Aufklärung, Bd. 35: Redaktion: Mulsow, Martin; Vollhardt, Friedrich; Stiening, Gideon 9783787343997

Dieses Themenheft versammelt Studien zu einzelnen Konzepten und Modellen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert und bis in

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German Pages 416 [418] Year 2023

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Aufklärung, Bd. 35: Redaktion: Mulsow, Martin; Vollhardt, Friedrich; Stiening, Gideon
 9783787343997

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AUFKL ÄRUNG   Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des BAND 35 ·JAHRGANG 2023

18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Was ist Aufklärung? Epochenkonzepte und Diskursbegriffe des 20. und 21. Jahrhunderts abhandlungen  von Eric Achermann, Oliver Bach, Monika Fick, Daniel Fulda, Frank Grunert, Marion Heinz, Matthias Löwe, Annette Meyer, Martin Mulsow, Richie Robertson, Gisela Schlüter, Christoph Schmitt-Maaß, Michale Schwingenschlögl, Gideon Stiening, Udo Thiel, Edoardo Tortarolo und Cornel Zwierlein kurzbiogr aphie  Voltaire (1694–1778) diskussion  Rainer Enskat, Aufklärung bei Kant

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Redaktion: Udo Roth

Band 35 · Jg. 2023

Thema: Was ist Aufkl-rung ? Epochenkonzepte und Diskursbegriffe des 20. und 21. Jahrhunderts

kFELIX MEINER VERLAG

ISSN 0178 – 7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Udo Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München. V Felix Meiner Verlag 2023. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Printed in Germany. www.meiner.de/aufklaerung

I N HA LT

EDITORIAL

Martin Mulsow, Gideon Stiening, Friedrich Vollhardt: Was ist Aufklärung? Epochenkonzepte und Diskursbegriffe des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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SCHWERPUNKT

Christoph Schmitt-Maaß: Die Aufklärung als Beginn und Grundlage. Kirchengeschichtliche Aufklärungsforschung bei Adolf von Harnack und seinen Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Udo Thiel: Ernst CassirerQs Die Philosophie der Aufklärung or: Was there an Enlightenment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Annette Meyer: Die Gegenwartsaufgaben der Aufklärung: Karl Mannheim und seine Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Michael Schwingenschlögl: Menschheit ohne Raum? Fritz Valjavec und die Konsequenzen der ,Abendländischen AufklärungR . . . . . . . . . . . . . . . 99 Frank Grunert: Naturrecht und Aufklärung. Die (unvereinbaren) rechtshistorischen Zugänge von Erik Wolf und Diethelm Klippel . . . . . . 123 Marion Heinz: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Oliver Bach: Methode der Aufklärung? Jürgen HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Gideon Stiening: Was ist Gegenaufklärung? Historische und systematische Anmerkungen zu Isaiah Berlins Wider das Geläufige . . . . 191

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Inhalt

Cornel Zwierlein: Wer die Aufklärung sucht, findet die Romantik nicht: John G. A. Pococks Barbarism and Religion und Gibbons Geschichtsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Eric Achermann: Aufklärung und ffge classique. Zu Episteme, Diskurs und Periodisierung bei Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Gisela Schlüter: Radikaler Reformismus – Franco Venturi, Historiograph der europäischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Edoardo Tortarolo: Die Aufklärung als europäisches Phänomen. Die Perspektive aus Italien im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Matthias Löwe: „Schlacht mit Begriffen“: Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Ritchie Robertson: Zwei neuere Aufklärungskonzepte aus Großbritannien: Keith Thomas und David Wootton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Monika Fick: Die „moderne moralische Ordnung“ und deren Grenzen: Charles Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Daniel Fulda: Eine Aufklärungsgeschichte für die Berliner Republik? Steffen Martus: Das deutsche 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Martin Mulsow: Eine Globale Ideengeschichte der Radikalaufklärung? Jonathan Israel und das transnationale 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 365

KURZBIOGRAPHIE

Björn Spiekermann: Voltaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

DISKUSSION

Rainer Enskat: Aufklärung – epochal oder weltgeschichtlich, individuell oder kollektiv? Eine kritische Miscelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Inhalt

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REZENSIONEN

Birgit Sandkaulen, Walter Jaeschke (Hg.), Jacobi und Kant (Stefan Klingner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Ritchie Robertson, The Enlightenment: The Pursuit of Happiness 1690 – 1790 (Isabel Karremann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Immanuel Kant, Tr-ume eines Geistersehers, erl-utert durch die Tr-ume der Metaphysik. Histor.-krit. Edition (Guiseppe Motta) . . . . . . . . . . . . . . 413

E D I TO R I A L

Martin Mulsow, Gideon Stiening, Friedrich Vollhardt Was ist Aufklärung? Epochenkonzepte und Diskursbegriffe des 20. und 21. Jahrhunderts

Die Auseinandersetzung mit den historiographischen und systematischen Epochenkonzepten und Diskursbegriffen von Aufkl-rung, die seit dem späten 19. Jahrhundert und bis in unsere Tage von den Geistes- und den Kulturwissenschaften entwickelt wurden und werden, sind zumeist in die Forschungsüberblicke von Spezialstudien eingebunden, wodurch sie nicht selten marginalisiert werden. Trotz einer intensiven, ja prosperierenden Aufklärungsforschung1 scheint die Kenntnis und damit der Anschluss an die bedeutenden konzeptionellen Entwürfe des 20. Jahrhunderts kaum noch gesucht zu werden @ zum Nachteil der Forschung zu dieser Epoche, die für die gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen in der Moderne von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen ist. Welche jüngere Aufklärungsforscher*in kennt noch die bedeutenden, von Jürgen Mittelstrass im Jahr 1970 vorgelegten Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie oder Peter Gays ein Jahr zuvor erschienene Darstellung mit dem programmatischen Untertitel The Science of Freedom? Darüber hinaus scheint – trotz oder wegen des verbreiteten Postulats der Interdisziplinarität – der Blick über die Grenzen der eigenen Disziplin in diesem Feld überraschend wenig ausgeprägt zu sein. Kaum eine Literaturwissenschaftler*in bezieht sich noch auf das im Wortsinn epochemachende Werk von Ernst Cassirer aus dem Jahr 1932, so wie umgekehrt bei spezialisierten Fachphilosophen die Ansätze von Historikern (Michel Vovelle, Georg Schmidt u. a.) ignoriert werden. Gleichwohl bieten viele Entwürfe zur systematischen Analyse und historischen Interpretation der Aufklärung, aber auch ihrer substanziellen Kritik seit dem 18. Jahrhundert eine Fülle von Perspektiven, Methoden und Standpunkten, die 1 Zwei Zwischenbilanzen unter vielen anderen offerierten Michael Schlott (Hg.), Wege der Aufklärungsforschung in Deutschland. Die Forschungsgeschichte von Empfindsamkeit und Jakobinismus zwischen 1965 und 1990 in Experteninterviews, Stuttgart, Leipzig 2012 sowie Stefanie Stockhorst, Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013.

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es für die künftige Forschung zu berücksichtigen gilt, um nicht nur Moden und Trends zu bedienen, sondern Kontinuität herzustellen. Das gilt sowohl für die unterschiedlichen Sichtweisen auf die geschichtliche Epoche als auch für die seit einiger Zeit in den USA, aber auch in Europa geführten Debatten über eine neue, dritte Aufklärung.2 Wenn es stimmt, wofür vieles spricht, dass die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, dann entstehen erst im späten 19. Jahrhundert wissenschaftliche Konzepte, mit denen die Epoche als ein Zeitalter der Aufklärung @ das noch keineswegs ein aufgeklärtes Zeitalter war3 @, kurz als eine kulturelle und gesellschaftliche Formationsphase beschrieben werden konnte. Erst mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und den Arbeiten von Dilthey, Hazard und Cassirer sind die mentalen, diskursiven, medialen und sozialen Konstellationen dieser Epoche in ihren europäischen Verlaufsformen durchdrungen und erfasst worden.4 Dabei zeigte sich von Beginn an, dass die historische Aufklärung zum einen nicht als einheitliche intellektuelle Bewegung zu erfassen, sondern auch anhand ihrer Kontroversen und den miteinander konkurrierenden Schulbildungen oder Fraktionierungen zu beschreiben ist, ohne dass man gleich von „Aufklärungen“ sprechen müsste;5 zum anderen wurde erkennbar, dass trotz aller Gegenströmungen @ von der Spätromantik über Friedrich Nietzsche und Georges Sorel bis zu Carl Schmitt oder dem Poststrukturalismus @ die Aufklärung nicht allein als historische Epoche, sondern auch als ein Projekt der Moderne rekonstruiert werden muss.6 Der vorliegende Band will diese hier nur flüchtig angesprochenen Problemstellungen an einzelnen Modellbildungen untersuchen, wobei auf Abbrüche, Wiederaufnahmen und wechselnde Rezeptionsinteressen zu achten war. Dabei sollte auch die Kritik an bestimmten Grundelementen des Aufklärungsdenkens (Säku-

2 Vgl. hierzu u. a. Steven Pinkert, Aufklärung Jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Frankfurt am Main 2016; Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018; Georg Cavallar, Gescheiterte Aufklärung? Ein philosophischer Essay, Stuttgart 2018; Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020 oder auch Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, übersetzt von Ulrike Bischof, Darmstadt 2021. 3 Zur Distinktion zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und einem aufgeklärten Zeitalter siehe Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., Bd. VIII, 40. 4 Vgl. hierzu u. a. Pierre-Yves Beaurepaire, LQEurope des LumiHres. Paris 2004. 5 Siehe hierzu Johannes Birgfeld, Stefanie Catani, Anne Conrad (Hg.), Aufklärungen. Strategien und Kontroversen vom 17. bis 19. Jahrhundert, Heidelberg 2022. 6 Vgl. Roy Porter, The Creation of the Modern World: The Untold Story of the British Enlightenment, New York, London 2000.

Was ist Aufklärung?

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larität, Rechtsstaatlichkeit, normative Verpflichtungen, Gewaltenteilung etc.) Beachtung finden.7 Zu diesem Zweck werden ganz unterschiedliche Epochenbilder und Aufklärungsbegriffe zur Diskussion gestellt. Der Anspruch des Bandes ist es, ein Tableau historiographisch und systematisch relevanter Aufklärungstheorien und -modelle in ihrer Entwicklung vorzustellen und deren Leistungsfähigkeit für eine Gegenwart zu prüfen, die sich von den Ordnungskategorien und praktisch-normativen Prinzipien des in der frühen Moderne entwickelten Wissens des Westens – der Begriff wird im Sinne Heinrich August Winklers gebraucht @ abzuwenden scheint. Dazu ist es erforderlich, die unterschiedlichen, mit der Erforschung der Aufklärung als Epoche und Projekt befassten Disziplinen an der Untersuchung zu beteiligen. Da gegenwärtig kaum ein produktiver Austausch zwischen den philosophischen, historiographischen, kunstwissenschaftlichen oder philologischen Fächern und den jeweiligen Theoriebildungen stattfindet, bietet der Band ein Forum für dieses interdisziplinäre Gespräch, das durch die Rückbesinnung auf die erreichten Standards und Ergebnisse des vergangenen Jahrhunderts stimuliert werden soll. Das entscheidende Desiderat bestand in der kritischen Sichtung der bedeutenden und nicht selten miteinander konkurrierenden Positionen in der Aufklärungsforschung seit dem späten 19. Jahrhundert. Mit wenigen Ausnahmen – erwähnt sei nur das Konzept der „Radikalaufklärung“8 – ist ein solcher Versuch bislang kaum unternommen worden.9 Dass bei diesem Versuch im Feld der Wissenschaftshistoriographie weder alle Leitfragen noch Autoren aufgenommen werden konnten, liegt auf der Hand. Es gehört daher zu den Zielen dieser Dokumentation, Anschlussforschung zu ermöglichen. Denn einerseits geht es darum, die unterschiedlichen Fächer in ein dauerhaftes Gespräch einzubinden; andererseits ist die im Gegenstand selbst angelegte (und geforderte) Interdisziplinarität insofern vielversprechend, als sie Auskunft über diskursive Überschneidungen gibt, die einer breiter angelegten und an Kontextualisierung interessierten Geschichtsschreibung zur Epoche der Aufklärung wichtiges Material zur Verfügung stellen könnte. 7 Zur historischen Erforschung der Gegenaufklärung vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004; zu einer aktuellen systematischen Positionierung der Aufklärungskritik vgl. Andreas Pecˇar, Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt am Main 2015. 8 Vgl hierzu die Bände von Jonathan Israel, Martin Mulsow, Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014 sowie Frank Grunert (Hg.), Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014. 9 Zu vereinzelten Ansätzen vgl. auch Till Kinzel, Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis und die Aufklärung, in: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft, Berlin 2019, 13 – 24.

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Die Beiträge zu diesem Thema gehen auf eine Tagung zurück, die vom 19. bis 22. April 2022 in München stattgefunden hat; für die Förderung dieser Veranstaltung sind wir u. a. der Carl Friedrich von Siemens Stiftung zu Dank verpflichtet.

SC H W E R PU N KT

Christoph Schmitt-Maaß Die Aufklärung als Beginn und Grundlage Kirchengeschichtliche Aufklärungsforschung bei Adolf von Harnack und seinen Schülern Aus der Kirchen ehrwürdQger Nacht Sind sie alle ans Licht gebracht. (Goethe, Faust I, Osterspaziergang)

Es sei „ein fragwürdiges Verdienst, diese Aufklärung hervorgerufen und verbreitet zu haben mit ihrer oberflächlichen Polyhistorie, ihrer seichten Philosophie und ihrem bornierten Selbstvertrauen!“ Mit diesen Worten zitiert Adolf von Harnack in seiner im Jahr 1900 erschienenen Geschichte der Königlichen Preußischen Akademie ein gängiges Urteil gegen das 18. Jahrhundert, um es umgehend zu relativieren: Das ist das Urtheil des 19. Jahrhunderts […], aber es ist parteiisch und ungerecht. […] Man vergleiche nur, wie man auf Universitäten und hohen Schulen, auf den Kanzeln und Kathedern noch um 1690 gesprochen hat und wie um 1770! Um das ganze Verdienst der Aufklärung zu ermessen, muss man erwägen, aus welchen Zuständen sie, und nicht erst die deutschen Klassiker, uns befreit hat. […] Es ist gewiss, dass es seit den Tagen der Reformation keine Bewegung gegeben hat, die in Norddeutschland tiefer eingegriffen und kraftvoller umgebildet hat, als die Aufklärung des 18. Jahrhunderts.1

Mit diesem entschiedenen Votum tritt Harnack der ablehnenden Haltung entgegen, die der Aufklärung im Ganzen und der protestantischen Kirchengeschichte im Besonderen während des 19. Jahrhunderts entgegenschlug. Von den Kirchenhistorikern des 19. Jahrhunderts (namentlich August Tholuck, Wilhelm Gass, Carl Schwarz, Albrecht Ritschl, Isaak August Dorner) wurde das 18. Jahrhundert 1 Adolf von Harnack, Geschichte der Königlichen Preußischen Akademie zu Berlin, Bd. 1/1, Berlin 1900, 429–431. Vgl. zu Harnacks Rezeption der Aufklärungstheologie Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die Aufklärungstheologie – eine Skizze, in: Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener , Arnulf von Scheliha (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. FS Ulrich Barth, Frankfurt am Main u. a. 2005 (Beiträge zur rationalen Theologie 16), 43–53.

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Christoph Schmitt-Maaß

bekanntlich als Zeitalter des Rationalismus abgelehnt.2 Um 1900 jedoch setzt eine Neubewertung des Aufklärungszeitalters durch die protestantische Kirchengeschichtsschreibung ein.3 Den Hintergrund dieser Neubewertung bildet der Historismus. Leopold von Rankes Feststellung, dass ,jede Epoche unmittelbar zu GottR sei, löste auch in der protestantischen Kirchengeschichte einen Historisierungsschub aus, erschien doch das historische Denken nun nicht nur vereinbar mit der Theologie, sondern wurde auch gleichsam zur „wesentlichen Grundvoraussetzung theologischer Reflexion“.4 Ernst Troeltsch, der den Historismusstreit als „Krisis des Historismus“ auf einen begrifflichen Nenner brachte,5 bearbeitete bereits in seiner Heidelberger Zeit 1897 das Lemma ,AufklärungR für die Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Der erste Satz lautet: „Die Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte im Gegensatz zu der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur“.6 Damit ist ein Umbruch zur tradierten pejorativen Aufklärungsrezeption innerhalb der protestantischen Kirchengeschichte markiert, der sich in den Jahren ab 1900 in der Kirchengeschichte vollzog; und hier setzt mein Beitrag ein. Begrenzt werden meine Ausführungen zur theologische Aufklärungsforschung durch die Zeit des Nationalsozialismus: Die Deutschen Christen lehnen den „liberalen Geist[] der jüdisch-marxistischen Aufklärung“7 bereits 1932 ebenso ab wie die Bekennende Kirche, die in ihrer (von Karl Barth entworfenen) „Theologischen Erklärung“ von 1934 die „neuprotestantisch-aufklärerische[] Entwicklung, die Verschmelzung von Geschichte und Glaube, […] kurz, die ,natürliche TheologieR“8 des Aufklärungszeitalters verwarf. 2 Vgl. Georg Neugebauer, Theologische Aufklärungsforschung im 19. Jahrhundert, in: ders., Paolo Panizzo, Christoph Schmitt-Maaß (Hg.), „Aufklärung“ um 1900. Paderborn 2014 (Laboratorium Aufklärung 26), 169–185. 3 Vgl. Neugebauer, Aufklärungsforschung (wie Anm. 2), 169, 185. 4 Ebd., 185. 5 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme [1922], in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hg. von Johannes Mikuteit und Gangolf Hübinger, Berlin, Boston 2002, 437–456. 6 Ernst Troeltsch, Aufklärung, in: Albert Hauck (Hg.), Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 2: Aretas von Cäsarea – Bibeltext des NT, Leipzig 1897, 225–241, hier 225. Zu verweisen ist auch auf Troeltschs Aufsatz Religionswissenschaft und Theologie des 18. Jahrhunderts von 1903 (Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6: Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), hg. von Trutz Rendtorff und Stefan Pautler, Berlin 2014, 69–95). 7 Tägliche Rundschau vom 25. Febr. 1932 [!], zit. nach Helmut Baier, Die Deutschen Christen Bayerns im Rahmen des bayerischen Kirchenkampfes, Nürnberg 1968 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 46), 357. 8 Kurt Nowak, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945, Leipzig 1999, 13.

Die Aufklärung als Beginn und Grundlage

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Die Rezeption und den Wandel der Aufklärungstheologie zwischen 1900 und 1945 will ich im Folgenden nachzeichnen.9 Konzentrieren werde ich mich auf den eingangs zitierten Inhaber des Berliner kirchenhistorischen Lehrstuhls, Adolf von Harnack, dessen Kollege Ernst Troeltsch 1915 durch seinen Wechsel von Heidelberg an die Friedrich-Wilhelms-Universität wurde.10 Hier, in Berlin, zog Harnack ganze Generationen von Schülern heran. Viele etablierten ein spezifisches Aufklärungsbild, das ich nachzeichnen werde. Zuvor werde ich jedoch Harnacks Position zur Aufklärung um 1900 konturieren, um dann die weitere Entwicklung dieser Aufklärungsrezeption bei Leopold Zscharnack, Heinrich Hoffmann, Karl Aner und Karl Barth bis 1946 zu verfolgen.

I. Adolf von Harnack11 Bereits in seiner preisgekrönten Dorpater Marcion-Schrift von 1870 setzt sich Harnack mit Johann Salomo Semler auseinander,12 und seine erste Leipziger Symbol-Vorlesung von 1878 thematisiert die Aufklärung explizit, da – wie er an Ritschl schreibt – „die Bedeutung der Aufklärung nur dann richtig gewürdigt würde, wann man an ihr nicht bloß negative oder exotische Momente wahrnehme, sondern wenn man sie als Complement zum herrschenden Theilkichenthum und zum confessionellen Hader erfasse.“ Die Aufklärung habe „wieder auf das Werthvolle im Christenthum, wie es als einheitliches Gut den Lehren der Confessionen zu Grunde liegen müsse, besonnen […] und [wollte] den Character der christl. Religion als Weltreligion wieder anQs Licht stellen“.13 In seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte von 1886 findet die Aufklärung ihren Platz durch die Würdigung zahlreicher Einzelfiguren der Dogmengeschichte des 18. Jahrhunderts, etwa Lorenz Mosheims, der als „Erasmus des 18. Jahrhunderts“ an das Reformationszeitalter zurückgebunden wird.14 Vor allem der bereits erwähnte Semler nimmt hier eine prominente Stellung ein, habe er doch einer Historisierung der 9 Mein Beitrag ergänzt den Aufsatz von Neugebauer, Aufklärungstheologie (wie Anm. 2), der bis 1900 reicht, und die Abhandlung von Nowak, Vernünftiges Christentum (wie Anm. 8), die 1945 einsetzt. Wertvolle Hinweise habe ich dem Aufsatz von Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1) entnommen. 10 Wilhelm Pauck, Harnack and Troeltsch. Two Historical Theologians, New York 1968. 11 Die Rezeption der Aufklärungstheologie bei Adolf von Harnack hat Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1) skizziert. Da Nottmeiers Skizze sprunghaft argumentiert, werde ich im Folgenden die Rezeptionszeugnisse zu Harnack in zeitlicher Reihenfolge referieren. 12 Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 48. 13 Adolf von Harnack an Albrecht Ritschl, Brief von 1875, zit. nach Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 48 f. 14 Harnack, Dogmengeschichte (1886), zit. nach Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 49.

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Christoph Schmitt-Maaß

Dogmengeschichte zugearbeitet. Vor allem aber ermöglichte die Theologie des Aufklärungszeitalters eine Kondensation des Christentums auf seine wesentlichen Elemente hin und dadurch eine Neubegründung des universalen Geltungsanspruchs. Für Harnack berührten sich damit in der „Formulierung eines undogmatischen Christentumverständnisses und [der] […] erneuten Plausibilisierung des Christentums unter den Bedingungen der Neuzeit“ die „Intentionen der Aufklärung und sein eigenes theologisches Hauptanliegen“.15 In seiner ab 1892 wiederholt gehaltenen Vorlesung Entstehung und Bedeutung der theologischen Richtungen der Gegenwart konturiert Harnack die Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts als Grundlage des ungleich höher gewerteten Idealismus.16 In der eingangs zitierten Geschichte der Königlichen Preußischen Akademie zu Berlin aus dem Jahr 1900 verteidigt Harnack sodann die Aufklärung und die Aufklärer gegen den Idealismus und die Romantik, nicht ohne einzuräumen, dass Berliner Aufklärer erst in die Akademie aufgenommen worden seien, als sich ihr Wirken bereits erschöpft habe, nämlich in den 1780er und 1790er Jahren. Das führt Harnack auf eine Überalterung der Aufklärung zurück, die sich personell und ideell überlebt habe: man wird doch gestehen müssen, daß diese ,AufklärungR, nachdem sie ein Menschenalter hindurch ihre Dienste gethan hatte, zum Hemmnis geworden war. Damit ist nicht behauptet, dass sie nicht Elemente in sich besessen hätte, in denen sie ihrem romantischen, ja ihrem ,klassischenR Gegner überlegen war; aber die Geschichte pflegt mit den relativen und peripherischen Vorzügen einer alten Denkweise wenig Federlesens zu machen, wenn sie einen Umschwung der Dinge betreibt. Die Enkel mögen zusehen, wie sie die Güter wieder einbringen, welche ihre Grossväter als unwerth bei Seite werfen mussten, um ihre neuen Ideale durchzusetzen!17

So Harnacks Bewertung der Aufklärungsepoche bis 1900. Nach der Jahrhundertwende hat Harnack in eigenen Verlautbarungen, aber vor allem indem er Schüler auf die Erschließung der Aufklärungsepoche angesetzt hat, ein vertieftes und positiveres Bild gewonnen. Vor allem Lessing in seinem „Kampf mit Goeze“18 habe zum Entstehen einer ,religionskompetenten ÖffentlichkeitR beigetragen und dadurch die ,religiöse Mündigkeit der LaienR überhaupt erst ermöglicht.19 Für Harnack bestand Lessings Verdienst vor allem darin, die Laienkompetenz in Fragen

Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 49. Ebd., 45. 17 Harnack: Geschichte der Preußischen Akademie (1900), zit. nach Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 46. 18 Harnack: Über den privaten Gebrauch der Hl. Schrift (1912), zit. nach Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 52. 19 Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 52. 15

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Die Aufklärung als Beginn und Grundlage

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der Textauslegung und die Christologie als wahren Kern der Reformation wieder ins Bewusstsein gehoben zu haben.20 Harnack prägt in den Zwischenkriegsjahren angesichts der allgemeinen Verunsicherung und der kirchenhistorisch-weltanschaulichen Umwälzungen sein Verständnis von Aufklärung noch einmal neu: In Abgrenzung von der pejorativen Begriffs-Besetzung seines Lehrers Albrecht Ritschl bezieht sich Harnack nun positiv auf ,NeuprotestantismusR und ,liberale TheologieR und nutzt diese Begrifflichkeiten in der Engführung mit einer positiven Aufklärungsrezeption, um gegen den „religiösen Übermut […] unsere[r] Kierkegaards“21 (gemeint ist Karl Barth22) zu votieren. Neben dem Reformationszeitalter wird das Aufklärungszeitalter nun als „zweite Grundlagenepoche des Protestantismus“23 reklamiert. Die Klärung der Grundlagen des Christentums, die dadurch ermöglichte universale Bedeutung, das Selbstverständnis als Enkel der Aufklärung, die Autonomie sowie religiöse Mündigkeit des Individuums und ein entdogmatisiertes Christentumsverständnis und schließlich die Aufwertung der Aufklärung und ihrer Theologie als zweite Reformationsepoche – all das steht im Zusammenhang mit einem Projekt, das Harnack nach 1900 umtreibt: Das Wesen des Christentums lautet der Titel einer Vorlesung, die Harnack seit 1899 wiederholt angeboten und 1900 auch als äußerst erfolgreiche Buchfassung vorgelegt hat; das ,Wesen des ChristentumsR zu ergründen, war aber auch das Anliegen der Neologen des 18. Jahrhunderts, allen voran Siegfried Friedrich Wilhelm Jerusalem und Johann Joachim Spalding. Die Ausrichtung am tätigen Christentum und einer ,SimplicitätR führten bei Jerusalem zur Konstruktion einer ,natürlichen ReligionR, die den kirchlichen Lehrbestand kritisierte.24 Jerusalems Kritik richtet sich gegen eine Lehrdogmatik, die nicht von der Praxis ausgeht, sondern von der Spekulation über Glaubenssätze. Nicht die überlieferte lutherische Orthodoxie und die Schriftmäßigkeit begründen für Jerusalem das Wesen des Christentums, „sondern die Prüfung der Frage, inwieweit eine Lehre sich angemessen zum aus der Religion Jesu rekonstruierten Wesen des Christentums verhält.“25 Auch wenn Harnack – im Anschluss an Spalding und Jerusalem – „in den praktischen Konsequenzen von Wesenskritik und Wesensgestaltung außerordentlich behutsam war“,26 so Vgl. Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 52 f. Adolf von Harnack, Rezension von Heinrich Hoffmanns Der neuere Protestantismus und die Reformation (1924), zit. nach Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 44. 22 Peter Henke, Erwählung und Entwicklung. Zur Auseinandersetzung zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth, in: Neue Zeitschrift für Systematischen Theologie und Relionsphilosophie 18 (1976), 194–208. 23 Nottmeier, Harnack (wie Anm. 1), 45. 24 Ebd., 51. 25 Ebd. 26 Ebd., 52. 20 21

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argumentiert er in seinem Wesen des Christentums im Sinne der Neologen der Aufklärung (wofür er von den zeitgenössischen konservativen Theologen heftig kritisiert wurde), kaschiert jedoch sein dogmatisches Anliegen durch eine kirchengeschichtliche Historisierung. Wie wirkt nun Harnacks Aufklärungsrezeption bei seinen Schülern fort? Zunächst ist zu beobachten, dass zahlreiche bei Harnack entstandene Promotionsschriften, Monographien und Editionen eine Aufklärungsthematik aufweisen.27 Vier Harnack-Schüler haben sich, auch in ihrem eigenen Wirken als Hochschullehrer, intensiver mit der Aufklärungsepoche auseinandergesetzt und werden daher näher betrachtet: Leopold Zscharnack, Heinrich Hoffmann, Karl Aner und Karl Barth.

Unter die Qualifikationsschriften, die bei Harnack verteidigt wurden, rechnen Leopold Zscharnack, Lessing und Semler, Gießen 1905 (Habil. Berlin); Heinrich Hoffmann, Die Theologie Semlers; Leipzig 1905 (Habil. Berlin); Heinrich Hoffmann, Die Aufklärung, Halle 1912; Karl Aner, Sozianismus und Aufklärung (Diss. Berlin 1916, publiziert erst 1929 unter dem Titel Theologie der Lessingzeit). Hinzu kommen Monographien, Sammelwerke und Editionen, die nicht unbedingt direkt von Harnack betreut wurden, aber in der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus (Gießen) erschienen: Karl Bornhausen, Die Ethik Pascals, 1906; Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) und Wert der Andacht (1755), hg. von Horst Stephan, 1908; LeibnizQ Annotatiunculae subitaneae ad Librum de Christianismo Mysteriis carente (1701), hg. von Leopold Zscharnack, 1908; TolandQs Christianity not mysterious (Christentum ohne Geheimnis) 1696, hg. von Leopold Zscharnack, 1908; Walter Wendland, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsätze Friedrich Wilhelms des Dritten in ihrer Bedeutung für die Geschichte der kirchlichen Restauration, 1909; Martin Schian, Orthodoxie und Pietismus im Kampfe um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts, 1912; Karl Aner, Der Aufklärer Friedrich Nicolai, 1912; Paul Gabriel, Die Theologie W. A. Tellers, 1914; LockeQs Reasonableness of Christianity (Vernünftigkeit des biblischen Christentums) 1695, hg. von Leopold Zscharnack, 1914; Die Religionsphilosophie des Herbert von Cherbury. Auszüge aus De veritate (1624) und De religione gentilium (1663), hg. von Heinrich Scholz, 1914; Georg Bohrmann, Spinozas Stellung zur Religion. Eine Untersuchung auf der Grundlage des theologisch-politischen Traktats, 1914; Theodor Sippell, Zur Vorgeschichte des Quäkertums, 1920; Wilhelm Maurer, Aufklärung, Idealismus und Restauration. Studien zur Kirchen- und Geistesgeschichte in besonderer Beziehung auf Kurhessen (1780 – 1850), 1930. Darüber hinaus zeugen einzelne Aufsätze in der „Harnack-Ehrung“ (Beiträge zur Kirchengeschichte ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem 70. Geburtstage 7. Mai 1921 dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921) von einem Aufklärungs-Schwerpunkt: Karl Aner, Zum Paulusbild der deutschen Aufklärung (366–376); Heinrich Hoffmann, Die Frage nach dem Wesen des Christentums in der Aufklärungstheologie (353–365); Heinrich Scholz, Zufällige Geschichtsund notwendige Vernunftwahrheiten (377–393). Auch weitere Arbeiten aus dem Harnack-Umfeld zeugen von einem Interesse an der Aufklärungstheologie, etwa die Studie von Karl Völker, Die Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung, Tübingen 1921. 27

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II. Leopold Zscharnack Als Herausgeber28 wie Analytiker der kirchenhistorischen Aufklärung ist Leopold Zscharnack hervorgetreten, der sich 1906 bei Harnack habilitierte und ab 1921 in Breslau sowie ab 1925 in Königsberg Lehrstühle für Kirchengeschichte innehatte. War seine bei Harnack verteidigte Promotionsschrift noch der Rolle der Frau in der frühchristlichen Kirche gewidmet, so wandte sich Zscharnack mit der Habilitationsschrift29 dem Zeitalter der Aufklärung zu, das er in den folgenden Jahren intensiv bearbeiten sollte.30 Die Karl-Schwarz-Stiftung hatte 1905 die Erarbeitung der kirchengeschichtlichen Bedeutung Johann Salomo Semlers zur Preisfrage ausgeschrieben, so dass eine ganze Reihe von Studien zu diesem Thema entstand.31 Tscharnacks Habilitationsschrift unterscheidet sich von den vier anderen eingereichten Preisschriften durch seine quellenphilologische Gründlichkeit. Als Zielsetzung benennt er, das „Studium der Geschichte des Rationalismus“ anregen und „das Urteil über die Zeit revidieren“ (IV) zu wollen. Aufklärung erweist sich in Zscharnacks Perspektive als „Konsequenz aus Reformation, lutherischer Orthodoxie und Pietismus“ (1). Zscharnack konturiert den Bezug von Semlers Hermeneutik zu Luthers Schriftverständnis einerseits, den „Einfluss der pietistischen Zielvorstellung einer erbaulichen Applikation im Denken Semlers“32 andererseits. Nach Zscharnack besteht Semlers Neuerung in einer „Ablehnung von Typologie und Allegorese bei der Textauslegung“, die Semler durch Anwendung historisch-kritischer Verfahren ersetzt habe.33 Lessing, dem Zscharnacks zweites Augenmerk gilt, konturiert Zscharnack als Kirchenhistoriker. Auf der Grundlage der Arbeiten seines Vaters habe Lessing die Historisierung der Kirchengeschichte und das praktische Christentum begründet. Hatte Semler durch Historisierung der Kirchengeschichte „zur Befreiung der Religion aus religiöseren Gründen“ (373) beigetragen, so habe Lessing aus der Kirchengeschichte die Bedeutung des individuellen Glaubens erhellt: „Ist Semler so allenthalben 28 TolandQs Christianity not mysterious (wie Anm. 27); LeibnizQ Annotatiunculae subitaneae (wie Anm. 27); LockeQs Reasonableness of Christianity (wie Anm. 27). 29 Zscharnack, Lessing und Semler (wie Anm. 27). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 30 Leopold Zscharnack, Zur Geschichte des Pfarramts und des kirchlichen Lebens einer Kleinstadt (Genthin) im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 5/2 (1908), 125–158; Leopold Zscharnack, Berliner Predigtenkritik fürs Jahr 1783, in: Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte 14 (1916), 169–205. Zscharnack verfasste darüber hinaus zahlreiche Rezension für die Theologische Literaturzeitschrift, v. a. zu Aufklärungs-Büchern. 31 Für einen Überblick vgl. Marianne Schröter, Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, Berlin, Boston 2012 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 44), 14, Anm. 67. 32 Ebd., 14. 33 Ebd., 14 f.

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nur der Anfänger des Rationalismus gewesen, so war er doch in alledem der Bahnbrecher der modernen theologischen Kritik und der kritischen Theologie, der er neben Lessing die Wege geebnet und die ersten Schritte zu tun geholfen hat“ (377).34 III. Heinrich Hoffmann Im selben Jahr erscheint auch die Habilitationsschrift des Harnack-Schülers Heinrich Hoffmann, die der Theologie Johann Salomo Semlers gewidmet ist.35 Hoffmann war 1904 mit einer Studie über die LeibnizQsche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Stellung promoviert worden, und auch in kleineren Publikationen setzt sich Hoffmann weiter mit der theologischen Fragen des Aufklärungszeitalters auseinander.36 Ab 1912 war er ordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Bern; aus demselben Jahr datiert noch seine kleine publikumsorientierte Studie zur Aufklärung;37 1927 bearbeitet Hofmann für die zweite Auflage der von Zscharnack verantworteten RGG das Lemma „Aufklärung“38 und aktualisiert damit Ernst Troeltschs Ersteintrag von 1897. In einer Rezension betont Troeltsch dann auch, dass Hofmanns Habilitationsschrift von 1905 ein sehr viel differenzierteres Verständnis von Aufklärung zeige als Zscharnacks Habilitations34 In seiner Rezension der Habilitation Zscharnacks (Theologische Literaturzeitung 1906, Nr. 5, Sp. 145–149. Jetzt wiederabgedruckt in: Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4: Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Berlin, Boston 2004, 455–465) betont Ernst Troeltsch, dass die Negativwertung der Aufklärungsepoche und die Gleichsetzung von Aufklärung und Rationalismus einem tendenziösen Geschichtsbild zuzurechnen seien, das sich erst nach 1789 etabliert habe. Troeltsch bezeichnet Zscharnacks Bild der Aufklärung daher als „dürftig und orientierungslos“ (Sp. 146), was Troeltsch letztlich auf Zscharnacks fehlende Kenntnis der außerdeutschen Entwicklungen in der Aufklärungsepoche zurückführt. So sehr Troeltsch die Verdienste Semlers für die Historisierung der Theologie betont und damit Zscharnack zustimmt: letztlich vermag die Historisierung der Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts den Ansprüchen der Kirchengeschichte der Gegenwart nach Historisierung selbst nicht gerecht zu werden. Vgl. auch Friedrich Vollhardt, Der Musteraufklärer. G. E. Lessing in der Wissenschaft und Publizistik um 1900, in: Neugebauer u. a. (Hg.), Aufklärung um 1900 (wie Anm. 2), 83–101, hier 94. 35 Hoffmann, Die Theologie Semlers (wie Anm. 27). In derselben Rezension (wie Anm. 34) bespricht Troeltsch auch Hoffmanns Habilitation. 36 Heinrich Hoffmann, Die Frömmigkeit der deutschen Aufklärung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 16 (1906), 234–250; Hoffmann, Wesen des Christentums (wie Anm. 27), Heinrich Hoffmann, Die Religion im Leben und Denken Pestalozzis, Bern 1944. 37 Heinrich Hoffmann, Die Aufklärung, Tübingen 1912 (Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart, Reihe 4, 19). 38 Heinrich Hoffmann, [Art.] Aufklärung, in: Hermann Gunkel, Leopold Zscharnack (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 2., völlig neubearb. Aufl., Bd. 1: A–D, Tübingen 1927, Sp. 634–648.

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schrift aus demselben Jahr. Der „problemgeschichtliche[] Rahmen[]“39 sei von Hoffmann sehr gut herausgearbeitet und daher Semlers Denken scharf erfasst worden. Das Stichwort der Problemgeschichte mag als Hinweis auf Hoffmanns ideengeschichtliche Verwurzelung dienen; es findet bereits in der Habilitationsschrift seinen Ausweis. Außerdem konturiert Hoffmann seinen Aufklärungsbegriff in Kenntnis, aber zugleich in Abgrenzung zum Aufklärungsbegriff der älteren Kirchenhistoriker (Tholuck, Gass). Auch wenn die Aufklärungstheologie trockener und von weniger anziehenden Persönlichkeiten als etwa das konfessionelle Zeitalter geprägt sei, so helfe doch eine Differenzierung, die das 18. Jahrhundert nicht einfach unter dem Stichwort ,RationalismusR verbuche, sondern „die allmähliche Entwicklung und die verschiedene Färbung der verschiedenen Zeiträume“ zur Kenntnis nehme.40 Die „Aufklärungstheologie“ habe eine ganze Reihe von Problemen benannt und Entwicklungen losgetreten, die auch in der Gegenwart des Jahres 1905 noch relevant seien. Sie markiere daher den „Anbruch der Periode der Kirchengeschichte, in der wir leben“ (2). Weder die Philosophie der Aufklärung noch der Pietismus hätten einen Bruch mit der älteren Theologie bewirkt oder gar einen „Sturz des alten Systems herbeigeführt“ (7). Vielmehr habe Semler die Argumentationsverfahren der zeitgenössischen Philosophie (v. a. Christian Wolffs) genutzt, um die Vernünftigkeit der Offenbarung zu belegen (8), unter Kenntnisnahme des deistischen Schrifttums seiner Zeit und in Rückkoppelung mit der pietistischen Frömmigkeit. Damit wird Semler zum Vater der neueren Theologie (18), die die Offenbarung nicht dogmatisch, sondern historisch (27 f.) und dazu die Grundlagen des Christentums universalistisch begründet. Ausgerichtet an einem praktischen Christentum habe Semler die (essentielle) Religion von der (unwesentlichen) Theologie geschieden. In seinem Beitrag zur Harnack-Festschrift von 1921 spricht sich Hoffmann deutlich als Erbe und Fortführer der ideengeschichtlichen Themen seines Lehrers aus. Hoffmann fokussiert darin Die Frage nach dem Wesen des Christentums in der Aufklärungstheologie.41 Im historischen Rückgang auf die Aufklärungstheologie leistet Hoffmann einen Beitrag zur Historisierung des gegenwärtig schwelenden Konflikts zwischen seinem Lehrer und den konservativen Fachvertretern, die Harnack eine essentialistische Sicht der protestantischen Kirchengeschichte vorwarfen. Harnacks Versuch, das Wesen des Christentums in seiner gleichnamigen Grundschrift liberaler kulturprotestantischer Theologie42 zu kristallisieren, brachte ihm den Ruf ein, ein Neologe zu sein, also das Erbe der AufklärungstheoTroeltsch, Rezension (wie Anm. 34), Sp. 146. Hoffmann, Die Theologie Semlers (wie Anm. 27), 1. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 41 Hoffmann, Wesen des Christentums (wie Anm. 27). Mit Seitenzahl im Text zitiert. 42 Gunther Wenz, Der Kulturprotestant. Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker und Kontroverstheologe, München 2001. 39 40

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logie nicht nur weiterzutragen, sondern für die eigene Zeit zu reaktivieren. In seinem Beitrag betont Hoffmann, dass die Aufklärungstheologie auf einen Abgleich des Christentums mit der „natürlichen Religion“ gezielt habe (354), um die Übereinstimmung von Vernunft und Glauben zu erweisen. Daher sei es notwendig geworden, das Wesen des Christentums zu bestimmen, wobei „das Praktische“ und „das Biblische als Maßstäbe“ gegolten hätten (354). Hoffmann differenziert sodann die „deistische Auffassung“ eines ,reinenR Urchristentums, zu dem die Aufklärungstheologie nie zurückgekehrt sei, da der „aufgeklärte Biblizismus“ in seiner Reduktion des Christentums auf Jesus selbst historisiert worden sei (357), diese Bedingtheit aber nicht historisiert (361). Die Suche nach dem ,WesenR habe im 18. Jahrhundert zum Postulat eines für die eigene Gegenwart gültigen Christentums geführt, unter Absehung von einer notwendigen Historisierung. Auch wenn das 18. Jahrhundert in der Bestimmung des ,Wesens des ChristentumsR also gescheitert sei, so habe doch „kein Zeitalter, auch die Reformation nicht, den Unterschied von Urchristentum und kirchlicher Tradition so scharf betont wie die Aufklärung“ (364). Die Kritik orthodoxer Theologen an Harnacks Wesen des Christentums erweist sich in Hoffmanns Perspektive als Kritik, die schon an der Aufklärungstheologie geübt worden sei – sie wäre damit (Hoffmann nennt den Begriff nicht, meint aber die Sache) ,Anti-AufklärungR.

IV. Karl Aner Leopold Zscharnack urteilt 1932 in einer Rezension: „Aner ist sich dessen bewußt, daß die theologische Welt von heute einer rational eingestellten Epoche wie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts […] weithin keine Liebe, sogar gar kein Interesse entgegenbringt.“ Der Neologie der deutschen Aufklärungstheologie – Zscharnacks Dissertationsthema – habe er „nicht nur sein wissenschaftliches Interesse [ge]widmet, sondern seine persönliche Sympathie mit dem Wesentlichen in ihr“ bezeugt.43 Aner hatte seit 1909 zur Aufklärung gearbeitet (zunächst zur Philosophie),44 ehe er sich mit seiner Promotion bei Harnack 1916 zu Sozianismus und Aufklärung der Aufklärungstheologie zuwandte.45 Die Publikation seiner Dissertation gestaltete sich schwierig und erfolgte mit dreizehnjähriger Verspätung in erwei43 Leopold Zscharnack, [Rez. von Aner, Die Theologie der Lessingzeit], in: Theologische Literaturzeitung 57/23 (1932), 537–540, hier 537. 44 Karl Aner, Gottfried Ploucquets Leben und Lehren, Halle 1909; Aner, Der Aufklärer Nicolai (wie Anm. 27); Karl Aner, Johann Heinrich Voß, Gotha 1927; Karl Aner, Die Historia dogmatum des Abtes Jerusalem, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 47 (1928), 76–103. 45 Aner, Paulusbild der deutschen Aufklärung (wie Anm. 27).

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terter und veränderter Fassung unter dem Titel Die Theologie der Lessingzeit. Diese Publikation stellt gleichsam ein Fazit seiner zwanzigjährigen Beschäftigung mit der Aufklärung und der Aufklärungstheologie dar. Aner stellt darin die Entwicklung der aufklärungstheologischen Neologie zwischen 1740 und 1790 in kulturgeschichtlicher Perspektive46 dar, die er unter dem Titelstichwort der „Lessingzeit“ zeitlich verortet, doch setzt er mit Gottsched an, den er als ,ersten NeologenR anspricht und der als Lehrer auf Siegfried Wilhelm Friedrich Jerusalem eingewirkt habe. Anhand des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung strukturiert Aner drei (ineinander übergehende) Etappen der Entwicklung: „1. der theologische Wolffianismus (Behauptung der Widerspruchslosigkeit von Vernunft und Offenbarung), 2. die Neologie (Aufgabe des Kontrarationalen bei fortgesetztem Festhalten am Offenbarungsbegriff), 3. der Rationalismus (Identifikation von Vernunft und Offenbarung).“47 Damit legte Aner eine Strukturierung der Aufklärungstheologie vor, die noch heute Gültigkeit besitzt. Aner bestimmt den Vernunftbegriff nicht von der abstrakt-intellektuellen Position her, sondern bringt mit den Stichworten ,GemütR, ,HerzR und ,EthikR ein Korrektiv zur überkommenen Deutung der Aufklärungstheologie als ,gefühlskalten RationalismusR ein. Vor allem konturiert Aner, dass die neologischen Aufklärungstheologen trotz aller Historisierung am Offenbarungsbegriff festhalten, ihn also keineswegs ,rationalistischR auflösen. Daher kann Aner in anderen Zusammenhängen auch aufzeigen, dass die Frömmigkeitsbewegungen des 18. Jahrhunderts nicht im Gegensatz zur Aufklärung stehen, sondern sich logisch aus der Aufklärung ergeben; wie auch die theologische Aufklärung kein „Kunstprodukt akademischer Theologen“ ist, „sondern eine nachgelagerte Reflexionsbewegung, mit der auf gesellschaftliche Umbruchprozesse reagiert wurde, die von einem Frömmigkeitswandel getragen waren.“48 In seiner Vorbemerkung stellt Aner klar, dass seine historische Rekonstruktion auf die theologische Debattenlage der eigenen Gegenwart zu beziehen sei: „Die Neologie ist aus der Mode gekommen. Die wiedererstandene Neologie, deren symbolisches Buch in Harnacks Wesen des Christentums erblickt werden darf, ist heute aus der Mode gekommen. Die disparatesten Strömungen beherrschen den Tag: Mystik, Irrationalismus, Kierkegaardfieber, Lutherrenaissance.“49 Aner konstatiert, dass einer durch die Erkenntnisgewinne und Reflexionsmöglichkeiten des 19. Jahrhundert gereiften Neologie „als einer spezifischen Form aufgeklärt-neuzeitlichen Protestantismus die Zukunft gehöre“:50 „Nach all 46 Andres Straßberger, Frömmigkeitsgeschichte und Kulturgeschichtsschreibung. Überlegungen zur Kirchenhistoriographie Karl Aners (1879–1933), in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 12 (2005), 175–207. 47 Ebd., 175. 48 Ebd., 194. 49 Aner, Theologe der Lessingzeit (wie Anm. 27), 364 f. 50 Nottmaier, Harnack (wie Anm. 1), 43.

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diesen Forciertheiten aber wird eines Tages die Gesundheit einer selbstredend durch das 19. Jahrhundert hindurch an Fülle der historischen Erkenntnis und religiöser Feinfühligkeit gewachsenen Neologie wiederkehren.“51 Diesem Ziel verschreibt sich auch Aner in seiner publikumsadressierten Kirchengeschichte, die 1931 in der Sammlung Göschen erschien.52

V. Karl Barth Er bezeichnete sich selbst als „Schüler Harnacks“, hat aber ein kritisches Verhältnis zu diesem entwickelt. Die Rede ist vom Schweizer Theologen Karl Barth, der von 1904 bis 1908 an der Friedrich-Wilhelms-Universität bei Harnack studiert hatte, aber ein streitbarer Schüler seines Lehrers blieb. 1914 und vor dem Hintergrund der Kriegsbegeisterung der deutschen Kirchenhistoriker brach Barth mit der liberalen Theologie und entwickelte in seinen Römerbriefkommentaren (1919/1922) seine Dialektische Theologie. Ohne promoviert oder habilitiert worden zu sein übernahm Barth 1921 den Lehrstuhl für Reformierte Theologe an der Universität Göttingen und betätigte sich zunehmend als Kirchenhistoriker, wobei sein eigentliches Interesse auf dem Gebiet der Dogmengeschichte lag. Gegen seinen Lehrer Harnack postulierte er 1923, „daß dasselbe nicht wiederkehren kann noch soll, und daß wir in unserer Zeit für unsere Zeit zu denken haben“.53 In den Jahren 1923 bis 1924 entspann sich eine Briefkontroverse zwischen Harnack und Barth, die um die dialektische Theologie Barths kreisten und die 1957– also dreißig Jahre nach Harnacks Tod – Eingang fand in Barths Schrift Theologische Fragen und Antworten. Während Barth erklärte, die Aufgabe der Theologie falle mit derjenigen der Predigt zusammen, witterte Harnack als Doyen liberaler, kulturprotestantischer Theologie die Gefahr einer „theologischen Diktatur“.54 Nach Wechseln auf die Dogmatik-Lehrstühle in Münster (1925) und Bonn (1930) kommt es 1934 mit der Barmer Erklärung zum Bruch Barths mit den Deutschen Christen; er verlässt 1935 Nazi-Deutschland und wechselt an die Universität Basel, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrt. Auf den Bonner Vorlesungen der Vorkriegszeit beruht Barths 1947 erschienenes Werk Die protestantische Theologie Aner, Theologe der Lessingzeit (wie Anm. 27), 364. Karl Aner, Kirchengeschichte, Bd. 4: Neuzeit, erste Hälfte (bis ca. 1830), Berlin 1931, 89 f. 53 Karl Barth an Adolf von Harnack, Offener Brief in der Christlichen Welt von 1923, in: Karl Barth, Offene Briefe 1909 – 1935, hg. von Diether Koch, Zürich 2001, 55 – 88, hier 71. 54 Zur Debatte vgl. Hartmut Ruddies, Evangelium und Kultur. Die Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth, in: Kurt Nowak (Hg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte/Max-Planck-Institut für Geschichte 161), 103–126; Henke, Erwählung und Entwicklung (wie Anm. 22), 194–208. 51 52

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im 19. Jahrhundert,55 deren erster Band die Vorgeschichte umfasst – und damit die Aufklärungstheologie. Auf der Grundlage einer neo-orthodoxen Dialektischen Theologie argumentiert Barth gegen die liberale Kirchengeschichte seines Lehrers Harnack, was seinen Ausdruck bereits im weitgehenden Verzicht auf dogmengeschichtliche Analysen und die Bevorzugung der analytischen Dogmatik findet.56 Barths methodologische Bemerkung, „Geschichte erkennen wir überall nur, wenn und indem etwas an uns und für uns, vielleicht auch gegen uns geschieht“ (1) liest sich wie eine Absage an die Harnack-Schule. Seine Bestimmung von ,AufklärungR erfolgt daher unter zwei Aspekten: einmal mit Blick auf die Theologie des 18. Jahrhunderts und einmal mit Blick auf die Aneignung der Neologie durch die Harnack-Schule. ,AufklärungR bestimmt Barth vor dem breiteren geistesgeschichtlichen Hintergrund, der von der philosophischen Erkenntnistheorie eines Leibniz und eines Wolff ausgeht, um bis zur ,Selbstaufklärung der AufklärungR (17) vorzustoßen. Die in der Aufklärung allerorten begegnende Gefahr des reinen „Intellektualismus“ (23) sieht Barth in der Aufklärungstheologie in besonderem Maße gegeben, zumal es sich dabei um ein verspätetes Phänomen handele, die Theologie also der allgemeinen historisch-philosophischen Entwicklung nachhinke (115, 117). Barth unterscheidet sodann ein „reine[s] Vernunftchristentum“ (das – an Wolff anknüpfend – eine bedeutungslose „natürliche Theologie“ [138] zu entwickeln gesucht habe) von einem „Zinzendorfianismus“ (zu dem er auch die „mildere oder radikalere Neologie“ rechnet, 116). Die Aufklärungstheologien hätten sich jedoch insgesamt „viel und intensiv mit allerlei wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Allotria statt mit Theologie abgegeben“ (117) – und Barth verweist an dieser Stelle auf Karl Aners Semler-Studie. Gleichzeitig habe sich die Aufklärungstheologie in einem Bezugssystem bewegt, in dem es um Prestige, Ansehen und Zugehörigkeiten gegangen sei (118). Diese Vorbemerkung Barths darf durchaus als Kritik an der unkritischen Aufklärungstheologie verstanden wie auf die Kirchengeschichte und die kirchengeschichtliche Aufklärungsforschung seiner eigenen Gegenwart bezogen werden. Zu einem Rundumschlag gegen die „neueren Darsteller[]“ (142) der Neologie holt Barth anschließend aus und nennt etwa Aner und Hoffmann namentlich. Die übermäßige Aufwertung von Semler, Jerusalem, Ernesti, Michaelis und Spalding durch die Neologie-Forschungen der Harnack-Schule habe nämlich allenfalls erwiesen, dass die „so sympathische Neologie sich doch keineswegs wie ein lichter Engel vor der gleichförmigen Finsternis einer ihr vorhergehenden Orthodoxie ab55 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1946; vgl. dazu Michael Jimenez, Karl Barth and the Study of the Religious Enlightenment. Encountering the Task of History, Lanham u. a. 2018. 56 Barth, Die protestantische Theologie (wie Anm. 54), V. Der Band wird im Folgenden mit der Angabe der Seitenzahl im Text zitiert.

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hebt“ (142). Barth kritisiert entschieden, dass der ,Primat der VernunftR den ,überlieferten OffenbarungskomplexR preisgegeben habe, ohne dass die historischen Einsichten einen entscheidenden Beitrag zum ,Wesen des ChristentumsR geliefert hätten (allenfalls in Ansätzen hätte die Neologie die Dogmenkritik des Idealismus vorbereitet, 146). Die Neologen (namentlich Semler) hätten – unbeachtet ihrer methodologischen Verdienste – denselben Fehler begangen „wie später Harnack“: sie hätten die „natürliche Religion“ gesucht, aber „eben diese […] für das historische Wesen des Christentums“ gehalten (150). VI. Fazit In Deutschland ist der Begriff ,AufklärungR immer noch weitgehend mit dem Protestantismus verbunden.57 Ein Blick auf die Harnack-Schule erwies, dass sich das nicht zuletzt einem (historisch unterreflektierten) Aktualisierungsanspruch verdankt, der vielleicht auf die Formel verkürzt werden könnte: Wer theologische Aufklärungsforschung betreibt, beansprucht selbst, Aufklärung der Theologie zu betreiben – und vice versa. Zwei Aspekte konnten herausgearbeitet werden: Bei Harnack und seinen Schülern ist die kirchenhistorische Aufklärungsforschung in ein eigenes Programm eingepasst, das einen Anschluss an den erforschten Gegenstand sucht, ihn gar für die eigene Epoche zu aktualisieren trachtet. Durch diese Interessenlage verengt sich aber die Perspektive, und es gerät zwingend aus dem Blick, was eigentlich zu reflektieren wäre, etwa die Bandbreite an Zugängen zur Aufklärung in den verschiedenen protestantischen Kirchen, also etwa zum Lutheraner Johann Benedikt Carpzov oder zum Reformierten Samuel Werenfels. Dass Harnack und seine Schüler die Aufklärung unkritisch als protestantisches Projekt reklamieren, hat seine Ursache nicht zuletzt in der methodischen Ausrichtung des Historismus und sein Einwirken auf die protestantische Kirchengeschichtsschreibung. Unreflektiert bleibt der Umbruch der Kirchengeschichtsschreibung nach dem ersten Weltkrieg, als der ,NeuprotestantismusR durch ,LutherrenaissanceR (Karl Barth) und ,dialektische TheologieR (Karl Holl) weniger überwunden als vielmehr fortgeschrieben wurde.58 In diesem Gefüge spielt die theologische Aufklärungsforschung eine zwar nur sekundäre Rolle, vor allem im Vergleich zur Auseinandersetzung mit Luther. Dass in den 1970er Jahren mit der Intensivierung der Pietismus-Forschung ein neuer Zweig der Auf-

57 Albrecht Beutel, Aufklärung und Protestantismus. Begriffs- und strukturgeschichtliche Erkundungen zur Genese des neuzeitlichen Christentums, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 63/3 (2016), 207–221. 58 Nowak, Vernünftiges Christentum (wie Anm. 8), 12.

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klärungsforschung zum Tragen kommt, lässt sich jedoch als Erbe der neologischen Aufklärungsforschung der Harnack-Schule begreifen. In der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung kommt es zwischen 1900 und 1945 zu einer Positivwertung der Theologie des Aufklärungszeitalters, die lange Zeit unter dem Stichwort ,NeologieR abgetan wurde. Im Zuge des Historismus und Adolf von Harnacks Wirken entsteht eine ganze Reihe von kirchenhistorischen Arbeiten, die theologische Aufklärungsforschung als Aktualisierung eines theologischen Programms begreift, das für die eigene Epoche angeeignet wird. Damit kann ,die AufklärungR (vermittelt über die Theologie des Aufklärungszeitalters) als Projekt des (Neu-)Protestantismus angeeignet werden. In Protestant church historiography between 1900 and 1945, there was a positive appreciation of the theology of the Age of Enlightenment, which for a long time was dismissed under the heading of RneologyQ. In the course of historicism and Adolf von HarnackQs work, a whole series of church-historical works emerged that understood the research of theological Enlightenment as the updating of a theological programme that was appropriated for its own epoch. In this way, Rthe EnlightenmentQ (mediated through the protestant theology of the Age of Enlightenment) can be appropriated as a project of (New) Protestantism. PD Dr. Christoph Schmitt-Maaß, Lincoln College, Turl Street, Oxford OX1 3DR, United Kingdom, E-Mail: [email protected]; Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected]

Udo Thiel Ernst CassirerQs Die Philosophie der Aufklärung or: Was there an Enlightenment?

I. Introduction Ernst CassirerQs classic Die Philosophie der Aufklärung of 1932 has been examined from a number of distinct though not unrelated perspectives.1 One may, for example, treat the book as a topic for Cassirer-scholarship by focusing on (1) how this work relates to CassirerQs other writings, on its place in his own philosophical development, and on the extent to which Cassirer in this historically oriented study articulates his own philosophical views.2 Or, still within the sphere of Cassirer-research, one could investigate the book with regard to (2) the historical context in which it appeared. CassirerQs work does not explicitly comment on the politics of his time, but given its publication only months before the Nazis took over power in Germany, is at least part of its point to encourage “European liberalism, at its darkest hour, to begin to reconstruct its identity by means of a meditation on its happy youth”, i. e. by a reflection on the European Enlightenment of the eighteenth century? Seen in its proper historical context is the book “a political intervention of a unique kind”?3 A third approach would be to view (3) CassirerQs study from the perspective of what since the second half of the twentieth century has been called 1 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973. – Ernst Cassirer, The Philosophy of the Enlightenment, translated by Fritz C. A. Koelln and James P. Pettegrove, Princeton, NJ 1951. 2 See Ursula Renz, CassirerQs enlightenment: on philosophy and the “Denkform” of reason, in: British Journal for the History of Philosophy 28/3 (2020), 636 – 652. For the role of the Enlightenment book in CassirerQs intellectual development, see 641 – 643. On CassirerQs use of his historical studies to voice “his own attitude” and as a “manner of position-taking”, see 649. See also Ursula Renz, Cassirers Idee der Aufklärung, in: Thomas Leinkauf (ed.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, Hamburg 2003 (Cassirer Forschungen, 10), 109 – 125. 3 Johnson Kent Wright, “A Bright Clear Mirror”: CassirerQs The Philosophy of the Enlightenment, in: Keith Michael Baker, Peter Hanns Reill (eds.), WhatQs left of Enlightenment? A Postmodern Question, Stanford, CA 2001, 71 – 101, all quotes in this paragraph are from 94, 96.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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the REnlightenment ProjectQ. How does CassirerQs account of Enlightenment philosophy relate to the critical discussion of the RprojectQ of the Enlightenment in modern and postmodern debates? Does CassirerQs book “encapsulate the true REnlightenment ProjectQ, supposing that there was one at all”, as Robert Wokler has claimed?4 Or does the twentieth-century notion of an REnlightenment ProjectQ do justice neither to eighteenth-century philosophy nor to CassirerQs book? A fourth perspective would be to focus on (4) the question of how CassirerQs work fares as a historical study of the Enlightenment. Indeed, it as an account of the historical Enlightenment that his book has been a matter of much debate. Is his analysis detailed, accurate, comprehensive enough, or does he misconstrue the Enlightenment, misunderstand its nature, misinterpret important texts, leave out essential aspects, major thinkers etc.? Is it even correct to speak of Rthe EnlightenmentQ, as Cassirer and many others do? Or is that notion just a post-Kantian scholarly construction, as are the notions of RRationalismQ and REmpiricismQ, for example? Maybe the Enlightenment did not exist at all. The main focus of this essay is on questions listed under (4). Some issues that concern approach (1), however, will also be relevant in this context. Towards the end we shall consider, briefly, how CassirerQs study relates to the notion of an REnlightenment ProjectQ (3). II. CassirerQs Aims It would seem that all approaches listed, from (1) through to (4), are perfectly legitimate. Possibly, however, one might want to argue that the questions under (4) are not really relevant to an assessment of CassirerQs achievement in Die Philosophie der Aufklärung. Appealing to points under (1) and (2) it might be claimed that, as CassirerQs book is essentially about his own philosophy and/or is making a political statement, it is neither surprising nor important if it is lacking as a historical work. One might conclude, therefore, that the question of the bookQs quality as a historical investigation of the Enlightenment is the wrong question to ask or, at least, that it is not crucial for an evaluation of CassirerQs work and should in any case not be our main concern when considering the book.5 This argument is hardly convincing, however. Whatever CassirerQs other, more or less hidden intentions may have been, the stated aim of the book is to give an 4 Robert Wokler, Ernst CassirerQs Enlightenment: An Exchange with Bruce Mazlish, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 29 (2000), 335 – 348, at 336. 5 Fania Oz-Salzberger, for example, argues that CassirerQs approach to the philosophy of the Enlightenment is not historical but philosophical. CassirerQs book must be seen as an “integral part” of his own philosophy. Fania Oz-Salzberger, CassirerQs Enlightenment and its Recent Critics. Is Reason out of Season?, in: Jeffrey Andrew Barash (ed.), The Symbolic Construction of Reality: The Legacy of Ernst Cassirer, Chicago 2008, 163 – 174, at 168 f.

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account of the philosophical thought of the eighteenth-century Enlightenment. Indeed, although Cassirer says he will neither systematically criticize the Enlightenment nor “rescue” it from various prejudices, he emphasizes his concern with the historical Enlightenment by pointing out that certain traditional or standard views about it are unjust or simply false and need to be corrected.6 Thus, Cassirer notes, a “major objective of this study would be achieved if it succeeded in silencing […] the slogan of the Rshallow EnlightenmentQ”, a slogan that was still in vogue in his day.7 More specifically, but still regarding the “general characterization of the philosophy of the Enlightenment”, Cassirer takes issue with the claim (1) that its psychology was “wholly intellectualistic”, arguing that the Enlightenment was very much concerned with the “emotional life” and sought to show that the affects are the “original and indispensable impulse of all operations of the mind”.8 On the subject of religion (2), Cassirer argues that the traditional view, according to which the Enlightenment was “an age basically irreligious and inimical to religion”, is highly questionable and “doubtful”.9 Next, Cassirer aims to set the record straight on the EnlightenmentQs attitude to history (3), criticizing and rejecting the claim that it had “no conception of the historical world, that its mode of thinking was simply unhistorical”.10 Further, he questions the view (4) that materialist positions are characteristic of Enlightenment philosophy, pointing out that only a few radical thinkers subscribed to materialism.11 Lastly, he aims to show that the traditional view of Enlightenment philosophy as “unconditionally” upholding “the primacy of pure thought and theory” over practice is mistaken (5), noting that Enlightenment philosophy believes in “the power and the task of shaping life itself”.12 Obviously, then, Cassirer sees his book as giving a fresh, more adequate analysis and a more positive evaluation of eighteenth-century Enlightenment philosophy, distinguishing himself from traditional views. Although Cassirer holds that genuine history of philosophy is never merely historical and “must always be accompanied by philosophical reorientation and self-criticism”,13 he Cassirer, Enlightenment (see note 1), x; Cassirer, Aufklärung (see note 1), xiif. Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung xiii. 8 Cassirer, Enlightenment, 105 f.; Cassirer, Aufklärung 139 f. Panajotis Kondylis who is critical of several aspects of CassirerQs account acknowledges the latterQs achievement in dispelling the myth about the “allegedly intellectualistic Enlightenment” (Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, 34 f.). 9 Cassirer, Enlightenment, 135; Cassirer, Aufklärung, 180: “unzulänglich und fragwürdig”. See also Cassirer, Enlightenment, 134 and 136; Cassirer, Aufklärung, 178 and 181. 10 Cassirer, Enlightenment, 182; Cassirer, Aufklärung, 244. See also Cassirer, Enlightenment, 197 ff.; Cassirer, Aufklärung, 263 ff. 11 Cassirer, Enlightenment, 55; Cassirer, Aufklärung, 72 f. 12 Cassirer, Enlightenment, 165, viii; Cassirer, Aufklärung, 220, x. 13 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii: “ein Akt der eigenen philosophischen Selbstbesinnung und Kritik”. 6 7

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clearly holds that his book should be taken seriously as an account of eighteenthcentury Enlightenment philosophy. Moreover, CassirerQs book has been read, for the most part, as a historical study of the Enlightenment. In fact, it is as such a study that the book has proved immensely successful and influential, especially in the United States after the English translation had appeared in 1951.14 As scholars have acknowledged, CassirerQs book not only played a “pivotal role […] in constituting the field as an object of study”, it also has been assigned the status as one of the “classics of historical writing on eighteenth-century Europe”.15 And as such, it has been said, it “can still claim validity and relevance today”.16 Given CassirerQs own stated aims and these assessments, clearly, a critical evaluation of his work must include the question of its quality as a historical study of Enlightenment philosophy. In dealing with the historical Enlightenment, however, Cassirer does not aim to present “a wealth of detail and to trace the genesis and development of all the special problems of this philosophy”.17 As Cassirer notes in the Preface, to attempt such an exhaustive survey would not in any case have been in keeping with the “general plan” of the series in which the book appeared, i. e. Fritz MedicusQs Grundriß der Philosophischen Wissenschaften.18 The volumes in this series were meant to provide overviews (Gesamtschauen) of special areas in philosophy.19 Prior to CassirerQs book on the Enlightenment, in the early 1920s, Richard Kroner had published his two-volume Von Kant bis Hegel in that series, with a total of about 1200 pages, more than double the size of CassirerQs book, while focusing on a period of only 40 years (1781 – 1821).20 It seems that this kind of project was not considered feasible anymore. Certainly, the publisher, J.C.B. Mohr, had become rather skeptical about bringing out huge tomes in the series.21 Thus, although CassirerQs book, with its almost 500 pages, is not short, it was For the English translation, see note 1. For the impact of this translation in the United States, see Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 71. 15 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 71 and 72. See also Ritchie Robertson, The Enlightenment: The Pursuit of Happiness. 1680 – 1790, London 2020, xxi. RobertsonQs own general account of the period which draws more extensively than is usual on literary sources, and especially narrative fiction, keeps most of the standard literature on the Enlightenment “at armQs length”, however with the “partial exception of Cassirer” (ibid.). Indeed, Robertson appeals to Cassirer several times when describing philosophical views. 16 Thomas Meyer, Ernst CassirerQs Writings, in: Journal of the History of Ideas 74/3 (2013), 473 – 495, at 484. 17 Cassirer, Enlightenment (see note 1), v; Cassirer, Aufklärung (see note 1), v. 18 Ibid. 19 See Silke Knappenberger-Jans, Verlagspolitik und Wissenschaft: Der Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) im frühen 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2001, 233. 20 Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 vols., Tübingen 1921 – 1924. 21 Knappenberger-Jans, Verlagspolitik und Wissenschaft (see note 19), 233. 14

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not meant to provide “a wealth of detail” in covering the main areas of eighteenthcentury philosophy. Independently of the publisherQs demands, Cassirer himself in dealing with Enlightenment philosophy is not interested in attempting to present “the totality of its historical manifestations and results”. Rather, he aims at capturing Enlightenment philosophy in terms of (1) “the unity of its conceptual origin and of its underlying principle”.22 To capture this unity, he argues, the EnlightenmentQs “tensions and solutions, the doubts and decisions […] must be seen and interpreted from one central position if its real historical meaning is to be made clear”.23 The latter could not be achieved, Cassirer holds, by “a merely narrative account of the growth and vicissitudes of the philosophy of the Enlightenment”.24 Rather, (2) the focus should be on the process or development of Enlightenment thought, on the “dramatic action of its thinking”. According to Cassirer, the “real systematic value” of Enlightenment philosophy lies “in its development, in the intellectual energy which spurs it on”.25 This focus allows Cassirer (3) to “elucidate the inner formative forces” or the “essential forces […] which shaped the picture of the philosophy of the Enlightenment, and which determined its basic view” in the various areas of philosophy.26 Only where Enlightenment philosophy “is in process, where it is doubting and seeking, tearing down and building up”, “only in action and in the constantly evolving process of thought” can the “fundamental intellectual forces”, the “inner intellectual life of the Enlightenment” be grasped.27 It is from this perspective that the variety of Enlightenment thought “assumes a unity” which would remain hidden if we were to focus merely on the variety of its “results”.28 It will become clear on this basis, Cassirer holds, that Enlightenment philosophy is (4) not merely an “eclectic mixture of the most diverse thought elements”, but “is in fact dominated by a few great fundamental ideas”.29 Therefore, the aim of CassirerQs book is “to develop and to explain historically and systematically the content and point of view of the philosophy of the Enlightenment”.30 It is, moreover, not mainly the contents of thoughts that Cassirer aims to identify as distinctive of Enlightenment philosophy, but (5) “the form and manner 22 Cassirer, Enlightenment (see note 1), v; Cassirer, Aufklärung (see note 1), v: “Einheit ihres gedanklichen Ursprungs und ihres bestimmenden Prinzips”. 23 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, vi. 24 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, v. 25 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, v: “Energie des Denkens”. 26 Cassirer, Enlightenment, vi, x; Cassirer, Aufklärung, vi, xii. 27 Cassirer, Enlightenment, ix; Cassirer, Aufklärung, xi. 28 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, vi. 29 Cassirer, Enlightenment, x; Cassirer, Aufklärung, xii: “Mischung der verschiedenartigsten Gedankenmotive”; “Haupt- und Grundgedanken”. 30 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii: “die Entwicklung und die geschichtliche und systematische Erhellung ihres Gehalts und ihrer zentralen philosophischen Fragestellung”.

