dass sie eine Ästhetik der Nah- oder Direkterfahrung fördern. Wie der weise Protagonist in E.T.A. Hoffmanns dabei, einen realistischen Literaturbegriff auszubilden, der sich explizit romantischer Darstellungskonventionen entledigen wollte: »In the mid XIXth century, realism has especially this connotation of reference to the low or vulgar that was not previously accommodated by literary discourse« (Culler 2009: 16). 33 Boris Lyon-Caen erwähnt in seiner historischen Ausdifferenzierung des Begriffs »insignifiance« wie stark seine Abwandlung »indistinction« im ästhetischen Diskurs in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Fotografie in Verbindung gebracht wurde. Er sieht darin ein Symptom der Angst um das Verschwinden von Unterschieden und nennt exemplarisch Madame Bovary. Der Roman scheint wie die Fotografie »écraser toute épaisseur du monde« (Lyon-Caen 2005: 362). 34 Siehe u.a. Culler, der diese Erkenntnis als Errungenschaft Roland Barthes’ ausweist (Culler 2007: 689 oder Culler 2009: 16). Culler erwägt in seinem Artikel, inwieweit Realismus einer literarischen Konvention, einem Antiidealismus oder tatsächlich einer Ähnlichkeit mit realen Verhältnissen geschuldet ist.

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Meister Floh zu verstehen gibt, sticht er seine Opfer nicht aus bloßem Eigennutz, sondern auch, um sie auf etwas aufmerksam zu machen.35 Der Gestochene wird durch den Stich mit seiner momentanen physischen Gegenwart konfrontiert und dadurch bestenfalls vor einem Unglück bewahrt. Demnach hätte der Flohstich einen ähnlichen Effekt wie der Druck auf den Auslöser. Er bewirkt ein Innehalten und bannt die Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf das Hier und Jetzt, in dem er getätigt wird.36 Die ›Wanzenformel‹ zeigt, dass Flaubert im Schreiben mit einem metaphorisch bedingten Übermaß an Bedeutungen ringt. Andererseits persifliert er aber auch abgegriffene Redensarten und klagt damit die Verflachung oder auch den Verlust von sprachlicher Bedeutung an.37 Im zweiten Unterkapitel soll dann ein ästhetischer Wert von Sprache zum Tragen kommen, der zwischen diesen beiden Polen angesiedelt ist. Es soll untersucht werden, wie Flaubert die Wirkmacht sprachlicher Bedeutungslosigkeit thematisiert und welchen Stellenwert der materielle Niederschlag des gesprochenen Wortes in Madame Bovary hat. Auch wenn Gemeinplätze und bedeutungslose Phrasen bei Flaubert Ausdruck mangelnder Intelligenz oder blind übernommener Vorurteile sind, zeigen sie eine Wirkung und mitunter sogar eine Prägung, die gerade nicht von ihrem Ideengehalt herrührt. Gesprochenes erhält dadurch immer wieder einen Präsenzgehalt, der sich allein aufgrund der Tatsache ergibt, dass etwas ausgesprochen wird. Die Botschaft von Äußerungen wäre damit durch ihren Vollzug ersetzt, sodass sich ihr Bedeutungsgehalt vor allem über das Hier und Jetzt des Aussagens einstellt. Dementsprechend wird die symbolische Verschlüsselung von Gesprochenem von seiner zeiträumlichen Verortung verdrängt und greift damit das metonymische Potential der ›Wanzenformel‹ auf. Auf der Ebene der ›histoire‹ zeigt sich diese materialästhetische Verschiebung etwa in zerteilten sprachlichen Sinneinheiten oder aber in den Beschreibungen von unterschiedlichsten physiologischen Nachwirkungen ausgesprochener Worte. Den 35 Vgl. Hoffmann 2006: 111. 36 Die Details werden folglich nicht als eine literarische Anlehnung an die Fotografie verstanden, von der Edwards zu Recht feststellt, dass »[d]ans la photographie des années 1850, on ne trouvera pas de détails symboliques« (Edwards 2008: 131). Die Details in Flauberts Beschreibungen erachtet Edwards dagegen als symbolisch motiviert (vgl. ebd.). Darüber hinaus kommt auch Marc Föcking zu dem Ergebnis, dass sich Flauberts Konzentration auf die »détails les plus plats« auch wahrnehmungsphysiologisch und über den zeitgenössischen medizinischen Diskurs erklären lässt (vgl. Föcking 2002: 216ff.). 37 Flauberts kritische Haltung gegenüber Plattitüden und der ästhetische Nutzen, den er aus ihnen zieht, ist bereits gut untersucht worden. Frank Leinen siedelt Flauberts literaturästhetische Endeckung des Allgemeinplatzes, seinen »Kampf […] um eine Emanzipation von abgegriffenen Denk- und Sprechmustern« beispielsweise während der Niederschrift von Novembre an (Leinen 1990: 42).

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Figuren, aus deren Perspektive solch ein Widerhall des Gesprochenen beschrieben wird, prägt sich bezeichnenderweise nie der Inhalt des Gesagten ein, sondern der Klang der Stimme oder die Sprachgesten ihres Gegenübers. Aussagen sondern sich in Madame Bovary also stark in Nachklängen oder Nachbildern von Sprache ab und weniger in inhaltlichen Reflexionen.38 Im ›discours‹ wird die zeiträumliche Verortung des Geschriebenen wiederum von einer subtilen Überlagerung von Fiktionsund Produktionsmoment hervorgerufen. Die Analyse wird zeigen, wie die Erzählung vereinzelt, etwa durch mehrdeutige Deixis, von einer latenten Präsenz aus dem ›Off‹ irritiert wird. Sie wird damit unterschwellig an den Akt ihrer Hervorbringung angeschlossen, an das Schreiben und ihren schreibenden Urheber. Die beiden in den Unterkapiteln untersuchten Phänomene führen somit vor, dass Sprache vor Ort, aus einem Realzusammenhang und zwischen Kommunikationspartnern (ent-)steht und dass man, um zu schreiben, »im Freien« auf ihren Gebrauch und auf ihre Materialität gestoßen sein muss.

Pleinairfotografie um 1850 Die »fotografische Unternehmung«, der Flaubert auf seiner Orientreise mehr oder weniger freiwillig angehört, entspricht einem sehr typischen fotografischen Anliegen aus der Frühzeit der Fotografie. Man kann es als den Wunsch bezeichnen, eine »encyclopédie visuelle«39 zu erstellen, oder auch als »Hoffnung auf eine Generalinventur der sichtbaren Welt«.40 Um diesem Bedürfnis nach Archivierung nachzukommen, begann man um 1850, systematisch Aufnahmen von historischen Bauten und Monumenten anzufertigen. In Frankreich wurden zu dieser Zeit mehrere aufwendige Fotoprojekte staatlich gefördert wie zum Beispiel die ›mission héliogra-

38 Die eindeutigsten Beispiele dieser Nachbilder finden sich im Umgang zwischen Figuren, die sich erst seit kurzer Zeit voneinander angezogen fühlen, wie Charles zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Emma und Rodolphe nach seiner ersten erfolgreichen Annäherung an Emma bei der Landwirtschaftsmesse. Über Charles heißt es, die Figur Emmas habe sich nach einem Besuch in Les Bertaux mehr oder weniger auf seine Netzhaut eingebrannt und er wiederhole im Geiste jeden ihrer Sätze (vgl. Flaubert 1999: 82). Und Rodolphe führt sich im Festzelt der »Comices agricoles« Emmas Worte und die Form ihrer Lippen vor Augen, während ihr Gesicht wie in einem Zauberspiegel von den glänzenden Kopfbedeckungen der anderen Gäste widerscheint (vgl. ebd.: 252). 39 Caraion 2000: 330. 40 Busch 1996: 192. Busch bezieht sich mit dieser Einschätzung explizit auf den Artikel »Der Daguerreotyp« (1839) von Jules Janin, eines der ersten fototheoretischen Zeugnisse (vgl. Kemp/Amelunxen 2006: 46 ff.).

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phique‹41 oder Charles Marvilles Dokumentation des mittelalterlichen Paris vor dem Umbau durch Haussmann.42 Für diese Erfassung der Welt wurde das Medium Fotografie im Interesse von Konservierung und Dokumentation eingesetzt. Fotografiert wurde im Sinne einer repräsentativen Zeigegeste, mit der dargeboten werden sollte, was bereits von Menschenhand errichtet worden war. Das erklärt auch den überdurchschnittlich oft vertretenen fotografischen Aufnahmemodus, und zwar eine frontale Erfassung des gesamten Gebäude- beziehungsweise Straßenkomplexes. Die Fotografien sollten nach Möglichkeit allumfassend über die äußere Erscheinung der Architektur informieren. Insofern war es alles andere als erwünscht, den Standpunkt des Fotografen, seine persönliche Wahrnehmung oder Perspektive, geschweige denn seine Auffassung von dem Bauwerk über das Bild erkennbar werden zu lassen. Der Fotograf war ganz Operateur und ordnete sich seinem Auftrag und den technischen Vorgaben seines Apparates unter. Auch Maxime Du Camps Fotoserie von den Ruinen der Denkmäler in Ägypten war eine in dieser Absicht von der Regierung, genauer gesagt vom Ministerium für Erziehung, unterstützte Arbeit.43 Das verschaffte den Reisenden vor Ort Erleichterungen, hatte aber auch zur Folge, dass ein Komitee der Académie des Inscription et Belles Lettres im Voraus technische Instruktionen gab. In dem Bericht ihres Treffens vom 7. September 1849 sprechen die Mitglieder des Komitees sich vor allem für allgemeine Ansichten von den Bauten aus und für deren »getreue und konsequente Aufzeichnung«.44 Es entsprach auch der Haltung Du Camps zur Fotografie, sie wie in den genannten Empfehlungen vornehmlich als Mittel zum Zweck histori-

41 Im Sommer 1851 und 1852 schickte das Comité des Monuments Historiques der Académie des Beaux-Arts fünf Fotografen (Gustave Le Gray, Mestral, Henri Le Secq, EdouardDenis Baldus und Hippolyte Bayard) »mit genauen Verzeichnissen der aufzunehmenden Gebäude« in Frankreichs Provinzen (Gernsheim 1983: 194). 42 Charles Marville arbeitete Mitte der 1850er Jahre für den Services des Travaux Historiques und war damit beauftragt, die für den Abriss bestimmten Straßenzüge zu fotografieren (vgl. Gernsheim 1983: 196 und Frizot 1994: 199). 43 Du Camp hatte gezielt eine Unterstützung erwirkt, um seinen schon länger gehegten Traum einer Orientreise archäologischen Formats zu realisieren. Auch für seinen Freund Flaubert hatte er Mittel und Aufgaben ersonnen, um von der Regierung eine finanzielle Zuwendung zu bekommen. Flaubert erhielt vom Ministère de l’Agriculture et du Commerce den Auftrag, sich vor Ort über Anbau, Produktion und Verschiffung von Waren zu erkundigen und genaue Zahlen bezüglich des Güterverkehrs einzuholen (vgl. Flaubert 1991: 49f. und Vérain 2002: 85). Allerdings nahm Flaubert seinen Auftrag nicht besonders ernst und stellte recht früh jegliche Bemühungen ein, um an die gewünschten Informationen zu kommen. 44 Zitiert bei McCauley 2003: 44.

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scher Dokumentation einzusetzen.45 Er hatte sich das nötige technische Wissen für seinen Auftrag kurzfristig angeeignet, verstand sein Vorhaben als wissenschaftliche Unternehmung mit archäologischer Mission46 und beließ es dementsprechend, nach getaner Arbeit, bei dem einmaligen Einsatz der Fotografie. Flaubert unterstellte Du Camp sogar, er mache die Aufnahmen ausschließlich aus Gründen des Prestiges, was sich später als wahr herausstellte – ob es nun seine Hauptambition gewesen war oder nicht – da der fertige Fotoband dem Freund verschiedene Ehrungen einbrachte, u.a. der Légion d’Honneur.47 Du Camps Fotografien unterstanden also, wenn auch nicht rigiden, so doch angetragenen und von ihm befolgten Darstellungskonventionen. Hinzu kommt, dass auch die Fototechnik Ende der 1840er Jahre nicht viel Spielraum für gestalterische Entscheidungen ließ. Obwohl Du Camps Reise genau in den Zeitraum wichtiger fototechnischer Fortschritte fiel, war das Gelingen der Aufnahmen noch vielen Unsicherheitsfaktoren ausgesetzt, sodass Fotografieren nahezu ausschließlich eine technische Herausforderung war. Vor allem die Belichtungszeit, die Sensibilisierung der Negative und der Transport der Fotoausrüstung48 stellten Einschränkungen, Hindernisse und Fehlerquellen dar. Du Camp arbeitete zunächst mit dem von Gustave Le Gray erfundenen und erst 1851 veröffentlichten Wachspapierverfahren. Bei der Ankunft in Cairo traf er auf den Fotografen Baron Alexis de Lagrange, der ihn zudem in das jüngst verbesserte Kalotypieverfahren von Blanquart-Évrard einweihte.49 Dies waren Negativ-PositivVerfahren auf Papier, die entwickelt wurden, um u.a. Reproduzierbarkeit und Vergrößerung zu ermöglichen. Die Kalotypie hatte gegenüber der Daguerreotypie den

45 Die zweckorientierte Haltung Du Camps steht im Gegensatz zu der der meisten anderen Fotografen der ›mission héliographique‹: Henri Le Secq und Baldus gehörten zum Beispiel zu den ersten Architekturfotografen, die systematisch nach dem Prinzip der Fragmentierung arbeiteten, das heißt einen »der fundamentalen Wesenszüge der Photographie« erkannten und mit ihm gestalteten (Gernsheim 1983: 195). Aber auch Gustave Le Gray und Hippolyte Bayard haben eigene technische und ästhetische Besonderheiten entwickelt, weshalb man sie, wie Wolfgang Kemp, als frühe »Autorenfotografen« bezeichnen kann. 46 Neben den Fotografien gehörten auch gelegentliche Vermessungen der Ruinen und Pausungen der Inschriften zu Du Camps Arbeiten vor Ort. 47 Vgl. McCauley 2003: 60. 48 Bei Gernsheim findet man eine Auflistung der Gegenstände, die ein Reisefotograf zu dieser Zeit mit sich führen musste. Außerdem verweist er darauf, dass auch die Wahl des Standpunktes an die Ausstattung gebunden war, da zwischen »Dunkelkammerzelt und Kamera ein Weg von maximal drei Minuten« liegen durfte (Gernsheim 1983: 334). 49 Vgl. Kesberger 1997: 209. Siehe auch Gernsheim 1983: 191.