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of intellectual activity in general”,31 which he explains in terms of what he calls the “esprit syst8matique” as opposed to the “esprit de systHme” of the seventeenth century (see below, section V). Focusing on the development or process of thought and its “intellectual forces”, rather than on describing results, allows us, Cassirer holds, to identify its “characteristic depth”.32 The latter can be seen in the fact that the Enlightenment (6) “is a part and a special phase of that whole intellectual development through which modern philosophic thought gained its characteristic self-confidence and self-consciousness”.33 Cassirer aims to show how in the Enlightenment the philosophical “spirit”, even when “struggling with purely objective problems, achieves clarity and depth in its understanding of its own nature and destiny, and of its own character and mission”.34 This is why CassirerQs version of the Gesamtschau demanded by the publisher is not a mere survey of various views and thinkers. The question remains, however, how best to characterize CassirerQs approach to the history of philosophy in this book. III. Cassirer and RProblemgeschichteQ Cassirer describes his account as a “pure history of ideas”.35 Indeed, CassirerQs own original title for the book was “Ideengeschichte der Aufklärungszeit”, rather than Die Philosophie der Aufklärung.36 RHistory of IdeasQ can mean various things, both in CassirerQs time and today when it is often associated with a socio-historical approach (see below, section IV). In the Neo-Kantian context of the late nineteenth- and early twentieth centuries, however, the notion suggests a history of inter-related concepts and RproblemsQ or Problemgeschichte.37 There is a very general if vague sense in which any history of philosophy can be said to involve a Rhistory of problemsQ, as any history of philosophy is bound to address 31 Cassirer, Enlightenment, ix; Cassirer, Aufklärung, xi: “Form und Art der gedanklichen Auseinandersetzung selbst”. See also Cassirer, Enlightenment, vi: “a completely original form of thought” (Cassirer, Aufklärung, vii: “durchaus neue und eigentümliche Form des philosophischen Gedankens”). 32 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, v. 33 Cassirer, Enlightenment, vi; Cassirer, Aufklärung, vi. 34 Cassirer, Enlightenment, vi; Cassirer, Aufklärung, vii. 35 Cassirer, Enlightenment x; Cassirer, Aufklärung, xi-xii: “eine reine Geschichte der Ideen der Aufklärungszeit”. The English translation leaves out “pure”. 36 See Gerald HartungQs REinleitungQ, in Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007, VII*–XX*, at IX*f. The publisher preferred RDie Philosophie der AufklärungQ for a title in the series, and Cassirer accepted this happily enough. 37 The term has been translated variously as Rhistory of problemsQ, Rproblem-historyQ, and Rproblem-based historyQ. The latter expression is probably the most appropriate. Problemgeschichte is a technical term, however, and so it is best to leave it untranslated.

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questions or RproblemsQ of some sort raised in the context of past philosophies, no matter which general approach is adopted. The notion was developed in a more special and systematic way, however, in the Neo-Kantian tradition to which Cassirer belongs.38 The publishing house of J.C.B. Mohr certainly preferred to publish philosophical works that were connected to, or influenced by Neo-Kantianism.39 Fritz Me dicusQs Grundriß series at Mohr, of which CassirerQs book is a part, had notable Neo-Kantians such as Heinrich Rickert and Wilhelm Windelband on its editorial board. And WindelbandQs own Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, the standard Neo-Kantian history of philosophy textbook, opts explicitly for Problemgeschichte as its approach, focusing, as Windelband says in the Preface to the first edition (1892), on the “history of the problems and concepts” as that which is “most important” from a philosophical perspective.40 Windelband points out that it is evident even from its “outward appearance”, i. e. the structure of the book, that his history is Problemgeschichte.41 Thus, the chapter on the philosophy of the Enlightenment is divided into sections on “theoretical questions” and “practical questions”, and each section in turn is divided into paragraphs devoted to RproblemsQ or sets of problems such as “innate ideas” (§ 33) and “knowledge of the external world” (§ 34), as dealt with by a selected group of philosophers. Similarly, the section on German Idealism has separate paragraphs dealing with the problems of “the thing-in-itself” (§ 41) and “the system of reason” (§ 42). The RproblemsQ themselves seem to have a nonhistorical, eternal existence, according to Windelband, who asserts that “the problems of philosophy are in the main given” and that both the problems and “the chief lines along which a solution is attempted” are “constantly recurring in the historical movement of thought”.42 The impact of WindelbandQs textbook was not at all restricted to the immediate Neo-Kantian context or the time around 1900. A 12th edition was published in 38 For details on the Neo-KantiansQ conception of the history of philosophy, see Michael Hänel, Problemgeschichte als Forschung: Die Erbschaft des Neukantianismus, in: Otto G. Oexle (ed.), Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932, Göttingen 2001, 85 – 127. 39 See Knappenberger-Jans, Verlagspolitik und Wissenschaft (see note 19), 225, 230. 40 Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Mit einem Schlußkapitel ,Die Philosophie im 20. JahrhundertR und einer Übersicht über den Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung, 13th edition, ed. by Heinz Heimsoeth, Tübingen 1935, VII. The first edition was published as Geschichte der Philosophie, Freiburg im Breisgau 1892. For WindelbandQs version of Problemgeschichte, see Tomasz Kubalica, Die Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte, in: Peter König, Oliver Schlaudt (eds.), Wilhelm Windelband (1848 – 1915). Studien und Materialien zum Neukantianismus 38, Würzburg 2018, 169 – 196. 41 Windelband, Lehrbuch (see note 40), Preface to 1st edition, VII: “schon in der äußeren Form zutage tritt”. 42 Windelband, Lehrbuch (see note 40), 9 and 10. Quoted from James H. TuftsQs English translation (see note 43), 11 and 12.

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1928. From the 13th edition (1935) onwards, it was amended by Heinz Heimsoeth who contributes a chapter on developments in the twentieth century and a section on the state of research in the history of philosophy.43 What exactly was Problemgeschichte in philosophy held to be, however? In part the notion was explained by way of distinguishing it from other methods, especially those of a “cultural history” and a “biographical account”. While the former aims at connecting developments in philosophy with those in the sciences, matters of state, and in artistic and religious life, the latter focuses on the personality of the philosophers and attempts to explain their thought on that basis.44 Problemgeschichte, by contrast, was said to be not “purely historical”, but both historical and “systematic” or “critical”.45 In this sense, a “critical” Problemgeschichte attempts to analyze and critically evaluate those “solutions” that philosophers of a certain period have argued for when dealing with philosophical problems.46 The notion of Problemgeschichte was not uniform, however, as it seems to cover several different approaches. Richard Kroner, for example, distinguishes his own Problemgeschichte from WindelbandQs version. He argues that WindelbandQs arranging of problems into sets is often somewhat arbitrary and that problems grouped into distinct sets may turn out to be “absolutely inseparable” from one another, as is the case with the problems of the Rthing in itselfQ and the Rsystem of reasonQ in German Idealism.47 Further, KronerQs argument about the RinseparabilityQ of at least some philosophical problems from one another points to the RsystematicQ nature of Problemgeschichte. It is important to emphasize this aspect, as the label Rhistory of problemsQ might suggest the idea that philosophy is here divided up into a multiplicity of individual problems that can be dealt with more or less in isolation from one another, in a RpiecemealQ fashion. 43 In fact, revised editions of WindelbandQs Lehrbuch have been immensely influential in Germany well into the second half of the twentieth century. In postwar West-Germany the textbook became known as the RWindelband-HeimsoethQ and was required or highly recommended reading in some Philosophy Departments at least up to the 1970s. A 16th edition was published in 1976, a 17th in 1980, and an 18th in 1993. The book is still in use today and has been translated into many languages. An English translation by James H. Tufts appeared as early as 1893, the revised edition of which (1901) was republished in two volumes (but with continuous pagination) in 1958, without HeimsoethQs additions and the Preface to the first edition: Wilhelm Windelband, A History of Philosophy, translated by James H. Tufts, 2 vols., New York 1958. For details of editions and translations, see the annotated bibliography of WindelbandQs writings in Jörn Bohr, Gerald Hartung (eds.), Forschungsgrundlagen Wilhelm Windelband, Hamburg 2020, 59 – 111. 44 Kroner, Von Kant bis Hegel (see note 20), vol. 1, 17 f. (“kulturgeschichtliche Methode”; “biographische Darstellung”). 45 Ibid., vol. 1, 19 f. 46 Ibid., vol. 1, 27. 47 Ibid., vol. 1, 33. KronerQs own approach in dealing with German Idealism is to follow the thread of certain problems through an analysis of successive philosophical systems (ibid.).

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While this may apply to the way in which early analytic philosophy dealt with the history of philosophy, this is not how Neo-Kantians and those influenced by NeoKantianism conceived of Problemgeschichte.48 Richard Hönigswald is among those who focus on the RsystematicityQ of this approach. He argues that Problemgeschichte is essentially guided by the idea of a “system” of philosophy, providing the RproblemsQ of all ages with a kind of unity as well as with their specific identity.49 The systematic unity of philosophyQs RproblemsQ is, Hönigswald argues, “a necessary idea in order to understand, interpret and master the multiplicity of their historical forms”.50 According to Hönigswald, only when the historical study of philosophical problems is undertaken from the perspective of a current philosophical system can the problems of the past gain present-day relevance (lebendige Aktualität).51 This is not the place to engage in a critical discussion of this approach. It seems, however, that Problemgeschichte thus understood would make any attempt at an objective interpretation of past philosophy impossible, as the latter would always, RsystematicallyQ, be prejudged by the system we impose on it.52 48 For a critique of the piecemeal reconstructive approach to the history of philosophy in analytic philosophy up to the 1970s, see Michael Ayers, Analytical Philosophy and the History of Philosophy, in: Jonathan R8e (ed.), Philosophy and its Past, Hassocks, Sussex 1978, 41 – 66, at 55 – 57. For a discussion of the very notion of a philosophical problem in Neo-Kantianism (Paul Natorp) on the one hand and in early analytic philosophy (Russell) on the other, see Ursula Renz, On Philosophical Problems: Some Remarks on an old Battlefield, in: Marcel van Ackeren (ed.), Philosophy and the Historical Perspective, Oxford 2018 (Proceedings of the British Academy, 214), 213 – 228, esp. 215 – 220. See also Leo Catana, Philosophical Problems in the History of Philosophy: What are They?, in: Mogens Laerke, Justin E. H. Smith, Eric Schliesser (eds.), Philosophy and its History. Aims and Methods in the Study of Early Modern Philosophy, Oxford 2013, 115 – 133 49 Richard Hönigswald, Der Begriff der Problemgeschichte und die Philosophie des Mittelalters [1939/40], in: Richard Hönigswald, Analysen und Probleme. Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, ed. by Gerd Wolandt, Stuttgart 1959, 75 – 97, esp. 76 – 78. Hönigswald is convinced, “daß sich die Probleme der Philosophie aller Zeiten zu einer übergreifenden systematischen Einheit verknüpfen” (ibid., 77). 50 “Die Einheit ihrer Probleme ist eine notwendige Idee, um die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Formen zu begreifen, zu deuten und zu beherrschen” (ibid., 76). 51 Ibid., 76, 78. Richard Kroner argues, by contrast, that the systematic nature of Problemgeschichte does not mean that past philosophy should be judged from a standpoint that is external to the latter. Rather, the standard of evaluation should be taken from the “historical world” itself (Kroner, Von Kant bis Hegel [see note 20], vol. 1, 19). Kroner does not elaborate on this general idea, but claims that this is his procedure in examining philosophy “von Kant bis Hegel”. 52 Reinhard Brandt does not explicitly refer to the notion of Problemgeschichte, but his critique of what he calls “subjective” interpretations of philosophical texts applies. See Reinhard Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 15 – 39. One of BrandtQs several examples is Nicolai Hartmann who implicitly declares his own ontological system to be the pre-school of all interpretations of philosophical texts from the past (18). As Brandt notes, for Hartmann we need to know his own system first if we want to have any hope of understanding Plato

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Unlike Hönigswald, Windelband in his Lehrbuch, and Kroner in Von Kant bis Hegel, Cassirer does not explicitly commit himself to any version of Problemgeschichte in Die Philosophie der Aufklärung. Moreover, his study of the Enlightenment differs significantly, and not just because of its much more extensive coverage, from the account in WindelbandQs Lehrbuch. Still, Cassirer is generally read as a proponent of Problemgeschichte, and this applies also to the Enlightenment book.53 His three volumes on the Erkenntnisproblem, published prior to the latter, are often seen as paradigm examples of Problemgeschichte. Even the very notion of Erkenntnisproblem in the title seems to suggest a commitment to this idea.54 Further, like proponents of Problemgeschichte, Cassirer distinguishes his approach in Die Philosophie der Aufklärung from a biographical account,55 emphasizes that no genuine history of philosophy is merely historical and that the historical material should be made relevant to present-day philosophical concerns. In CassirerQs words, historical studies in philosophy “must always be accompanied by philosophical reorientation and self-criticism”.56 However, emphasizing the RrelevanceQ of historical studies to present-day concerns in philosophy and rejecting a biographical account is not unique to Neo-Kantian Problemgeschichte but characteristic of many (or even most) other approaches, including the method of Rrational reconstructionQ in early analytic philosophy. Next, not all of CassirerQs writings relating to the history of philosophy have been read as instances of Problemgeschichte. For Richard Kroner at least, CassirerQs Kants Leben und Lehre (1918) is an example of the biographical method, and CassirerQs Freiheit und Form (1916) and Idee und Gestalt (1921) count as cultural histories.57 Even the reading of the Erkenntnisproblem-volumes as Problemgeschichte turns out to be controversial.58 and Kant, for example. For BrandtQs critique of the idea of an a priori, i. e. nonhistorical unity of philosophy, see 45 – 48. 53 Gerald Hartung cites an early critical review that assumes as a matter of course that CassirerQs Enlightenment book is an instance of Problemgeschichte. See Hartung, Einleitung (see note 36), XIX*. 54 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 3 vols., Berlin 1906 – 1920. See Guido Kreis, Cassirer und Rousseau: das Problem eines universellen Gerechtigkeitsprinzips, in: Ernst Cassirer, Über Rousseau, ed. by Guido Kreis, Berlin 2012, 151 – 174, at 163 f. See also Sebastian Luft, Philosophical Historiography in Marburg Neo-Kantianism: The Example of CassirerQs Erkenntnisproblem, in: Gerald Hartung, Valentin Pluder (eds.), From Hegel to Windelband: Historiography of Philosophy in the 19th Century, Berlin, New York 2015, 181 – 205, at 192 – 204. 55 Cassirer, Enlightenment (see note 1), x; Cassirer, Aufklärung (see note 1), xi. 56 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii: “ein Akt der eigenen philosophischen Selbstbesinnung und Kritik”. 57 Kroner, Von Kant bis Hegel (see note 20), vol. 1, 18, fn. 58 Ursula Renz is among those who do not accept that CassirerQs Erkenntnisproblem-volumes are

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Is CassirerQs Die Philosophie der Aufklärung a Problemgeschichte of Enlightenment philosophy? It certainly is not Problemgeschichte as exemplified by WindelbandQs Lehrbuch. Like any history of philosophy, CassirerQ Enlightenment book deals of course with a number of specific questions, issues or RproblemsQ. Cassirer aims at going beyond the latter, however, bringing to light, as we noted in the previous section, the “conceptual origin” of Enlightenment philosophy and “its underlying principle”.59 His focus is on the “dramatic action of its thinking”, or on the “process, where it is doubting and seeking, tearing down and building up”.60 The aim of the book is to capture its distinctive “form and manner of intellectual activity in general”,61 and its “characteristic depth”.62 Most importantly and unlike proponents of Problemgeschichte, Cassirer points out that he does not intend to criticize the historical material from a systematic standpoint.63 His Kantian leanings notwithstanding, Cassirer aims at giving an account that is characterized as much as possible by objectivity, adopting the “Spinozist motto: RSmile not, lament not, nor condemn; but understandQ”, and bemoaning that the Enlightenment “has seldom been blessed with such a mode of presentation”.64 In short, Cassirer aims at an “impartial study and appraisal of Enlightenment philosophy”.65 It is on the basis of this approach that CassirerQs analysis results in a positive evaluation of Enlightenment philosophy and in assigning it relevance to his own day. IV. Cassirer and the Social History of Ideas For all its success, since the late 1960s CassirerQs book has not had a good press in Enlightenment-scholarship. As Bruce Mazlish remarked in 2000, CassirerQs approach “has fallen into disrepute, or at least disregard, among many scholars”.66 Robert Wokler noted in the same year that the history of Enlightenment studies “has by and large been marked by our abandonment of CassirerQs approach instances of Problemgeschichte. See Ursula Renz, Philosophiegeschichte angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft. Überlegungen zur Historiographie der Philosophie im Ausgang vom Marburger Neukantianismus, in: Studia philosophica 6 (2002), 177 – 197, at 191 f. 59 Cassirer, Enlightenment (see note 1), v; Cassirer, Aufklärung (see note 1), v. 60 Cassirer, Enlightenment, ix; Cassirer, Aufklärung, xi. 61 Cassirer, Enlightenment, ix; Cassirer, Aufklärung, xi. 62 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, v. 63 Cassirer, Enlightenment, x; Cassirer, Aufklärung, xiif. 64 Cassirer, Enlightenment, x; Cassirer, Aufklärung, xii. 65 Cassirer, Enlightenment, x; Cassirer, Aufklärung, xiii: “unbefangene geschichtliche Betrachtung und Würdigung”. Other scholars, including critics of Cassirer, have noted the “serene objectivity” of CassirerQs account (Wright, “A Bright Clear Mirror” [see note 3], 100, 101). 66 Bruce Mazlish, Ernst CassirerQs Enlightenment: An Exchange with Robert Wokler, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 29 (2000), 349 – 359, at 349.

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and perspectives”.67 Peter Gay, an admirer of Cassirer and eminent Enlightenment scholar in his own right, had set the scene for this abandonment by distancing himself from Cassirer in his 1967 article RThe Social History of Ideas – Ernst Cassirer and AfterQ. Gay praised CassirerQs achievements and his attempt at giving a unified account of the period, yet he argued that the “really serious difficulty” with Cassirer is “his failure to do justice to the social dimension of ideas”.68 While Gay himself favored a “synthesis of social history and the history of ideas”, other historians, most notably Robert Darnton, argued for a much more radical “down-toearth look at the Enlightenment”, saying that the “social history of ideas must move out of its armchair phase and into the archives, tapping new sources and developing new methods”.69 Darnton, who became one of the most prominent protagonists of the socio-historical approach, did not examine the views and arguments of Voltaire and Rousseau but instead traced “the trade routes of printed books, examining eighteenth-century libraries, and counting the number of copies of Voltaire and Rousseau that can be found in them”.70 Further, instead of confining our “attention to a RHigh EnlightenmentQ of canonical texts”,71 as Cassirer is supposed to have done, the new focus has been on “the Grub Street pamphleteers and salonniHres in the mundane world below”.72 As Johnson Kent Wright notes, CassirerQs book became “the chief pole of comparison against which the emergent Rsocial historyQ of the Enlightenment defined itself”.73 It is CassirerQs focus on philosophy, then, that has been seen as a serious problem by many historians of the Enlightenment. The complaint is that Cassirer “showed little or no interest in social, political, or economic history”,74 and was not “writing on the Enlightenment 67 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 336. Wokler describes but does not approve of the abandonment of CassirerQs account. For WoklerQs defense of Cassirer, see below section VIII, “Cassirer and the RProjectQ of the Enlightenment”. 68 Peter Gay, The Social History of Ideas: Ernst Cassirer and After, in: Kurt H. Wolff, Barrington Moore (eds.), The Critical Spirit: Essays in Honor of Herbert Marcuse, Boston 1967, 106 – 120, at 117. 69 Robert Darnton, In Search of the Enlightenment: Recent Attempts to Create a Social History of Ideas, in: The Journal of Modern History 43/1 (1971), 113 – 132, at 113, 124, 132. 70 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 349. See also Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 336. To cite only one of many publications, see Robert Darnton, The Business of Enlightenment. A Publishing History of the REncyclop8dieQ, 1775 – 1800, Cambridge, MA 1979. DarntonQs particular approach has come under attack from within the social history of ideas. See Haydn T. Mason (ed.), The Darnton Debate. Books and Revolution in the Eighteenth Century, Oxford 1998. 71 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 71. 72 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 336. 73 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 71. 74 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 349. See also Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 94.

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in the spirit of mentalities or cultural history”.75 Against Cassirer-inspired interpretations it is emphasized “that an account of Enlightenment thought can no longer be based on the contents of the philosophesQ books”.76 In short, CassirerQs study which “is a work of intellectual history, conceived philosophically”,77 seems dated and “irrelevant to the real, contextual and subtextual, treatment of eighteenth-century thought”.78 This critique of Cassirer on the Enlightenment misses the mark, however, as it is based on the mistaken assumption that Cassirer attempted to give an account of the historical phenomenon as a whole.79 His book provides no evidence for the view that he thought by studying philosophical views and arguments alone we would be able to capture all aspects of the Enlightenment. Nevertheless, an analysis of the philosophy of the time is necessary if not of course sufficient for an understanding of the historical phenomenon. Cassirer does not construe the Enlightenment philosophically, rather, he attempts to give an account of the philosophy of the time, leaving room for social and cultural historians to examine other aspects. As philosophy did get done in the Enlightenment and, apparently, played an important role during the period, CassirerQs project would seem to be worthwhile and even essential to an understanding of the latter. While this may seem obvious enough, some historians would disagree vehemently. Thus, Roy Porter charges Cassirer with nothing less than “scholarly snobbery”. Worse, Porter asserts that “even the decision to call his book the philosophy of the Enlightenment perhaps involved Cassirer in a distortion, a betrayal even, of its spirit”.80 The view implied by this critique, that the project of examining the philosophical thought of the Enlightenment eo ipso leads to a distortion or even betrayal of its spirit, is bizarre, however. Most social historians see nothing wrong with studying the philosophy of the Enlightenment, as long as it is done in a particular way. Bruce Mazlish, for example, does not criticize Cassirer for focusing on philosophy, but for his “old-fashioned Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 356. John Robertson, The Case for the Enlightenment. Scotland and Naples 1680 – 1760, Cambridge 2005, 28. 77 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 349. 78 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 337. Again, Wokler reports but does not endorse this reading of Cassirer. 79 While he acknowledges CassirerQs achievements and refers approvingly to his Enlightenment book, Ritchie Robertson, too, seems to assume that Cassirer aimed at describing the historical phenomenon as a whole and considered the Enlightenment “primarily as a philosophical movement” (Ritchie Robertson, The Enlightenment [see note 15], 401). 80 Roy Porter, Enlightenment: Britain and the Creation of the Modern World, London 2000, 10. Porter also claims that, for Cassirer, “systematic metaphysics should be taken as the acme of enlightenment” (11). Nothing could be further from the truth, however. As we shall see below in section V, what Cassirer values in Enlightenment philosophy is an anti-metaphysical analytic spirit that he identifies as its core. 75

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stress on the power of ideas treated more or less in a vacuum”.81 Mazlish insists that, “when we read and comment on texts closely”, we need to “surround them with ample data concerning the social sources and their contemporary political implications”.82 If our aim is a comprehensive view of the historical phenomenon, this is surely right. Should it be the job of historians of philosophy, however, to “surround” texts with information about social sources and political implications? For the most part, philosophers do not think so and have suggested a Rdivision of laborQ (and Cassirer seems to imply this). As Winfried Schröder argues, social historians of ideas and historians of philosophy should be doing “complementary jobs” when studying the Enlightenment.83 Historians of philosophy should focus on the philosophical views, concepts and arguments themselves, on analyzing and critically evaluating them (as Cassirer does). They should not “focus on social and political contexts and prevailing mentalities, or on the networks of intellectuals who developed these theories”. This should be left to “specialist historians or historians of ideas”. While the job of the historian of philosophy is an “indispensable one”, as only by engaging in that sort of enquiry “are we able to assess the theoretical quality and the strength of the arguments we are dealing with”, historians of philosophy would be well aware that they “can grasp only some aspects of the phenomenon under discussion”. This would seem to be a sensible suggestion, not least for the reason that few individual scholars would be social historians to the same extent that they would be philosophers and vice versa. A strict division of labor as a general principle might be problematic, however, for the historiography of philosophy itself. One argument against division is that some philological and historical expertise is required, obviously enough, for even practicing serious history of philosophy.84 The division idea also raises the question of whether the RsurroundingQ of ideas with external matters may not be required for an understanding of the philosophical views and arguments themselves. Non-philosophical, social and political contexts may turn out to be essential to grasping what the philosophical argument in a particular work is about. This applies, for example, to LockeQs Two Treatises of Government, as even some of the terminology used cannot be understood without some knowledge of the political Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 355. Ibid., 349. 83 Schröder is not discussing Cassirer here, but responds to Jonathan IsraelQs account of a Rradical EnlightenmentQ. Winfried Schröder, Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective, in: Frank Grunert (ed.), Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, 44 – 51, all quotes are from 44 f. 84 John Marenbon argues for this view. John Marenbon, Why we need a real History of Philosophy, in: Marcel van Ackeren (ed.), Philosophy and the Historical Perspective, Oxford 2018 (Proceedings of the British Academy, 214), 36 – 50, at 40. See also Catana, Philosophical Problems (see note 48), 115 f., 132 f., and Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke (see note 52), 35. 81

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situation in seventeenth-century England.85 It does not follow from such cases, however, that it is true of all philosophical texts that we need to examine the political situation or social context of the time in order to understand the details of their arguments. The required contexts may be theological, scientific, or purely philosophical. As Reinhard Brandt has noted, the kind of context that is relevant cannot be determined a priori, but depends on the individual texts themselves.86 Counting printed copies of the Critique of Pure Reason is unlikely to help us understand the structure and argument of the Transcendental Deduction of the Categories in KantQs main work. And yet, for an explanatory interpretation of KantQs Critique as a whole, a consideration of its genesis and philosophical as well as non-philosophical contexts (such as the science of the day) would be required. Of course, considering non-philosophical contexts in an explanatory reading of philosophical works from the past does not turn history of philosophy into social or cultural history. There is an obvious sense, then, in which the division of labor idea is valid.87 Does Cassirer present himself as a proponent of a strict division of labor in the Enlightenment book? Certainly, and as has been pointed out in the literature, Cassirer thought of philosophy as a cultural domain in its own right, with its own rules and principles,88 and this is exemplified by his Enlightenment book. No one, however, would seriously want to maintain that Cassirer lacks the philological and historical expertise required for practicing history of philosophy. Also, CassirerQs account of Enlightenment philosophy is not completely context-free. There are two kinds of non-philosophical context that are standardly seen as essential to early modern philosophy, including the philosophy of the Enlightenment.89 These are the developing natural sciences and religious and theological issues.90 Clearly, a Rdivision of laborQ should not as a matter of principle cut off these areas from the Reinhard Brandt makes this point, using the term RenclosureQ as an example. Locke uses the term in several passages of his work, and his argument can hardly be understood without knowing what RenclosureQ refers to in the context of seventeenth-century England (Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke [see note 52], 138). 86 Ibid., 34 f. 87 Marenbon who is critical of the division proposal (see above) accepts the idea when “intellectual history shades into cultural, institutional, social or political history” (Marenbon, Why we need a real History of Philosophy [see note 84], 40 f.). 88 Renz, CassirerQs enlightenment (see note 2), 649. 89 Leo Catana has pointed out the difficulty of distinguishing precisely between what should count as RinternalQ and what as RexternalQ to philosophy when studying its history. Catana, Philosophical Problems (see note 48), 130 – 133. For a detailed account, with numerous examples, see Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke (see note 52), 136 – 155. 90 See, for example, Rom Harr8, Knowledge, in: G. S. Rousseau, Roy Porter (eds.), The Ferment of Knowledge: Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge 1980, 11 – 54. 85

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study of philosophical views and arguments, and Cassirer certainly does not disconnect Enlightenment philosophy from religious and scientific concerns. He devotes a whole chapter to religion, dealing with such diverse issues as toleration and bible-criticism, and pointing out that at the time “all intellectual problems” were still “fused with religious problems”.91 It is true, however, that he does not describe “the concrete historic events” out of which questions about toleration “grew and which, in turn, they determined”.92 Also, Cassirer has been accused of ignoring or neglecting the scientific context and its “social and institutional setting” to which belongs, for example, the Royal Society.93 This is an odd complaint to make, however, as Cassirer was not only very much aware of the importance of the developing sciences to philosophy but also emphasized their role both in the Enlightenment book and elsewhere. The first substantive chapter of the book deals with “Nature and Natural Science” (Natur und Naturerkenntnis im Denken der Aufklärungsphilosophie), and Cassirer covers several of the most important scientists of the Enlightenment and the period preceding it, including Newton (obviously), Galileo, Kepler, Buffon, Linn8, Huygens, sQGravesande, Musschenbroek. While it is true that he does not discuss the role of caf8s and salons, he is very much aware of the institutional setting, emphasizing the importance of the “organization of natural science” by institutions such as the Royal Society and the Acad8mie des Sciences.94

V. The RAutonomy of ReasonQ and the Unity of the Enlightenment We noted in section II that CassirerQs aim is not to describe a “wealth of detail” but to give an account of the EnlightenmentQs central philosophical concerns and to highlight “the form and manner of intellectual activity in general”. Indeed, Cassirer holds that the core of Enlightenment philosophy and its distinctive nature are to be characterized not so much by some specific, determinable content or by particular thoughts about certain matters, as by “the use the Enlightenment makes of philosophical thought”.95 The Enlightenment, he holds, “produced a completely original form of philosophical thought”.96 This new form of thought or Denkform has to do with the EnlightenmentQs emphasis on the “autonomy of reason”. CasCassirer, Enlightenment (see note 1), 136; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 181. Herbert Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century, in: Modern Language Quarterly 15/4 (1954), 295 – 311, at 303. 93 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 349 – 350. 94 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 45 f.; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 60. 95 Cassirer, Enlightenment, vii; Cassirer, Aufklärung, ix (italics U.T.). 96 Cassirer, Enlightenment, vi; Cassirer, Aufklärung, vii: “eine durchaus neue und eigentümliche Form des philosophischen Gedankens ausgebildet”. 91

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sirer claims that the Enlightenment “discovered and passionately defended the autonomy of reason” and that it “firmly established this concept in all fields of knowledge”.97 As Cassirer notes, however, it is a specific kind of reason that characterizes the new Denkform of the Enlightenment.98 Drawing on dQAlembertQs view of the spirit of his time in his El8ments de philosophie of 1759, Cassirer argues that Enlightenment philosophy replaces the system-building kind of reason of the past, the esprit de systHme, with an analytic form of thought, the esprit syst8matique.99 Philosophical reason is no longer confined “within the limits of a systematic doctrinal structure”.100 The concept of reason is no longer characterized as a concept of being but is now seen as a “force which is fully comprehensible only in its agency and effects”. Reason is no longer “the treasury of the mind in which the truth like a minted coin lies stored”, but the “intellectual force which guides the discovery and determination of truth”. Reason is now understood in terms of its specific function in the attempt of acquiring knowledge. “What reason is, and what it can do, can never be known by its results but only by its function. And its most important function consists in its power to bind and to dissolve,”101 i. e. in its powers of analysis and synthesis. The search for truth begins with an analysis of the phenomena and proceeds to synthesis, as “the function of unification continues to be recognized as the basic role of reason”.102 Cassirer illustrates his thesis about the esprit syst8matique by showing how, in the study of the soul, “a new field of knowledge of the highest importance becomes accessible to reason as reason learns to subject this field to its special method of analytic dissection and synthetic reconstruction”.103 Further, the new esprit syst8matique is linked to the notion of critique, with reason as its tool, as the Enlightenment was “to a very great extent dominated by its gift of criticism”.104 Cassirer notes that the Enlightenment has been described both as the age of critique and as that of philosophy. Both labels, he argues, refer to one and the same phenomenon. They “characterize from di97 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii: “die Autonomie der Vernunft zuerst entdeckt und […] sie leidenschaftlich verfochten, […] sie auf allen Gebieten des geistigen Seins zur Geltung und Anerkennung gebracht”. Ursula Renz argues that CassirerQs own “concern with the autonomy of reason” was central to his engagement with Enlightenment philosophy (Renz, CassirerQs enlightenment [see note 2], 636). 98 Cassirer, Enlightenment, 5 f.; Cassirer, Aufklärung, 5 f. 99 Cassirer, Enlightenment, vii, 5 f.; Cassirer, Aufklärung, viii, 6 f. 100 Cassirer, Enlightenment, vii; Cassirer, Aufklärung, viii. 101 Cassirer, Enlightenment, 13 f.; PA 16. See also: “Philosophy is no longer the isolated substance of the intellect; it presents the totality of intellect in its true function, in the specific character of its investigations and inquiries, its methods and essential cognitive process” (Cassirer, Enlightenment, vii; Cassirer, Aufklärung, viii-ix). 102 Cassirer, Enlightenment, 23; Cassirer, Aufklärung, 29. 103 Cassirer, Enlightenment, 16; Cassirer, Aufklärung, 20. 104 Cassirer, Enlightenment, 360; Cassirer, Aufklärung, 482.

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verse angles the fundamental intellectual energy (geistige Grundkraft) which permeates the era and to which it owes its great trends of thought”.105 Critique, Cassirer emphasizes, was not understood in a merely negative sense. Rather, the Enlightenment was able “to reconvert criticism to creative activity and shape it and use it as an indispensable instrument of life and constant renewal of the spirit”.106 The notion of critique is linked in turn to the idea of reason examining itself, its nature and limits. “For this age, knowledge of its own activity, intellectual selfexamination, and foresight are the proper function and essential task of thought.”107 Here, more so than in its engagement with external matters and a “logic of facts”,108 can the Rautonomy of reasonQ be said to manifest itself. Moreover, CassirerQs notion of the distinctive nature of Enlightenment philosophy as consisting in a specific Denkform is connected to his idea of the unity of the Enlightenment. It is the new Denkform of reason that unifies Enlightenment philosophical thought.109 As was indicated above in section II, Cassirer holds that Enlightenment philosophy is characterized by “the unity of its conceptual origin and of its underlying principle”.110 Due to this conceptual core “the many aspects of the philosophy of the Enlightenment assume a unity”.111 The various directions that philosophical thought takes during the Enlightenment “are held together in a common center of force. Variety and diversity of shapes are simply the full unfolding of an essentially homogeneous formative power”, the power of reason understood in terms of the esprit syst8matique.112 Some anglophone philosophers of the 1950s argued against CassirerQs notion of a specific Denkform as characteristic of Enlightenment thought. No doubt this particular criticism was encouraged by the unfortunate rendering of CassirerQs Denkform as “the Mind” of the Enlightenment in the English translation of his book.113 While the main point of the argument can equally be made against CasCassirer, Enlightenment, 275; Cassirer, Aufklärung, 368. Cassirer, Enlightenment, 360; Cassirer, Aufklärung, 482. 107 Cassirer, Enlightenment, 4; Cassirer, Aufklärung, 3. 108 Cassirer, Enlightenment, 9; Cassirer, Aufklärung, 9 f. 109 Bruce Mazlish argues that “the pursuit of Reason – in the sense of reason examining itself” is “what most fundamentally unifies the Enlightenment for Cassirer” (Mazlish, CassirerQs Enlightenment [see note 66], 351). For reason as a “unifying medium” in Cassirer, see also Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 82. 110 Cassirer, Enlightenment (see note 1), v; Cassirer, Aufklärung (see note 1), v: “Einheit ihres gedanklichen Ursprungs und ihres bestimmenden Prinzips”. 111 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung, vi. 112 Cassirer, Enlightenment, 5; Cassirer, Aufklärung, 4 f. 113 Cassirer, Enlightenment, 3; Cassirer, Aufklärung, 1: “Die Denkform des Zeitalters der Aufklärung”. To date, Herbert Dieckmann seems to be the only scholar who has noted at least some of the “undue simplification[s]” and distortions in the English translation of CassirerQs book. Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century (see note 92), 310 f. 105

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sirerQs Denkform (if understood in a certain way), the notion of a “Mind” of the Enlightenment has led some to believe that CassirerQs idea is that of a single mind, very much like a mind of an individual human person, whose thoughts are exhibited in Enlightenment philosophy.114 George Boas, for example, argues against “the unity of the Mind as an explanatory principle”, stating that in general “neither times nor movements have Minds in any intelligible sense of the word”.115 Rather, to him, like RClassicismQ and similar labels, REnlightenmentQ is just “the name for a sheaf of ideas, tendencies, motives, and interests which were often in conflict”.116 In short, Boas emphasizes the variety of Enlightenment philosophical thought. “If there were the rationalists, who were later to be called Voltaireans, there were also the RsentimentalistsQ, who were later to be called Rousseauists”, and so on. If one were to “construct a Mind”, as Cassirer does, one could do so only if one leaves out what does not fit the construction.117 Similarly, Kingsley Blake Price argues that “CassirerQs history of the philosophy of the Enlightenment presupposes the truth of the proposition that an eighteenth-century mind did once exist”.118 According to Price, however, the proposition that a mind of the Enlightenment did once exist is neither true nor false but meaningless. The phrase Rmind of the EnlightenmentQ is just as much without meaning as the phrase Rbody of the eighteenth centuryQ.119 Neither Boas nor Price question the truth of the proposition that the Enlightenment did once exist, however. If the Enlightenment and other movements such as Classicism “did once exist”, each with its own “sheaf of ideas, tendencies, motives, and interests”, then the critics would need to tell us what distinguishes the EnlightenmentQs “sheaf of ideas, tendencies, motives, and interests” from that of Classicism. Otherwise, their own talk of Enlightenment and Classicism is what becomes meaningless. Any account of that kind will involve some generalization, and not every single author with all of their writings will fit. Cassirer is very much aware of that but provides several examples for how Enlightenment philosophy “produced” (ausbilden) the new Denkform that he considers characteristic of the period. It is not so much the notion of a Denkform itself that is problematic, but CassirerQs idea, hinted at in the previous paragraph,

Kingsley Blake Price, Ernst Cassirer and the Enlightenment, in: Journal of the History of Ideas 18/1 (1957), 101 – 112, at 107. 115 George Boas, [Review of] Ernst Cassirer, The Philosophy of the Enlightenment, Princeton 1951, in: The Journal of Philosophy 49/7 (1952), 244 – 247, at 244 and 247. 116 Ibid., 246. 117 Ibid. 118 Price, Ernst Cassirer and the Enlightenment (see note 114), 107. 119 Ibid., 108. 114

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that we can infer certain “forces” that are behind it.120 We shall return to this below in the section on CassirerQs idealism. In recent decades, the claim that the Enlightenment was a unitary movement has been debated mostly by social historians of ideas, rather than by historians of philosophy. It is not surprising, therefore, that Cassirer is rarely mentioned here, and if so, only in passing and as someone who views the historical phenomenon through philosophical spectacles and asserts unity on that basis. Still, this debate concerns CassirerQs claims about Enlightenment philosophy, and occasionally he is made the direct target of critical arguments against the idea of unity. The historian J. G. A. Pocock is perhaps the most prominent unity-denier, arguing that “there is no single or unifiable phenomenon describable as Rthe EnlightenmentQ”. There is “a variety of statements made, and assumptions proposed […] The things are connected but not continuous; they cannot be reduced to a single narrative”. Therefore, we must not reduce “the phenomena of which we treat to a single process or entity to be termed RtheQ Enlightenment”.121 Pocock does not propose to abandon the notion of REnlightenmentQ altogether, but suggests that we should speak not of one uniform Enlightenment but of a plurality of Enlightenments. It would seem to follow from this that there was no unitary philosophy of RtheQ Enlightenment either, “and thus no real call for a book such as CassirerQs”.122 Several scholars have adopted the Pocockian view and applied it in their critique of Cassirer. According to Bruce Mazlish, Cassirer “fundamentally misperceive[s] the nature of the spirit of the times, which is […] a milieu with warring beliefs and perspectives”. Due to “his desire for unity” Cassirer tried “to resolve these dichotomies rather than to understand that it is exactly the tension among them that constitutes any unity that we can impose on them”.123 Roy Porter, too, states that “academics [like Cassirer] have misled themselves with monolithic and anachronistic models of what Rtrue enlightenmentQ must have been”. Porter praises the scholarship that has replaced “the old essentialist assumptions of a pure and unitary […] movement with a pluralism, appreciative of a variety of blooms, from Dublin to Lublin, from York to New York, each with its own seeds and soil, problems, priorities and programmes”.124 Without engaging in a defense of Cassirer or referring to Cassirer at all on this point, other intellectual historians have criticized PococksQs position, arguing for Cassirer, Enlightenment (see note 1), xii: “forces which brought forth and molded this shape” (Cassirer, Aufklärung, xiv). 121 J. G. A. Pocock, Historiography and Enlightenment: A View of their History, in: Modern Intellectual History 5/1 (2008), 83 – 96, at 83. 122 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 337. Wokler does not, however, endorse this view. 123 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 352 f. 124 Porter, Enlightenment (see note 80), 11. 120

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a unitary notion of the Enlightenment, while accepting the obvious fact of a variety of beliefs, attitudes and perspectives. Thus, John Robertson bemoans that “scholars have refashioned Enlightenment as a postmodern kaleidoscope of diversity and difference”, and have pushed the view that “the Enlightenment is dead; but many Enlightenments may yet flourish”.125 Robertson holds, by contrast, that “there was one Enlightenment, not several Enlightenments […] the same European-wide intellectual movement”, arguing that the “intellectual coherence of the Enlightenment” consists in “the commitment to understanding, and hence to advancing, the causes and conditions of human betterment in this world”. Robertson writes that one aspect of this commitment is that “the Enlightenment was committed to understanding, that is to analysis on the basis of good argument, leading to reasoned conclusions”.126 It is worth noting that this idea is at least compatible with CassirerQs view of the nature of Enlightenment philosophical thought. Jonathan Israel, too, criticizes of PocockQs “general argument for a Rplurality of EnlightenmentsQ”, pointing out that it “surely makes little sense” to speak of the doubtless existing “divergent tendencies, which cut across national traditions and boundaries and across churches and theologies, as distinct Enlightenments”. Rather, “they are part of a single ongoing debate and a single Enlightenment continuum”. According to Israel, the unity of the movement consists in this, that “all Enlightenment was committed to promoting a fundamental revolution in ways of thinking, in advancing liberty, in weakening ecclesiastical authority, combating RsuperstitionQ and miracles, strengthening toleration, and stabilizing civil society on a viable basis”.127 What is distinctive of IsraelQs account is his view that within this one Enlightenment, there was a “divide between a moderate mainstream Enlightenment […] and the democratic-revolutionary irreligious and secularizing (or Unitarian) Radical Enlightenment”.128 IsraelQs interpretation has itself become a matter of much debate, not least because he argues that Spinozistic substance monism played a special role in the development of the radical strand of the Enlightenment.129 Unsurprisingly, no such role is assigned Spinoza in Cassirer. UnJohn Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 3. Ibid., 9 fn. 23, 28. 127 Jonathan I. Israel, J. G. A. Pocock and the “Language of Enlightenment” in his Barbarism and Religion, in: Journal of the History of Ideas 77/1 (2016), 107 – 127, at 124 f. Israel does not appeal to Cassirer when he argues for the unity of the Enlightenment. In his first major book on the topic, Israel mentions Cassirer only in passing and as an author who emphasizes (unlike Israel) the continuity of the RhighQ Enlightenment with previous periods of thought, such as the Renaissance. Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650 – 1750, Oxford 2001, 518. 128 Israel, Pocock and the “Language of Enlightenment” (see note 127), 127. 129 See, for example, Frank Grunert (ed.), Concepts of (radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014. 125

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like other historians of Enlightenment philosophy, however, Cassirer deals with Spinoza in considerable detail, ascribing to him a special role in Enlightenment philosophy of religion.130 According to Cassirer, Spinoza provides a philosophical justification of bible criticism based on his “idea of the historicity of the bible”. This idea, Cassirer argues, derives in turn from SpinozaQs monism, as the latter “is offended by the special position of the Bible”.131 Notwithstanding his thesis about the unity of Enlightenment philosophy, Cassirer does not claim that the Enlightenment was characterized by uniformity or was a “monolithic” entity, as his critics have asserted. On the contrary, Cassirer displays acute awareness of the diversity of Enlightenment philosophical thought. He discusses critical arguments from within the Enlightenment, such as DiderotQs critique of Helvetius, and he emphasizes national differences between French, German and British philosophy of the period.132 Some scholars even hold that the diversity Cassirer presents is more characteristic of his work than his claim about unity. According to Thomas Meyer at least, what Cassirer “celebrates” is “the plurality of the Enlightenment”. For Cassirer, Meyer holds, the Enlightenment exists “only in the plural, even if it might appear that he discerns a common motif in the very different and diverse styles of argumentation”. Meyer even claims that “the intention of the book clearly points up [sic!] that RtheQ Enlightenment does not exist”.133 This thesis is obviously false, however, and it even seems bizarre to read such a Pocockian view into Cassirer. Although he highlights diversity, CassirerQs reference to a “common center of force” of Enlightenment philosophy clearly involves a strong commitment to unity rather than to a mere “common motif”.134 What Cassirer emphasizes, perhaps even RcelebratesQ, is the “inner spiritual unity of the age” and “the systematic unity of its thought”.135 In the meantime, intellectual historians continue to debate the question of Rhow many EnlightenmentsQ there were.136 One can be forgiven for wondering, however, whether this debate is in the last analysis largely about a verbal matter. No serious scholar, including Cassirer, disputes that there was a variety of beliefs, attiCassirer, Enlightenment (see note 1), 184 – 190; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 247 – 254. Cassirer, Enlightenment, 185; Cassirer, Aufklärung, 248. 132 For DiderotQs critique of Helvetius, see Cassirer, Enlightenment, 27; Cassirer, Aufklärung, 35. For national differences, see especially the chapters “Psychology and Epistemology”, and “Fundamental Problems of Aesthetics”. 133 Meyer, Ernst CassirerQs Writings (see note 16), 485 f. 134 Cassirer, Enlightenment, 5; Cassirer, Aufklärung, 4 f. 135 Cassirer, Enlightenment, 273; Cassirer, Aufklärung, 367: “systematische Geschlossenheit ihres Weltbildes”. 136 In a recent contribution it is argued that there were exactly three Enlightenments, a radical, a skeptical and a liberal Enlightenment. See James Alexander, Radical, Sceptical and Liberal Enlightenment, in: Journal of the Philosophy of History 14/2 (2020), 257 – 283. 130

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tudes, and perspectives. No serious scholar, including Cassirer, sees the Enlightenment as a “monolithic” entity. And no serious scholar suggests to abandon the notion of REnlightenmentQ altogether. The question, then, is whether it makes sense to read those different beliefs, attitudes and perspectives as pointing to several distinct REnlightenmentsQ. Does such labelling add to our understanding of the period? There seems to be no reason to believe that we cannot account for the different beliefs, attitudes and perspectives while sticking to RtheQ Enlightenment. Against PocockQs further suggestion that the notion of REnlightenmentQ is largely a post-eighteenth-century construction, scholars have pointed out that the term was used in the eighteenth century and in several European languages (if not in English).137 Also, similar expressions such as Rthis enlightened ageQ were used at the time and in several languages.138 As John Robertson has noted, “Rthe EnlightenmentQ was never simply a scholarly abstraction”.139 VI. Cassirer and Idealism. Kant or Hegel? We saw in the previous section that Cassirer links a specific Denkform of reason to the unity of Enlightenment philosophy and appeals to an “intellectual energy” (Energie des Denkens) and an “essentially homogeneous formative power”140 when arguing for unity. As these comments point to “an idealist reconstruction of the Enlightenment”,141 scholars have suggested that it was CassirerQs idealism that led him to impose unity on the variety of Enlightenment philosophical thought.142 What kind of idealism does Cassirer subscribe to or apply in the Enlightenment book, however? The answer to this question is not as straightforward as one might expect. According to Herbert Dieckmann, “a curious combination of Hegelianism and the neo-Kantianism of the Marburg School” pervades “the entire book”.143 Certainly, given that Cassirer appeals to both KantQs notion of a “history of pure reason” and a Hegelian “phenomenology of the philosophic spi-

137 John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 10. See also Israel, Pocock and the “Language of Enlightenment” (see note 127), 109. 138 Ibid., 109. For a philosophical text not mentioned by Israel, see Michael Hißmann, Psychologische Versuche, Frankfurt am Main, Leipzig 1777, 14: “im ganzen aufgeklärten Europa”. 139 John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 10. 140 Cassirer, Enlightenment (see note 1), v; Cassirer, Aufklärung (see note 1), v. 141 Renz, CassirerQs enlightenment (see note 2), 640. 142 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 352 – 353. 143 Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century (see note 92), 301.

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rit”, the question of CassirerQs idealism relates to the respective places that Kant and Hegel have in his narrative of Enlightenment philosophy.144 The many references to KantQs philosophy and his “own allegiance to Kantianism” would seem to indicate that KantQs philosophy plays a major role in CassirerQs account, perhaps even that he gives Enlightenment thought “a greater or lesser degree of philosophic coherence by reference to Kant”.145 Still, as Johnson Kent Wright remarks, there are problems with reading CassirerQs reconstruction as straightforwardly RKantianQ. Kant is cited “continually”, he points out, and “yet there is no extended discussion of a major work of KantQs anywhere in the book”.146 In fact, Cassirer does not provide even a summary of KantQs main work, the Critique of Pure Reason. He mentions the latter explicitly only once, in addition to three indirect references.147 Apart from that, there are just brief comments on various aspects of KantQs philosophy. Most puzzling, however, is that the book has only two brief references to, but no extended discussion of KantQs famous essay What is Enlightenment?.148 Why does Cassirer, a philosopher with an “allegiance to Kantianism”, avoid discussing Kant when it would seem most appropriate, even essential – in a book on Enlightenment thought? Various answers have been proposed to this question. Johnson Kent Wright cites David LiptonQs political reading, according to which CassirerQs lack of treatment of Kant was in effect an “evasion” in the face of wrenching philosophical and political pressure.149 While this response may be “fascinating”, as Wright holds, it also seems highly implausible. Wright himself explains KantQs presence or lack thereof in different, more indirect ways. One way in which Kant is present, he argues, has to do with the very structure of CassirerQs book. “The plan of The Philosophy of the Enlightenment”, Wright claims, “echoes that of KantQs critical philosophy”. Wright holds that the shape of CassirerQs narrative “faithfully reproduces the order of topics of KantQs three Critiques”. This is evident, he suggests, as “CassirerQs chapters move from the scientific and epistemological terrain of the first [Critique] to the religious and moral topics of the second, and then conclude at the doorstep of the Critique of Judgement”.150 This suggestion is quite a stretch, 144 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii. Cassirer, Enlightenment vi; Cassirer, Aufklärung, vii. 145 John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 12, 28. 146 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 91. See also Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century (see note 92), 301. 147 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 93; xi, 94, 133; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 124; xiii, 123, 177. 148 Cassirer, Enlightenment, xi, 163; Cassirer, Aufklärung, xiv, 217 – 218. 149 David Lipton, Ernst Cassirer: The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914 – 1933, Toronto 1978, 166; Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 91. 150 Ibid., 90 f.

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however. While KantQs first Critique is in part concerned with the “scientific terrain”, its main concern is with knowledge in general and the possibility of metaphysics. The second Critique deals with the highest principle of morality, the third not only with what is now known as RaestheticsQ but also with the question of teleology in nature. CassirerQs chapters, by contrast, move from “Nature und Natural Science” and “Psychology and Epistemology” to “Religion”, “The Conquest of the Historical World”, “Law, State and Society” and “Fundamental Problems of Aesthetics”. History, Religion, Law, State and Society are not main topics in any of the three Critiques. Had Cassirer attempted to “faithfully reproduce” the order of KantQs three Critiques, he would have chosen a different order and probably started with the topic of knowledge. It is doubtful that an adequate account of Enlightenment philosophy would even be possible on the basis of such a structure. It is clearly not the structure that Cassirer chose for his book. It seems, rather, as Wright also notes, that for Cassirer Kant is not part of the Enlightenment.151 Cassirer says that Kant did “start from the thinking of the German Enlightenment” and that “his formulation of problems and systematic method were a direct outgrowth of this thinking”.152 This implies that Kant marks a new step in the development of philosophical thought, post-Enlightenment. CassirerQs many references to Kant are not meant to suggest that Kant was a philosopher of the Enlightenment, but to point to the impact of Enlightenment thought on subsequent philosophy that is to be dealt with in detail separately. Incidentally, locating Kant beyond the Enlightenment is in line with CassirerQs comments in his Kants Leben und Lehre, published almost 15 years before Die Philosophie der Aufklärung.153 This view about Kant and the Enlightenment was not uncommon in the NeoKantian context. WindelbandQs above-mentioned Lehrbuch covers Kant, not in the chapter “The Philosophy of the Enlightenment”, but in the first section of the following chapter entitled simply “The German Philosophy”, the second section of which is devoted to German Idealism.154 Similarly, the Grundriß series in Ibid., 95. Cassirer, Enlightenment, 123; Cassirer, Aufklärung, 163 f. Italics U.T. 153 Here, Cassirer sees even KantQs pre-critical Dreams of a Spirit-Seer as moving beyond the Enlightenment. On the one hand, Cassirer holds, KantQs critical comments on metaphysics “show him still to be extremely closely connected with the substantive tendencies of the Enlightenment; on the other, however, they indicate that the spirit of this substance has been given a new form through a novel foundation” (Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1918, 86; Ernst Cassirer, KantQs Life and thought, transl. by James Haden, New Haven, London 1981, 82). About the Critique of Pure Reason, Cassirer says “that Kant is presenting a completely novel type of thinking, one in opposition to his own past and to the philosophy of the Age of the Enlightenment” (Kants Leben und Lehre, 151; KantQs Life and thought, 141). 154 Windelband dates the philosophy of the Enlightenment “from Locke to the Death of Lessing, 1689 – 1781” (Windelband, Lehrbuch [see note 40], 19). 151 152

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which CassirerQs book appeared places Kant between the Enlightenment and German Idealism. Richard KronerQs two volume Von Kant bis Hegel, which had been published in that series in 1921 and 1924, spends the first 300 pages of volume 1 on KantQs critical philosophy. For both the Grundriß series and Cassirer, Kant signals the beginning of a new development in philosophy, and that is why a detailed survey of his writings has its place not in a book on the Enlightenment but in tomes such as KronerQs. While there are only two explicit references to Hegel in the Enlightenment book,155 it has been argued variously that CassirerQs account is inspired by Hegelian, rather than Kantian idealism. Ursula Renz holds that there is a distinctive “Hegelian move” in CassirerQs narrative, as he views the progress to the eighteenth century “as constituted by the reflexive insight into the nature of philosophizing”.156 Johnson Kent Wright, too, states that Hegel was “the guiding spirit behind this narrative”. And this could serve to explain further the nature of CassirerQs treatment of Kant. From this perspective, Kant does belong to the Enlightenment after all, but only, as Wright puts it, as marking both its “culmination” and “cancellation, for the launching of an entirely new phase in the development of philosophy”.157 Presumably, “cancellation” is meant to suggest Hegelian Aufhebung, a notion that Cassirer does not actually use in the Enlightenment book. There are, however, similar comments in Cassirer about Kant as constituting a RculminationQ and an RovercomingQ of Enlightenment philosophy. In the chapter on epistemology Cassirer says that KantQs philosophy marks both the end and the overcoming of Enlightenment thought.158 In the chapter “Law, State and Society” Cassirer comments that KantQs philosophy “overshadows the Enlightenment even while it represents its final glorification”.159And in the chapter on aesthetics he states that the debate between Gottsched and the Swiss represents “a phase of the development towards a synthesis of and firmer connection between logic and aesthetics

155 Cassirer, Enlightenment (see note 1), viii; Cassirer, Aufklärung (see note 1), ixf. – Cassirer, Enlightenment, 160; Cassirer, Aufklärung, 213. 156 Renz, CassirerQs enlightenment (see note 2), 646. Compare Cassirer, Enlightenment, vi; Cassirer, Aufklärung, vif. 157 Wright, “A Bright Clear Mirror”, 92. See also DieckmannQs much earlier comment: “Kant is in true Hegelian fashion at the same time the climax of a preceding and the beginning of a new development” (Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century [see note 92], 301). 158 Cassirer, Enlightenment, 133; Cassirer, Aufklärung, 177: “eine Vollendung dieses Denkens, […] die zugleich ihr Ende, ihre Überwindung durch ein neues Prinzip und eine neue Problemstellung bedeutete”. 159 Cassirer, Enlightenment, 274; Cassirer, Aufklärung, 367: KantQs “Gedankenwelt, durch die die Aufklärung überwunden wird, in der sie aber zugleich ihre letzte Verklärung und ihre tiefste Rechtfertigung erhält”. The English translation has “systematic edifice” for “Gedankenwelt”.

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– of the development which reaches its climax in KantQs Critique of Judgment”.160 Moreover, although Cassirer rejects HegelQs negative assessment of Enlightenment philosophy as a mere “philosophy of reflection”, this does not on its own speak against Hegelian inspirations in Cassirer, as he qualifies his rejection of HegelQs comment by pointing out that in the Phenomenology of Spirit Hegel “draws a richer and deeper picture” of the Enlightenment than in his “purely polemical” moments.161 Just how much Hegel is there, however, in CassirerQs narrative? Is it merely the general view about the progress of reflexive insight, or is there even (some version of) a Hegelian RdialecticQ at work? Certainly, there is no explicit commitment to a dialectical method in CassirerQs book, and the term RdialecticQ occurs only a few times. Cassirer speaks of a “difficult and intrinsically dialectical task” when describing the EnlightenmentQs search for “a clear line of demarcation between the mathematical and the philosophical spirit”, he says that Bayle provides a “dialectical exercise” for later developments, and he refers to “DiderotQs dialectic” when explaining the changes in his thought.162 It is doubtful, however, that these are references specifically to Hegelian dialectic,163 and they do not in any case describe CassirerQs approach. Nevertheless, he may of course follow a dialectical method without telling the reader that he does so. In fact, scholars have read Cassirer in this way. Herbert Dieckmann sees Cassirer as applying “HegelQs method”, which led him to view the eighteenth century as developing “in a dialectical movement”,164 and Kingsley Blake Price speaks of a “dialectical scheme” that Cassirer “ordained a priori”.165 Johnson Kent Wright provides more detail for this reading, cites CassirerQs “roots in the dialectical tradition of classical Idealism” and argues that a dialectical development manifests itself in the structure of CassirerQs book.166 He writes about the latter: Cassirer, Enlightenment, 333; Cassirer, Aufklärung, 447: “ihren Höhepunkt und Abschluss in Kants RKritik der UrteilskraftQ gefunden hat”. 161 Cassirer, Enlightenment, viii; Cassirer, Aufklärung, ixf. 162 Cassirer, Enlightenment, 15; Cassirer, Aufklärung, 18. – Cassirer, Enlightenment, 208; Cassirer, Aufklärung, 278: “dialektische Vorübung”. – Cassirer, Enlightenment, 72; Cassirer, Aufklärung, 96. 163 This applies also to CassirerQs comments on the development of philosophical thought in other contexts, for example when he says in the first volume of Das Erkenntnisproblem: “Nicht in solchem stetigen quantitativen Wachstum, sondern im schärfsten dialektischen Widerspruch treten die mannigfachen Grundanschauungen einander gegenüber” (Cassirer, Erkenntnisproblem [see note 54], vol. I, 7). 164 Dieckmann, An Interpretation of the Eighteenth Century (see note 92), 299. 165 Price, Ernst Cassirer and the Enlightenment (see note 114), 111. 166 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 99 f. See also Oz-Salzberger who views CassirerQs book as a “work of philosophical history” that involves “the tracing of dialectical progress in the history of ideas” (Oz-Salzberger, CassirerQs Enlightenment and its Recent Critics [see note 5], 160

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The narrative form is […] the dialectical development from an initial state of undifferentiated unity to one of rupture and fragmentation, in order to arrive at an end-state in which unity has been restored in a higher, RdifferentiatedQ shape. As for the content of the form, the prior state is always some variety of Cartesianism, whose certainty is then shaken or destroyed by a species of RanalyticQ or RpsychologicalQ thought, most often English in inspiration, whose RproblemsQ then find their solution in the emergence of RsyntheticQ or RtranscendentalQ philosophy – the privilege, of course, of German thinkers above all. Each of the six substantive chapters tell the same tale, in effect.167

However, the empirical evidence, i. e. CassirerQs book, resists the neat dialectical structure imposed on it here. We only need to point out that, pace Wright, not all chapters end with German transcendental philosophy as a “solution”, nor is it “always some variety of Cartesianism” that functions as the “initial state”, as Wright claims. Cassirer often begins with Renaissance thought (in the chapters “Nature and Natural Science” and “Religion”) and in some cases goes back to antiquity and to pre-eighteenth-century natural law theories as his starting points. One of the most important chapters, “Nature and Natural Science”, has no reference to “transcendental philosophy” at all. Rather, if that chapter has any hero at all, it is obviously Diderot. The chapter ends with the comment that Diderot “introduces a new order of ideas; he not only goes beyond previous achievements, but he changes the very forms of thought which had made these achievements possible and given them permanence”.168 CassirerQs evaluation of Diderot could hardly be more positive and his praise is without reservation. For Cassirer it was Diderot, “who among the thinkers of the eighteenth century probably possessed the keenest sense for all intellectual movements and transitions of that epoch”.169 Had Cassirer intended to point to transcendental philosophy as the “end-state” of the development, RdialecticalQ or otherwise, he could have done so very easily, but there is not a single reference here to KantQs Metaphysical Foundations of Natural Science or the Critique of Pure Reason. Kant is mentioned very briefly only once, in the penultimate section of the chapter, in a comment on Buffon, hardly an anticipation of a transcendental “solution”.170 Lastly, when Cassirer outlines his aims in the Preface of the Enlightenment book, saying that he is not concerned with the “totality” of the “historical manifestations and results” of Enlightenment philosophy, but with its “internal movement” and the “dramatic action of its thinking”, there is no indication whatsoever that he thinks of this movement in dialectical

168). Oz-Salzberger provides no details for her dialectical reading, however, and makes no reference to Hegelian dialectic. 167 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 88 f. 168 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 92; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 122. 169 Cassirer, Enlightenment, 73 f.; Cassirer, Aufklärung, 98. 170 Cassirer, Enlightenment, 79; Cassirer, Aufklärung, 105 f.

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terms.171 He does look at the pro and cons of the views and arguments, but this hardly amounts to an application of “HegelQs method”. Possibly, the tendency to ascribe a dialectical method to Cassirer is inspired by the idea that some of the above-mentioned aspects, such as the view about the progress of reflexive insight into the nature of philosophizing, are Hegelian Rin spiritQ. One can give an account that is Hegelian in spirit, however, without committing to a dialectical method. Neo-Kantian histories of philosophy confirm this. Windelband enthuses about Hegelian spirit as “it was through Hegel that the history of philosophy was first made an independent science, for he discovered the essential point that the history of philosophy can set forth […] the limited process in which the RcategoriesQ of reason have successively attained distinct consciousness and reached the form of conceptions”.172 Yet Windelband argues emphatically against imposing a Hegelian dialectical structure on the history of philosophy. He speaks of a “frequent violation of historical fact” that arose from HegelQs “wrong idea […] that the historical progress of philosophical thought is due solely, or at least essentially, to an ideal necessity with which one RcategoryQ pushes forward another in the dialectical movement”.173 Regarding Cassirer we can add to the lack of evidence for a dialectical method the fact that he, too, was fiercely critical of HegelQs “dialectical movement of concepts”. For Cassirer the latter is in the last analysis “a mere illusion”.174 Moreover, even the view about the progress of reflexive insight is not uniquely Hegelian. Post-Kantian histories of philosophy adopt a similar idea, as is evident in Wilhelm Gottlieb TennemannQs Geschichte der Philosophie.175 For Tennemann, philosophy is grounded in the faculty of reason, and the object of his Geschichte concerns “the endeavours of reason” to actualize the idea of philosophy as a science of “the fundamental grounds and laws of nature and of freedom”.176

171 Cassirer, Enlightenment, v; Cassirer, Aufklärung v. The English translation leaves “die innere Bewegung, die sich in ihr vollzieht” untranslated. 172 Windelband, Lehrbuch (see note 40), 9: “zur begrifflichen Ausgestaltung gelangt sind”. Quoted from TuftsQs English translation (see note 43), 10 f. 173 Windelband, ibid., 9. Quoted from TuftsQs English translation (see note 43), 11. 174 Cassirer, Erkenntnisproblem (see note 54), vol. III, 1920, 366. See Detlev Pätzold, Esprit syst8matique ou esprit de systHme? Das Bild von Kant und Hegel in Cassirers symbolischem Idealismus und seiner Methode, in: Detlev Pätzold, Christian Krijnen (eds.), Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus: die philosophische Methode, Würzburg 2002, 87 – 102, at 98 f. 175 Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1798. I thank Gideon Stiening for drawing my attention to the potential relevance of Tennemann in this context. For a discussion of the historiography of philosophy from the 1790s to the 1830s, see Gideon Stiening, Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners, Berlin, Boston 2019, 90 – 113. 176 Tennemann, Geschichte (see note 175), 29 f. Compare ibid., xxix: “Bestrebungen der Ver-

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Tennemann describes this progress of reason in terms of a “gradual development of reasonQs knowledge of itself”.177 A main difference between Tennemann and Hegel is of course that for Tennemann, the “actualization” of the idea of philosophy as a systematic science is the aim of the development, whereas for Hegel the system is present in the development itself.178 There seems to be no evidence that Cassirer consulted TennemannQs Geschichte, but, clearly, when Cassirer argues that in the Enlightenment, the philosophical “spirit […], achieves clarity and depth in its understanding of its own nature and destiny, and of its own character and mission”,179 it does not follow that he endorses a Hegelian, speculative conception of the history of philosophy. Further, while both Tennemann and Cassirer are Kantian philosophers, they both aim at an objective, impartial approach to the history of philosophy.180 Hegel, by contrast, vehemently rejects this idea and argues, moreover, that TennemannQs Kantianism undermines his aim of impartiality.181 Hegel concedes that one should not be biased towards “the views, thoughts, concepts” of individual thinkers, but holds that one needs to take the side of the “thinking spirit”, and the latter is of course to be understood in a Hegelian sense.182 In short, in spite of referring once to a “phenomenology of the philosophic spirit” and gesturing towards the idea that Kant somehow marks both the RculminationQ

nunft, die Idee der Wissenschaft von den letzten Gründen und Gesetzen der Natur und Freiheit zu realisiren”. 177 Wilhelm Gottlieb Tennemann, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Leipzig 21816, 3: “Selbsterkenntnis der Vernunft”. See also ibid., 25, 28. 178 For a discussion of this point, see Stiening, Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners (see note 175), 106 – 108. 179 Cassirer, Enlightenment (see note 1), vi; Cassirer, Aufklärung (see note 1), vii. 180 Tennemann, Geschichte (see note 175): “Es ist aber nicht genug, daß Philosopheme, welche den Hauptgegensand dieser Geschichte ausmachen, historisch wahr und aus Quellen beglaubiget sind, sie müssen auch in dem bestimmten Sinne und Geiste ihrer Urheber dargestellt werden” (xli). “Die Geschichte muß uns […] in den Gesichtspunct eines Denkers setzen, seine Ansicht der Dinge und sein Ziel wornach er strebt, mit aller Individualität zeichnen, seine Behauptungen in diesem Geiste und nach ihren Beziehungen darstellen, seine Begriffe auf ihre Merkmahle zurückführen, die Sätze in ihrem Zusammenhange und Abfolge aufstellen” (xli f.). 181 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung: System und Geschichte der Philosophie, ed. by Johannes Hoffmeister, Leipzig 1940, 259. 182 Ibid., 135. Here Hegel states that, according to Tennemann, “man soll also nicht Partei nehmen für den denkenden Geist”. He continues: “Will man die Geschichte der Philosophie aber würdig studieren, so besteht Unparteilichkeit darin, daß man keine Partei nehme für die Meinungen, Gedanken, Begriffe der Individuen. Jedoch muß man Partei nehmen für die Philosophie und sich nicht bloß mit der Kenntnis des Denkens Anderer beschränken und begnügen. Die Wahrheit wird nur erkannt, wenn man mit seinem Geiste dabei ist; die bloße Kenntnis zeigt nicht, daß man wirklich dabei ist”. For a critique of HegelQs approach to the history of philosophy, see Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke (see note 52), 13 f., 16 f.

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and the RovercomingQ of Enlightenment thought, it remains doubtful that Hegelian ideas are a significant element in CassirerQs narrative. Whatever the precise roles of Kant and Hegel may be in CassirerQs study of the Enlightenment, there can be no doubt that his own philosophical sympathies lie more with Kant than with the Enlightenment thinkers he discusses. As he points out in the Preface, “following KantQs achievement and the intellectual revolution accomplished by KantQs Critique of Pure Reason, it is no longer possible to return to the questions and answers of the philosophy of the Enlightenment”.183 At the same time, as we saw, Cassirer values the achievements of Enlightenment philosophy highly, crediting it with the discovery of the “autonomy of reason”. Therefore, he argues, “instead of assuming a derogatory air, we must take courage and measure our powers against those of the age of the Enlightenment, and thus find a proper adjustment. The age which venerated reason and science as manQs highest faculty cannot and must not be lost even for us”.184 This is why Cassirer, as we noted above, aims at objectivity. He insists that we must see “that age in its own shape” and examine its own “completely original form of philosophic thought”.185 It is misleading, therefore, to say that “the Enlightenment was in some sense subordinated to classical Idealism in CassirerQs book”.186 KantQs relation to the Enlightenment continues to be a matter of debate, the details of which cannot be rehearsed here. To place Kant essentially outside the Enlightenment, as an “outgrowth of this thinking”,187 and closer to German Idealism, as both Windelband and Cassirer do, is not at all the most obvious way of viewing this relation, however. While KantQs transcendental conception of philosophy is radically different from other Enlightenment philosophies, there is, obviously, room for a variety of accounts of knowledge, morality and aesthetics within Enlightenment thought, as Cassirer himself makes apparent. Moreover, as Cassirer also shows, there is considerable continuity between earlier Enlightenment thought and KantQs critical philosophy. In fact, there are many reasons for placing Kant at the center of the Enlightenment, rather than for viewing his philosophy as its Rend-stateQ or its RovercomingQ. We noted that Cassirer regards the notions of critique and the autonomy of reason as central to Enlightenment philosophy, both of which, however, play a central role especially in Kant. For Kant, everything, including philosophy “must submit itself” to critique.188 KantQs conception of EnCassirer, Enlightenment (see note 1), xi; Cassirer (see note 1), Aufklärung, xiii: “kein einfaches Zurück”. The English translation leaves “einfaches” untranslated. 184 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiv. 185 Ibid. – Cassirer, Enlightenment, vi; Cassirer, Aufklärung, vii: “durchaus neue und eigentümliche Form des philosophischen Denkens”. 186 Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 93. 187 Cassirer, Enlightenment, 123; Cassirer, Aufklärung, 164. 188 Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. by Jens Timmermann, Hamburg 1998, A (1781) XI–XIII. 183

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lightenment may be moderate in a political sense, but, as has been noted in the literature, from a philosophical perspective “the Kantian programmatic understanding of Enlightenment is radical by definition”, as it includes a critique of philosophy itself.189 Nor do we need to restrict KantQs commitment to Enlightenment ideals to his RcriticalQ period and the 1784 essay What is Enlightenment?. It has been shown that even the pre-critical Kant is firmly committed to Enlightenment ways of thinking.190 In one place, Cassirer himself says that Kant “is and remains a thinker of the Enlightenment”. This comment appears in his critical review of HeideggerQs book on Kant, however, and it is not clear that he is referring to the historical Enlightenment in this context.191

VII. Specific Topics Apart from general questions about method (sections III and IV), the autonomy of reason, the unity of the Enlightenment (section V) and CassirerQs idealism (section VI), there is a range of issues that have been raised about CassirerQs book concerned with more specific topics relating to content. We turn to some of these now.

VII.1. Coverage CassirerQs book has been praised at least by some for the “range of its themes and the depth of its arguments”.192 To be sure, in spite of CassirerQs disclaimer about a 189 Schröder, Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective (see note 83), 46. See also Günter Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft, in: Heiner F. Klemme (ed.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, New York 2009, 82 – 99. Zöller implies that Kant belongs firmly to the Enlightenment when he argues that KantQs conception of the Enlightenment is more radical than those of his contemporaries. 190 See Lothar Kreimendahl, Kants vorkritisches Programm der Aufklärung, in: Heiner F. Klemme (ed.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, New York 2009, 124 – 144. 191 “Kant ist und bleibt – in dem erhabensten und schönsten Sinne dieses Wortes – ein Denker der Aufklärung: er strebt ins Lichte und Helle, auch wo er den tiefsten und verborgensten RGründenQ des Seins nachsinnt” (Ernst Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Heideggers Kant-Interpretation, in: Kant-Studien 36 (1931), 1 – 26, at 23 f. CassirerQs review is translated in Moltke S. Gram (ed.), Kant: Disputed Questions, Chicago 1967. Here, the cited passage reads: “Kant was and remained a thinker of the Enlightenment, in the most noble and beautiful sense of this word. He strove for illumination even as he thought about the deepest and hidden grounds of being” (155). 192 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 336.

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“wealth of detail”, he covers the main areas of philosophy in considerable detail and deals with a vast number of thinkers: Condillac, Diderot, Dubos, Bayle, Berkeley, Clarke, Boileau, Bodmer and Breitinger, Hume, Herder, Burke, Lambert, Tetens, Reimarus, Lessing, Helvetius, Lamettrie, Hutcheson, Newton, Molyneux, Montesquieu, Maupertuis, dQAlembert, Locke, Toland, Tindal, Rousseau, Voltaire, Wolff, Shaftesbury, Sulzer, Holbach, Mendelssohn, Buffon, to name only some of the better known philosophers. Still, it would be remarkable if in a survey of more than a hundred years of philosophy, even when it extends to almost 500 pages, no lacunae would be found. Unsurprisingly, then, scholars have noted, albeit not always correctly, that several important thinkers and movements fail to make an appearance. While it is true that there is nothing on Adam SmithQs Theory of Moral Sentiments in CassirerQs book, it is not true that “Cassirer simply ignores the whole of the Scottish Enlightenment”,193 as there are fairly extensive surveys of Hume and Hutcheson. Similarly, given that Cassirer describes DiderotQs way “from an a priori to a purely utilitarian foundation of ethics”,194 it is not true that there is nothing on utilitarianism in Cassirer.195 It is true, however, that the great founder of modern utilitarianism, Jeremy Bentham, does not feature. One can of course name other important philosophers Cassirer does not include. There is J. G. H. Feder, at the time one of the most prominent philosophers in Germany, and even more importantly, the influential materialist philosopher, scientist and theologian Joseph Priestley. Priestley could even be said to be a paradigm Enlightenment thinker, committed to scientific progress, to the critique of traditional metaphysics and the church and at the same time to the Christian faith, as he understood it. While acknowledging that Cassirer is concerned with the conceptual core of Enlightenment philosophical thought and does not intend to cover a “wealth of detail”, it has to be said that thinkers such as Feder and Priestley should be part of any account of Enlightenment philosophy. One complaint about CassirerQs coverage does not so much concern individual philosophers but a perceived bias towards German philosophy. This charge has been expressed most strongly by Alfred Cobban in his review of the English translation of CassirerQs book. While he credits Cassirer with being a “good European”, Cobban claims that in effect Cassirer had written a “German History”, and was “profoundly wrong”, favoring Leibniz over Locke, and presenting Herder and Kant as the culmination of the Enlightenment. All told, Cassirer had done nothing 193 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 353. Mazlish acknowledges, however, that the idea of a distinctive Scottish Enlightenment is due to a fairly recent development in Enlightenment research and so is not something that Cassirer would have been able to RomitQ. 194 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 247; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 331. 195 Alfred Cobban, The Enlightenment and Germany, in: Spectator 26 (September 1952), 406 f. See also Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 97.

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less than add “the Enlightenment to the genealogical tree of the Nazi movement”.196 Johnson Kent Wright does not endorse the “harshness” of this assessment, but he, too, sees a bias towards German thought in Cassirer.197 This was apparent in his attempt to identify a Hegelian RdialecticQ in Cassirer, with Kantian “solutions” as “end-states” in “each of the six substantive chapters”.198 In response, we noted among other things that the first substantive chapter, on “Nature and Natural Science” ends with an extremely positive evaluation of Diderot, rather than Kant or any German philosopher. To Wright, however, focusing less on German thinkers in the early chapters is just another trick in CassirerQs dialectical game at which, in the end, the Germans always win. As the chapters proceed, Wright comments, the center of gravity of the narrative gradually shifts from the French to the German scene, with English thinkers, again, serving as mediators – of the RvanishingQ variety, one is tempted to add – between the two. Thus the chapters devoted to science and psychology are still dominated by accounts of French thought, ending with mere gestures in the direction of Leibniz or Kant. The gap begins to close in the next three chapters, each of which concludes with descriptions of German resolutions to French RproblemsQ, in Kant, Lessing, and Herder. The story then reaches its climax in the last chapter, with its astonishingly detailed account of the emergence of German aesthetics.199

Regarding CobbanQs absurd charge, Robert Wokler has most emphatically and convincingly rejected it as something that “could not have been further from the truth”, pointing out that “the whole thrust of CassirerQs argument with respect to German thinkers was designed to portray their influence within the European Enlightenment as a whole”.200 WrightQs reading of Cassirer as endorsing a view of German superiority misses the mark as well. Again, the evidence does not conform to the clever scheme of bias towards Germans we are meant to see at work in Cassirer. To view the chapters on nature and knowledge as mere preliminaries that are meant to lull us into thinking that Cassirer might acknowledge nonGerman achievements before he blitzes us with German aesthetics, is arbitrary, to say the least. The early chapters are no less substantive and central than the later ones. And it is simply false to suggest that the chapter on nature and natural science ends with a gesture “in the direction of Leibniz or Kant”.201 If Cassirer had wanted to maintain a superiority of German philosophy, as Wright appears to suggest, he could easily have said a lot more about a Kantian RsynthesisQ in the chapters on nature and knowledge. CassirerQs final chapter does give an “astonishingly 196 197 198 199 200 201

Cobban, The Enlightenment and Germany (see note 195), 406 f. Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 96. Ibid., 89. Ibid., 90. Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 340. Wright, “A Bright Clear Mirror” (see note 3), 90.

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detailed account” of aesthetics, but only about 30 of the 114 pages are devoted to German thinkers. CassirerQs focus on Baumgarten here may have to do with the simple fact that Baumgarten introduced aesthetics as a distinct philosophical discipline rather than with any vision of German “end-states”.202 It is true that Cassirer adds a “German dimension” to the Enlightenment.203 Given the influence CassirerQs book had on English-language Enlightenment studies, it is surprising therefore, that as late as 1996 James Schmidt had to report that a German Enlightenment was still “at best, a rumor” in much of the anglophone world.204 Be that as it may, the job of CassirerQs “German dimension” is, as Wokler noted, to emphasize the European aspect of the Enlightenment. While Cassirer comments on national differences, he also highlights parallels,205 and he underlines the fact that in all fields of philosophy there was “an uninterrupted exchange of ideas” across Europe.206 Cassirer notes, for example, the impact of Shaftesbury and English Deism in Germany and LockeQs influence on Lambert.207 And when praising LessingQs contribution to aesthetics, Cassirer highlights its nature as a European achievement.208 For Cassirer, therefore, in Enlightenment philosophy “it is impossible to draw a sharp line of demarcation along national cultural barriers”.209

202 Ritchie Robertson notes in 2020 that CassirerQs study is still “the only general book on the Enlightenment to devote a major chapter to aesthetics” (Ritchie Robertson, The Enlightenment [see note 15], 465). 203 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 339. 204 James Schmidt (ed.), What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and TwentiethCentury Questions, Berkeley, CA 1996, Preface, x. Schmidt does not refer to Cassirer here, but to German historical scholarship up to the 1990s. 205 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 14; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 17. 206 Cassirer, Enlightenment, 331; Cassirer, Aufklärung, 444. 207 Cassirer, Enlightenment, 318 f.; Cassirer, Aufklärung, 426. – Cassirer, Enlightenment 175; Cassirer, Aufklärung, 234. – Cassirer, Enlightenment, 131 f.; Cassirer, Aufklärung, 175 f. 208 Cassirer, Enlightenment, 359; Cassirer, Aufklärung, 480 f. In line with this aspect of CassirerQs analysis, Gideon Stiening has stressed the “European dimension of several central debates and controversies”, citing LessingQs conception of religious toleration as an example. Lessing developed this conception with Locke and Voltaire in mind, arguing for a normative notion of toleration that is independent of cultural and linguistic differences. Gideon Stiening, Review of Heinz Thoma, Handbuch Europäische Aufklärung (Stuttgart and Weimar 2015), in: Arbitrium 34/3 (2016), 319 – 324, at 321 f. For Voltaire and Lessing on toleration in Cassirer, see Cassirer, Enlightenment, 168 f.; Cassirer, Aufklärung, 224 – 226. 209 Cassirer, Enlightenment, 331; Cassirer, Aufklärung, 444. Unsurprisingly, nationalist historians of philosophy in Germany, such as Max Wundt, a committed Nazi, railed against CassirerQs Enlightenment book. See Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, 231.

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VII.2. CassirerQs Interpretations Questions can and should be raised about CassirerQs interpretations of the views and arguments he discusses. As scholarship in eighteenth-century philosophy has progressed dramatically since CassirerQs book was first published, obviously, some of his readings and evaluations require revision. This would probably apply to any single-authored survey of the philosophy of the period, however, including more recent ones, as any survey will have to be brief or even sketchy in describing individual arguments. Cassirer actually provides quite detailed accounts of a number of his main protagonists (Diderot, Hume, Rousseau). Obviously, historians of philosophy disagree to this day (and will continue to do so) about the interpretation and critical evaluation of particular views and arguments in Locke, Hume, Condillac, Shaftesbury, Diderot and so on. Still, even without the benefit of recent scholarship and considering the required brevity of descriptions, readers will find problems with several of CassirerQs interpretations. To cite just one example, CassirerQs reading of HumeQs Of the Standard of Taste is seriously incomplete, to say the least. He seems to think that HumeQs solution regarding a standard of taste, that is regarding “a rule by which the various sentiments of men may be reconciled”, consists in appealing to the “empirical uniformity” of common sense.210 In fact, however, Hume points out that appealing to common sense does not help at all, as common sense contradicts itself. On the one hand, common sense holds that “each mind perceives a different beauty [and that to] seek the real beauty, or real deformity, is […] a fruitless enquiry”. On the other hand, “there is certainly a species of common sense which opposes” that view. To illustrate this, Hume points to “the durable admiration which attends those works that have survived all the caprices of mode and fashion, all the mistakes of ignorance and fancy. The same Homer, who pleased at Athens and Rome two thousand years ago, is still admired at Paris and at London”. Cassirer stops here and takes this “empirical uniformity” for HumeQs solution. Yet Hume leaves common sense behind and argues for a version of the Rideal observerQ theory, the view that “the joint verdict” of ideal critics is “the true standard of taste and beauty”.211 Hume discusses at length what kind of qualities such ideal critics must have. Unfortunately, although CassirerQs account of HumeQs position runs to over six pages, none of this is so much as mentioned.

Cassirer, Enlightenment, 308; Cassirer, Aufklärung, 412. David Hume, Of the Standard of Taste (1757), in: David Hume, Essays Moral, Political and Literary, Oxford 1963, 231 – 255, at 234, 235, 237 f., 247. 210

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VII.3. The Role of Leibniz More important than questions about CassirerQs interpretations of particular views and arguments are those raised by the role he ascribes to certain philosophers in the development of Enlightenment thought as a whole. His emphasis on the significance of Diderot may be uncontroversial. The central role he ascribes to Leibniz for the progress of Enlightenment philosophy, however, seems to be problematic. Cassirer devotes the entire second section of the first chapter, on the Denkform of the Enlightenment, to Leibniz.212 In the first section Cassirer had emphasized the RanalyticQ side of the esprit syst8matique which he thinks is characteristic of Enlightenment thought, citing dQAlembert and Condillac as paradigm examples. With LeibnizQs philosophy, however, Cassirer holds, “a new intellectual power emerges”.213 Leibniz “endows thinking in general with a new form and a new basic direction”, a “new form of philosophical synthesis” that supplements the spirit of analysis.214 This “new form” of thinking, Cassirer says, is present in LeibnizQs new concept of substance, as LeibnizQs monad is the expression of multiplicity in a synthetic or “dynamic whole”.215 Cassirer argues that, although LeibnizQs impact was slow and indirect at first and although Diderot and Voltaire criticized and even ridiculed his philosophy, his thought had a positive impact not only on German but also on French Enlightenment philosophy. For Cassirer, in order to be able “to grasp the entire intellectual structure of the eighteenth century”, one must consider how the two distinct forms of thought, analysis and synthesis (originating in Leibniz), are “integrated” in Enlightenment philosophy.216 It is certainly true that aspects of LeibnizQs philosophy were immensely influential in eighteenth-century thought, even in philosophers who would otherwise be very critical of his metaphysics. Examples that Cassirer does not mention at all or only in passing include Charles Bonnet and Thomas Reid, who engages with LeibnizQs philosophy as late as 1785.217 Further, there can be no doubt that both Wolff and Baumgarten were inspired by Leibniz, as Cassirer states. Is eighteenthCassirer, Enlightenment (see note 1), 27 – 36; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 36 – 47. Cassirer, Enlightenment, 28; Cassirer, Aufklärung, 36. 214 Ibid. – Cassirer, Enlightenment, 35; Cassirer, Aufklärung, 46. 215 Cassirer, Enlightenment, 32; Cassirer, Aufklärung, 41. 216 Cassirer, Enlightenment, 35; Cassirer, Aufklärung, 46. 217 For Bonnet, see, for example, Olivier Rieppel, The Reception of LeibnizQs Philosophy in the Writings of Charles Bonnet (1720 – 1793), in: Journal of the History of Biology 21 (1988), 119 – 145. Cassirer mentions Bonnet without, however, discussing any of his views (Cassirer, Enlightenment, 125; Cassirer, Aufklärung, 167). For Reid, see Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man (1785), ed. by Derek R. Brookes, with an Introduction by Knud Haakonssen, University Park, PA 2002. Chapter 15 of the second Essay is entitled “Account of the System of Leibnitz” (187 – 193). 212

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century philosophy simply identical with Enlightenment philosophy, however? Cassirer seems to think so, but this is a problematic assumption to make. Cassirer himself discusses several eighteenth-century critiques of Enlightenment thought and notes that Wolff, for example, “tried his hardest to retain” the old esprit de systHme.218 It would make more sense, then, even from CassirerQs own perspective, to view Enlightenment philosophy as a powerful movement within eighteenthcentury philosophy, and not to equate the two.219 And there seems to be no straightforward answer to the question of LeibnizQs place in Enlightenment philosophy. In light of the fierce critique levelled at Leibniz, especially, but not only by French Enlightenment philosophers, the claim that he was an essentially positive influence on the Enlightenment side of eighteenth-century philosophy is questionable. As LeibnizQs monadology involves the view that reality is made up of immaterial, soul-like substances (a central aspect of LeibnizQs view Cassirer does not seem to mention), his philosophy is an unlikely positive inspiration for Enlightenment views on metaphysics.220 However, other aspects of LeibnizQs thought continued to be influential and did inspire Enlightenment thought.221 The notion of apperception, for example, coined by Leibniz, was adopted (and modified) by major Enlightenment thinkers such as Johann Nikolaus Tetens and played an important role in German Enlightenment debates about psychology in the second half of the century. Yet, CassirerQs main thesis, namely that the very notion of “philosophical synthesis” he considers central to Enlightenment philosophy “originates in Leibniz”, is doubtful.222 For the idea of synthesis is part of the esprit syst8matique, as described by Cassirer himself in the first section of the chapter on the Denkform of the Enlightenment, without appealing to Leibniz. As Cassirer notes in that section, in Enlightenment thought reasonQs “most important function consists in its Cassirer, Enlightenment, ix; Cassirer, Aufklärung, xf. Similarly, Panajotis Kondylis distinguishes between the “age” and the Enlightenment as a phenomenon that belongs to the age. See Kondylis, Die Aufklärung (see note 8), 22 f. 220 However, as (non-mechanistic) materialists view matter as inherently active, they may see common ground with LeibnizQs conception of monads. Falk Wunderlich has pointed this out, arguing that Michael HißmannQs non-mechanistic materialism has more in common with a Leibnizian “power-based monadology than with dualist ontologies”. See Falk Wunderlich, Christoph MeinersQs Empiricist “Revision” of Philosophy and Michael HißmannQs Anti-Speculative Materialism, in: Karin de Boer, Tinca Prunea-Bretonnet (eds.), The Experiential Turn in EighteenthCentury German Philosophy, New York, London 2021, 119 – 137, at 131 f. 221 Jonathan Israel makes use of his distinction between a “radical” and a “moderate” Enlightenment in order to place Leibniz. For Israel, Leibniz was “the foremost and most resolute of all the antagonists” of the radical Enlightenment, but a “pre-eminent architect of the mainstream, moderate Enlightenment” (Israel, Radical Enlightenment [see note 127], 502). 222 Cassirer, Enlightenment (see note 1), 35; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 46: “sich in Leibniz anbahnt”. 218 219

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power to bind and to dissolve”.223 And so, when dealing with Enlightenment treatments of the soul as an example, Cassirer points out that, while the mental was seen as a fleeting multiplicity of different mental contents, it was viewed as “the task of science” to search for unities behind the given multiplicity.224 Cassirer emphasizes here that the rationalistsQ demand for unity is retained in the EnlightenmentQs esprit syst8matique, if in a modified way. As Cassirer states, “the function of unification continues to be recognized as the basic role of reason”.225 It seems, then, that by CassirerQs own lights, LeibnizQs monadology was not even needed to inspire a demand for synthesis in Enlightenment philosophy, and that he overstates LeibnizQs importance to the development of the specifics of Enlightenment philosophy.

VII.4. Materialism Moving from questions about individual thinkers to thematic issues, materialist positions in particular are typically associated with Enlightenment thought, rather than with eighteenth-century philosophy in general. Cassirer deals with materialist theories quite extensively, but focuses exclusively on well-known French materialists, such as Lamettrie, dQHolbach and Diderot.226 As noted above, he does not mention Joseph Priestley, nor does he discuss any of his followers (such as Thomas Cooper in England and Michael Hißmann in Germany), let alone other, lesser-known materialist philosophers.227 Nor does he discuss thinkers (such as David Hartley) who reject a materialist metaphysics but whose accounts of the workings of the mind nevertheless tend towards materialism. More importantly, in spite of his fairly detailed survey of materialism, Cassirer claims that materialism was “an isolated phenomenon of no characteristic significance”.228 He argues that materialism is neither essential to, nor representative of Enlightenment philosophical thought and that only a few extreme thinkers were committed to it, pointing out that major Enlightenment thinkers, such as Voltaire, criticized materialism as present in dQHolbach, for example.229 CassirerQs critics, however, maintain that his “general deprecation of mechanism and materialism is not Cassirer, Enlightenment, 13; Cassirer, Aufklärung, 16. Cassirer, Enlightenment, 16 – 17; Cassirer, Aufklärung, 20. 225 Cassirer, Enlightenment, 23; Cassirer, Aufklärung, 29: “Die Funktion der Vereinheitlichung also solche bleibt als Grundfunktion der Vernunft anerkannt”. 226 Cassirer, Enlightenment, 66 – 73; Cassirer, Aufklärung, 87 – 98. 227 Cassirer mentions Anthony Collins, but refers only to his Discourse of Freethinking, not to his materialist commitments (Cassirer, Enlightenment, 178; Cassirer, Aufklärung, 238). 228 Cassirer, Enlightenment, 55; Cassirer, Aufklärung, 73: “eine vereinzelte Erscheinung, der keineswegs typische Bedeutung vorkommt”. 229 Cassirer, Enlightenment, 72; Cassirer, Aufklärung, 96. 223

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warranted” and that his position is “one-sided”, blaming his “idealism” for his dismissive comments on eighteenth-century materialism. The view is that, pace Cassirer, “in fact, the materialist/mechanist strain of Enlightenment thought predominated in the eighteenth century”.230 This critique itself does not seem to be warranted, however. It is true, rather, that there were very few Enlightenment philosophers who openly committed themselves to a materialist metaphysics and who produced arguments for their position (rather than merely stating materialism as a dogma).231 Most Enlightenment philosophers, both well-known and lesser-known (Tetens, Rousseau, Voltaire, Hutcheson, Shaftesbury, Locke, Maupertuis, Lessing, Condillac, to name just a few), did not commit themselves to materialism, and some of them went to great lengths in their attempts to refute it. While materialism was talked about a lot by anti-materialists, only a minority was committed to materialism and tried to defend it with arguments. In short, Cassirer is quite right when he says that materialism is not characteristic of Enlightenment philosophy in general. As mentioned, he does not deny that there is a materialist strand of thought within Enlightenment philosophy, and so implicitly it seems Cassirer acknowledges the existence of a RradicalQ Enlightenment (without using that label), as opposed to the main-stream non- or anti-materialist (RmoderateQ) strand of Enlightenment thought. This is very different of course from Jonathan IsraelQs above-mentioned explicit distinction between moderate and radical strands of Enlightenment thought and his focus on Spinozism.

VII.5. Reason and Religion Closely connected to the issue of materialism is that of the relation between reason and religion in Enlightenment philosophy. John Robertson has argued that once Enlightenment scholarship had left the Cassirer-inspired focus on philosophy behind, it “became clearer that the relation between Enlightenment thought and religion was not simply adversarial” and that unbelievers such as Hume and dQHol230 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 352. Compare also Kondylis, Die Aufklärung (see note 8), 211. For a detailed analysis of the initial link between mechanism and materialism and the “gradual separation” of the former from the latter in eighteenth-century German philosophy, see Paola Rumore, Mechanism and Materialism in Early Modern German Philosophy, in: British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016), 917 – 939. 231 See Udo Thiel, Hißmann und der Materialismus, in: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (eds.), Michael Hißmann (1752 – 1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung, Berlin 2013, 25 – 42. For a recent assessment of early modern materialism more generally, see Falk Wunderlich, Patricia Springborg (eds.), Varieties of Early Modern Materialism (= British Journal for the History of Philosophy 24/5 [2016]).

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bach were “a small minority”.232 While the latter claim is true, it is Cassirer himself who emphasizes that, although thinkers such as dQHolbach rejected religion, it is “doubtful” that “we can consider the Enlightenment as an age basically irreligious and inimical to religion”.233 Cassirer sets out to refute the “traditional” view, according to which “a critical and skeptical attitude toward religion”, is a “fundamental feature” of Enlightenment thought.234 According to Cassirer, while the Enlightenment demands a renewal of religion, it remains true that in Enlightenment thought “all intellectual problems are fused with religious problems and that the former find their constant and deepest inspiration in the latter”.235 If post-Cassirer there was a widespread view that the relation between Enlightenment thought and religion was “simply adversarial”, this was so not because, but in spite of Cassirer who argued against precisely that view.

VII.6. Reason and Sentiment Similarly, CassirerQs view of the role of sentiment as opposed to that of reason in Enlightenment thought has come under attack. John Robertson says that the view that the Enlightenment was the Rage of reasonQ “has long since been abandoned by historians of philosophy”. It has been realized, he points out, that many Enlightenment philosophers emphasized the senses and passions instead of reason. “If anything, it is now suggested, Kant was attempting to rehabilitate the concept of reason in response to the criticism to which it had been subjected by other Enlightenment philosophers”.236 Given his argument that the Enlightenment discovered the “autonomy of reason” and “firmly established this concept in all fields of knowledge”,237 it seems that Cassirer would be a representative of that old view that “has long since been abandoned”. Back in the 1970s Peter Bürger criticized Cassirer directly for (allegedly) not dealing at all with the “problem” of the relationship between reason and sentiment in Enlightenment thought. According to Bürger, Cassirer failed in this regard largely because he read the Enlightenment John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 15. Cassirer, Enlightenment (see note 1), 135; Cassirer, Aufklärung (see note 1), 180: “unzulänglich und fragwürdig”. 234 Cassirer, Enlightenment, 134; Cassirer, Aufklärung, 178. 235 Cassirer, Enlightenment, 136; Cassirer, Aufklärung, 181. 236 John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 14. As recently as 2020, however, Ritchie Robertson has claimed the view that the Enlightenment was as an Rage of reasonQ is still one of the problematic “current notions” about the Enlightenment (Ritchie Robertson, The Enlightenment (see note 15), xvii, 38). 237 Cassirer, Enlightenment, xi; Cassirer, Aufklärung, xiii. 232

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from the perspective of KantQs philosophy.238 In fact, however, there are several contexts in which Cassirer reflects on the role of sentiment or feeling in Enlightenment philosophy. Unlike Bürger, Cassirer does not view the eighteenth-century notion of sentiment as “ideological”.239 Rather, Cassirer, writing a history of philosophical thought, focuses on the role of sentiment in eighteenth-century accounts of knowledge, psychology and aesthetics. His discussion includes DubosQs Reflexions critiques, which is also BürgerQs source,240 arguing that for Dubos “imagination and feeling” are no longer mental forces alongside the “forces of reason” but “real fundamental forces”.241 While Bürger deals only with Dubos, Cassirer discusses the notion of sentiment or feeling in a number of authors and contexts, witness his discussions of Hume and Maupertuis.242 Most importantly perhaps Cassirer discusses the crucial role that the notion of feeling plays in Johann Nikolaus Tetens, arguing that TetensQs “most original contribution to the doctrine of the Rfaculties of the soulQ” has to do with his distinction between feeling and sense perception.243 In short, Bürger mistakenly infers from CassirerQs Kantian perspective that he is not able to take seriously and so ignores the notion of sentiment and its role in Enlightenment thought. The failure is clearly BürgerQs, not CassirerQs. As Kant-scholarship has shown, BürgerQs remarks display a misconception not only of Cassirer but also of Kant.

VII.7. The Eighteenth-Century Meta-Debate The twentieth-century notion of an Enlightenment RprojectQ beckons. Before turning to that topic, however, we need to look briefly at what seems to be a serious as well as a surprising lacuna in CassirerQs book. This is the debate about the Enlightenment that took place in Germany in the 1780s and -90s, a debate about the nature, limits, dangers and advantages of Enlightenment, an Enlightenment debate that had the Enlightenment itself as its object. It took place especially (but not only) in the Berlinische Monatsschrift, with KantQs 1784 essay Was ist Aufklärung? as its most famous contribution.244 There are two brief references to 238

95.

Peter Bürger, Studien zur französischen Frühaufklärung, Frankfurt am Main 1972, 95 – 98, at

Ibid., 97. For Bürger, the role of sentiment in Enlightenment thought has to do with “the emerging bourgeoisie” who “required a highest value through which it could glorify itself” (ibid.). 240 Cassirer, Enlightenment, 302 – 304; 322 – 326. – Cassirer, Aufklärung, 405 – 407, 432 – 436. 241 Cassirer, Enlightenment, 303; Cassirer, Aufklärung, 405. 242 Cassirer, Enlightenment, 304 f.; Cassirer, Aufklärung, 407 f. – Cassirer, Enlightenment, 149 f.; Cassirer, Aufklärung, 198 – 200. 243 Cassirer, Enlightenment, 125 f.; Cassirer, Aufklärung, 167 f. 244 There are several modern editions of the contributions to this debate. James Schmidt has made 239

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KantQs essay in CassirerQs book,245 but there is no mention at all of other contributions or even of the fact that this debate took place. If Cassirer intended to present German philosophy as dominating Enlightenment thought, as some critics have claimed, why would he not even hint at one of the most important German contributions? This lacuna is surprising, however, not because the debate took place in Germany, but because of its inherent importance and, moreover, because Cassirer himself emphasizes that it is an essential characteristic of the Enlightenment that it reflects on itself and its own activity. “For this age”, writes Cassirer, “knowledge of its own activity, intellectual self-examination, and foresight are the proper function and essential task of thought”.246 There could be hardly more decisive evidence for the “intellectual self-examination” (geistige Selbstbesinnung) of Enlightenment thought than the reflections on the Enlightenment by Enlightenment thinkers in the Berlinische Monatsschrift and elsewhere. Also, this meta-debate of the 1780s and -90s can serve as another reminder that, unlike labels such as RRationalismQ and REmpiricismQ, REnlightenmentQ was not invented by later historians of ideas or philosophy but was used by eighteenth-century thinkers themselves to describe an intellectual movement of their time. Their second order enquiries assumed a first order type of thinking they accounted for in terms of REnlightenmentQ. VIII. Cassirer and the REnlightenment ProjectQ Cassirer does not use the notion of a project of the Enlightenment and, of course, had never even heard of it. The idea of a single Enlightenment RprojectQ was introduced in the second half of the twentieth century, mostly, as James Schmidt has shown, by critics of the Enlightenment. Practices or ideals seen as problematic, such as RindividualismQ, RatomismQ, Rrights talkQ etc. were projected back onto the eighteenth century and then criticized, mostly without much study of the eighteenth-century material itself.247 In sum, the idea of an Enlightenment RprojectQ was introduced as the notion of “a set of intentions, [said to be] originating in the eighteenth century, that still work mischief two centuries later”.248

seventeen of them available to the anglophone world: Schmidt (ed.), What is Enlightenment? (see note 204). The collection is valuable also for SchmidtQs insightful introduction and the twentiethcentury articles and commentaries that are included. 245 Cassirer, Enlightenment (see note 1), xi: Cassirer, Aufklärung (see note 1), xiv. – Cassirer, Enlightenment, 163 f.; Cassirer, Aufklärung, 217 f. 246 Cassirer, Enlightenment, 4; Cassirer, Aufklärung, 3. 247 James Schmidt, What Enlightenment Project?, in: Political Theory 28 (2000), 734 – 757. 248 Ibid., 736.

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Possibly, however, the RprojectQ idea does not have to be conceived in such a negative way and can be based on eighteenth-century sources. Further, while the notion of an Enlightenment project relates mostly to social ideas and practices and so may seem to lie beyond the confines of philosophical argumentation with which CassirerQs book is concerned, it can still make sense to relate CassirerQs study of the historical Enlightenment to the project-idea if the latter is based on a scholarly account of actual eighteenth-century thought. Perhaps even CassirerQs very ascription of unity to Enlightenment philosophy involves the idea of some single RprojectQ. The two (unity-view and project-idea) would seem to be connected in some way at least, as without unity there could not be a single project. If the Enlightenment were nothing but an eclectic plurality of RdiscoursesQ with no common core, then the notion of a single Enlightenment project would make little sense. Yet the unity-view does not necessarily bring along the idea of a single doctrinaire project. Even if we assume the unity-view, it does not follow that we have to subscribe to the idea of only one Enlightenment project. It should be possible to speak of RtheQ Enlightenment in the singular, while acknowledging a plurality of discourses, projects or programs.249 In fact, since SchmidtQs critique some historians, well aware of the diversity and plurality of Enlightenment thought, have adopted the idea of a project or projects of the Enlightenment in a positive way. Here, the project-idea is grounded in detailed historical research and analysis, and not in those present-day projections that James Schmidt discussed. John Robertson, for example, referring to a “commitment to understanding, and hence to advancing, the causes and conditions of human betterment in this world”, can be seen as arguing for a project that the Enlightenment pursued. This applies also to his idea that one aspect of this commitment was that “the Enlightenment was committed to understanding, that is to analysis on the basis of good argument, leading to reasoned conclusions”.250 While Robertson does not relate his interpretation to Cassirer, other scholars have directly invoked CassirerQs view of the Enlightenment when discussing the project idea. Thus, in his emphatic defense of CassirerQs account, Robert Wokler argues that the latter “does indeed encapsulate the Enlightenment Project”, that is, “with respect to the avowed ideals and objectives of the eighteenth-century republic of letters itself”. According to Wokler, Cassirer saw the Enlightenment “as comprising an interconnected set of philosophies which sought not only to interpret the

249 James Schmidt seems to favor the Pocockian view of many Enlightenments but acknowledges that one may speak of RtheQ Enlightenment as long as one accepts that within this one movement a number of projects were being pursued (ibid., 737). 250 John Robertson, The Case for the Enlightenment (see note 76), 28.

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world but to change it”.251 In fact, Wokler sees Cassirer himself as endorsing an Enlightenment project: The whole work is couched in the language of engagement, critique, commitment and the practical fulfilment of ideals […] Like Voltaire […] Cassirer was convinced that it is sufficient to reveal such an ideal [of freedom] in its true form to ensure that all the forces necessary for its realization will be mobilized.252

More specifically, Wokler says, if we are looking to identify “just one guiding thread” of an eighteenth-century Enlightenment project, “it can only be the principle of religious toleration, which united Spinoza, Bayle, Locke, Montesquieu, Voltaire, Diderot, Rousseau and philosophes of almost every persuasion in common cause against religious bigotry”.253 He holds that, unfortunately, Enlightenment studies have abandoned Cassirer in favor of a view of the Enlightenment as expressed in Carl BeckerQs The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers, also published in 1932 – a book that Johnson Kent Wright has identified as a precursor to postmodern critiques of the Enlightenment.254 For all his critical comments on Cassirer, Bruce Mazlish, too, claims that it was Cassirer “who first brought serious attention to the Enlightenment Project”.255 “Cassirer reminds us”, he notes, that it “is only with the Enlightenment” that a process began “by which reason emerges empirically and becomes comprehensible to itself”. For Mazlish, this “coming to self-knowledge” is “the true so-called Project of the Enlightenment”.256 CassirerQs “central vision concerning the Enlightenment”, is that “its project is one of reasonQs self-realization”. It is important, MazlishQs holds, that we do not lose sight of this in our contemporary concerns with institutional settings, the trade in books etc. “In such a context, CassirerQs vision is still a needed one”.257 In sum, there is a variety of inter-related commitments, programs or RprojectsQ that historians, with good reason, tend to ascribe to the Enlightenment. Most of these ideas of a project or projects, described here only in very brief and general terms, are at least compatible with CassirerQs understanding of the Enlightenment. Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 337, 338. Ibid., 339. 253 Ibid., 342. For a defense of this claim, see Robert Wokler, Multiculturalism and Ethnic Cleansing in the Enlightenment, in: O. P. Grell, R. Porter (eds.), Toleration in Enlightenment Europe, Cambridge 2000, 69 – 85. 254 Wokler, CassirerQs Enlightenment (see note 4), 335 f. Carl Becker, The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers, New Haven 1932. For BeckerQs “anticipations of the postmodernist critique of the Enlightenment”, see Johnson Kent Wright, The Pre-postmodernism of Carl Becker, in: Historical Reflections 25/2 (1999), 1 – 19. 255 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 355. 256 Ibid., 351. 257 Ibid., 354. 251

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Unlike Wokler, Cassirer may not view the idea of religious toleration as the “guiding thread” but only as one, if very important aspect of Enlightenment thought. WoklerQs emphasis on the notions of critique and change, however, is very much in line with Cassirer, as is RobertsonQs emphasis on analysis and on human betterment in this world. MazlishQs notion of “reasonQs self-realization”, however, most closely connects with Cassirer, according to whom the Enlightenment “discovered and passionately defended the autonomy of reason” and “firmly established this concept in all fields of knowledge”.258 This is the RprojectQ that Cassirer believes has continuing relevance in his own day. He says as much in an oft-quoted passage from the Preface. While there can be no “simple return”, i. e. no return without critical examination, to the “questions and answers of the philosophy of the Enlightenment”,259 he emphasizes that, as in the Enlightenment, “philosophical reorientation and self-criticism” should be the order of his own day: More than ever before, it seems to me, the time is again ripe for applying such self-criticism to the present age, for holding up to it that bright clear mirror fashioned by the Enlightenment.260

While our circumstances, both philosophically and otherwise, have changed dramatically since Cassirer wrote this, there seems to be no reason to abandon the kind of Enlightenment project we can glean from his work. IX. Conclusion It is plain, however, that scholarship in Enlightenment philosophy has come a long way since CassirerQs book was first published in 1932, quite independently even of the socio-historical approach that has been so popular in recent decades. More comprehensive accounts have been given in huge multi-authored handbooks and reference works that concern themselves with eighteenth-century philosophy in general and with Enlightenment philosophy more specifically.261 Aspects that Cassirer left out or neglected have taken center stage, for example Scottish Com258 Cassirer, Enlightenment (see note 1), xi; Cassirer, Aufklärung (see note 1), xiii: “auf allen Gebieten des geistigen Seins zur Geltung und Anerkennung gebracht hat”. 259 Cassirer, Enlightenment xi ; Cassirer, Aufklärung, xiii. For “Daß es […] für uns kein einfaches Zurück […] geben kann” the English translation has “it is no longer possible to return”. 260 Cassirer, Enlightenment, xi f.; Cassirer, Aufklärung, xiii f.: “Mehr als jemals zuvor scheint es mir wieder an der Zeit zu sein, daß unsere Gegenwart eine solche Selbstkritik an sich vollzieht, – daß sie sich wieder den hellen und klaren Spiegel vorhält, den die Aufklärungsepoche geschaffen hat.” 261 See, for example, Knud Haakonssen (ed.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Cambridge 2006; Aaron Garrett, James Schmidt (eds.), The Oxford Handbook of Enlightenment Philosophy, Oxford (forthcoming).

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mon Sense philosophy, with thinkers such as Thomas Reid and Dugald Stewart, and issues to do with the gender question and the role of women in eighteenth-century philosophy.262 As regards research on major individual philosophers, several details of CassirerQs interpretations may not stand up to scrutiny, as we saw is the case with his reading of Hume on the standard of taste. The role Cassirer ascribes to Leibniz and the place he assigns Kant are problematic, as we noted. And yet, in terms of single-authored studies of the philosophical thought of the period, CassirerQs book still has no serious rival.263 Apart from both making apparent that there was an identifiable philosophy of a European Enlightenment and providing a succinct, spirited narrative of the variety and richness of Enlightenment philosophical thought, the book dispels myths about Enlightenment philosophy some of which still seem to be around today (such as its alleged intellectualist, anti-religious, and unhistorical stances). Moreover, while aiming at an “impartial study and appraisal of Enlightenment philosophy”,264 CassirerQs emphasis on self-examination and critique, understood as a creative activity, gives Enlightenment philosophy that lebendige Aktualität that accounts based on external RsystematicQ standpoints merely demand. Not least, in covering an impressive range of areas and questions, CassirerQs work provides invaluable material not only on major thinkers, but also on little-known philosophers whom scholars have started only recently to study more comprehensively and seriously (Tetens, Lossius, Meier, for example). Thus, although skepticism is in order about some aspects of CassirerQs approach, such as his idealist assumption about the “unfolding” of a “homogeneous formative power” that drove the philosophy of the Enlightenment,265 his work remains one of the most important studies of Enlightenment philosophical thought. In short, while CassirerQs work should certainly not be the only book we read about Enlightenment philosophy, it should very probably be the first, and if we were to read only one book on the topic, it should definitely be Ernst CassirerQs masterpiece, Die Philosophie der Aufklärung.266 262 Mazlish, CassirerQs Enlightenment (see note 66), 350. See Isabel Karremann, Gideon Stiening (eds.), Die feministische Aufklärung in Europa / The Feminist Enlightenment across Europe [= Aufklärung 32], Hamburg 2020. See also Jacqueline Broad (ed.), Women Philosophers of Eighteenth-Century England. Selected Correspondence, Oxford 2020; Corey W. Dyck (ed.), Women and Philosophy in Eighteenth-Century Germany, Oxford 2021. 263 Potential rivals include Panajotis KondylisQs monumental Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus of 1981 (see note 8), to cite just one prominent candidate from the German context. However, while Kondylis includes a wealth of detail on various philosophical positions, his approach is that of a general intellectual history, rather than that of a history of philosophy, as he himself emphasizes repeatedly (“geistesgeschichtliche Betrachtung”, 36; “allgemeine Geistesgeschichte”, 637). 264 Cassirer, Enlightenment (see note 1), x; Cassirer, Aufklärung (see note 1), xiii. 265 Cassirer, Enlightenment, 5; Cassirer, Aufklärung, 4 f. 266 I thank Gideon Stiening for his comments on an earlier draft of this essay. Also, I have

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Dieser Beitrag analysiert und würdigt Ernst Cassirers Klassiker Die Philosophie der Aufklärung aus dem Jahre 1932. Er legt den Schwerpunkt auf die Frage, wie Cassirers Buch als historische Studie der Aufklärung zu bewerten ist. Missversteht Cassirer wesentliche Elemente, ignoriert oder verkennt er wesentliche Aspekte, zentrale Denker? Nach einleitenden Bemerkungen zu den Zielen, die Cassirer mit seinem Buch verfolgt, beleuchtet der Beitrag zunächst methodologische Fragen. Wie verhält sich Cassirers Analyse zu problemgeschichtlichen Ansätzen, und wie ist die häufig aus der Perspektive der Sozialgeschichte der Ideen vorgebrachte Kritik an Cassirer zu bewerten? Im Zentrum des Beitrags steht ein Thema, das in der Aufklärungsforschung auch gegenwärtig lebhaft diskutiert wird, die Frage nach der Einheit der Aufklärung. Hierzu gehört die Frage, ob es ,dieR Aufklärung überhaupt gegeben habe. Das Einheits-Thema führt zu den idealistischen Elementen in Cassirers Darstellung und zu der Frage nach der Rolle, die Kant und/oder Hegel in seiner Behandlung der Aufklärung spielen. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht hierzu wird argumentiert, dass die Bedeutung Hegels für Cassirers Darstellung eher gering einzuschätzen ist. Anschließend werden eine Reihe von Detailfragen behandelt, beispielsweise die Rolle, die Cassirer Leibniz für die Entwicklung der Aufklärungsphilosophie zuschreibt, Cassirers angebliche Parteilichkeit für die deutsche Philosophie, die Themen Vernunft-Religion und Vernunft-Gefühl in seiner Darstellung und die Frage, ob seine Abhandlung signifikante Lücken enthält. Der Beitrag schließt nach Ausführungen zu Cassirer und dem erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts formulierten Gedanken eines ,ProjektsR der Aufklärung mit einer kritischen Würdigung. This essay analyzes and critically evaluates Ernst CassirerQs classic Die Philosophie der Aufklärung of 1932. The focus is on the question of how CassirerQs work fares as a historical study of the Enlightenment. Is his analysis detailed, accurate, comprehensive enough, or does he misconstrue the Enlightenment, misunderstand its nature, misinterpret important texts, leave out essential aspects, major thinkers etc.? After introductory remarks on CassirerQs aims, the essay looks at methodological issues: How does CassirerQs analysis relate to the approach via Problemgeschichte, and what are we to make of the critique levelled at Cassirer from the perspective of the social history of ideas? The central theme of the essay concerns issues that are much debated even today, the unity of the Enlightenment and the question: did RtheQ Enlightenment even exist? This leads to idealist aspects of CassirerQs analysis and the role that Kant and/or Hegel play in his account. In contrast to a widespread view, it is argued here that HegelQs significance is minimal in this regard. Following on from this, the essay deals with a number of specific issues, such as the role that Cassirer ascribes to Leibniz in the development of Enlightenment thought, the claim that CassirerQs account is biased towards German philosophy, his treatment of reason vs religion and of reason vs sentiment, and the question of lacunae in his account. Finally, the

benefitted greatly from the meetings of the Cassirer Group at the University of Vienna in 2019 – 2020. I thank the participants, and especially Thomas Assinger and Thomas Wallnig, for their contributions to our discussions of CassirerQs book. See Thomas Assinger, Christian Zolles, Some Remarks on Ernst CassirerQs The Philosophy of the Enlightenment (1932), in: Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts 38 (forthcoming 2023).

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essay examines how CassirerQs study relates to the present-day notion of an Enlightenment RProjectQ, and it provides a critical evaluation. Univ.-Prof. i.R. Dr. Udo Thiel, Institut für Philosophie, Karl-Franzens-Universität Graz, Heinrichstr. 33/EG, 8010 Graz, Austria. Email: [email protected]

Annette Meyer Die Gegenwartsaufgaben der Aufklärung: Karl Mannheim und seine Schüler

I. Problemstellung Die Erforschung der Erforschung der Aufklärung hat Konjunktur. Gleich mehrere Initiativen tummeln sich derzeit auf dem Parkett der Ideengeschichte und verhandeln das Erbe der Aufklärung neu. Der Rauch der Debatten um die Aufklärung hat sich scheinbar verzogen und die Historisierung der Konfliktlinien steht an.1 Die Auseinandersetzung darüber, ob die Aufklärung als Ursünde oder als fortwährendes Versprechen der Moderne gelten kann, hat anderen Fragen Platz gemacht. Aktuell wird vielmehr diskutiert, ob die in der postmodernen Philosophie vorherrschende Aufklärungskritik nicht dazu beigetragen habe, den Wahrheitsanspruch und die Deutungshoheit der Wissenschaften ebenso wie einen universellen Wertekanon zur Disposition gestellt und damit der Orientierungslosigkeit der heutigen Gesellschaft Vorschub geleistet zu haben.2 Die umkämpfte Moderne selbst ist Geschichte, wird nicht mehr als prae, post oder Latenzzeit der eigenen Epoche wahrgenommen; das Bedürfnis nach Abgrenzung oder Annäherung zum aufgeklärten Denken ist dem Interesse an der Aufklärungsforschung selbst, als spezifischem Phänomen der Moderne samt ihrer Verästelungen und Filiationen, gewichen. Der Blick auf die Aufklärung wird damit zunehmend historiographischer, wobei die Geschichte Ihrer Erforschung immer mehr ist, als bloße Historiographiegeschichte. Kaum ein Autor, eine Autorin, die sich mit der Epoche beschäf1 Zu nennen ist neben vorliegender Initiative etwa die Tagung „Inventions of Enlightenment – Invention des LumiHres“, organisiert von Elisabeth D8cultot (Halle) und Nicolas Cronk (Oxford) im Oktober/November 2021, die Tagung „The Heritage of Humanism and Enlightenment in Exile Literature“, organisiert von Margit Dirscherl (München), Ritchie Robertson (Oxford), Arturo Larcati (Stefan Zweig Zentrum, Salzburg), Tom Kuhn (Oxford) im März 2022. 2 Ein verstärkter Rekurs auf die Aufklärung bzw. die Identifikation der Aufklärungskritik als Ausgangspunkt für politische Orientierungslosigkeit im Postmodernismus wurde zuletzt hervorgehoben bei Susan Neiman, Links ist nicht woke, Berlin 2023 oder Adam Sobocynski, Traumland. Der Westen der Osten und ich, Stuttgart 2023; in diesem Sinne auch Philipp Blom, Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung, Wien 2023.

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tigte, hat dies je in rein historiographischer Absicht getan. Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Bezeichnung ,AufklärungR unter den klassischen Epochenbeschreibungen eine Sonderrolle einnimmt, wurde sie doch nicht als Heuristik von Historikern und Historikerinnen ersonnen, datiert aus der Zeit selbst, erfasst keine kunst/historische Periode (Barock, Historismus, Romantik) oder philosophische Schule (Idealismus, Common Sense), sondern einen unabgeschlossenen Vorgang. Dieser Wortgebrauch ist nur mit späteren historiographischen und soziologischen Kategorien zu Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse (Zivilisation, Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung) vergleichbar. Die Beschäftigung mit der Aufklärung erfordert mithin immer eine Stellungnahme, auf welche Weise das Phänomen erfasst werden soll: als historisches Ereignis, als politisches Programm, als philosophisches Projekt. Zudem verweist die Licht-ins-Dunkel-Metapher der Bewegung auch immer auf den Charakter einer „Kampagne zur Veränderung des Bewusstseins“;3 sie transportiert den Anspruch auf Verbesserung, auf Fortschritt, den die Aufklärung von Anbeginn mit sich trug und der es immer notwendig werden lässt, das Dunkle, Unaufgeklärte, BeharrendKonservative mit dem Aufklärungsbegriff mitzudenken. Aufklärung ist daher immer auch Parteinahme und die Beschäftigung mit ihr im weitesten Sinne Parteienforschung. Starkes Interesse weckt die Aufklärung entsprechend in Zeiten, die es erfordern, Entwicklungen resp. Fehlentwicklungen der eigenen Gesellschaft zu analysieren bzw. die Radikalisierung geistesgeschichtlicher Strömungen nachzuzeichnen, die einen solchen Prozess befördert haben könnten. Es überrascht daher wenig, dass die Nachkriegsdekaden als Hochzeit der Aufklärungsforschung gelten und gleich eine ganze Reihe von Studien zu verzeichnen ist, die sich mit der Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland (Fritz Valjavec 1951), der Pathogenese der bürgerlichen Welt (Koselleck 1959), dem Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1962), The Genesis of German Conservatism (Klaus Epstein 1966), The Rise of Modern Paganism (Peter Gay 1966) beschäftigten. Insbesondere die Arbeiten von Habermas, Gay und Epstein aus den 1960er Jahren legten Wert darauf, eine Ideengeschichte neuen Stils vorzulegen, die sich – anders als ältere Studien – aufs Panier geschrieben hatte, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren miteinzubeziehen und diese sogar als zentrales Movens geistesgeschichtlicher Entwicklungen zu identifizieren. So betonte Jürgen Habermas, dass sich sein Gegenstand „Öffentlichkeit“ als „Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ vor dem Blick einer einzelnen Disziplinen „auflöse“ und vielmehr „eine Integration soziologischer, ökonomischer, staatsrechtlicher, politologi3 So die Definition von Robert Darnton, George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?, München 1997, 5.

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scher, sozial- und ideengeschichtlicher Aspekte“ erfordere.4 In der Aufklärungsgeschichtsschreibung wird entsprechend auch in den 1960er Jahren eine Zäsur markiert, mit der – vergleichbar mit verschiedenen Disziplinen – auch die Erforschung der Aufklärung eine ,sozialwissenschaftliche WendeR erlebte. Der Habilitationsschrift von Jürgen Habermas wird neben ihrer Entdeckung einer neuen ,ÖffentlichkeitR auch für diesen Paradigmenwechsel besondere Bedeutung eingeräumt.5 Die direkte Reaktion auf die Publikation von Strukturwandel der Öffentlichkeit fiel insbesondere in der etablierten Geschichtswissenschaft überaus kritisch aus und die soziale Begründung geistesgeschichtlicher Strömungen wurde HabermasQ Affinität zum Marxismus zugeschrieben.6 Es waren aber keineswegs nur marxistisch inspirierte Autoren, die soziologische Aspekte für die Entstehung politischer Strömungen geltend machten. Auch der dem liberal-konservativen Lager zuzurechnende Historiker Klaus Epstein, der als Kind vor der Verfolgung der Nationalsozialisten in die USA geflohen und dort zu einem der Deutschlandexperten in der Geschichtswissenschaft avanciert war,7 wies mit Nachdruck auf die Notwendigkeit eines längst überfälligen Methodenwechsels hin.8 Gleichwohl 4 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 7. Aufl., Neuwied, Berlin 1975, 7. 5 Vgl. Ute Daniel, How bourgeois was the public sphere of the Eighteenth Century? Or: Why it is important to historicize Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Das achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), 9 – 17, vgl. zudem den Beitrag von Oliver Bach in diesem Band. 6 Während HabermasQ 1962 erschienene Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zur einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft international positive Resonanz fand, wurde in der Historischen Zeitschrift, die den amerikanischen „behavioral sciences“ entliehene sozialhistorische Methode bemängelt, die sich in HabermasQ marxistisches Denkschemata einfügen ließe: „Die eigentlich philosophischen Fragen werden ausgeklammert, und die Prinzipien der marxistischen Gesellschaftsanalyse werden unbesehen übernommen“; vgl. Helmut Kuhn, Buchbesprechung, in: Historische Zeitschrift 198 (1964), 94 – 96. 7 Klaus Werner Epstein (1927 – 1967) wurde 1953 in Harvard promoviert, seit 1963 war er Professor an der Brown University in Providence; 1967 kam er bei einem Autounfall bei einem Forschungsaufenthalt in Deutschland ums Leben. Epstein war an den zentralen Debatten seiner Zeit beteiligt und bezog in der Fischer-Kontroverse die Position Fritz Fischers; William Shirers Rise and Fall of the Third Reich (1960) bewertete er wiederum kritisch und wollte keine einfache Teleologie autoritärer Machtstrukturen in der deutschen Geschichte erkennen. Fritz Fischer beschreibt ihn in seinem Nachruf als einen Brückenbauer zwischen der amerikanischen und deutschen Geschichtswissenschaft, vgl. Fritz Fischer, Nachruf auf Klaus Epstein, in: Jahrbuch für Amerikastudien 13 (1968), 8 – 12. 8 „Während die politische Geschichte Deutschlands im späten achtzehnten Jahrhundert schon lange sehr genau erforscht ist, ist die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte leider immer noch ein weithin unerschlossenes Forschungsgebiet. Damit muß, zumindest teilweise, die Tatsache entschuldigt werden, daß die Verbindungslinien zwischen Sozial- und Geistesgeschichte oft nicht mit der wünschenswerten Klarheit gezogen werden konnten“; Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770 – 1806, Frankfurt am Main, Berlin 1973, 10.

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war das nicht die zentrale Stoßrichtung von Epsteins umfangreicher Arbeit, die sich vor allem im Kontext seiner weiteren Schriften abzeichnet; zielte sie doch auf folgende Fragen: Was ist das Spezifikum der deutschen Geschichte? Gab es einen geistesgeschichtlichen Sonderweg in Deutschland und musste dieser in die Katastrophe des 20. Jahrhunderts führen? Der Schlüssel zu diesen Fragen lag für Epstein im Wesen der bzw. im Umgang mit der Aufklärung. Sein Ansatzpunkt war folglich, diesen geistesgeschichtlichen Ursprungsort mit seinen soziopolitischen Konsequenzen aufzusuchen, um Entstehung und Charakter des für die preußisch-deutsche Geschichte so bedeutsamen deutschen Konservativismus zu erhellen. Der Konservativismus könne nur verstanden werden, wenn man ihn in seinen spezifischen historischen Bedingungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verortet; wie Epstein es formuliert, als „konservative Antwort auf die „progressive Herausforderung“ der Aufklärung, des Kapitalismus und des aufsteigenden Bürgertums.9 Mit dieser Fokussierung auf den Konservativismus oder Konservatismus begab sich Epstein wiederum in eine ebenso politisch breit aufgefächerte wie illustre Gesellschaft, die nur grob mit den Namen Carl Schmitt, Karl Mannheim, Armin Mohler, Reinhart Koselleck, Fritz Stern umrissen sei.10 Epstein behandelte seine Kombattanten im Feld des konservativen Denkens in einem bibliographischen Essay, den er seiner im ersten Band nahezu 800 Seiten langen Studie (der zweite Band konnte nach seinem frühen Tod nicht mehr erschienen) beifügte. Auch wenn Epstein nicht verhehlen wollte, „daß seine Sympathien am ehesten dem Standpunkt des Reformkonservativen gehören“,11 befand er den Umstand bemerkenswert, dass eine jüngere Studie, wie die des noch relativ unbekannten Historikers Reinhart Koselleck, in ihrer „tiefschürfenden Analyse der Entstehung der Aufklärung“ dieser „außerordentlich ablehnend gegenübersteht“.12 So waren es nicht die „brillanten Thesen“ eines Carl Schmitt, die Klaus Epstein inspirierten, sein Konzept widerstreitender und sich gegenseitig bedingender geistiger Strömungen in der Aufklärung zu entwickeln. In dezidierter Absetzung von konservativen Romantikbezügen bevorzugte Epstein Theoretiker, die soziologische, sozialhistorische und sozialpsychologische Kategorien für den Befund einer geiEbd., 11; in diesem Sinne auch Fischer, Nachruf (wie Anm. 7), 10. Für die Abgrenzung seiner Typologie des Konservativismus von der „Konservativen Revolution der Weimarer Republik“ nutzt Epstein eine elaborierte Fußnote, vgl. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus (wie Anm. 8), 24 f. Der rechtskonservative Hans-Joachim Schoeps fällte ein üblich kritisches Urteil über Epsteins Buch in seiner Hauspostille und resümierte: „Der Konservativismus hat es nicht verdient, die Spielwiese unhistorischer Geister, wie Mannheim, Neumann, Epstein, Mohler, Greiffenhagen, Grebing abzugeben“, vgl. ders., Buchbesprechung zu Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 26 (1974), 182 f. 11 Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus (wie Anm. 8), 11. 12 Ebd., 778. 9

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stesgeschichtlichen Spaltung in der Aufklärung bereitstellten.13 Orientierung im „unerforschten Gebiet der Sozialgeschichte Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert“ fand er in der „neueren Studie“ des Soziologen Hans Gerth, der ebenfalls in die USA emigriert war und seit 1947 an der University of Wisconsin unterrichtete. Epstein bezog sich damit auf Hans Gerths Dissertation Die sozialgeschichtliche Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Soziologie des Frühliberalismus, die dieser 1933 bei seinem Lehrer, dem Frankfurter Soziologieprofessor Karl Mannheim konzipiert hatte.14 Gerth zählte zum engsten Schülerkreis Mannheims und war diesem schon während der Studienzeit von Heidelberg nach Frankfurt gefolgt, wohin Mannheim 1930 als Nachfolger auf die erste, in Deutschland vergebene ordentliche Professur für Soziologie berufen worden war.15 Der Abschluss von Gerths Doktorarbeit fällt bereits in die Zeit, in der Karl Mannheim nicht mehr unterrichten durfte und zur Flucht ins Londoner Exil gezwungen war.16 Eine wissenschaftliche Karriere blieb allerdings auch Gerth aufgrund seiner politischen Publikationstätigkeit verwehrt; 1937 emigrierte er über England in die USA, wo er in den 1940er Jahren zu der zentralen Figur in der Vermittlung und Popularisierung der Schriften Max Webers, vor allem auch durch seine Übersetzungen, wurde.17 1971 kehrte Hans Gerth nach Deutschland zurück, wo er bis 1975 eine Professur für Soziologie Kaum ein Autor wird so knapp und so kritisch von Epstein behandelt wie Carl Schmitt, vgl. ebd., 775, Fn. 6. 14 Gerth konnte nur aufgrund eines Sonderantrags des Rektors promoviert werden und als seine Betreuer firmierten der Nachfolger Karl Mannheims, der Soziologe Heinz Marr (Sohn Wilhelm Marrs) und der Historiker Georg Küntzel. Vgl. Hans Gerth, Die sozialgeschichtliche Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, vorgelegt von Hans Gerth aus Kassel 1935. Tag der mündlichen Prüfung: 20. Dezember 1933. Vgl. dazu Ruth Meyer, Hans Gerth (24. 4. 1908 – 29. 12. 1978), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), 95 – 198. 15 1930 wurde Mannheim auf den Lehrstuhl für Soziologie und zum Direktor des Seminars für Soziologie an der Universität Frankfurt als Nachfolger Franz Oppenheimers berufen; vgl. Dirk Käsler, Mannheim, Karl, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), 67 – 69. 16 Nach einem kurzen Aufenthalt in London floh Gerth in die USA, wo er sich auf Anraten Mannheims an den, ebenfalls emigrierten, in Chicago lehrenden Stadtsoziologen Louis Wirth wendete. Vgl. David Kettler, The Liquidation of Exile. Studies in the Intellectual Emigration of the 1930s, London 2011, 127. 17 Nach einem holprigen Start in den USA, den er seiner „verspäteten“ und daher misstrauisch beäugten Emigration verdankte, legte er gemeinsam mit C. Wright Mills die ersten englischen Übersetzungen der Schriften Max Webers vor, auf die sich dann auch die ersten großen amerikanischen Weber-Spezialisten wie Talcott Parsons bezogen. Vgl. Guy Oakes, Arthur J. Vidich, Gerth, Mills, and Shils: The Origins of „From Max Weber“, in: International Journal of Politics, Culture, and Society 12 (1999), 399 – 433, hier 404 ff. 13

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in Frankfurt innehatte. Unter Studierenden und jungen Aufklärungsforschern der 1960er Jahre wurde seine maschinenschriftlich verfasste und hektografierte Dissertation als innovativste Interpretationsform der Aufklärung gehandelt und galt als starker Impuls für neue Formen der Annäherung an das 18. Jahrhundert.18 Klaus Epstein formulierte seine These von der Aufklärung als progressive Herausforderung für eine neuartige, konservative politische Positionierung in enger Anlehnung an Gerths Doktorvater Karl Mannheim: „Da Konservatismus in erster Linie eine Abwehrbewegung gegen die Bemühungen der Progressiven ist, die Welt zu verändern, versucht er natürlich die Schwächen seines Gegners bloßzulegen. Wogegen die Konservativen […] sind, ist leicht zu sagen. Vor allem wenden sie sich gegen Rationalismus und Utopismus, da Rationalität die Methode und säkulare Utopie das Ziel des Progressismus ist“.19 II. Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens Mit diesem Modell bezog sich Epstein auf Karl Mannheims Heidelberger Habilitationsschrift von 1925, in der dieser die erste systematische Untersuchung zum Konservatismus vorgelegt und eine grundlegende Theorie zu seiner Entstehung entwickelt hatte.20 Mit dem Anspruch dieser Schrift, sowohl dem eigenen Fach als auch der geistigen Situation der eigenen Zeit eine Diagnose zu stellen, war Mannheim schnell zu einem der meistdiskutierten Sozialwissenschaftler der 1920er Jahre geworden. Ein hochbeleumundetes Gremium um Emil Lederer, Alfred Weber und Carl Brinkmann hatte die Schrift „Altkonservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens“ überaus positiv begutachtet und entsprechend der Fakultät die Erteilung der Lehrerlaubnis empfohlen. Am Tag seiner Habilitation hielt Karl Mannheim seine Antrittsvorlesung „Zur gegenwärtigen Lage der Soziologie in Deutschland“.21 In dieser Mischung aus historischer Analyse und sozio-psychologischer Diagnostik liegt das Spezifikum der mannheimschen Vorgehensweise. Mannheim unternahm mit seiner Habilitationsschrift eine Tiefenbohrung in die Entstehung der Moderne, die ihn ins 18. und frühe 19. Jahrhundert führte. In einem ersten Schritt entwickelt er eine neuartige sozialbasierte Ideengeschichte, die es ihm in einem zweiten Schritt erlaubte, ideologische Muster oder „Denkstile“ zu erkennen. Durch eine Synthese dieser beiden Verfahren sollten die 18 Die Aufnahme der über 30 Jahre alten Schrift als Band 19 in die Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft unter dem Titel Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus bei Vandenhoeck und Ruprecht 1976 zeugt noch von diesem Nimbus. 19 Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus (wie Anm. 8), 26. 20 Ebd., 779. 21 Vgl. David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr, Vorwort, in: Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hg. von dens., Frankfurt am Main 1984, 7.