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Vorteil, die Entwicklung des Bildes auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen.50 Auch Du Camp brachte dementsprechend keine fertigen Fotografien von seiner Reise mit, sondern rund 220 belichtete Negative, von denen 125 in der Kopieranstalt von Blanquart-Évrard in Lille abgezogen und in dem Band Égypte, Nubie, Palestine et Syrie veröffentlicht wurden.51 Für das Fotografieren im Freien und unterwegs war das Wachspapierverfahren ideal, da die Negative eine hohe Transparenz aufwiesen, längere Zeit im Voraus präpariert werden konnten und nicht direkt nach der Belichtung entwickelt werden mussten.52 Wie aufwendig die Aufnahmen trotz der Fortschrittlichkeit des Verfahrens waren, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass es auch im Angesicht des Motivs noch etwa vierzig Minuten dauerte, um ein Negativ zu belichten.53 Bevor das Negativ in die schwere Holzkamera eingesetzt werden konnte, musste es vor Ort in einem lichtundurchlässigen Zelt mit Eiweiß und Kaliumjodid sensibilisiert werden (siehe Abbildung 14). Noch feucht und von einer Glasplatte plan gehalten, wurde es anschließend in die Kamera eingesetzt und belichtet.54 Aber auch die Belichtungszeit war mit rund zwei Minuten noch lange, sodass es nicht möglich war, bewegte Objekte abzulichten. Da die Bilder Du Camps vornehmlich Ruinen wiedergeben und allenfalls seine Bediensteten und zwei- bis dreimal Flaubert zur Veranschaulichung des Maßstabes in sehr großer Entfernung auf den Fotografien zu sehen sind, war die Belichtungszeit in diesem Fall die weniger schwer wiegende Einschränkung. Insgesamt kann man aber festhalten, dass die Dominanz des Monuments als fotografisches Motiv zu der Zeit durchaus technisch bedingt war.55 Ortel schlussfolgert aus den technischen 50 Vgl. Frizot 1994: 31. Talbot, auf den die Bezeichnung »Kalotypie« zurückgeht, experimentierte in England bereits seit 1840 mit Negativ-Positiv-Verfahren. In Frankreich setzte sich jedoch zunächst die Daguerreotypie durch und erst ab Ende der 1840er Jahre wurden die Papierverfahren verwendet. 51 Die Abzüge mit Beschriftungen auf Seidenpapier erschienen bei dem Pariser Verlag Gide & Baudry und konnten in 25 Teillieferungen angefordert und in einem Sammelalbum zusammengefügt werden (vgl. Gernsheim 1983: 191). 52 Kesberger 1997: 209. Siehe auch Gernsheim 1983: 194. 53 Angesichts dieser Umstände leuchtet es ein, dass McCauley angesichts von vierzehn Aufnahmen pro Tag von einer »Spitzenproduktion« spricht (vgl. McCauley 2003: 51). 54 Vgl. Kesberger 1997: 210. 55 Die sich zeitgleich herausbildende Tendenz zu Baum- und Waldstudien war im Vergleich zu den Architekturaufnahmen ein fotografisch ambitionierteres Unterfangen, da Lichtverhältnisse, Feingliedrigkeit und Beweglichkeit der Bäume eine höhere Herausforderung darstellten. Dennoch war besonders der Wald in Fontaineblau ein beliebtes Motiv bei den Kalotypisten und kann neben den Monumenten als zweites wichtiges Motiv vder Freilichtfotografie in den 1850er Jahren aufgefasst werden (vgl. Jammes/Janis 1983: 82).

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Voraussetzungen zudem, dass die so entstandenen Bilder weniger codiert waren.56 Bedenkt man also die technischen Unwägbarkeiten, die Mühen des Transports und die Tatsache, dass Du Camp auf keinerlei Erfahrungen, weder hinsichtlich des Mediums, noch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vor Ort – die Aufnahme der ägyptischen Monumente war eine Pionierleistung –, zurückgreifen konnte, ist die Anzahl und die Qualität der Negative, die er von der Reise mitbrachte, bemerkenswert. Abbildung 14: Smartts Dunkelzelt

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Wie bereits aus manchen Zitaten der Einleitung hervorgeht, war sein Reisebegleiter Flaubert dennoch wenig beeindruckt von Du Camps Leistung. Es ist nur ein positiver Kommentar zu einem Foto Du Camps von den Pyramiden aus Flauberts Korrespondenz überliefert.58 Ansonsten äußert er sich in seinem Reisejournal und seinen Briefen eher abschätzig über den fotografischen Anlass der Reise, wenn er überhaupt etwas darüber verlauten lässt. Die meisten Erwähnungen sind sehr nüchtern im Stil von »matinée froide passée à la photographie. Je pose en haut de la Pyramide«,59 oder aber Flaubert beklagt sich über seine vom Silbernitrat geschwärzten Finger,60 über die fehlende emotionale Anteilnahme am fotografischen Schaffens-

56 Vgl. Ortel 2002b: 13. 57 Abbildung in: Eder 1893: 117. 58 Vgl. Vérain 2002: 23. 59 Flaubert 1991: 215. 60 Vgl. Kesberger 1997: 210.

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prozess61 oder darüber, wie sehr ihn die Tempel langweilen.62 Auch nach der Reise, das ist hinlänglich bekannt, gibt Flaubert immer wieder seiner Abneigung gegenüber der Fotografie Ausdruck und wehrt sich inständig, Porträts von sich erstellen, geschweige denn veröffentlichen zu lassen.63 Seine Haltung zur Fotografie ist damit typisch für eine zeitgenössische kulturpessimistische Tendenz, dessen prominentester Vertreter Baudelaire ist.64 Obwohl Flaubert die fotografisch erzeugte Repräsentation ablehnt, entwickelt er in seinen Aufzeichnungen eine Art der Notiznahme von unbedeutenden Begebenheiten, die an die Konfrontation mit dem Referenten im fotografischen Akt erinnert. Er spürt auf diese Weise dem ägyptischen Alltag um 1850 in banalen Gesten, Umgangsweisen und flüchtigen Eindrücken nach. Im Gegensatz zu seinem Reisebegleiter, der sich mit einer fotografisch konventionalisierten Objektivität wappnet,65 erlangt Flaubert Einsicht in subjektive Nüchternheit. Du Camp strebt nach Aufnahmen historischen Formats, während Flaubert durch seine Neutralität eine erhöhte Aufnahmefähigkeit für das unmittelbare Umfeld entwickelt. Die Vergleichbarkeit von Flauberts Schreibweise mit der Fotografie liegt damit zwar im Bereich des fotografischen Akts, da sie sich gezielt auf eine direkte, von den jeweiligen Gegebenheiten gesteuerte Benennung verlagert, kann aber keinesfalls mit den repräsentativen Interessen eines Fotografen à la Du Camp verglichen werden. Ein gerade zu Beginn von Flauberts Reisebericht noch häufig verzeichnetes Indiz des unmittelbaren Umfeldes ist die Erwähnung von Insekten – ein denkbar unwürdiges Sujet im Vergleich zu Du Camps fotografischem Unterfangen. Wie eine Fliege auch schon bei Du Camp auf das Bild hätte gelangen können und welche Schlüsse man daraus für Flauberts Ästhetik ziehen kann, soll anschließend anhand von einer Gegenüberstellung zweier Fotografien gezeigt werden. Es handelt sich um zwei Aufnahmen des gleichen Motivs, die mit gut zwanzig Jahren Zeitunterschied entstanden sind. Beide Fotografien zeigen Mameluckengrä61 Vgl. Flaubert 1991: 382 f. 62 Vgl. ebd.: 327. 63 Für eine übersichtliche Sammlung der bekanntesten abwertenden Zitate Flauberts zur Fotografie siehe: Guinot 2010: 543f. 64 Dolf Oehler geht davon aus, dass es zur »heiligen Pflicht« eines jeden Autors, der Gesellschaftskritik üben und sich gegen den »common sense« seines Umfeldes auflehnen wollte, gehörte, die Fotografie schonungslos in Zweifel zu ziehen. In dieser Hinsicht stellt er Baudelaire, Flaubert und Herman Melville auf eine Stufe (vgl. Oehler 1989: 104). 65 Erwin Koppen formuliert das fotografische Selbstverständnis, mit dem auch Du Camp ans Werk ging wie folgt: »Die Fotografie steht zunächst, und zwar sowohl als Erfindung wie auch als ästhetisches Phänomen, im Banne des Realismus und eines mehr oder weniger naturwissenschaftlichen, wenn nicht gar materialistischen Weltverständnisses« (Koppen 1986: 324).

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ber in der Nähe von Kairo: Eine ist am 27.12.1849 auf Flauberts und Du Camps Reise entstanden (siehe Abbildung 15), die andere um 1870 (siehe Abbildung 16). Letztere stammt von dem italienischen Fotografen Antonio Beato, der seit 1862 in Luxor lebte, ein Fotostudio in Kairo betrieb und sich auf Baudenkmäler und historische Stätten vor Ort spezialisiert hatte. 66

Abbildung 15: Maxime Du Camp Mameluckengräber (27. Dezember 1849)

Obwohl die zwischen den Aufnahmen vergangenen zwanzig Jahre und die Tatsache, dass Beato sich in Ägypten niedergelassen hatte und seine Fotoausrüstung dementsprechend weniger transportabel sein musste, einen erheblichen technischen Unterschied ausmachen, kann man keinen frappierenden bildqualitativen Sprung zwischen den beiden Fotografien feststellen.67 Die Rundungen in Beatos Aufnahmen der Mameluckengräber haben allenfalls ein wenig mehr Tiefe und die Details der Oberflächenstruktur, insbesondere der unverputzten Mauern im Vordergrund, treten stärker hervor. Auch am dem Himmel lassen sich bei Beato mit Wohlwollen Tiefen erahnen, während er bei Du Camp tatsächlich vollkommen flach wirkt. Das von Beato angewandte Kollodiumverfahren hätte bereits Wolken ablichten können,68 in der Zeit, in der Du Camp seine Fotos machte, war es dagegen noch nicht möglich,

66 Abbildung in: Schuller-Procopovici/von Dewitz 1997: 69. 67 Zumindest nach den Buchreproduktionen der beiden Fotografien zu urteilen, ist der Unterschied der Bildqualität nicht erheblich. 68 Vgl. Baatz 1997: 29.

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das Trägermaterial so differenziert zu belichten. Du Camp erreicht aber durch die Ausrichtung der Kamera eine Verringerung der verfahrensbedingten Untiefen. Die von schräg vorne angesetzte Perspektive nimmt die linke Ecke der vorderen Mauer in einem stumpfen Winkel auf, sodass man nicht nur die Front, sondern auch einen Teil der nach hinten weg fluchtenden Fortsetzung der Mauer sieht. Allerdings ist die frontale Aufsicht auf die Monumente in dem Album von Du Camp der deutlich öfter eingesetzte Kompositionsmodus.69 Nicht selten scheint die Architektur dadurch mit Hügeln im Hintergrund oder Brachflächen im Vordergrund auf der gleichen Ebene, sodass Natur und Kultur wie übereinander gestaffelte Schichten wirken und Anne McCauley sogar von der »Leugnung eines tiefen Raumes«70 spricht. 71

Abbildung 16: Antonio Beato Mameluckengräber mit Fliege (um 1870)

Der gravierende Unterschied zwischen den beiden Aufnahmen ist allerdings ein Ergebnis des Zufalls: Am unteren Bildrand des Fotos von Beato hat sich eine Fliege niedergelassen. Sie muss während der Belichtung in das Innere der Kamera geraten

69 Vgl. McCauley 2003: 52. 70 McCauley 2003: 53. Für die Abbildungen siehe zum Beispiel folgende Aufnahmen: Blick auf den Tempelbezirk (Philae) (Schuller-Procopovici/von Dewitz 1997: 143), Totentempel von Sethos I. (Kurna) (Schuller-Procopovici/von Dewitz 1997: 134), Ansicht des Tempels von Ramses III. (Medinet-Habu) (Schuller-Procopovici/von Dewitz 1997: 116). 71 Abbildung in: Hedinger 2010: 159.

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sein und sich auf die lichtempfindliche Trägerschicht gesetzt haben. Nur als Fotogramm konnten ihre Umrisse so detailliert aufgezeichnet werden. Wäre sie vor oder auf dem Objektiv gelandet, hätte sie es, je nach Abstand zur Kamera, allenfalls zu einem schwarzen Fleck auf dem Bild gebracht.72 Die Tatsache, dass sie so genau und in Originalgröße aufgezeichnet wurde, erweckt eine Täuschung: Als Betrachter denkt man, sie habe sich auf das Foto gesetzt und ist geneigt, sie zugunsten eines ungestörten Bildgenusses zu verscheuchen. In seinem Kommentar zu der Fotografie von Beato macht Jürgen Müller auf eine traditionelle Funktion von Fliegen auf Gemälden aufmerksam: »Seit jeher künden Fliegen auf Trompe-l’œil-Gemälden nicht vom Realismus der Malerei, sondern von ihrer Befähigung zur Täuschung«.73 Auch für Beato nimmt Müller an, dass er das Foto aus diesem Grunde aufbewahrt und nicht als Fehlaufnahme entsorgt habe. Obwohl es der Intention einer exakten baugeschichtlichen Dokumentation entgegenläuft, habe Beato einmal nicht den Realitätsgehalt, sondern die Täuschung in den Mittelpunkt seiner Fotografie gestellt.74 Bedenkt man aber, dass die Fliege auf der Fotografie von der Unfähigkeit des Fotografen zeugt und nicht wie auf einer Malerei von der handwerklichen Überlegenheit des Malers, rückt die Kombination von Fotografie und Fotogramm auch noch einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt: und zwar den Moment der Aufnahme und seine Bedingungen. Die Fliege wird dann zu einer unverhofften Stimme aus dem ›Off‹, die in Erinnerung ruft, dass Fotografie vor allem eine Frage des Abstandes und der Positionierung ist. Obwohl das Bild es nahezu nicht zulässt, die Fliege als Teil des Aufnahmeraums zu verstehen – so stark scheint sie durch den Täuschungseffekt Teil des Betrachterraums –, war sie doch im gleichen Moment präsent wie die Mameluckengräber im Hintergrund. Wissen und Sichtbarkeit spielen einander durch diese Diskrepanz aus: Im Moment der Aufnahme war die Fliege nicht zu sehen, im Moment der Betrachtung stiftet ihre Sichtbarkeit aber das Wissen um ihre Präsenz während des Aufnahmeprozesses. Ungeachtet dieses Wissens ist nur ersichtlich, dass sie auf dem Bild sitzt und nicht, dass sie Teil der abgebildeten Realität war. In der Betrachtung weist sie das Foto als Bild aus und vervollständigt gleichzeitig den Informationsgehalt der Abbildung. Wo die Täuschung nur für den Moment des ersten Betrachtens anhält und der Effekt nachlässt, sobald man darum weiß, dass die Fliege nicht auf dem Bild sitzt, stellt die Unmöglichkeit Wissen und 72 Die Möglichkeit, dass die Fliege während des Abziehens in der Dunkelkammer zufällig auf das belichtete Fotopapier geraten ist, wird hier außer Acht gelassen, da sie von dort höchstwahrscheinlich noch rechtzeitig verscheucht worden wäre. Auch Jürgen Müller geht davon aus, dass die Fliege während der Aufnahme ins Innere der Kamera gelangt ist (vgl. Hedinger 2010: 158). 73 Jürgen Müller in: Hedinger 2010: 158. 74 Vgl. ebd.

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Erscheinung von Vorder- und Hintergrund in Einklang zu bringen, eine konstante (visuelle) Irritation dar. Sieht man davon ab, was man sieht, werden Mameluckengräber und Fliege zu gleichwertigen Elementen des Aufnahmemoments, die zum Zeitpunkt des Belichtens zwar weit voneinander entfernt waren, aber nach dem Abdruck auf den Auslöser durchaus zueinander gefunden haben könnten. Die Fliege hätte sich (ebenso wie der Fotograf) nach Abschluss der Aufnahme auf die im Bild zu sehenden Mauern niederlassen können. Die latente Präsenz des Urhebers in seinem Produkt wird also auf der Fotografie von Beato durch einen Boten evident. So gesehen vervollständigt die Fliege den Realitätsgehalt der Fotografie noch, da sie das, was in der Ferne sichtbar war, um eine Information zu der sich in der Nähe der Kamera abspielenden Begebenheiten ergänzt. Auch wenn Flaubert am 27.12.1849, dem Tag, an dem Du Camp seine Variante der Mameluckengräber aufnimmt, in seinem Tagebuch nichts vom flüchtigen Nahgeschehen des Aufnahmeprozesses notiert, kann man seinen Aufzeichnungen insgesamt den Charakter der Fliege auf der Fotografie von Beato nachsagen: Sie ergänzen die Fotografien Du Camps um die Informationen, die sie nicht festhalten. Ungeachtet der Gegenüberstellung mit Du Camps Fotografien, entwirft Flaubert aber auch immer wieder kleine Szenen, die hinsichtlich der Konturierung, der Weitsicht und der Kontraste den Charakter fotografischer Panoramen haben. Wie in dem nachstehend zitierten Abschnitt, der am Tag der Aufnahmen von den Mameluckengräber entstanden ist, kann man dann auf der Ebene des Motivs sehr wohl eine Vergleichbarkeit zwischen Du Camps Foto- und Flauberts Schreiberzeugnissen herstellen. Hier heißt es: »Tombeau des Califes où photographie Maxime. Delatour – Rentrée au Caire – tout est dans l’ombre si ce n’est, du côté du vieux Caire, une place d’or dans le ciel sur lequel se détachent en noir quelques minarets«.75 Mit Beschreibungen dieser Art übt Flaubert sich in Landschaftsausblicken ohne »romantische Tiefenperspektivik«.76 Die Ansicht der Natur wird hier nicht durch ein schauendes Ich emotional transponiert, sondern von einem latent präsenten Subjekt visuell gebündelt. Auch in Anbetracht der nicht übermäßigen Häufigkeit solcher Panoramen müsste präzisiert werden, dass Flaubert in seinem Reisebericht sowohl den Part der Fliege auf Beatos Fotografie als auch den der Mameluckengräber berücksichtigt. Nicht nur, dass er häufig extreme Fern- und Nahsichten miteinander kombiniert, er scheint auch immer wieder fasziniert von Lichteffekten und Perspektivirritationen zu sein. Einschübe mit Beobachtungen zu perspektivischen Phänomen wie den folgenden findet man im Laufe des Reiseberichts häufig: »tableau: un chameau qui s’avance, de face, en raccourci, l’homme par derrière, de côté, et deux palmiers du même côté, au troisième plan. Au fond le désert qui remonte – premier effet de mi75 Flaubert 1991: 234. 76 Warning 1991.