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so erworbenen Erkenntnisse, wissenssoziologisch durchdrungen und in bestimmten historischen Figuren, wie etwa der der „freischwebenden Intelligenz“, dialektisch verbunden werden. Um der Frage auf den Grund zu gehen, was der Ursprung der politischen, ideologischen Kämpfe der Moderne mit einem ersten Kulminationspunkt in der Französischen Revolution ist, seien nach Mannheims Auffassung die Anfänge dieses Gegensatzes aufzusuchen, die wiederum in der Aufklärung lägen: „Zunächst war unsere Frage eine schlicht ideengeschichtliche; sie erhielt aber für uns ihre eigentümliche denksoziologische Prägung, als wir uns nicht mehr begnügen konnten, die immanent ideengeschichtlichen Anfänge dieses Gegensatzes ausführlich zu betrachten, sondern uns zugleich auch fragten, aus welcher allgemeinsoziologischer Konstellation dieser Gegensatz aufstieg, welche sozialen Kräfte ihn förderten und zu einer allmählichen Entfaltung brachten“.22 Den Hintergrund der „Antithese von Natur und Geschichte“ bildete der methodologische bzw. systematisch-wissenschaftliche Gegensatz von Naturwissenschaften und historischen Kulturwissenschaften. Die Entgegensetzung von naturwissenschaftlich inspirierten und historisch verfahrenden Disziplinen ist also kein rein wissenschaftstheoretischer, sondern gerinnt zum Kampf der Ideologien: Der Gegensatz von Natur und Geschichte enthüllt sich als ein vorgeschobener Posten eines noch radikaleren Gengensatzes zweier grundverschiedener Denkweisen, die in zwei grundverschiedenen Weltanschauungen verankert waren. […] Es handelt sich nicht mehr um die Erforschung einer problemgeschichtlichen Antithese von Natur und Geschichte, sondern um den durch soziale Kräfte getragenen Gegensatz zweier Weltanschauungen und Denkweisen; um den Gegensatz des liberalen und konservativen Denkens, der um die Jahrhundertwende im unmittelbaren Anschluß an die reale und ideale Diskussion über die französische Revolution entstand.23

Das geistesgeschichtliche Schisma, das im 18. Jahrhundert seinen Ausgang nimmt, betrifft folglich nicht nur den empirischen Gegenstand, Denkstile in ihren sozialen Bedingungen, sondern ist zugleich untrennbar mit seiner wissenslogischen Durchdringung verbunden. Die Ergebnisse der Ideengeschichte geben Aufschlüsse über die Weltbilder der Gesellschaft, und darüber hinaus über die Formen ihrer wissenschaftlichen Reflexion: in der sogenannten „Wissenssoziologie“. Mannheim hatte damit ein wissenschaftliches Programm entwickelt, das in seinen eigenen Studien, aber insbesondere auch denen seiner Schüler weiter Entfaltung finden sollte. Trotz der politisch prekären Situation, in der sich etwa Hans Gerth befand, als er zur sozialgeschichtlichen Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts promoviert wurde, entwickelte er seine TheMannheim, Konservatismus (wie Anm. 21), 50 (Hvhg. im Original). Ebd., 51. Zur besonderen Entwicklung der Soziologie in Deutschland; der ausbleibenden Übertragung naturwissenschaftlicher Modelle auf die Geschichte, den Reaktionen auf Positivismus und Empirismus und schließlich zur Rolle der Geisteswissenschaften vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München, Wien 1985, 283 ff. 22

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sen und Methoden exakt in der Terminologie, nach dem Konzept und mit deutlichen Bezügen auf seinen Stichwortgeber und ,eigentlichenR Doktorvater Karl Mannheim. Das liberale Denken sollte aus den „Konstellationen“ verstanden werden, aus denen es hervorgegangen war: „Diese wissenssoziologische Fragestellung verfolgt ein doppeltes Ziel: a) nachzuweisen, dass es Denkstile gibt, b) deren Morphologie und Wandel aus dem sozialen Hintergrund und dessen Differenzierungen erklärbar zu machen“.24 Getreu dem Modell Mannheims konnte die Heterogenität des empirischen Materials durch die Fragestellung nach dem Denkstil zusammengehalten werden: „Das liberale Denken entsprang verschiedensten sozialen Quellen; wir werden der Bildung des Frühliberalismus in verschiedenen Strömungen, die verschiedenen sozialen Situationen entsprechen, verfolgen müssen. Das Zusammenfließen der verschiedenen Strömungen zu einem relativ einheitlich sich bewegenden Gebilde wollen wir im Querschnitt sozialer und geistiger Integrationsprozesse untersuchen“. Gleichzeitig betont Gerth, dass die Homogenität im Ergebnis nicht erzwungen werden darf: „Es handelt sich nicht darum, Fakten zu einer morphologischen Gestalt zu konstruieren, sondern wir fragen in Richtung des begreifbaren Gesamtzusammenhangs durch seine hypothetische und also korrigierbare Rekonstruktion“.25 Damit ging die Etablierung eines neuen Forschungsfeldes, nämlich das der Wissenssoziologie, einher, welches bis heute mit dem Namen Karl Mannheims verbunden ist. Es wurde damit aber auch der Weg für eine neue Form der ideengeschichtlichen Erforschung des 18. Jahrhunderts geebnet, die in der Historiographiegeschichte der Aufklärung in Vergessenheit geraten ist. Mit diesem Zugang sollten bestimmte „Konstellationen“ der Geistesgeschichte herausgearbeitet werden, deren Grundlage im 18. Jahrhundert zu finden waren, die im 19. Jahrhundert ihre Wirksamkeit entfalteten und welche noch bis ins 20. Jahrhundert fortwirkten. Dass dieses Modell selten als eigenständiges Interpretationsmuster der Aufklärung Beachtung findet, liegt zu einen darin begründet, dass das Paradigma der sozialhistorischen und soziologischen Durchdringung des Aufklärungszeitalters gemeinhin in den 1960er Jahren verortet und mit Arbeiten wie der von Jürgen Habermas oder Peter Gay verbunden wird. Zum anderen lässt sich in der Ideen- und Philosophiegeschichte der Weimarer Zeit eine bemerkenswerte Konzentration auf die aufklärungskritischen Schriften konstatieren.

24 In der ersten Fußnote seiner Dissertation bezog sich Gerth auf folgende Schriften Mannheims: Das konservative Denken, Ideologie und Utopie und den Art. Wissenssoziologie im Handwörterbuch für Soziologie (hg. von Alfred Vierkandt, Stuttgart 1931, 659 ff.). 25 Gerth, Die sozialgeschichtliche Lage (wie Anm. 14), 3.

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III. Der Rekurs auf die Aufklärung in den Weimarer Jahren Eine Beschäftigung mit den Schriften Karl Mannheims und seiner Schüler legt jedoch nahe, den Beginn einer neuen Perspektive auf das Zeitalter der Aufklärung, sozusagen ihre soziologische und wissenssoziologische Verarbeitung bereits in die ausgehenden 1920er und beginnenden 1930er Jahre zu verlegen. Diese Verschiebung scheint insofern geboten, als sie die leider meist fehlenden Rekurse auf die Weimarer Vorreiter nach dem Krieg kompensiert und damit die problematische Bewertung der Weimarer Zeit für die Aufklärungsforschung insgesamt behandelt. Denn die Weimarer Republik gilt nicht gerade als Hochzeit der Aufklärungsforschung. Im Gegenteil. Im intellektuell fruchtbaren Boden der Weimarer Jahre werden insbesondere die Tendenzen hervorgehoben, die sich als dezidiert anti-aufklärerisch verstanden und die viele ihrer Grundsätze im direkten Kontrast zum aufklärerischen Denken formulierten. Bis in die 1960er Jahre wurde, wenn es in der Retrospektive darum ging, das Scheitern der ersten deutschen Demokratie zu analysieren und dieses auch aus seinen Denktraditionen zu verstehen, das „Antidemokratische Denken der Weimarer Republik“ vor allem aus seiner Frontstellung zur westlichen Tradition des Liberalismus und der Aufklärung begriffen: „Sie [die Weimarer Republik] wurde ins Leben gerufen in einem Augenblick, in dem das deutsche Geistesleben noch entschiedener als bisher von der mit der Entwicklung der liberalen Demokratie verknüpften westeuropäischen Tradition der Aufklärung, des Liberalismus und des säkularen Naturrechtsdenkens abrückte und in einer vehementen Erneuerung romantischen Denkens und Fühlens einen eigenen Weg auch im Politischen suchte“.26 Und mehr noch: Das philosophische Ferment dieser geistigen Lage basierte auf der Überwindung der Aufklärung „vornehmlich bei Hegel, Fichte und Schelling, dann fortgesetzt in der Philosophie Schopenhauers und schließlich gipfelnd im Werk Friedrich Nietzsches“.27 Dieser Auffassung nach wurde der naturrechtlich-humanistischen, in der Aufklärung begründeten Tradition des Westens eine Philosophie entgegengestellt, die das historische Wachsen und Werden betonte. Den aufklärerischen Vorstellungen von Toleranz, Mündigkeit und Mitsprache, die im parlamentarischen System Umsetzung fanden, wurde eine vom Darwinismus inspirierte Lebensphilosophie gegenübergestellt und damit das organisch Gewachsene, Vitale in den Vordergrund gerückt. Aus dem Vokabular der Lebensphilosophie und des organizistischen Denkens stammten nach Sontheimer dann auch die wichtigsten begrifflichen Gegenüberstellungen, die die intellektuelle Debatte der Weimarer Jahre prägten: „FormalisKurt Sontheimer, Antidemokratische Denken der Weimarer Republik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), 42 – 62, hier 42. 27 Ebd., 43. 26

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mus der Verfassung gegen lebendigen Ausdruck des Volkswillens; Mechanismus der Gesellschaft gegen Qualität einer Elite oder Führerschaft; amorphe Masse gegen eine hierarchisch und ständisch gegliederte Sozialstruktur; anonymer Herrschaftsapparat gegen persönliche Verantwortlichkeit eines Führers; egoistisches Parteiinteresse gegen Dienst am Volke; kalte, gefühlsleere Gesellschaftsbeziehungen gegen innerlich gefestigte, organisch gewachsene Gemeinschaftsformen; Zivilisation gegen Kultur“.28 In diesem konservativen, antiaufklärerischen Spektrum verortete Sontheimer den Aufstieg der für die Weimarer Jahre zentralen Intellektuellen: von Thomas Mann über Arthur Moeller van den Bruck zu Ernst Jünger bis hin zu Carl Schmitt. Zur Kehrseite der Entstehung des konservativen Intellektuellenmilieus in Weimar gehört jedoch ebenso, dass auch die andere Seite des politischen Spektrums stark von der politischen Romantik geprägt war und sich gegen das Rationalitätsgebot sowie die Universalisierungs- und Machbarkeitsphantasien der Aufklärung verwahrte. Die Fortschreibungen und Umwandlungen aufklärerischer Motive bei Marx und Freud boten die Anknüpfungspunkte, von denen aus Gesellschaft neu gedacht wurde. „Die Dialektik der Aufklärung“ darf hier nicht unerwähnt bleiben, aber auch Hannah Arendts Studien zur politischen Ideengeschichte; ihre zunächst als Habilitationsschrift angelegte Arbeit zu Rahel Varnhagen gehören in dieses Umfeld.29 In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass Arendt in den 1920er Jahren bei Karl Mannheim studiert und mit ihrem ersten Mann Günther Stern zu dessen intellektuellen Zirkel gehörte.30 Bemerkenswert ist am ideengeschichtlichen Befund zur Weimarer Zeit die Deutlichkeit, mit der sich Philosophen und Denkerinnen zur Aufklärung positionierten. Schien es doch erforderlich zu sein, die eigene Position im Verhältnis zur Aufklärung zu extrapolieren und die bestehenden politischen Lager als eine in der Aufklärung begonnene historische Konstellation zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund wir deutlich, wieso es die Weimarer Jahre sind, die etliche wichtige Aufklärungsstudien hervorbringen. Zu nennen sind Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung (1932), Helmut Hatzfelds Rousseau-Biographie (1922), Hans Kelsens Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920) sowie Karl Mannheims Ideologie und Utopie (1929). Interessanterweise sind diese Studien nie zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung gemacht worden. Zu übermächtig sind die Stimmen der Aufklärungskritiker, deren Position auch die herrschende Ebd., 44. Vgl. Haun Saussy, The Refugee Speaks of Parvenus and Their Beautiful Illusions: A Rediscovered 1934 Text by Hannah Arendt, in: Critical Inquiry 40 (2013), 1 – 14. 30 Zum Einfluss von Mannheim auf Hannah Arendt vgl. David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr, Rationalizing the Irrational: Karl Mannheim and the Besetting Sin of German Intellectuals, in: American Journal of Sociology 95 (1990), 1441 – 1473, hier 1445. 28 29

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Meinung der Weimarer Zeit zu bilden schien, wodurch die Gegenseite intellektuell marginalisiert werden konnte. Diese Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit und die Durchsetzungskraft einer vorherrschenden Haltung zur Aufklärung in der Weimarer Republik sind keineswegs nur Resultate einer teleologischen Rezeptionsgeschichte, sondern in den zeitgenössischen Konflikten angelegt. Man denke an die berühmte Debatte zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in Davos 1929. Gleichermaßen aussagekräftig, aber deutlich weniger bekannt ist der Konflikt zwischen Karl Mannheim und Ernst Robert Curtius im gleichen Jahr. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten beendete diese Debatten, da die bereits marginalisierte Partei – viele ihrer Vertreter waren Juden –, aus ihren Positionen verdrängt, verfolgt und ins Exil gezwungen wurden. Es ist betont worden, dass sich die intellektuelle Gemengelage in der Weimarer Republik nicht in einem Rechts-Links-Schema abbilden ließe; zu vielfältig seien die Querverläufe innerhalb der intellektuellen Netzwerke, die fließenden Übergänge, die Mehrfachzugehörigkeiten und Unschärfen.31 In der Tat gestaltet es sich schwierig, klare Lagerbildungen umreißen zu wollen, wenn man die Schüler-Lehrer Verhältnisse betrachtet und die hohe Komplexität der geistigen Situation der Zeit bedenkt.32 Gleichwohl ist es eben kennzeichnend für diese Situation, dass eine ideologische Lagerbildung in der akademischen Landschaft entstanden war, die es erforderlich machte, sich zu einer der Seiten zu bekennen. Diese Lage als charakteristisch für die eigene Zeit und die Moderne als solche zu beschreiben, war das besondere Anliegen Karl Mannheims. Er stellte die Diagnose eines geistesgeschichtlichen Grabenkampfes, den es zu überwinden gelte, ins Zentrum seines wissenschaftlichen Werkes. Dass die Erforschung der Aufklärung für Mannheims Unterfangen dabei eine zentrale Rolle spielte, und in doppelter Hinsicht Pate stand, soll im Folgenden Erläuterung finden.

31 Vgl. Wolfgang Bialas, Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik, in: ders., Georg G. Iggers (Hg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1996, 13 – 30, hier 15. 32 In diesem Zusammenhang sei auf den Umstand verwiesen, dass etwa der exilierte Ernst Manheim Schüler und Assistent Hans Freyers war und die Verbindung auch nach Bekanntwerden der Verstrickungen Freyers im NS-Regime im Exil Manheims andauerte. Vgl. Mathias Greffrath, Der analytische Geist der deutschen Wissenschaft, nicht der spekulative hat mich beeindruckt. Ein Gespräch mit Ernst Manheim; in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945, Opladen 1981 (= Sonderheft 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), 308–323, hier 312.

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IV. Strukturanalyse der Erkenntnistheorie Karl Mannheim nimmt eine Sonderposition im Reigen der einflussreichen, deutschsprachigen Denker und Hochschullehrer der 1920er und 1930er Jahre ein, als er aus Ungarn kommend und vom dortigen Intellektuellenmilieu geprägt, ,von außenR in die deutsche Universitätslandschafts hinzustößt; gleichzeitig gelingt es ihm sehr schnell, Teil der einflussreichen intellektuellen Zirkel in Deutschland zu werden; beide Erfahrungswelten – die des Außenseiters und des zentralen Ideengebers zugleich – spielen eine fundamentale Rolle für die Ausbildung seiner Gesellschaftstheorie.33 Er kommt aus einer ungarisch-jüdischen Familie von Textilhändlern in Budapest.34 Durch seine Mutter wächst er zweisprachig, nämlich deutsch-ungarisch auf und übersetzt schon früh, auch philosophische Texte ins Ungarische. Für seine intellektuelle Entwicklung ist die Begegnung mit Georg Luk#cs bedeutsam, der ihm rät, Philosophie zu studieren und ihn in den sogenannten Sonntagskreis in Budapest einführt, in dem sich die Mitglieder neben philosophischen Fragen mit Mystik, Literatur und Kunst beschäftigen. Schon dieser erste Intellektuellenzirkel wird Mannheim selbst zum empirischen Material, in dem er die Struktur und Richtlinien der Denkstile vergleicht. Schnell wird er mit der systematischen Philosophie und insbesondere mit der Schule des Neukantianismus vertraut und 1922 mit einer Arbeit zur Strukturanalyse der Erkenntnistheorie promoviert. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Erkenntnistheorie Kants in ihrer Bedeutung für die Analyse der Wirksamkeit von Ideologien und hier insbesondere mit der Frage, in welchem Verhältnis das Denken, die Geistesgeschichte zur sozialen Realität steht.35 Für Mannheims weiteres Werk bedeutet das im Ergebnis, dass Denken auf drei Weisen analysiert werden kann: als psychologisches Phänomen, als Frage der Logik oder als metaphysisches Problem.36 Wissensformen und Denkweisen können nur dann durchdrungen werden, wenn man sie zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt und mit den Instrumenten der Psychologie, Logik und Ontologie zerlegt. Das empirische Sam-

33 Vgl. Natan Sznaider, Über Karl Mannheim. Wissenssoziologie als „jüdische Wissenschaft“?, in: CAS Blog (25. Januar 2023: https://www.blog.cas.uni-muenchen.de/topics/corresponding-fellows/ueber-karl-mannheim). 34 Zur Biographie vgl. Amalia Barboza, Karl Mannheim, Konstanz 2009, 19 ff. Aufschlussreich ist auch der Nachruf von Ernst Manheim, Karl Mannheim, 1893 – 1947, in: American Journal of Sociology 52 (1947), 471 – 474. 35 Karl Mannheim, Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Berlin 1922 (Kant-Studien, Ergänzungsheft 57). 36 Auch hier unternimmt Mannheim den Versuch einer „Typologie der möglichen Problemstellungen und Problemlösungsversuche“, um zwischen empirischer Forschung, theoretischer Reflexion und idealtypischer Modellbildung vermitteln zu können, vgl. ebd., 59 – 69.

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ple für das Verständnis von Ideologien war im 18. Jahrhundert zu finden und das Instrumentarium für die Sektion des Aufklärungszeitalters damit bereitgelegt. Luk#cs und Mannheim teilten ihre philosophischen Interessen, aber der zunehmenden Politisierung des Sonntagskreises im Zuge der ungarischen Räterevolution steht Mannheim zurückhaltend gegenüber;37 anders als Luk#cs und andere wird er nicht Mitglied der kommunistischen Partei. Trotzdem erhält Mannheim nach der erfolgreichen Revolution eine Professur für Kulturphilosophie in Budapest, spricht in seiner ersten Vorlesung aber nicht über die Erfolge der Revolution, sondern stellt den Studenten verschiedene Lebensformen bzw. Lebensstile vor, die ihnen in einer Situation wie der gegebenen zu Gebote stünden: die des Heiligen, des Politikers oder die des Pädagogen. Nach dem Sturz der Räterepublik in Ungarn geht Mannheim mit seiner Frau Julia Lang, einer Budapester Psychologin, ins Exil und siedelt 1921 nach Heidelberg über. Dort angekommen ist er mit den beiden dominierenden, stark divergierenden und rivalisierenden akademischen Zirkeln konfrontiert – dem George-Kreis und Max Webers Gesellschaft –; er wird Teil zweiterer werden.38 Nach Max Webers Tod 1920 verliert diese zwar an Einfluss, wird aber durch Webers Bruder Alfred fortgetragen, der auch zu einem wichtigen Mentor Mannheims wird. In den Heidelberger Jahren schärft Mannheim sein Profil als Soziologe und entfaltet schnell sein Feld der „Wissenssoziologie“, für das die Aufklärung eine besondere Rolle spielt. Das Programm, wie er es in der Habilitationsschrift zum „Konservatismus“ entwickelt hatte, wird als Problemstellung dargelegt, die den „Nachweis der Tatsache“ erfordere, „daß sich von bestimmten sozialen Schichten getragen, in Deutschland eine einheitliche Denkrichtung herausbildete […], ein Denken mit einem eigentümlichen Gepräge, und von einer klar erfassbaren soziologischen Zurechenbarkeit“.39 Mannheims Verfahren, das mit den Schlagworten „Erforschung historischer Konstellationen“, „Seinsgebundenheit des Denkens“, Untersuchung der „Denkstile“ Eingang in die soziologische Literatur gefunden hat,40 markiert einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und Ideengeschichtsschreibung.41 Es sind keine über37 Luk#cs und Mannheim teilten die Interessen am Neoplatonismus, der Lebensphilosophie Diltheys und Simmels, der Phänomenologie Husserls und den Neukantianismus Rickerts, Lasks und Max Webers. Vgl. Gunter W. Remmling, Philosophical Parameters of Karl MannheimQs Sociology of Knowledge, in: The Sociological Quarterly 12 (1971), 531 – 547, hier 532. 38 Vgl. Kettler, Meja, Stehr, Rationalizing the Irrational (wie Anm. 30), 1445. 39 Mannheim, Konservatismus (wie Anm. 21), 47. 40 Käsler, Mannheim (wie Anm. 15), 67 – 69. 41 „Das zentrale Problem jeder Wissenssoziologie und Ideologieforschung ist die Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens. Während die philosophischen Disziplinen und die Ideengeschichte das Denken gleichsam in seiner Immanenz untersuchen, d. h. von der jeweiligen historischsoziologischen Genesis der Ideengeschichte absehen, ist es gerade die besondere Aufgabe der Wissenssoziologie, die vorhandenen Gedankenmassen in jener historisch-soziologischen Gesamt-

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zeitlichen, philosophischen Strömungen, die er ins Zentrum seiner Untersuchung rückt; es sind empirisch-historisch auffindbare Phänomene, über die allgemeingültige Aussagen getroffen werden können, da ihnen übergreifende soziale Strukturen zugrunde liegen, die wiederum bestimmte Denkstile zeitigen. Diesen Dreischritt aus empirisch-sozialer Grundlage, theoretischer Reflexion und idealtypischer Modellbildung hatte Mannheim in seiner Dissertation ausgearbeitet. Die „Seinsverbundenheit des Denkens“ beeinflusst die „Kategorialstruktur“ des Bewusstseins und die Kriterien der Erkenntnis. Mannheim wendet sich also seinem empirischen Material, den Strukturverhältnissen im modernen geistigen und sozialen Geschehen zu: Dort, in der „Hemisphäre des globus intellectualis“, ist es die Epoche zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, in der die fundamentalen Grundlagen des modernen Bewusstseins geschaffen werden; in dieser Phase „wird das Politische immer mehr zum Kristallisationspunkte der Strömungen im ideologischen Kosmos“.42 Die Ideenströmungen der neueren Zeit ließen sich empirisch erschließen, als sie zum sozialen und politischen Gesamtprozess in einer „eindeutig erfaßbaren Beziehung“ stehen.43 V. Ideologie und Utopie 1929 erscheint mit Ideologie und Utopie eine Art Synthese der vorherigen Schriften. Die komplexe Aufsatzsammlung kann als direkte Fortsetzung dieses Programms gelesen werden, dessen erkenntnistheoretische Grundlage in Strukturanalyse und Erkenntnistheorie dargelegt und in der Konservatismus-Studie weiterentwickelt worden war. Das Buch entfaltet zwei „Problemskizzen“, die im direkten Rekurs auf „das Konservative Denken“ vermittels des methodischen Konzepts der neu aufgesetzten Wissenssoziologie im „sozialen und seelischen Raume“ erprobt werden sollen.44 Ideologie und Utopie fungiert als allgemeine Einleitung und die beiden Skizzen gelten der Frage „Ist Politik als Wissenschaft möglich? (Das Problem der Theorie und Praxis)“ und der Frage nach dem „utopische[n] Bewußtsein“. Die Aufklärung interessiert Mannheim als Laborsituation, als empirischer Ideenpool, um zu verstehen, in welchen „Denkschritten“ Ideologien entstanden seien, wie die eine Strömung auf die andere reagierte. Bei der Rekonstruktion dieses Prozesses, stellt die Romantik einen ersten Kulminakonstellation […] zurückzuverankern und ihr Emporkommen vom Totalprozeß her zu verstehen“; Mannheim, Die Ursprünge des Konservatismus (wie Anm. 8), 48. 42 Im Mittelalter sieht Mannheim die „religiöse Problematik“ als den Kristallisationskern an, vgl. ebd., 69. 43 Ebd. 44 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929 (Schriften zur Philosophie und Soziologie, begründet von Max Scheler, hg. von Karl Mannheim, Bd. 3), 1.

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tionspunkt dar, als sich die ersten klaren Ideologeme abzeichnen, die sich nur aus ihrer psychologischen Grundlegung, nämlich aus der Furcht vor Veränderung, Verlust und Entmachtung, konturieren lassen.45 Mannheim leitet gemäß seiner Auffassung von der historisch-sozialen Determiniertheit des Ideologiebegriffs, diesen aus der „Struktur des Sozialkörpers“ her, dessen Basis wiederum die Träger des historischen Bewusstseins seien. Der entscheidende Unterschied zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert liegt darin, dass die entstehenden „Ideologien“ die Frage virulent werden ließ, „Was denn wirklich ist?“ Diese Frage sei zwar nicht neu, sie wird aber nun im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr scholastisch-philosophisch, sondern politisch beantwortet: Will man also auf der Höhe der Erfordernisse modernen Denkgeschichte bleiben, so muss man zum Thema soziologischer Ideengeschichte immer mehr das faktische Denken des Menschen machen und nicht immer nur das in Schultraditionen sich fortpflanzende Denken.46

Das Kriterium des Wirklichen, die politische Praxis wird zum Maßstab der Ideologie; Mannheim spricht auch vom „Pragmatismus“, der traditionellen Formel von der Ordnung der (Ideen-)Geschichte nach einfachen Kausalzusammenhängen und ihrer Erprobung an der politischen Realität.47 In der Form, in der Mannheim in den ersten beiden Skizzen die Voraussetzung der Entstehung von Ideologien analysiert und die Bedeutung der Aufklärung für die Veränderung der öffentlichen Meinung herausarbeitet, entwickelt er in der dritten Skizze in idealtypischer Weise „Gestalten des utopischen Bewusstseins“: 1. die chiliastische Idee der Frühen Neuzeit (Münzer), 2. die liberal-humanitäre Idee (Condorcet, Lessing, Arndt, Coccejus, Spener, Zinzendorf, Bengel), 3. die konservative Idee (Möser, von der Marwitz, Adam Müller48), 4. die sozialistisch-kommunistische Utopie (St. Simon, Fourier, Owen). Ein besonderes Merkmal der verschiedenen Gestalten sind die jeweiligen an Hegel orientierten Zeitund Fortschrittskonzeptionen, die auf das Engste mit dem sozial-historischen Be45 Mit diesem Befund stimmt Mannheim auch mit Carl Schmitts Romantik-Studie überein: „Schmitt, C. analysiert dieses unser Zeitalter charakterisierende Denken, das überall, aus dem tiefen Gefühl betrogen zu sein, Verkleidungen, Spiegelungen, Sublimierungen wittert“, vgl. ebd., 17. 46 Ebd., 27. 47 Interessanterweise rekurriert Mannheim hier auf David Humes History of England, die auch als die pragmatisch-empirische Grundlegung zu Humes Treatise on Human Nature gelesen werden kann, vgl. ebd., 16. 48 Wie auch bei Carl Schmitt und Hannah Arendt spielte der Publizist Adam Müller eine wichtige Rolle für die Argumentation Mannheims. In der Ambiguität von Müllers Denkstil zwischen Aufklärung, Romantik und Frühkonservatismus, ließ sich die These extrapolieren, in welcher Weise die Aufklärung selbstreflexiv geworden war. Zur Adam-Müller-Debatte vgl. Reinhart Blomert, Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften in der Zwischenkriegszeit, München, Wien 1999, 150 – 176.

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wusstsein der jeweiligen Denkrichtung verbunden sind. Viele Überlegungen zum historischen Bewusstsein, Geschichtsdenken und zur Geschichtsphilosophie der Aufklärung, wie man sie später bei Löwith, Jaspers oder Koselleck findet, sind hier angelegt: Nicht nur durch das virtuelle Präsentsein eines jeden vergangenen Geschehens allein enthält ein jedes Gegenwartsereignis eine in die Vergangenheit zurückweisende dritte Dimension, auch die Zukunft bereitet sich in ihm vor; nicht nur die Vergangenheit auch die Zukunft ist virtuell präsent. Ein Abwägen der einzelnen in der Gegenwart vorhandenen Faktoren, ein Erspähen der in den realen einzelnen Kräften lagernden Tendenz gelingt nur dadurch, daß man hier bereits die Gegenwart aus ihrer immer konkreter werdenden Zukunftsergänzung versteht.49

Von diesen allgemeinen Überlegungen leitete Mannheim direkt zur gegenwärtigen Konstellation über, in der er alle drei Gestalten der modernen politischen Ideen erkennen konnte, wobei er bestimmte Tendenzen vorsichtig andeutete: der drohende Verlust des utopischen Gehalts durch „Spannungslosigkeit“ insbesondere im Konservatismus und das Verschwinden der historischen Zeit insbesondere in der amerikanischen Soziologie. Sein zurückhaltendes Plädoyer galt der Unentbehrlichkeit des Utopischen, deren Erneuerung wiederum auf der Basis einer kritischen Orientierung – im Stile einer neuen Aufklärung – zu erfolgen habe.50 Diese politische Zurückhaltung hatte Mannheim mit einem Vortrag auf dem Soziologentag 1928 in Zürich durchbrochen, wo er über die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen gesprochen und diese auf das Verhältnis der Konservativen, Liberalen und Sozialisten in der Gesellschaft, aber auch in der Soziologie übertragen hatte.51 Sein Verfahren beschreibt er dabei als das eines sezierenden Arztes.52 Dabei macht er verschiedene Denkmodelle aus, die – anlog zu den Naturwissenschaften und je nach ihrer „Urorientierung“ – unterschiedlich ausfallen. Im Unterschied zur Vormoderne seien sie seit der Aufklärung „funktionell strukturiert“ und stünden „im Zeichen einer eindeutigen Konzentration und Polarisation“.53 An der Wertfreiheitsdebatte die aktuell in der Soziologie tobte, veranschaulichte er, wieso jede Position in sich konsistent sein kann und auf welMannheim, Ideologie und Utopie (wie Anm. 44), 231. Ebd., 233 ff. 51 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Soziologentages Vorträge und Diskussionen 6 (1928), 17.–19. Sept. (1929), hg. von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Frankfurt am Main u. a. 1929, 35 – 83. 52 „Zunächst möchte ich – beinahe wie ein Arzt das Demonstrationssubstrat, das Gegenstandsgebiet, an dem ich das Phänomen der Konkurrenz aufzuweisen habe, näher ins Auge fassen, es umgrenzen und in seiner Eigenart beschreiben“ (ebd., 41). 53 „So entstand zum Beispiel die Aufklärung in England als Ausdruck einer Geistes- und Seelenhaltung, die der kapitalistischen Konstellation am ehesten entsprach“ (ebd., 59). 49

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che Weise der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den Wirklichkeitsdeutungen der Schulen entsteht. Mannheim versuchte eine unparteiische Position einzunehmen und durch die Analyse der Denkstile aufgrund ihrer Standortgebundenheit zu vermitteln, also einen Weg der Verständigung zwischen der historischen und der aktuellen Situation zu bahnen. Seiner Ansicht nach, „genügt es zu sehen, daß es solche Synthesen überhaupt gibt, daß die moderne Denkgeschichte nicht nur Polarisationen, sondern auch Verbindungen, Kreuzungen, Synthesen zeitigt“. Das zu analysieren sei jedoch nicht die Aufgabe eines Geisteshistorikers; es gelte vielmehr zu zeigen, „welche Gruppen und Schichten standen hinter dem Aufklärungsgedanken und welche von ihnen hinter dem Historismus, und wie ist jene soziale Situation soziologisch genau diagnostizierbar, in der eine solche Synthese möglich wurde? Denn auch die Synthesen schweben nicht im sozial-freien Raume, auch sie haben ihre Möglichkeit und Chancen in einer bestimmten Struktursituation“.54 Mit dieser Positionierung zwischen den Fronten nahm Mannheim eine Stellung ein, die ihm von vielen Seiten Kritik und vor allem den Vorwurf des Relativismus einbrachte. Nichtsdestotrotz setzte er unbeirrt seinen Kurs der doppelten Inanspruchnahme der Aufklärung fort. Mannheims Übertragung seines theoretischen Konzepts der Wissenssoziologie auf die eigene Disziplin ließ ihn ebenso umstritten wie einflussreich werden. Eine ganze Generation junger Soziologinnen und Soziologen schickte sich an, bei Karl Mannheim in Frankfurt zu studieren. Bei seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Soziologie, war sein erster Assistent niemand geringerer als Norbert Elias;55 schnell bildete sich ein fester Kreis von Schülerinnen und Schülern um Mannheim und Elias, zu denen Wilhelm Carle, Margarete Freudenthal, Gisela (GisHle) Freund, Hans Gerth, Frida Haussing, Hilde Herlemann und Nina Rubinstein gehören.56 Mannheim hatte eine der zentralen Gegenwartsaufgaben der Soziologie in der Aufklärung erkannt und diese sogar als ihre Lehrgestalt definiert.57 In diesem Gebiete hat die Soziologie die nicht zu unterschätzende Aufgabe, die Aufklärung zu vollenden, die zum ersten Mal gesehen hat, daß eine Gesellschaft, die zur Ebd., 74. EliasQ „Prozeß der Zivilisation“ entsteht bei Mannheim als Habilitationsschrift. Zum Verhältnis von Elias und dem nur vier Jahre älteren Mannheim vgl. Wolf Lepenies, Norbert Elias: An Outsider Full of Unprejudiced Insight, in: New German Critique 15 (1978), 57 – 64. 56 GisHle Freund schrieb später: „Norbert Elias war das Bindeglied zwischen Mannheim und seinen Studenten. Er war ungemein beliebt, da er es verstand auf die Probleme jedes einzelnen einzugehen, und dies auch mit Großzügigkeit tat“, vgl. https://wiki.studiumdigitale.unifrankfurt.de/ SOZFRA/indexe. 57 Karl Mannheim, Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie. Ihre Lehrgestalt, Tübingen 1932, dem Soziologen und Nationalökonomen Adolf Löwe (1893 – 1995), seit dem Exil Adolph Lowe, gewidmet. 54 55

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Selbstregulierung und Selbstbestimmung sich emporringt und das Geschehen nicht mehr einer transzendenten Gewalt ohne weiteres überantworten will, dies nur mit einem kritischen und rationalen Bewußtsein, mit einem Wissen von den Gesellschaftskräften fruchtbar tun kann. Die Soziologie muss unsere und die auf uns folgenden Generationen dazu erziehen, in Wahrheit leben zu können und die Wirklichkeit zu ertragen.58

Mannheim stellte sich damit dezidiert in die Tradition der Aufklärung, deren Erbe er nicht in einer Morallehre oder praktischen Philosophie umgesetzt sehen wollte, sondern in der kritischen Analyse der Denkstile und der daraus geronnenen Ideologien: Was die Ideologienlehre hierbei leistet, ist nicht die Destruktion, wie ihre Gegner ihre Klärungsarbeit zu bezeichnen pflegen, sondern Freilegung, Freilegung der Wirklichkeit, der wirklichen Phänomene, die uns umgeben, und die in ihrer Wirklichkeit für uns verpflichtend sind. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß es nur in der politischen Sphäre Ideologien gibt […] unsere ganze alltägliche Wirklichkeit ist eigentlich verstellt, und auch der hellste Kopf unter uns ist voll von ererbten, übernommenen Fehldeutungen, wenn es sich um die Gesellschaft handelt.59

Dieses Programm erzeugte eine Kontroverse, die insbesondere von dem Romanisten Ernst Robert Curtius initiiert wurde und wiederum nichts anderes verkörperte als das Schisma in der deutschen Intellektuellenszene, dem Mannheim entgegenwirken wollte.60 Mannheims Ansatz wurde vorgeworfen, dass die Soziologie sich eine Rolle als politische Leitdisziplin anmaße, worin man Analogien zu Pmile Durkeims Rolle in der Dritten Republik und im vermeintlichen Kampf des roten gegen das schwarze Frankreich sehen wollte. Zudem war das marxistische Ferment der Wirklichkeitsanalyse ein Grund zur Ablehnung, wie man Mannheims Versöhnungswillen generell auf eine Fehleinschätzung der Brisanz der aktuellen Situation zurückführte.61 Mannheim beharrte jedoch auf der „Gunst der Stunde“, die noch Transparenz aufweise, „um die Geschichte der Aufbauelemente und Strukturen“ zu enthüllen, „denn es ist nicht ausgeschlossen, daß allzubald […] diese Transparenz verschwindet und die Welt in einem einzigen Bilde erstarrt“.62

Ebd., 18 f. Ebd., 19. 60 Siehe dazu Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1994, 109. 61 Zur Mannheim-Curtius-Kontroverse auch Lepenies, Die Drei Kulturen (wie Anm. 23), 377 – 401. 62 Zitiert nach Hoeges, Kontroverse (wie Anm. 60), 117. 58 59

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VI. Der doppelte Rekurs auf die Aufklärung So erfolgte Mannheim doppelter Rekurs auf die Aufklärung einerseits als Referenz auf eine historische Urkonstellation der Moderne und andererseits als erkenntnistheoretisches Programm aus dem sich eine politische Programmatik ableiten lässt. Aufklärung als Lehrgestalt in der Soziologie, die verfangen muss, bevor die Ideologisierung so weit vorangeschritten und das utopische Potential verschwunden ist, dass es keinen Ausgleich mehr geben kann. In seiner Methodik setzte sich Mannheim daher dezidiert von einer antiquarischen Ideen- oder systematischen Philosophiegeschichte ab: Die wissenssoziologische Analyse setzt sich nicht wie die ideengeschichtliche Forschung den immer weiter in die Vergangenheit zurückführenden Aufweis der Vorformen von Gedankenmotiven zum Ziel. […] Ihr eigentliches Thema ist zu beobachten, wie und in welcher Gestalt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkte die geistigseelischen Elemente im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Kollektivkräften vorhanden waren.63

Unter Mannheims Schülern entstehen weitere Arbeiten, die diesem Forschungsfeld angesiedelt sind, auch wenn betont wurde, dass er keine Schule im engeren Sinne begründete.64 Zu nennen ist besagte Arbeit von Hans Gerth zur „sozialgeschichtliche[n] Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts“. Als direkte Umsetzung von Mannheims wissenssoziologischer Programmatik kann indessen eine andere Aufklärungsstudie unter dem Titel Die Träger der öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit aus dem Jahr 1933 gelten, verfasst von Karl Mannheims jüngerem Cousin Ernst Manheim.65 Im Sinne der Übertragung des Modells wird in der Einleitung formuliert, dass die „Soziologie des Wissens“ nun über das programmatische Stadium hinausgeführt worden sei: Mannheim, Utopie und Ideologie (wie Anm. 44), 21. „He influenced a great many students and colleagues, and yet he has not created a sect or school in the ordinary sense of the word. The sociology of knowledge is a field of research and not a school of thought“, Ernst Manheim, [On] Karl Mannheim, in: American Journal of Sociology 52 (1947), 374. 65 Die Umstände des Erscheinens dieser Habilitationsschrift werden in einer Neuausgabe von 1979 vom Herausgeber Norbert Schindler erläutert: „Den entscheidenden Schritt zur Konkretisierung dieses Wissenschaftsverständnisses bildetet schließlich die Rezeption der Wissenssoziologie seines älteren Vetters und Lehrers Karl Mannheim; sie impliziert sowohl ein erste Stufe kritischer Distanzierung vom klassischen, Subjekt und Objekt des Erkenntnisprozesses letztlich identifizierenden Idealismus, als auch die Eröffnung einer historisch-materialen (sic!) Perspektive, die sich nicht darin erschöpft, Exerzierfeld eines objektiven Geistes zu sein“; vgl. Norbert Schindler, Vorwort, in: Ernst Mannheim, Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. und eingel. von dems., Stuttgart, Bad-Canstatt, 1979, 9 – 17, hier 10. 63

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Für diese Bewusstseinssoziologie wird sozusagen die Innenseite, der Bewußtseinsgehalt des gedanklichen Innengefüge des publizistischen Stoffes zum eigentlichen Thema. Hier wird grundsätzlich die Frage nach der Situation, nach dem realen Träger, dem gesellschaftlichen Impuls dokumentarisch gewordener Aussagen in ihren geistesprägenden Aussagen gestellt.66

Für das Verständnis einer Aussage ist also nicht in erster Linie die Denktradition entscheidend, sondern der Träger im Kontext seiner überindividuellen, gesellschaftlichen Lebensbeziehungen; sein „Standort“, seine gesellschaftliche „Lage“. Zum Standort gehörte eine spezifische „Sicht“ mit bestimmten „Wissenschancen“. Eine solche Soziologie des Wissens müsse die so ausgeloteten „Bewusstseinstatsachen“ auf ihre „kategoriale Struktur“, ihre gesellschaftliche, vorbewusste Geprägtheit hin untersuchen. Auf dieser theoretischen Basis legte Ernst Manheim die erste sozialwissenschaftliche Analyse einer neu entstehenden Öffentlichkeit und ihrer Trägerschichten im 18. Jahrhundert vor. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit den neuen Formen der Vergesellschaftung, wie Geheimbünden, Vereinen, Salons, Tugendbünden und patriotischen Gesellschaften, die er strukturell differenziert und kategorisiert. Das gleiche unternimmt er für neue Publikations- und Kommunikationsformen, wie Preisausschreiben, offene Briefe, Kundgebungen. In einem weiteren Schritt wird die Rezeption dieser Kommunikationsformen beleuchtet. Im zweiten Teil der Studie werden an historischen Beispielen die verschiedenen Schichten der neu entstehenden Öffentlichkeit exemplifiziert. Ungewöhnlich für die Zeit und auch im Vergleich mit späteren Studien zu dem Thema ist auch, dass sie stets Europa als Ganzes in den Blick zu nehmen versucht.67 Obwohl die Arbeit methodisch höchst innovativ und mit ihrem sozialwissenschaftlichen, ja nahezu diskursanalytischen Zugriff ihrer Zeit weit voraus ist, bleibt ihr eine breitere Rezeption verwehrt. Dies hat zunächst mit den politischen Umständen ihres Erscheinens zu tun, erklärt aber nicht den mangelnden oder nur impliziten Rekurs in den 1960er Jahren.68 Ernst Manheim, nur sieben Jahre jünger als sein berühmter Vetter, erfährt seine akademische Sozialisierung unter völlig anderen Vorzeichen. Nach einem Studium der Chemie in Budapest, kommt er in Wien – unter anderem auch wieder vermittelt durch Georg Luk#cs – in Berührung mit philosophischen und sozialwisEbd., 26. Im Vorwort zur Neuausgabe schreibt Manheim: „Die sozialen Bewegungen der Länder der ,Dritten WeltR bieten zahlreiche Bespiele für Weltanschauungswandlungen dieser Art, vgl. ders., Vorwort, in: ebd., 19. 68 In Jürgen HabermasQ Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit ist Karl Mannheim mit vier Zitationen im Personenverzeichnis zu finden; bei drei davon handelt es sich aber um Ernst Manheims Aufklärungsstudie, die nur materialiter, nicht konzeptionell herangezogen wird, vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 4), 255, 304 f., 385, 379. 66 67

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senschaftlichen Fragen. 1923 geht er nach Kiel, um bei Ferdinand Tönnies zu studieren. Es sollte aber nicht Tönnies, sondern dessen junger Kollege Hans Freyer sein, der Manheim stark prägte, dem er nach Leipzig folgte und mit dem er bis zu seiner Emigration eng zusammenarbeitete. Die Habilitation mit der Studie zur „Soziologie der Öffentlichkeit“ ist Manheim jedoch schon verwehrt, da Studenten eine Eingabe machen, dass sie verhindert werden muss. Manheim zieht die Arbeit zurück und geht 1933 nach England ins Exil, wo er an der London School of Economics bei Bronisław Malinowski 1937 eine zweite Promotion unter dem Titel Risk and Security in Primitive Society abschließt.69 Ebenfalls in London gewinnt ihn Friedrich Pollock dafür, eine Geschichte der autoritären Familie für die Autoritäts-Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu schreiben.70 Im Londoner Exil verbringt er auch erstmalig längere Zeit mit seinem Cousin Karl Mannheim und die gemeinsamen Interessen werden in gemeinsame Projekte überführt. Von 1934 bis 1937 ist Ernst Manheim Assistent bei Karl Mannheim, bevor er als Professor für Soziologie nach Chicago berufen wird. Das Exil beider Wissenschaftler, die verzögerte Publikation ihrer Arbeiten, die Abfassung der Schriften in mindestens zwei Sprachen und damit die Vermittlung der Thesen in ganz unterschiedlichen Wissenschaftskulturen kappen ebenso wie der frühe Tod Karl Mannheims die Rezeptionslinien in die deutsche Ideen- und Philosophiegeschichte allgemein, sowie die in die Aufklärungshistoriographie in Sonderheit. Einzig Niklas Luhman berührt Karl Mannheims Konzeptualisierung der Aufklärung in der Ausarbeitung seiner Antrittsvorlesung vom 25. Januar 1967 in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Münster unter dem Titel „Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme“.71 Für die Kartographie der Aufklärungsforschung soll festgehalten werden, dass in den 1920er Jahren ein neues Konzept für den Zugriff auf die Aufklärung entwickelt wurde. Es unterschied sich grundlegend von den älteren ideengeschichtlichen Studien, als es die gesellschaftlichen Grundlagen, die Standortgebundenheit und die sozialen Konstellationen im Bezugssystem der Aufklärer in den Blick nahm und zum Forschungsgegenstand machte. Das Motiv dabei war aber, weder eine Ideengeschichte alten noch eine Sozialgeschichte neuen Stils zu schaffen, sondern eine theoretische Grundlage zur Analyse politisch-gesellschaftlicher Systeme. Insofern war der Rekurs Karl Mannheims und seiner Schüler auf die Aufklärung ein doppelter, als er sowohl auf das Programm als auch die Struktur der Aufklärung abzielte. Dieser Rekurs erfolgte allerdings zur Unzeit; die von Karl 69 Die erste Dissertation war 1928 zum Thema Die Logik des konkreten Begriffs bei Hans Freyer in Leipzig eingereicht worden, vgl. Schindler, Einführung (wie Anm. 65), 9. 70 Ebd., 11. 71 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: Peter Pütz (Hg.), Erforschung der deutschen Aufklärung, Königstein/Ts. 1980, 32 – 58, hier 32 und 45.

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Mannheim befürchtete Erstarrung der ideologischen Entgegensetzung war bereits eingetreten. Nach fast 100 Jahren ist es an der Zeit, diesem Konzept der Aufklärung seinen verdienten Platz in der Aufklärungsforschung einzuräumen. Betrachtet man die Rezeption der Aufklärung in der Weimarer Republik, wird meistens betont, dass es sich um die Hochzeit der Aufklärungskritik handele; ja die zentralen Denkfiguren der 1920er bis 1940er Jahre seien aus einer dezidierten Abgrenzung von der Aufklärungsphilosophie entstanden. Die Wiederentdeckung der Aufklärung wird damit erst in die 1960er Jahre, in den Kontext der sog. ,sozialwissenschaftlichen WendeR verlegt. In vorliegendem Beitrag soll gezeigt werden, dass in diesem Narrativ übersehen wird, dass seit den 1920er Jahren mit Karl Mannheims Wissenssoziologie ein ganz eigenes Modell und Instrumentarium zur Erschließung des Aufklärungsdenkens vorgelegt wurde. Dieses bestand in einer innovativen Form der Wissensgeschichte, welche die soziale, sozialpsychologischen und soziologische Dimension der Ideen und vor allem ihrer Trägerschichten in den Vordergrund rückte. Neben Karl Mannheims theoretischer Grundlegung und gesellschaftspolitischen Reflexion des Aufklärungszeitalters, werden die materialgesättigten Studien seiner Schüler (Hans Gerth, Ernst Manheim) vorgestellt, die ebenfalls aus dem Kanon der Aufklärungsgeschichtsschreibung verschwunden sind. If one looks at the reception of the Enlightenment in the Weimar Republic, it is usually emphasised that this was the heyday of Enlightenment criticism; indeed, the central figures of thought from the 1920s to the 1940s emerged from a decided dissociation from Enlightenment philosophy. The rediscovery of the Enlightenment is thus only transferred to the 1960s, in the context of the so-called Rsocialogical turnQ. This article will show that this narrative overlooks the fact that since the 1920s, Karl MannheimQs sociology of knowledge has presented its own model and set of instruments for the development of Enlightenment thought. This consisted of an innovative form of knowledge history that brought the social, socio-psychological and sociological dimension of ideas and, above all, of their bearers to the fore. In addition to Karl MannheimQs theoretical foundation and socio-political reflection of the Age of Enlightenment, the material-saturated studies of his students (Hans Gerth, Ernst Manheim) are presented, which have also disappeared from the canon of Enlightenment historiography. Annette Meyer, Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München (CAS LMU), Seestraße 13, D-80802 München, E-Mail: [email protected]

Michael Schwingenschlçgl Menschheit ohne Raum? Fritz Valjavec und die Konsequenzen der ,Abendländischen AufklärungR

I. Zu Valjavecs Biographie Es ist möglich, daß die Zersetzung der autonomen Verstandeskultur weiter fortgeschritten ist, als wir annehmen. Es kann aber auch ebenso gut sein, daß sie noch weitere Möglichkeiten des Fortwirkens und der Steigerung besitzt. Erst die Zukunft wird das offenbaren. Individuelle Wünsche, mit denen Voraussagen meist zusammenhängen, sind ohne Gewicht.1

Die hier wiedergegebene Stelle stammt aus Fritz Valjavecs Geschichte der abendländischen Aufklärung, die 1961, ein Jahr nach dem Tod des Verfassers, erschien. Es handelt sich bei dieser Monographie um eine außergewöhnliche Schrift. Allerdings mag die Eigenartigkeit der Geschichte der abendländischen Aufklärung dazu beigetragen haben, dass diese Studie heute beinahe vergessen ist. Soweit ein Überblick zu gewinnen ist, wurde Valjavecs opus posthumum seit seinem Erscheinungszeitpunkt kaum rezipiert. Ein weiterer Grund dafür liegt womöglich in der Biographie des Autors. Fritz Valjavec (1909–1960) erscheint in den letzten Jahren zunehmend als ein Autor, welcher den Historikern selbst zum Gegenstand der Geschichtsforschung wird. Der in Wien geborene, aus balkandeutschem Haus stammende Valjavec, der 1934 in München promoviert wurde, widmete den Großteil seiner akademischen Tätigkeit der Erforschung des südosteuropäischen Kulturraums, wobei der Fokus auf den dort ansässigen deutschen Minderheiten und den politischen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert lag.2 Er etablierte dabei die Differenzierung der Südost- von der Osteuropaforschung. Von München aus arbeitete er im 1930 gegründeten Südost-Institut, wo er es zu Kriegszeiten bis zum stellvertretenden Leiter und ab 1955 bis zum Direktor brachte; um 1940 folgFritz Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien, München 1961, 18. Vgl. Felix von Schroeder, Lebenslauf von Fritz Valjavec, in: Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 365 – 369. 1

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Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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te er einem Ruf nach Berlin, wo er bis zum Kriegsende eine Professur innehatte.3 Als Akademiker, der nach dem Wort seines Mitarbeiters Felix von Schroeder dem Deutschtum Südosteuropas „zeitlebens eng verbunden blieb“,4 beteiligte er sich als Dolmetscher – und nach fremdem Zeugnis als Exekutor Gefangener – an militärischen und kulturpolitischen Vorhaben der SS in Rumänien und der Ukraine.5 Schon an der Absorption seines Instituts durch die SS nahm er offenbar keinen Anstoß, sondern betrieb als deren Mitglied sogenannte Gegnerforschung. Seine größeren Monographien zum deutschen Kultureinfluss im Nahen Südosten (1940),6 zum Josephinismus (1944),7 zur Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland (1951)8 und zur hier zu betrachtenden Abendländischen Aufklärung (1961) lassen modernitätskritische und religionsaffine Perspektiven deutlich werden, ohne dass man den Verfasser etwa als NS-Propagandisten bezeichnen könnte. So scheint Valjavec ein sich der ,VergangenheitsbewältigungR geradezu andienender Autor zu sein.9 Damit aber soll sich das Folgende nicht zentral befassen. Vielmehr ist zu profilieren, was Valjavecs Darstellung der Aufklärung in der Diskussionslandschaft zur Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet, und wie sich sein Urteil über die aktuellen Konsequenzen der Aufklärung historisch und systematisch einordnen lässt.

II. Die Aktualität des Aufklärerischen Diskutiert man Valjavecs Geschichte der abendländischen Aufklärung, fällt es schwer, sich hierbei nicht in Paraphrasen zu erschöpfen oder zum Literaturkritiker zu mutieren. Dennoch muss vorausgeschickt werden, was bereits die Monographie selbst festhält. Der Anspruch des Bandes ist es, erstmalig die Aufklärung als gesamteuropäisches, überseeisches und sämtliche Kulturbereiche übergreifendes Phänomen „in 3 Vgl. Norbert Spannenberger, Valjavec, Fritz, in: Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 26, Berlin 2016, 707 f. 4 Schroeder, Lebenslauf (wie Anm. 2), 365. 5 Vgl. Norbert Spannenberger, Südost-Forschung im Dienst der SS – Zur Biographie von Fritz Valjavec 1909 – 1945, in: Südosteuropa Mitteilungen 2014 (4), 60 – 73, insb. 70 – 73. 6 Vgl. Fritz Valjavec, Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns, München 1940. 7 Vgl. Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, 2. Auflage, München 1945. 8 Vgl. Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, München 1951. 9 Vgl. einen solchen Beitrag von Robert Pech, Anpassung als Lebensprinzip: Fritz Valjavec und die Südost-Forschung zwischen Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik, in: Südosteuropa Mitteilungen 2016 (3), 54 – 72.

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ihrer ganzen, erstaunlich großen Spannweite“10 zu behandeln. Valjavec verweist auf Unmengen Archivmaterials, auf philosophische, theologische, poetische, spezialwissenschaftliche, pädagogische und andere Texte aus mehreren europäischen Ländern, die zeigen sollen, dass die Aufklärung in ihrem Ursprung eine einheitliche ,abendländischeR Kulturerscheinung ist, wobei das Abendland als „Kulturraum“11 christlicher Konfessionen von der geographischen Bezeichnung Europa zu unterscheiden ist: „Die Aufklärung ist nicht europäischen, sondern abendländischen Ursprungs.“12 Gleichzeitig verhindert dieser kulturgeschichtliche Ansatz gezielt, die Aufklärung auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen oder ihre Expressionen zu hierarchisieren, was der Distinktion der Epoche in ihrer historischen Genese eine gewisse Unschärfe verleiht. Hierzu soll gleich mehr gesagt werden. Es sei zunächst jedoch ebenfalls betont, dass Valjavec seine Monographie im Duktus eines populärwissenschaftlichen Traktats verfasst hat. Der Text ergeht sich häufig in vagen Andeutungen kultureller Trends, zitiert selten im Wortlaut und ist in seiner ganzen Anlage eher thesenhaft als argumentativ angelegt. Überdies sind Gehalt und Stoffdarbietung des Werks keineswegs durchgehend innovativ, sondern entsprechen auf weiten Strecken dem, was man von einer Einführung in die Gedankenwelt, Kultur und Geschichte der Aufklärung erwartet. Diverse jüngere und ältere Schriften, welche sich mit der Aufklärung befassen, werden zur Basis der Arbeit Valjavecs erklärt: „Die Arbeiten von Dilthey, Troeltsch und und Groethuysen, Leslie Stephens und Hazard sind grundlegend.“13 Da die Veröffentlichung allerdings über kein Literaturverzeichnis verfügt, sind allein in den Fußnoten die Quellenangaben nachzuverfolgen. Geschieht dies, fällt keine besondere Gewichtung der soeben erwähnten Schriften untereinander oder im Vergleich mit der sonstigen Sekundärliteratur auf. Verschafft man sich einen Überblick über die eben vorangestellten ,ArbeitenR, so ist festzustellen, dass deren Verfasser sich nicht nur im aufklärungskritischen Spektrum befinden, sondern eher einen Querschnitt aufklärungsfreundlicher und aufklärungsfeindlicher Autoren ausmachen. Mit dem ersten erwähnten Autor bezieht sich der Verfasser auf Wilhelm Diltheys Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation;14 allerdings beschreibt diese Abhandlung nicht das 18. Jahrhundert, sondern Aspekte der Wissenschafts- und Sozialgeschichte vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Valjavec bezieht sich denn an besagter Stelle auch auf die philologische Kritik des Erasmus von Rotterdam, der ihm als Vorbereiter oder früher Vertreter auf10 11 12 13 14

Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 7. Ebd., 18. Ebd. Ebd., 7. Vgl. ebd., 46.

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klärerischen Gedankenguts, aber auch als „schwer faßbare Persönlichkeit“15 gilt. Eine solche Einordnung lässt sich zwar Diltheys Charakterisierung des Erasmus als „Begründer des theologischen Rationalismus“16 entnehmen, rechtfertigt aber kaum die für Valjavec angeblich fundamentale Relevanz von Dilthey im Hinblick auf das Verständnis der ,Abendländischen AufklärungR. Ähnlich ist es mit der zweiten Dilthey-Stelle bestellt,17 in der von solchen Theologen die Rede ist, die jenem Konzept außerkonfessioneller ,natürlicher ReligionR zugeneigt sind, das Valjavec als „universalen Theismus“18 bezeichnet. Während Dilthey Verständnis für den „frommen Klang“19 der „Worte: natürliche Religion, Aufklärung, Toleranz und Humanität“20 aufbringt, weil darin das „Aufatmen einer unter dem Druck der Konfession erliegenden Welt“21 nach dem Dreißigjährigen Krieg liege, hält Valjavec in offenbar kritischer Absicht fest, dass „damit der Boden eines wesenhaften Christentums verlassen“22 worden sei. Sollten diese beiden Stellen aus Diltheys Werk tatsächlich grundlegend für Valjavecs Arbeit sein, so zeigt sich, dass sie ihre Rolle nach Bedarf zum einen als geschichtliche Dokumentation und zum anderen als Folie polemischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit übernehmen. Ein Blick auf den Stellenwert, den Ernst Troeltsch angeblich besitzt, offenbart ebenfalls keinen direkten Bezug auf das ,philosophische JahrhundertR. Vielmehr referiert Valjavec aus Troeltschs Aufsatzreihe zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie23 dessen Ausführungen zur Romantik und zum Idealismus, wenngleich Valjavec dabei allerdings tatsächlich eine eher flüchtige Bemerkung Troeltschs zu Lessing paraphrasiert.24 Würde Troeltsch öfter erwähnt, könnte man vermuten, dass bei ihm eine Voraussetzung für Valjavecs multifaktorielle Herleitung der Aufklärung (aus sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ideellen Hintergründen) zu finden sein dürfte (sofern diese Interpretation von Troeltschs Thesen tragfähig ist). In der vorliegenden Form aber ist auch hier nicht einzusehen, worin das Grundlegende besteht.

Ebd. Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften, Bd. II), Leipzig, Berlin 1921, 74. 17 Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, 51. 18 Ebd. 19 Dilthey, Weltanschauung (wie Anm. 16), 95. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 50 f. 23 Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, (Gesammelte Schriften, hg. von Hans Baron, Bd. IV), Tübingen 1925, 532 f. 24 Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 336. 15 16

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Der nächste von Valjavec hervorgehobene Forscher, Bernhard Groethuysen, ist der Verfasser der Monographie Origines de lQesprit bourgeois en France. I. LQPglise et la bourgeoisie,25 die Valjavec in der deutschen Übersetzung Entstehung der bürgerlichen Welt heranzieht.26 Obwohl Groethuysen weitere Schriften zur Aufklärung verfasst hat, erwähnt Valjavec lediglich Die Entstehung der bürgerlichen Welt, und auch dies geschieht nur einmal. Leslie Stephen hat The History of English Thought in the Eighteenth Century27 geschrieben. Wenigstens ist zu vermuten, dass Valjavec keine andere Studie meint, denn er zitiert ausgerechnet diesen dezidiert aufklärungsfreundlichen Text kein einziges Mal. Den letzten erwähnten Autor, Paul Hazard, führt Valjavec tatsächlich wiederholt an, und zwar verweist er auf deutsche Übersetzungen von La Crise de la conscience europ8enne sowie von La pens8e europ8enne dans la XVIIIe siHcle de Montesquieu / Lessing. Dies geschieht üblicherweise an Stellen, die das auch jenseits des 18. Jahrhunderts angesiedelte Phänomen der ,FreigeisterR diskutieren, die angeblich archetypisch ,den AufklärerR repräsentieren. Valjavec ist zweifellos Hazard dort verpflichtet, wo die Fundierung der psychologischen Hintergründe sich etabliert, welchen die ,FreigeistereiR (die für Valjavecs Interpretation der Aufklärung zentral ist) als Beleg der philosophischen Grundthese von der Irrationalität des Menschen eingeschrieben werden kann. Auf die Gefahr hin, Hazard nicht nur verkürzt, sondern unangemessen darstellen zu müssen, sei hier doch angemerkt, welche Einschätzung der Aufklärung er im Vergleich zu Valjavec vornimmt. Für Hazard ist der Charakter der Aufklärung v. a. Rationalismus, und als solcher vernachlässigt sie die zu kultivierende und auszulebende Irrationalität des Menschen. Dies zeige sich an den Schriftstellern jenes Zeitalters: Leurs oreilles 8taient ferm8es / lQ8clat, / la douceur des mots, et leur .me avait perdu le sens du mystHre. Ils inondaient tout le r8el dQune lumiHre implacable, et ils voulaient que leurs effusions mÞme fussent ordonn8es et claires. Si la po8sie est une priHre, ils ne priaient pas; si elle est tentative pour arriver / lQineffable, ils niaient lQineffable; si elle est h8sitation entre la musique et le sens, ils nQh8sitaient jamais. Ils ne voulaient Þtre que d8monstrations et th8orHmes; quand ils faisaient des vers, cQ8tait pour y enfermer leur esprit g8om8trique.28

25 Vgl. Bernhard Groethuysen, Origines de lQesprit bourgeois en France. I. LQPglise et la bourgeoisie, Paris 1927. 26 Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 97. Vgl. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1927 – 1930. 27 Vgl. Leslie Stephen, History of English Thought in the Eighteenth Century, Cambridge 1876. 28 Paul Hazard, La Crise de la conscience europ8enne, Paris 1935, 352 f.

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Die Empfindsamkeit, das Esoterische wie das Okkulte des 18. Jahrhunderts gelten ihm als Gegenaufklärung. Hier ist Valjavec derjenige Historiker mit weiter gespanntem Horizont: Wenngleich er die Rationalität als Selbstbeschreibung der Aufklärung akzeptiert, sieht er die Wirkmächtigkeit des Irrationalen als integralen Teil derselben, wobei die fundamentalen Merkmale des Aufklärerischen letztlich sogar hierin wurzeln.29 Mit einem engeren Horizont umgibt sich Valjavec dagegen, wenn er die Auswirkungen der ,Abendländischen AufklärungR, wie zu zeigen ist, pessimistisch beurteilt. Hazard sieht in La pens8e europ8enne eine gewisse Ambivalenz im Erbe des 18. Jahrhunderts: Wenngleich durch die Aufklärung jegliche Einheit des ,wahren alten EuropaR („A lQEurope […] sQopposerait la fausse Europe“30) zerstört wurde, so bleibt doch Hoffnung auf eine neue abendländische Einheit. Diese Hoffnung quillt gerade aus jenem fortschrittsoptimistischen Aspekt der Aufklärung, welcher zum ,falschen EuropaR mit seinen aktuellen Feindseligkeiten geführt hat. Nichts Geringeres als eine (allerdings nicht theologisch explizierte) Heilsgeschichte (ein ,principe sauveurR) will Hazard in der vermeintlich säkularen jüngeren Vergangenheit finden: „QuQest-ce que lQEurope? – Une pens8e qui ne se contente jamais. Sans piti8 pour ellemÞme, elle ne cesse jamais de poursuivre deux quÞtes: lQune vers le bonheur; lQautre, qui lui est plus indispensable encore, et plus chHre, vers la v8rit8. A peine a-t-elle trouv8 un 8tat qui lui semble r8pondre / cette double exigence, elle sait quQelle ne tient encore, dQune prise incertaine, que le provisoire, que le relatif; et elle recommence la recherche qui fait sa gloire et son tourment.“ Oui, cQest bien ainsi quQil en 8tait; cQest ainsi quQil en est, pour le XVIIIe siHcle; et sans doute est-ce ainsi quQil en sera dans la suite: / travers toutes les d8ceptions, la permanence dQun principe sauveur. Sa soif inextinguible de v8rit8: telle est, dans sa misHre, sa grandeur; cQest en cela quQelle personnifie, plus que tout autre continent, la condition humaine.31

Denn der Geist, der sich mit nichts zufriedengibt, wird sich auch mit den aktuellen Konsequenzen der Aufklärung nicht begnügen, aber doch auf deren überkommene Fragen nach Wahrheit und Glückseligkeit neue Antworten finden können, die Europa auf bessere und durchaus mit der Aura des Überzeitlichen versehene Wege führt. Eine solche Folgerung liegt dem nur ein Jahrzehnt nach Hazard schreibenden Valjavec fern; er übernimmt die negative, nicht aber die positive Perspektive auf die Aufklärung. Überblickt man die von Valjavec zu Beginn erwähnten Standardwerke, so handelt es sich nicht um ausschließlich aufklärungskritische Grundlagentexte. Wich29 Vgl. zu Valjavecs Berufung auf Hazard Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 217, 301, 328. 30 Paul Hazard, La pens8e europ8enne au XVIIIe siHcle de Montesquieu / Lessing, Paris 1963, 449. 31 Ebd., 449 f.

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tiger noch: Es handelt sich um philosophiehistorische, teils dezidiert philosophische Monographien, nicht aber um generell historiographische Arbeiten. Allgemein verhält es sich mit den oben genannten Autoren größtenteils nicht anders als mit Valjavecs Quellenarbeit in der gesamten Monographie: Ein extensiver Gebrauch vorhandener Literatur zu letztlich kritischer Beurteilung der Aufklärung ergibt den Anschein ausgewogener oder neutraler Betrachtung. Zwar mag die implizite Zielsetzung einer solchen ausgewogenen Darstellung von vornherein vermessen erscheinen, weswegen die distanzierte Lektüre von Valjavecs Schrift sich geradezu aufdrängt. Der Anspruch auf eine noch nie zuvor gebotene Übersicht in Verbindung mit einer oftmals oberflächlichen Behandlung einzelner Autoren muss allerdings keinen Widerspruch enthalten – schließlich ist der Umfang jeglicher Abhandlung begrenzt, und teilweise scheint noch gegenwärtig der Erfolg einer populärwissenschaftlichen Veröffentlichung als Krönung einer akademischen Karriere zu gelten. Umso drängender wird dann die Frage, welche Wirkabsicht Valjavec mit seiner adenauerzeitlichen Monographie verfolgt. Wie der eingangs zitierten Passage zu entnehmen ist, sieht der Verfasser die Auswirkungen der Aufklärung in der ,VerstandeskulturR der Gegenwart, deren mittelfristigen Fortbestand er für ungefährdet hält. Dass ihm dies kein wünschenswerter Zustand ist, ergibt sich daraus, dass er denselben als „übersteigerte Rationalisierung und Mechanisierung“32 einer gängigen Rationalitäts- und Technikkritik33 unterwirft. Es bleibt allerdings bei Andeutungen. In der Tat sind ,individuelle WünscheR des Verfassers in der Monographie nur impliziert. Aber sie sind es, die der Schrift ihre Kohärenz verleihen und die oben aufgeworfene Untersuchungsfrage einer Antwort zuführen. Die „Anschauungen des 18. Jahrhunderts“34 seien weiterhin in „Geltung“.35 Dies ist an sich keine bemerkenswerte Aussage, denn leicht lässt sich zeigen, dass der Gegenwart die Diskurse der Aufklärungszeit nicht gänzlich fremd geworden sind. Aufschlussreich wird es, wenn man fragt, warum sie nach Valjavec noch Geltung besäßen. Die Antwort ist keineswegs, dass jene ,AnschauungenR deshalb nicht der Vergessenheit anheimgefallen seien, weil sie überzeugend oder gar wahr sind. Stattdessen heißt es: „Kulturelle ,RaumreservenR, von denen eine neue, urwüchsige Entwicklung ausgehen könnte, gibt es nicht mehr.“36 Mit anderen Worten: die räumlich isolierten Ethnien, die Voraussetzung jeglicher KulturinnovatiValjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 18. Vgl. zur Technikkritik des 20. Jahrhunderts Wolfgang Klems, Die unbewältigte Moderne: Geschichte und Kontinuität der Technikkritik, Frankfurt am Main 1988. Vgl. ferner Christoph Müller, Bernhard Nievergelt (Hg.), Technikkritik in der Moderne. Empirische Technikereignisse als Herausforderung an die Sozialwissenschaft, Opladen 1996. 34 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 18. 35 Ebd. 36 Ebd., 16. 32

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on sind, gehören der Vergangenheit an, da die Menschheit global vernetzt ist. Und genau darin besteht für Valjavec die wichtigste Auswirkung der ,Abendländischen AufklärungR: „Der Siegeszug der modernen Kulturformen über die ganze Erde ist begleitet von der nachträglichen Ausbreitung fortschrittsgläubiger Vorstellungen des 18. Jahrhunderts.“37 Nicht so sehr die Aufklärung selbst, sondern die Folgen dieser Aufklärung sind irreversibel. Das ,Volk ohne RaumR, das im Ausgang von Hans Grimm zum Schlagwort der aggressiven Entledigung gesetzter politischer Ordnungsmuster im Rahmen militärischer Expansion avancierte,38 wird bei Valjavec, wenn man so sagen darf, in einer subversiven Reinterpretation des aufklärerischen Humanitätsdenkens zur hoffnungslosen ,Menschheit ohne RaumR. Aus dieser Perspektive verhandelt Valjavec das 18. Jahrhundert. Relevant erscheint dabei, dass er zwar das Zentrum der Aufklärung ins 18. Jahrhundert legt, den Phänomenbereich derselben aber auf Epochen auszuweiten weiß, die vom 18. Jahrhundert üblicherweise scharf abgegrenzt werden. III. Historizität und Übergeschichtliches Valjavec schickt sich an, eine berühmte Frage zu beantworten: „Was ist Aufklärung?“39 Er legt dazu seiner Analyse einen systematischen, transhistorischen Begriff von Aufklärung zu Grunde. Dies hat eine Ausweitung und zugleich eine Einschränkung der Aufklärungskonzeption zur Folge. Letzterer Aspekt kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass er das selbsterklärte Ziel der Aufklärer, den Vernunftgebrauch zu stärken, als inessenziell abtut: „Auch andere Zeitalter haben die Vernunft hoch bewertet.“40 Und: „Aufklärung ist auch nicht im Sinne Kants ein geistiger Vorgang, der die Menschheit aus ihrer ,selbstverschuldeten UnmündigkeitR heraushob. Dies war die Auffassung eines entschwundenen Zeitalters, das in dieser Weltanschauung einen unbedingten Wert sehen durfte.“41 Hier fällt ein zentraler Terminus, der zu Valjavecs epochenübergreifendem Aufklärungsverständnis hinleitet: derjenige der Weltanschauung. Aufklärung ist für Valjavec, noch stärker als für Dilthey,42 eine ,WeltanschauungR, kein philosoEbd., 19. Vgl. Hans Grimm, Volk ohne Raum, München 1926. Vgl. zur historischen Signifikanz dieser Phrase Heike Wolter, „Volk ohne Raum“. Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers, Münster u. a. 2003. 39 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 10. 40 Ebd. 41 Ebd., 11. 42 Dilthey scheint die Aufklärung stärker an bestimmte rationale Gehalte gebunden zu sehen als Valjavec, dessen Weltanschauungsbegriff deutlicher von Grundannahmen über das Irrationale sowie 37 38

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phisch begründetes Programm oder eine politische Agenda, sondern die auf außerrationalen Motivationen gegründete Vision, „alles nach den Geboten der Vernunft geschehen“43 zu lassen. So ist die Scholastik als mittelalterliche Folie der Aufklärung ebenfalls rational, doch hat sie den unausgesprochenen Vorteil auf ihrer Seite, nicht alles der Vernunft unterordnen zu wollen, sondern dieselbe als „göttliche Gabe“44 zu relativieren. Die auffälligste Eigenschaft der Aufklärung ist für den Historiker ein gewisser Szientismus; die Ratio tritt dabei nur sekundär auf den Plan; tatsächlich spricht Valjavec von einem „Wissenschaftsglauben[]“,45 der früheren Zeitaltern fremd gewesen sei, der aber offenbar dem Aufklärer ein gleichsam religiöses Obdach geboten habe: „Man kennt keine geistige Unsicherheit, aber auch keine innere Unruhe und fühlt sich im Kreise des erarbeiteten menschlichen Wissens geborgen.“46 Dass dies nicht nur eine fragwürdige Präsentation der Aufklärung ist, sondern dass Valjavec einem solchem Diktum an zahlreichen Stellen selbst widerspricht, indem er die Unsicherheiten und irrationalen Momente der Aufklärer betont, liegt nicht nur an der verhinderten letzten Durchsicht des Texts durch den unerwarteten Tod des Verfassers, sondern an der Argumentationsstrategie, die Folgerungen aus der Aufklärung teils als hoffnungslos naiv, teils als untragbar nihilismusaffin zu charakterisieren. Denn einer Definition der ,Abendländischen AufklärungR nähert sich der Historiker am ehesten dadurch, dass er der Neuzeit die Entwicklung einer generell neuen Anthropologie zuschreibt, welcher die Vernunft nur „Ausdruck einer neuen Auffassung vom Wesen des Menschen“47 ist. Es ist, um genau zu sein, „der Zug zur Vermenschlichung“,48 der die Aufklärung so bestimmt, dass der Mensch „zum Maß aller Dinge erhoben wird.“49 Einerseits also findet man hierin den Kern der Aufklärung: „Wäre der Begriff Humanismus nicht von der Vorstellung notwendigerweise nicht hinterfragbarer Setzungen bestimmt ist; vgl. Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Paul Ritter, Leipzig 1927, 81 – 205, hier 131: „Die Grundzüge der Aufklärung sind überall dieselben: die Autonomie der Vernunft, die Solidarität der intellektuellen Kultur, die Zuversicht ihres unaufhaltsamen Vorwärtsschreitens und die Aristokratie des Geistes.“ Diese Schrift wird von Valjavec jedoch nicht erwähnt. Vgl. zum Begriff der Weltanschauung um 1900 die noch immer hilfreiche Sammlung von Max Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung: Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey, Berlin 1911. Einen Forschungsüberblick bietet Horst Thom8, Weltanschauung, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, 453 – 460. 43 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 11. 44 Ebd., S. 10. 45 Ebd., S. 12. 46 Ebd. 47 Ebd., 11. 48 Ebd. 49 Ebd.

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schon für eine andere geistige Bewegung vergeben, so wäre er am geeignetsten, das Zeitalter als Ganzes zu kennzeichnen.“50 Andererseits erschließt sich im Laufe der Darstellung jenes Menschenbild mindestens so überzeugend als Effekt jener in den Quellen vorzufindenden Diskurse, die angeblich bloßer Ausdruck der anthropologischen Kehre sind. Der dabei aufscheinende Widerspruch, welcher der historiographischen Genauigkeit zuwiderläuft, rückt den Text damit selbst in die Nähe jener Weltanschauungen und ihres Schrifttums, wovon Valjavec oben spricht.51 Mit den weiteren Charakteristika der Aufklärung verfährt er auf gleiche Weise, was hier aus Gründen des Umfangs nicht detailliert nachgezeichnet werden kann. Anthropozentrismus, Religionskritik, politisches Emanzipationsstreben – all das konstituiert ein Aggregat von Eigenschaften, das in den Zeugnissen der Aufklärung jeweils mehr oder minder stark sichtbar ist. Aber diese Merkmale bilden kein definitorisch auflösbares Muster oder einen auf einem fundamentalen Attribut beruhenden Prädikationszusammenhang des Aufklärungskonzepts. Geschichte, so ist daraus zu schließen, ergibt sich weder aufgrund politischer Sachzwänge noch aus ideellen Überzeugungen der Menschen, sondern aus einer Verquickung von Willensregungen, „von zeitlosen Kräften seelischer Natur“,52 welche einer Letztbegründung notwendigerweise entbehren und mithin die rationale Selbstlegitimierung der Aufklärung Lügen strafen. Aufklärung im transhistorischen Sinne findet man nach Valjavec auch in anderen Zeitaltern. (Aus diesem Grund spricht vorliegender Beitrag stellenweise vom Konzept des ,AufklärerischenR bei Valjavec.) Wenigstens eines der oben genannten Attribute rücke diverse Kulturen in die Nähe der Aufklärung im Sinne eines immer wieder auftretenden Vorgangs der Ablösung von Traditionen. So spricht der Verfasser von quasi-aufklärerischen Bestrebungen im alten Ägypten, in Babylon und bei den Assyrern, ferner von Aufklärung „[i]n geschlossener Form“53 im Konfuzianismus, bei Indiens Brahmanen, im Buddhismus, bei den Skeptikern und Stoikern der griechisch-hellenischen Antike sowie bei den Arabern.54 Diese Aufzählung akzentuiert vornehmlich die metaphysisch immanentistische Haltung der ,aufklärerischenR Bewegungen, die zu einer Aufwertung des Status menschlicher Selbstentfaltung führt. Schlängelt sich hier der Widersacher Ebd. Vgl. hierzu Horst Thom8, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2002, 338 – 380 sowie nochmals Horst Thom8, Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ,WeltanschauungR und der Weltanschauungsliteratur, in: Werner Frick, Susanne Komfort-Hein (Hg.), Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für KlausDetlef Müller zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 2003, 387 – 402. 52 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 41. 53 Ebd., 13. 54 Vgl. ebd., 13 – 16. 50 51

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durch die Weltgeschichte, der jeden Garten Eden in eine besonnte Wüste aus Disteln und Dornen verwandelt? Zugegeben wird dies in der Monographie nicht, aber die generell auf die destruktiven Effekte, nicht jedoch auf die verdienstvollen Momente des vermeintlich ,AufklärerischenR eingehende Behandlung derartiger Erscheinungen legt einen solchen Schluss durchaus nahe. Überraschen darf es vor diesem Hintergrund nicht, dass Valjavec der Aufklärung im engeren Sinne – d. h. der ,Abendländischen AufklärungR – einen langen Vorlauf im katholischen Mittelalter gönnt, und sie auf die Gegenwart ausstrahlen lässt: Sieht man in ihr einen bloßen Kulturstil, der sich zwischen 1700 und 1800 in Europa entfaltete, so erhält man nur einen Ausschnitt aus der großen geistigen Bewegung, die in Wirklichkeit einen viel größeren Umfang aufweist. Es ist unerläßlich, die Anfänge dieser Geistesströmung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts vorzuverlegen und ihre Nachwirkung im 19. und 20. Jahrhundert zu beachten. Auch die Vorgeschichte erfordert sorgsame Beachtung. Die tiefsten Wurzeln der Aufklärung reichen bis in das Hochmittelalter zurück.55

Mit der Prämisse, dass Aufklärung einerseits nicht zu definieren, andererseits aber grob als weltgeschichtlich immer wieder auftretende Transzendenzaversion und menschliche Selbstermächtigung zu beschreiben sei, fällt es dem Historiker leicht, inmitten des vollständig christianisierten Europa die Keime der Aufklärung zu identifizieren: Im Mittelalter nämlich wurden der Glaubensbegriff als solcher wie auch die Glaubenspraxis erstens durch immer wieder auftretende Sektenbildung und zweitens durch fremde philosophische Einflüsse geschädigt; gegen die Stabilität katholischer Dogmatik traten sowohl religiöse Gruppierungen wie die Katharer als auch philosophische Herausforderungen wie der Averroismus auf,56 der die zeitliche Weltschöpfung und die Unsterblichkeit der Seele leugnete. Zwischenzeitlich konnte durch den Thomismus diesen Schwierigkeiten begegnet werden: „Noch einmal wurde die Geschlossenheit der abendländischen Kultur gerettet.“57 Nicht mehr aufzuhalten war die Lockerung dieser Einheit allerdings mit dem Ende des byzantinischen Reichs, als die Suche nach neuen Handelswegen Amerika und den fernen Osten zugänglich machte: „Die Entdeckung Amerikas und die Erschließung des Seeweges nach Indien offenbarten dem weißen Menschen erstmals das Vorhandensein einer heidnischen Welt, wie man sie bisher nur vom Hörensagen gekannt hatte.“58 Die Wechselwirkung zwischen ,heidnischerR und christlicher Welt führt letztendlich zu jener technischen ,VerstandeskulturR, die als Erblast der Aufklärung die globale Gegenwart auszeichnet. 55 56 57 58

Ebd., 16. Ebd., 36 – 39. Ebd., 26. Ebd.

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IV. Theorie und Praxis der Aufklärung Im Folgenden soll ein Überblick über die Bestimmungen gegeben werden, die Valjavec unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen der Aufklärung zuschreibt. Zuvor jedoch muss nochmals betont werden, dass jenes von Valjavec auch selbst so genannte ,philosophische ZeitalterR59 angeblich keineswegs einer philosophischen Basis aufruht: Die Vorläufer der Aufklärer, die „Freigeister“60 der Frühen Neuzeit, waren ursprünglich unphilosophisch (sie kümmerten sich um pragmatische Tugend, um ausübende Politik, oder um schöne Literatur), aber dann, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, begannen sie „nach einer geeigneten Philosophie Ausschau zu halten“,61 und so vollzog sich die Wendung zur Aufklärung.62 Erneut zeigt sich Aufklärung als ein im Grunde philosophiefernes Projekt. Die Philosophie ist ein Sekundärphänomen, genauer gesagt: eine Rationalisierung des Zweifels an der christlichen Orthodoxie, die dann das 18. Jahrhundert in besonderem Maße prägt. Nach Valjavec „bereitete sich die Aufklärung auf ihre weltgeschichtliche Rolle schon während des Glanzes der barocken Kultur vor“,63 und das heißt: alle zentralen Voraussetzungen und Gehalte sind – zumindest in theologischer Hinsicht – bereits „seit dem 16. Jahrhundert im Entstehen“64 oder gar gegeben. Freidenkertum im Sinne des Atheismus oder des Deismus, aber auch der konfessionslose „Universalismus“65 entsprechen bestimmten Bedürfnissen jener diesseitsbejahenden Freigeister. Valjavec benutzt für die Rolle der Philosophie in diesem Prozess den marxistischen Begriff des „Unterbau[s]“,66 meint aber damit das genaue Gegenteil, einen ,ÜberbauR. Die Aufklärungsphilosophie selbst ist lediglich die Unterfütterung der Wünsche und Bedürfnisse der Freigeisterei und ihrer Sympathisanten. Wie nicht zuletzt an der literarischen Beliebtheit der „Spitzbube[n] und Lebenskünstler“67 als Paradigma der Freigeisterei ersichtlich wird, bedient sich deswillen „[d]ie Zunft der leichtlebigen Genießer“68 philosophischer Diskurse: „Diese Sorte Mensch hatte es schon vorher gegeben. Neu war nur, daß man an ihr jetzt auch geistig Gefallen fand.“69 Erneut fällt Valjavecs partielle Umkehrung aufklärerischer Selbstrepräsentation auf: Den Ursprung hat die Auf59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Vgl. ebd., 9. Ebd., 62. Ebd. Ebd., 62 – 69. Ebd., 69. Ebd. Ebd., 66. Ebd., 69. Ebd., 64. Ebd. Ebd.

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klärung in der Befriedigung irrationaler Bedürfnisse, bei denen es sich im Leben um die Bedingung philosophischer Aktivität, im aufklärerischen Diskursinstrumentarium aber um die Bestätigung jener – nachträglich – erdachten Systeme handelt. Das Resultat der jahrhundertelangen Absage an christliche Systematik ist der Atheismus, der schließlich (gegen die Intentionen der Aufklärer70) jedes andere Sinngebungspotenzial destruiert. Versteht Valjavec die Aufklärung als eine Weltanschauung, die der Philosophie vorausgeht,71 so reiht er sich selbst in die Weltanschauungsdiskurse vom Anfang des 20. Jahrhunderts ein; aus einer Melange von Lebensgefühl, historischen Situationen und theoretisch-praktischen Gedankenspielen ergibt sich die Aufklärung; einzelne Felder bearbeitet sie aus der vorgängigen Weltanschauung. Die Studie Valjavecs wirkt in dieser Hinsicht selbst als Relikt einer Zeit, die nach dem 2. Weltkrieg der Vergangenheit angehörte. Die Strategie solcher Literatur besteht darin, die Charakteristika der Aufklärung nicht länger aus einem rational einsehbaren Grund abzuleiten, sondern in einem historisch kontingenten und spannungsreichen, geradezu widersprüchlichen Nebeneinander verschiedener Bestrebungen der „Stimmungen und Wünsche des Zeitalters“72 zu verorten. Relevant ist für Valjavecs Schreibart jedoch ebenso die an zahlreichen Stellen historisch genaue und bei aller ideologischen Kritik realhistorisch argumentierende Untersuchung einzelner Strömungen oder Geisteshaltungen samt deren Status im sozialen und politischen Rahmen der Epoche. Dieser Vorgehensweise bedient sich Valjavec bereits in seiner Monographie zum Josephinismus, deren Grundthesen er folgendermaßen zusammenfasst: Der Josephinismus ist das Ergebnis mehrerer geistesgeschichtlicher Entwicklungsreihen, vor allem aber das allmählich in Erscheinung tretende Ergebnis von Bestrebungen, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen den Anschauungen der vorausgehenden Zeit auf politischem und kirchlich-kulturellem Gebiet auf der einen und zwischen dem Geist der Aufklärung, den Tendenzen der Säkularisierung und Laisierung auf der anderen Seite.73

Hier wie auch in der Schrift zur Aufklärung gebraucht Valjavec die Begriffe Säkularisierung und Laisierung nur scheinbar synonym; tatsächlich aber heißt Säkularisierung für ihn nicht nur, dass – wie in der Laisierung – Kultspezialisten zunehmend ihre Relevanz einbüßen, sondern auch, dass überall theologische Prinzipien auf natürliche Prozesse übertragen und nutzbar gemacht werden, 70 Valjavec meint, „radikal atheistische Richtungen“ (ebd., 97) seien „bereits ein Zeichen für den Verfall der Gesamtrichtung“ (ebd.). 71 Vgl. ebd., 91: „Der Aufklärung liegt eine einheitliche Weltanschauung zugrunde. Sie ist das geistig Bewegende. Die philosophische Auffassung kommt erst an zweiter Stelle.“ 72 Ebd. 73 Valjavec, Der Josephinismus (wie Anm. 7), 8.

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um schließlich, wie noch zu besprechen sein wird, ihrer Begründungsfunktion verlustig zu gehen. In diesem Zusammenhang lässt sich die Behandlung einzelner Bereiche aufklärerischer Tätigkeit jedoch leichter begreifen. Die Aufklärung ist dem Verfasser zufolge weniger doktrinär als praktisch orientiert, weshalb die Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch als Grundlagendisziplin hoch im Kurs stehe: Der leibliche Mensch wird untersucht: Die Medizin macht Fortschritte, die Gesundheit als Glückseligkeit des Menschen wird erstmals als anzustrebende Normalität aufgefasst.74 Dass sich mit dieser Betrachtung des menschlichen Lebens Grundsätzliches ändert, reflektiert die Aufkärung denn auch selbst. So hat laut Valjavec die Geschichtswissenschaft hier ihre funktionale Konjunktur: Das Barock sei zwar „unbefangener[]“75 gewesen, so Valjavec, aber bei aller Genauigkeit der Datenerhebung nicht allzu systematisch vorgegangen. Die historiographisch-teleologische Systembildung, die Valjavec im Gegensatz zum Quellenstudium der ,GeschichtsforschungR als „Geschichtsschreibung“76 fasst, erlebte im 18. Jahrhundert ihre Klimax. Jene Systematik ist freilich erneut instrumentell. Eine gewisse Kritik an der aufklärerischen Zweckgebundenheit der Geschichtsforschung wird zur Hinterfragung des Fortschrittsvertrauens überhaupt aufgefahren, ohne jemals zur Polemik zu werden: „die Ersetzung der Theologie durch den Fortschrittsgedanken“77 bleibt ein vielleicht korrekter, aber nicht weiter durchdachter Aspekt von Valjavecs Darstellung, der kein einziges Mal auf seine Funktionalität überprüft wird – was besonders erstaunt, da er ihn bis in die Gegenwart für operativ hält. Es scheint dem Historiker eher darum zu gehen, als Historiker die Geschichtsphilosophie der Aufklärung von deren Geschichtsforschung scharf zu unterscheiden, wobei erstere in der Studie kaum Beachtung findet, und letztere abgewertet wird. Der Fortschrittsgedanke habe dann jedoch auch das Recht beeinflusst: Die Säkularität des Naturrechts seit Pufendorf, der Reformwille seit Montesquieu und die allmähliche Abmilderung von Zwängen bei Beccaria werden hervorgehoben, aber keiner genaueren Exegese unterzogen.78 Auf politischem Gebiet ist der historischen Chronologie nach zunächst die Unterstützung, dann jedoch die Hinterfragung des Absolutismus seitens der Aufklärer zu konstatieren. Die Gewaltenteilung werde erst mit Montesquieu zu einer ernstgenommenen Innovation der politischen Theorie, wobei dies erneuernde 74 75 76 77 78

Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, 208 – 215. Ebd., 285. Ebd. Ebd., 289. Vgl. ebd., 295 – 300.

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Moment auf den angeblichen Naturzustand rückprojiziert wird.79 Valjavec scheint „die politische Verherrlichung der Vorzeit“80 seitens der Aufklärer nicht als nützliches Gedankenexperiment, sondern als ignorante Bildung von Ursprungsmythen aufzufassen. Fortschritt im Namen der Wiederherstellung des Ursprungszustandes zu legitimieren, führe jedenfalls (darin stimmt Valjavec Hazard zu), zum „Recht des einzelnen Staatsbürgers auf Kritik […] in aller Öffentlichkeit“.81 Wenn Valjavec hingegen den Parlamentarismus als „bedeutendste politische Leistung der Aufklärung“82 beschreibt, dann geschieht dies, soweit man es beurteilen kann, ohne kritische Untertöne. Dies aber bleibt in der Monographie doch eine weniger auffällige Stellungnahme. Schon in seiner zehn Jahre älteren Schrift Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland hält sich Valjavec mit Polemik weitgehend zurück. Der Liberalismus, dessen Voraussetzungen und Elemente er erhellend rekonstruiert,83 gilt ihm als notwendige und zum Teil berechtigte Antwort des Staatsbürgers auf die Anmaßungen des zentralisierten, absolutistischen Staates. Es ist jener absolutistische Staat der Aufklärung, welcher die „Staatsräson“84 im Namen der Stabilität wie des Fortschritts von transzendenzbezogenen Skrupeln löst und damit das ,SäkularisierungsproblemR der Neuzeit bereits in sich trägt: „Der absolutistische Staat hat nicht nur materiell, sondern auch politisch und geistig säkularisiert, indem er sich als oberste Instanz auf politischem, sozialem wie kulturellem Gebiet einsetzte.“85 Nur folgerichtig ist es daher für den Bürger, derartige Positionen für sich selbst und, wo erforderlich, gegen den Staat zu reklamieren: „Ich glaube als Ergebnis meiner Untersuchungen feststellen zu können, daß seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts allmählich Strömungen zutage traten, die im Sinne der Aufklärung den Ideen des Fortschritts auch auf politischem Gebiet Geltung zu verschaffen suchten.“86 Solchen Bestrebungen, die sich nach 1800 zum Liberalismus organisieren, entspricht das Gegengewicht des Konservativismus, dessen Struktur sich gleichfalls ihrem Ursprung in der Aufklärung bzw. ,SäkularisierungR zu entziehen außerstande ist: „Die Anfänge des Konservativismus reichen ebenfalls über 1789 zurück. Sie werden in den achtziger Jahren durch den Kampf gegen die Aufklärung und die geheimen Gesellschaften ausgelöst.“87 Die während der Aufklärung dominante Regierungsform der absoluten Monarchie er79 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. ebd., 306 f. Ebd., 306. Ebd., 308. Ebd. Vgl. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen (wie Anm. 8), 89 – 254. Ebd., 19. Ebd. Ebd., 11. Ebd.

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zeugt mithin einen Antagonismus, dem sich auch die späteren Gegner der Aufklärung stets zugehörig wissen. Mit der nach 1800 politisierten Gesellschaft bleiben die Strömungen somit innerhalb aufklärerischer Rahmenbedingungen. „Politisierung“88 versteht Valjavec dabei als Aggregat veränderter Normvorstellungen vom Staatswesen, dem sich eine agonale Gruppenbildung zur aktiven Umsetzung solcher Vorstellungen anschließt. 89 Daher ist es durchaus die historiographische Arbeit, die den Verfasser zu der weitreichenden These der Aufklärungsmonographie führt (oder diese wenigstens untermauern soll), dem Erbe der Aufklärung sei nicht zu entkommen, obgleich eine solche Abwendung vom Abendländisch-Neuzeitlichen in vieler Hinsicht wünschenswert wäre. Valjavec ist ein Historiker, der aufklärungskritisch argumentiert. Wichtiger noch ist die Umkehrung dieser Momente: Valjavec präsentiert sich als Aufklärungskritiker, der mit historiographischer Akkuratesse und Detailliertheit überzeugen will. Er ordnet sich damit einer Reihe von Intellektuellen ein, die der Aufklärung eine inhärente Aporetik unterstellen, welche durch keines der ihr eigenen Prinzipien überwunden werden könne, die aber hierzu keine philosophische Reflexion oder rein ideengeschichtliche Rekonstruktion ins Feld führen, sondern realgeschichtliche Zusammenhänge beleuchten und für die wahrgenommenen Probleme der Gegenwart (mit)verantwortlich machen. Dies ist ein Merkmal einiger Autoren nicht nur des konservativen Spektrums, sodass man Valjavec in dieser Hinsicht mit dem von ihm erwähnten Paul Hazard, aber auch mit Reinhart Koselleck und, was die jüngere Vergangenheit betrifft, mit Steffen Martus90 in eine Reihe stellen kann. V. Ambivalenzen des Fortschritts Ohne Adorno und Horkheimer je zu erwähnen, entwickelt Valjavec ebenfalls eine gewisse ,Dialektik der AufklärungR, indem er im szientistischen Zug derselben die Keime eines Umschlags vernunftorientierten Denkens (der ,autonomen VerstandeskulturR) in einen unverhüllten Irrationalismus finden will. Zur Illustration dieser Konsequenzen der Aufklärung führt die Monographie nochmals die obigen Diskurse in ihren späteren Verästelungen an. Sie sollen hier ein weiteres Mal angeschnitten werden. Die aufklärerische Anthropologie entwickelt immer überzeugendere Deszendenztheorien. Diese finden im 19. Jahrhundert mit Darwins natürlicher Auslese aus der ,random variationR individueller Charakteristika der Lebewesen ihren anti-teleologischen Abschluss. Der Mensch als grundsätzliches Zufallsprodukt 88 89 90

Ebd., 7. Vgl. ebd., 7 f. Vgl. hierzu die Beiträge von Marion Heinz und Daniel Fulda in diesem Band.

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wird dann zum Einwand gegen die Humanitätsideale der Aufklärung, den aufklärungstreue, noch ,humanistischR eingestellte Denker jedoch vorerst verkennen, indem sie die Evolution, wie David Friedrich Strauß,91 als anti-religiöse Stütze bzw. Ersatz des aufklärerischen Fortschrittsgedankens benutzen: „Eine solche Tröstung konnte aber nicht metaphysische Grundlagen ersetzen.“92 Die schon von Ernst Haeckel geforderte „Vernichtung ,unwertenR Lebens“93 sei die Folge dieser Vorstellungen, wenn man sie konsequent denke – eine bemerkenswerte Kritik vor dem Hintergrund der Tätigkeiten, denen Valjavec selbst noch einige Jahre zuvor im Sonderkommando nachging. Jene antihumanistische Konsequenz ist für Valjavec in der Tat einerseits bedauerlich, aber andererseits auch tiefgründiger als die Aufklärung. Die Aufklärung selbst nämlich stelle oberflächliche Identität über tiefergehende Differenz: „Der Aufklärer sieht nicht etwa einen ewigen Widerstreit der Dinge. Überhaupt fehlt ihm der Sinn für das Tragische, für das Vorhandensein unüberbrückbarer Gegensätze, für die furchtbaren Tiefen des Lebens.“94 So werde der Krieg deshalb abgelehnt, weil er unberechenbar sei, die Aufklärer jedoch jeglichen Sachverhalt berechnen wollten.95 Ist dann „infolge blutiger Kriege“96 zwar der Widerstreit der Dinge anzuerkennen, aber keine Gottesfurcht mehr zu vermitteln, weil, nachdem Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 361 f. Ebd., 362. 93 Vgl. ebd., 363, wo Ernst Haeckel, Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre, Berlin 1915, 33 ff. referiert wird. Haeckel gebraucht zwar nicht exakt die Phrase Vernichtung unwerten Lebens, verlangt jedoch im Kontext seiner Argumente für Eugenik und Euthanasie sinngemäß die ,BefreiungR und ,ErlösungR des ,nutzlosenR oder ,wertlosen DaseinsR kranker oder krimineller Individuen (hier Haeckel, Ewigkeit, 34 f.): „Noch seltsamer [als die Abschaffung der Todesstrafe] und geradezu widersinnig ist die weitverbreitete Ansicht, daß der Arzt verpflichtet sei, um jeden Preis das Leben des Kranken zu erhalten. Welchen Nutzen haben davon die unzähligen unheilbaren Kranken, welchen ihre schmerzensreiche Existenz eine beständige Qual, ihren Angehörigen eine schwere Last ist? Welchen vernünftigen Zweck hat es, die unheilbar an Geisteskrankheit, an Krebs oder Aussatz Leidenden, die selbst ihre Erlösung wünschen, lange Jahre in ihrer bejammernswerten Verfassung zu erhalten, oder gar besondere isolierte Hospitäler zur künstlichen Verlängerung ihrer Qualen zu unterhalten? Welchen Sinn kann es ferner haben, neugeborene Kinder mit Defekten, welche eine künftige glückliche Entwicklung von vornherein unmöglich machen, Mißgeburten, die von Anfang an das arme Geschöpf zu einem elenden, jammervollen und nutzlosen Dasein verurteilen, künstlich am Leben zu erhalten? Eine kleine Dosis Morphium oder Cyankalium würde nicht nur diese bedauernswerten Geschöpfe selbst, sondern auch ihre Angehörigen von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Daseins befreien. Über den offenkundigen Nutzen der ,Spartanischen SelektionR, welche schon vor mehr als 2000 Jahren krüppelhafte Neugeborene zu töten empfahl, habe ich bereits 1868 (im 7. Vortrage der ,Natürlichen SchöpfungsgeschichteR) und 1904 (im 5. Kapitel der ,LebenswunderR) meine persönliche Überzeugung ausgesprochen.“ 94 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 102 f. 95 Vgl. ebd., 101. 96 Ebd., 102. 91 92

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„die Erinnerung an den Teufel […] ausgemerzt“97 wurde, auch der Gottesglaube verschwinde, so müsse dies die Ereignisse des 20. Jahrhunderts zeitigen. Letzteres ist eine bloße Interpolation aus der hier vorgestellten Lesart, die vorzunehmen man allerdings geradezu eingeladen wird. Im Bereich der Politik nämlich vollzieht sich ein ähnlicher Umschlag, der keineswegs im Sinne der Aufklärung gewesen sei. Valjavec hält fest, dass besonders in Osteuropa mehr als anderswo durch volkssprachliche Bildungstätigkeit und Publikationsaktivitäten aufklärerischer Intellektueller die Herausbildung nationaler Identität gefördert worden sei.98 Diese widerspreche dem Weltbürgertum, das die Aufklärung sich auf die Fahne geschrieben hatte. Es muss kaum eigens betont werden, dass der von Valjavec anderswo kritisch betrachtete weltweit auftretende Massenmensch,99 ebenso Resultat der Aufklärung, dem Nationalisten nicht minder entgegensteht. Kaum vermeiden lässt sich der Eindruck einer auf allen möglichen Wegen erprobten Kritik an der Aufklärung seitens Valjavecs. Hinzugefügt sei aber auch, dass der nach dem 2. Weltkrieg schreibende Autor darauf abzielt, einerseits den Liberalismus als „gesunden politischen ,FortschrittR“100 wenigstens partiell zu legitimieren und zugleich anti-liberale Kräfte als gleichermaßen notwendig für die durchaus nicht nur negative Entwicklung besonders des deutschsprachigen Raums hinzuzuziehen. Dabei gehen in der Schrift über die Entstehung der politischen Strömungen das Zugeständnis wie auch die Minimierung deutscher Fehlentwicklungen mit der Behauptung eines unhintergehbaren historischen Anspruchs der Moderne an die Deutschen und die Menschheit Hand in Hand: Freilich haben die Dinge bei uns in manchem eine andere Gestalt als in England oder Frankreich gewonnen. Das war aber unser gutes Recht und nur eine ideologisch engbrüstige oder absichtlich unsachliche Betrachtungsweise könnte daran Anstoß nehmen. Mögen unsere Fehler in einem bestimmten Zeitabschnitt der jüngsten Vergangenheit noch so groß gewesen sein, der Wert oder Unwert eines Volkes darf nicht an einer einzelnen, im Grunde willkürlich herausgegriffenen Entwicklungsstufe gemessen werden.101

Gibt es eine Sonderstellung Deutschlands, so wird sie durch dessen Einbindung in die generellen Tendenzen der Europäischen Aufklärung zu mindern versucht. Gleichzeitig zeigt sich daran bereits die Auffassung Valjavecs, dass die Resultate der Aufklärung nicht rückgängig gemacht und ebenso wenig beibehalten werden können, sondern eine Problemlage bilden, die nach globalen Lösungen ruft. Mit 97 98 99 100 101

Ebd. Vgl. ebd., 316. Vgl. auch Valjavec, Der deutsche Kultureinfluß (wie Anm. 6), 426 – 441. Vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 359 f. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen (wie Anm. 8), 416. Ebd., 416.

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einem ähnlichen Schlusswort rundet der Verfasser auch seine Monographie zur ,Abendländischen AufklärungR ab, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Allerdings muss ebenso auffallen, dass der Historiker zahlreiche seiner Thesen gerade nicht erörtert, sondern lediglich unpräzise Gedanken zu Wirkzusammenhängen der Aufklärung postuliert. Als erstes Beispiel hierfür darf die Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften (oder „Kulturwissenschaften“,102 wie Valjavec sagt) angeführt werden: Die Aufklärung schätze in ihrer Kalkulationswut die Mathematik als Wissenschaft des Berechenbaren mehr als jede andere Wissenschaft. Dies führe zu einem Aufschwung der mathematisch arbeitenden Naturforschung, welche die Geisteswissenschaften (Kulturwissenschaften) verdränge.103 Valjavec sieht dies als Bedrohung ,unserer KulturR, ohne zu erläutern, worin diese Kultur besteht, worin also die Bedrohung bestehen könnte.104 Als zweites Beispiel diene Valjavecs Betrachtung der Literatur des 18. Jahrhunderts. So konstatiert er zu Recht deren Interesse für das Unbewusste.105 Wie dies mit der oben zitierten Aussage zusammenhängt, die Aufklärung sei für das Böse, Konfligierende und Dunkle in Welt und Menschenseele blind gewesen, erhellt sich kaum. Valjavec behauptet lediglich, dass dergleichen „das Zeitalter des Vernunftglaubens in Verlegenheit brachte“106 und (als der unausweichliche Bestandteil der Aufklärung, um den es sich Valjavecs sonstigen Aussagen zufolge tatsächlich gehandelt haben muss) nicht zu integrieren war. Man mag darüber streiten, ob die Aufklärung den fundus animae bewältigen konnte;107 dem Anspruch nach wollte sie ihn gewiss nicht als Wunderlichkeit beiseitelegen, sondern intensiv rational durchdringen.108 Valjavec hingegen insinuiert diesbezüglich, das rationale Verständnis eines seelischen Phänomens sei den Aufklärern gleichbedeutend mit dessen genetischer Reduzierung auf die Vernunft gewesen. Die wissenschaftsgeschichtliche und soziopolitische Seriosität vermeintlicher Nebenerscheinungen der Aufklärung, v. a. „der Sinn für das Geheimnisvolle“,109 der in Logen und Experimenten zahlreicher Naturforscher ihren Ausdruck fand, zeugt für Valjavec daher nicht von den zeitspezifischen Diskursen über ein rationales Verständnis der Menschheit und deren Bestimmung, sondern markiert leValjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 268. Vgl. ebd., 273 f. 104 Ebd., 274. 105 Ebd., 214 – 217. 106 Ebd., 216. 107 Vgl. hierzu Hans Adler, Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62/2 (1988), 197 – 220. 108 Vgl. Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, XV. 109 Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung (wie Anm. 1), 318. 102 103

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diglich die Grenzen aufklärerischer Selbstverständigung, die den Menschen „zu einer Verflachung des religiösen Fühlens geführt“110 hatte. Valjavecs These, „daß seelische Kräfte, die von der Aufklärung vernachlässigt worden waren, ihr Recht forderten“,111 da sie nicht länger auf ,orthodoxeR Weise „im Gottesdienst und in der Mystik berücksichtigt“112 bzw. ernstgenommen wurden, ist allerdings wohl teilweise zuzustimmen: „Ich sehe darin die Erklärung für die große Verbreitung der verschiedenen Mysterienbünde gerade unter den Gebildeten.“113 Jedoch wären freilich auch die soziale und die politische Funktion derartiger Vergemeinschaftung sowie die damals durchaus vorhandene wissenschaftliche Akzeptabilität solcher Unternehmungen in die Beurteilung obiger Zusammenhänge einzubeziehen. So hat nach Valjavecs ,Dialektik der AufklärungR das philosophische Zeitalter die Eigenart, dem christlichen Erbe das meiste zu verdanken, ohne dies ausreichend reflektiert zu haben (hier ähnelt die Argumentation derjenigen Carl Schmitts114); sie nimmt aber einen säkularen Gang, der in der globalen technischen Weltbeherrschung jenem Erbe die Grundlage entzieht und in eine Weltanschauung jenseits der Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens überhaupt führt: die Vergänglichkeit des Planeten, hinter der kein neuer Himmel und keine neue Erde steht, der Darwinismus, der den Menschen zum hinfälligen Produkt planloser Evolution macht, sowie die Erkenntnis des Irrationalen, das von keinem metaphysischen Raster mehr eingehegt wird (und dies, obwohl Freud mit seinen drei Kränkungen bei Valjavec nirgends Erwähnung findet).115 Hieraus ergeben sich für jeden Menschen praktische Konsequenzen und Probleme: „Die Ehrfurcht vor dem Leben schwindet.“116 Wollte man die Kritik an der ,Abendländischen AufklärungR verdichten, so lässt sie sich als Nihilismusvorwurf formulieren, wobei Nihilismus hier allerdings in einem speziellen Sinn als auf sich selbst reduziertes Streben nach der Zerstörung alles ganzheitlich Gegebenen zu verstehen wäre.

Ebd., 319. Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 10. Auflage, Berlin 2015, 43: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ 115 Die kopernikanische und darwinistische Kränkung nennt Valjavec im Verbund (vgl. Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung [wie Anm. 1], 360 f.) 116 Ebd., 363. 110 111

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VI. Die Funktion der Aufklärung für die Gegenwart Aus Valjavecs häufig trivial anmutender Darstellung ergibt sich – im Verbund mit der Meinung, die aufklärerischen Nachwirkungen könnten aufgrund mangelnder ,RaumreservenR unberührter Kulturen nicht beseitigt werden – die These, dass der Menschheit die globale Entfremdung von ihrer einstigen Ganzheitlichkeit aus der ,Abendländischen AufklärungR zugewachsen sei. Diese globale, endgültige Eroberungsleistung unterscheidet die ,Abendländische AufklärungR von allen anderen ,AufklärungenR: „Ein völlig neuer Abschnitt der Weltgeschichte hat begonnen.“117 Und dieser sieht betrüblich aus. Eine globalisierte Welt aber, die von der Aufklärung (d. h. deren Konsequenzen) unwiderruflich gekennzeichnet ist, lässt jeglichen Partikularismus unangemessen wirken. Muss man die Folgen also schlechthin erleiden, oder lassen sie sich verwinden? Valjavec meint, wie eingangs zitiert, individuelle Wünsche spielten dabei keine Rolle. Eine Zukunftsperspektive, die nicht mehr fortschrittsgebunden, sondern deutlich konservativ ist und sich damit auch wieder in das gedankliche Maß-Halten-Wollen der Nachkriegszeit einfügt, entwirft der Historiker zu guter Letzt jedoch durchaus. Wir müssen, so ist Valjavec auszulegen, globale Formeln finden, um die Welt vor dem Zusammenbruch zu bewahren: Diese engen und vielfältigen Berührungen oft gegensätzlicher Kulturen erfordern eine gesteigerte Rationalität der gegenseitigen Beziehungen, sie erfordern ,neutraleR Kulturformeln und Begriffe […]. Diese neutralen Begriffe und auch Kul-turformeln werden um so williger aufgegriffen, als die echten geistigen (nicht politischen und wirtschaftlichen) Gemeinsamkeiten so gering geworden sind. Diese Formeln und Begriffe wurzeln aber sehr stark im 18. Jahrhundert und damit in der Aufklärung.118

Wirtschaftliche und politische Bande sind zu schwach, substantielle geistige Einigung kann nicht stattfinden; was der Menschheit bleibt, sind inhaltsleere, aber hinnehmbare Konventionen, und so bedürfen wir dieses konzeptuellen Placebos der Aufklärungsideen. Die Aufklärung erhält damit eine nicht mehr progressive, sondern konservierende Funktion: Sie kann ihre Sünden der Entwertung des eigentlich Wertvollen nicht rückgängig machen, wird jedoch in einer jetzt nichtig erscheinenden Gegenwart zum beschwichtigenden Sprechakt, der ihre illusionäre Weltanschauung im Angesicht des Abgrunds weniger kritikwürdig macht als vielmehr praktisch legitimiert. Die Aufklärung, nicht in ihren aktuellen Spätfolgen, sondern in ihren ursprünglichen eigenen Wunschvorstellungen, erwächst, als ideelles Relikt der Vergangenheit, zum Mittel der Dissimulation einer schrecklichen Wirklichkeit. Sie ist das Fellgewand, das die Moderne aus dem Garten Eden in die große weite Welt mitgenommen hat. Die Aufklärung wird Valjavec mithin 117 118

Ebd., 16. Ebd., 363.

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zur Beschwörung einer Menschheit, die es so nicht gibt, nie gegeben hat, und auch nie geben wird. VII. Ausblick Den diesen Beitrag enthaltenden Band soll ein philosophiehistorischer Zugang zu den diskutierten Texten prägen. Da die Philosophiegeschichte jedoch seit dem Ausgang der Aufklärung zum intrinsischen Bestandteil der Philosophie selbst geworden ist, muss es zulässig sein, als Abschluss der hier vorgetragenen Deutung drei theoretische oder systematische Gedanken zu Valjavecs Monographie in teils kritischer Absicht zu äußern: 1) Die Konsequenzen der Aufklärung sind möglicherweise nicht als die bloßen Übel zu beurteilen, die Valjavec konstatiert, und die nachaufklärerischen Übel darf man nicht immer einer Dialektik oder einer andersartigen intrinsischen Entwicklung des Aufklärerischen, sondern auch gerade gegenaufklärerischen Tendenzen zuschreiben. 2) Dass die tatsächlichen oder vermeintlichen Konsequenzen der Aufklärung (Fortschrittsdenken, Anthropozentrismus, Szientismus, Nihilismus) die Welt völlig im Griff haben, ist fragwürdig. Sowohl die von den Aufklärern beabsichtigten als auch die unbeabsichtigten Folgen ihrer Epoche finden in dogmatisch-religiösen sowie prärational-mythischen Überzeugungen, Lebensgefühlen und Gesinnungen gegenwärtig starke Widersacher, die prinzipiell zu einer Tilgung der abendländischen Entwicklung seit der Aufklärung und darüber hinaus führen können. 3) Es wird nicht die Aufgabe sein, sich auf eine dieser beiden Seiten zu schlagen – oder, wie Valjavec andeutungsweise vorschlägt, Nebelkerzen zu zünden, die das Abgründige der Gegenwart verschleiern. Vielmehr müsste die Aufklärung wie jeder Aspekt der Geschichte als ausbaufähiger und gerade dadurch konstitutiver Teil menschlicher Selbstverständigung ernst genommen, akzeptiert und produktiv gemacht werden. Hierzu muss man schließlich nur eine Prämisse Valjavecs hinterfragen, die allerdings triftiger sein mag, als man anzunehmen geneigt sein dürfte: Es sind wohl nur zu einem Teil (und wenn auch nur im Sinne eines freien Gestaltungsspielraums individuellen sowie sozialen Daseins) irgendwelche isolierend wirkenden ,RaumreservenR, und es sind mindestens ebenso sehr die Kenntnisnahme und die Verständigung über eigene oder fremde Problemlagen, welche neue Sinnstiftungen ermöglichen und neue Wege ebnen. Dann aber ist keine bisherige welthistorische Entwicklung unwiderruflich oder aussichtslos. Vielmehr ist die geistige Zeugungskraft einzelner Denker und ganzer Kulturen wenigstens der Möglichkeit nach weiterhin vorhanden. Trifft diese Voraussetzung zu, so ist der Mensch gerade nicht notwendigerweise der Geschichte ausgeliefert. Und sollten sich dergleichen Gegenthesen zu Valjavecs Geschichte der abendländi-

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schen Aufklärung in ferner Zukunft bestätigen, schlägt sich in demselben ausstehenden Gang der Welt erneut die Macht von Ideen und zuletzt der Kreativität der Vernunft selbst nieder. Dass aber diese Vernunft auch aus dem Inventar der Aufklärung schöpfen darf und muss, ist unabweisbar. Vorliegender Beitrag skizziert die Aufklärungskritik des österreichischen Historikers Fritz Valjavec. Ausgehend von einem überhistorischen Aufklärungsbegriff, dessen Prämisse das Paradoxon einer fundamental irrationalen menschlichen Tendenz zur Verabsolutierung der Vernunft darstellt, werden die allgemeinen sowie die für das 18. Jahrhundert spezifischen Merkmale des ,AufklärerischenR in Valjavecs Auffassung herauspräpariert. Als ,Abendländische AufklärungR entstammen das 18. Jahrhundert und dessen Nachwehen einem umfassenden neuzeitlichen Säkularisierungsprozess, dessen Resultat sich allerdings letzten Endes nicht länger vormodernen Prinzipien verdankt, sondern sich von denselben im Wesentlichen löst. Valjavec gelten daher trotz aller geschichtlichen Parallelen die Konsequenzen der ,Abendländischen Aufklärung als präzedenzlos. Der Gegenwart rät der Historiker deshalb eine emphatische, wenngleich ins Konservative gewendete Rezeption der Aufklärung an, mit deren ,globalen FormelnR eine seiner Ansicht nach am Abgrund stehende Menschheit notdürftig vor dem Untergang bewahrt werden soll. This paper sketches out the Austrian historian Fritz ValjavecQs critique of the Enlightenment. Discussing his ahistorical notion of Enlightenment whose premise is the paradox of a fundamentally irrational human tendency to absolutize reason, the general as well as the 18th century-specific features of ,EnlightenmentR according to Valjavec shall be outlined. The 18th century and its aftershocks, entitled the ,Occidental EnlightenmentR, issue from a comprehensive modern process of secularization whose result, however, is no longer due to pre-modern principles, but instead has essentially broken away from the latter. Valjavec, although acknowledging certain historical parallels, regards the consequences of the ,Occidental EnlightenmentR as unprecedented. Thus he advises his contemporaries to emphatically adopt (the Enlightenment albeit with a conservative spin) whose ,global formulaeR ought to provisionally save humanity on the brink of disaster from its own doom. Dr. Michael Schwingenschlögl, Qinghuayuan 1, Tsinghua University, Haidian District, Beijing 100084, P. R. China, E-Mail: [email protected]

Frank Grunert Naturrecht und Aufklärung Die (unvereinbaren) rechtshistorischen Zugänge von Erik Wolf und Diethelm Klippel

I. Wollte man den Beitrag rekonstruieren, den die Rechtsgeschichte für eine epochengeschichtlich und diskursbegrifflich interessierte Auseinandersetzung mit der Aufklärung geliefert hat, dann liefe dies auf eine veritable Disziplingeschichte hinaus, die wegen der binnendisziplinären Differenzierung des Faches schnell unübersichtlich werden würde. Aufklärung ist eben auf vielen Gebieten des Rechts – der Rechtswissenschaft, der Rechtssetzung und der Rechtsanwendung – an Innovationen mindestens teilgehabt, was zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Methoden rechtsgeschichtlich aufgearbeitet wurde und wird.1 Um dennoch etwas über die Produktivität rechtsgeschichtlicher Forschung für die Beantwortung der Frage „Was war Aufklärung?“ mitteilen zu können, war daher eine entschiedene Fokussierung sachlich geboten. Dieser kam das Anliegen der vorliegenden Sammlung glücklicherweise entgegen, einzelne herausragende und wirkungsmächtige Werke mit Blick auf ihre spezifischen Leistungen innerhalb der Diskussion um die Aufklärung zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Angesichts meiner eigenen wissenschaftlichen Interessen war eine Konzentration auf die 1976 erschienene Dissertation Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts2 des am 5. Februar 2022 verstorbenen Rechtshistorikers Diethelm Klippel naheliegend. Die sehr verbindliche und verbindende Zusammenarbeit zwischen Diethelm Klippel und mir war ein zusätzlicher, auch angenehm verpflichtender Grund, sich noch einmal mit einem Werk 1 Vgl. dazu nur den Überblick von Michael Stolleis, Aufklärung und Modernisierung des Rechts, in: Rainer Enskat, Andreas Kleinert (Hg.), Aufklärung und Wissenschaft (Acta historica Leopoldina 57), Stuttgart 2022, 63–74. 2 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 23), Paderborn 1976.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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auseinanderzusetzen, das nicht nur meine eigene wissenschaftliche Arbeit schon früh befruchtete, sondern Generationen von Naturrechtsforschern in methodischer wie in materialer Hinsicht außerordentlich inspirierte. Das Buch markierte – wie Jan Schröder zu Recht in einem in der Juristenzeitung erschienenen Nachruf feststellte – insofern einen „wissenschaftlichen Durchbruch“ als mit ihm erstmals jenseits „feuilletonistischer Plaudereien oder politischer-moralischer Bekenntnisse“ und vor allem jenseits einer Beschränkung auf die „wechselnden philosophischen Begründungen des Naturrechts“ dessen „rechtspraktische Funktionen und historische Wandlungen“ in den Blick genommen wurden.3 Um die Produktivität des Buches angemessen beschreiben zu können, wäre – dem methodischen Beispiel Diethelm Klippels folgend – eine genauere Kontextualisierung seiner Arbeit notwendig, was wiederum umfangreiche Erkundungen auf juristischem, rechthistorischem und allgemein historischem Gelände erforderlich machte. Weil eine ausführliche Berücksichtigung der Arbeiten von vorangegangenen und zahlreichen parallel arbeitenden Historikern und Rechtshistorikern an dieser Stelle nicht gut möglich ist, die Besonderheit wissenschaftlicher Erkenntnis aber erst über Differenzen oder gar Kontraste wahrnehmbar ist, schien es sinnvoll zu sein, wenigstens auf ein Werk aufmerksam zu machen, das in der rechtshistorischen Forschung für lange Zeit prominent präsent war: Die Rede ist von den Großen Rechtsdenkern der deutschen Geistesgeschichte von Erik Wolf, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt viermal aufgelegt wurde. Indem Wolfs immer wieder überarbeitetes Buch an dieser Stelle hinzugezogen wird, kann eine theoretische Position eingebracht werden kann, die mehr als eine Generation vor Diethelm Klippel im damals gegebenen historischen Kontext ganz andere Wege gegangen ist. Beide – Klippel und Wolf – befassen sich in einer (rechts)historischen Perspektive chronologisch nacheinander mit Naturrecht, doch kann der theoretische und der methodologische Unterschied kaum größer sein. Wolf ist kein Vorläufer von Klippel, sondern eher sein Gegenbild. Die Gegenüberstellung ist daher nur als Kontrast möglich, doch könnte genau dieser aufschlussreich sein. II. Was Wolfs Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte und sein damit verbundenes Engagement für eine Reformulierung des Naturrechts im gegebenen Zusammenhang interessant macht, sind – neben der Tatsache seines unbestreitbaren disziplinären Einflusses – nicht zuletzt die auffälligen Erscheinungsjahre seiner unterschiedlichen Auflagen: Das Buch war 1939 zum ersten Mal erschienen, 1944 wurde eine zweite, verbesserte und mit Blick auf die Forschung ergänzte 3

Jan Schröder, Nachruf. Diethelm Klippel (1943–2022), in: Juristenzeitung 9/2022, 458.

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Auflage publiziert. Die erste Nachkriegsausgabe erschien 1951, dazu war das Buch „nochmals ganz durchgearbeitet“ und mit dem erklärten Ziel verbessert worden, „den Ergebnissen neuer rechtshistorischer und theologischer Forschungen auf dem Gebiet der Rezeptionsgeschichte und der Naturrechtslehre gerecht zu werden“.4 Eine letzte Auflage wurde schließlich 1963 vorgelegt.5 Zusammen mit Das Problem der Naturrechtslehre6 von 1955 – die zweite, erweiterte Auflage erschien 1959, eine dritte 1964 – gehen die Großen Rechtsdenker sachlich auf Wolfs Dissertation7 sowie auf eine Arbeit zurück, die Wolf als einen „ersten Versuch einer Vorarbeit zu einer Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft“8 beschreibt und 1927 unter dem Titel Grotius, Pufendorf, Thomasius. Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft bei Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen publizierte. Die Jahreszahlen weisen darauf hin, dass Wolfs Denken mit historischen Zäsuren in Verbindung steht, die – auch mit Blick auf die Arbeiten späterer Generationen – die Frage nach den Wirkungen dieser Zäsuren aufwerfen, zumal es sich hier um einen Text handelt, der zu unterschiedlichen Zeiten mit Blick auf die sich wandelnden weltanschaulichen Haltungen der Adressaten (und des Autors) überarbeitet und in unterschiedlichen historischen Kontexten rezipiert wurde. Erik Wolf gehörte bekanntlich zu denjenigen Juristen, die mit dem Nationalsozialismus große Hoffnungen verbanden.9 Unter dem Rektorat von Martin Heidegger amtierte er – von diesem angeregt – als Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Freiburg, und zwar mit der Absicht, nationalsozialistisches Denken und Handeln juristisch zu verwirklichen. Doch wie im Falle Heideggers war Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1944, V. Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Ein Entwicklungsbild unserer Rechtsanschauung, Tübingen 1939; ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 2. Auflage, Tübingen 1944; ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Dritte, neubearbeitete Auflage mit 16 Bildern, Tübingen 1951; ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Vierte durchgearbeitete und ergänzte Auflage mit 17 Bildern, Tübingen 1963. Der Umfang der Darstellung nimmt kontinuierlich zu und wächst von 592 auf 803 Seiten an, was an sachlichen Umarbeitungen und nicht zuletzt an der Aufnahme weiterer „großer Rechtsdenker“ liegt. In der letzten Auflage wurde als einziger Rechtsdenker des 20. Jahrhunderts Gustav Radbruch hinzugefügt. 6 Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung, Karlsruhe 1955. 7 Erik Wolf-Burckhardt, Die Entwicklung des Rechtsbegriffs im reinen Naturrecht, Diss. Jena 1924. Ein Exemplar der nur maschinenschriftlich vorgelegten Dissertation ließ sich nicht eruieren, die Deutsche Nationalbibliothek und die Bayerische Staatsbibliothek München verweisen lediglich auf einen Auszug in: Jenaer Juristische Doktorarbeiten 1922–1924, hg. von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena. 8 Erik Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius. Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, Tübingen 1927. 9 Vgl. dazu Reinhard Mehring, Rechtsidealismus zwischen Gemeinschaftspathos und kirchlicher Ordnung. Zur Entwicklung von Erik Wolfs Rechtsgedanken, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1992, Bd. 44, Nr. 2, 140–156. 4 5

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die Version eines nationalsozialistischen Staates, die die NSDAP vor Augen hatte, nicht mit der Version kompatibel, die Erik Wolf anstrebte. Es kam daher – wie im Falle Heideggers – zu einer vergleichsweise frühen Entfremdung. Wolf legte das Dekanat schon am 15. April 1934 nieder und schloss sich spätestens 1936 der Bekennenden Kirche an.10 Auch wenn – wie Reinhard Mehring wohl zu Recht feststellte – für Wolf der Nationalsozialismus in erster Linie eine bestimmte Negation der Weimarer Republik war und er diesen daher „in seinem Wesen verkannte“,11 so ist doch gleichzeitig klar, dass Wolf zeitweilig darum bemüht war, dem Nationalsozialismus eine juristische Unterfütterung zu verschaffen. Sein im Dezember 1933 gehaltener und wenig später separat erschienener programmatischer Vortrag Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate12 ist in dieser Hinsicht eindeutig; er wurde im Herbst 1934 durch einen Beitrag ergänzt, den Wolf mit dem Titel Richtiges Recht und evangelischer Glaube der dritten Auflage des von Walter Künneth und Helmuth Schreiner herausgegeben Sammelbandes Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich13 beisteuerte. Um Wolfs theoretischen Umgang mit dem Naturrecht nachvollziehen zu können, müssen dessen frühere Arbeiten ebenso berücksichtigt werden wie das später Problem der Naturrechtslehre. Wolfs Ein- und Ansatz ist im weiteren Sinne metaphysisch geprägt und vor allem – wie sich zeigen wird – theologisch perspektiviert. Weil Recht zum „ursprünglichen Wesen des Menschen selbst“ gehöre, folge aus diesem „In-derWelt-des-Rechts-seins“ notwendigerweise die Frage nach dem „richtigen Recht“.14 Recht sei dabei nichts Spekulatives und nichts willkürlich Gesetztes – „kein Ergebnis neuzeitlichen Grübels“ und „nichts auf Papier geschriebenes“ – , sondern „etwas im Blute Lebendes“.15 Trotz dieser pointiert biologistischen Konnotation – und in gewissem Widerspruch dazu – begreift Wolf Recht als „etwas Geistiges, aber durchaus Diesseitiges, dessen Dasein ein geschichtlich natürliches und gegenwärtiges ist“.16 Die Frage nach dem richtigen Recht könne daher 10 Vgl. dazu Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tübingen 2013, 140. 11 Reinhard Mehring, Rechtsidealismus zwischen Gemeinschaftspathos und kirchlicher Ordnung. Zur Entwicklung von Erik Wolfs Rechtsdenken, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1992, Bd. 44, Nr. 2, 146. 12 Erik Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate, Freiburger Universitätsreden, Heft 13, Freiburg im Breisgau 1934. 13 Erik Wolf, Richtiges Recht und evangelischer Glaube, in: Walter Künneth, Helmuth Schreiner (Hg.), Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, 3. Auflage, Berlin 1934, 241–266. 14 Erik Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate, Freiburg im Breisbau 1934, 3. 15 Ebd. 16 Ebd., 9.

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„nur vom Glaubens- und Lebensgrund unseres gegenwärtigen Daseins“17 beantwortet werden. Insofern sei richtiges Recht „in unserer heutigen deutschen Gegenwart“ nur dasjenige, „das die Wirklichkeit dieser Gegenwart, die politische und kulturelle Einheit des deutschen Volkstums in dieser Gegenwart zum Ausdruck bringt“. Und Wolf zögert nicht, dieses richtige Recht seiner Gegenwart begrifflich auf den Punkt zu bringen: „Der Name aber für diese in dem jüngsten Geschehen sichtbar gewordene Einheit des Volkstums heißt nationaler Sozialismus. Richtiges Recht, d. h. also unser wirkliches Recht, kann deshalb nur das Recht des Nationalsozialismus im Dritten Reich sein“.18 Recht wird nach Auffassung von Wolf erst dann zu richtigem Recht, wenn es dem Wesen des Volkes gemäß ist, als Volksrecht sei es „Ausdruck des im Blute lebenden und von Geschlecht und Geschlecht zu Geschlecht fortgebildeten Volksgeistes“.19 Es sei daher – wie Wolf mit implizitem, jedoch ablehnendem Verweis auf die Naturrechtslehren des 18. Jahrhunderts betont – kein „abstrakter Massenunterwerfungsvertrag“ und nicht „die Summe von Waffenstillstandsbedingungen im wirtschaftlichen und kulturellen Interessenkampf“.20 Der damit verbundene und dem richtigen Recht die Grundlagen verschaffende Volksgeist werde durch das „Erlebnis der Rasse“21 geformt, das Wolf – trotz der mehrfachen Verweise auf das „Blut“ – nicht vorrangig biologistisch, sondern als „ein sehr vielschichtiges Gemeinschaftserlebnis“22 verstanden wissen will. So läge der „Kern des Erlebens weniger in einer Besinnung auf den biologischen Ursprung der Völkerentwicklung, als“ – und das unterstreicht die ergänzende historische Dimension – „in der lebendigen Erfahrung des rassischen Eigenseins der Deutschen, deren Kulturaufbau in tausendjähriger Entwicklung ohne wesentliche Mitwirkung Fremdstämmiger erfolgt ist“.23 Und „fremdstämmig heißt“ – so fügt Wolf sogleich hinzu – „nicht zugehörig sein zu einer der vier unter einander vermischten deutschen Rassen, der nordischen, der fälischen, dinarischen und alpinen, die auf den indogermanischen oder arischen Wurzelstamm zurückgeführt werden“.24 Obwohl sich Wolf bemüht, den Rassismus historisch und kulturalistisch zu deuten – „im Rassenerlebnis schwingen geistige Dinge […] mit“25 – bleibt dessen Abwertungs- und Ausschließungsfunktion erhalten. Denn die „juristische BedeuEbd. Ebd., 10. 19 Ebd., 14. 20 Ebd. 21 Ebd., 15. Vgl. dazu Mehring, Rechtsidealismus zwischen Gemeinschaftspathos und kirchlicher Ordnung (wie Anm. 5), 146. 22 Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate (wie Anm. 12), 16. 23 Ebd., 15. 24 Ebd. 25 Ebd., 16. 17 18

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tung des Rassegedanken“ liegt nach Wolfs Dafürhalten in den „Maßnahmen zur Erhaltung des heutigen deutschen Rassenbestandes“, und dazu gehöre der „Schutz vor Ueberfremdung durch Ausschluß Fremdstämmiger von der Erwerbung ländlichen Grundbesitzes, Erschwerung ihrer Einbürgerung, Verminderung ihres unmittelbaren Einflusses auf Erziehung, Rechtsprechung, Staatsführung, Schrifttum“.26 Mehr als zwei Jahre vor den Nürnberger Gesetzen hatte Wolf schon recht konkrete, ausdrücklich juristische Vorstellungen von dem Ausschluss nicht-deutschstämmiger Bevölkerungsteile aus dem nationalsozialistischen Staat. Trotz dieser unverkennbaren, geradezu demonstrativen Nähe zum Nationalsozialismus weist Wolfs Rede gleichwohl Aspekte auf, die Differenzen zur Parteiversion des Nationalsozialismus erkennen lassen. Schon sein historisch-kulturalistischer Rassebegriff war 1935 Anlass, ihm „mangelnde Orthodoxie in der Rassenfrage“ vorzuwerfen.27 Die Differenzen gewinnen theoretisches Gewicht, wenn Wolf eine für „unauflöslich“ erachtete, mithin notwendige Verknüpfung des „Führerprinzips“ mit der „Gewißheit sittlicher Totalität“ einfordert. Weil die „nationalsozialistische Weltanschauung“ nämlich menschliche „Träger“ voraussetze, deren „sittliche Kraft“ in einer „Gewißheit sittlicher Totalität“ gründen müsse, die nicht allein auf „rassischem Erbgut“, „sozialer Gesinnung“ und „unbedingter Führertreue“ beruhen könne, sei es notwendig, sich zur Erlangung „absoluter Gewißheit“ der „höchsten Autorität Gottes, des Herrn der Geschichte“ zu unterstellen.28 Wolf spricht in diesem Zusammenhang prägnant von der „wesensnotwendigen Verbindung von Nationalsozialismus und Christentum“: „Der Staat Hitlers mit seiner gesunden Forderung, die natürlichen und geschichtlichen Gesetze der Rasse und des Volkstums anzuerkennen, bedarf der Kirche Christi, der Verkünderin des Schöpfers und Erhalters dieser Ordnungen“.29 Wolfs Formulierung ist insofern ambivalent als hier einerseits mit Hilfe des Christentums der nationalsozialistische Anspruch inhaltlich affirmiert wird, andererseits aber der Nationalsozialismus auf Bedingungen und Voraussetzungen verwiesen ist, die er selbst nicht hervorbringt und daher auch nicht selbst kontrollieren kann. Indem ausdrücklich davon die Rede ist, dass der Nationalsozialismus der Kirche Christi „bedarf“, werden Grenzen sichtbar, die – wie unkonkret auch immer – von Wolf insofern als solche benannt werden, als er betont, dass „der irdische Wirkungsbereich der natürlichen Gesetze der Rasse und des Volkstums […] der Begrenzung und BestäEbd. Zitiert nach Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in: Erik Wolf, Studien zur Geschichte des Rechtsdenkens, Frankfurt am Main 1982, 249. 28 Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate (wie Anm. 12), 26. 29 Ebd. 26 27

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tigung durch die ewige Wahrheit des Evangeliums“30 bedarf. Mit der sich anschließenden Behauptung, die „Uebereinstimmung mit der Norm der christlichen Zucht und Sitte“ gäbe erst die „volle Gewähr für ein volksordnungsgemäßes richtiges Recht“,31 wird vollends deutlich, dass das Evangelium dem nationalsozialistischen Staat normativ vorgelagert ist und Ersteres den Letzteren binden soll. Die „Totalität des Staates“ kann in der Wahrnehmung Wolfs nur in der „höchsten Autorität Gottes“ gründen. Damit ist im Prinzip ein Ausweg aus der nationalsozialistischen Ideologie mindestens angedeutet, den Wolf später tatsächlich auch einschlagen wird. Von Naturrecht ist in Wolfs programmatischem Text nur abwertend die Rede: Die Naturrechtler des 18. Jahrhunderts hätten deswegen keine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Recht geben können, weil sie nicht an dem teil hatten, „was vom Recht im Volke lebte“,32 so dass die Abstraktheit ihrer Rechtsideale nur unrichtiges Recht habe hervorbringen können. Ebenso wie der Positivismus des 19. Jahrhunderts hält Wolf das Naturrechtsdenken des 18. Jahrhunderts für überholt: „Beide Anschauungen liegen hinter uns“.33 Diese negative Bewertung des Naturrechts findet sich auch in dem bereits erwähnten parallelen Text Richtiges Recht und evangelischer Glaube, wobei hier insbesondere die Vorstellung eines „christlichen Naturrechts“ als eine göttlich gestiftete, unveräußerlich geltende und die Geschichte beherrschende und überdauernde Rechtsnorm zurückgewiesen wird.34 Obwohl die Reserve gegenüber dem Naturrecht genaugenommen nur ein bestimmtes Naturrecht bzw. eine bestimmte Funktion des Naturrechts betrifft, ist doch auffällig, dass Wolf (noch) keinerlei Mühe unternimmt, eine eigene Version des Naturrechts zu entwickeln, was deswegen erstaunlich ist, weil das Naturrecht in Wolfs Arbeiten der Zwanziger Jahre eine unübersehbar große und durchaus positive Rolle gespielt hatte. Dies gilt sowohl für seine Dissertation als auch für den 1927 erschienenen Band Grotius, Pufendorf, Thomasius. Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, dessen Einsatzpunkt gerade das grotianische Naturrecht ist. Im genauen Gegensatz zur späteren Zurückweisung eines unveräußerlichen Naturrechts erkennt Wolf 1927 in GrotiusQ „Verkündigung unverbrüchlicher und ewiger Rechtsinhalte, deren Mißachtung nicht nur sündhaft, sondern zugleich unvernünftig und damit unmenschlich sei“, eine „ungeheure Lei-

30 31 32 33 34

Ebd., 27. Ebd. Ebd., 5. Ebd. Vgl. Wolf, Richtiges Recht und evangelischer Glaube (wie Anm. 13), 257 f.