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rage«.77 Hier schafft Flaubert zwar eine klare, in die Tiefe führende Abstufung der Darstellungsebenen in seiner Momentaufnahme, an anderer Stelle bringt er Palmen, Menschen und Architektur aber auf einen gemeinsamen formalen Nenner, der mit der Konturierung des Schattenwurfs zu tun hat. Zu der Beobachtung eines Palmenschattens notiert er: »le palmier, arbre architectural – tout en Egypte semble fait pour l’architecture: plans des terrains, végétations, anatomies humaines, lignes de l’horizon«.78 Während die erstgenannte Beschreibung modelliert, was an die Grenzen der zeitgenössischen fotografischen Techniken stößt – gleichzeitige optische Verkürzung und Tiefenwirkung sowie die Aufnahme sich bewegender Motive – kann der Kommentar zum architektonischen Baum als ein indirektes Eingeständnis an die Fotografie verstanden werden. Weil die Baudenkmäler Anlass des fotografischen Unterfangens von Du Camp sind und Architektur (und Bäume!) um 1850 das fotografische Motiv per se sind, ließe sich Flauberts Reflexion auch so verstehen, dass alles in Ägypten für die Fotografie gemacht zu sein scheint. Die klare Konturierung der im Sonnenlicht der Wüste frei gestellten Bauwerke und die Ähnlichkeit und Fügung mit der sie umgebenden Natur scheinen den auf starke Kontraste, Immobilität und Flächigkeit angewiesenen technischen Bedingungen, unter denen Du Camp fotografiert, optimal zuzuspielen. Die Auswirkungen der Ägyptenreise auf Flauberts Schreibweise werden häufig auf seine optischen Erfahrungen zurückgeführt. In solchen Auslegungen wird ein Zusammenhang zwischen den Überlegungen zu Perspektive, Lichtverhältnissen und visueller Erscheinung und Flauberts Einsatz von Perspektivwechseln suggeriert, die es in Madame Bovary erlauben, eine Erzählinstanz zu konstruieren, die hinter den Figuren verschwindet,79 und einen »assujettissement du roman au visible«80 provoziert. Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass auch Flauberts Umgang mit sprachlicher Referentialität in Madame Bovary durch die Erfahrungen auf der Ägyptenreise geschärft wurde. Für die Entfaltung seiner eigenen Schreibweise – das wird in den nächsten Kapiteln deutlich werden – entwickelt er eine der Fliege und ihrer Verweiskraft auf Beatos Foto vergleichbare Anteilnahme am dargestellten Geschehen: Distanzbrüche und Präsenztäuschungen verschaffen ihm nicht nur über die ›Fokalisierung‹ eine latente Gegenwart in seinem Text, ohne dass er als handelnde Figur oder als kommentierende Stimme als Teil des Erzählgeschehens auftreten müsste.

77 Flaubert 1991: 177. Siehe hierzu auch einen Kommentar Flauberts über die irritierenden Proportionen der Pyramiden in einem Brief an seinen Bruder vom 15.12.1849 (in Schuller-Propovici/von Dewitz 1997: 72). 78 Flaubert 1991: 219. 79 Vgl. beispielsweise Ortel 2002b: 194. 80 Ebd.: 212.

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Die Wanzenformel Zwei bereits angeklungene Argumente sprechen dagegen, die notorischen Details in Flauberts zu Beginn der 1850er Jahre entstandenen Texte als fotografisch motiviert zu betrachten: Erstens war es um diese Zeit technisch noch nicht möglich, etwa einen Schwarm kleiner Fliegen abzulichten, wie er vor Emma Bovary und ihrem Verehrer Léon auf einem Spaziergang in Madame Bovary herfliegt.81 Zweitens ist die Vermischung von hohen und niederen Sujets wie die Kombination von Liebesschwärmerei mit lästigen kleinen Begleitern vorwiegend literaturästhetisch bedingt. Sie kann weniger auf die immer wieder angeführte neuartige Gleichsetzung der Dinge zurückgeführt werden, die Zeitgenossen an fotografischer Darstellung irritierte. Auch Jacques Rancière definiert die Poetik von Flauberts Generation mit eben diesem Argument, wenn er schreibt: »Genau das ist nämlich die Literatur: die Schreibkunst, die die Unterscheidung zwischen der Welt der Kunst und der des prosaischen Lebens dadurch verwischt, dass sie jedes Sujet jedem anderen gleichmacht«.82 Flaubert, das ist weitreichend erforscht, nahm mit der Annäherung an Bodenständiges eine Möglichkeit wahr, romantische Stereotype aufzubrechen und sich der »den Realismus beherrschende[n] Überzeugung [zu stellen], daß es keine Hierarchisierung der literarischen Materie geben dürfe«.83 Das nachfolgend näher zu untersuchende Ungeziefer kommt also nicht als Motiv mit fotografischen Qualitäten, Topoi oder Konnotationen in Betracht.84 Es dient ausschließlich als Indikator einer lebensweltlichen Bezugnahme, für die Schreiben mit Gegebenheiten infiltriert und nicht mit Ideen bestückt wird. Da Flaubert aber zu sprachlichen Höhenflügen in Form von Metaphern neigt, bedarf es einer Strategie, um auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. In diesem Sinne fungiert die Erwähnung von Ungeziefer als eine Art Selbstentwarnung oder auch Disziplinierungsmaßnahme, mit der er versucht, sich dieser Neigung zu entledigen. Paradoxerweise hat ausgerechnet eine Metapher die Schlüsselfunktion für diese These, denn Flaubert klagt mit einer Metapher seine Anfälligkeit für Metaphern an. Sie ist Teil einer Äußerung aus einem Brief an seine Geliebte Louise Colet vom 27. Dezember 1852: »Je crois que ma Bovary va aller;

81 Vgl. Flaubert 1999: 176. 82 Rancière 2010: 116. 83 Schmider 2005: 70. 84 Für eine Beispielanalyse fotografischer Topoi bei Flaubert siehe den folgenden Artikel von Anne Green. Sie erachtet die Parisansichten in Education sentimentale als medienkritische Anleihe an einem in den 1860er Jahren bereits stark konventionalisierten, meist als Postkarten vertriebenem fotografischen Motiv. Demnach referieren die Beschreibungen von Paris auf einen »topos photographique de la ville« (Green 2005: 199).

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mais je suis gêné par le sens métaphorique qui décidément me domine trop. Je suis dévoré de comparaisons, comme on l’est de poux, et je ne passe mon temps qu’à les écraser; mes phrases en grouillent«.85 Wie bereits angedeutet, kann die Floh-Metapher, mit der Flaubert in dieser Textpassage seine Schreibweise veranschaulicht, auf konkrete Erfahrungen während der Ägyptenreise zurückgeführt werden. Wegen der lästigen Parasiten verbringt er hier zahlreiche »nuits mauvaises«86, aber auch die Schulung seines ästhetischen Bewusstseins im Verlauf der zweijährigen Orientreise wird von ihnen begleitet.87 Bevor Flaubert die Flöhe explizit in den Dienst seiner Ästhetik stellt, tauchen sie in den Reisenotizen an zwei Stellen in direktem Zusammenhang mit dem Schreiben auf. Das erste Beispiel findet sich in einem Eintrag vom 12.12.1849 in der Beschreibung eines ausklingenden Tages. Hier heißt es: Nous lisons nos notes sur Memphis couchés sur le tapis – les puces sautent sur le papier – promenade au coucher du soleil dans les bois de palmiers, leur ombre s’étend sur l’herbe verte comme les colonnes devaient faire autrefois sur les grandes dalles disparues […].88

Die kurze Situationsbeschreibung nimmt sich aus wie eine zeiträumliche Staffelung, die mithilfe eines dreifachen Fläche-Auflage-Verhältnisses wiedergegeben wird: Die Körper, die auf dem Teppich liegen, die Schatten, die sich auf den Grasflächen ausbreiten und die erdachten Säulen, für die grammatikalisch nicht ganz klar wird, ob sie selbst oder ihre Schatten auf den verschwunden Bodenplatten gelegen hätten. Der Kommentar zu den Flöhen, die auf die Texte springen, erfolgt als separierter Einschub. Er ist also von den anderen Notizen abgehoben, obwohl er im Grunde ein ähnliches Verhältnis beschreibt. Denn auch die Flöhe breiten sich ja auf der Fläche des Papiers aus, wenn auch nicht so ruhig wie der Schatten und die ausgestreckten Körper. Die Flöhe treten in Flauberts gesamtem Reisebericht einerseits als alltägliche Begleiter von Textilien und Menschen auf wie auch an anderer Stelle, an der die Sitzgelegenheit beim Essen ähnlich belebt ist wie die im Zitat zuvor: »le tapis sur lequel nous nous étendons a plus de puces que de fils«.89 Zieht man aber in Betracht, dass die Flöhe es sich einmal auf Geschriebenem gemütlich machen, ein85 Kerandoux 2008b: 267. 86 Flaubert 1991: 181. 87 Gemessen an dieser Entwicklung bekommt eine homophone Spielerei von Julian Barnes auf Flauberts Namen eine zusätzliche Bedeutung. In seinem Flaubert-Bestiarium erfindet Barnes den Namen »Flohbär« für Flaubert; allerdings nicht aufgrund seines ästhetischen Interesses an Flöhen, sondern aufgrund von Flauberts Neigung, sich »ours« zu nennen (vgl. Barnes 1989: 70ff.). 88 Flaubert 1991: 219. 89 Ebd.: 182.

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mal die Fäden eines Teppichs zu ersetzen drohen und bei einer weiteren, im Anschluss untersuchten Gelegenheit ihr Blut zu Tinte wird, dichtet Flaubert ihnen aber auch eine auffällige Affinität zum Schreiben an, die sogar etymologisch greift. Was wortgeschichtlich naheliegt, Textur, Teppich und Text, ist bei Flaubert, so gesehen, nur einen Flohsprung weit voneinander entfernt. Das winzige Insekt sorgt also für einen direkten Konnex zwischen dem Geschriebenen und dem Moment des Schreibens (und des Lesens), während die im Anschluss imaginierten Säulen in der Vorstellung des Autors mehr Raum bekommen zu scheinen als in seiner unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit. Als ob Flaubert die Erfassung der Baudenkmäler vollständig an die fotografische Tätigkeit seines Kollegen Du Camp übertragen hätte, erwähnt er die Tempel allenfalls, wenn sie optisch irritieren oder um ihre Inschriften und Innenwandgemälde zu beschreiben und beschwert sich ansonsten darüber, dass sie ihn langweilen oder völlig leblos erscheinen: »Les inscriptions et les merdes d’oiseaux, voilà les deux seules choses sur les ruines d’Égypte qui indiquent la vie«.90 Wie in dem oben zitierten Beispiel kann Flaubert lebendige Natur und Tempel nur in gedanklichen Abschweifungen zusammenbringen, ansonsten scheint ihm jegliche Form von Pflanze zu Staub zu zerfallen, sobald sie mit den Ruinen in Berührung kommt.91 Bedenkt man also, dass Flaubert das Fotografieren der Ruinen ebenso leblos erscheint wie die Bauten selbst, bekommen die Flöhe programmatischen Charakter: Auch das kleinste Lebewesen und seine Auswirkungen auf die eigene Körperlichkeit sind es wert, niedergeschrieben zu werden, sofern sie nur Zeugnis von der Gegenwart und Lebendigkeit des unmittelbaren Umfelds und von dessen Verhältnis zur eigenen Gegenwart ablegen können. Auch in der folgenden Äußerung aus einem Brief an seinen Freund Louis Bouilhet gibt Flaubert über die belanglose Gegenwart des Schreibens Auskunft, während sein Reisebegleiter den Motiven für seine Fotografien nachstellt: »Nous sommes arrêtés dans ce moment faute de vent. Les mouches me piquent la figure. Le jeune Du Camp est parti faire une épreuve«.92 In einem drei Monate später, am 2. Juni 1850, verfassten Brief an Bouilhet beschwert sich Flaubert über die mangelnde Schaffenskraft der Schriftstellergeneration, der er, aber auch Bouilhet und Du Camp angehören. Er scheint dabei insgeheim auch explizit an Du Camp zu denken,93 auf den viele der Tätigkeiten zutreffen, die Flaubert aufzählt:

90 Vérain 2002: 62f. 91 Vgl. ebd.: 63. 92 Ebd.: 48. 93 Ein paar Zeilen später erwähnt Flaubert auch explizit, dass er wegen solcher Ideen mit Du Camp nicht im Einvernehmen ist (vgl. ebd.: 53).

210 | A UFNAHMEN UND ZUSCHREIBUNGEN Non, ce qui nous manque, c’est le principe intrinsèque, c’est l’âme de la chose, l’idée même du sujet – nous prenons des notes, nous faisons des voyages, misère, misère, nous devenons savants, archéologues, historiens, médecins, gnaffes et gens de goût. Qu’est-ce que tout ça y fait? Mais le cœur? La verve, la sève, d’où partir et où aller. Nous gamahuchons biens, nous languotons beaucoup, nous pelotons lentement, mais baiser! Mais décharger pour faire l’enfant!94

Explizit und mit Hilfe der überdeutlichen Zeugungsmetaphorik klagt Flaubert sich und seinesgleichen hier der fehlenden Anteilnahme des Geschriebenen am Leben an. Er sucht nach einem adäquaten Antimodell zu den subjektiven Seelenlandschaften der Romantiker, indem er an das Herz und die Seele der Sachen appelliert, von denen aus über etwas geschrieben wird. In einer zentralen, bereits mehrfach angekündigten Textpassage scheint Flaubert für das Problem unbewusst bereits eine Lösung gefunden zu haben, die er aber erst nach seiner Reise auf den Punkt bringt. Über eine Nacht mit der berühmten ägyptischen Kurtisane Kuchuk Hanem notiert er nach einer ausführlichen Beschreibung des mehrfach vollzogenen Geschlechtsaktes: »Je repensais à tous, je m’abîmais de tristesses et de rêveries – je m’amusais à tuer sur le mur les punaises qui marchaient et ça faisait sur cette muraille blanchie de longues arabesques rouge-noir«.95 Während er innerlich noch seinen romantischen Vorgängern nachzueifern scheint, indem er vorsätzlich in Träumereien und Traurigkeit versinkt und sein physisch nachhaltig befriedigtes Begehren imaginativ mit Wehmut auffüllt, führen seine Hände geistesabwesend das aus, was ihm später als programmatische Metapher dient: Sie zerdrücken die Wanzen, die aus dem Bett an der Wand hochkriechen zu Arabesken und damit zu schwungvollen buchstabenähnlichen Ornamenten. Christine Schmider beobachtet in ihrer Untersuchung zu Flauberts Poetik des Materiellen, dass Flaubert bemüht ist, sich Phänomene im Schreiben akustisch und visuell einzuverleiben. Die Textgenese beruhe demnach auf »Flauberts Bulimie des Materiellen«.96 Das Bild der zerdrückten Bettwanzen und der Metaphern, die es wie Flöhe zu zerquetschen gilt, legt Ähnliches nahe, auch 94 Ebd.: 52. Wenn Flaubert von einer »Poésie du Cœur« spricht, bezieht er sich normalerweise auf Autoren, die er wegen ihres sentimentalen Überschwangs verachtet wie etwa Alfred de Musset oder Lamartine. In dem genannten Zitat meint er aber sein eigenes recht physisches Verständnis von »cœur – au sens presque médicale du mot« (Kérandoux 2008c: 161). Darunter versteht er wiederum eine Lebendigkeit, die von den Dingen ausgeht (vgl. hierzu Frölich 2005: 185ff.). 95 Flaubert 1991: 287. Flaubert berichtet auch Bouilhet in dem Brief vom 13. März 1850 von der Begegnung mit Kuchuk Hanem. Die Beschreibung ist ähnlich ausführlich wie in dem Tagebuch, entbehrt allerdings der Erwähnung des Wanzenzerquetschens (vgl. Vérain 2002: 43ff.). 96 Schmider 2005: 71.