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stung“, die erst mit der Hilfe vieler Generationen tatsächlich habe verwirklicht werden können.35 Auf diese Wertschätzung des Naturrechts – vor allem als theoretisches Medium des Rechtsdenkens – kommt Wolf später wieder in den Großen Rechtsdenkern der deutschen Geistesgeschichte zurück. Im Kontext der Grotius-Darstellung wird hier – und zwar bereits in der ersten Auflage von 1939 – Naturrecht zu einem „Kennwort“ für einen „geistesgeschichtlichen Vorgang“, der durch eine „Stärkung des Rechtsbewußtseins“, eine „Neubesinnung auf das Recht“ und damit durch ein „neues Rechtsdenken“ charakterisiert ist.36 Mit dem Naturrecht habe der Mensch des 17. Jahrhunderts ein neues Selbstverständnis als rechtliches Wesen gewonnen und begreife – wie Wolf mit unübersehbarem Bezug auf eine Grundfigur seines Programmschrift von 1934 formuliert – Recht als den Mittelpunkt seines Dasein: „Ja, es ist recht eigentlich ein neues Begreifen des Daseins überhaupt, das von sich sagt: ich bin im Recht, und mehr noch: ich will im Recht sein“-37 Auch wenn das Naturrecht mit dem Auftreten von Hugo Grotius nicht neu war, so habe es mit und nach ihm als eine „Gestaltungskraft“ erwiesen, die sich in der „politischen und geistigen Entwicklung Europas“38 niedergeschlagen habe. Daher hält Wolf das Naturrecht – im genauen Unterschied zu seiner fünf Jahre zuvor artikulierten Abwertung – auch „heute“39 noch für nicht veraltet. Dabei werden die theoretischen Leistungen des dem Humanismus zugehörigen Hugo Grotius – historisch zu Recht – nicht mit Aufklärung in Verbindung gebracht; erst mit dem Werk Samuel Pufendorfs, den Wolf bereits in der Auflage von 1939 als einen „Aufklärer von Geburt“ qualifiziert, der den „erstarrten Schulhumanismus“ kritisiere und „jeder theologisch-dogmatischen auctoritas“ feind sei,40 hält Wolf eine Verbindung zwischen Naturrecht und Aufklärung für gegeben. Voll ausgebildet wird die Aufklärung allerdings erst – und zwar in der Nachfolge Pufendorfs – durch Christian Thomasius: Durch „die immer enger werdende Berührung des deutschen Geistes“ mit den Aufklärungen in England, Frankreich und Italien sei die „deutsche Aufklärung“ hervorgewachsen, deren eigenständige national geprägte „Rechts- und Staatsanschauung“ sich allerdings Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius (wie Anm. 8), 58. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), 199. 37 Ebd., 200. 38 Ebd., 199 f. 39 Ebd., 199, siehe auch Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1944] (wie Anm. 5), 231 sowie ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1951] (wie Anm. 5), 252. 40 Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), 257, ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1944] (wie Anm. 5), 294 sowie ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1951] (wie Anm. 5), 317. 35

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„scharf“ von den in England und Frankreich vorgelegten Lehren abgrenze.41 Mit Christian Thomasius, Christian Wolff und Justus Möser nennt Wolf drei dafür charakteristische, zugleich Entwicklungsstufen bezeichnende Rechtsdenker, wobei Thomasius deswegen bereits den Höhepunkt darstelle, weil durch ihn das Naturrecht zu einer „allgemeinen Rechtslehre“ ausgebaut worden sei, die auch in der Lehre die Trennung eines „,juristischenR Naturrechts“ von theologischen oder philosophischen Versionen ermöglichte.42 Thomasius, der „echte Aufklärer“,43 habe den „Anschluß der Rechtswissenschaft an die vorwärtstreibende geistige Strömung der Zeit hergestellt“ und sei „dadurch ein Führer der deutschen bürgerlichen Geisteskultur geworden“.44 Die Aufklärung wird in diesem Zusammenhang, und zwar in einer dezidiert historischen Perspektive, als wichtige Entwicklungsstufe des Rechtsdenkens durchaus wertgeschätzt, auch wenn diese Wertschätzung mit der verschiedentlich artikulierten Einsicht einhergeht, dass die Leistungen der Aufklärung – „gewaltige fachliche Ausdehnung“, „Verbreiterung der das geistige Leben tragenden Schicht“, Wechsel von Methoden und Inhalten – zu einer „Verflachung“ und „Vergröberung“ führten, was auch und in besonderem Maße für die Naturrechtslehre gälte.45 Zudem ist auffällig, dass in der Auflage von 1939 im Anschluss an Thomasius die Reihe der großen Rechtsdenker unmittelbar mit Friedrich Carl von Savigny und der mit ihm verbundenen Überwindung der Aufklärung fortgesetzt wird, so dass eine Diskussion des aufgeklärten Naturrechts im 18. Jahrhunderts – abgesehen von Thomasius – unterbleibt. Ausführungen zu dem immerhin erwähnten Christian Wolff oder zu Justus Möser werden ebenso wenig geboten wie eine eigene Darstellung des kantischen Rechtsdenkens; immerhin fügt Wolf bereits der Auflage von 1944 ein Kapitel zu Carl Gottlieb Svarez als spätem, in preußischem Dienst stehenden Aufklärer hinzu. Die erste Auflage der Großen Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte wurde von Wolf nach dessen nationalsozialistischem Engagement und seiner Hinwendung zur Bekennenden Kirche publiziert. Dennoch findet sich darin gelegentlich noch ein Nachhall seiner früheren, dem Nationalsozialismus verpflichteten Überzeugungen. Diese werden vor allem dann sichtbar, wenn man die Nachkriegsauflagen mit den früheren Auflagen vergleicht. Die dadurch nachvollziehbaren Retuschen machen Textstellen kenntlich, deren tatsächliche oder auch nur vermeintliche Nähe zum nationalsozialistischen Geist Wolf offenbar für nicht mehr tragbar gehalten hat. Dabei gibt er selbst zu erkennen, dass er Anpassungen vorgenommen hat, etwa indem er durch die Formulierung „Aus dem Vorwort zur 41 42 43 44 45

Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), 303. Ebd., 307. Ebd., 337. Ebd., 345. Ebd., 304.

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1. Auflage“ in den folgenden Auflagen – und das heißt schon seit der 2. Auflage von 1944 – offenlegt, dass er das ursprüngliche Vorwort nur in einer gekürzten Version abdrucken lässt, während doch ansonsten die knappen Vorworte der späteren Auflagen jeweils vollständig wiedergegeben werden. Ein Vergleich der unterschiedlichen Versionen lässt deutlich werden, dass der ursprüngliche Charakter und Auftrag des Buches, nämlich eine „innere Haltung“ zu stimulieren, „die erkennen will, was groß ist, um es zu verehren“,46 auch noch in den späteren Auflagen erhalten bleibt. Es geht immer darum, das „allmähliche Herausbilden einer von Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit erfüllten deutschen Rechtsanschauung“47 als Teil der deutschen Geistesgeschichte zu vergegenwärtigen. Im vollständigen Vorwort der ersten Auflage werden allerdings zusätzliche Akzente gesetzt, die noch einen Zusammenhang mit Wolfs früheren Anschauungen erkennen lassen. Denn hier ist ganz ausdrücklich davon die Rede, dass „mit dem deutschen Volk auch ein deutsches Recht besonderer Art gegeben“48 ist, dessen Besonderheit sich dadurch auszeichne, dass es nichtdeutschen Rezeptionseinflüssen nicht nur standgehalten, sondern eine „Deutsche Rechtsanschauung“49 geformt habe. Diese historisch und kulturalistisch perspektivierte deutsche Unabhängigkeit war in der Programmschrift von 1934 – wie erinnerlich – noch integrales Element des „Rasseerlebnisses“, das seinen Anteil am Aufbau eines richtigen nationalsozialistischen Rechts haben sollte. Indem nun genau dieser Passus im Vorwort der ersten Auflage in allen folgenden Auflagen einfach gestrichen wird, werden die Hinweise auf das Deutsche der sich durch große Rechtsdenker bildenden Rechtstradition weitgehend unverdächtig gemacht, „deutsch“ wird seiner naheliegenden – oder auch nur befürchteten – völkischen Konnotationen entkleidet und dadurch zu einem eher unverfänglichen historischen und geographischen Attribut gemacht.50 Ebd., III, ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1944] (wie Anm. 5), III sowie ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1951] (wie Anm. 5), III. 47 Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), V, ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1944] (wie Anm. 5), IV sowie ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1951] (wie Anm. 5), IV. 48 Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), IV. 49 Ebd., V. 50 Diese in der Nachkriegsauflage von 1951 vorgenommenen, bisweilen minimalen, jedoch aufschlussreichen Retuschen finden sich allenthalben. Wenn Wolf 1939 mit Blick auf das Naturrecht von Hugo Grotius betont, dass in dessen Regeln „moralische, soziale, biologische, juristische und religiöse Gedankengänge“ eingeflossen seien (1939, 210), dann hält er es 1951 doch für besser „biologisch“ ersatzlos zu streichen (1951, 268). Wenig später wird aus „germanischer Genossenschaft“ einfach „Genossenschaft“ und statt „Grundlehren des neuen Denkens über die Gemeinschaft“, die bei Grotius „deutschrechtlichen Charakters“ (1939, 210) seien, werden „Grundlehren des Naturrechts der Gemeinschaft“ (1951, 268). Weil auch Pufendorfs Naturrecht eines der Gemeinschaft sein soll, erkennt Wolf darin 1939 einen „besonderen deutschen Zug“ (279), wovon 1951 46

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Wie schon die Programmschrift von 1934 geben auch die fünf Jahre später schienenen Großen Rechtsdenker Wolfs Distanz zur nationalsozialistischen Weltanschauung zu erkennen, und zwar ebenfalls durch ein theologischen Argument. Wenn er mit Bezug auf Martin Luther die „großen Denker“ als „Zeugen vom Wirken Gottes in der Welt“ bezeichnet, in dessen „Wesen und Werk […] wir etwas vom Sinn der Geschichte und damit vom Sinn unseres Lebens“51 erfahren, dann schließt er direkt an seine frühere theologische Gedankenfigur an, die schon damals eine Differenz zur nationalsozialistischen Ideologie nahelegte. Die Stelle markiert genau den Punkt, an dem Erik Wolf seine zeitweilige nationalsozialistische Gefolgschaft aufkündigte. Versuchte er noch 1933/34 ein richtiges Recht des nationalsozialistischen Staates zu skizzieren, so war für Wolf 1936 ausdrücklich klar, dass „die neue Ordnung im Sinn und Geist der synodalen Erklärungen der Bekennenden Kirche errichtet werden“52 müsse. Wolfs Abkehr vom Nationalsozialismus fußte letztlich auf einem theologischen Argument, das auch für sein Verhältnis zum Naturrecht entscheidend sein sollte. Nach dem Ende des Nationalsozialismus hatte sich Erik Wolf prominent an Diskussionen beteiligt, die – etwa auf Tagungen der evangelischen Akademie in Bad Boll – mit den normativen Grundlagen von Staat und Recht befasst waren. Seine dortigen Beiträge waren – wie Lena Foljanty feststellt – „von der Überzeugung“ getragen, „dass es notwendig sei, sich auf die Suche nach einer absoluten, materiellen Gerechtigkeitslehre zu begeben“, wobei er die ,Relativität der philosophischen SystemeR von den klassischen Naturrechtslehren der Antike über das Vernunftrecht der Neuzeit bis hin zu historischen Rechtsbegründungen des 19. Jahrhunderts„53 kritisierte. Gleichwohl sprach er von einer „natürlichen Gerechtigkeit“, die „in der Ordnung der von Gott geschaffenen, auf die Zukunft der Erlösten hin geschaffenen Welt begründet“54 war. Diese rechtstheologische Perspektive blieb auch dann dominant, als sich Wolf im Zuge der von ihm mitgetragenen sogenannten Naturrechtsrechtsrenaissance der Nachkriegszeit – in Anknüpfung an seine früheren eher geschichtsphilosophischen Überlegungen – erneut intensiv mit dem Naturrecht befasste. Schon in der Einleitung zu der als „Versuch einer Orientierung“ annoncierten Arbeit Das Problem der Naturrechtslehre, nicht mehr die Rede ist (vgl. 346). Thomasius wird noch 1939 als „ein Führer der deutschen bürgerlichen Geisteskultur überhaupt“ qualifiziert, nach 1945 wird „deutsch“ durch „neu“ ersetzt. Es versteht sich von selbst, dass eindeutig belastete Begriffe, wie „völkische Einheit“ (1939, 209) gänzlich getilgt werden. 51 Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1939] (wie Anm. 5), III, ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1944] (wie Anm. 5), III sowie ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte [1951] (wie Anm. 5), III. 52 Zit. nach Foljanty, Recht oder Gesetz (wie Anm. 10), 142. 53 Ebd., 145. 54 Zit. nach ebd., 146.

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erstmals 1955 erschienen, wird die Frage gestellt, „ob eine nur rationale oder empirische oder teleologische oder soziologische oder moralische Begründung des Rechts wirklich genügend“ ist, „um es zu legitimieren und zu limitieren“? Oder bedarf es nicht vielmehr „eines letzten, wirklich ,transzendentalenR vom jenseitigen Licht des Seins Gottes erleuchteten Rechtsgedankens?“55 Und die Antwort ist am Ende des Buches ganz eindeutig: „der Rechtsgedanke muß und kann von Grund aus nur theologisch gedacht werden. Damit ergibt sich auch der ,Naturrechts-GedankeR als spezifisch theologisches Problem und wird jede thetische Form seiner Lehre zu einem Kapitel der Rechtstheologie“.56 Denn seine legitimierende und limitierende Kraft gewinne das Naturecht aus einer „übermenschlichen Autorität“, und zwar entweder die eines „Weltgesetzes“ oder die des „Gottesgesetzes“.57 Was hier als metaphysische Alternativen angeboten wird, ist es tatsächlich nicht, denn „die wirklich werdende Durchsetzung des wahrhaftigen Rechts“58 findet erst – ganz der alten Lehre entsprechend – mit dem Jüngsten Gericht statt. In dieser eindeutig theologischen Perspektive muss das Naturrecht seine Doppelfunktion als Rechtfertigungsinstanz des positiven Rechtes und als Regulativ allen empirisch-historischen Rechtes erfüllen. In seiner ontologischen, ethischen, logischen und metaphysischen Begründung verwirklicht es sich in dieser doppelten Funktion geschichtlich: „Sie muß“ – so heißt es abschließend bei Wolf – „von jeder Generation neu durchdacht und verwirklicht werden, wenn der Mensch in seinem rechtlichen Dasein wahrhaft zu sich selbst kommen und damit seiner Wesensbestimmung genügen will“.59 III. Das sind sehr weitreichende, nicht nur philosophisch-metaphysische, sondern im genauen und intendierten Sinne theologische Ansprüche, die der wissenschaftlichen Praxis und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis von Diethelm Klippel ausgesprochen fremd waren. Dergleichen emphatische normative Zielsetzungen mochte Diethelm Klippel nicht verfolgen, wobei es ihm semantisch und politisch selbstverständlich nicht egal war, womit er sich befasste. Freilich waren die Zeiten auch andere, nicht nur politisch und wissenschaftspolitisch, sondern auch und damit zusammenhängend methodologisch.

55 Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung, 3. Auflage, Karlsruhe 1964, 12. 56 Ebd., 198 f. 57 Ebd., 201. 58 Ebd. 59 Ebd.

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In der 2013 zu Diethelm Klippels 70. Geburtstag veröffentlichten Festschrift mit dem Titel Naturrecht und Staat in der Neuzeit betonen die Herausgeber das angesichts des beigegebenen Schriftenverzeichnisses von Diethelm Klippel durchaus Naheliegende: „Das Naturrecht hätte es wohl auch ohne Diethelm Klippel gegeben, aber den Forscher Diethelm Klippel ganz sicher nicht ohne das Naturrecht“.60 Und man könnte mit Blick auf die von ihm gelieferten Forschungsbeiträge sogar noch einmal ergänzend zuspitzen: Ohne den Forscher Diethelm Klippel hätte es auch nicht genau das Naturrecht gegeben, das wir seither kennen. Als Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte war Klippel natürlich auch mit Fragen des geltenden Rechts befasst, selbst wenn er diese – wie etwa in seiner Habilitation Der zivilrechtliche Schutz des Namens mit dem geradezu programmatischen Untertitel Eine historische und dogmatische Untersuchung61 – mit einer rechtshistorischen Perspektive in Verbindung brachte. Im Vordergrund seines Interesses stand freilich schon früh – angeregt durch seinen Doktorvater Dieter Schwab – das Naturrecht. Seine 1976 in Paderborn erschienene Gießener Dissertation Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts darf man wohl mit Fug als einen Gamechanger der Naturrechtsforschung bezeichnen; die klare, durchgreifende und sachlich knappe Einleitung gibt bereits zu erkennen, dass dies Diethelm Klippel deutlich war und dass er es auf nichts anderes angelegt hatte. Die Bemühungen der Exponenten der Naturrechtsrenaissance – zu denen auch Erik Wolf zählte –, mit der Hilfe von philosophischen und theologischen Spekulationen, dem angeblich desavouierten positiven Recht eine naturrechtliche, am besten noch metaphysische, gar theologische Grundlage zu verschaffen, waren in sachlicher Hinsicht weit weg, und ebenso weit weg waren die damit nicht selten verbundenen Diskreditierungen der Aufklärung, die sich in den Arbeiten von Heinrich Rommen oder Valentin Tomberg u. a. finden lassen. Diethelm Klippel hatte sein Studium 1965 in Marburg aufgenommen, und zwar in den Fächern Rechtswissenschaften, Neuere Geschichte, Politologie und Soziologie, und das heißt: Er hatte von vornherein einen ganz anderen Blick, einen ganz anderen Zugriff und ein ganz anderes Interesse, als Juristen üblicherweise hatten oder haben, oder wie ihnen wenigstens gemeinhin unterstellt wird. Seine Dissertation macht dies von vornherein durch die vorangestellten methodologischen Überlegungen sowie durch seine Hinweise auf die Quellen deutlich; sie zeigen nämlich, dass sich hier ein Jurist mit einem rechtshistorischen Gegenstand im We60 Jens Eisfeld, Martin Otto, Louis Pahlow, Michael Zwanzger (Hg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, X. 61 Diethelm Klippel, Der zivilrechtliche Schutz des Namens. Eine historische und dogmatische Untersuchung (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 45), Paderborn 1985.

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sentlichen als Historiker befasst. In seiner Dissertation – wie übrigens auch später, dann aber unter dem Label „Neue Ideengeschichte“62 – verbindet Diethelm Klippel Begriffsgeschichte mit Theoriegeschichte. Der im ausdrücklichen Anschluss an Brunner, Conze und Koselleck betriebene begriffsgeschichtliche Ansatz sollte der Arbeit ein „verhältnismäßig sicheres Fundament“63 für die fächerübergreifende Untersuchung verschaffen und die Theoriegeschichte sollte behilflich sein, die „spezifisch politischen Funktionen der teilweise recht umfangeichen Naturrechtssysteme“64 zu eruieren. Beide Ansätze sollten einander ergänzen und begrenzen: Die Reflexion über einen bestimmten Begriff in der jeweiligen historischen Situation und das Bewußtsein der Geschichtlichkeit aller Begriffe verringern die Gefahr von theoriegeschichtlichen Fehlinterpretationen durch die Gleichsetzung der in den Quellen verwandten Begriffen mit der heutigen Terminologie. Theoriegeschichte ihrerseits gewährleistet, daß sich die historische Betrachtung nicht im Beschreiben der Entwicklung von Begriffen und deren unverbundenem Nebeneinanderstellen erschöpft, sondern daß die Begriffe vielmehr innerhalb der jeweiligen politischen Theorie gesehen werden, die den Zusammenhang zwischen den Begriffen herstellt.65

Entscheidend für Diethelm Klippels Vorgehen war aber nicht nur die Verbindung von Ideen- und Theoriegeschichte, sondern – wie er selbst hervorhebt – die „erheblich umfangreichere Quellenauswahl“. Es ging ihm darum, sich eben nicht auf „die bekannteren Naturrechtssysteme“ zu beschränken, sondern „möglichst viele Quellen“66 zu verwerten. Denn erst so könne gewährleistet werden, „dass das Spektrum des Freiheitsbegriffs in einer bestimmten Entwicklungsstufe möglichst umfassend eingefangen und Entwicklungslinien mit hinreichender Sicherheit gezogen werden können“.67 Dies hatte zunächst für die Dissertation aber auch darüber hinaus weitreichende Folgen: Zum einen konnten durch einen veränderten Fokus Quellenbestände sichtbar gemacht werden, die zuvor weitgehend der Wahrnehmung entzogen waren, schlicht weil niemand danach gesucht hatte – Wolf konzentrierte sich, wie gezeigt, im Wesentlichen auf Grotius, Pufendorf, Thomasius –, und zum anderen wurden die ansonsten im Vordergrund stehenden „Klassiker“ relativiert und in einen Kontext gestellt, von dem aus eine angemessene Interpretation überhaupt erst möglich war. Das bereits in der Dissertation formulierte Resultat war, dass Diethelm Klippel die Rede von „,derR Aufklärung oder Diethelm Klippel, [Art.] Rechtsphilosophie und Naturrecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit Fachwissenschaftlern hg. von Friedrich Jäger, Bd. 10, Stuttgart, Weimar 2009, Sp. 715 – 740. 63 Klippel, Politische Freiheit (wie Anm. 2), 16. 64 Ebd. 65 Ebd., 16 f. 66 Ebd., 17. 67 Ebd. 62

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,demR Naturrecht als politisch einheitliche Richtungen“68 entschieden für unangemessen hielt. Das bedeutete auch, dass er denjenigen Arbeiten, die rechtsphilosophisch „von der Existenz eines einzigen, im Grunde unwandelbaren, wenn auch mit Erkenntnisproblemen behafteten Naturrechts ausgehen“,69 einen negativen Bescheid erteilt: „Da sich“ – so hält er fest – „die vorliegende Arbeit weder mit den Inhalten eines solchen Naturrechts noch mit der Frage seiner Vereinbarkeit mit der Geschichtlichkeit aller Naturrechtssysteme befaßt, ist hier diejenige Literatur zum Naturrecht nicht oder kaum verwertbar, der die erwähnten rechtsphilosophischen Fragestellungen zugrundeliegen“.70 Wolfs Problem der Naturrechtslehre wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt. Literatur, die in dieser Weise verfährt, verfolge zum einen die falsche Fragestellung und erreiche, weil sie die Vielfalt der Quellen nicht zur Kenntnis nimmt, allenfalls zufällig richtige, d. h. tatsächlich gar nicht verifizierbare Befunde; den Historiker Klippel konnte dies wissenschaftlich nicht zufriedenstellen. Mit seiner Dissertation wollte Klippel ursprünglich die Entwicklung der politischen Ideen im Naturrecht der deutschen Aufklärung zwischen Pufendorf, Thomasius und Wolff einerseits und Kant andererseits in den Blick nehmen. Dabei waren zwei Hypothesen leitend: zum einen die Annahme, dass in diesem Zeitraum das deutsche Naturrecht liberale politische Theorien rezipierte, die in England und in Frankreich entwickelt worden waren, und zum anderen, dass „die kritische Philosophie Kants und die Verwirklichung naturrechtlichen Denkens in den preußischen Kodifikation dem deutschen nichttheologischen Naturrecht als Literaturgattung den Todesstoß versetzten“.71 „Beide Vermutungen“ – so hält Klippel schon auf der ersten Seite seiner Einleitung fest – „erwiesen sich jedoch im wesentlichen als nicht haltbar“.72 Gerade die erwähnte Quellenauswertung und die ihr vorangehende bibliographische Arbeit machte klar, dass ab „etwa 1790 – zu der Zeit also, in der das Werk Kants eine größere Breitenwirkung zu entfalten begann – eine wahre Flut von Naturrechtssystemen erschien, die bis weit in das 19. Jahrhundert andauerte und es ermöglicht, von einer zweiten Blütezeit des Naturrechts zu sprechen“.73 Und deutlich wurde auch, dass es gerade dieses Naturrecht war, also nicht das Naturrecht zwischen Wolff und Kant, das „Hauptvermittler und Träger liberaler politischer Theorie im Deutschland des ausgehenden und beginnenden 19. Jahrhunderts war“.74 Das Ziel der Arbeit bestand darin, „diese in der rechts- und philosophiegeschichtlichen Forschung fast vollkommen unbe68 69 70 71 72 73 74

Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd. Ebd., 13. Ebd. Ebd. Ebd., 14.

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kannte und unberücksichtigte Literaturgattung in das historische Bewußtsein zurückzurufen“, und zwar mit einer Fokussierung auf die „Wandlungen und Entwicklungen der spezifischen Inhalte und Funktionen der untersuchten Naturrechtssysteme, die folglich als politische Theorie in ihrem jeweiligen historischen Zusammenhang gesehen“75 wurden. Um diese Literatur sowohl inhaltlich als auch mit Blick auf ihre politischen Funktionen genauer konturieren zu können, berücksichtigte Klippel auch das Naturrecht von und nach Pufendorf und führte die Unterscheidung zwischen dem älteren Naturrecht, das bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts eine politische Theorie des Absolutismus bzw. des aufgeklärten Absolutismus lieferte, und dem jüngeren Naturrecht ein, das – wie er an der Entwicklung des politischen Freiheitsbegriffs zeigt – der liberalen politischen Theorie zuzurechnen ist. In der Dissertation wird mit Blick auf politische Freiheit und Freiheitsrechte älteres und jüngeres Naturrecht durchmustert und zwar immer sowohl hinsichtlich der Inhalte und der politischen Funktionen. Was hier in seiner thematischen Eingrenzung der Erkenntnisanspruch einer Qualifikationsschrift war, beruhte tatsächlich auf einem viel weiter reichenden, veritablen Forschungsprogramm, das Klippel später an anderer Stelle auch genauso formulierte: In seinem Artikel zu „Rechtsphilosophie und Naturrecht“ in der Enzyklopädie der Neuzeit, der später noch einmal in leicht veränderter Form in dem 2015 erschienenen und von Heinz Thoma herausgegebenen Handbuch Europäische Aufklärung publiziert wurde, heißt es: Es geht um eine Analyse der vorzufindenden zahlreichen naturrechtlichen […] Quellen, um deren Kontextualisierung (auch der ,großen AutorenR), um zeitgenössische Diskurse und um die jeweiligen Funktionen von Naturrecht […]. Daraus folgt, dass weder von einem einheitlichen europäischen oder atlantischen Naturrechts-Denken ausgegangen werden darf, noch eine Beschränkung auf wenige Leitautoren angebracht ist. Vielmehr sind Rezeptionsvorgänge und die Masse der naturrechtlichen-rechtsphilosophischen Autoren des 17. bis ins 19. Jahrhundert in den Blick zunehmen und – entsprechend den Grundsätzen der sogenannten Neuen Ideengeschichte – auch die Wechselwirkungen zwischen Ideen, rechtlichen Normen und Lebenswelt zu thematisieren.76

Dabei war klar und musste forschungstechnisch realisiert werden, dass das Naturecht vor allem im 18. Jahrhundert – und darüber hinaus – eine Teildisziplin der Jurisprudenz und der Philosophie war, d. h. es existierten entsprechend denominierte Lehrstühle an philosophischen und juristischen Fakultäten, und es wurde in Vorlesungen gelehrt und seine nie einheitlichen und daher stets umstrittenen Rechtssätze wurden in Dissertationen und Lehrbüchern aber auch in dem zahlreichen ephemeren Schrifttum behandelt. Darüber hinaus wurde es bis zu Beginn des 75 76

Ebd. Klippel, [Art.] Rechtsphilosophie und Naturrecht (wie Anm. 62), Sp. 716 f.

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19. Jahrhunderts als subsidiär geltendes und anwendbares Recht angesehen, also zu Entscheidungen herangezogen, für die es geltendes positives Recht nicht oder noch nicht gab. In zahlreichen Aufsätzen – etwa zur Gesetzgebungslehre, zu Verfassungskonflikten, zum Naturrecht als Friedensordnung, zur Historisierung des Naturrechts, zum Familienrecht etc. – hat Klippel jahrzehntelang selbst daran gearbeitet, dieses weitreichende Forschungsprogramm, das einen ausgesprochen breiten, sich ständig vervielfältigenden und verästelnden, theoretischen wie praktischen Diskurs in den Blick nehmen wollte, umzusetzen. Natürlich war nicht daran zu denken, die sich mehr und mehr dokumentierende Masse von einschlägigen Quellen im Alleingang in den Griff zu bekommen. Klippel beantragte bei der Fritz Thyssen Stiftung ein 1989 genehmigtes Forschungsprojekt, das sich vornehmlich mit dem Naturrecht des 19. Jahrhunderts beschäftigen sollte und aus dem in der Folge eine sehr beträchtliche Anzahl von Tagungsbänden, einzelnen Aufsätzen und Monographien hervorgegangen ist.77 Von vornherein zielte Klippel aber auch auf eine Bibliographie naturrechtlicher und rechtsphilosophischer Schriften von 1780 bis 1914 ab – ganz im Sinne seines quellenorientierten Selbstverständnisses. Weil es darum ging, „möglichst das gesamte Ausmaß des naturrechtlich-rechtsphilosophischen Diskurses nachweisen zu können“,78 war die auf Autopsie basierende Arbeit an der Bibliographie, die die naturrechtlich argumentierenden Texte vor allem unterschiedlicher juristischer Disziplinen und Gebiete berücksichtigen wollte, mühselig und langwierig. Am Ende ist eine Bibliographie dabei herausgekommen, die 2012 unter dem Titel Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie 1780 bis 1850 erschienen ist, und das Sammelwerk von Generationen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls Klippel darstellt. Aus den ursprünglich geschätzten 1.500 Titeln sind schließlich genau 3.625 geworden, die sachlich geordnet und durch ein Register erschlossen sind. Es handelt sich um einen immensen Fundus, der sich – so seltsam es klingen mag – für den interessierten Wissenschaftler und die interessierte Wissenschaftlerin spannend zu lesen ist und eigentlich in eine Datenbank umgesetzt werden müsste. Sie bietet auf jeden Fall schon jetzt der weiteren Forschung eine wichtige Grundlage, die selbstverständlich noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist. Die Herausgeber der Festschrift für Diethelm Klippel haben dies unmissverständlich als Ergebnis von Gesprächen mit Klippel festgehalten: „[W]er sich mit Diethelm Klippel über das Naturrecht seit der Frühen Neuzeit unterhält, wird“ – so heißt es in der Einführung – „rasch erkennen, wie viele Fragen noch offen sind: Genug, um Siehe dazu die Übersicht in Diethelm Klippel, Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie. 1780 bis 1850, Tübingen 2012, XII–XV. 78 Ebd., V. 77

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noch einige Forschergenerationen damit zu beschäftigen.“79 Durch seine intensive Beteiligung an dem von ihm mitgegründeten Forschungsnetzwerkes „Natural Law 1625–1850“80 hat Klippel bis kurz vor seinem Tod an der weiteren Umsetzung seines Forschungsprogramms gearbeitet, wohl wissend, dass dies kein definitiv zu beendendes Unterfangen sein würde. IV. Mit „Grossen Rechtsdenkern der deutschen Geistesgeschichte“, deren Werk bei Wolf in einer unverhüllt heideggerscher Diktion deswegen notwendig ist, weil es die Not wenden soll, hatte Diethelm Klippel nichts zu schaffen, er würde diese Vorstellungen zu Recht selbst historisieren. Ihm kam es auf historisch-methodologisch angemessene Arbeit an, die den Quellen und deren Historizität gerecht wird, und dabei deren juristische liberale und rechtsstaatliche Errungenschaften herausarbeitet und festhält. Weil derzeit vielerorts eine ungeahnte Erosion des Rechtsstaats zu beobachten ist, entpuppt sich dieser prima facie bescheidene Anspruch tatsächlich als enorme Aufgabe. Fragt man noch abschließend und rückblickend nach den Beiträgen, die Erik Wolf und Diethelm Klippel für die Diskussion des Aufklärungsbegriffs geliefert haben, dann wird man feststellen dürfen, dass beide an der Aufklärung nur in zweiter Linie interessiert waren: Während für Wolf die Aufklärung eine wichtige, allerdings auch historisch zu überwindenden Phase des „deutschen“ Rechtsdenkens darstellte, war für Klippel klar, dass die Aufklärung als historische Epoche ebenso wie das Naturrecht nur im Plural zu denken ist. Dabei ist auffällig, dass die Aufklärung als signifikanter Zeitabschnitt vor allem in der Dissertation ohne weitere Problematisierung thematisiert wird, in späteren Arbeiten indes bevorzugt Klippel ganz offensichtlich eher die Rede vom 17. und 18. Jahrhundert, zumal sich dadurch der Übergang zum 19. Jahrhundert, das Klippel schon zu früh interessieren begann, sachlich und formal besser beschreiben ließ.81 Ohne damit eine

Eisfeld, Otto, Pahlow, Zwanzger (Hg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit (wie Anm. 60), IX. Vgl. dazu Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel, Natural law 1625–1850. An International Research Network, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 30 (2018), 267–276. 81 Diese Zurückhaltung bei der Verwendung des Begriffs „Aufklärung“ schlägt sich auch in den Titeln seiner Publikationen nieder. Der Beitrag „Von der Aufklärung der Herrscher zur Herrschaft der Aufklärung“ – 1993 erschienen in: Werner Schneiders (Hg), Aufklärung als Mission. La mission des LumiHres (Marburg) – ist offenbar die einzige Arbeit von Diethelm Klippel, die den Begriff „Aufklärung“ im Titel führt (159–174). Vgl. dazu das von Martin Otto zusammengestellte Verzeichnis der Schriften von Diethelm Klippel, in: Eisfeld, Otto, Pahlow, Zwanzger (Hg.), Naturrecht 79

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Distanz zur Aufklärung zu dokumentieren, werden damit akademische Auseinandersetzungen zum Begriff der Aufklärung und seiner semantischen Reichweite umgangen. Weil das Thema von Diethelm Klippel eben das Naturrecht und seine Wirkungen unter einem juristischen bzw. rechtshistorischen Blickwinkel war, ist diese Zurückhaltung nur allzu verständlich. Der Beitrag der Rechtsgeschichte zur Konturierung eines Begriffs von Aufklärung dürfte angesichts der Vielfalt der berücksichtigten Rechtsphänomene aus Rechtswissenschaft, Rechtssetzung und Rechtsanwendung kaum zu übersehen sein. Der Beitrag fokussiert daher auf zwei, in der naturrechtsgeschichtlichen Forschung prominente Texte, die beide zu unterschiedlichen Zeiten ausgesprochen einflussreich und zugleich inhaltlich und methodologisch doch denkbar weit voneinander entfernt waren. Während Erik Wolf mit seinen mehrfach aufgelegten Großen Rechtsdenkern der deutschen Geistesgeschichte auf eine theologische Begründung des Rechts zielte, arbeitete Diethelm Klippel in seiner 1976 erschienenen und als „wissenschaftlichen Durchbruch“ bezeichneten Dissertation Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts die spezifischen politischen Funktionen des deutschen Naturrechts heraus. Dies tat er auf der Basis einer bis dato nicht gekannten Quellenmenge und in der methodischen Verknüpfung von Begriffsgeschichte und Theoriegeschichte. Gemeinsam ist beiden Werken – wie sich zeigen lässt – eine gewisse, freilich unterschiedlich motivierte Reserve gegenüber der Diskussion eines sachhaltigen Aufklärungsbegriffs. The contribution of legal history to the contours of a concept of Enlightenment can hardly be overlooked in the view of the diversity of legal phenomena in different juridical fields. This article therefore focuses on two texts that are prominent in research on the history of natural law. Both were extremely influential at different times and yet at the same time conceivably far removed from each other in terms of content and methodology. While Erik Wolf aimed at least a theological foundation of law with his Great Legal Thinkers of German Intellectual History, published several times, Diethelm Klippel worked out the specific political functions of German natural law in his dissertation Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, published in 1976. He did this on the basis of a hitherto unknown quantity of sources and by methodically linking the history of concepts and the history of theory. What both works have in common – as can be shown – is a certain, albeit differently motivated, reserve vis-/-vis the discussion of a factual concept of enlightenment. Dr. Frank Grunert, Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1 / Hs. 54, D-06110 Halle (Saale), E-Mail: [email protected]

und Staat in der Neuzeit (wie Anm. 60), 623–640. Das Verzeichnis berücksichtigt die Publikationen bis einschließlich 2012.

Marion Heinz Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959)

I. Entstehungskontext und Ansatz Diese aus einer Heidelberger Dissertation von 19541 hervorgegangene Schrift wird in Anbetracht ihrer zahlreichen Auflagen und ihrer zunehmenden internationalen Resonanz zu den Klassikern unter den Aufklärungsstudien gezählt.2 Gegen sie werden allerdings auch von Beginn an gravierende Einwände vorgebracht:3 Wegen ihres fragwürdigen Umgangs mit den Quellen komme kein Bild der Epoche zustande; geboten werde bloß ein Verdikt über eine unliebsame Zeit – heißt es noch heute.4 Umstritten ist diese Kritik der Aufklärung vor allem in Hinsicht auf die Position, die der Autor zu seinem Gegenstand einnimmt: Während Carl 1 Vgl. Niklas Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the foundation of history and politics. History of European Ideas 37 (2011), 197 – 208, bes. 197 – 200 zu den Fakten: Die Dissertation mit dem Titel „Kritik und Krise. Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert“ wurde an der Universität Heidelberg im Jahr1954 angenommen, die Promotion wurde im selben Jahr vollzogen; Berichterstatter waren Johannes Kühn und Karl Löwith; zuerst erschienen ist die Dissertation unter dem Titel Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt 1959 im Verlag Karl Alber Freiburg. Zu den Differenzen von Dissertation und Buch vgl. Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck (wie Anm. 1), 197 – 200; sie betreffen die polemische Abgrenzung zu Meinecke; eine Fußnote zum Thema Todesangst bei Hobbes und Heidegger ist gestrichen worden. 1973 wurde die Schrift mit einem neu verfassten Vorwort als Band 36 in der Reihe stw (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) des Suhrkamp-Verlags in Frankfurt am Main publiziert. Nach der 6. Aufl. von 1989 dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 2 Vgl. dazu etwa Michael Schwartz, Leviathan oder Lucifer: Reinhart Kosellecks ,Kritik und KriseR revisited. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 (1993), 33 – 57. Eine kritische Studie zur Wirkungsgeschichte dieser Schrift in der Nachkriegszeit bietet Sidonie Kellerer, Kosellecks Latenzzeit, in: philosophieMagazin, 21. April 2023, htts://www.philomag.de/artikel/ koselleks-latenzzeit (29. 06. 2023). Vgl. dies., Reinhart Koselleck. Aufklärer über die Aufklärung, oder Stratege kultureller Hegemonie?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 71 (2023) [im Erscheinen]. 3 Vgl. z. B. Hans Tietgens, Der Ursprung der Soziologie, in: Neue Politische Literatur 5 (1960), S. 418 – 424. 4 Vgl. Michael Schwartz, Leviathan oder Lucifer (wie Anm. 2), 53.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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Schmitts Rezension von 19595 emphatisch von potenzierter Aufklärung, Aufklärung über die Aufklärung, spricht, ordnet Habermas dieses Buch wenig später als neokonservativen, von Ressentiment getränkten Angriff auf die Aufklärung im Gefolge Carl Schmitts ein. Seine Rezension von 1960 schließt süffisant: „Immerhin sind wir dankbar, von so gescheiten Autoren zu erfahren, wie Carl Schmitt […] die Lage heute beurteilt.“6 In der neueren Auseinandersetzung mit Kosellecks Studie sind die Historiker – exemplarisch ist hier auf Michael Schwartz und Hans Erich Bödecker zu verweisen – einerseits um Kritik und Korrektur von deren geschichtswissenschaftlichen Thesen und Ergebnissen durch die inzwischen erbrachten, eng an den Quellen erarbeiteten Erkenntnisse über diese Epoche bemüht.7 Andererseits geht es ihnen um die Einordnung dieser Studie in den zeitgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die von Schelsky so genannte skeptische Generation, die jeder Art von „Ideen“ geleiteter Politik misstraut, im bundesrepublikanischen Wissenschaftsbetrieb Fuß zu fassen.8 Die Katastrophe des Völkermords, die sie zugleich als geistige Katastrophe verstehen, hat den Versuch einer Selbstbesinnung zur Folge, die auch die Vernunft und das aufklärerische Paradigma des Fortschritts der Menschheit in Zweifel zieht. Aus dieser Motivlage heraus verfassen auch Adorno und Horkheimer ihre – 1947 in Amsterdam publizierte – wirkmächtige Schrift Dialektik der Aufklärung, zu der Kosellecks Analyse in Parallele gesetzt wird, ohne allerdings die Verschiedenartigkeit der Prämissen und Intentionen zu verkennen.9 Unverzichtbar für das Verständnis von Kosellecks Kritik und Krise ist es, das akademische Umfeld an der Universität Heidelberg in den 50er Jahren des Vgl. Das Historisch-Politische Buch 7 (1959), 301 f. Jürgen Habermas, Verrufener Fortschritt – Verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie, in: Merkur, Nr. 14, 1960, 468 – 477, hier 477. 7 Vgl. Schwartz, Leviathan oder Lucifer (wie Anm. 2); Hans Erich Bödecker, Aufklärung über die Aufklärung? Reinhart Kosellecks Interpretation der Aufklärung, in: Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Carsten Dutt und Reinhard Laube, Göttingen 2013, 128 – 174. 8 Vgl. dazu Lukas Potsch, Die Moderne als Weltbürgerkrieg. Zeit- und Geschichtskritik bei Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart, in: Leviathan 47 (2019), 244 – 265, mit Verweisen auf Dirk van Laaks und A. Dirk MosesQ Studien zu dieser Generation in FN 2, 244. Koselleck rechnet sich selbst dieser Generation zu. Vgl. Reinhart Koselleck, Carsten Dutt, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche Heidelberg 2013, 26. 9 Koselleck erwarb diese Schrift 1957 und hat – so seine Notizen – „diese Nähe selbst erkannt“, zitiert nach Jan Eike Dunkhase, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existenzialismus. 2015, FN 49, 62. Koselleck verwendet die Phrase in seiner Schrift, vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 135. Zur Rezeptionsgeschichte von Kritik und Krise vgl. Sebastian Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks Kritik und Krise, Berlin 2019, 35 – 55. 5

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20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.10 Durch seinen in Heidelberg lehrenden Schüler Ernst Forsthoff wurden Carl Schmitt trotz seines Engagements für den Nationalsozialismus bereits in den 50er Jahren wieder Möglichkeiten, auf die akademische Jugend der Bundesrepublik einzuwirken, eröffnet. Koselleck und sein Freundeskreis – die Soziologen Nicolaus Sombart und Hanno Kesting sowie der Jurist Roman Schnur – standen in engem Austausch mit Schmitt.11 In der Philosophie war der von Heidegger 1929 habilitierte Gadamer die dominante Gestalt. Durch ihn wurden dem wegen seines Einsatzes für den Nationalsozialismus bis 1951 mit Lehrverbot belegten Heidegger Möglichkeiten zu Vorträgen und zur Beteiligung an Kolloquien geboten. Koselleck lernte ihn bei diesen Gelegenheiten kennen und bekannte sich auch später noch zu dessen prägendem Einfluss auf sein Denken.12 Von dem tiefen Eindruck, den der Heidegger-Schüler Karl Löwith 10 Zum akademischen Umfeld des jungen Koselleck vgl. Jan Eike Dunkhase, Nachwort. Asymmetrische Korrespondenz. Reinhart Kosellecks Briefwechsel mit Carl Schmitt, in: ders. (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt. Der Briefwechsel, 2. Abt., Berlin 2020, 409 – 425; vgl. auch die Kommentare zu den Briefen Nr. 1, ebd., 14 – 16; Nr. 5, ebd., 28 – 30; Nr. 52, ebd., 182 f. und Nr. 94, ebd., 311. Vgl. auch Reinhart Koselleck über Carl Schmitt. Interview von Claus Peppel. 14. März 1994. Mit den Anmerkungen von Dunkhase, ebd. 373 – 391. Vgl. Jan-Friedrich Missfelder, Rezension zu: Dunkhase, Jan Eike (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt. Der Briefwechsel 1953 – 1983, Berlin 2019, in: H-Soz-Kult, 15. Juli 2021, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28442 (25. 06. 2023). 11 Zum Freundeskreis gehörte zeitweilig auch der Musik- und Literaturkritiker Ivan Nagel, der allerdings keine engeren Beziehungen zu Carl Schmitt pflegte. Vgl. Jan Eike Dunkhase, Weltbürgerkrieg und Freundschaft. Ivan Nagels Heidelberger Reminiszenz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 12 (2018), 87 – 100. Uwe Potsch hat die im Heidelberger Freundeskreis bestehenden Differenzen in den Auffassungen zur gemeinsamen Diagnose eines Weltbürgerkriegs herausgearbeitet, vgl. Potsch, Die Moderne als Weltbürgerkrieg (wie Anm. 9). Zu Carl Schmitt und Koselleck vgl. Niklas Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck (wie Anm. 1); Timo Pankakoski, Conflict, context, concreteness: Koselleck and Schmitt on concepts, in: Political Theory 38 (2010), 749 – 779; ders., The language of postwar intellectual Schmittianism, in: The European Legacy 23 (2018), 607 – 627. 12 Vgl. den Brief Kosellecks an Schmitt vom 3. Januar 1977, in: Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 306 – 310, hier 307 und den Kommentar ebd., 311. Koselleck hat 1949 Sein und Zeit gelesen und später als „Initiationsbuch“ bezeichnet, vgl. Manfred Hettling, Bernd Ulrich, Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck, in: dies. (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, 40 – 60, hier 56. Noch in seinem Lebenslauf für die Universität Heidelberg von 1962 bekennt Koselleck: „Die nachhaltigste Wirkung auf mein historisches Verständnis ging von Heideggers ,Sein und ZeitR aus“; zitiert nach Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 15. Als Student hat Koselleck etwa 1949 bzw. 1950 bei Franz Josef Brecht zwei Referate über Heidegger gehalten, über Die Wahrheit in „Sein und Zeit“ und über Die Zeit des Weltbildes. Über diese Referate, die Umstände und Art von Kosellecks HeideggerRezeption orientieren Steffen Kluck und Richard Pohle – auch unter Berücksichtigung des im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar aufbewahrten Nachlasses von Koselleck. Vgl. dies., Koselleck, Heidegger und die Strukturen der geschichtlichen Situation, in: Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, hg. von Manfred Hettling und Wolfgang Schieder, Göttingen 2021, 61 – 86. Vgl. auch Dunkhase, Absurde Geschichte (wie Anm. 9), 48.

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auf ihn gemacht hat, der nach seiner durch die Nationalsozialisten erzwungenen Emigration im Jahr 1952 auf eine Professur in Heidelberg berufen wurde, berichtet Koselleck 2003 im Gespräch mit Carsten Dutt.13 Der dritte Heidegger-Schüler, bei dem Koselleck in Heidelberg studierte, war Franz Josef Brecht.14 Im Folgenden geht es darum, eine philosophische Stellungnahme zu der bis heute strittigen Frage zu erarbeiten, ob Kritik und Krise als potenzierte Aufklärung oder als Gegenaufklärung einzustufen ist. Diese Problemstellung verlangt, die Anlage der Studie, vor allem ihre philosophischen und methodischen Prämissen, zu analysieren. Neue Erkenntnisse über die philosophische Orientierung und Zielsetzung des jungen Koselleck bietet die 2019 veröffentlichte Korrespondenz mit Carl Schmitt, die damit auch über die gedanklichen Grundlagen der Dissertation einen Zuwachs an Klarheit erbringt. Im Zentrum der philosophischen Bemühungen des Promovenden steht die an Heideggers Sein und Zeit und an Carl Schmitts Nomos der Erde anschließende Konzeption einer Geschichtsontologie, die er in seinem ersten Brief an Carl Schmitt vom 21. Januar 1953 skizziert.15 In Kritik und Krise wird dieses Konzept nicht explizit erörtert; es bildet jedoch die methodisch und inhaltlich bestimmende philosophische Grundlage dieser Studie, wie im Folgenden anhand ausgewählter Elemente demonstriert werden soll.16 Kosellecks Vorgehen, die gedanklichen Prämissen in die geschichtlichen Analysen einzuweben, statt sie als solche philosophisch zu erörtern, ist als Applikation der im ersten Brief an Carl Schmitt empfohlenen Strategie zur Einführung der Geschichtsontologie zu interpretieren. Um den Fehlern einer ihren Gegenstand verkehrenden Geschichtsphilosophie zu entgehen, und d. h. weder der „erkenntnistheoretischen Resignation in das Formale zu verfallen“ noch dem Usus zu folgen, „wie immer bei den Ägyptern anzufangen“, sei die geschichtliche Analyse der für die gegenwärtige Situation bestimmenden „Geschehenseinheit“ die geeignete Vorgehensweise.17 13 Vgl. dazu Dutt, Absurde Geschichte (wie Anm. 9), 38; vgl. auch den Kommentar des Herausgebers Dunkhase zum Briefwechsel Koselleck – Schmitt (wie Anm. 10), 28. Zum Einfluss von Löwiths Denken auf Kritik und Krise vgl. Niklas Olsen, Reinhart Koselleck, Karl Löwith und der Geschichtsbegriff, in: Reinhart Koselleck: Sprache und Geschichte, hg. von Carsten Dutt und Reinhard Laube, Göttingen 2013, 236 – 255. 14 Kluck, Pohle, Koselleck, Heidegger und die Strukturen geschichtlicher Situationen (wie Anm. 12), 65 verweisen auf Gerhard Krüger als vierten, durch Heidegger geprägten akademischen Lehrer Kosellecks. 15 Vgl. Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 9 – 13. 16 Die Schrift ist in drei Kapitel gegliedert: Das 1. Kapitel exponiert die „politische Struktur des Absolutismus als Voraussetzung der Aufklärung“, das 2. handelt vom „Selbstverständnis der Aufklärer als Antwort auf ihre Situation im absolutistischen Staat“ und das 3. zieht die Summe aus diesen Voruntersuchungen, indem es den Zusammenhang von „Krise und Geschichtsphilosophie“ aufweist. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), Inhaltsverzeichnis ohne Seitenangabe. 17 Brief an Carl Schmitt vom 21. Jan. 1953, in: Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl

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Um die Fundierung der Aufklärungsstudie durch den philosophischen Ansatz der Geschichtsontologie aufzeigen zu können, empfiehlt es sich, vorgreifend deren zentrale Elemente zu benennen und in Umrissen zu skizzieren:18 1. Die Geschichtlichkeit des endlichen Menschen ist die Bedingung von Geschichte und Geschichtswissenschaft. 2. Die geschichtliche Zeit ist nicht die unendliche lineare Zeit der Natur. 3. Die Zeit hat für den als Sein zum Tod existierenden Menschen vielmehr eschatologischen Charakter. 4. Die Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit manifestiert sich nicht zuletzt in der Wandelbarkeit des Zeitverständnisses selbst. Für eine durch das Konzept der Geschichtlichkeit bestimmte historische Untersuchung ist es wesentlich, dass sich das forschende Subjekt in sie einbezieht, indem es sich in seiner eigenen Gegenwart verortet und diese in ihrer geschichtlichen Eigenart charakterisiert. Den Anspruch der Universalgeschichte beseitigend kommt es Koselleck darauf an, jene „Geschehenseinheit“ zu bestimmen, zu der das „Heute“ gehört.19 „Die Frage nach der Geschichte stellen, heisst nach uns selbst fragen: nach dem Sein, das es in seiner Geschichtlichkeit aus unserer Situation heraus zu erfassen gilt.“20 Heideggers Existenzial der Geschichtlichkeit wird in dieser aus dem Jahr 1950 stammenden Erklärung als Grundlage für die adäquate Befassung mit Geschichte geltend gemacht.21 Geschichte ist der Schmitt (wie Anm. 10), 12; ganz ähnlich erklärt sich Koselleck in Kritik und Krise (wie Anm. 1), 3. Zum Begriff Geschehenseinheit vgl. ebd., 5. 18 Kenntlich wird dieser Ansatz schon in der Einleitung. Vgl. ebd., 1 – 9. Die Skizze der Geschichtsontologie stützt sich auf den ersten Brief Kosellecks an Schmitt vom 21. Jan. 1953, in: Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), hier 9 – 13. Vgl. auch Dunkhase, Absurde Geschichte, (wie Anm. 9), 39 f., wo aus Kosellecks unveröffentlichter Rezension von JaspersQ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) und von Freyers Weltgeschichte Europas (1948) vom April 1950 zitiert wird. Zu Freyer heißt es: „Die Geschichte wird nicht überfragt, weil sie nicht sub specie aeternitatis betrachtet wird. Eine Transzendenz geht in der geschichtlichen Zeit auf […]; die Einmaligkeit der Geschichte gewinnt den Charakter der Bedingungslosigkeit.“ 19 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 5. 20 Zitiert nach Dunkhase, Absurde Geschichte (wie Anm. 9), 40. 21 Mit der Einführung des Begriffs „Geschehenseinheit“ geht es also nicht um die Beschränkung der geschichtlichen Untersuchung auf einen bestimmten Zeitraum, verstanden als Teil der linearen Zeit; statuiert wird vielmehr die ontologische Behauptung, dass das Geschichtliche in jeweilige, inhaltlich bestimmte Einheiten gegliedert ist. Es ist Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit, dem Koselleck den Gedanken entnimmt, dass das je einzelne Dasein in seiner Faktizität aufgrund seines Mitseins mit anderen in einer Welt immer schon in die Einheit eines es übergreifenden Geschehenszusammenhangs eingebunden ist. Eine Geschichtswissenschaft, die sich auf den Boden dieser temporalen Ontologie stellt, für die das Sein nicht im Gegensatz zur Zeit steht, sondern aus dieser in seinem Sinn bestimmt ist, hat die existenzial – oder anthropologisch – begründeten Geschehenseinheiten zum Gegenstand. Diesen Gedanken richtet Koselleck gegen die in der Aufklärung angeblich „über die Ufer der Tradition“ getretene Geschichte, vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 1. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt am Main 1977, 496 f.: Zum „Geschehen des Daseins gehört wesenhaft Erschließung und Auslegung. Aus dieser Seinsart

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ausgezeichnete Bereich, in dem das existierende Dasein sich auf sein eigenes endliches, und d. h. zeitliches, Sein bezieht, und zwar so, dass es dieses durch Faktizität bestimmte Sein aus seiner jeweiligen Situation zu erfassen hat. Das Dasein legt sein Sein im Fragen nach der Geschichte daraufhin aus, welches durch sie vorgegebene Faktische als die seiner Zukünftigkeit angemessenen inhaltliche Möglichkeit zu wählen ist. Nur durch dieses Verstehen des geschichtlich bestimmten Entwurfsraums seines zeitlichen Existierens ist der endliche Mensch eigentlich gegenwärtig. Durch diese Geschichtslehre soll die metaphysische Betrachtung der Geschichte sub specie aeternitatis überwunden werden.22 Für die Studie Kritik und Krise ist es nun entscheidend, dass der Autor für die konkrete Deutung seiner eigenen Gegenwart Carl Schmitts Diagnose übernimmt: Wir befinden uns im Zustand des Weltbürgerkriegs, d. i. des Kampfes zweier totalitärer Systeme um die Weltherrschaft.23 Damit ist der Ausgangspunkt der Untersuchung bezeichnet; ihr Ziel besteht in dem Nachweis, dass dieser Zustand seine Wurzeln in der Aufklärung hat, die ihrerseits aus dem Absolutismus erwächst.24 Die politische Krise der Gegenwart und diese Formationen – Absolutisdes Seienden, das geschichtlich existiert, erwächst die existenzielle Möglichkeit einer ausdrücklichen Erschließung und Erfassung von Geschichte. […] Die existenziale Interpretation der Historie als Wissenschaft zielt einzig auf den Nachweis ihrer ontologischen Herkunft aus der Geschichtlichkeit des Daseins.“ 22 Vgl. die Anm. 18 zitierte Rezension Kosellecks zu Jaspers und Freyer. Geschichtlichkeit wird von Heidegger als Einheit des durch die Zeitlichkeit ermöglichten Geschehens des Daseins und der darin sich vollziehenden Überlieferung bestimmter materialer Entwurfsmöglichkeiten aus dem „Erbe“ begriffen. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt am Main 1977, 507. Zum Begriff „Situation“ bei Heidegger vgl. ebd., 397; Heidegger verwendet diesen Terminus, um die eigentliche Gegenwart des zu seinem Tode vorlaufenden, entschlossenen Daseins zu bezeichnen. Die Äußerung Kosellecks kann, damit kompatibel, so verstanden werden: In der Befassung mit der Geschichte geht es darum, diejenigen konkreten Handlungsmöglichkeiten zu entdecken, die der „Situation“, also der eigentlichen Gegenwart, zugehören. Bei Koselleck verschiebt sich die Ontologie der Geschichte aus „Sein und Zeit“ allerdings vom einzelnen Existierenden auf ein Kollektiv von Menschen als „Träger“ des Geschichtlichen; das betrifft auch den Begriff Situation. Vgl. dazu die Hinweise bei Kluck, Pohle, Koselleck, Heidegger (wie Anm. 12), 77 f. 23 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950. Vgl. Potsch, Die Moderne als Weltbürgerkrieg (wie Anm. 9), 244; Jan-Friedrich Missfelder, Die Gegenkraft und ihre Geschichte. Carl Schmitt, Reinhart Koselleck und der Bürgerkrieg, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58 (2006), 310 – 336; ders., Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. Zum Zusammenhang von Utopiekritik und Historik bei Reinhart Koselleck, in: Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Carsten Dutt und Reinhard Laube, Göttingen 2013, 268 – 286. 24 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 2: „Das achtzehnte Jahrhundert ist der Vorraum des gegenwärtigen Zeitabschnitts, dessen Spannung sich seit der französischen Revolution zunehmend verschärft hat, indem der revolutionäre Prozeß extensiv die ganze Welt und intensiv alle Menschen erfasst hat.“ Aus dem ersten Brief Kosellecks an Carl Schmitt werden die Konturen seines

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mus und Aufklärung – bilden für ihn daher eine „einheitliche geschichtliche Erscheinung“.25 Nach Maßgabe unserer Geschichtlichkeit gilt es, in die Aufklärung als „Vorraum der Gegenwart“ hineinzuleuchten, um jene Strukturen oder „Momente der Dauer“26 zu Begriff zu bringen, „die noch in unsere Gegenwart hineinreichen“ und deren Erkenntnis die Überwindung der seit zweihundert Jahren sich steigernden Krise möglich machen.27 Die paradoxe Formulierung „vergangene Gegenwart“28 soll diese Vorstellung einer dem geschichtlich existierenden Menschen angemessenen Zeitlehre zum Ausdruck bringen: Die geschichtlich gedachte Gegenwart erstreckt sich in eine je bestimmte Vergangenheit und Zukunft.29

II. Argumentationsgang Das basale Interpretament, das die Konstitution einer Geschehenseinheit zwischen Absolutismus und kaltem Krieg ermöglicht, ist die These vom Wandel in der Beziehung von Moral und Politik:30 Die anhaltende Krise der Aufklärung resultiert aus der Verdrängung des genuin Politischen, wie es glücklicherweise durch den absolutistischen Staat realisiert werden konnte. Der von den Aufklärern initiierte „rigorose Prozeß der Kritik“31 – Prozess im forensischen und temporalen Sinne – gipfelt in der Vernichtung des Politischen durch die Totalisierung des Moralischen, das sich – gestützt auf eine die Geschichte verfremdende Geschichtsphilosophie – gleichsam zum absoluten Souverän aufwirft.32 Während Koselleck im ersten Kapitel denjenigen Begriff des Politischen erarbeitet, der durch die Aufklärung zerstört wird, gibt es keine vergleichbare Bemühung um einen konzisen geschichtsontologischen Projekts deutlicher: „Der Ausgangspunkt einer geschichtsontologischen Analyse müsste, […] der gegenwärtige Bürgerkrieg sein. Mit den Kategorien, wie Sie in Ihrem ,Nomos der ErdeR […] zugrundeliegen, liesse sich dann jedenfalls zeigen, dass der herrschende Weltbürgerkrieg kein ontisches oder kontingentes Ereignis ist, […], sondern ein Ereignis, das durchaus in den Seinsstrukturen unserer Geschichtlichkeit wurzelt, dann aber, wenn man diese Strukturen achtet, nicht so sein muss, wie es ist“ (Dunkhase [Hg.], Reinhart Koselleck – Carl Schmitt [wie Anm. 11], 12). 25 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 1. 26 Ebd., Vorwort von 1973, IX. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd., 3. 29 Vgl. den entsprechenden Terminus „vergangene Zukunft“, den Koselleck zum Titel seiner Aufsatzsammlung zur Semantik geschichtlicher Zeiten macht. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989. 30 Vgl Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 7, 9; vgl. Habermas, Verrufener Fortschritt (wie Anm. 6), 469. 31 Ebd., 6. 32 Vgl. ebd., 68, 91, 156.

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Begriff des Moralischen. Die Diagnose einer Pathogenese der bürgerlichen Welt behauptet bloß, einen Zusammenhang zwischen dem Moralischen im Sinne der privaten normativen Orientierungen der Untertanen des absolutistischen Staates und den in reiner praktischer Vernunft begründeten Prinzipien des Rechts und der Ethik in der Aufklärungsphilosophie nachweisen zu können; es ist dem Leser überlassen, die Definition des Moralischen aus dieser Genesis zu rekonstruieren. Der Begriff des Politischen steht im Zentrum der Darstellung des Absolutismus. Diese geschichtliche Formation ist dadurch charakterisiert, dass die politische und die moralische Sphäre separiert wurden, um die aufgrund religiöser Gesinnungen geführten Religionskriege des 17. Jahrhunderts beenden zu können. Der absolutistische Staat sichert den Frieden durch absolute Herrschaft und Monopolisierung der öffentlichen Gewalt sowie durch Zurückdrängung des Gewissens in den privaten, apolitischen Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Das Staatsinteresse ist allein dem – nach Regeln der Klugheit verfahrenden – Herrscher überantwortet, dem die Untertanen zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet sind, womit deren Gesinnungen politisch irrelevant werden.33 Kosellecks Ausführungen zum absoluten Staat und zu dessen exemplarischer Darstellung in HobbesQ Leviathan bilden das systematische Herzstück einer Lehre vom Politischen, die der Historiker gegen die Aufklärung und deren vermeintlich unheilvolle Konsequenzen als Korrektiv zur Geltung zu bringen sucht. Es erhebt sich jedoch die Frage, mit welchen Gründen der Historiker als Historiker das – an Carl Schmitts Deutung von Hobbes, aber auch an dessen Begriff des Politischen anschließende – Paradigma des absolutistischen Machtstaats als normativ relevant sowohl für die Kritik der Aufklärung als auch für die Überwindung der angeblich durch sie herbeigeführten Krise in Ansatz bringen kann. Auskunft versprechen jene metahistorischen Einschlüsse der geschichtlichen Darstellung, die das Verhältnis von Vernunft und Geschichte betreffen und die schon dem basalen Interpretament, dem Verhältnis von Politik und Moral, inhärent sind. So soll die geschichtliche Situation des durch Hobbes auf den Begriff gebrachten Absolutismus dadurch ausgezeichnet sein, dass hier Vernunft und geschichtliche Erfahrung koinzidieren, während sie durch die Aufklärung in einen unauflöslichen und unheilvollen Dualismus geraten. Den Absolutismus kennzeichnet das richtige, harmonische Verhältnis zwischen beiden: Die historische Einsicht in die Notwendigkeit, die Glaubenskriege zu beenden, stimmt mit der „Vernunftmoral“ des Hobbes überein.34 Das gelungene Zusammenspiel von Vernunft und Erfahrung manifestiert sich schon in dem Denker Hobbes, der als Staatslehrer und „Geschichtsdenker“35 zu der Erkenntnis befähigt ist, dass die Schlüsse der Vernunft 33 34 35

Vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 16, 25. Ebd., 24; vgl. 29 f. Ebd., 31.