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wenn hier den Dingen noch selbst »die Tinte entnommen« wird und sie nicht erst geistig verdaut zur (hand)schriftlichen Niederkunft führen. Die ästhetische Verarbeitung und Poetisierung dieses Erlebnisses erfolgt u.a. in dem Briefwechsel, den Flaubert in den Jahren nach seiner Rückkehr mit Louise Colet führt. Besonders der Brief vom 27. März 1853 ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, auch wenn der Anlass für Flauberts Rekapitulation seiner Orientreise eine zwischenmenschliche Rechtfertigung ist. Seine Geliebte hatte gekränkt auf die Beschreibung sexueller Ausschweifungen in Flauberts Reisetagebuch reagiert, nachdem er es ihr zum Lesen gegeben hatte. Besonders die Bettwanzen bei Kuchuk Hanem hatten ihren Widerwillen hervorgerufen, woraufhin Flaubert folgendes antwortet: Tu me dis que les punaises de Kuchiouk-Hânem te la dégradent; c’est là, moi, ce qui m’enchantait. Leur odeur nauséabonde se mêlait au parfum de sa peau ruisselante de santal. Je veux qu’il y ait une amertume à tout, un éternel coup de sifflet au milieu de nos triomphes, et que la désolation même soit dans l’enthousiasme. Cela me rappelle Jaffa où, en entrant, je humais à la fois l’odeur des citronniers et celles des cadavres; le cimetière défoncé laissait voir les squelettes à demi pourris, tandis que les arbustes verts balançaient au-dessus de nos têtes leurs fruits dorés. Ne sens-tu pas combien cette poésie est complète, et que c’est la grande synthèse?97

Flaubert baut hier den vorübergehenden Reiz an einer kontrastreichen Situation zu einer ästhetischen Grundlage aus.98 Die Lebensweise in Ägypten hat der Autor auf seiner Reise als eine idealtypische Ausdrucksform dieser Ästhetik erfahren, die ihm dort selbstverständlich im alltäglichen Dasein verankert zu sein scheint. In dem Brief, in dem er die Beschreibung seiner Zusammenkünfte mit Kuchuk Hanem rechtfertigt, hebt er auch hervor, dass er am Orient die »harmonie de choses disparates«99 schätze und zieht zur Veranschaulichung dieser paradoxen Harmonie wieder Ungeziefer heran: »Voilà l’Orient vrai et, partant, poétique: des gredins en haillons galonnés et tout couverts de vermine. Laissez donc la vermine, elle fait au soleil des arabesques d’or«.100 Wie bereits in seinem Tagebuch aus den zerdrückten Bettwanzen wird in diesem Zitat aus seinem Briefwechsel das Ungeziefer zu 97 Kerandoux 2008b: 379f. 98 Dagmar Reichardt kommt auf der Grundlage von Edward Saids Formel der »grotesk konnotierten Geruchsmischung« von Flauberts Annäherung an den Orient zu dem Schluss, dass »exakt diese Orient-Erfahrung des Hin-und-her-gerissen-Seins der Ausgangspunkt seiner [Flauberts] Forderung nach objectivité und impassibilité als Verfahren und Eigenschaften einer neuen Kunst [ist]« (Reichardt 2006: 162). 99 Kérandoux 2008b: 379. 100 Ebd.

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Schriftzeichen. Allerdings hält dieses Mal nicht ihr Blut für die Arabesken her, sondern ihr Schattenwurf. Bezeichnenderweise greift Flaubert jeweils Mittel auf, die für den Prozess des Schreibens und den des Fotografierens unabdingbar sind – Finger und Licht – um die Transformation lästiger Natur in ästhetische Zeichenabfolgen zu illustrieren. Die letztgenannte Textstelle führt außerdem eine Reflexion bildhaft vor Augen, zu der Flaubert etwas später im gleichen Brief kommt. Hier bezeichnet er die Sonne als Verfahren, das aus den Plagen des ägyptischen Alltags etwas Künstlerisches zu schaffen vermag. Kurz darauf präzisiert Flaubert, im Schreiben gelte es, die Verfahren der Natur zu reproduzieren. Wohlgemerkt zielt er hier nicht auf die Natur selbst ab, nicht auf ihre Gegenstände, wie es ein dokumentarisch oder auch mimetisch angelegtes Realismusverständnis voraussetzen würde. Zu dieser Einsicht kommt Flaubert am Ende seiner Passage über den ästhetischen Gehalt des Orients und formuliert sie folgendermaßen: »[…] et habituons-nous à considérer le monde comme une œuvre d’art dont il faut reproduire les procédés dans nos œuvres«.101 In seiner Rekapitulation der Orientreise aus dem Brief vom 27. März 1853 formuliert Flaubert noch einen weiteren wichtigen Punkt seiner Ästhetik aus. Anlass dafür ist wiederum eine von Louise Colet geäußerte Enttäuschung, die Flaubert wie folgt paraphrasiert: »Tu aurais voulu que ton nom revînt plus souvent sous ma plume«.102 Daraufhin setzt er ihr auseinander: »Mais remarque que je n’ai pas écrit une seule réflexion. Je formulais seulement de la façon la plus courte l’indispensable, c’est-à-dire la sensation, et non le rêve, ni la pensée«.103 Die lakonische Schreibweise seiner Reisenotizen wird durch diesen fast schulmeisterlichen Hinweis im Nachhinein als bewusstes schreibtechnisches Verfahren ausgewiesen. Dementsprechend bekommt sie einen programmatischen Stellenwert und ist nicht nur die Folge von Flauberts emotionaler Ernüchterung, wie es biographische Auslegungen meist nahelegen. Allerdings scheint sich Flaubert den poetischen Gehalt seiner Reisenotizen erst zu dieser Zeit einzugestehen, wenn man berücksichtigt, dass er sie kurz nach seiner Rückkehr in einem Brief vom 8. August 1851 noch leugnet.104 In dem Brief vom 27. März 1853 nimmt er den Gedanken einer unmittelbaren Darlegung von Wahrgenommenem im Schreiben kurz nach seiner Erinnerung an die Mischung aus Leichen- und Zitronengeruch in Jaffa wieder auf. Er beharrt darauf, dass man danach streben solle, die Dinge zu sehen und wiederzugeben wie sie sind.105 Weder Ge-

101 Ebd.: 381. 102 Ebd.: 376. 103 Ebd. 104 Vgl. Kerandoux 2008a: 427. Flaubert erwidert hier auf eine Nachfrage von Louise Colet: »Voilà plus de deux ans que je n’ai écrit une ligne de français«. 105 Vgl. Kerandoux 2008b: 380.

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schmack noch Esprit dürften literarische Darlegungen leiten, sondern schlichtweg das, was sinnesphysiologisch von der Welt zugänglich wird. In einem ca. ein Jahr später an die gleiche Adressatin verfassten Brief betont Flaubert abermals die naturgegebene Ästhetik der Ägypter anhand ihrer kontrastreichen Erscheinung. Das von ihm angeführte Beispiel entspricht nahezu demjenigen aus dem früheren Brief, nur dass hier anstatt Borten auf den Lumpen mit Ungeziefer Goldarmreifen mit Lumpen und Flöhen kombiniert werden. Allerdings wird der Kontrast von Abstoßendem und Anziehendem noch expliziter in den Dienst des Schönen gestellt: »On trouve là [im Orient] des gens couverts de poux et de haillons et qui ont au bras des bracelets d’or. Voilà des gens pour qui le beau est plus utile que le bon«.106 Dieser Schlussgedanke des Briefes bildet eine Klammer mit seinem sehr typischen Einstiegslamento, in dem Flaubert sich über das Mysterium des Schreibens beklagt und es als »quelque chose de bien atrocement délicieux«107 bezeichnet. Genau wie der Umgang der Ägypter mit ihrem Äußeren, erweist sich auch der Schaffensprozess aufgrund seiner Widersprüchlichkeit als ästhetisches Moment. Während Flöhe und Ungeziefer in den Reisenotizen vor allem Indikatoren für Präsenzerfahrungen sind, die unmittelbar, metaphorisch und etymologisch mit Schreibutensilien in Berührung geraten und jeweils einen Ab- oder Ausdruck in Geschriebenem nahelegen, werden sie im Nachhinein in den Dienst einer Ästhetik gestellt, die verfahrenstechnisch auf Kontraste setzt. Verortung von Gesprochenem Die Landwirtschaftsausstellung im achten Kapitel des zweiten Teils von Madame Bovary steht im Zeichen von (vergeblicher) Rede. Das macht zunächst die Genese des Kapitels deutlich, die von Anfang an auf den Verschnitt zweier Ansprachen ausgelegt war,108 und zwar einer offiziellen Ansprache über das fortschrittliche Wesen der Landwirtschaft und einer intimen Ansprache in Form einer aufgesetzten Liebesbekundung. Die feierliche Rede legt Flaubert einem Präfekturrat in den Mund und die erotische Annäherung dem Gutsherren Rodolphe Boulanger, der sein Objekt der Begierde, Emma Bovary, im Folgekapitel und wenige Wochen nach den »Comices agricoles« auch in Besitz nehmen wird. Außerdem plante Flaubert schon vor der Niederschrift, das Kapitel mit einem Zeitungsartikel des notorisch fort-

106 Kerandoux 2008c: 380. 107 Ebd.: 372. 108 Für eine minutiöse Darstellung des mühevollen Werdegangs der »Comices agricoles« siehe die genetische Untersuchung des Kapitels von Jeanne Goldin (Goldin 1984). Flaubert hat für die Niederschrift des Kapitels knapp fünf Monate gebraucht und kann am Ende 23 Seiten der definitven Version zählen (vgl. ebd.: 28).

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schrittlichen Apothekers aus Madame Bovary, Monsieur Homais, zu beenden.109 Die drei Hauptbestanteile des Kapitels sind also verschiedene Redeformen, die zwar jeweils einem spezifischen diskursiven Kontext angehören, dafür aber umso weniger spezifische Bedeutung transportieren. Sie werden Beispiele eines referentiell erzeugten Sinns, der den Verschleiß symbolisch fixierter Bedeutung kompensiert. Eines der Mittel, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, müsste man genauer genommen dif-ferentielle und nicht re-ferentielle Sinngenerierung nennen, da es sich mithilfe einer Gegenüberstellung der beiden zu Beginn genannten Ansprachen einstellt. Der zunächst frappierende Kontrast zwischen der öffentlichen Lobeshymne auf das von der Landwirtschaft geförderte Gemeinwesen und dem vertraulichen Liebesdiskurs wird durch die alternierenden Einschübe des Vortrags und der andeutungsreichen Äußerungen Rodolphes in seiner Gegensätzlichkeit herabgemildert: Sie stellen unterschiedliche Formen des »Phrasendreschens« dar, die zwar zu verschiedenen Anlässen gehören, aber gleichermaßen bedeutungsleer sind. Diese Art der schon häufig untersuchten Montage der beiden Sprechweisen110 könnte man als diskursive Variante der Flaubert’schen ›Wanzenformel‹ begreifen, da auch hier die Verbindung von Kontrasten eine desillusionierende, auf die wortwörtlichen Gegebenheiten zurückführende Absicht verfolgt. Von dieser Gegenüberstellung absehend, soll im Folgenden der Fokus auf die Verortung des Gesprochenen in der »Comices«-Episode gelenkt werden. Sie ist auf das Aussprechen von Sprache angewiesen. Diese Grundvoraussetzung suggeriert zunächst der im Erzählerdiskurs gemachte Eingangsausruf des Kapitels: »Ils arrivèrent, en effet, ces fameux Comices!«111 Sowohl die Etymologie des Wortes »fameux« als auch die irritierende Majuskel von »Comices« führen die Landwirtschaftsausstellung in Yonville als ein aus Worten bestehendes Abstraktum ein. ›Fameu‹ oder auch ›famé‹ ist das, worüber man spricht, und entstammt der gleichen Wortfamilie wie ›Fabel‹, das heißt lateinisch ›fabula‹, das heißt Konversation. Der wortgeschichtliche Hintergrund wird aber auch über die erste Erwähnung der Co109 Vgl. den Brief an Louise Colet vom 15. Juli 1853 (Kerandoux 2008c: 163). Diese Grundanlage des Kapitels veranschaulicht sehr explizit Henri Mitterands Plädoyer für eine Überlagerung der »monde possible« und der »monde de référence« in Madame Bovary. In seiner kritischen Revision von Jacques Neefs scharfer Trennung dieser beiden Welten kommt Mitterand zu dem Schluss, dass »le ›monde de référence‹ est déjà, en soi, travaillé par le signe, par la forme, et aussi par la fiction, et […] inversement le ›monde possible‹ porte organiquement les marques sémiotique du ›monde de référence‹« (Mitterand 2009: 168). 110 Die hohe Dichte von Klischees in Lieuvains Ansprache und Rodolphes Liebeswerben führt häufig dazu, die beiden Reden diskursanalytisch zu untersuchen (vgl. zum Beispiel Herschberg Pierrot 2008). 111 Flaubert 1999: 227.

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mices in Form eines Gerüchts plausibel. Dass die diesjährige Landwirtschaftsausstellung des Departements höchstwahrscheinlich in Yonville-l’Abbaye stattfinden soll, weiß Homais am Ende des sechsten Kapitels gegenüber den Bovarys zu berichten. Er fügt allerdings hinzu: »Le bruit, du moins, en circule«.112 Die »Comices« beruhen also auch innerfiktional zunächst auf einer von Mund zu Mund weitergegebenen Neuigkeit. In seinem Artikel The uses of Madame Bovary von 1984 untermauert Jonathan Culler eine These Jean Ricardous zu antirepräsentativen Erzählstrategien Flauberts.113 Es geht um die Frage, ob Flauberts Schreibweise »revolutionär« sei oder aber doch (nur) eine spezifische Realität abbilde. Unter »revolutionär« versteht man in den 1970er und 1980er Jahren eine postmoderne Schreibweise, die in einem hermetischen Kosmos aus Zeichen agiert. Um Flaubert als Autor zu etablieren, der sich jeglicher lebensweltlicher Realreferenz entledigt, macht Ricardou den Flaubert’schen Umgang mit Eigennamen als eine revolutionäre Strategie stark.114 Anstatt ihres wie gewöhnlich singulären Referenten führen Namen bei Flaubert demnach ganze Bedeutungsfelder mit sich, auf denen die Handlung aufgebaut ist. Zur Veranschaulichung analysiert Ricardou die Omnipräsenz des Rindermotivs in der Anfangsszene des Romans. Es wird mit der Doppelcodierung von Charles Bovarys Namen – ›char‹ oder auch ›charrue‹, französisch ›Wagen‹ und ›Pflug‹ sowie ›bœuf‹, französisch ›Rind‹ – eingeführt. Culler differenziert den Ansatz Ricardous diesbezüglich, stellt zur Debatte, dass Flaubert eher Grotesken als Attacken auf Repräsentation verfolgt und kalauert: »yet, where we expect the real, we get more veal«.115 Ohne die Frage fortzusetzen, ob Madame Bovary eher eine »realist« oder eine im postmodernen Sinne »vealist novel«116 ist, kann die bei Ricardou und Culler diskutierte synekdochische Funktion von Eigennamen für die hier verfolgte These fruchtbar gemacht werden. Denn auch über der Passage von den »Comices agricoles« scheint der Name einer Figur zu stehen, der seine Seme über Umwege in die Handlungseinheiten »streut«, genau wie er bei seiner ersten Nennung in der Menge der Zuhörer von Mund zu Mund gereicht wird.117 Es handelt sich um den Namen des extra angereisten Redners und Präfekturrats Monsieur Lieuvain. Er trägt zu112 Ebd.: 215. 113 Vgl. Culler 1984: 5ff. Culler bezieht sich auf einen Vortrag Ricardous, den er später in sein Buch Nouveaux problèmes du roman von 1978 integriert hat. 114 Vgl. dazu auch den Aufsatz »Absence d’Emma Bovary: Réalité textuelle de la fiction« von Shiguéhiko Hasumi. Hasumi führt Flauberts Umgang mit Eigennamen in Madame Bovary als ein Mittel vor, die »réalité textuelle« der Fiktion zu festigen, das heißt Fiktion als einen vom Text unabhängigen Kosmos zu unterlaufen (vgl. Hasumi 2010: 816 ff.). 115 Culler 1984: 7. 116 Ebd. 117 Vgl. Flaubert 1999: 240.

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nächst das dem Spektakel innewohnende Vanitas-Motiv im Namen, das Flaubert mit Beschreibungen und Kommentaren zu den unverhältnismäßigen »pompes« der Veranstaltung aufruft.118 Auch sind viele der offiziellen feierlichen Handlungen von buchstäblicher Vergeblichkeit bedroht. So gibt etwa der Kanonenschuss zur Begrüßung des Präfekten falschen Alarm,119 das Feuerwerk zum Abschluss der Veranstaltung zündet nur unvollständig120 und Herr Lieuvain ist selbst nur ein Ersatz für das kurzfristig verhinderte Departementoberhaupt.121 Konfrontiert man den Namen aber mit einer Homophonie, so bekommt er nicht nur einen irdischen, sondern auch einen »erdgebundenen« Beigeschmack. ›Lieuvin‹ bezeichnet nämlich einen Landstrich im Westen des Départements Eure, unweit der Gegend, in der die Handlung von Madame Bovary angesiedelt ist. Lieuvin ist also topologisch und homophon mit Madame Bovary verquickt, es nimmt aber auch den von ›Bovary‹ ausgehenden RinderTopos wieder auf: Die Landwirtschaft von Lieuvin (wie könnte es anders sein) zeichnet sich besonders durch Rinderzucht aus.122 Entscheidend ist aber, dass Lieuvains Name durch die Homophonie geographisch verortet wird und damit eine Verbindung der Gegend mit Sprache wiederholt, die bereits zu Beginn des zweiten Teils explizit geäußert wird. Der Erzähler situiert hier Yonville-l’Abbeye, den Ort, in dem sich das Ehepaar Bovary im Verlauf des Kapitels niederlassen wird, auf der Landkarte und wertet seine Umgebung wie folgt ab: »contrée bâtarde, où le langage est sans accentuation, comme le paysage sans caractère«.123 Im Kontext der hier vertretenen Idee interessiert die Tatsache, dass (Aus-)Sprache und Landstrich, »langage«, »accentuation« und »contrée«, sich durch den Vergleich ebenso verbinden wie im Namen von Lieuvain. Etwas freier ausgelegt würde das heißen, Sprache zeichne sich durch ihr Ausgesprochen-Werden an einem Ort aus, zu dem sie unweigerlich gehört, oder umgekehrt, der ihr durch das Aussprechen anhaftet. Ihr Referent wäre damit u.a. der Ort ihres Niederschlags oder auch der Zeitraum des In-Erscheinung-Tretens von Sprache. Mit dem Namen des Präfekturrats ist aber gleichzeitig auch der Ort benannt, an dem man Sprache vergeblich versucht zu beheimaten, der lieu vain der Sprache, und zwar willkürlich eingefriedete Ideen, Konzepte oder Gegenstände. Eine solche Auffassung des Namens von Lieuvain ist auch der Grund, warum Julian Barnes Flaubert einen Papageien-Schriftsteller nennt und ihn als jemanden begreift, der Sprache seine lautli-

118 Vgl. etwa ebd.: 228, 254. 119 Vgl. ebd.: 237. 120 Vgl. ebd.: 253. 121 Vgl. ebd.: 238. 122 Vgl. den Eintrag »Lieuvin« im Petit Robert des Noms propres (Rey 2001: 1222). 123 Flaubert 1999: 146.

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chen Begegnungen mit ihr zu Grunde legt und sie darüber hinaus für »tragisch unzureichend«124 hält. Entsprechend dieser verkappten Ausformulierung des Flaubert’schen Sprachverständnisses führt die Rede von Monsieur Lieuvain seinen Zuhörern keine Ideen vor Augen, sondern ausschließlich ihre materiellen Komponenten und Auswirkungen. Schon die vorbereitende Geste seiner Ansprache entwirft nicht das Bild eines Mannes, der in sich geht und seine Gedanken rekapituliert, bevor er ausspricht, was er zu sagen hat. Geradezu maschinell – Herschberg spricht auch von einem »pantin«125 – wirkt die Geste, mit der sich Lieuvain sein Manuskript unter die Augen schiebt, als ob die Notizzettel in die Sehorgane eingespannt werden müssten, bevor er anfängt zu sprechen: »il eut donc collationné quelques feuilles et appliqué dessus son œil pour mieux y voir«.126 Und auch bei einer kurzen Unterbrechung seiner Ansprache nimmt er eine Ausbesserung seines Sprachapparates vor, indem er sich den Mund mit einem Taschentuch abwischt,127 um danach wieder sauber artikulieren zu können. Die den Vortrag begleitenden verba dicendi zeichnen parallel dazu die physische Entwicklung des fortlaufenden Sprechaktes von Monsieur Lieuvain nach: Von »la voix du Conseiller s’éleva d’un ton extraordinaire. Il déclamait«128 über »le Conseiller lisait toujours«129 und »[i]l reprit«130 zu »la voix du Conseiller qui psalmodiait ses phrases. Il disait«131 lässt sich eine deutliche Ermattung der anfänglichen Emphase nachvollziehen; mit zunehmender Anstrengung mündet diese unverkennbar in Monotonie. Nicht nur der Erzähler fokussiert die körperlichen Auswirkungen des Diskurses von Monsieur Lieuvain, auch die Zuhörer goutieren seine Rede buchstäblich und ohne ihren Sinn zu begreifen. Ihre Aufmerksamkeit äußert sich in offenen Mündern, »comme pour boire ses paroles«,132 sodass Lieuvains Sätze ohne den Weg über das Gehirn zu nehmen direkt dort landen, wo sie, womöglich unverändert, wieder herausgelangen. Obwohl die Masse von der Ansprache paralysiert ist und viele der Zuhörer sich sichtlich bemühen, keine Silbe zu verpassen,133 können Lieuvains

124 Barnes 2010: 215. 125 Herschberg Pierrot 2008. 126 Flaubert 1999: 240. 127 Vgl. Flaubert 1991: 243. 128 Flaubert 1999: 240. 129 Ebd.: 242. 130 Ebd.: 243. 131 Ebd.: 246. 132 Ebd.: 244. 133 Vgl. folgende Textpassagen: »Tuvache […] l’écoutaient en écarquillant les yeux« (ebd.: 244), »le pharmacien […] bombait sa main contre son oreille pour ne pas perdre une

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Ausführungen nicht verstanden werden, da sich seine Stimme im Wind verliert.134 Sie wird dem Zuhörer in Satzfetzen zugeweht und ist von den Geräuschen der Stühle im Publikum und den Lauten der Tiere im Hintergrund durchsetzt. Die metaphorische Materialisierung der Rede Lieuvains zu Fetzen im Wind nimmt ein Motiv auf, das auch an zwei anderen prominenten Textstellen des Romans mit vergeblicher Rede in Verbindung gebracht wird. Die erste findet sich am Ende des fünften Kapitels des ersten Teils in einer Passage über die noch unterschwellige Entfremdung von Emma und Charles. Nachdem aus Charles’ Perspektive das allmorgendliche gemeinsame Aufwachen beschrieben wurde, geht die Blickführung bei der darauf folgenden Verabschiedungsszene von Emma aus. Sie steht am Fenster des ersten Stocks, während Charles unter ihr auf sein Pferd steigt, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Zwar erfahren wir nicht, was die frisch Vermählten einander sagen, aber der bisher erfolgte, vielmehr unterbliebene Gedankenaustausch zwischen den beiden gibt Recht zu der Annahme, es sei »leeres Geplauder«.135 Dagegen erfahren wir etwas über die Konsistenz dessen, was aus Emmas Mund zu Charles gerät: »et elle continuait à lui parler d’en haut, tout en arrachant avec sa bouche quelque bribe de fleur ou de verdure qu’elle soufflait vers lui«.136 Nun ist es schwierig, sich vorzustellen, wie Emma gleichzeitig reden und an den Blüten und Blättern der Geranien knabbern kann, um sie zu Charles zu pusten. Die Gleichzeitigkeit von Sprechen und Pusten unterstreicht aber deren Äquivalenz und suggeriert, dass die Satzfetzen hier gestisch zu verstehen sind. Die Gesten Emmas sind wiederum genauso abgedroschen wie die Metaphern von Lieuvain; sie wird – wenn auch in anderem Sinne als Lieuvain – zu einem »personalen Hohlraum«137 unbewusster und unverstandener Zitate,138 von denen allein die Materialität ihrer Ausführung bleibt, und zwar Fragmente aus dem Mund, die von einem Luftzug zerstreut werden. Die dritte Sprachfigur dieser Art findet man in der Verführungsszene, mit der Emma und Léon am Ende des ersten Kapitels im dritten Teil des Romans ihre überseule syllabe« (ebd.) und »Justin […] paraissait tout fixé dans la contemplation de ce qu’il regardait« (ebd.: 245). 134 Vgl. ebd. 135 Warning 2010: 114. 136 Flaubert 1999: 95. 137 Paul Geyer arbeitet Monsieur Lieuvain als einen solchen Hohlraum heraus, der allein als Ideologieträger für die Handlung motiviert wird. Er repräsentiert die herrschende Ideologie der Zeit, in der der Roman spielt, d. h. die Julimonarchie (vgl. Geyer 1999: 219). 138 Rainer Warning hat gezeigt, dass die ganze Szene »ein Zitat romantischer Ritterromane [ist], näherhin der morgendlichen Trennung vom nächtlichen Geliebten, der unter dem sehnsuchtsvollen Blick des Burgfräuleins hoch droben am Turmfenster auf feurigem Ross zum Tor hinauseilt« (Warning 2010: 114).

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fällige Liebesaffäre beginnen. Die Materialität der Satzfetzen ist hier am konkretesten motiviert. Es handelt sich um den zerrissenen Abschiedsbrief, den Emma aus dem Fenster der Kutsche wirft: »[U]ne main nue passa sous les petits rideaux de toile jaune et jeta des déchirures de papier, qui se dispersèrent au vent et s’abattirent plus loin«.139 Die Geschehnisse in der Kutsche haben Emmas Trennungsworte hinfällig werden lassen und die schon bei ihrer Niederschrift recht haltlosen Zeilen definitiv in den Wind geschlagen. Sie hatte den »endlosen« Brief darüber, dass nun »alles beendet« sei,140 am Abend zuvor abgefasst, ihn bei ihrem Wiedersehen am nächsten Morgen Léon noch wie einen Degen mit den Worten »Lisez!«141 entgegengestreckt, dann wieder zurückgezogen und schließlich doch einsehen müssen, dass zwischen ihnen alles andere der Fall ist, als dass etwas zu Ende geht. Gemessen an den beiden anderen Textstellen scheint damit auch die Vergeblichkeit des zerschnipselten Briefes sehr viel konkreter, weil er Emmas Tugend nicht hat verteidigen können wie für einen kurzen Moment gedacht. Die kurze Wiedergabe des Schreibmoments lässt aber zusätzlich wieder darauf schließen, dass auch die Sprache des Briefes keineswegs tiefgreifend ist. Der im Erzählerdiskurs abgefasste Einschub spricht von einem »interminable lettre«142 und fasst seinen Inhalt in der zweiten Hälfte des Satzes ironischerweise in vierzehn Wörtern zusammen. Hinter dem Doppelpunkt heißt es: »tout maintenant était fini, et ils ne devaient plus, pour leur bonheur, se rencontrer«.143 Kehrt man mit dem Wissen um diese Form der materialästhetischen Aufbereitung sinnentleerter Sprache in das Ausgangskapitel, zu den »Comices agricoles«, zurück, kann man auch im Erzählerdiskurs eine rhetorische Figur ausmachen, die auf semantischer Hinfälligkeit beruht. Während das bereits untersuchte Motiv im Zusammenhang mit dem Figurendiskurs auf Bedeutungsverlust reagiert, liefert die rhetorische Figur im Erzählerdiskurs zunächst einen Bedeutungsüberschuss, der sich allerdings als tautologische Doppelung erweist. Der häufige Gebrauch von Tautologien wird besonders in einer Passage sinnfällig, in der die Besucher der Landwirtschaftsmesse beschrieben werden. Hier bewegt sich der Gehilfe des Apothekers Hippolyte beispielsweise humpelnd mit seinem Klumpfuß fort, »tout en boitant de son pied bot«,144 obwohl die Benennung der Deformation im Grunde die Erwähnung des Humpelns erübrigen würde. Im gleichen Satz heißt es auch »beaucoup de paysans s’amassèrent«,145 was die Frage aufwirft, wie sich wenige Bauern 139 Flaubert 1999: 373. 140 Vgl. ebd.: 364. 141 Ebd.: 367. 142 Ebd.: 346. 143 Ebd. 144 Ebd.: 238. 145 Ebd.

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anhäufen könnten. Und auch im nächsten Absatz sollte es eigentlich ausreichen, »main« und »cuisse« im Plural anzugeben, um verständlich zu machen, dass die Besucher ihre beiden Hände auf ihre beiden Oberschenkel stützen. Stattdessen schreibt Flaubert: »et l’on appuyait ses deux mains sur ses deux cuisses [Hervorhebungen von mir]«.146 Man könnte die vielen Tautologien problemlos als ironisches Mittel Flauberts begreifen, die Dummheit der beschriebenen Figuren indirekt zu unterstreichen. Allerdings haben sie noch eine weitaus unmittelbarere Funktion, die den ironischen Aspekt in den Hintergrund treten lässt.147 Sie können ebenso gut als Ausdrucksformen der physischen Gegenwärtigkeit der Figuren gesehen werden. Ohne dem Status oder der Funktion der Figuren etwas hinzuzufügen, unterstreichen sie ihre Anwesenheit, ihr bloßes Gegebensein. Das wird auch deutlich, wenn man eine Passage mit in die Überlegung einbezieht, die strukturell und inhaltlich eindeutige Parallelen zu der Beschreibung der Bauern aufweist. Sie findet sich vier Seiten vorher und stellt das zur Preisverleihung mitgebrachte Vieh dar. Die Tiere stehen eng zusammengepfercht wie ihre Besitzer und bilden dabei eine ebenso gleichförmige Einheit wie sie, »la langue ondulation de tous ces corps tassés«.148 Abgesehen davon werden beide Absätze ähnlich eingeleitet – einmal mit »Les bêtes étaient là«149 und einmal mit »Tous ces gens-là«.150 Im ersten Fall nimmt das Adverb »là« eine räumliche oder vielmehr präsenzspezifische Bestimmung vor. Es wird nicht näher erwähnt, wo die Tiere sich befinden, sondern nur festgehalten, dass sie da waren. Im zweiten Fall ergänzt und betont das »là« zunächst das Demonstrativpronomen, hat aber ebenfalls eine hinweisende Funktion wie im ersten Fall. Es nimmt das Subjekt des vorangegangenen Satzes wieder auf, »les messieurs à la file«,151 um es eingehender zu beschreiben. Allerdings wirkt der emphatische Verweis darauf, dass es genau diese Leute sind, die sich alle ähneln – »Tous ces gens-là se ressemblaient«152 – etwas übertrieben, gemessen an der geringen Besonderheit, die ihnen daraufhin zugestanden wird. Hätte Flaubert den Verstärker allerdings weggelassen,

146 Ebd.: 239. 147 Anne Herschberg Pierrot stellt am Ende ihres Abschnitts zur Klischeehaftigkeit der Rede Lieuvains ebenfalls zur Debatte, ob die dahinter steckende Ironie von dem »plaisir du texte qui la met en scène« (Herschberg Pierrot 2008) untergraben werde. Mit anderen Worten fragt sich Herschberg, inwiefern Flaubert den Allgemeinplätzen von Lieuvain auch einen ästhetischen Gehalt zugesteht. 148 Flaubert 1999: 234. 149 Ebd. 150 Ebd.: 238. 151 Ebd. 152 Ebd.