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– aus dem bellum omnium contra omnes einerseits und dem anthropologischen Faktum der Todesangst andererseits – auf die Notwendigkeit, den absoluten Machtstaat zu errichten, mit den Lehren aus der Erfahrung der Religionskriege konvergieren. Im Verhältnis von historischer Erfahrung und Vernunftmoral steht also das zweite Relat deshalb nicht im Gegensatz zum ersten, weil das Rationale von einem Faktisches und Vernünftiges vermittelnden Denken ersonnen ist. Zu beachten ist, dass zum Faktischen sowohl die historischen Ereignisse (Religionskriege) als auch die Natur des Menschen gehören. Anthropologische Einsichten sind daher auch für die Zwecksetzung des Politischen bestimmend. Im Absolutismus wirken Vernunft und geschichtliche Erfahrung zusammen, um einen „Staat für den Menschen“,36 wie er ist, hervorzubringen; einen Staat, der aus diesem Grund als geschichtliche Antwort auf die Glaubenskriege zu würdigen ist.37 Unter diesen gedanklichen Voraussetzungen müssen die Philosophen der Aufklärung, Rousseau und Kant, dagegen geziehen werden, einen „reine[n] ,Staat der VernunftR“ zu konzipieren.38 Das im Absolutismus zur Geltung gebrachte Verhältnis von Faktizität und Vernunft liegt Kosellecks Konzept des Politischen zugrunde: Es ist dasjenige Verhältnis zwischen endlichen Vernunftwesen, durch das unter Berücksichtigung der „geschichtliche[n] Faktizität“ das im Kampf der Interessen Machbare bezweckt wird.39 Vom Begriff des Moralischen wird der des Politischen mithin dadurch abgegrenzt, dass das Vernünftige in diesem als ins Faktische eingelassen gedacht ist, während es in jenem als transzendent verstanden ist, und zwar entweder in Gestalt religiöser Vorstellungen oder in Gestalt der durch reine Vernunft begründeten universalen Prinzipien der Aufklärung, die im Falle von Kants Ethik bekanntlich die Annahme eines mundus intelligibilis, also ebenfalls eine Zweiweltenlehre, voraussetzen. In Kosellecks Begriff des Politischen gehen Carl Schmitts Idee des Politischen40 und HobbesQ Staatslehre ein. Der Autor würde jedoch einen Widerspruch begehen, wenn er behauptete, dieser Begriff des Politischen sei durch eine ahistorische Vernunft erdacht und begründet; d. h. er muss als in dieser beEbd., 25. Ebd., 26. Wenn es heißt, die Situation der Glaubenskriege werde für Hobbes zur „denknotwendigen Voraussetzung […], um seinen absoluten Souveränitätsbegriff ableiten zu können“ (ebd.), verstehe ich das so, dass auch der normativ richtige Begriff des Politischen nur aus der faktischen Situation zu gewinnen sein soll. 38 Ebd., 101. 39 Ebd., 9. Nur derjenige kann einen Staat erdenken und begründen, der über Einsicht in die „geschichtliche Faktizität“ verfügt. 40 Vgl. Olsen, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck (wie Anm. 1). Die einschlägigen Arbeiten zu diesem Punkt werden in Fußnote 2, 297 genannt. Carl Schmitt hat recht; aber vielleicht nur als Antwort auf die durch die Aufklärung bestimmte historische Situation, die durch Hypermoralismus und Utopismus geprägt ist. 36 37

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stimmten Geschehenseinheit hervorgebrachter und ihr gemäßer Begriff erwiesen werden. Der Begriff des Politischen wird Ausgangspunkt einer historischen Untersuchung, die seine Verdrängung durch das Moralische nachzeichnen will, bildet aber auch die normative Kontrastfolie für die Diagnose dieser Entwicklung als Pathogenese. Die Berufung auf eine in reiner Vernunft begründete Moral wird als „wirklichkeitsfremd“41 kritisiert, und zwar in dem eminenten Sinne, dass nicht nur in abstracto das Gegebene als Gegebenes in seiner Faktizität geleugnet42 und die Eigenart des Politischen als solches verkannt wird, sondern auch in dem konkreten Sinne, dass die bestehenden politischen Interessen der Protagonisten der Aufklärung, des Bürgertums, mit Notwendigkeit verdeckt werden. Geschichtlich und politisch adäquat wird das Rationale als dem Faktischen einwohnend gedacht; Begriffe sind entsprechend als die von konfligierenden Subjekten erdachten Instrumente zur Beförderung ihrer Interessen zu verstehen. Um es mit Carl Schmitt zu sagen: Die schlimmste Verwirrung entsteht „dann, wenn Begriffe wie Recht und Frieden in solcher Weise politisch benutzt werden, um klares politisches Denken zu verhindern, die eigenen politischen Bestrebungen zu legitimieren und den Gegner zu disqualifizieren oder zu demoralisieren“.43 Nur scheinbar paradoxerweise ist es gerade das im politischen Sinne vernünftige Prinzip des absolutistischen Staates, die Trennung von Politik und Moral, die den „Einsatzpunkt der Aufklärung“ bildet, an der dieser Staat zugrunde geht.44 „Der Staat schuf eine Neuordnung, wurde aber dann – echt geschichtlich – Opfer dieser Ordnung.“45 Dahinter steht der zentrale Gedanke von Kosellecks Geschichtslehre: Faktisches enthält als solches Mögliches, u. U. auch das seiner Negation. Die vom politischen Handeln ausgeschlossenen Untertanen fokussieren sich auf ihre moralische Gesinnung, bilden sie zur moralischen Theorie aus und lösen durch moralische Gesetze die religiösen Gebote ab. Damit konstituiert sich der apolitische Bereich der bürgerlichen Gesellschaft, aus dem einerseits die den Staat zersetzende Öffentlichkeit und andererseits Freimaurer und andere Lo-

Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 8. Ebd., 155. 43 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 4. Nachdruck der Ausgabe von 1963, Berlin 1965, 65. Nach Schmitt hat Hobbes „klarer als alle anderen“ die richtigen Konsequenzen politischen Denkens gezogen „und immer wieder betont, daß die Souveränität des Rechts nur die Souveränität der Menschen bedeutet, welche die Rechtsnormen setzen und handhaben, daß die Herrschaft einer ,höheren OrdnungR eine leere Phrase ist, wenn sie nicht den politischen Sinn hat, daß bestimmte Menschen aufgrund dieser höheren Ordnung über Menschen einer ,niederen OrdnungR herrschen wollen“ (ebd., 66). 44 Ebd., 30. 45 Ebd. 41

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gen als die „gesellschaftlichen Formationen“ der neuen, sich im Geheimen organisierenden politischen Macht entstehen.46 Die Loslösung der Moral von der Religion ist die Voraussetzung dafür, dass sich die nun im Namen einer allgemeinen reinen Vernunft auftretende Moral selbst zum Richter und Gesetzgeber erhebt, der dem absolutistischen Staat den Prozess macht, um ihn zu zerstören. Die philosophische Konzeption des von Koselleck so genannten „Moralischen“ ist der Endpunkt jener mit dem Absolutismus beginnenden Entwicklung der Abspaltung des „Moralischen“ vom Politischen: Die Gesinnung der privaten Einzelnen spreizt sich zum Universalen auf und hypostasiert sich gleichsam zu einem Idealen, einer das Faktische transzendierenden und negierenden normativen Instanz, die notwendig despotischen, die Heterogenität der politischen Interessen unterdrückenden Charakter annimmt. Koselleck legt den zu schranken- und rastloser Kritik getriebenen Aufklärern47 den Satz des Neuen Testaments in den Mund: „Spiritualis homo judicat omnia, ipse autem nemine judicatur“.48 Das freilich ist Hybris, die moralische Verurteilung verdient: „Der König in seinem Gottesgnadentum nimmt sich bescheiden aus neben dem Richter der Humanität, der an seine Stelle tritt, dem Kritiker, der wie Gott am jüngsten Tag das Universum seinen Richtersprüchen unterwerfen zu können glaubt.“49 Indem die sich absolut setzende Vernunft schließlich auf den Staat ausgreift, wird sie unweigerlich zum Instigator der Krise, d. h. der Französischen Revolution, in der die reale politische Entscheidung über den als Tyrann kritisierten Souverän gefällt werden muss.50 Rousseau figuriert in diesem Verfallsszenario als der Antipode von Hobbes: Der erstmals Freiheit und Gleichheit als Prinzipien staatlicher Herrschaft begründende Denker propagiert nach Koselleck in Wahrheit die totalitäre Idee eines Staates, in dem alles Private durch das Patriotische zu vernichten ist – eine gefährliche Idee, um deren Realisierung es in der französischen Revolution gehen wird.51 Für Kosellecks „Pathogenese der bürgerlichen Welt“ ist die Deutung dieses Ereignisses im Selbstverständnis der Aufklärer entscheidend: Um sich seinen politischen Machtwillen zu verbergen, fälscht das Bürgertum den Bürgerkrieg, d. i. die Revolution, zur „Erfüllung moralischer Postulate“ um und legitimiert seine politische Entscheidung geschichtsphilosophisch als das Ebd., 49. Vgl. ebd., 89 ff., 155. 48 Ebd., 31. 49 Ebd., 98. Gegen die erklärte Absicht, den Aufklärern keine „moralische Rechnung“ zu präsentieren (ebd., 4), wird in dieser Studie mehrfach verstoßen; dies hebt Schwartz zu Recht hervor, vgl. Schwartz, Leviathan oder Lucifer (wie Anm. 2), 47 f. 50 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 146. 51 Vgl. ebd., 138 – 140, 146 f. Diese rigorose Beurteilung Rousseaus beruht nicht auf einer gründlichen Analyse seiner Schriften. 46 47

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„zwangsläufige Ende […] eines überpolitischen moralischen Prozesses“.52 Die moralphilosophisch fundierte „rationale[] Kritik“53 dient mithin bei Licht besehen der politischen Selbstautorisierung des Bürgertums, die sich nur durch eine die Geschichte von ihrer „Faktizität entblößt[e]“ Lehre von der Geschichte als Fortschritt legitimieren kann.54 Damit hat die Abhandlung den Gipfelpunkt ihrer Argumentation erreicht: Das zur Herrschaft gekommene „Moralische“ negiert das Politische als Bereich heterogener Zwecke, verleugnet daher notwendig seine politische Funktion und wird damit dem Geschichtlichen entfremdet. Moral- und Geschichtsphilosophie der Aufklärung sind – zugespitzt formuliert – Ideologeme im Dienst des politischen Willens einer Gruppe von Menschen, deren Zwecke, als solche von endlich-geschichtlichen Vernunftwesen, weder durch eine allgemeine reine Vernunft zu begründen noch in einer unendlichen Zeit zu realisieren sind. „Die Heterogonie der Zwecke ist nämlich eine zeitliche Bestimmung des Politischen, die von keiner Utopie [aber wohl auch von keinem Vernunftprinzip] überholt werden kann.“55

III. Aufklärung oder Gegenaufklärung? Kosellecks Darstellung der Aufklärung hat – das wurde bereits ansatzweise gezeigt – eine antidualistische, also monistische Auffassung des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit zur Voraussetzung. Daraus ergibt sich der Vorrang des Politischen und eine an Carl Schmitts Theorie des Politischen angelehnte Vernunftkritik, der zufolge die Konzeption von universalen Vernunftprinzipien, die in der Aufklärung zur Kritik des Wirklichen und zur Begründung menschlicher Institutionen gebraucht werden, als politischen Interessen dienendes Figment bestimmter Gruppen angesehen werden muss. Koselleck hat in Kritik und Krise aber auch einen eigenen, untauglichen Versuch unternommen, die Despotie des dualistischen Aufklärungsdenkens bis zu ihrem Ursprung in der Logik zurückzuleiten. „Unter der Maske der Allgemeinheit bediente sie [die Kritik der Aufklärung] sich weiterhin der polaren Setzungen. Jede dualistische Setzung implizierte als solche schon die Kritik, wie die Kritik ihrerseits erst durch die polare Denkstruktur ihre Schärfe und scheinbare Eindeutigkeit gewann. Wo dagegen der Versuch unternommen wurde, die Antithesen ernst zu nehmen, scheiterte das UnterEbd., 156. Ebd., 7. 54 Ebd., 155. Eine Entblößung von Faktizität im Gefolge der Berufung auf die reine praktische Vernunft erkennt Koselleck auch in Kants Konzeption von Geschichtsphilosophie, dieser würde Geschichte „als […] moralisch gesetzlichen Prozess[]“ verstehen (ebd., 133). 55 Ebd., X. 52 53

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nehmen an dem abwertenden Denkgefälle, das sich aus der Begriffsbildung ergab“.56 Rigorose Kritik und Unfähigkeit zur Berücksichtigung von Gegensätzen im Feld des Politischen beruhen auf der Logik des Begriffs – lautet die These. Gehen mit der Begriffsbildung hierarchisierende polare Setzungen einher, enthüllt sich die von den Aufklärern geltend gemachte Allgemeinheit als Maske. Sie verdeckt, dass die positive Setzung von etwas die Negation seines Gegenteils bedeutet, dass mithin nur Partikulares, nicht aber das Allgemeine gedacht wird. Dieser Vorwurf missdeutet die Allgemeinheit des Begriffs als Ganzheit. Besteht diese indessen genau darin, die Unterscheidung zwischen Dingen durch Merkmale, worunter die einen subsumiert werden, die anderen nicht, also die Bildung von Klassen durch Teilvorstellungen, zu ermöglichen, wird diese Vernunftkritik der Aufklärung haltlos. Dass das Unterschiedene logisch durch den allgemeineren Begriff vereint werden kann, dürfte ebenso unstrittig sein wie die Abwesenheit von Wertunterschieden zwischen dem Unterschiedenen. Koselleck stellt eine Verbindung zwischen Logik und angeblich dualistischen Denkstrukturen der Aufklärer her, die keiner Begründung fähig ist. Die Absicht, das politische Versagen der Aufklärung auf ihr angeblich dualistisches Denken zurückzuführen, radikalisiert sich bis zu einer haltlosen Vernunftkritik. Die vermeintlich mit dem Begriffsgebrauch der geistigen Elite57 verknüpften, wertenden Gegensätze überlagern im Zuge der sich ausbreitenden Kritik das Verständnis der realen, und d. h. der politischen Antithesen, verhindern so die Akzeptanz des politischen Gegners und werden damit despotisch. Aus dieser Verdeckung leitet Koselleck die Hypokrisie der Aufklärer ab: „Der unbewältigte Irrtum, in dem die Aufklärung befangen blieb, ihre geschichtliche Hypokrisie bestand darin, in dieser Negation [der des Staates] bereits eine politische Position zu erblicken.“58 Als Kritiker verdecken die Aufklärer ihre eigene politische Rolle in doppelter Weise: Sie verschleiern die ihren Begriffen inhärente Politik und verbergen sich unter der Maske des Allgemeinen, dass sie selbst politische Akteure sind, deren Negation des Staates die Position der bürgerlichen Gesellschaft bezweckt. Diese den kritischen Diskurs der geistigen Elite betreffenden rationalitätskritischen Analysen sind zwar ein wichtiges, an Carl Schmitt orientiertes Instrumentarium von Kosellecks Aufklärungskritik; die essenzielle gedankliche Fundierung dieser Studie liefert indessen das Konzept der Geschichtsontologie, wie im Folgenden zu erweisen ist. Wenn die Krise des zeitgeschichtlichen Weltbürgerkriegs der in der Aufklärung errichteten, ihre politische Ambition verleugnenden Vernunftherrschaft entspringt, kann der von Koselleck beabsichtigte Beitrag zur Überwindung dieser Situation nicht durch eine potenzierte Vernunftkritik im 56 57 58

Ebd., 97; vgl. noch 86 f., 102 f. Ebd., 103. Ebd.

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Sinne Kants, einer sich selbst kritisierenden allgemeinen und reinen Vernunft, erbracht werden. Diese Art einer die Aufklärung als Programm und Zeitalter gleichermaßen auszeichnenden Kritik59 würde die Krise zwangsläufig perpetuieren. Um ihr entkommen zu können, muss die allgemeine reine Vernunft als solche entthront werden. Das leistet Koselleck zufolge nur der „Geschichtsdenker“, der die Genese dieser Vernunftherrschaft untersucht, um aus dem Faktischen das geschichtlich Zukunftsträchtige zu eruieren.60 Das aber verlangt, eine Lehre von der Geschichte zugrunde zu legen, die nicht ihrerseits durch das Aufklärungsparadigma bestimmt ist, wie es nach Koselleck noch im zeitgenössischen Historismus der Fall ist. Das erste Projekt realisiert die Schrift Kritik und Krise, die Programmatik des zweiten skizziert der Promovend in seinem ersten Brief an Carl Schmitt vom 21. Januar 1953, dessen Analyse abschließend vorzunehmen ist. In diesem Brief geht es zunächst darum, die zeitgenössische Geschichtswissenschaft in die geschichtliche Situation einzuordnen. Der jene prägende Historismus sei ein Element der gegenwärtigen, der Aufklärung entspringenden Krise und könne deshalb keine „Antwort auf unsere Situation“ geben.61 Der Historismus führe – wie anhand von Meineckes Idee der Staatsräson62 dargelegt wird – in das Dilemma, die „Relativität aller geschichtlichen Ereignisse und Werte als „Relativität“ absolut anzusetzen“.63 Die Absolutsetzung des Relativen ist ein Widerspruch, der klar macht, dass der Historismus haltlos und deshalb durch eine Geschichtsontologie zu ersetzen ist. Man sollte […] endlich durchstoßen zu einer Geschichtsontologie, die nicht mehr methodisch letzte Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben, und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann. […] Die Reduktion aller geistigen Äußerungen auf die Situation setzt allen weiteren Relativierungen nach vorne und hinten, nach oben und nach unten ein absolutes Ende.64

Rettung verspricht also eine Geschichtsontologie, die sich gedanklicher Mittel Carl Schmitts und Heideggers bedient: Von Schmitt soll der Gedanke fruchtbar 59 Vgl. Kants berühmte Formulierung: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XXII, Anm.). 60 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 31 f. Der Geschichtsdenker wird dem Historiker gegenübergestellt: Dieser sammelt Fakten und stellt sie dar; jener weiß darum, dass sich in der Geschichte immer anderes ergibt, als in den Vorgegebenheiten enthalten war – d. h., er versteht das Geschichtliche als Möglichkeitsraum. 61 Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 11. 62 Vgl. Reinhard Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Hans Joas, Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2010, 138 – 168. 63 Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 11. 64 Ebd.

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gemacht werden, dass das Verständnis von Begriffen auf die jeweilige Situation ihrer Prägung zurückgeführt werden muss, dass sie also geschichtlich zu denken seien.65 Aus der Krise des Historismus (Troeltsch), und d. h. aus dem Relativismus, führt diese Methode aber nur dann heraus, wenn sie mit einem Heideggers Denken entlehnten Begriff von Geschichtlichkeit verbunden wird. Durch Heideggers temporale Ontologie wird die unausgesprochene Voraussetzung des Historismus und der Geschichtsphilosophie der Aufklärung sichtbar und revidierbar: Es ist der platonistische Gegensatz zwischen Wandelbarem in der Zeit und überzeitlichen, durch die Vernunft erkennbaren Ideen oder Werten, der im Historismus weiterlebt als Paradox eines absolut gesetzten Relativen, das alles Ideale konsequent in die Zeit setzt und damit zum Veränderlichen macht, aber im metaphysischen Ausgriff auf „Alles“ noch den Blick auf die Geschichte sub specie aeternitatis voraussetzt. Der Historismus kann sich selbst nicht historisieren, d. h. als Erbe der Dualismen oder Platonismen des Aufklärungsdenkens verstehen, ohne sich aufzuheben. Es ist Heidegger, der sein Denken von Anfang an als Kampf gegen den Platonismus – auch gegen seine abgeblassten Gestalten des Historismus und Relativismus – versteht.66 Nur durch Überbietung des Historismus, die Begründung einer konsequenten und schrankenlosen Verzeitlichung des Seins und Daseins, und zwar auf der Grundlage einer Zeit, der die Endlichkeit des Existierens eingeschrieben ist, ist nach ihm den Halbherzigkeiten und Krisen seiner Zeit zu entkommen.67 Auf dem Boden dieser Zeitlichkeit kann Geschichte nicht mehr im kantischen Sinne als derjenige Teilbereich der Natur begriffen werden, der die von Zwecken geleiteten menschlichen Handlungen umfasst. Sowohl die darin vorausgesetzte Vorstellung einer unendlichen linearen Zeit68 als auch die der durchgängigen Bestimmtheit alles Zeitlichen durch das Gesetz der Kausalität sind der aus der endlichen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins gedachten Geschichte unangemessen. Diese Grundgedanken Heideggers übernimmt Koselleck. Das aus dem Bezug auf das überzeitliche Ideale und auf die unendliche Kausalkette der Natur gelöste Geschichtliche entgeht dem Relativismus und der Aufladung zum Utopischen gleichermaßen und kann erst dadurch auf den endlichen Vernunftwesen angemessenen Begriff gebracht werden.69

Vgl. ebd., 9. Zum Thema Heidegger und der Historismus vgl. die vorzügliche Studie von Jeffrey Andrew Barash, Heidegger and the Problem of Historical Meaning, New York 2003. 67 Vgl. Marion Heinz, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Zur Kritik von Sein und Zeit im Anschluss an Julius Kraft und Eberhard Grisebach, in: „Sein und Zeit“ neu verhandelt. Untersuchungen zu Heideggers Hauptwerk, hg. von ders. und Tobias Bender, Hamburg 2019, 255 – 287. 68 Vgl. Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 10. 69 Vgl. ebd., 11 f. 65 66

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Die Forderung, zur Geschichtsontologie durchzustoßen, beinhaltet, „die Endlichkeit des geschichtlichen Menschen in den Blickpunkt zu rücken, [aber] nicht in Hinsicht auf das individuelle Dasein, […] sondern in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also in Hinsicht auf die Strukturen einer ,SituationR, ohne die es Geschichte gar nicht gibt.“70 Hierin liegt eine entscheidende Differenz zu Heideggers Begründung von Geschichtlichkeit und Geschichte im zeitlichen Geschehen des „jemeinigen“, vereinzelten Daseins:71 Die Verabschiedung der unendlichen linearen Zeit hat für Koselleck die Einführung des Begriffs Situation als einer endlichen Geschehenseinheit, als Sinnbereich bestimmter Menschen, zur Folge. Jede vorgegebene Situation ist gleichermaßen Einschränkung und ermöglichende Bedingung.72 Die Strukturen der Situation werden von Koselleck vermittelst der Existenzialien Geworfenheit und Entwurf gedacht als Faktizität und Transzendenz. Die Situation ist Ausdruck der Endlichkeit des Menschen, sowohl indem sie qua Faktizität einschränkende Bedingung seines Möglichkeitsraums ist als auch indem sie qua Transzendenz die Unabgeschlossenheit und Produktivität jeweiliger Geschehenseinheiten beinhaltet.73 Transzendent74 ist die Situation in dem doppelten Sinne, dass sie nicht nur innerhalb des situativen Bedeutungsraums verbleibendes Mögliches generiert, sondern auch diesen als Ganzes übersteigendes. „Es durchherrscht eine Endlichkeit die menschlichen Dinge, die den Geschichtsraum, der den jeweiligen Menschen zugeordnet ist, dauernd in Frage stellt.“75

Ebd., 12. Schon in seinem Referat zum Wahrheitsbegriff in Heideggers Sein und Zeit von 1949 hat der Student Koselleck klug bemerkt, dass die Begründung der Geschichte im Überlieferungsgeschehen des jemeinigen vereinzelten Daseins unplausibel ist. Ausgehend vom und verhaftet an das je einzelne Dasein kann Heidegger nach Koselleck trotz des Existenzials der Weltlichkeit der Welt, für das die Existenzialien von Mitsein und Besorgen von Zeug konstitutiv sind, keinen über eine „Privatgeschichte“ hinausgehenden, für Institutionen und Kollektive geltenden, gemeinschaftlichen geschichtlichen Bedeutungsraum denken. Das Phänomen der Geschichtlichkeit sei also nicht „aus der vorlaufenden Entschlossenheit eines ,je meinigenR Daseins abzuleiten“; zitiert nach Kluck, Pohle, Koselleck, Heidegger (wie Anm. 12), 67; vgl. ebd. 64 – 68. 72 Der Begriff Dialektik wird in Kritik und Krise auch gebraucht, um das Umschlagen von Gegensätzen zu bezeichnen, vgl. Kosselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), X, 68, 77, 85, 106, 135, 146. 73 Jeder „Entwurf [ist nicht] mehr[] und [kann] nicht mehr sein als das Produkt einer situativen und zeitbedingten Einsicht, soweit diese auch reichen mag“, heißt es in Kosellecks Schrift Über die Verfügbarkeit der Geschichte (in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 260 – 277, hier 270). Vgl. Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck. Münster, Hamburg, London 2004, 220. 74 Dunkhase (Hg.), Reinhart Kosselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 12. 75 Ebd. 70

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Entscheidend für Kosellecks Situationsbegriff ist der Gedanke der Vermittlung von Faktischem und Möglichem, wonach das Faktische das Mögliche enthält und das Mögliche unaufhebbar an das Faktische gebunden ist. Diese die Geschichte ermöglichenden Strukturen setzt der Geschichtsontologe gegen den Dualismus des Aufklärungsdenkens und leitet daraus die Forderung ab, deren Paradigma universaler Vernunft durch ein Konzept von situativer, und d. h. partikularer Vernunft zu ersetzen – einer Vernunft, die sich an der „geschichtliche[n] Realität“ orientiert und Evidenz „im Horizont menschlicher Endlichkeit“ erstrebt.76 Damit sind die gedanklichen Mittel dieser Untersuchung beschrieben und ihre Fundierungsverhältnisse sind aufgezeigt worden: Die Konzepte von Politik und Moral regieren diese Untersuchung der Aufklärung, die ihrerseits die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz des Vernünftigen zur Voraussetzung haben. Bindet sich das politische Denken an das faktisch Mögliche, so beruft sich das moralische auf Prinzipien der reinen allgemeinen Vernunft. Es ist die an Heidegger anschließende Geschichtsontologie, die die Überlegenheit der an Carl Schmitt orientierten Lehre vom Politischen fundiert, die ihrerseits jener vernunftkritischen Destruktion der Aufklärung zugrunde gelegt wird, von der sich Koselleck die geschichtlichen Möglichkeiten zur Überwindung der Gegenwartskrise verspricht. Wenn es sich aber so verhält, wie ansatzweise gezeigt, dass Heideggers temporale Ontologie die Destruktion allen Platonismus bezweckt, enthält der Ansatz der Untersuchung bereits das Resultat. Was ergibt sich aus diesen Befunden schließlich für die Beantwortung der Ausgangsfrage, ob Kosellecks Studie als potenzierte Aufklärung oder als Gegenaufklärung zu beurteilen ist? Der Anspruch besteht zweifellos darin, eine geschichtliche Antwort auf die Aufklärung zu geben, die die Aufklärung über sich selbst aufklärt, indem sie ihre Blindheit und Hypokrisie sichtbar macht. Es ist evident, dass eine philosophische Auseinandersetzung mit den reinen praktischen Vernunft-Prinzipien von Recht und Sittlichkeit das Paradigma der Aufklärung konservieren würde. Also bedarf es gedanklicher Mittel, die die Prämissen des dualistischen Paradigmas bereits verlassen oder – mit Heidegger gesagt – destruiert haben – eine Destruktion, die in Sein und Zeit durchgeführt wurde. Das aber heißt, dass es sich dem Selbstverständnis nach um das Paradox einer potenzierten Aufklärung durch Gegenaufklärung handelt, wenn dieses denn der richtige Begriff für eine Position ist, die die für die Aufklärung konstitutiven „Ideen“,77 vor allem die Idee einer allgemeinen reinen Vernunft als unhintergehbarer Gerichtshof, auch der Selbstkritik dieser Vernunft, negiert. Von Aufklärung im potenzierten Sinne Vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 1), 30 und 8. Vgl. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, hg. von Karlfried Gründer und Nathan Rotenstreich, Heidelberg 1990, 67 – 100. 76

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ist also nur dann zu sprechen, wenn der Begriff Aufklärung äquivok gebraucht wird. Im Licht der vorstehenden Analysen erheben sich Zweifel an Ansatz und Ertrag der Studie von Koselleck. Es handelt sich erstens um einen unfairen Prozess gegen die Aufklärung insofern, als dessen Voraussetzungen und Methoden das Ergebnis präjudizieren. Zweitens aber bleiben die gedanklichen Prämissen der Untersuchung unbegründet. Drittens ist es unangesehen dieses Defizits fragwürdig, die Beurteilung von Konzepten menschlicher Praxis (Politik, Moral) in einer Ontologie der Geschichte zu fundieren. Handelt es sich dabei doch um normative Fragen, die aufgrund von Faktischem nicht zu beantworten sind. Viertens aber ist nach den Konsequenzen einer Geschichtsontologie zu fragen, die die universale Vernunft verabschiedet. Klar ist, dass einer durch kontrafaktische Prinzipien der Kritik und Veränderung des Wirklichen geleitete Praxis damit der Boden entzogen ist.78 An die Stelle treten Konzeptionen geschichtlichen und politischen Denkens, wie sie Carl Schmitt und Martin Heidegger entwickelt haben. Weniger klar ist, was aus diesem Ansatz für die theoretische Vernunft folgt. Soll – wie bei Heidegger – der Anspruch auf überzeitliche Wahrheit aufgegeben werden? Muss die Geschichtsontologie demnach auf sich selbst angewendet werden, sodass deren Grundbegriffe als „geistige[] Äußerungen“ auf ihre geschichtliche Situation reduziert werden müssen?79 Bewegt sich die Untersuchung also auch in Bezug auf ihre eigenen „Prinzipien“ in einem Zirkel? Wird die Geschichte nicht zu einem QuasiSubjekt hypostasiert, das die für menschliches Denken und Handeln relevanten Begriffe generiert, die keiner Beurteilung durch eine übergeschichtliche Vernunft bedürfen oder fähig sind? Seit ihrem Erscheinen ist Kosellecks Schrift Kritik und Krise mit der Frage konfrontiert, ob es um Kritik der Aufklärung oder um Gegenaufklärung geht. Die Veröffentlichung des Briefwechsels von Koselleck mit Carl Schmitt schafft eine verbesserte Textgrundlage für die Diskussion dieser Frage. Heideggers Lehre von der Geschichtlichkeit des Daseins ist die entscheidende philosophische Grundlage dieser Studie. Der durch Heidegger geprägte Ansatz macht eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung, die als potenzierte Aufklärung gelten kann, unmöglich. Since its first publication, KoselleckQs Kritik und Krise is confronted with the question as to whether it is about a critique of the Enlightenment or about counter-enlightenment. The publication of KoselleckQs correspondence with Carl Schmitt provides a better foundation for the treatment of this question. HeideggerQs doctrine of the historicity of Dasein provides the decisive philosophical basis for KoselleckQs study. This Heidegger-influenced

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Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt (wie Anm. 10), 11. Vgl. ebd.

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approach renders an engagement with the Enlightenment, that might be regarded as a strengthened Enlightenment, impossible. Prof. i.R. Dr. Marion Heinz, Universität Siegen, Fakultät 1, Adolf-Reichwein-Straße 2, D-57076 Siegen, E-Mail: [email protected]

Oliver Bach Methode der Aufklärung? Jürgen HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962)

Jürgen HabermasQ Habilitationsschrift wurde und wird nicht nur in seinen eigenen Fächern, der Soziologie und Philosophie, sowie der Geschichtswissenschaft rezipiert und kontrovers diskutiert, sondern wirkt auch weit in die Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung hinein. Sowohl die „Abkehr von der höfisch verankerten Dichtung“ seit 1700 als auch die Tendenzen einer Rückkehr ins Private in der Literatur des Biedermeier und Realismus werden explizit mit HabermasQ These vom ,StrukturwandelR der Öffentlichkeit in Verbindung gebracht.1 Auch und gerade die grundsätzlichsten und knappsten Handbuchartikel etwa zur literarischen Bildung kommen nicht ohne Hinweis auf Jürgen HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit aus2 und solche zur Öffentlichkeit überhaupt fußen zum Teil ganz auf HabermasQ Studie.3 Fach- bzw. forschungsgeschichtliche Rückblicke schreiben ihr gar das Verdienst zu, den entscheidenden Anstoß für die Sozialgeschichte der Literatur überhaupt gegeben zu haben,4 während sich die literaturwissenschaftlichen Sozialhistoriker der 1980er Jahre selbst eher auf seine Theorie des kommunikativen Handelns bezogen.5 Auch dort, wo der These

1 Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 9., aktual. und erw. Aufl. Berlin 2019, 154 f., 296. 2 Nikolaus Wegmann, Literarische Bildung, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, begr. von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, 440 f.; ders.: Bildung, literarische, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 5., aktual. und erw. Aufl. Stuttgart 2013, 75 f. 3 Toni Tholen, Öffentlichkeit, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, begr. von Günther und Irmgard Schweikle, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, 551. 4 Peter V. Zima, Friedmann Harzer, Literaturtheorie, In: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 42007, 482 – 485, hier 484. 5 Siehe bspw. Dieter Pfau, Jörg Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine ,Sozialgeschichte der LiteraturR, in: dies., Renate von Heydebrand

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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HabermasQ entweder widersprochen oder zumindest ihre Anwendbarkeit auf die Literaturgeschichte bezweifelt wird, kommt die Literaturwissenschaft um die Auseinandersetzung mit Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht herum.6 Für die literaturhistorische Beschäftigung mit der Aufklärung im Speziellen schließlich scheint HabermasQ Habilitationsschrift erst recht unverzichtbar, und zwar nicht nur, weil diese Beschäftigung sich seit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre ohnehin in allen Disziplinen intensivierte und sich insofern zu den wichtigsten Beiträgen zur Aufklärungsdebatte wie denjenigen Horkheimers/Adornos, Reinhart Kosellecks und Jürgen HabermasQ verhalten musste,7 sondern auch weil die Aufklärung gerade „als literaturgeschichtliche Epoche“ als „durch einen ,Strukturwandel der ÖffentlichkeitR […] gekennzeichnet“ gelten muss, wie bspw. die germanistische Aufklärungsexpertin Jutta Heinz schreibt.8 Obwohl Heinz damit zu den wenigen gezählt werden darf, welche noch diejenige Unterscheidung der „Idee der Aufklärung von der Epoche beziehungsweise dem Zeitalter der Aufklärung“ zu machen verstehen, an die der Marburger Philosoph Reinhard Brandt sich inzwischen sichtlich entnervt zu erinnern gezwungen sieht,9 so gilt es doch zu betonen, dass Habermas nicht nur einen historischen, sondern auch einen systematischen Aufklärungsbegriff hat. Dieser geht in seinem Konzept des ,StrukturwandelsR der Öffentlichkeit nicht vollständig auf, sondern vielmehr gilt für Habermas dieses als Gradmesser dafür, wie stark die Idee der Aufklärung in unterschiedlichen Epochen verwirklicht wurde. Wenige Stellen von HabermasQ Buch machen dies deutlicher als der allerletzte Satz, der auch (und besser) der erste hätte sein können: Am Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit läßt sich studieren, wie es vom Grad und der Art ihrer Funktionsfähigkeit abhängt, ob der Vollzug von Herrschaft (Hg.), Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf, Tübingen 1988, 1 – 26, passim. 6 Siehe bspw. Peter Stein, Zum Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit bis zum deutschen Vormärz. Oder: Wie schlüssig ist Jürgen HabermasQ ,Strukturwandel der ÖffentlichkeitR für die Literaturgeschichte?, in: Helmut Koopmann, Martina Lauster (Hg.), Vormärzliteratur in europäischer Perspektive, Bd. 1: Öffentlichkeit und nationale Identität, Bielefeld 1996 (Studien zur Literatur des Vormärz 1), 55 – 84; Helge Jordheim, Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik, Tübingen 2007 (Communicatio 38), 43 – 46. 7 Vgl. Carsten Zelle, Aufklärung, in: Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, Berlin, New York 42007, 160 – 165, hier 164. 8 Jutta Heinz, Aufklärung, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, begr. von Günther und Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, 53 – 55, hier 54. Vgl. ähnlich MarkGeorg Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, 161. 9 Reinhard Brandt, Trotzdem: Aufklärung, in: Merkur 71 (2017), H. 813, 92 – 96, hier 93.

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und Gewalt als eine gleichsam negative Konstante der Geschichte beharrt – oder aber, selber eine historische Kategorie, der substantiellen Veränderung zugänglich ist.10

Die Frage, ob eine Epoche – um es mit Immanuel Kant zu sagen – als „aufgeklärtes Zeitalter“ oder zumindest als „Zeitalter der Aufklärung“11 oder eben nicht einmal als das gelten kann, entscheidet sich für Habermas im Wesentlichen daran, ob es in ihr eine nicht nur repräsentative, sondern bürgerliche Öffentlichkeit gibt und ob sie sich als funktionsfähig erweist. Diese Funktionstüchtigkeit nämlich bemisst sich ihrerseits daran, ob die Öffentlichkeit in der Lage ist, Herrschaft und Gewalt dergestalt einzuhegen und einzuschränken, dass diese nicht als Konstanten zu gelten haben, der sich der Mensch nur notgedrungen unterwerfen kann und somit stets unfrei bleibt. Die Öffentlichkeit erweist sich mithin dann als funktionstüchtig, wenn es dem Menschen mit ihrer Hilfe gelingt, sich aus einer Unmündigkeit von uneingeschränkter Herrschaft wie überhaupt von Imperativen der Notwendigkeit (necessit/) zu befreien. Aus diesem Grunde spricht Habermas auch in diesem Zitat letztlich von Aufklärung, auch wenn er das Wort nicht fallen lässt. Bürgerliche Öffentlichkeit ist für Habermas eine, wenn nicht die Methode für den kollektiven Ausgang aus der Unmündigkeit und insofern Methode der Aufklärung. Der letzte Satz von Jürgen HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit zeigt mithin, dass er Kants Konzept der Aufklärung als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“12 im Wesentlichen teilt. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, inwiefern genau Habermas Kants Aufklärungskonzept interpretiert und affirmativ rezipiert und inwiefern er trotzdem bzw. genau deshalb Kants Begriff der Öffentlichkeit kritisch rezipiert.

I. Bestimmter vs. unterbestimmter Begriff der Moral: Habermas vs. Koselleck Die Erläuterung von HabermasQ Kant-Rezeption in seiner Aufklärungskonzeption scheint mir deshalb von so zentraler Bedeutung zu sein, weil sich anhand ihrer die entscheidenden Unterschiede zu HabermasQ Antipoden in der Bewertung der Aufklärung als Epoche ebenso wie als Idee aufzeigen lassen: Reinhart Koselleck. Dies ist nicht allein deshalb angezeigt, weil auch die Aufklärungsforschung wie10 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 152018, 359. 11 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1900 ff. [im Folgenden: AA Band, Seite], hier AA VIII, 33 – 42, 4017–26. 12 Ebd., 34 . 1–2

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derholt diese Gegnerschaft wahrnimmt und sich infolgedessen auf eine der beiden Seiten schlagen zu müssen glaubt.13 Angezeigt scheint dies auch, weil Habermas und Koselleck sich zwar in ihrer Bewertung der Aufklärung widersprechen, aber dieser Widerspruch schon aus unterschiedlichen Begriffsbildungen vor allem von Moral generiert, die in der Rekonstruktion dieser Kontroverse noch nicht angemessen berücksichtigt wurden. Auf ein ausführliches Referat von Kosellecks Kritik und Krise kann hier verzichtet und auf den Beitrag von Marion Heinz im vorliegenden Band verwiesen werden. Wichtig sind im vorliegenden Zusammenhang vor allem die folgenden Punkte: Für Koselleck sichert der absolutistische Staat den öffentlichen Frieden zum einen durch seine uneingeschränkte Herrschaft und damit durch die Monopolisierung der öffentlichen Gewalt, zum anderen durch die Zurückdrängung der Moral in den privaten, apolitischen Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Demgegenüber ist eine wie auch immer aus dem Privaten zurück in das Öffentliche drängende Moral dazu angetan, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Wie steht Habermas dazu bzw. wie verhält es sich damit bei Habermas? Eine erste oberflächliche Betrachtung erlaubt bereits folgende Antworten: Erstens teilt Habermas nicht die Meinung, dass eine Öffentlichkeit, die mehr ist als nur öffentliche Repräsentation des absolutistischen Souveräns, den öffentlichen Frieden notwendiger Weise gefährdet. Zweitens findet sich bei Habermas ebenso wenig ein Anzeichen dafür, dass er jedwedes In-die-Öffentlichkeit-Treten der Privatperson schon als eine Moralisierung der Politik interpretierte. Denn diese stillschweigende Voraussetzung bei Koselleck hat m. E. noch zu wenig Beachtung gefunden: Für Koselleck ist nicht nur die Moral ausschließlich privat (was bedenkenswert ist), sondern auch das Private ausschließlich moralisch bzw. ausschließlich zu moralischer Urteils- und Willensbildung fähig (was falsch ist). Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass Koselleck in Kritik und Krise keinen scharfen Begriff der Moral bzw. Moralisierung anbietet.14 In der Folge ist nicht völlig deutlich, was Koselleck mit einer Politisierung der Moral oder umgekehrt mit einer Moralisierung der Politik eigentlich meint: „Das Moralische, das danach trachtet, politisch zu werden, wird das große Thema des 18. Jahrhunderts sein.“15 Dies ist ein umso seltsamerer Umstand, als sich die Koselleck- ebenso wie die Habermas-Rezeption in der Literaturwissenschaft an dieser Undeutlichkeit wenig stößt16 und somit die Frage offen lässt, inwiefern sie eigentlich Koselleck oder Habermas zustimmt. Siehe bspw. Jordheim, Der Staatsroman (wie Anm. 6), 46. Siehe hierzu abermals den Beitrag von Marion Heinz im vorliegenden Band. 15 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1992, 31. 16 Wieder können nur willkürliche Beispiele angeboten werden: Hermann Kurzke, Romantik 13

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Was Habermas als Koselleck-Kritiker in seiner Habilitationsschrift vor allem erreichen musste, ist der Nachweis, dass nicht jede aus dem privaten Raum kommende Kritik an der Politik moralisch ist und folglich nicht jede aus dem privaten Raum kommende Kritik eine politische Krise verursacht; dass also Kosellecks titelgebende These vom Kausalzusammenhang von Kritik und Krise nicht verfängt. Möchte man HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit auch als Reaktion auf Kosellecks Kritik und Krise lesen, so gilt es zu darauf achten, inwiefern Habermas die Privatperson im Allgemeinen für fähig erachtet, über Fragen der Politik anders als nur moralisch zu räsonnieren – also z. B. auch rechtlich oder staatsklug –, und inwiefern er der Privatperson in und seit der Aufklärung im Besonderen zugutehält, dies auch getan zu haben. Erst und nur dann lässt sich HabermasQ allgemeiner Begriff der Öffentlichkeit als weder rein politischer noch rein moralischer Raum und in der Folge sein besonderer Begriff der höfischen, feudalen oder absolutistischen Öffentlichkeit nicht als rein politischer Raum und sein besonderer Begriff der aufgeklärten, aus dem Privaten kommenden Öffentlichkeit nicht als rein moralischer Raum verstehen. Dass Habermas die Privatperson im Allgemeinen im gerade erwähnten Sinne durchaus für fähig erachtet, über Fragen der Politik auch anders als nur moralisch, nämlich auch rechtlich und staatsklug zu räsonnieren, und dass er ihr in und seit der Aufklärung im Besonderen zugutehält, dieses öffentliche rechtliche und staatskluge Räsonnement auch geleistet zu haben, zeigt seine Rezension von Kosellecks Buch, die 1960 im Merkur erschien: [D]as, was die Öffentlichkeit nach Maßgabe des ordre naturel in öffentlicher Diskussion ermitteln sollte, das Vernünftige, zugleich Richtige und Rechte, ist nicht etwa darum schon den privaten moralischen Gesinnungen gleichzusetzen. Das entspricht weder dem Selbstverständnis der gens de lettres noch dem, was mit der Anwendung des öffentlichen Raisonnements der Privatleute auf die politische Gewalt tatsächlich geschah.17

Habermas befindet Kosellecks Theorie für systematisch schwach und empirisch falsch. Eine entsprechende Stelle in Strukturwandel der Öffentlichkeit auszumachen, gestaltet sich allerdings auf den ersten Blick schwierig. Denn zwar kann und und Konservatismus. Das „politische“ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983 (Literaturgeschichte und Literaturkritik 5), 234; Rudolf Schlögl, Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern, in: Monika Neugebauer-Wölk, Richard Saage (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 2013, 117 – 142, hier 119 f.; Ludwig Stockinger, Die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung, in: Helmut Schanze (Hg.), Romantik-Handbuch, 3., aktual. Aufl., Stuttgart 2003, 79 – 106, hier 95; Jordheim, Der Staatsroman (wie Anm. 6), 46 f. 17 Jürgen Habermas, Verrufener Fortschritt – Verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie, in: Merkur 14 (1960), H. 147, 468 – 477, hier 471.

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muss HabermasQ Habilitationsschrift gewiss als Reaktion auch auf Kosellecks Dissertation gelten, allerdings strukturiert und gliedert er sie nicht als reine Koselleck-Diskussion, bewegt sich nicht Punkt für Punkt entlang Kosellecks Argumentation und diskutiert und widerlegt folglich nicht jede von Kosellecks Thesen und Prämissen. Dies gilt insbesondere für die erwähnte Prämisse Kosellecks, dass das Private ausschließlich moralisch bzw. ausschließlich zu moralischer Urteilsund Willensbildung fähig ist. Ein zweiter Blick indessen kann sich das Verhältnis dieser Begriffe bei Habermas erschließen, und zwar ein Blick auf die Passage seines Buches, an der er den Ursprung der Kategorien öffentlich und privat in der griechischen Antike erläutert: Die politische Teilhabe in der Polis hängt davon ab, als Privatmann Herr über einen oikos zu sein und somit von eigenhändiger Produktionstätigkeit befreit zu sein. Diese Freiheit ist Bedingung für die politische Partizipation, „die Teilhabe am öffentlichen Leben hängt […] von ihrer privaten Autonomie als Hausherren ab“.18 Interessant wird diese habermassche Distinktion von öffentlich und privat schließlich an derjenigen Stelle, wo er sie an einer anderen, nämlich metaphysischen Distinktion ausrichtet: [D]as Reich der Notwendigkeit und der Vergänglichkeit bleibt im Schatten der Privatsphäre versunken. Ihm gegenüber hebt sich die Öffentlichkeit, im Selbstverständnis der Griechen, als ein Reich der Freiheit und der Stetigkeit ab.19

HabermasQ Überlegungen zur Struktur der antiken griechischen Gesellschaft interessieren an dieser Stelle weniger wegen ihrer Zeitdiagnose, als sie vielmehr mit der Unterscheidung eines „Reichs der Notwendigkeit“ und eines „Reichs der Freiheit“ anschließen an eine Tradition, die ihren Ursprung hat in der Distinktion sogenannter entia physica und entia moralia, die vom spanischen Spätscholastiker Francisco Su#rez (1548 – 1617) auf den Begriff gebracht,20 vom Philosophen Erhard Weigel (1625 – 1699)21 an den Staats- und Naturrechtsdenker Samuel Pufendorf (1632 – 1694) tradiert22 und von diesem zu einem festen Bestandteil der Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 56. Ebd., 57. 20 Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg im Breisgau 1993, 55 – 66; Stefan Schweighöfer, Der Ursprung der menschlichen Gesetzgebungsgewalt in Francisco Su#rezQ „De legibus ac Deo legislatore“, in: Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening (Hg.), Die Staatsrechtslehre des Francisco Su#rez, Berlin, Boston 2020, 23 – 38, hier 35 – 37. 21 Vgl. Wolfgang Röd, Erhard Weigels Lehre von den entia moralia, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51/1 (1969), 58 – 84. 22 Vgl. Jaime Brufau Prats, Influencia de Su#rez en la Ilustraciln, in: Cuadernos Salmantinos de Filosof&a 7 (1980), 65 – 79, hier 74 – 78; Kobusch, Die Entdeckung der Person (wie Anm. 20), 67 – 100. 18

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Staats- und Rechtsphilosophie gemacht wurde.23 Moralische Handlungen setzen, um als möglich gelten zu können, eine freie Entscheidung des handelnden Subjekts voraus und ihnen kommt, insofern sie verwirklicht werden, ein ontologischer Status zu, der sich folglich von demjenigen der physischen Seiendheiten mit Blick auf deren Verursachung substanziell unterscheidet. Kurz: entia physica haben ihre Ursache in naturgesetzlich verlaufenden Prozessen, entia moralia haben ihre Ursache in der Freiheit des Menschen, sie zu bewirken oder nicht: „Der physischen Welt der Notwendigkeit tritt eine moralische Welt der Freiheit gegenüber.“24 In der weiteren philosophischen Rezeption ist nicht so sehr die Frage des Seins-Status der Moral bedeutend, sondern ihre Grundlegung in der Freiheit. Prägnant bringt dies Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) auf den Begriff: Es sind aber nur zweierlei Begriffe, welche ebenso viel verschiedene Prinzipien der Möglichkeit ihrer Gegenstände zulassen: nämlich die Naturbegriffe und der Freiheitsbegriff. […] so wird die Philosophie in zwei den Prinzipien nach ganz verschiedene Teile, in die theoretische als Naturphilosophie und die praktische als Moralphilosophie (denn so wird die praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriffe genannt) mit Recht eingeteilt. Es hat aber bisher ein großer Mißbrauch mit diesen Ausdrücken zur Einteilung der verschiedenen Prinzipien und mit ihnen auch der Philosophie geherrscht: indem man das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe für einerlei nahm […]. Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Kausalität des Willens die Regel gibt, ein Naturbegriff oder ein Freiheitsbegriff sei. Der letztere Unterschied aber ist wesentlich. Denn ist der die Kausalität bestimmende Begriff ein Naturbegriff, so sind die Prinzipien technisch-praktisch; ist er aber ein Freiheitsbegriff, so sind diese moralischpraktisch; […] so werden die ersteren zur theoretischen Philosophie (als Naturlehre) gehören, die anderen aber ganz allein den zweiten Teil, nämlich (als Sittenlehre) die praktische Philosophie, ausmachen.25

Menschliches Handeln ist dann moralisch, wenn es frei erfolgt, sich also nicht dem Naturgesetz entstammende oder dem Naturgesetz ähnliche Kausalitäten – und das meint eben: Notwendigkeit – zum Prinzip macht. In ebendiesem Sinne benutzt auch Habermas Moral und Moralität in Abgrenzung zu Handlungen, die der Notwendigkeit gehorchen, sich also naturgesetzlichen Ursachen unterwerfen. Moralische Handlungen sind freie Handlungen bzw. Handlungen freier Menschen, die mehrere mögliche Optionen und nicht nur eine notwendige kennen. Dieser allgemeine Moralbegriff hat nichts mit dem engeren Moralbegriff zu 23 Klaus-Gert Lutterbeck, Pufendorfs Unterscheidung von physischem und moralischem Sein und seine politische Theorie, in: Dieter Hüning (Hg.), Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden 2009, 19 – 35, insbesondere 20 – 25. 24 Ebd., 22. 25 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. von Heiner Klemme, Hamburg 2009, 8 f. (AA V, 17113–17222).

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tun, der seine Normen aus etwaigen Zwecken ableitet, wie dem Gemeinwohl-, Tugend- oder Glückseligkeitszweck. Letzterer Moralbegriff ist ein Unterbegriff des ersteren; dazu gleich mehr. Die zitierte Polis-Paraphrase HabermasQ ist also deshalb so signifikant, weil sie verdeutlicht, dass Habermas unter ,MoralR nicht den zwar undeutlichen,26 aber unverkennbar engeren Moralbegriff Kosellecks versteht, der auf innere Gesinnung bzw. Tugendhaftigkeit abstellt und aus etwaigen Zwecken abgeleitet wird. Habermas spricht im Zusammenhang der Moral von der praktischen Vernunft schlechthin. In der Tat sind hier kantische Distinktionen wirksam, wenngleich Habermas sie nicht immer terminologisch exakt wiedergibt. Wenn Habermas also den Terminus ,MoralR verwendet, so verwendet er ihn im Sinne dessen, was Kant in der Metaphysik der Sitten als ,SittenR bzw. ,SittengesetzR bezeichnet, also im Sinne eines Oberbegriffs, unter den sowohl das Recht fällt, dessen „Prinzipien zur Regelung von durch den Gebrauch der äußeren Freiheit bedingten Handlungskonflikten zwischen verschiedenen Individuen […] dienen“, als auch die Moral im engeren Sinne bzw. die Tugendlehre, d. h. „[e]thische Prinzipien, die als solche dazu dienen, Zwecksetzungskonflikte der (je eigenen) inneren Freiheit zu regeln“.27 Dass Habermas, wenn er den Terminus ,MoralR benutzt, meist auch vom Recht spricht und somit den Oberbegriff Moral im Sinne des Sittengesetzes verwendet, zeigt eindrücklich eine Stelle aus seiner Beschäftigung mit Kants Konzept der Öffentlichkeit: Darum gilt Kants Publizität als dasjenige Prinzip, das allein die Einhelligkeit der Politik mit der Moral verbürgen kann. Er begreift „Öffentlichkeit“ als Prinzip der Rechtsordnung und Methode der Aufklärung zumal.28

Habermas verweist an dieser Stelle auf den zweiten Anhang zu Kants Friedensschrift, in welcher der Königsberger Philosoph eben „von der Einhelligkeit der Vgl. hierzu den Beitrag von Marion Heinz im vorliegenden Band. Georg Geismann, Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ,klassischenR Politischen Philosophie, in: Jahrbuch für Politik 2/2 (1992), 319 – 336, hier 330, Hvhb. O.B. Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 203 – 493, hier 21917–30 : „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt. Aber eben darum, weil die ethische Gesetzgebung die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in ihr Gesetz mit einschließt, welche Bestimmung durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so kann die ethische Gesetzgebung keine äußere (selbst nicht die eines göttlichen Willens) sein, ob sie zwar die Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, als Pflichten in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt.“ 28 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 180. 26

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Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“ handelt, mithin selbst den Terminus ,MoralR als Oberbegriff aller Prinzipien der praktischen Vernunft verwendet, insofern sie eben allein die Freiheit zur Grundlage haben und somit sowohl die Moral im engeren Sinne als Regelungsbereich der inneren Freiheit als auch das Recht als Regelungsbereich der äußeren Freiheit betreffen.29 In diesem Zusammenhang versteht Habermas auch die disziplingeschichtlichen Verschiebungen des 18. Jahrhunderts bzw. in diesem Zusammenhang sind seine Beobachtungen zu denselben zu verstehen: Der kritische Prozeß, den die öffentlich räsonierenden Privatleute gegen die absolutistische Herrschaft anstrengen, versteht sich selbst als unpolitisch: die öffentliche Meinung will Politik im Namen der Moral rationalisieren. Im 18. Jahrhundert geht die aristotelische Tradition einer Philosophie der Politik bezeichnenderweise in Moralphilosophie auf.30

Die Übereinstimmung HabermasQ mit Koselleck in diesem Zitat ist nur eine scheinbare: Denn die Moralisierung der Politik, die Habermas hier auf den ersten Blick ebenso diagnostiziert wie Koselleck, ist eben nicht notwendiger Weise und eben nicht bei allen Aufklärern eine Moralisierung im engeren Sinne, d. h. im Sinne einer Ausrichtung der Politik auf ethische Prinzipien und Zwecke, sondern zunächst eine Moralisierung im weiteren Sinne.

II. Aufklärung und gerechte Ordnung statt Tugendethik Sodann hat Habermas im Unterschied zu Koselleck weniger die Ethik und Tugendlehre denn die Rechtslehre als Unterbereich der Moral im Blick. Wieder geht Habermas von Kants Friedensschrift aus und wieder ist der Fluchtpunkt seiner Argumentation nicht die Moral im engeren Sinne intrasubjektiver Zwecksetzungskonflikte, sondern das Recht im Sinne der Regelung intersubjektiver Handlungskonflikte: Zwang kann dann nicht länger in Gestalt persönlicher Herrschaft oder gewaltsamer Selbstbehauptung ausgeübt werden, sondern nur so, „daß einzig Vernunft Gewalt hat“. Die selbst zur ausschließlichen Herrschaft erwachsenen Rechtsverhältnisse, die als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden wechselseitigen Zwangs vorgestellt werden, stammen aus praktischer Vernunft – äußerster Gegenschlag gegen das Prinzip: auctoritas non veritas facit 29 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden, hg. von Heiner Klemme, Hamburg 1992, 49 – 103, hier 96 – 103 (AA VIII, 381 – 385), Zitat 96 (AA VIII, 3812–3), Hvhb. O.B. 30 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 178 f.

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legem. Einst konnte Hobbes mit dieser Formel die absolute Gewalt der Fürsten sanktionieren, weil Friedensstiftung, nämlich das Ende des konfessionellen Bürgerkrieges, offenbar nur um den Preis zu erlangen war, daß die öffentliche Gewalt in der Hand des Monarchen monopolisiert und die bürgerliche Gesellschaft, samt ihrem Gewissensstreit, als Privatsphäre neutralisiert wurden.31

Es ist diese Stelle, mit der sich Habermas am deutlichsten, wenn auch ohne ihn zu nennen, gegen Koselleck stellt. Denn auch dieser war von HobbesQ Absolutismuskonzept ausgegangen, dessen dezisionistisches Prinzip des Die Autorität und nicht die Wahrheit macht das Gesetz zugleich den Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) einhegen, mithin friedensstiftend wirken, und die absolute Macht des Monarchen rechtfertigen sollte.32 Der Anspruch aufklärerischer Kritik ist für Habermas indessen nicht eine Ausrichtung der Politik auf etwaige empirische Zwecke, die in der Tat in eine Krise führen kann; denn eine solche Teleologie schränkt die Politik des Souveräns nicht ein, sondern entgrenzt sie im Gegenteil, weil gerade dieses Telos jedes Mittel heiligt. Die Mittel-Zweck-Rationalität ethischer Politikkonzepte zeitigt diejenigen Folgen, die Koselleck fürchtet. Um eine solche ist es allerdings weder Kant noch Habermas zu tun, insofern ihren rechtlichen Politikkonzepten nicht irgendwelche Zwecke, sondern die Freiheit das Prinzip geben. Ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, für die Widerlegung der koselleckschen Aufklärungskritik ist jedoch HabermasQ Hinweis darauf, dass staatlicher Zwang hierdurch nicht aufgeweicht oder gar beseitigt werden sollte. Er sollte ,lediglichR eine andere Grundlegung als die dezisionistische bekommen; die rechtliche Möglichkeit gesetzlichen Zwangs besteht darin, die Freiheit auf ihre eigenen Bedingungen einzuschränken (ich darf meine Freiheit nicht dergestalt nutzen, dass sie die Freiheit anderer in einer Weise einschränkt, die ich selbst nicht wollen kann).33 Ebd., 179. Vgl. Dietrich Schotte, Auctoritas, non veritas, facit legem! Zur angeblichen Politischen Theologie in Thomas HobbesQ ,LeviathanR, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/5 (2009), 709 – 724. 33 Julius Ebbinghaus, Die Idee des Rechts [1958], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Praktische Philosophie 1955 – 1972, hg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1988, 141 – 198, hier 165: „Es ist die Freiheit eines jeden, sofern diese in ihrer Bestimmung übereinstimmt mit einer möglichen Allgemeinheit des sie bestimmenden Willens. Dies ist das Prinzip, von dem das Altertum nichts wußte, und das das Mittelalter bis ins siebzehnte Jahrhundert nicht finden konnte, weil es dies Recht in eben diesem Altertum oder gar im Himmel suchte. Fragt man nun, worauf beruht denn die große Wende, durch die das sichtbar wurde, was zuvor niemand hatte sehen können, so lautet die Antwort: sie beruht auf der einfachen Einsicht, daß der Mensch, um sich überhaupt etwas in Bezug auf sich selbst oder andere unter Bedingungen der Erfahrung zum Zwecke machen zu können, irgendeiner Freiheit zu dessen Realisierung bedarf. Also ist es widersinnig, in irgendeiner Zweckbestimmung dieses Willens ein universales Gesetz für diese Freiheit finden zu wollen. 31 32

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Wenn sich Habermas affirmativ auf Kants Überlegungen von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral bezieht, so befürwortet er also gerade nicht eine Moralisierung der Politik, wie sie Koselleck perhorresziert hatte, d. h. eine Ausrichtung der Politik auf solche ethischen Prinzipien, die der Regelung von Zwecksetzungskonflikten der je eigenen inneren Freiheit dienen. Er spricht von der Verrechtlichung der Politik mithilfe einer kritischen Öffentlichkeit. Diese besteht auch und gerade darin bzw. kommt dadurch zustande, dass die Privatperson ihre praktische Vernunft nicht nur zum Räsonnement über ethische, sondern auch rechtliche Prinzipien verwendet und diese als Korrektiv der Politik in die Öffentlichkeit trägt. Erstens also ist, anders als Koselleck meinte, nicht jede aus dem privaten Raum kommende Kritik an der Politik moralisch. Zweitens haben nicht alle Aufklärer und hat schon gar nicht die Aufklärung gefordert, dass eine Kritik an der Politik stets und notwendig moralisch sein sollte; Habermas wählt mit Kant den zugleich passendsten und prominentesten Gewährsmann. Drittens wird dementsprechend nicht jede politische Krise durch eine aus dem privaten Raum kommende Kritik verursacht, weil diese nicht notwendig moralisch ist. Folglich ist viertens die Aufklärung und die durch sie formulierte Politik-Kritik nicht bzw. nicht allein verantwortlich für die Krise(n), die Koselleck ihr anlastet. Den „Fortschritt zur vollkommen gerechten Ordnung“,34 und nicht etwa einer vollkommen tugendhaften Ordnung, macht Habermas in seiner Interpretation von Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) deshalb als das Telos der Aufklärung aus. Denn zum einen versteht Habermas den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, als die Kant Aufklärung bekanntlich definiert,35 als den Austritt aus einer Bevormundung durch andere, mithin aus einer Unmündigkeit im rechtlichen Sinne.36 Dies ist eine, wenn nicht eigenwillige, so doch verknappte Lesart von Kants Aufklärungsaufsatz, denn Kant selbst definiert Unmündigkeit wiederum als das „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.37 Es geht dem Königsberger mithin zunächst um die Pflege kognitiver Fähigkeiten und um diskursive Praxis im Allgemeinen, noch nicht um rechtliche Praxis im Besonderen. Darin allerdings, dass letztere auch bei Kant den eigentlichen Fluchtpunkt darstellt, ist HabermasQ Interpretation Die lex naturalis des Hellenismus war ein solches Gesetz der Zwecke – und eben deswegen haben es die Alten niemals für ein Gesetz zur Bestimmung der Freiheit der Menschen gehalten. Das Christentum kam von der Vorstellung nicht los, es müsse sich deswegen, weil die Beförderung des Rechtes auf Erden in der Tat ein notwendiger Zweck für den guten Willen ist, auch das Prinzip des Rechtes selber aus dem Gesetze, durch das die guten von den bösen Zwecken unterschieden werden, ableiten lassen.“ 34 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 180, Hvhb. O.B. 35 Kant, Beantwortung der Frage (wie Anm. 11), 34 . 1–2 36 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 180. 37 Kant, Beantwortung der Frage (wie Anm. 11), 34 . 2–3

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des Aufsatzes rechtzugeben: Kant lässt seine Überlegungen schließlich darin gipfeln, dass die einzelne Person zwar die Aufklärung für sich und auf eine bestimmte Zeit aufschieben kann, aber auf die Aufklärung „Verzicht zu thun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen“.38 In der Tat ist es also letztlich auch und vor allem eine rechtliche Unmündigkeit, die durch Aufklärung für sich und andere zu beheben eine Pflicht ist. Zum anderen wird dieser Ausgang, der für jede Einzelperson eine „subjektive Maxime“ darstellt, für die „Menschheit im ganzen“ zu einer „objektiven Tendenz“,39 d. h. Habermas gesteht Kant zu, in der Aufklärung nicht nur eine notwendige und mögliche, sondern auch hinreichende Bedingung auf dem Weg zu jener gerechten Ordnung erkannt zu haben. Gleichwohl ist sich Habermas ebenso wie Kant dessen bewusst, dass mit diesem Fortschritt keine Sozialmechanik beschrieben ist, die sich ab einem gewissen Punkte gleichsam von selbst vollzöge. Mit solch einem Determinismus fiele der Mensch nur wieder in jenen Zustand der Unmündigkeit zurück. Aufklärung muss sowohl von den einzelnen Personen als auch von der Gemeinschaft aktiv betrieben werden. III. Öffentlichkeit als Form des Rechts und als Methode der Aufklärung Es kann m. E. kein Zufall oder gar terminologische Beliebigkeit sein, dass Habermas im Zusammenhang des Fortschritts und des Ausgangs, den die Aufklärung darstellt, auch von einer „Methode der Aufklärung“40 spricht. ,FortschrittR und ,AusgangR mögen zwar beinahe zu Katachresen geworden sein, die Semantik des Schreitens und Gehens oft nicht mehr wahrgenommen werden. Habermas indessen ist sich derselben offensichtlich sehr wohl bewusst, bezeichnet doch ,MethodeR das „geregelte Verfahren“, mithilfe dessen ein Weg (bd|r) beschritten wird.41 In diesem, sprachlich durchaus naheliegenden Sinne versteht Habermas die kantsche Öffentlichkeit als Methode der Aufklärung: sie ebnet den bzw. ist der Weg, auf dem fortgeschritten und von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ausgegangen wird. Hier greifen nun HabermasQ Interpretationen des Aufklärungsaufsatzes und der Friedensschrift eng ineinander; begrifflich nämlich liegt dieses Verständnis der Öffentlichkeit bei Kant nicht unmittelbar nahe:

Ebd., 3932–36. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 180. 40 Ebd. 41 Joachim Ritter, Methode I, in: ders., Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde, Basel 1971 – 2007, Bd. 5 (1980), Sp. 1304 f., hier Sp. 1304. 38 39

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Denn in Zum ewigen Frieden bestimmt Kant die „Publicität“ nicht als Methode, sondern als Form: Wenn ich von aller Materie des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirisch-gegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten unter einander), so wie es sich die Rechtslehrer gewöhnlich denken, abstrahire, so bleibt mir noch die Form der Publicität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr ertheilt wird, geben würde.42

Zunächst dazu, was der Formbegriff in diesem Zitat leistet, bevor im nächsten Absatz zu Kants Bestimmungen des Formbegriffs selbst übergangen wird: Von jedweder Materie des öffentlichen Rechts bzw. des materiellen öffentlichen Rechts muss Kant abstrahieren, um von den empirischen Voraussetzungen öffentlichen Rechts absehen zu können, da diese raumzeitlich variieren und deshalb nicht das systematisch Universale allen öffentlichen Rechts generieren können. Am Ende dieser Abstraktion steht die Öffentlichkeit des öffentlichen Rechts als solche, also genau dasjenige Element der Rechts- statt Tugendordnung, das wahrhaft universal und deshalb systematisch notwendig ist, um staatlichen Zwang in der oben bestimmten Weise auf die Bedingungen der Freiheit einschränken und somit allererst legitimieren zu können. In einem Staat, der seine Bürger zwar unter optimalen materiellen Bedingungen leben lässt, ihnen aber nicht die Möglichkeit und das Recht einräumt, über dieselben und ihr Zustandekommen öffentlich zu diskutieren, gibt es auch kein Recht im eigentlichen Sinne auf diese materiellen Bedingungen. Denn die entscheidende Bedingung der Möglichkeit, diese materiellen Bedingungen als subjektive Rechte in Anspruch nehmen zu können, fehlt, nämlich diese Rechte öffentlich artikulieren, einzuklagen, einzufordern oder eben auch ablehnen zu können, also Öffentlichkeit schlechthin. Form definiert Kant in der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) in Unterscheidung von Materie, insofern diese „das Bestimmbare überhaupt“, jene „dessen Bestimmung“ darstellt.43 Dabei geht es ihm selbstverständlich vor jeder Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft um rein epistemologische Fragen, solche der reinen Vernunft eben: Mit Form ist es dem Königsberger Philosophen deshalb in der KrV um die „Form der Anschauung (als eine subjektive Beschaffenheit der Sinnlichkeit)“ zu tun, die „aller Materie (den Empfindungen) […] und allen datis der Erfahrung“ vorausgeht und diese „vielmehr allererst möglich“ macht.44 Diese in der KrVan sich rein epistemologische Definition der Form Kant, Zum ewigen Frieden (wie Anm. 29), 96 (AA VIII, 3814–11). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, 383 (A 266 / B 322). 44 Ebd., 384 (A 267 / B 323). 42 43

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überträgt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) auf die Reflexionen der reinen praktischen Vernunft: Da es dort um die „Materie des Begehrungsvermögens“ geht, nämlich „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen“, muss Form analog zur Definition in der KrV diesen stets aposteriorischen Vorstellungen ebenso vorausgehen: Die reine Vernunft kann und muss „für sich allein praktisch sein“, d. h. „durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen können“.45 Was auch immer also als Materie der praktischen Vernunft bestimmbar ist, erfährt seine Bestimmung eben erst durch und mit der Form. In Anwendung auf die Friedensschrift und den dortigen Publizitätsbegriff folgt daraus: Wie auch immer unterschiedliche staatliche Gesellschaften ihr öffentliches Recht materiell bestimmen mögen – denn als Bestimmbares gibt es hierzu keineswegs nur eine Option –, so darf es in der Bestimmung an der Form der Öffentlichkeit nicht fehlen; andernfalls kann weder von öffentlichem Recht noch von Recht überhaupt die Rede sein. Dies hat mit Kants Begriff der Methode nur bedingt zu tun. In seiner Logik (1800) bestimmt Kant Methode im Allgemeinen als die zwingende Regel, gemäß derer allein Erkenntnis erfolgen kann, denn „Regellosigkeit ist zugleich Unvernunft“.46 Allerdings stößt der Leser im unmittelbaren Anschluss auf eine scheinbar nicht unbedeutende Einschränkung: „Die Erkenntniß, als Wissenschaft, muß nach einer Methode eingerichtet sein.“47 Unbedeutend scheint diese Einschränkung mit Blick auf den hiesigen Gegenstand deshalb nicht zu sein, weil diejenige Öffentlichkeit, der Kant und mit ihm Habermas das Wort reden, nämlich die Öffentlichkeit der Aufklärung, zwar zweifellos nicht regellos und nicht unvernünftig sein soll; aber ihre Erkenntnis- oder gar Willensbildung als Wissenschaft zu bezeichnen, ginge zu weit. Wenn Habermas also Kants Öffentlichkeitsbegriff in Zum ewigen Frieden als „Methode der Aufklärung“ bezeichnet, so scheint dies auf den ersten Blick nicht nur dem kantschen Text nicht gerecht zu werden, der von ,FormR und nicht von ,MethodeR spricht; sondern es scheint mit Blick auf Kants eigenen Begriff der Methode sogar irreführend zu sein, weil Habermas damit die Aufklärung selbst zur Wissenschaft und die Öffentlichkeit zu einer wissenschaftlichen Institution zu machen scheint. Genau darauf will Habermas selbst nicht hinaus, wenn er nach einer kurzen Beschäftigung mit dem Streit der Facultäten (1798) resümiert: „Die Öffentlichkeit, innerhalb derer die Philosophen ihr kritisches Handwerk betreiben, ist indessen, ihres akademischen Mittelpunktes ungeachtet, keine bloß akademische.“48 Auf den zweiten Blick erweist sich Ha45 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. von Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme, Hamburg 2003, 31 (AA V, 2435–40). 46 Immanuel Kant, Logik, AA IX, 1 – 150, hier 139 . 3–5 47 Ebd., 139 8–9 ; Hvhb. O.B. 48 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 181.

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bermas jedoch nicht nur als genauer Leser des Aufklärungsaufsatzes und der Friedensschrift, sondern auch der Kritiken, namentlich der Kritik der praktischen Vernunft: Das zeigt sich nicht allein darin, dass Habermas zum sachlichen Nachweis dessen, dass Kant selbst aufklärerische Öffentlichkeit eben nicht als ein rein wissenschaftliches Publikum versteht, explizit auf eine entsprechende empirische Beobachtung in der KpV verweist, auf die gleich noch zurückzukommen sein wird;49 vielmehr ist der nur prima vista so problematische Methodenbegriff HabermasQ implizit von demjenigen Methodenbegriff geprägt, den Kant für die reine praktische Vernunft spezifiziert: Unter der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft kann man nicht die Art (sowohl im Nachdenken als im Vortrage) mit reinen praktischen Grundsätzen in Absicht auf ein wissenschaftliches Erkenntniß derselben zu verfahren verstehen, welches man sonst im Theoretischen eigentlich allein Methode nennt (denn populäres Erkenntniß bedarf einer Manier, Wissenschaft aber einer Methode, d. i. eines Verfahrens nach Principien der Vernunft, wodurch das Mannigfaltige einer Erkenntniß allein ein System werden kann). Vielmehr wird unter dieser Methodenlehre die Art verstanden, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne.50

Auch die praktische Vernunft bliebe an ihr selbst bloß theoretisch, wenn sie nur auf die objektive Geltung der praktischen Gesetze und nicht auch auf deren subjektive Wirksamkeit abstellte. Erst wenn die gewonnenen Erkenntnisse auch die Maximen des Handelns bestimmen, werden sie in der Tat praktisch. Hier greift letztlich wieder die oben schon erwähnte Distinktion technisch-praktischer und moralisch-praktischer Imperative: Wer nämlich das praktische Gesetz nur befolgt, weil er es kennt und die mit diesem verknüpften angedrohten oder befürchteten Strafen durch andere Menschen oder Gott vermeiden will, befolgt es nur „um eigenen Vorteils willen“,51 d. h. er handelt technisch-praktisch, insofern ihm das Gesetz nur Mittel zur Erreichung eines Zwecks ist, und obendrein egoistisch, weil dieses Ziel nur in seinem eigenen Vorteil besteht. Ob positives oder natürliches, menschliches oder göttliches Recht: Er beugte sich letztlich nur vor dem „Maschinenwesen ihrer Polizei, die sich bloß nach dem richtete, was man tut, ohne sich um die Bewegungsgründe, warum man es tut, zu bekümmern“.52 Moralisch-praktisch handelt hingegen nur derjenige, der das Gesetz nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Maxime nimmt und unabhängig davon handelt, was die persönlichen Folgen für ihn daraus sein mögen. Handeln aus Angst vor Strafe stellt letztlich nur pflichtgemäßes Handeln, aber nicht Handeln 49 50 51 52

Siehe Anm. 54 und 55. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 201 (AA V, 1511–12). Ebd., 202 (AA V, 1526–7). Ebd., 202 (AA V, 15216–18).

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aus Pflicht dar.53 Kants Formulierung vom „Maschinenwesen ihrer Polizei“ zeigt darüber hinaus, dass pflichtgemäßes Handeln aus Angst sowohl unkritisch als auch unterwürfig ist und somit in die selbstverschuldete Unmündigkeit (zurück)führt – also unaufklärerisch im Sinne des Aufklärungsaufsatzes ist.