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wäre die strukturelle Parallele zu dem Vieh-Absatz weniger pointiert gewesen und auch der beiläufige Fokus auf die bloße Anwesenheit wäre verloren gegangen. Um eine genauere Vorstellung dieses Präsenzeffekts der Figuren zu bekommen, lohnt es sich den Abschnitt vor der Beschreibung des Viehs genauer anzuschauen. Hier wird im Erzählerdiskurs dargelegt, wie sich das Festtagsgelände langsam zu füllen beginnt. Der erste Satz des Abschnitts lautet: »Le pré commençait à se remplir, et les ménagères vous heurtaient avec leurs grands parapluies, leurs paniers et leurs bambins«.153 Das »vous« korrespondiert zunächst mit der unpersönlichen Wendung »on« im Folgesatz. Hier heißt es über die Bauersfrauen: »[E]t qui sentaient le lait, quand on passait près d’elles«.154 Über die Verwendung des Personalpronomens »vous« in der gesamten »Comices«-Episode drängt sich allerdings ein weiterer Aspekt auf. Und zwar lässt das Personalpronomen auch eine größere referentielle Unbestimmtheit zu, bei der es den Lese-, Schreib- und Erzählmoment annähert oder sogar als Ansprache an den Leser verstanden werden kann. Das »vous« als direkte Anrede eines spezifischen Gegenübers zu erachten, leitet sich zunächst aus der notorischen Verwendung des gleichen Pronomens in der Rede von Lieuvain ab. Rhetorisch motiviert und mit eindeutiger Referenz insistiert er im Laufe seiner Ausführungen mithilfe des »vous« auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl und appelliert mehrfach an seine Landsleute.155 Auch Rodolphe platziert in seinem Gespräch mit Emma strategisch ein »vous«. Mit gezielter Doppeldeutigkeit ist es in eine ausmalende Erklärung Rodolphes über mögliche Begegnungen mit dem Glück eingebunden. Den Höhepunkt dieses kostbaren Fundes schildert er mit dem Satz: »Enfin, il est là, ce trésor que l’on a tant cherché [le bonheur], là, devant vous; il brille, il étincelle«.156 Die Zuschreibung des »vous« ist auch hier wie in dem Eingangsbeispiel zunächst nicht konkret personal, sondern allgemeingültig und unpersönlich. Aber immerhin ist Rodolphe ja gerade damit beschäftigt, Emma zu beschwören, sodass sich das »vous« auch auf seine Zuhörerin beziehen kann. Demnach würde er Emma mit seiner Schilderung unmissverständlich bedeuten, dass er selbst ihr lang ersehntes Glück ist, das sich hier hinter der Metapher des schimmernden Schatzes versteckt. Rodolphes weithin unverhohlene Eitelkeit, aber auch der Widerhall seiner glatt polierten Lackschuhe157 im Bild des glänzenden Schatzes tun ihr weiteres, um diese Auslegung zu stützen. Der kurze Exkurs zu weiteren auffälligen Einsätzen des Personalpronomens der zweiten Person im Plural lässt die Verschiebung im Eingangsbeispiel deutlicher 153 Ebd.: 233. 154 Ebd.: 234. 155 Für genauere Ausführungen zu den Personalpronomina in Lieuvains Rede siehe Herschberg Pierrot 2008. 156 Flaubert 1999: 242. 157 Vgl. ebd.: 235.

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hervortreten. Das »vous« in »et les ménagères vous heurtaient« lässt den Eindruck entstehen, der im Grunde heterodiegetische Erzähler sei bei den von ihm geschilderten Ereignissen zugegen gewesen und biete dem Leser an, sich gedanklich an dessen Stelle zu versetzen. Zwar ist die Überlappung von Fiktion und Wirklichkeit nicht so explizit konstruiert, wie sie es etwa bei der Verwendung von »nous« wäre, aber in Kombination mit dem »on« in »quand on passait près d’elles« wird dem Leser zumindest angetragen, sich mit der Instanz zu identifizieren, die hier im Grunde nur gedanklich, aber scheinbar tatsächlich zwischen den Besuchern spaziert. Auch die Nähe zum Geschehen und seine Nebensächlichkeit erhöhen den Eindruck, der Erzähler sei selbst von den Körben, Kindern und Regenschirmen der Bäuerinnen angestoßen worden und habe ihren Milchgeruch in die Nase bekommen. Das gilt ebenso für die grammatikalisch gleichwertige Verwendung des »vous« in dem bereits analysierten Satz über die vom Wind verwehte Stimme Monsieur Lieuvains: »Elle [die Stimme] vous arrivait par lambeaux de phrases«.158 Auch hier transportiert das »vous« sowohl die latente Präsenz des Autors als auch die potentielle Präsenz des Lesers im Erzählgeschehen. Ähnlich wie der Satz in der Einführung von Yonvilles, es habe sich in dem kleinen Städtchen seit den Ereignissen, die der Erzählung zu Grunde liegen, an und für sich nichts geändert,159 wird durch das »vous« suggeriert, die dargestellte Welt beruhe auf einer dem Erzähler wie dem Leser gleichermaßen zugänglichen Wirklichkeit. Nicht zuletzt lassen sich die Beobachtungen zur Verortung von Gesprochenem auch über die Genese des Textes herleiten. Für das materialästhetische Argument der fragmentierten Sprache lässt sich diesbezüglich anmerken, dass Flaubert die Rede von Lieuvain und den Dialog zwischen Emma und Rodolphe zunächst vollständig und separat voneinander redigiert hat.160 Wie Claudine Gothot-Mersch vermerkt, zeugen aber zahlreiche Randnotizen davon, dass er sich dabei immer wieder »la nécessité d’entrecroiser les thèmes«161 ins Gedächtnis gerufen hat. Tatsächlich hat er die beiden Reden aber erst aufgetrennt und miteinander verflochten, nachdem sie fertiggestellt waren. Sicher ist er dabei nicht soweit gegangen, die Ansprache Lieuvains für ihre endgültige Form zu unverständlichen »lambeaux de phrases« zu zerkleinern. Er hat für die Unterbrechungen immer kohärente Einheiten beibehalten, sodass dem Leser – im Gegensatz zu den Figuren – letztlich die gesamte Rede zuteil wird. Dennoch kann man sagen, dass im Entstehungsprozess des Kapitels ein Fragmentierungsprinzip vorherrscht, das im Rahmen des Erzählgeschehens gewissermaßen vom Wind auf die Spitze getrieben wird.

158 Ebd.: 245. 159 Vgl. ebd.: 150. 160 Vgl. zum Beispiel Herschberg Pierrot 2009. 161 Gothot-Mersch 1980: 230.

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Die Zerteilung der lieuvainschen Rede im Schreibprozess ist letztlich jedoch durch einen semantischen Mehrwert motiviert, da sie politische und emotionale Klischees auf eine vergleichbare Ebene stellt. Sie ist ein kompositorisches Prinzip, das sich auf den Inhalt auswirkt. Innerfiktional streut der Wind die Rede von Lieuvain dagegen aufs Geratewohl, sodass die Zuhörer den Ausführungen des Redners nicht mehr folgen können und sich mit unverständlichen Satzfetzen begnügen müssen. Trotz dieses Unterschieds werden der fiktive Vortrag und der Schreibprozess hier über das Fragmentierungsmoment einander angenähert. Flaubert lässt sowohl seine Leser als auch seine Figuren die Rede von Lieuvain in mehr oder weniger großen »Häppchen« zu sich nehmen. Das referenzspezifische Argument zielt indessen auf einen anderen Aspekt der Genese des Kapitels ab, und zwar auf Flauberts Erfahrungshintergrund, genauer gesagt seine eigene Begegnung mit vergleichbaren Geschehnissen. Dafür sei die hinlänglich bekannte Tatsache angeführt, dass er zu Recherchezwecken etwa ein Jahr vor der Niederschrift des »Comices«-Kapitels selbst eine Landwirtschaftsmesse besucht hatte. Wie zu erwarten begeisterte ihn die Veranstaltung nicht besonders,162 aber vielleicht entwickelte er gerade deswegen – wie in Ägypten, als ihn der Besuch der Tempel zu langweilen anfing – ein besonderes Aufnahmevermögen für Nebenschauplätze. Perzeptive Details, wie sie der Erzähler in der zuvor analysierten Passage zu den Bäuerinnen wiedergibt, könnten sich ihm dort angesichts dieses Desinteresses für das offizielle Geschehen besonders eingeprägt haben. Zumindest aber legitimiert seine Teilnahme an den »Comices« die Referenzverschiebungen durch die Personalpronomina in den zuvor herangezogenen Beispielen. Dass auch der Erzähler das Subjekt sein kann, auf das die Pronomina bezogen werden können, lässt sich also nicht nur als Gedankenexperiment erklären, sondern auch vor dem Hintergrund von Flauberts eigenen Erfahrungen. Ein ähnlich gelagerter, von einem Personalpronomen hervorgerufener Präsenzeffekt wie in den untersuchten Beispielen findet sich in dem umstrittenen Einstiegspronomen des Romans: »Nous [étions à l’Étude]«. Auch das »nous« verschafft dem Erzähler für kurze Zeit Präsenz in den Geschehnissen der Erzählung, dessen Welt er im Grunde nicht angehört. Auch hier suggeriert das »nous« einen Realzusammenhang, es weist eine »structure métonymique«163 auf und ist Teil einer ganzen Spannbreite von Verschiebungsfiguren zu Beginn des Romans.164 Unabhängig davon, ob sich ein Erfahrungshorizont des Autors rekonstruieren ließe, der die Wahl des Pronomens motivieren könnte, ist das »nous«, wie Jonathan Culler es ausdrückt, »a voice from nowhere«.165 Im Sinne des fotografischen ›Offs‹ nach Dubois 162 Vgl. Kérandoux 2008b: 129. 163 Simon 2001: 605. 164 Ebd.: 606 f. 165 Culler 2009: 20.

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müsste man differenzieren, dass die Stimme nicht wirklich von nirgends kommt, sondern dem Resonanzraum der beim Schreiben per se ausgeklammerten Autorenstimme angehört. Wenn das Nirgendwo dem Text sonst wie ein Hohlraum untersteht, der nicht klanglich in Schwingungen versetzt werden kann, wäre der mit dem Erzählmodus und der Erzählperspektive inkongruente Einsatz der Pronomina ein Verweis auf diese im Vollzug des Schreibens außen vor gelassene Körperlichkeit. Anstatt dem Hohlraum mit einem Ich-Erzähler den Anschein einer Füllung zu geben, hebt Flaubert ihn als eine im Entstehungsmoment verortete, latente Präsenz des Urhebers in seinem Text hervor. Auch wenn Madame Bovary kein Vor-Ort des Schreibens ausweist wie Flauberts Reisenotizen, wecken die im Verlauf des Kapitels untersuchten Phänomene mitunter den Eindruck eines partiellen In-situ-Erzählmodus. Zwar räumen sie dem Autor und dem Leser keinen eigenen Platz in der Erzählung ein, doch sie geben zu verstehen, dass das Erzählte einer spezifischen und erfahrbaren Lebenswelt entnommen ist, in die man hier und dort Eintritt gewährt bekommen könnte, und zwar immer dann, wenn Sprache erscheint, als wäre sie »am (eigenen) Leibe« erfahren worden.

Angrenzen durch Abgrenzen

Die korrespondierenden Titel der Einleitung und des nachfolgenden abschließenden Kapitels scheinen zunächst auf die Medienkonkurrenz abzuzielen, mit der die historische Entwicklung des Verhältnisses von Literatur und Fotografie gängigerweise beschrieben wird. Sie rufen aber auch die Problematik der Mediendifferenz auf, die mich im Laufe meiner Überlegungen zunächst in theoretischer Hinsicht und dann auf textanalytischer Ebene beschäftigt hat. Im Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den literarischen Annäherungen an die Fotografie wurde dem Bezugsmedium immer wieder eine zwischen »modèle« und »repoussoir«1 schwankende Doppelfunktion zugesprochen. Insbesondere die realistische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts orientierte sich einerseits an der Erschließung und Entäußerung des Visuellen, wie es durch die Erfindung der Fotografie möglich geworden war. Der auf diese Weise im Blickfeld gleichgesetzte Referenzrahmen der beiden Medien2 sorgte aber auch dafür, dass die Literaten umso stärker darauf bedacht waren, ihre ästhetische Praxis von der fotografischen Praxis abzusetzen. Das äußert sich einerseits in einer expliziten Ablehnung und Diskreditierung der Fotografie, ihrer technisch bedingten Darstellungsweise und ihrem Mangel an autonomer Bedeutungsproduktion.3 Die Konkurrenz beruht also auf einem sich überschneidenden darstellerischen Anliegen und zeigt sich in den Romanen in dem Versuch, die fotografische Wiedergabe visueller Phänomene in den Beschreibungen überbieten zu wollen. Dass die Fotografie den literarischen Zugang zur Sichtbarkeit angestiftet hat, verschwiegen die Autoren dabei, indem sie fotografische Bilder als unkünstlerisch und vulgär hinstellten. Dieses meist uneingestandene literarische Schwanken zwischen Angrenzung an und Abgrenzung von fotografischen Darstellungsmodi hallt in der Literatur des 20. Jahrhunderts noch nach. Zwar findet man mit fortschreitender Zeit immer häu-

1

Ortel 2002a: 19. Siehe auch Ortel 1997: 59ff.

2

Vgl. Ortel 1997: 62f.

3

Vgl. Soulages 2008: 85.

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figer uneingeschränkte Befürwortungen der Fotografie, früh bereits von Autoren wie André Breton, der die ›écriture automatique‹ als Gedankenfotografie bezeichnete oder die fotografische Illustration seiner Texte zum Anlass nahm, Beschreibungen für überflüssig zu erklären. Wie die Beispiele schon zeigen, spricht Breton sich allerdings für die Fotografie aus, um bestimmten Schreibweisen eine Absage zu erteilen und bestätigt damit implizit die Rivalität der beiden Medien. Je nach literarischem Kontext unterschiedlich ausdifferenziert kann das Konkurrieren der Literatur mit der Fotografie insofern als eine bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehende Konstante ihrer intermedialen Bezugnahme bezeichnet werden. Obwohl es in der vorangegangenen Untersuchung eine beiläufige Rolle gespielt hat, klingt es in den jeweiligen Großüberschriften der Analysekapitel noch an. Denn genau wie Philippe Ortel für den Realismus und die zeitgleiche Fotopraxis die »›conquête optique‹ de la réalité«4 als gemeinsamen darstellerischen Referenzrahmen ausmacht, kann man auch in den anderen Analysestationen gemeinsame Bezugsfelder der beiden Medien erkennen. Demnach verschiebt sich die im Realismus literarisch und fotografisch erschlossene »réalité du terrain optique«5 mit Proust um die Jahrhundertwende in ein »terrain psychologique«6 und in den 1960er und 1970er Jahren mit Tel Quel und Oulipo in die Realität eines semiotischen Terrains. Anders gesagt, verlagert sich der Realitätsbegriff, mit dem die untersuchten Autoren agieren, von einer Ausrichtung auf den Referenten über eine Ausrichtung auf das Signifikat hin zu einer Ausrichtung auf den Signifikanten. Bis auf Denis Roche distanzieren sich alle in der Untersuchung behandelten Autoren immer genau dann explizit von der Fotografie, wenn es um ihre literarische Bearbeitung dieser gemeinsamen Bezugsfelder geht, also immer dann, wenn durch gemeinsame Interessensgebiete Konkurrenz droht. Georges Perec nimmt zu Beginn von Tentative d’épuisement d’un lieu parisien Abstand von den fotografischen Aufnahmen, die bisher an dem Ort gemacht wurden, den er daraufhin im Selbstexperiment erschöpfend zu beschreiben versucht, indem er sich selbst zu einer Art alles registrierenden Kamera macht. Im Unterschied zu den fotografierenden Touristen kapituliert er im Laufe seiner Schreibübung, da sie zu Tage fördert, dass sich Begebenheiten nicht schlichtweg einfangen lassen, sondern von ihren Repräsentationsmitteln bedingt werden. Wenn er selbst die Kamera zur Hand nimmt, wie in der Polaroidserie von seiner Reise nach New York, kommen dabei allerdings ähnlich medienreflektive Bilder heraus. Anders als die Schiffscontainer, die Perec foto-

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Ortel 1997: 64, Ortel zitiert Daniel Bougnoux.

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Ortel 1997: 68.

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Ebd.

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grafiert, sind die Polaroidbilder zwar sofort zuhandene Depots, aber sie können am Ende des Transits, den sie ermöglichen, nicht wieder geöffnet werden.7 Ebenso grenzt sich auch Marcel Proust explizit von der konventionellen Porträtfotografie um 1900 ab, da sie keinerlei Zugang zu dem Wesen der abgebildeten Personen ermöglicht und sie stattdessen vollständig mit ihrem gesellschaftlichen Status identifiziert. Wie der Vorlauf zum fünften Kapitel am Beispiel von Nadar gezeigt hat, gab es aber durchaus auch Fotografen, die sich auf Intimporträts verstanden. Und da Proust seine literarischen Porträts immer im Widerstreit von Persönlichkeit und Standeszugehörigkeit konzipiert, setzt auch er sich genau dann explizit von der Fotografie seiner Zeit ab, wenn er sich auf gleiches Terrain mit ihr begibt. Zuletzt lässt sich auch Flauberts Verhältnis zur Fotografie als ein Konkurrenzverhältnis verstehen, da er zur Zeit der Reise nach Ägypten und in der Zeit danach versucht, seiner Umwelt auf einer rein visuellen Ebene zu begegnen und »ganz Auge zu sein«. Genau wie die frühe Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts konfrontiert er sich durch seine ›écriture‹ mit einer Entdeckung des Blicks und der sichtbaren Welt. Allerdings gesteht er fotografischen Abbildungen nicht die gleiche Genauigkeit bei der Durchdringung visueller Phänomen ein, die er mit dem Schreiben anstrebt, wenn er zu Hippolyte Taine über sie sagt »Ce n’est jamais ça qu’on a vu«.8 Neben der nur am Rande thematisierten Medienkonkurrenz rufen die verschränkten Titel des ersten und des siebten Kapitels aber auch eine weitere historische Konstante der intermedialen Referenz zwischen Literatur und Fotografie wach. Sie betrifft den Bereich der Mediendifferenz und hat sich im Verlauf der vorangegangenen Textanalysen anhand von materialästhetischen Phänomenen abgezeichnet. Die analysierten literarischen Bezugnahmen auf die Fotografie betonen die Mediendifferenz einerseits, weil sie nicht die Illusion erzeugen, literarische Darstellungsmodi gingen in den Anleihen am Bezugsmedium auf. Die Texte wollen also nicht den Eindruck erwecken, dass ihre sprachliche Verfasstheit hinter der Bildlichkeit des Referenten zurücktritt oder gar durchsichtig wird. Insofern grenzen die Autoren ihre Schreibweise über die unterschiedliche mediale Vergegenwärtigung von Geschrie7

Im weitesten Sinne autoreferentielle Fotografie ist in den 1970er Jahren ein weit verbreiteter künstlerischer Ansatz von Fotografen und wurde im Vorlauf zum vierten Kapitel am Beispiel von Roches Selbstauslöserfotografie vorgestellt. Ein ähnlich wie bei Perecs Polaroids über das Motiv angedeuteter medialer Selbstbezug ließe sich an den Fotografien von Bernd und Hilla Becher veranschaulichen. Auch sie fotografieren häufig Lagerstätten wie Silos, Wasser- und Gastürme und kehren dabei zusätzlich fotografische Voraussetzungen heraus, wie etwa Licht und Schatten durch den Einsatz von SchwarzWeiß-Fotografie oder das Prinzip der Serie.

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Zitiert bei Guinot 2010: 543.

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benem und Fotografiertem von fotografischer Darstellung ab. Dass sie sich dergestalt von der Fotografie absetzen, wird wiederum nur im Zuge einer Annäherung deutlich, und zwar übernehmen die in den Analysekapiteln untersuchten Autoren die fotografische Geste der »Entnahme«.9 Durch die Intermedialität rückt also einerseits ein je nach historischem Zusammenhang anders gelagertes Anliegen ins Visier – sei es der Fokus auf die Realität der sichtbaren Welt bei Flaubert, auf die Realität der vergangenen und vorgestellten Welt bei Proust oder der Fokus auf die Welt der Zeichen bei Perec und Roche – andererseits kehrt sie in verfahrenstechnischer Hinsicht aber auch einen gemeinsamen ästhetischen Ansatz heraus. Demnach kann man beobachten, dass sich der intermediale Bezugsrahmen der Autoren zwar programmatisch verschiebt, er aber eine gleich bleibende Angrenzung an die fotografische Zuschreibung von Darstellung und Lebenswelt mit sich bringt. Bedingt durch die Geste der Entnahme finden sich im Erzählgeschehen der Romane jeweils Elemente, deren Fiktionsstatus nicht gesichert ist, wenngleich sie auch keine nachweisbaren Anhaltspunkte dafür bieten, aus welchem realen Zusammenhang sie herausgelöst wurden. Vielmehr zeugen diese Elemente von einem konkreten Gegenüber des Schreibens, von dem Umkreis des Entstehungsmomentes der Texte. So wie Fotografien Personen, Orte und Zeitpunkte, die sie wiedergeben, nicht identifizieren können, sondern über das Wissen um ihr technisches Aufnahmeverfahren lediglich belegen, dass ihr Motiv während der Entstehung des Bildes anwesend war, experimentieren auch die hier untersuchten Autoren mit Präsenzpotentialen, die über die Schreibverfahren hervorgerufen werden können. Sie orientieren sich dafür an der im fotografischen Akt zwangsläufigen Aufnahme des Visavis und seiner Zuschreibung zu dem aus der Aufnahme resultierenden Foto. Ohne einen »harten« Illusionsbruch darzustellen, das heißt ohne die erzählte Welt als sprachlich imaginierte Hervorbringung leer laufen zu lassen, hantieren die Autoren in ihren Texten dabei mit Darstellungsmodi, die den Übergang zwischen Illusion und Wirklichkeit in den Blick geraten lassen. Anstatt diesen Übergang als feststehende separierende Grenze anzusehen oder aber sie als solche mit Metastrategien bloßzustellen, erkunden sie ihre sprachlich bedingte Durchlässigkeit. Die dabei zu Tage tretenden Öffnungen sind material- und verfahrensbedingt. Es sind Bereiche, die nicht von der ästhetischen, über Fiktions- oder Realitätszugehörigkeit entscheidenden kommunikativen Vereinbarung zwischen Autor und Leser betroffen sind. Zwei exemplarische Phänomene, die in den untersuchten Schreibübungen und Romanen mit je unterschiedlicher Gewichtung diese Durchlässigkeit des Grenzbereichs haben erkennen lassen, sind die Sprachrealien und die paradoxen Personalund Demonstrativpronomina. Die Sprachrealien lassen sich in erzähltheoretischer Hinsicht zu den Formen der Redewiedergabe zählen. Allerdings können sie nicht ausschließlich mit den gängi9

Siehe das Unterkapitel »Parameter der Aufnahme II: Das fotografische Off«.

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gen narratologischen Kriterien der Erzähler- und der Figurenrede erfasst werden.10 Sie sind weder dem einen noch dem anderen Diskurs eindeutig zuzurechnen, noch können sie als deren Kontamination oder Ersatz verstanden werden wie die erlebte Rede oder extreme Monologformen wie der stream of conciousness. Mit den Sprachrealien wird vielmehr »der Wirklichkeit das Wort überlassen«, indem Auszüge ihrer sprachlichen Verfasstheit in die Fiktion eingeschoben werden. Sprache hat dabei den Status eines Allgemeingutes, das allen Sprechern einer Sprache dort zugänglich wird, wo Sprache im Umlauf ist. Sie wird als buchstäblicher »Gemeinplatz« berücksichtigt, als Begegnungsort, den sie über ihre alltägliche kommunikative Aktivierung bereitstellt. Insofern die Sprachrealien kurze Einwürfe aus diesem von Sprache per se mitgeführten Gemeinplatz sind, können sie mit den ›Shifter-Indizes‹ des fotografischen ›Offs‹11 verglichen werden. Wie die Markierungen des fotografischen ›Offs‹ den aus der Aufnahme ausgegrenzten, aber dennoch an sie anschließenden Raum ausweisen, führen die Sprachrealien den sprachlich bedingten Anschluss der erzählten an die gelebte Welt vor Augen. Sie brechen aus einem »Off« der Erzählung ein, das allgemeiner ist als die Stimme des Erzählers und als die Vielstimmigkeit von Sprache schlechthin bezeichnet werden kann. Durch seine ›écriture‹ enthebt der fiktionale Autor seine Sprache grundsätzlich dieses unzähligen, Sprache anhaftenden Gesagtwerdens und macht sie zu einer einzigartigen, nur von ihm in dieser Weise verschriftlichten ›parole‹. Mit den Sprachrealien lässt er aber vorübergehend zu, dass sich der Allgemeinplatz von Sprache in sein Schreiben einschreibt und gibt dadurch mehr oder weniger unmissverständlich seine Haltung und das verbindliche Verhältnis seines Textes zu dem preis, was jedermann im Munde führt. So hat etwa Denis Roches Umgang mit Sprachrealien in den Dépôts de savoir & de technique gezeigt, dass er seiner ›écriture‹ keinerlei Souveränität zugesteht und sie nahezu vollständig im »chant général«12 vollzogener Sprache aufgehen lässt. Nur die Art, wie er ihnen begegnet und wie die Sprachrealien in seinen Text gefügt sind, lassen noch eine autonome Handhabe von Sprache erkennen. Das von ihm eingerichtete Textraster, die Vorgabe für Zeilenlänge, -anzahl und -funktion, markiert die Sprachrealien als Fragmente aus dem ›Off‹ , das die dargelegten Begebenheiten der Dépôts ansonsten vollständig verdrängen würde. In Georges Perecs Tentative d’épuisement d’un lieu parisien wird der Einsatz der Sprachrealien dagegen genauer dosiert und dient jeweils dazu, den Eindruck einer Überlagerung von Text und Wirklichkeit zu erzeugen. In seiner Schreibübung integriert er etwa Werbesprüche, die ihm in den Blick geraten, unkommentiert in seine Aufzählungen. Da sie in den Listen des Textes genauso aus Wörtern bestehen 10 Vgl. Genette 1972: 183ff. 11 Vgl. Dubois 1990: 173. 12 Roche 1980: 9.

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wie in Perecs Blickfeld, stellen sie einen unmittelbaren Anschluss zwischen der Niederschrift und den wahrgenommenen Ereignissen her. Dadurch werden sie mit den Dingen oder den vorüberziehenden Personen auf eine Ebene gesetzt. Genau wie diese, zeugen sie von einer zu einem bestimmten Zeitpunkt dagewesenen Realität und werden zu Spuren des sich ständig im Vollzug aufbrauchenden, unwiderruflich vorüberziehenden Lebens, das Perec durch sein Schreiben aufzuhalten versucht. Wie die beispielhafte Analyse eines Satzes in À la recherche du temps perdu gezeigt hat, werden die wirklichkeitsgefertigten Sprachstücke bei Proust viel stärker auf Distanz zum Erzählerdiskurs gehalten. Sie werden einzelnen Figuren kommentiert zugeschrieben, um ihnen vorübergehend sprachlich veräußertes Leben einzuhauchen. Poetologisch gesteht Proust den Sprachrealien im Bild des von aufgenommener Sprache elektrisierten Erzählers zwar einen positiven Stellenwert ein, aber er geht nicht so weit wie Roche und Perec und schiebt die fremd gefertigten Sätze als solche unreflektiert in die Erzählung ein. In Madame Bovary werden Sprachrealien schließlich nur metaphorisch in Form von hinfälligen gemeinsprachlichen Diskursen – wie Staatsrede und Liebeserklärung – verortet. Auch wenn Flaubert seine Kritik nicht ausformuliert, nimmt er noch stärker von dem als ›Off‹ bezeichneten Gemeinplatz des Sprechens Abstand als Proust. Bei ihm schlagen Sprachrealien nicht mehr in ihrer eigentlichen Gestalt durch, sondern erscheinen als vom Erzählerdiskurs bearbeitete, metaphorisierte und montierte Bruchstücke. Flaubert involviert das ›Off‹ mit ihnen nicht in die erzählte Welt, sondern führt es als sinnentleerten Wortgehalt vor. Die mit den Sprachrealien mögliche intermediale Schnittmenge von literarischen und fotografischen Darstellungsmodi lässt sich abschließend über den platonischen Mimesisbegriff fassen. Im Gegensatz zur ›diegesis‹, der sprachlichen Nachahmung nichtsprachlicher Ereignisse, begrenzt Platon die ›mimesis‹ auf die Erzählung von Worten, die sich, ohne auf ein Illusionskonstrukt zurückgreifen zu müssen, einer absoluten Nachahmung der Welt oder auch einer »réduplication du monde«13 annähert.14 Zwar haben die Sprachrealien wenig mit dem dramatischen Modus zu tun, der sich historisch aus diesem Mimesisverständnis entwickelt hat, aber sie erinnern daran, dass eine realistische oder auch unmittelbare Wiedergabe der Welt mittels der Sprache immer auf das Problem der sprachlichen Umwandlung stößt und aufgrund ihrer Medialität bereits kaum eine Übereinstimmung mit der dargestellten Welt erzeugen kann. Die Sprachrealien weisen jedoch ein konkretes Ähnlichkeitsverhältnis zur Lebenswelt auf, weil ihre Erscheinungsform derjenigen entspricht, die sie auch außerhalb des Textes haben. Diese Analogie von Lebenswelt und Erzählung lässt sich wiederum mit einer Formel Jean-Marie Schaeffers für das Verhältnis von Fotogra13 Genette 1972: 189. 14 Vgl. ebd.: 184ff.

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fie und Blick beschreiben. Er sagt über Fotografien, sie richten ein »champ quasi perceptif«15 ein, das heißt ein Wahrnehmungsfeld, das scheinbar dem des unmediatisierten Blicks auf die dargestellten Dinge entspricht. Genau wie die Referenten von Fotografien uns annähernd so begegnen, wie wir sie sehen, begegnen uns die Sprachrealien im Text annähernd so, wie sie uns als Schriftzüge oder Aussagen außerhalb des Textes begegnen würden.16 Die Bedeutung, die über diese Voraussetzung hinaus mit ihnen erzeugt werden soll, hängt wie bei der Fotografie davon ab, wie sie »angeschnitten« sind und wie sie in ihr neues Umfeld eingefügt werden. Die Sprachrealien stellen insofern eine dem ikonischen Verhältnis der Fotografie vergleichbare Verbindung zwischen Realität und Fiktion her, die darüber hinaus um einen Realzusammenhang erweitert wird. Je nachdem wie stark der neue Kontext den Ursprungskontext thematisiert und die Erzählweise als in-situ-Schreibverfahren konzipiert ist, tritt der indexikalische Aspekt der Sprachrealien stärker oder schwächer zu Tage. Eine Möglichkeit, die Erzählung punktuell als eine am Ort des Erzählgeschehens vollzogene Niederschrift erscheinen zu lassen, sie als eine den Ereignissen im Wahrnehmungsradius des Schreibenden zugeschriebene Gegebenheit zu behandeln, stellen die paradoxen Personal- und Demonstrativpronomina dar. Auch sie operieren sprachinhärent im Grenzbereich von Illusion und Wirklichkeit, da sie die Bedeutungsoffenheit von Pronomina nutzen, Personen- Orts- und Zeitzuschreibungen sowohl innerhalb des fiktiven Geschehens als auch im Rahmen der externen Kommunikation zwischen Autor und Leser zu motivieren. Gerade weil sie sich keinem der beiden Bereiche eindeutig zuordnen lassen, suggerieren sie eine Überlappung der dargestellten Welt und der Welt der Darstellung, der Autor und Leser angehören. Sie erzeugen nicht über die Wahrnehmbarkeit von Sprache einen Präsenzeffekt wie die Sprachrealien, sondern über die potentielle Anwesenheit eines außerhalb des Erzählgeschehens positionierten wahrnehmenden Subjekts. Im Verlauf der Romananalysen wurde der widersprüchliche Gebrauch von Personal- und Demonstrativpronomina am explizitesten in Gustave Flauberts Madame Bovary thematisiert. Wie gezeigt, findet sich in der Comices agricoles-Episode wiederholt ein allgemeines »vous«, das sowohl die Erzählinstanz als auch den Leser einbezieht und zu verstehen gibt, die Erzählung resultiere aus einer Beobachtung am Ort des Erzählgeschehens.17 Im Kontrast zu der beschwörenden Direktansprache der Zuhörer, die dasselbe Personalpronomen in der Rede von Monsieur Lieuvain bezweckt, hat das »vous« im Erzählerdiskurs eine offerierende Diktion. Es bietet dem Leser den Standpunkt des beobachtenden Urhebers der Erzählung an. Im glei15 Schaeffer 1987: 68. 16 Bei Gesprächsmitschnitten oder Übertragungen müsste natürlich berücksichtigt werden, dass sie für ihre Fixierung in Schrift übertragen werden. 17 Siehe das Unterkapitel »Verortung von Gesprochenem«.

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chen Zuge transportiert es auch die latente Anwesenheit des Schreibenden am Ort des erzählten Geschehens. Einen ähnlichen Präsenzeffekt erzeugt auch das semantisch offene »nous« zu Beginn des Romans, allerdings mit einer zeitlichen Distanz, da die Klassenszene weit vor dem hauptsächlich erzählten Zeitraum – die Ereignisse seit der Hochzeit von Emma und Charles – angesiedelt ist. Es hat hier den Charakter einer vorübergehenden erinnernden Teilnahme des Erzählers, der im Grunde nicht in das Erzählgeschehen involviert ist. Da der Erzähler in der Recherche der erzählten Welt angehört, transportieren sich vergleichbare Zuschreibungsirritationen bei Proust weniger über die Personalpronomina als über die Demonstrativpronomina. Einerseits insistiert der Erzähler mit dem Verstärker »-là« häufig auf einem zeitlichen Abstand zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich. Das erfolgt neben der Verwendung des gängigen »jusque-là« in Wendungen wie »ce[s] jour[s]-là«,18 »cet-automne-là«,19 »ce printemps-là«,20 »ce temps-là«21 oder »à ce[s] moment[s]-là«.22 Sie betonen jeweils das spezifische der erlebten Zeit, über die rückblickend geschrieben wird.23 Dagegen gibt es aber auch Formulierungen, die den Moment des Erlebens und den der Niederschrift des Erlebten näher rücken lassen oder gar deren Überlagerung suggerieren. Diesen Eindruck erzeugt etwa das verbum dicendi »les mêmes [die gleichen Worte] qui venaient de sortir des lèvres de Bloch« in der im Unterkapitel »Sprachrealien mit fotografischer Referenz« analysierten Textpassage. Perecs Tentative d’épuisement d’un lieu parisien nimmt die potentielle Gleichzeitigkeit von Schreiben und beschriebenen Sachverhalten als grundsätzlichen Schreibanlass und demonstriert damit sehr viel konkreter und über den gesamten Text, was bei Flaubert und Proust punktuell über die paradoxen Personal- und Demonstrativpronomina erreicht wird. In seinen Erzähltexten wie etwa La Vie mode d’emploi kommt er allerdings auch mithilfe der Pronomina auf dieses Anliegen zurück. 24 18 Vgl. beispielsweise Proust 2008: 127, 318, 324, 434, 441, 463. 19 Vgl. beispielsweise ebd.: 128. 20 Vgl. beispielsweise ebd.: 77. 21 Vgl. beispielsweise ebd.: 279, 376, 450. 22 Vgl. beispielsweise ebd.: 391, 402, 407, 421, 438, 447, 450. 23 Dieses Beharren auf dem Fortschreiten der Zeit spiegelt sich auch an den Figuren wider, wenn es etwa über Swann und Bergotte heißt »ce Swann-là« (ebd.: 25) oder »ce Bergotte-là« (ebd.: 436). Auch hier wird durch das verstärkte Demonstrativpronomen hervorgehoben, dass es sich um die entsprechende Figur zu einem bestimmten Zeitpunkt handelt. 24 Perec greift hier auf paradoxe Personal- und Demonstrativpronomina zurück, um eine punktuelle Simultaneität von Erzählzeit und erzählter Zeit hervorzurufen. Das äußert sich etwa in Sätzen wie »Maintenant, nous sommes dans la pièce que Gaspard Winckler appelait son salon« (Perec 2007b: 49) oder »La pièce où nous nous trouvons actuellement est une chambre parquetée« (ebd.: 246). Der Fiktionsrahmen wird hier sowohl durch die

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Genau wie die Sprachrealien tragen auch die paradoxen Personal- und Demonstrativpronomina letztlich dazu bei, das ›Off‹ der Erzählung in die Erzählung diffundieren zu lassen. Allerdings tun sie dies nicht, indem sie alltagsgefertigte Spracherzeugnisse stichprobenartig in die Erzählung einbringen, sondern indem sie die latente Anwesenheit des Urhebers der Erzählung am Ort des Geschehens vermitteln. Auch wenn dieser Ort frei erfunden ist, wird ihm durch die verschobene Deixis begegnet, als ob der Schreibende physisch an ihm verweilen würde. Er wird in ein Verhältnis zu seinem Urheber gesetzt, das dem des Fotografen und seinem Motiv im Akt des Fotografierens gleicht. Indem vorübergehend der Eindruck einer VorOrt-Beschreibung geweckt wird, konkretisiert sich die latente Präsenz des Autors hinter seinem Text. Die exemplarisch zusammengefasste, materialästhetische Linie der intermedialen Referenz von Literatur und Fotografie steht für ein Realismusverständnis, das auf Realzusammenhänge baut. Anstatt sich an der realitätsgetreuen Abbildung fotografischer Bilder zu orientieren, nähern die Autoren sich einem Aspekt des fotografischen Realismus an, der aus dem Aufnahmeverfahren und den Materialeigenschaften resultiert. Dafür suchen sie nach sprachinhärenten Möglichkeiten, die ideen- und intentionsresistente Empfänglichkeit des fotografischen Materials für seine Umwelt nachzubilden und es wie im fotografischen Akt direkt mit dem Referenten kollidieren oder auf ihn reagieren zu lassen. Um dies zu erreichen, müssen sie den konventionell organisierten Realitätsbezug von Sprache lockern und mit einem Referenztypus anreichern, der auf singulärer Verweisung beruht oder diese zumindest vorgibt. Die Schreibweise der untersuchten Autoren zielt von daher nicht darauf ab, den Erzählgegenstand lebensecht zu modellieren, sondern ihn sprachlich einzubinden und ihm durch das Schreiben als einem Teil der Umwelt des Schreibenden zu begegnen. Wie zum Beispiel der Umgang mit den Sprachrealien bei Roche oder Proust oder auch die Vermittlung sprachlicher Vergeblichkeit bei Flaubert gezeigt hat, setzt die Beobachtung des Mediums und seiner Materialität dabei den Erzählgegenstand mitunter auch frei. Von Flaubert über Proust zu Roche und Perec tritt diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Medium immer deutlicher auf eine Stufe mit der im Realismusverständnis des 19. Jahrhunderts geforderten Beobachtung des Gegenstands und seiner medialen Objektivierung. Helmut Heißenbüttel macht an Flaubert eine »Wendung der literarischen Re25 de« fest, die aus einer Verlagerung des Verhältnisses von Einbildungskraft und Sprache herrührt. Wo Sprache bis Flaubert und teilweise noch bei ihm in den Dienst temporale als auch durch die personale Deixis irritiert, da der im Grunde heterodiegetische Erzähler sich für einen kurzen Augenblick – in einem immer währenden »maintenant« – in der erzählten Welt befindet. Auch hier deutet der Plural wieder darauf hin, dass der Leser, indem er den Satz liest, in dieses Präsens des Schreibenden einbezogen wird. 25 Heißenbüttel 1964: 37.

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der Einbildungskraft gestellt war, wird sie ab Flaubert immer stärker selbst zu dem Funken, an dem sich die Einbildungskraft entzündet. Anstatt eine eigens imaginierte Realität zu versprachlichen, beginnen die Schriftsteller seither die Eigenrealität der Sprache zu entfalten.26 Die Resultate der vorangegangenen Textanalysen bestätigen Heißenbüttels Einschätzung und zeigen die Distanz gebende Funktion der Fotografie oder auch ihre Rolle als künstlerische »Metasprache«27 in dieser Entwicklung auf. Nachdem sie die Visionen romantischer Autoren mit einer nüchtern erfahrenen Lebenswelt hat kollidieren lassen, wirft die Fotografie die Literatur gewissermaßen auf sich selbst zurück. In dieser zweiten Phase der Geschichte der literarischen Bezugnahmen auf die Fotografie entwickelt sich bei den Autoren ein Feingefühl dafür, wie Realität sich in Sprache »verfangen« oder auch an ihr haften kann. Es formt sich ein ästhetisches Verständnis dafür, dass Sprache von ihren Sprechern »aufgewühlt« und auch verschlissen wird, sodass ihr stetiger Vollzug nicht spurlos an ihren konzeptuellen Vorgaben vorübergeht. So gesehen verabschiedet sich der Glaube an eine transparente Wiedergabe der sichtbaren Welt, mit dem man anfangs an die Fotografie herangetreten war, in der zweiten Phase der Annäherungen an das Bezugsmedium und führt zu einem (ab-)geklärteren literarischen Umgang mit den eigenen Mitteln. Die von Georges Perec und Denis Roche anhand der materialästhetischen Prämissen historisch zurückverfolgte intermediale Schreibpraxis, ließe sich zeitlich auch in die entgegengesetzte Richtung vornehmen. Zwar wurde die Fotografie seit den 1970er Jahren und nicht zuletzt im Zuge ihrer Digitalisierung mehrfach totgesagt. Aber genauso stabil wie sie als Medium gegenüber postfotografischen bildgebenden Verfahren bleibt,28 hält sich auch ihre Attraktivität für literarische Verfahren. Auch wenn Internet und Computer derzeit womöglich eine höhere Konjunktur als literarische Bezugsmedien haben, setzen sich aktuelle Autoren wie etwa Jacques Roubaud, Anne Garréta oder Anne-Marie Garat weiterhin mit den Repräsentationsweisen der Fotografie auseinander. Wollte man die literarischen Annäherungen an den fotografischen Akt in zeitgenössischer Literatur untersuchen, wäre es sicherlich sinnvoll, zunächst die ästhetischen Implikationen der digitalen Fotografie und ihres veränderten und stark expandierten Gebrauchs29 zu ermitteln. An den Grundkoordinaten des fotografischen Akts hat sich mit der digitalen Fotografie allerdings nichts verändert. Auch wenn sich ihr Ergebnis anders verarbeiten lässt,30 beruht es immer noch auf einer singulä26 Vgl. ebd. 27 Krauss 2006: 276. 28 Vgl. Kemp 2011: 120f. 29 Vgl. ebd. 30 Die höhere Manipulierbarkeit von Digitalaufnahmen wurde in der Fototheorie in den letzten Jahren verstärkt diskutiert. Anfangs befürchtete man, die Beweisfunktion der Fotogra-

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ren, optisch gesteuerten und von einem Urheber initiierten Aufnahme eines präsenten Referenten, dessen momentane Erscheinung sich auf eine lichtsensible Oberfläche überträgt. Zu erfragen bliebe allerdings, ob die von mir aufgezeigte intermedial profilierte Erkundung des sprachmateriellen Potentials sich heute fortsetzt oder ob sich eine andere Motivation für die intermediale Referenz durchgesetzt hat. Folgt man Daniel Fulda, so hat es mit den Generationenerzählungen in der deutschen Literatur der 1990er Jahren einen »entscheidenden intermedialitätsgeschichtlichen Einschnitt«31 gegeben, weil die »Dokumentqualität«32 der Fotografie hier durchweg geschätzt werde. Ein vergleichbarer Stellenwert der Fotografie ließe sich in der französischen Literatur bei einem Autor wie Jean Rouaud vermuten. Dass die historische Dimension der Fotografie die zeitgenössischen Schriftsteller unterdessen mehr reizt als ihre semiotischen Implikationen, zeigt sich auch an dem 2004 veröffentlichten Roman La hache et le violon von Alain Fleischer. Zumindest lässt er es an geschichtlichen Metaphern für den fotografischen Akt nicht mangeln, wenn er in seiner Erzählung das mysteriöse Geräusch einer Hacke – »la hache« – die Weltgeschichte – die histoire mit einem großen hache – zerteilen lässt. Wie die Geschichte der Fotografie33 beginnt das Wüten der Hacke bei Fleischer zudem unter dem Fenster des IchErzählers und wird über große Strecken des Romans notorisch mit dem Satz »la fin du monde, qui avait commencé sous ma fênetre«34 wiederholt.

fie werde durch ihre Digitalisierung hinfällig. Diese Befürchtung hat sich inzwischen, nach einer Reihe von Studien zu frühen Bildbearbeitungstechniken, relativiert. Mit analogen Fotografien wird und wurde genauso manipuliert wie mit digitalen Fotografien (vgl. ebd.: 121). Diese These bestätigt auch ein von Jens Schroeter am 26.10.2010 an der Hochschule der Künste Bern im Rahmen der Tagung Zu den Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung gehaltener Vortrag mit dem Titel Gestaltung und Referenz in der analogen und in der digitalen Fotografie. 31 Fulda 2009: 409. 32 Ebd. 33 Das erste von J. Nicéphore Nièpce fotografisch fixierte Motiv ist ein Fensterausblick. 34 Fleischer 2004: 149, 27, 100, 147 usw.

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Les Cahiers de la Photographie: Denis Roche, 1989:23. Les Cahiers de la Photographie: Roland Barthes et la photo: le pire des signes 1990:25. Revue des sciences humaines: Photolittérature, 1988:2. Romantisme. Revue du dix-neuvième siècle. L’imaginaire photographique, 1999:3 (195). Vorträge Nitsch, Wolfram: „Die Photographie Albertines. Stillstellung von Bewegung zwischen Ästhetik und Kriminalistik“ (gehalten im Oktober 2010 auf einer Tagung der Proust-Gesellschaft in Köln). Schroeter, Jens: „Gestaltung und Referenz in der analogen und in der digitalen Fotografie“ (gehalten im Oktober 2010 auf der Tagung „Zu den Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung“ an der Hochschule der Künste Bern).

Danksagung

Diese Untersuchung wurde im Wintersemester 2012/13 von der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für die Ermutigung, die anregende Kritik und ihre konstruktive Beurteilung danke ich meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Marc Föcking und Prof. Dr. Thomas Strässle. Der Austausch und die Diskussionen in den Doktorandenkolloquien der Romanistik und der Kunstgeschichte der Universität Hamburg sowie in unserem Forschungsprojekt zur Intermaterialität an der Hochschule der Künste Bern haben mir sehr geholfen und ich bin allen dankbar, die sich daran beteiligt haben. Außerdem haben Swen Erik Scheuerling, Dagmar Bruss, Volker Grobbel, Luzia Hürzeler, Marianne und Klaus Mohs und Katharina Lütgert mit ihren Ideen, ihrer genauen und korrigierenden Lektüre und ihrem Vertrauen in mich sehr zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Auch ihnen danke ich für ihre Unterstützung sowie, nicht zuletzt, der Stadt Hamburg, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem Schweizerischen Nationalfonds und der Hochschule der Künste Bern für ihre finanziellen Zuwendungen.

Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Januar 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment Oktober 2013, 262 Seiten, kart., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in frankound hispanophonen Literaturen Januar 2014, ca. 520 Seiten, kart., ca. 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2508-0

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, 312 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Stephanie Fleischmann Literatur des Desasters von Annual Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 Juli 2013, 360 Seiten, kart., 36,90 €, ISBN 978-3-8376-2281-2

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0

Annette König Welt schreiben Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz Juli 2013, 200 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2436-6

Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« September 2013, 182 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3

Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) Dezember 2013, ca. 372 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2497-7

Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2374-1

Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik April 2013, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Juli 2013, 194 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur Juni 2013, 310 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2246-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)

Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013

Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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