IV. Räsonieren in gemischten Gesellschaften Unmittelbar hierauf folgt in der KpV die vorhin schon angekündigte Textstelle, aus der zum einen hervorgeht, dass Kant selbst Öffentlichkeit nicht als ein ausschließlich wissenschaftliches Publikum versteht. Zum anderen geht aus ihr hervor, wie nun „den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth“ verschafft werden kann: Wenn man auf den Gang der Gespräche in gemischten Gesellschaften, die nicht blos aus Gelehrten und Vernünftlern, sondern auch aus Leuten von Geschäften oder Frauenzimmern bestehen, Acht hat, so bemerkt man, daß außer dem Erzählen und Scherzen noch eine Unterhaltung, nämlich das Räsonniren, darin Platz findet: weil das erstere, wenn es Neuigkeit und mit ihr Interesse bei sich führen soll, bald erschöpft, das zweite aber leicht schal wird. Unter allem Räsonniren ist aber keines, was mehr den Beitritt der Personen, die sonst bei allem Vernünfteln bald lange Weile haben, erregt und eine gewisse Lebhaftigkeit in die Gesellschaft bringt, als das über den sittlichen Werth dieser oder jener Handlung, dadurch der Charakter irgend einer Person ausgemacht werden soll. Diejenige, welchen sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und verdrießlich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, den moralischen Gehalt einer erzählten guten oder bösen Handlung auszumachen, und sind so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Absicht und mithin den Grad der Tugend in derselben vermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objecte der Speculation sonst von ihnen erwartet.54

Dies ist diejenige Textstelle, die Habermas im direkten Zusammenhang mit der Erläuterung von Kants Öffentlichkeitsbegriff zitiert (und zwar den Abschnitt „Wenn man […] Platz findet“)55 und sie als eine Äußerung Kants über die Salonkultur des 18. Jahrhunderts interpretiert: „Es ist die Welt der Literaten, aber auch der Salons, in denen sich ,die gemischten GesellschaftenR diskutierend austauschen; hier in den Bürgerhäusern etabliert sich das Publikum.“56 Auch hierzu sind zwei Anmerkungen dazu zu machen, wie Habermas an dieser Stelle Kant interpretiert. 53 Vgl. Katerina Mihaylova, Gewissen als Pflicht gegen sich selbst. Zur Entwicklung des forum internum von Pufendorf bis Kant, in: dies., Simon Bunke (Hg.), Gewissen. Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, Würzburg 2015, 53 – 70, hier 59. 54 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 203 f. (AA V, 153 13–30). 55 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 183. 56 Ebd.

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Erstens: Kant benutzt weder hier noch sonst an einer Stelle der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft die Termini ,ÖffentlichkeitR und ,PublicitätR.57 Es ist mithin HabermasQ Interpretation, die diese Textstelle der KpV in eine direkte Argumentationslinie mit dem Aufklärungsaufsatz stellt – m. a. W.: Kant beschreibt in HabermasQ Augen an dieser Stelle der KpV die empirische Verwirklichung einer „Publicität“, wie er sie in Was ist Aufklärung? theoretisch bestimmt hatte. Zweitens: Hierbei handelt es sich zwar um eine empirische Beobachtung Kants; allerdings findet sich kein Textindiz, gemäß dem Kant diese Realisierung aufklärerischer Öffentlichkeit ausschließlich seiner Gegenwart zuschreibt, also dem von ihm sogenannten „Zeitalter der Aufklärung“.58 Es ist abermals Habermas, der diese Textstelle historisiert, auf Kants Gegenwart einschränkt und somit mit ihrer Hilfe nicht nur etwas über Kants Begriffe von Öffentlichkeit und Aufklärung aussagen möchte, sondern auch über die gesellschaftliche Realität des Jahres 1788. Gegen diese Interpretation HabermasQ spricht, dass Kant sich in derlei gemischten Gesellschaften einen „Hange der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen“59 manifestieren sieht, mithin ein Anthropologem, das dem Menschen überzeitlich zu eigen ist und nicht erst in der Aufklärung zutage tritt. Kants Beweisziel ist mehr der Nachweis einer überzeitlich existierenden Möglichkeitsbedingung der Aufklärung, weniger ihrer historischen Verwirklichung. Allerdings stellen jene von Kant beobachteten „gemischten Gesellschaften, die nicht blos aus Gelehrten und Vernünftlern, sondern auch aus Leuten von Geschäften oder Frauenzimmer bestehen“ in der Tat in den meisten Fällen eine Form heterogener, weil sozial, religiös und geschlechtlich offener Gesellschaft dar, wie sie noch nicht im 17., sondern erst im 18. Jahrhundert entstanden und entstehen konnten. Dies hat insbesondere die literatursoziologische Forschung gezeigt. Selbige beruft sich dabei häufig genug auf HabermasQ Strukturwandel der Öffentlichkeit, um dessen These vom Strukturwandel der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert en detail zu belegen.60 Habermas wechselt an dieser Stelle also gewissermaßen die Ebene von der Begriffs- zur Sachgeschichte: Er blickt auf Kant nicht mehr als den Gewährsmann systematischer Thesen über Aufklärung überhaupt, sonKant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 201 – 214 (AA V, 1511–16131). Kant, Beantwortung der Frage (wie Anm. 11), 4018–19. 59 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 205 (AA V, 154 17–19). 60 Peter Seibert, Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart u. a. 1993, 25 – 161; Liliane Weissberg, Der jüdische Salon in Berlin (und Wien) um 1800, in: Hans Otto Horch (Hg.), Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur, Berlin, Boston 2016, 60 – 69, insbesondere 62 – 66; nicht jeder Salon trat indessen mit dem Anspruch auf, offen und eine Versammlung „Lernender“ zu sein, sondern eine Zusammenkunft „Verbündeter“: dies., Das Projekt der Aufklärung und der „Tugendbund“, in: Frieder von Ammon, Cornelia R8mi, Gideon Stiening (Hg.), Literatur und praktische Vernunft, Berlin, Boston 2016, 465 – 483, hier 468 f. 57

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dern als ein historisches Phänomen der Aufklärungsepoche. Auf dieser Ebene kann er die Textstelle aus der KpVals Beleg für eine Salonkultur verwenden, deren historischen Neuigkeitscharakter Kant selbst an dieser Stelle entweder nicht bewusst oder gleichgültig gewesen sein mag. Gleichwohl bleibt auch mit dieser interpretationsstrategischen Wendung ein systematisches Interesse HabermasQ verbunden: Denn mit dieser Stelle aus der KpV meint Habermas schließlich auch einen Lösungsansatz für ein Paradoxon gefunden zu haben, mit dem Der Streit der Facultäten und Was ist Aufklärung? ihre Leser noch zurückgelassen hatten, nämlich: Die Stellung dieses Publikums ist zweideutig: einerseits unmündig und der Aufklärung noch bedürftig, konstituiert es sich andererseits als Publikum schon unter dem Anspruch einer Mündigkeit solcher, die der Aufklärung fähig sind. Denn am Ende taugt dazu nicht etwa nur der Philosoph, sondern jedermann, der seine Vernunft öffentlich zu gebrauchen versteht.61

In der Tat hatte Kant zum Schluss des Aufklärungsaufsatzes mit der Distinktion zwischen aufgeklärtem Zeitalter, das noch nicht, und Zeitalter der Aufklärung, das bereits statthabe, nur behauptet, dass es dafür „deutliche Anzeigen“ gebe, diese aber nicht benannt.62 Kant hatte es bei dem Hinweis belassen, dass Friedrich II. in Preußen diejenige Freiheit einräume, die zur Aufklärung notwendig sei, nämlich die Freiheit zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft.63 Darüber hinaus spricht Kant in Was ist Aufklärung? mit Blick auf die aufklärerische Kommunikationssituation noch ausschließlich (und unvermittelt) von einer monologischen Vortragssituation und konzentriert sich innerhalb dieser wiederum auf den Sprecher, um den Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Gebrauch der Vernunft zu bestimmen. Damit gelingt es Kant zwar zu verdeutlichen, dass ein und dieselbe Person über ein und dasselbe Thema in der Ausübung ihres Berufs bzw. Amtes (also im privaten Gebrauch) nicht frei, d. h. kritisch sprechen darf, um einen bestimmten Zweck, dem ihr Beruf dient, nicht zu gefährden, und im Auftreten als Gelehrter (also im öffentlichen Gebrauch) völlig frei und deshalb kritisch sprechen darf, weil es keinen bestimmten Zweck gibt, der gefährdet werden könnte, aber sehr wohl damit Aufklärung und Fortschritt bewirkt werden könne.64 Die Rezipienten, die dieser Person mal privat als einem Berufsangehörigen oder Amtsinhaber, mal öffentlich als einem Gelehrten zuhören bzw. seine Schriften lesen, werden von Kant im Aufklärungsaufsatz noch vernachlässigt. Nur beiläufig unternimmt Kant in dieser Hinsicht eine Einordnung, wenn er die Rezipienten von in öffentlichem Gebrauch getätigten Räsonnements als „das eigentliche 61 62 63 64

Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 181 f. Kant, Beantwortung der Frage (wie Anm. 11), 4017–26. Ebd., 4023. Ebd., 3634–3829.

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Publicum, nämlich die Welt“, bezeichnet.65 Publikum ist also diejenige Rezipientenschaft, die ebenso wenig zu einem bestimmten Zweck bzw. in einem bestimmten Auftrag zuhört oder liest wie der Gelehrte vorträgt oder schreibt. Für das Publikum im Sinne von Rezipierenden gilt mithin dasselbe wie für die Lehrenden: Sie können beim Rezipieren einen öffentlichen oder einen privaten Gebrauch ihrer Vernunft machen: Es macht einen Unterschied, ob eine Person ,von Amts wegenR, mithin zu einem bestimmten Zweck, bspw. als Gläubiger in einer Kirche, als Schüler in einer Schule, als Soldat in einer Lagebesprechung, als Angestellter in einer Fortbildung o. ä. sitzt, oder ob sie als Publikum, mithin zu keinem bestimmten Zweck und somit wahrhaft frei von jedem (unmittelbaren) Zweck, zuhört oder liest. Inwiefern der Rezipient allerdings selbst räsoniert, gerade wo er doch selbst nicht der Gelehrte ist, wird nicht gesagt. Im Aufklärungsaufsatz hatte Kant also erstens mit der Freiheit zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft in Preußen nur die Erfüllung der notwendigen Bedingung der Aufklärung konstatiert. Zweitens beschränkte Kant sich auf eine monologische statt dialogische Kommunikationssituation: Der Gelehrte räsoniert und spricht über die Ergebnisse seines Räsonierens im öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft zu einem Publikum, das selbst entweder nicht räsoniert oder dessen Räsonieren Kant hier nicht interessiert. Habermas interessiert sich indessen mit Bezug auf ersteres auch und vor allem für die hinreichenden Bedingungen der Aufklärung und mit Bezug auf zweiteres für die dialogische Kommunikation als allererst wahrhaft gesellschaftlichen Akt von Aufklärung. Ansätze für beides findet der Soziologe in der KpV. Denn nicht nur spricht Kant dort im Zusammenhang jener „Gespräche in gemischten Gesellschaften“ von einem breiteren als bloß akademischen Publikum, sondern er spricht auch von einer dialogischen Kommunikation, wie sie im Aufklärungsaufsatz noch unberücksichtigt blieb. Das nicht mehr nur rezipierende, sondern nunmehr auch diskutierende Publikum beweist nun zum einen ein derart beharrliches Interesse an moralisch-praktischen Fragen, dass es Kant von dem schon erwähnten „Hange der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen“ sprechen lässt. Zum anderen lässt es sich als Versammlung teilweiser Laien nicht von der Anwesenheit von Fachwissenschaftlern einschüchtern, um über diesen Gegenstand mitzudiskutieren; diese praktisch-philosophischen Laien haben es zwar mit Gelehrten, aber nicht mit ihren Lehrern zu tun. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass dieses Publikum in seinem „Räsonniren“ über moralisch-praktische Fragen deshalb weniger gründlich zu sein beanspruchte als die Gelehrten, sondern im Gegenteil „so genau, so grüblerisch, so subtil“ zu sein versucht, wie es ihm in Fragen der theo65

Kant, Beantwortung der Frage (wie Anm. 11), 3826–27.

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retischen Vernunft meist „trocken und verdrießlich“ ist.66 Liest man also diese Stelle der KpV als Fortsetzung von Was ist Aufklärung?, wie Habermas dies tut, ist erstens ein allgemeines Bestreben, den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu nehmen, zu verzeichnen, und ist zweitens die dabei vor allem in Rede stehende Verbesserung der Rechtsordnung und Rechtspraxis (als Abteilung des Sittengesetzes) durch den Eingang der objektiven Gesetze in die Maximen der Subjekte auch und vor allem als ein Fortschritt der Aufklärung zu verstehen. Die Termini ,räsonierenR / ,vernünftelnR bzw. ,RäsonnementR / ,VernünfteleiR werden von Kant eben nur „meist“, aber eben nicht immer „kritisch und in einem pejorativen Sinn“ verwendet.67 Ist aber die in solcherlei gemischten Gesellschaften bestehende Öffentlichkeit der Aufklärung zugleich auch jene von Habermas ausgemachte „Methode der Aufklärung“? Fährt man fort, die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft der KpV bis zum Ende zu lesen, stellt man fest, dass Habermas in dieser Hinsicht auch in der zweiten Kritik nur bedingt fündig wird. Zwar erläutert Kant die von ihm vorgeschlagene moraldidaktische Methode: In einem ersten Schritt wird das Subjekt an das reine moralische Prinzip herangeführt, indem Schritt für Schritt von denkbaren Kosten-Nutzen-Erwägungen abstrahiert wird; in einem zweiten Schritt findet die Verpflichtungskraft dieses Prinzips „Eingang [in unser Gemüt] durch die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“,68 d. h. die Befreiung von an sich eben bloß technisch-praktischen und darum nicht moralischen Kosten-Nutzen-Erwägungen (auch und gerade mit Blick auf die Glückseligkeit) generiert eine Achtung für die eigene Person als „positiven Werth“,69 also den genuinen Mehrwert, den nicht schon pflichtgemäßes Handeln, sondern erst Handeln aus Pflicht besitzt. Allerdings ist Kant hierfür wiederum zu einem Beispiel eines vermehrt monologischen Gesprächs übergewechselt: Vorgestellt wird ein „zehnjähriger Knabe“, der die beiden erläuterten Erkenntnisschritte in Ansehung eines anschaulichen Beispiels zwar „von selber, ohne durch den Leser dazu angewiesen zu sein“, erfolgreich durchschreitet;70 aber von einem Zwiegespräch mit Mitschülern ist hier nicht die Rede, geschweige denn von einer „gemischten Gesellschaft“ oder Öffentlichkeit. So große Bedeutung Habermas der Äußerung Kants über die „gemischten Gesellschaften“ als einem empirischen Zeugnis also auch zuschreibt, so wenig kann die KpV doch sein vorerwähntes systematisches Interesse befriedigen, das Paradox aufzulösen, das Publikum als „einerseits unmündig und Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 203 f. (AA V, 15313–30). Peter König, Vernünfteln, in: Marcus Willaschek u. a. (Hg.), Kant-Lexikon. 3 Bde., Berlin, Boston 2015, Bd. 3, 2506 f., hier 2506. 68 Kant, Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 45), 214 (AA V, 161 18–19). 69 Ebd., 214 (AA V, 161 ). 17 70 Ebd., 207 (AA V, 155 20–22). 66

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der Aufklärung noch bedürftig“ und andererseits mit dem „Anspruch einer Mündigkeit solcher, die der Aufklärung fähig sind“, denken zu müssen.71 Neben Kants Einschränkung des Bürgerrechts im Sinne einer Teilhabe an der politischen Willensbildung darauf, dass man „irgendein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann“, mithin für seinen Lebensunterhalt einen materiellen oder immateriellen Gegenstand (opus) verkauft, dessen Eigentümer man bis zum Verkauf bleibt, wohingegen der Lohnarbeiter dazu nicht gezählt wird, weil dieser nur seine Arbeitskraft (opera) eintauschen kann,72 – HabermasQ Unbehagen an dieser unvermittelten Distinktion Kants schlägt sich darin wieder, dass er selbst eben auch die Arbeitskraft als Ware bezeichnet73 und somit keinen substanziellen Unterschied zu anderen immateriellen Gegenständen erkennt –, entzündet HabermasQ größte Kritik an Kant sich eben an dem bereits zitierten Paradox bzw. daran, dass Kant es entweder nicht erkennt oder nicht auflöst. – Obwohl bzw. gerade weil Habermas Kants Aufklärungsbegriff affirmativ rezipiert, muss er mit dessen Begriff der Öffentlichkeit unzufrieden sein. Denn so deutlich erstens auch sein mag, inwiefern Öffentlichkeit gemäß der Friedensschrift stets Form des öffentlichen, wenn nicht allen subjektiven Rechts sein muss, und so deutlich zweitens sein mag, dass Öffentlichkeit folglich eine Schlüsselrolle beim Ausgang aus der Unmündigkeit im Sinne des Aufklärungsaufsatzes spielt, so undeutlich bleibt doch auch nach Konsultation der KpV, wie genau sich Aufklärung in und durch die Öffentlichkeit vollzieht bzw. inwiefern genau die Öffentlichkeit die von Habermas behauptete „Methode der Aufklärung“ ist.74 V. Die eigentliche Aufgabe der Politik, oder: Unmündige private oder mündige öffentliche Person? Dieses Problem stellt sich für Habermas umso dringender, als er die oben im Zusammenhang mit Kants moraldidaktischer Methode erläuterte Distinktion von Kosten-Nutzen-Erwägungen der theoretischen Vernunft und der Freiheit von solchen in der praktischen Vernunft anwendet auf die Unterscheidung von privater und öffentlicher Person: Denn die Herausforderung an eine Öffentlichkeit, die diesen Namen mit Kant nur dann verdient, wenn sie eine Öffentlichkeit des Rechts Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 181 f. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 1992, 1 – 48, hier 27 f. (AA VIII, 29512–22). 73 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 187. 74 Ebd., 180. 71 72

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ist, besteht für Habermas darin, „daß die interessierten Privatleute, zum Publikum versammelt, also in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger, sich äußerlich so verhalten, als ob sie innerlich freie Menschen wären“.75 Man befindet sich mithin nicht nur in einem paradoxen Prozess von der Unmündigkeit zur Mündigkeit, sondern auch in einem nicht minder paradoxen Zustand des Interesses einer Privatperson, das auf bestimmte Zwecke und Notwendigkeiten ausgerichtet ist und somit die Willensbildung nach Naturbegriffen, also der theoretischen Vernunft, bestimmt, und der Freiheit einer öffentlichen Person, die als Prinzip der praktischen Vernunft deren Willensbildung bestimmt.76 Daraus folgt für Habermas, dass der rechtliche Zustand, der mit Blick auf die ungehinderte Freiheit der öffentlichen Person vorausgesetzt wird, mit Blick auf das durch Notwendigkeiten einschränkend wirkende Interesse der privaten Person zugleich erst noch „zu Inhalt und Aufgabe der Politik gemacht werden“ muss.77 Den entscheidenden Vorwurf, den Habermas hier gegen Kant erhebt, besteht nun darin, dass dieser die Auflösung der dritten Antinomie, die in der Kritik der reinen Vernunft rein epistemologisch formuliert ist, für die praktische Vernunft weder angemessen problematisiert noch auflöst.78 Kant hatte in der KrV festgehalten, dass es eben keinen Widerspruch darstellt, „die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten zu betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt“.79 Dies mag für den unbeteiligten philosophischen Betrachter eine befriedigende Auflösung sein; insofern er aber zugleich selbst Handelnder und obendrein in gesellschaftlicher und politischer Interaktion mit anderen Personen befindlich ist, generiert daraus ein praktisches Problem sui generis: Handeln meine Mitbürger bei jeder politischen Entscheidung auch als Bürger oder doch nur als Privatinteressenten? Dies ist in HabermasQ Augen vor allem dann ein Problem, wenn ein rechtlicher Zustand erst noch herzustellen ist: Dann nämlich genüge „es nicht, auf eine bloß negative Zusammenstimmung mit der Willkür aller übrigen bedacht zu sein – sie müssen vielmehr auf deren Willkür positiv Einfluß zu nehmen versuchen“.80 Der apriorische Ebd., 189. Ebd. 77 Ebd. 78 Kant, Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 43), 548 – 561 (A 444 – 451 / B 472 – 479); die Auflösung der dritten Antinomie: 625 – 628 (A 538 – 541 / B 566 – 569). Siehe instruktiv Lothar Kreimendahl, Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt, in: Georg Mohr, Marcus Willaschek (Hg.), Immanuel Kant. ,Kritik der reinen VernunftR, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen 17/18), 413 – 446, hier 433 – 437; Henry Allison, The Antinomy of Pure Reason, Section 9, in: ebd., 465 – 490, hier 475 – 478. 79 Kant, Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 43), 625 (A 538 / B 566). 80 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 190. 75 76

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allgemeine Wille und der empirische Wille aller müssen zumindest zu diesem Ziel zur Deckung gebracht werden. Dies erscheint Habermas als die entscheidende Herausforderung. Soll die dafür erforderliche Einflussnahme keinen gewaltsamen, sondern moralischen Charakter (im allgemeinen Sinne von Moral) haben, muss sie sich „am allgemeinen Zweck des Publikums, eben am Bedürfnis der Wohlfahrt der bürgerlichen Gesellschaft im ganzen“ orientieren.81 Wenn derjenige rechtliche Zustand eben noch nicht vorausgesetzt werden kann, der solche Absichtsfragen allererst irrelevant macht, müssen sie zumindest vorübergehend berücksichtigt werden. Dass jenes die moralisch-praktische Absicht der Einflussnahme ist und nicht etwa eine andere, technisch-praktische Absicht existiert, lässt sich jedoch, wenn der Ausschluss anderer unlauterer Absichten eben noch nicht rechtlich garantiert ist, nur empirisch „an ihrem möglichen Erfolg in der Sinnenwelt kontrollieren“.82 Die Auflösung der dritten Antinomie der KrV wird in der Öffentlichkeit nutzlos, zumal wenn es die Öffentlichkeit der Aufklärung ist. Die öffentliche Person – und der Soziologe nicht minder – können nicht anders, als jene Kausalität doch nur auf einer Seite zu betrachten, d. h. ihre Intelligibilität (nach ihrer Handlung) an ihrer Sensibilität (nach den Wirkungen derselben) als einer Erscheinung in der Sinnenwelt zu messen.83 Diese Kritik an Kant überrascht, zumal mit Blick auf diejenige Stelle von Zum ewigen Frieden, auf die sich der Soziologe hier neben der KrV vor allem bezieht. Denn dort hatte Kant als „transzendentales und bejahendes Prinzip des öffentlichen Rechts“ die folgende Formel vorgeschlagen: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“84 Kant erkennt folglich sehr wohl, dass auch die moralische Politik nicht umhinkann, nach Zwecken zu handeln bzw. solche im Blick zu haben. Mehr noch: Der Königsberger fährt sogar fort: Denn wenn sie [i. e. die Maximen] nur durch die Publicität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publicums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist.85

Es ist genau diese Stelle, an der Kant wie Habermas von einem „allgemeinen Zweck des Publikums spricht“ (ohne dass dieser dies allerdings als Kant-Zitat gekennzeichnet hätte).86 Habermas ignoriert in seiner Kritik allerdings, dass Kant hier nicht etwa den allgemeinen Willen doch in praxi dem empirischen Willen 81 82 83 84 85 86

Ebd. Ebd. Vgl. nochmals das Zitat zu Anm. 79. Kant, Zum ewigen Frieden (wie Anm. 29), 102 (AA VIII, 38612–13). Ebd., 103 (AA VIII, 38614–17). Siehe oben Anm. 81.

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aller unterwirft, sondern im Gegenteil die teleologische Orientierung der Politik am Glückseligkeitszweck des Publikums rückbindet auf den apriorischen allgemeinen Willen: Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publicität, d. i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publicums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke Aller möglich.87

Eine aktive politische Willensbildung, die auf die Durchsetzung, also Anerkennung rechtlicher Prinzipien hinwirken muss, kann diese im Willen aller ausschließlich unter der Voraussetzung erreichen, dass diese Prinzipien auch dem allgemeinen Willen entsprechen. Es kann stets nur der apriorische allgemeine Wille Voraussetzung einer größtmöglichen Übereinstimmung der empirischen Einzelwillen aller sein, nicht umgekehrt. Im ersten Anhang Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik hielt Kant schließlich bereits fest: Denn das hat die Moral Eigenthümliches an sich und zwar in Ansehung ihrer Grundsätze des öffentlichen Rechts (mithin in Beziehung auf eine a priori erkennbare Politik), daß, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem, Vortheil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt.88

Die Politik, zumal wenn sie eine moralische ist, muss sich in ihrer Einflussnahme auf die Öffentlichkeit nicht „am allgemeinen Zweck des Publikums“ ausrichten, wie Habermas sagt,89 um den rechtlichen Zustand (als notwendige Bedingung der Aufklärung) erst noch herzustellen. Für Kant ist das Gegenteil der Fall: Sie würde dieses Ziel durch die Orientierung an etwaigen empirischen Zwecken sogar gefährden, da die Zusammenstimmung der Einzelwillen im Allgemeinen umso mehr erreicht wird, als diese weniger von vorgesetzten Zwecken abhängig gemacht werden. Wäre hingegen eine große oder auch mehrheitliche Zahl von empirischen Einzelwillen der Ausgangspunkt, so würde damit automatisch riskiert, eine Minderzahl von empirischen Einzelwillen zu ignorieren oder gar zu verletzen. Für Kant erschiene HabermasQ Vorschlag folglich kontraproduktiv.

87 88 89

Kant, Zum ewigen Frieden (wie Anm. 29), 103 (AA VIII, 38617–21). Ebd., 93 (AA VIII, 3787–12); Hvhb. O.B. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 190.

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VI. Abschließende Kritik: Wahrheit als Prozess – reflektierende Urteilskraft? Es gehört zu den größten Merkwürdigkeiten von HabermasQ Kant-Kritik, dass er so stark auf die dritte Antinomie und die vorgeblich daraus entstehenden Probleme für die Übereinstimmung des empirischen Willens aller und des apriorischen allgemeinen Willens abstellt und dabei einen anderen Kritikpunkt außer Acht lässt, den er doch eigentlich selbst entwickelt hatte. Es geht um die oben bereits formulierte Frage, wie genau sich Aufklärung in und durch die Öffentlichkeit vollzieht, wenn man das Publikum nicht nur als Rezipierende (wie in Was ist Aufklärung?), sondern auch als selbst Räsonierende (wie in der Kritik der praktischen Vernunft) versteht und sie somit zugleich als Noch-nicht-mündig und als Im-mündig-Werden-begriffen denken muss. Dies ist die eigentlich interessante Frage, die hinter dem von HabermasQ konstatierten Paradox des Prozesses der Aufklärung steht.90 Auf diese kommt Habermas allerdings nicht zurück bzw. seine erwähnten Überlegungen zur dritten Antinomie in der Politik können nicht als Spezifizierung dieser Frage verstanden werden. Es existiert allerdings eine Stelle in Strukturwandel der Öffentlichkeit, die darüber Auskunft gibt, wie Habermas selbst sich dies vorstellt. Diese Stelle findet sich weder im Kant-Kapitel noch überhaupt im Haupttext, sondern in einer Fußnote. Diese versteht sich zwar textpragmatisch als Erläuterung des Kunstrichters im Speziellen, kann und muss aber systematisch als Erläuterung von HabermasQ Verständnis des Prozesses der Aufklärung im Allgemeinen verstanden werden: Grundsätzlich ist jedermann, sofern er nur an der öffentlichen Diskussion teilnimmt, […] zur freien Beurteilung aufgerufen und berechtigt. Aber im Streit der Urteile darf er sich dem überzeugenden Argument nicht verschließen, soll er „Vorurteile“ ablegen. Mit der Überwindung jener in der repräsentativen Öffentlichkeit gezogenen Schranke zwischen den Laien und den Eingeweihten sind spezielle Kompetenzen, ererbte wie erworbene, soziale und intellektuelle, im Prinzip hinfällig. Da aber das wahre Urteil in der Diskussion erst ermittelt werden soll, erscheint die Wahrheit als ein Prozeß, nämlich als einer der Aufklärung. Teile des Publikums mögen darin weiter fortgeschritten sein als andere. Das Publikum kennt daher, wenn schon keine Privilegierten, so doch Experten. Sie dürfen und sollen das Publikum erziehen, aber nur soweit sie durch Argumente überzeugen, und nicht durch bessere Argumente selbst belehrt werden können.91

Es ist diese Stelle, an der Habermas seine Vorstellung davon erläutert, wie in einer gemischten Gesellschaft aus weniger und „weiter fortgeschrittenen“ Teilen, mithin aus der Unmündigkeit mal noch weniger, mal bereits weiter ausgegangenen Mitgliedern, Aufklärung im Dialog stattfinden kann. Diese Vorstellung lässt sich 90 91

Ebd., 181 f. Ebd., 103 f., Fn. 32; Hvhb. O.B.

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allerdings weniger in den Begriffen der dritten Antinomie der reinen Vernunft verstehen, als vielmehr und viel besser mithilfe einer anderen Distinktion Immanuel Kants, nämlich derjenigen von bestimmender und reflektierender Urteilskraft – eine Distinktion, die Kant allerdings in der Kritik der Urteilskraft vornimmt, dem einzigen Hauptwerk Kants, das Habermas in seiner Habilitationsschrift unberücksichtigt lässt: „Die Urteilskraft überhaupt“ bestimmt Kant als „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“92 Damit sind auch allgemeine Normen der praktischen Vernunft und die unter sie fallenden Subnormen gemeint. Es geht folglich auch um dasjenige Vermögen, das bei der politischen Willensbildung in der Öffentlichkeit gefragt ist: erstens das Vermögen zu denken, ob ein (vorgeschlagenes) positives Gesetz als Besonderes eines allgemeinen Gesetzes der reinen praktischen Vernunft (im Sinne des formalen Naturrechts) oder zumindest als einem solchen nicht widersprechend gedacht werden und somit bejaht werden kann. Zweitens das Vermögen zu denken, ob Initiativen von Einzelwillen bzw. des Willens aller dem apriorischen allgemeinen Willen widersprechen oder nicht. Kant unterteilt die Urteilskraft sodann in die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft: Die bestimmende Urteilskraft kennt das Allgemeine (das Prinzip, das Gesetz, den Begriff) bereits und muss das Einzelne nur noch als dessen Besonderes darunter subsumieren.93 Die reflektierende Urteilskraft hingegen geht vom gegebenen Einzelnen aus und sucht nach dem Allgemeinen, d. h. dessen Prinzip, Gesetz bzw. eben den Begriff, unter welche das Einzelne fällt.94 Das Allgemeine ist also noch gar nicht hinreichend bekannt und erschlossen. Trotzdem oder gerade deshalb muss auch die reflektierende Urteilskraft das Einzelne schon als Besonderes behandeln.95 Dass man das Einzelne als ein der Möglichkeit nach Besonderes behandelt, ist eine notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung der Findung des Allgemeinen. Wenn Habermas in dem letzten Zitat Überlegungen über die „Wahrheit als einen Prozeß“ anstellt, beschreibt er der Sache nach die reflektierende Urteilskraft in ihrer kollektiven Ausübung. Dass ihm das erneut kantische Profil dieser Überlegungen offensichtlich nicht bewusst ist, führt dazu, dass er sie nicht in seine werkKant, Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 25), 19 (AA V, 17919–20). Ebd. (AA V, 17920–24). 94 Ebd. (AA V, 179 24–26). 95 Vgl. Michael Bek, Die Vermittlungsleistung der reflektierenden Urteilskraft, in: Kant-Studien 92/3 (2001), 296 – 327, besonders 304 – 317; Otfried Höffe, Einführung in Kants ,Kritik der UrteilskraftR, in: ders. (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008 (Klassiker Auslegen 33), 1 – 21, hier 16 f.; Sophie Forst, ,Ideale GemeinschaftR oder ,Fesseln der TraditionR? Immanuel Kants Konzeption der Urteilskraft und ihre Kritik durch die Hermeneutik, in: Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach (Hg.), Limina: Natur – Politik. Verhandlungen von Grenz- und Schwellenphänomenen in der Vormoderne, München, Wien 2019, 357 – 374, hier 358 – 360. 92

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immanente Interpretation von Kants Aufklärungs- und Öffentlichkeitskonzepten einbezieht. Das Ziel des Artikels besteht darin, Jürgen HabermasQ Konzeption von Aufklärung zu eruieren, die er in seinem berühmten Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft 1962 impliziert. Zu diesem Zweck, versucht der Aufsatz weniger nur zu erhellen, inwiefern sich HabermasQ Konzeption von derjenigen in Reinhart Kosellecks Kritik und Krise (1959) unterscheidet, indem Habermas einen weitaus präziseren Begriff von Moral vertritt; es soll auch und vor allem gezeigt werden, dass HabermasQ Moralbegriff als von Immanuel Kant beeinflusst verstanden werden muss, mithin von dessen Differenzierung zwischen Rechts- und Tugendlehre, wobei nur erstere für sein Verständnis von Aufklärung und Öffentlichkeit von Interesse ist. Als ein Ergebnis des Artikels soll schließlich gelten, dass Habermas Kants Konzeption von Aufklärung affirmativ, diejenige von Öffentlichkeit hingegen kritisch rezipiert. The article aims to explore the conception of Enlightenment Jürgen Habermas implies in his famous monograph The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society in 1962. Therefor it does not only try to elucidate how HabermasQ conception differs from that presented by Reinhart Koselleck in Critique and Crisis (1959) by giving a much more precise notion of morals; it also – and mainly – tries to show that HabermasQ notion of morals must be conceived as influenced by Immanuel Kant and his differentiation between Right and Virtue with only the first being of main interest concerning his understanding of Enlightenment and publicity. As a result, the article wants to outline that Habermas proves to be an affirmative recipient of KantQs conception of Enlightenment, but as a rather critical recipient of his conception of publicity. PD Dr. Oliver Bach, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, E-Mail: [email protected]

Gideon Stiening Was ist Gegenaufklärung? Historische und systematische Anmerkungen zu Isaiah Berlins Wider das Geläufige

I. Zur Einführung – aktuelle Schwierigkeiten mit der ,GegenaufklärungR Im Folgenden soll das Konzept, d. h. der Begriff und die Idee, einer ,GegenaufklärungR betrachtet werden, das Isaiah Berlin in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte. Dabei steht ausdrücklich die von Berlin entworfene historiographische Kategorie im Vordergrund, weil die Terminologie- und Begriffsgeschichte – erst recht die Sachgeschichte – weiter zurückreicht. Anders aber als Nietzsche, der als Inaugurator des Terminus ausgemacht wurde, der sich seiner aber lediglich als weltanschaulicher Selbstvergewisserungschiffre bediente,1 anders auch als andere aufgespürte Vorläufer2 hat es Berlin vermocht, den Begriff der Counter-Enlightenment zu einer Kategorie auszubilden, die bestimmte intellektuelle Ereignisse und Prozesse seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu fassen vermochte. Im Folgenden sollen daher die Leistungsfähigkeit und Grenzen dieses spezifischen Konzepts von ,GegenaufklärungR rekonstruiert werden; dies geschieht allerdings auch, um zu prüfen, ob und in welcher Weise an Berlins Erkenntnisse angeschlossen werden kann. In methodischer – weniger, wie sich zeigen wird, in historiographischer und systematischer – Hinsicht soll seine Vorstellung von Gegenaufklärung einer historischen Rekonstruktion in systematischer Absicht unterzogen werden. Ein solches Unterfangen sieht sich jedoch in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts einer wenigstens doppelten Problemlage gegenüber: Zum einen ist seit über 1 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., München1988, Bd. 8, 382: „Es giebt kürzere und längere Bogen in der Culturentwicklung. Die Höhe der Aufklärung entspricht die Höhe der Gegen-Aufklärung in Schopenhauer und Wagner.“ 2 Siehe hierzu Theo Jung, Gegenaufklärung: ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart, in: Dietmar J. Wenzel (Hg.), Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität, München 2012, 87 – 100, spez. 89.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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20 Jahren eine Forschung zu Isaiah Berlin selbst zu verzeichnen, die sein Konzept von Gegenaufklärung einer grundlegenden Kritik unterzog, welche dazu führte, dieses Modell als Ordnungskonzept für das 18. Jahrhundert grundlegend zu verwerfen. Im Kern lautet der Vorwurf, Berlin habe zu viele und auch überaus heterogene Phänomene – von Hamann bis Nietzsche – unter den Begriff subsummiert, weshalb dessen ideologische Grundlegung unverkennbar würde, so dass er als historiographische Kategorie unbrauchbar sei.3 Zum anderen – und hieran in einer eigentümlichen, zumeist unreflektierten Weise anschließend – wurde der Begriff der Gegenaufklärung vor allem in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften als begriffliches Instrument der Beschäftigung mit dem 18. Jahrhundert bzw. der Aufklärung überhaupt verworfen. Die Debatte über Berlins Konzept der Gegenaufklärung habe gezeigt, dass dieser Begriff an ihm selbst normativ überlagert sei; dem also „mangelnde historische Schärfe und ein Zuviel an ideologischer Fracht vorgeworfen“ werden müsse und der daher „als historiographisches Modell zur Erklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts“ ungeeignet sei.4 Diese strikte Verwerfung des Begriffs hat sich mittlerweile verfestigt und von der Debatte um Berlins Konzept gelöst. Neuere Überblicksarbeiten zur Aufklärung referieren nur noch äußerlich auf die als berechtigt bezeichnete Kritik an dem Begriff von Gegenaufklärung überhaupt, setzen so dessen Obsoleszenz nur mehr voraus.5 Bemerkenswert ist allerdings erstens, dass keineswegs in allen Disziplinen die hier vorgestellte Reserve gegenüber dem Begriff zu verzeichnen ist,6 auch nicht auf allen Forschungsfeldern,7 die zum 18. Jahrhundert arbeiten; dass zweitens eine Auseinandersetzung der Gegner des Begriffs ,GegenaufklärungR mit gewichtigen, historisch, methodisch und systematisch differenzierten Ergebnissen einer 3 Siehe hierzu vor allem Robert E. Norton, The Myth of the Counter-Enlightenment, in: Journal of the History of Ideas 68 (2007), 635 – 658; aber auch Zeev Sternhell, The Anti-Enlightenment Tradition, New Haven 2010, 390 ff. sowie Jeremy L. Caradonna, There was no Counter-Enlightenment, in: Eighteenth Century Studies 49.1 (2015), 51 – 70. 4 So Annette Meyer, Die Epoche der Aufklärung, Berlin 2010, 179 f. 5 Siehe hierzu Damian Tricoire, Die Aufklärung, Köln, Wien 2023, 72 – 75; in einer irritierenden Weise wird die These von der Unbrauchbarkeit des Begriff einer Gegenaufklärung begründet mit Zitaten aus Werken von Kritikern der philosophes, deren „Verlogenheit“ (74) trefflich aufgezeigt würde. Es bleibt auch methodisch vollkommen unklar, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte. 6 Vgl. hierzu, um nur einige, aber prominente Beispiele zu nennen: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009, 624, der in einer ebenso selbstverständlichen wie differenzierten Weise den Begriff verwendet, u. a. indem er zwischen einer externen und einer internen Gegenaufklärung unterscheidet, sowie Christopher de Bellaigue, Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glauben und Vernunft, Frankfurt am Main 2017, 397 – 471. 7 Siehe hierzu Didier Masseau, Les Ennemis des Philosophes. LQamtiphilosophie au temps des LumiHres, Paris 2000.

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bestimmten Forschung zum 18. Jahrhundert, die bis in die frühen 2000er Jahre stattfand, nicht zu verzeichnen ist;8 und dass drittens die jüngsten Verwerfungen des Begriffs selbst weltanschaulich motiviert zu sein scheinen.9 Vor diesem Hintergrund soll Isaiah Berlins Begriff der Gegenaufklärung einer erneuten Prüfung unterzogen werden, und zwar insofern, als er nicht nur als historiographische Kategorie für das späte 18. Jahrhundert taugen soll, sondern als er vor allem als wesentliches Moment jeder historischen Aufklärungsforschung sowie jeder Verfolgung des Projekts der Aufklärung angemessen zu bedenken und zu berücksichtigen ist, weil gilt: Der Widerstand gegen die zentralen Ideen der französischen Aufklärung wie auch gegen ihre Verbündeten und Schüler in anderen europäischen Ländern ist so alt wie die Aufklärung selbst.10

Berlin ist Historiker, und also muss man diese starke These richtig lesen bzw. systematisieren: Der Satz ist durchaus zutreffend, und doch kann und muss er verallgemeinert werden: Zwar spricht Berlin nur von ,der französischen Aufklärung und deren europäischen Verbündeten und SchülernR, doch kann und muss man diese historische Einschränkung getrost aufheben,11 denn seit jeher und d. h. auch weit vor den philosophes sowie bis heute gehört es zu den Bedingungen der Aufklärung, dass es zu ihrer Erforschung als Epoche und zu einer Verfolgung ihrer als Projekt stets zu berücksichtigen gilt, dass sie von ihren Gegnern begleitet, bekämpft, bisweilen gar umstellt wurde und wird.12 Die Aufklärung bzw. deren 8 Gemeint sind damit u. a. die Arbeiten von Wolfgang Albrecht (Was war Gegenaufklärung? Strategien und Argumentation deutscher Aufklärungsgegner um 1800, in: Dieter Fratzke, Wolfgang Albrecht [Hg.], Weiblichkeitsentwürfe und Frauen im Werk Lessings. Aufklärung und Gegenaufklärung bis 1800, Kamenz 1997, 195 – 229), Brigitte Erker, Winfried Siebers, Das Bardt-Pasquill. Ein publizistischer Streit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung 1790 – 1796, in: Ursula Goldenbaum (Hg.), Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung. 1687 – 1796, Berlin 2004, 897 – 939 sowie der herausragende Band von Christoph Weiß (Hg.), Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“: Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 21999. 9 So ist die neuere Studie von Triciore, der schon vor einiger Zeit mit einem aufklärungskritischen Pamphlet in Erscheinung getreten ist (Andreas Pecar, Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt am Main 2015), der kaum verdeckte Versuch, seine selbst gegenaufklärerischen Vorstellungen im Gewand der historischen Aufklärungsforschung zu präsentieren. 10 Isaiah Berlin, Die Gegenaufklärung, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1979, 63 – 92, hier 63. 11 Siehe hierzu auch die nüchterne Betrachtung bei Richie Robertson, The Enlightenment. The Persuit of Happiness. 1680 – 1790, New York 2021, 776 ff. 12 Siehe hierzu auch Graeme Garrard, The Counter-Enlightenments. From the Eighteenth Century to the Present, London, New York 2006 sowie Gideon Stiening, Selbstermächtigung falscher Freunde? Zu Formen historiographischer Aufklärungskritik und deren Folgen, in: Daniela

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verschiedene Formen und Formationen sowie deren Gegenteil, das ebenfalls erhebliche Varianten aufweist, die keineswegs schematisch aufeinander bezogen sind,13 bringen sich in ihren verschiedenen Phasen gar gegenseitig hervor, und zwar auch und vor allem deshalb, weil beide Positionen durch Kritik und Polemik gleichsam konstituiert werden.14 II. Isaiah Berlin über ,Die GegenaufklärungR? Berlin hat sich mit einigen von ihm als Gegenaufklärern identifizierten Autoren mehrfach, man könnte fast sagen: liebevoll, beschäftigt.15 Nicht nur der gleichnamige Aufsatz, der den Band Wider das Geläufige (Against the Current) einleitet, sondern auch eine Fülle von Arbeiten zu Vico, Hume und die Quellen des deutschen Irrationalismus oder einem angeblichen Relativismus des europäischen Denkens in dem Band Das krumme Holz der Humanität befassen sich mit einer Reihe von Autoren, die als Gegenaufklärer bestimmt werden.16 Berlins Interesse richtet sich allerdings weniger primär auf Argumente, Themen oder Diskurse, sondern fokussiert vielmehr einzelne Autoren, die zunehmend eine gegenaufklärerische Bewegung ausmachen. Dabei beschränkt sich Berlin in seinen Aufsätzen zur Ideengeschichte keineswegs auf das 18. Jahrhundert als Zeitalter der Aufklärung; mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Moses Hess, Karl Marx bzw. Georg Sorel oder dem Nationalismus werden vom ihm auch Figuren und Positionen betrachtet, die die Aufklärung und die Gegenaufklärung in verschiedenen Projekten bis in seine Gegenwart führen.17

G. Camhy (Hg.), Enlightenment Today. Sapere aude! – Have Courage to Use Your Understanding, Baden-Baden 2020, 25 – 41. 13 So ein häufig zu beobachtender Verweis auf die Verwerfung des Begriffs der Gegenaufklärung; vgl. hierzu auch Theo Jung, Gegenaufklärung: ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart, in: Dietmar J. Wenzel (Hg.), Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität, München 2012, 87 – 100. 14 Siehe hierzu auch Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, 10 f. 15 Zu den Gründen, Zwecken und Konsequenzen dieser jahrzehntelangen Beschäftigung vgl. den instruktiven Aufsatz von Joseph Mali, Vico und das Erbe der Gegenaufklärung, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 1.4 (2007), 38 – 58. 16 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1995, 37 ff. 17 Berlin, Wider das Geläufige (wie Anm. 10), 291 ff.

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Exkurs: Sozial- und Ideengeschichte In diesem Zusammenhang ist allerdings zunächst eine methodische Vorbemerkung zu machen: Berlin ist – auch im reflektierten Selbstverständnis – Ideengeschichtler, was für ihn jedoch nicht nur das Wissen um die spezifischen Leistungen dieser Wissenschaft, sondern auch das Wissen um deren Grenzen einschließt; im Aufsatz zu Hume bei Hamann und Jacobi heißt es nämlich: Der erste heftige Angriff – kompromisslos, leidenschaftlich und mit weitgehenden Konsequenzen – kam aus Deutschland. Hier ist nicht der Ort, die vielen Faktoren herauszuarbeiten, die zu dem deutschen Gegenschlag gegen die kulturelle Vorherrschaft Frankreichs in der westlichen Welt geführt haben. Sicherlich spielten dabei die antirationalistischen Strömungen in der lutherischen Reformation eine Rolle, ebenso die relative kulturelle und ökonomische Verarmung der deutschsprachigen Bevölkerung im Jahrhundert nach Luthers Reformation im Vergleich zur kulturellen Blüte Italiens, Frankreichs, Englands, Spaniens und der Niederlande, die unter den Deutschen ein wachsendes Bewußtsein der eigenen Provinzialität und mit ihm ein Gefühl der Minderwertigkeit hervorrief, das durch den 30-jährigen Krieg noch verstärkt wurde. Da ich kein Sozialhistoriker bin, kann ich nicht über die Wurzeln und die Wirkungen des Ressentiments und des verletzten Selbstbewußtseins spekulieren, das in den deutschen Territorien fast unvermeidlich aufkam.18

Tatsächlich zeigen diese Spekulationen, dass Berlin kein Sozialhistoriker ist: Wenn denn schon die Provinz bzw. Provinzialität hinreichend wäre, um jemanden zum Gegenaufklärer zu machen, gäbe es derer – zumal im 18. Jahrhundert – unzählige.19 Gleichwohl wird ersichtlich, dass Berlin die Ermittlung der Gründe für das Phänomen der deutschen Ursprünge des Irrationalismus und der Gegenaufklärung nicht allein aus der Ideengeschichte gewinnen zu können überzeugt ist. Das ist ein überaus gewichtiger Hinweis, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit ideengeschichtlichen Phänomenen und Prozessen, dass sie nämlich nicht allein ideengeschichtlich zu erfassen, sondern auch in sozial- bzw. realgeschichtliche Kontexte zu lozieren sind. Die Trennung und Korrelation von Ideenund Sozialgeschichte ist folglich schon für Berlin und bis heute20 für die Erforschung der Aufklärung und ihres Widerparts stets zu berücksichtigen – und das gilt noch für die Geschichte ihrer Erforschung.21 18 Isaiah Berlin, Hume die die Quellen des deutschen Irrationalismus, in: ders., Wider das Geläufige (wie Anm. 10), 259 – 290, hier 262. 19 Womöglich sucht Berlin aber auch einen mittelbaren Weg, um ein Argument gegen den in den 1960er Jahren in Westdeutschland noch übermächtigen Heidegger und dessen – erklärtermaßen – gegenaufklärerische Philosophie auszuführen, zu Berlins Beschäftigung mit Heidegger vgl. u. a. Michael Ignatieff, Isaiah Berlin. Ein Leben, München 2000, 226 f. 20 Vgl. Maximilian Benz, Gideon Stiening (Hg.), Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Berlin, Boston 2022. 21 Siehe hierzu u. a. den Beitrag von Edoardo Tortarolo in diesem Band.

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Hinsichtlich der konkreteren Bestimmung der Gegenaufklärung durch Berlin ist nun zunächst entscheidend, dass er diese intellektuelle Bewegung ganz zu Recht als eine Reaktion auf die erfolgte Etablierung aufklärerischer Konzepte interpretiert, deren bedeutendstes er für die Zeit um 1750 für weitgehend etabliert hält, und zwar nicht nur in Frankreich, obwohl von dort stammend, sondern in ganz Europa, ja darüber hinaus: Es ist ein Gemeinplatz, den ich hier nicht weiter auszuführen brauche, daß die abendländische Kultur zur Zeit Humes weitgehend von den Ideen der französischen Aufklärung beherrscht war.22

Diese These ist – vor allem aus der Perspektive der angloamerikanischen Forschung der 1960er und 1970er Jahre – nicht ganz falsch; es geht Berlin darum zu zeigen, dass aus dem Widerstand gegen die philosophes oder auch gegen Voltaire nicht nur einzelne Autoren, sondern eine ganze Bewegung hervorging, die an den Grundfesten aufklärerischer Überzeugungen rüttelte. Zugleich lässt sich diese These nicht vollends halten und an dem Umgang mit ihr kann aufgezeigt werden, wie mit den Leistungen Berlins und deren Grenzen umzugehen ist: Allein für den deutschsprachigen Raum bis etwa 1770 gilt nämlich, dass dessen Debatten über die Aufklärung vom Rationalismus Christian Wolffs und seiner Schule dominiert wurde,23 die sich ausdrücklich gegen Voltaire und die französische Philosophie wandte24 – ohne als Gegenaufklärung bezeichnet werden zu können. Vielmehr brachte Wolffs Philosophie als eine auf einen universellen Rationalismus setzende Aufklärungstheorie25 ihre eigenen Gegner hervor, die entweder gegen die versuchte Säkularität vor allem seiner praktischen Philosophie angingen oder um die Begrenzungen der Vernunft überhaupt bemüht waren. Dabei sind nicht alle Kritiker Wolffs, die schon ab den 1710er Jahren auftraten, als Gegenaufklärer zu bezeichnen, so die Göttinger Empiristen der 1770er Jahre;26 andere Berlin, Hume die die Quellen des deutschen Irrationalismus (wie Anm. 18), 259. Vgl. hierzu u. a. Martin Mulsow, Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740 – 1745, Göttingen 2007; Michael Albrecht, Wolff und die Wolffianer, in: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa, Basel 2014, 103–236. 24 Besonders auffällig wurde die Voltaire-Kritik im Rahmen einer Kampagne, die von den Aletophilen zur Apologie des Unsterblichkeitsgedankens geführt wurde, weil Friedrich II. sich skeptisch zur Immortalitas Animae geäußert und sich dabei auf Voltaire bezogen hatte; vgl. hierzu Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin 2010. 25 Siehe hierzu anschaulich Christian Wolff, Discursus praeliminaris de Philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, übersetzt, eingel. und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 26 Falk Wunderlich, Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta – Radikalaufklärung im Hörsaal?, in: Aufklärung 24 (2012), 65 – 90. 22

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aber, wie Joachim Lange, dessen Denunziation für Wolff nach dessen Chinesenrede lebensgefährlich wurde und zu seiner Vertreibung aus Halle führte,27 oder Christian August Crusius, der von Leipzig aus einen antirationalistischen Kreuzzug führte,28 sind mit guten Gründen als Gegenaufklärer (Lange) oder Aufklärungskritiker (Crusius) zu bezeichnen.29 Dabei ist die Verwendung jener Begriffe nicht nur möglich, sondern hilfreich und daher notwendig, weil sie die Dimensionen der Konflikt- und Kontroverslinien anzeigen kann, die zwischen Wolff, Lange und Crusius – und damit zwischen Aufklärung, Aufklärungskritik und Gegenaufklärung – verliefen.30 Es wird sich allerdings zeigen, dass es auch philosophische Positionsbestimmungen bei Wolff gibt, die als gegenaufklärerisch bezeichnet werden müssen31 – und daher schon hier erkennbar wird, dass die von Berlin bevorzugte personenspezifische Zuweisung jener Prädikate unpräzise ist. Zunächst ist allerdings im Hinblick auf Berlins historische Grundthese festzuhalten, dass er, der sich eigentlich mit Leibniz und dessen Rationalismus umfassend auskannte, eine unnötige Zuspitzung oder eher Verengung der Gegenaufklärung auf deren Reaktionen auf die philosophes vornimmt, gerade weil – wie angedeutet – für die deutsche Aufklärung dieses Urteil keineswegs zutrifft, denn sie wurde in weiten Teilen von Wolff, seinen Schülern sowie von versprengten Thomasianern als Wolff-Gegnern und eben nicht von Voltaire oder dQAlembert oder gar Diderot dominiert. Auch in England gerät mit den Reaktionen auf John Lockes Essay die Aufklärung schon viel früher als ab 1750 unter Druck32 und der von Berlin selber betrachtete Giambattista Vico entwickelt sein gegenaufklärerisches Programm weit vor der Encyklopädisten.

27 Siehe hierzu Michael Albrecht, Einleitung, in: Christian Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Lateinisch – Deutsch, übersetzt, eingel. und hg. von Michael Albrecht, Hamburg 1985, IX–CVI. 28 Vgl. hierzu Frank Grunert, Andree Hahmann, Gideon Stiening (Hg.), Christian August Crusius (1715 – 1775). Philosophy between Reason and Revelation, Berlin, Boston 2021. 29 Zu dieser einschlägigen Distinktion vgl. Wolfgang Albrecht, Christoph Weiß, Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung?, in: Christoph Weiß (Hg.), Von ,ObscurantenR und ,EudämonistenR gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 21999, 7 – 34. 30 Vgl. hierzu u. a. Sonia Carboncini, Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den cartesianischen Zweifel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 195 – 217. 31 Siehe hierzu Gideon Stiening, „Chi teme il dolore ubbidisce alle leggi“. Suizid und attische Liebe in den Strafrechtstheorien Christian Wolffs, Cesare Beccarias und Johann Adam Bergks, in: Chiara Conterno, Astrid Dröse (Hg.), Deutsch-italienischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert: Konstellationen, Medien, Kontexte, Bologna 2020, 81 – 110. 32 Siehe hierzu u. a. David Carrie, John Locke, Edward Stillingfleet and the Quarrel over Consensus, in: Theories of Quarrels 40.1 (2017), 61 – 80.

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Diese Einwände sind allerdings lediglich historischer Natur; das Argument Berlins geht an sich weiter und nimmt systematische Züge an. Die Ideen der französischen Aufklärung bilden nämlich trotz mannigfacher Unterschiede insgesamt eine Übereinstimmung bzw. eine relative Einheit aus, und zwar beruhte sie auf einer Annahme, die letztlich eine säkularisierte Form der alten Naturrechtslehre war, dass nämlich die Natur der Dinge eine beständige und unwandelbare Natur besitzt und dass ihre Unterschiede und Veränderungen universalen und unwandelbaren Gesetzen unterliegen. Diese Gesetze ließen sich im Prinzip durch den Gebrauch des Verstandes und durch kontrollierte Beobachtung entdecken, wie überhaupt die Methoden der Naturwissenschaften weithin Anwendung fanden.33

Hinzu kommen, wie Berlin weiter ausführt, die Mathematik als Paradigma und Gewissheitsgarantin, sei es, weil ihr ein ontologischer, sei es, weil ihr ein methodischer Status zugeschrieben wurde, und damit die Naturwissenschaften als wahrer Weg zum Wissen galt, der dazu führte, dass alle Aussagen mit dem Anspruch auf Wahrheit öffentlich, mitteilbar und überprüfbar sein mussten, verifizierbar und falsifizierbar durch Methoden, die jedem vernünftigen Forscher zugängig und akzeptabel waren. Daraus folgte, dass alle anderen Arten von Autorität zurückgewiesen werden mussten, besonders solche Grundlagen des Glaubens, wie heilige Texte, göttliche Offenbarung und die dogmatischen Erklärungen ihrer autorisierten Interpreten, ebenso wie Tradition, Gebote, uralte Weisheit, private Intuition und alle anderen nicht-rationalen und transzendenten Quellen vermeintlichen Wissens.34

Diese Bestimmung des aufklärerischen Selbst- und Weltverhältnisses wird noch weiter differenziert, letztlich aber wie folgt zusammengefasst: Nach dieser Lehre waren alle wirklichen Fragen im Prinzip beantwortbar: die Wahrheit war eine und der Irrtum vielfältig, und die wahren Antworten mussten notwendig universal und unveränderlich sein, das heißt sie mussten überall, zu jeder Zeit und für alle Menschen gelten und durch den richtigen Verstandesgebrauch, durch einschlägige Erfahrung, Beobachtung und die Methoden des Experiments, der Logik und der Kalkulation gefunden werden.35

Diese Ausführungen enthalten in der Tat ein – bei aller historistischen Relativierung der letzten Jahrzehnte36 – nach wie vor überzeugendes Verständnis von Aufklärung. Allerdings versäumt es Berlin, die zentralen Argumente und Begründungen für einen Universalismus beispielsweise in der praktischen Philosophie zu rekonstruieren und vorzutragen; dabei ging und geht es bei der Formulierung uniBerlin, Hume die die Quellen des deutschen Irrationalismus, 259 f. Ebd., 260. 35 Ebd., 260 f. 36 Siehe hierzu u. a. Daniel Fulda, Die Erfindung der Aufklärung. Eine Begriffs-, Bild- und Metapherngeschichte aus der ,SattelzeitR um 1700, in: Archiv für Begriffsgeschichte 64.1 (2022), 9 – 100. 33 34

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verseller ethischer oder gar rechtlicher Normen stets darum, soziale, geschlechtliche oder ethnische Ungleichheiten zu verhindern, um damit recht eigentlich die Verbindlichkeit jener Normen einzufordern, die allein aus deren Rationalität und Universalität entspringt.37 Gleichwohl findet Berlin in dem programmatischen Aufsatz zur Gegenaufklärung zu einer weiteren Präzisierung der „Prinzipien der Aufklärung“, die sich laut Berlin zusammensetzen aus: Universalität, Objektivität, Rationalität, de[m] Anspruch, für alle genuinen Probleme des Lebens und des Denkens dauerhafte Lösungen liefern zu können, und (nicht weniger wichtig) d[ie] Zugänglichkeit der rationalen Methode für jeden, der mit dem entsprechenden Vermögen zu Beobachtung und logischem Denken ausgestattet ist.38

Von diesem als Aufklärung identifizierten Kriterienkatalog, dessen systematische Einheit von Berlin nicht reflektiert wird,39 setzt er nun schon zu Beginn seiner Studie zur Counter-Enlightenment verschiedene Theoriemodelle ab, die in ihren systematischen Zentren jenen oben aufgeführten Aufklärungsprinzipien substanziell widersprechen. Dazu zählt zum einen ein Relativismus bzw. Skeptizismus, und zwar in praktischer Hinsicht, der eine womöglich durch die Übertragung mathematischer Grundsätze und Methoden auf Ethik, Recht und Politik universalistisch-nomologische Normativität verunmöglicht. Tatsächlich gehört es zu den bedeutenden Zielen, aber auch zu den – spätestens seit Kant – besonderen Errungenschaften der europäischen Aufklärung, eine rational-säkulare Moralphilosophie (im Sinne einer philosophia practica universalis) entwickelt zu haben,40 die eine Geltungs-, vor allem aber eine Verbindlichkeitsgarantie ermöglichte, die – weil nach und gemäß allgemeinen Gesetzen formuliert – ohne Rekurs auf rational unerreichbare Instanzen, d. h. der Referenz auf die Gottesinstanz, auskommen kann – und gerade deshalb jedem Menschen aufzuerlegen ist.41 Ein Skeptizismus in moralischer Hinsicht verhinderte jedoch eine verbindliche Normativität und leistete vielmehr einer Rückkehr in nur zu glaubende, nicht aber zu wissende Obligations-Instanzen Vorschub. Hamann und Jacobi haben zügig erkannt – und durch sie und mit ihnen Isaiah Berlin –, dass es vom Zweifel an 37 Siehe hierzu u. a. Dieter Hüning, Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen empirischer Psychologie und Moralphilosophie, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-FranÅois Goubet (Hg.), Christian Wolffs Psychologie. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004, 145 – 169. 38 Berlin, Die Gegenaufklärung (wie Anm. 10), 86. 39 Vgl. hierzu aber schon Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973 (EA 1932] sowie den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. 40 Siehe hierzu u. a. Kurt Bayertz, Art. Ethik/Moral, in: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, hg. von Heinz Thoma, Stuttgart, Weimar 2015, 181 – 192. 41 Siehe hierzu auch Georg Geismann, Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 437 – 531.

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der Universalität einer praktischen Vernunft zum Glauben nur ein kleiner Schritt ist.42 Zu diesem Relativismus rechnete Berlin auch den von Vico ausgehenden und im 19. Jahrhundert konzeptionalisierten Historismus,43 der einen Fortschritt der Menschheit ausschloss bzw. in den von Foucault inaugurierten und seither weiterentwickelten Varianten ausschließt und damit einen ,Wandel durch VernunftR apriori verunmöglicht.44 Praktischer Skeptizismus und dessen historiographische Variante im Historismus münden nach Berlin notwendig in Gegenaufklärung. Berlin nennt noch ein zweites Theoriemodell, das aufklärungskritische bzw. gegenaufklärerische Konsequenzen zeitigt; hierbei handelt es sich um „soziologisch orientierte Denker von Bodin bis Montesquieu“,45 die eine vom Individuum oder dessen Vergemeinschaftung ausgehende, also dem freien Willen unterworfene Veränderung des Gegebenen für unmöglich erachten, weil der Mensch vor allem durch äußere, klimatische oder soziale Bedingungen in seinem Wollen und Handeln determiniert würde. Diese soziologische Einschränkung des dem Menschen möglichen freien Handelns nach allgemeinen, rationalen Prinzipien mündet nach Berlin in einen quietistischen Determinismus, der von einem nach allgemeinen rationalen Prinzipien erfolgenden Wandel absehen muss, weil er ihn für unmöglich hält – auch er mündet in Gegenaufklärung.46 Letztlich sieht Berlin noch in dem das Zeitalter der Aufklärung unaufhörlich begleitenden religiösen oder theologischen Dogmatismus einen gewichtigen Akteur der Gegenaufklärung, weil die von vielen Aufklärern als ebenso möglich wie notwendig anvisierte Säkularität in Denken und Handeln als Gefahr für die öffentliche Ordnung, aber auch für das Seelenheil des Einzelnen angesehen wurde. Die während des gesamten Jahrhunderts feststellbaren, ebenso topischen wie wütenden Ausfälle gegen „Atheismus, Epicuräismus und Materialismus“47 sind nur aus 42 Siehe hierzu auch Gideon Stiening, „Der geheime Handgriff des Schöpfers“. Jacobis theonome Epistemologie, in: Cornelia Ortlieb, Friedrich Vollhardt (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819). Romancier – Philosoph – Politiker, Berlin, Boston 2021, 171 – 190. 43 Berlin, Die Gegenaufklärung (wie Anm.10), 69. 44 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening, „Glücklicher Positivismus“? Michel Foucaults Beitrag zur Begründung der Kulturwissenschaften, in: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Glu ecklicher_Positivismus. 45 Berlin, Die Gegenaufklärung (wie Anm. 10), 65. 46 Das sieht eine an einer ,naturalistischen AufklärungR interessierte Forschung gänzlich anders, weil sie die Thesen von einem klimatischen Einfluss auf Geist, Wille und Handlung des Menschen für besonders modern hält (vgl. hierzu u. a. Wolfgang Pross, Nachwort: Natur und Geschichte in Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Johann Gottfried Herder, Werke in drei Bänden, hg. von Wolfgang Pross, Darmstadt 1984 – 2002, Bd. 3.1 [Darmstadt 2002], 837 – 1041 oder auch Rachel Zuckert, HerderQs Naturalist Aesthetics. Cambridge 2019); doch eine Modernität schließt eine Zuweisung dieser Position zur Gegenaufklärung nicht aus. 47 Siehe hierzu u. a. Christian August Crusius, Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengestellt werden, Leipzig 21753, 885 (§ 435).

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der Furcht vor der mit ihnen verbundenen Anarchie als dem größtmöglichen irdischen Übel48 sowie der Angst für das Seelenheil des Einzelnen zu verstehen. Welche Wucht mit dieser lebensweltlichen Gegenaufklärung einhergingen, lässt sich ermessen an den Repressionen gegen den bekennenden Atheisten Ludwig August Unzer, der noch auf dem Sterbebett von Freunden und Verwandten zur ,LäuterungR gedrängt wurde, um seine Seele ,zu rettenR.49 Schon weit vor den Wöllnerschen Edikten, die ab 1788 der deutschsprachigen Aufklärung auch auf politischer Ebene ein Ende setzen wollten,50 sind also ausdrücklich aufklärungskritische und gegenaufklärerische Haltungen, Argumente und Begründungstheorien zu verzeichnen. Isaiah Berlin hat mit seinen Arbeiten auf diese Tradition, die von den Aufklärern aufgrund deren eigener polemischer Verfahrensweise gegen überkommene Autoritäten und Theorien auch hervorgebracht wurde, mit einigem Geschick und hinreichender Überzeugung aufmerksam gemacht. Er hat vor allem darauf hingewiesen, welche systematischen Dimensionen die Differenzen Hamanns, Jacobis, Herders, Gentzens oder de Maistres von der von ihnen kritisierten ,elenden AufklärereiR einnehmen, die für den britischen Ideenhistoriker zu Recht dazu führten, den Begriff der Gegenaufklärung in eine nüchterne Forschungsdiskussion zum Zeitalter der Aufklärung, das eben noch kein aufgeklärtes Zeitalter war,51 einzuführen. Entgegen der voreiligen Verwerfung des Begriffs überhaupt sowie seiner berlinschen Variante kann vielmehr an die Leistungen der letzteren kritisch angeschlossen werden.

48 Selbst Kant wird bei der negativen Bewertung der Anarchie emphatisch: „Sind die Menschen nicht frey, so wäre ihr Wille nach allgemeinen Gesetzen eingerichtet. Wäre aber jeder frey ohne Gesetz; so könnte nichts schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern was er wollte, und so wäre keiner frey. Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem gesetzlosen Menschen“; Immanuel Kant, Naturrecht-Feyerabend; zitiert nach Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordini (Hg.), Stellenindex und Konkordanz zum „Naturrecht Feyerabend“, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, Bd. II, 5 – 87, hier 618–22. 49 Arne Klawitter, Vermächtnisse für Freigeister. Die religionsphilosophischen Bekenntnisse des Dichters Ludwig August Unzer, in: Das 18. Jahrhundert 45.1 (2021), 84 – 100. 50 Siehe hierzu u. a. Dirk Kemper, Obskurantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph von Wöllners Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Französischen Revolution, in: Christoph Weiß (Hg.), Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 21999, 193 – 220 sowie Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010. 51 Zur Distinktion zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und einem aufgeklärten Zeitalter siehe Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., Bd. VIII, 40.

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III. Einwände und Erweiterungen Gerade weil Isaiah Berlin eine Betrachtung der Begründungen für die Annahme der Geltung jener von ihm aufgeführten „Prinzipien der Aufklärung“ unterlässt, drängen sich zweierlei Einwände schon gegen sein Aufklärungsverständnis auf: Zum einen ist es reichlich holzschnitzartig geraten, wenngleich teilweise durchaus überzeugend und auch klug formuliert; zudem hat der Versuch, die Ideen der französischen Aufklärung gegen alle individuellen Unterschiede zu synthetisieren, vor allem eine heuristische Funktion, die nämlich, eine Kontrastfolie und deren Kriterien zu bestimmen, gegen die sodann die Gegenaufklärung abgesetzt werden kann bzw. deren Autoren sich schon selber abzusetzen suchten. Wenig mehr hat zur Formierung eines überindividuellen Aufklärungsverständnisses beigetragen, als dessen Formulierung durch dessen Gegner.52 Dabei ist festzustellen, dass solcherart Kontrastfolien für die Erforschung der Gegenaufklärung – bei allen Schwierigkeiten und Risiken, die ein solches Verfahren mit sich bringt – formuliert werden müssen, weil sich Gegenaufklärung durch Widerspruch, Kontrastierung oder Zurückweisung von aufklärerischen Argumenten und Grundsätzen konstituiert. Anders als die voraufklärerische Dogmatik in Theologie und Philosophie, die doktrinal auftreten konnte und wollte,53 ist die Gegenaufklärung auf ihren Widerpart angewiesen, um sich tatsächlich kritisch von ihm abzusetzen. Denn ,KritikR als eine Reflexionsform, der sich „alles unterwerfen muss“,54 ist die beiden ansonsten unvereinbaren Positionen gemeinsame Methode.55 Zum anderen sollte man ausgehend von Berlin solcherart Kontrastfolien einerseits gleichsam europäisch bzw. gar westlich erweitern und ausdifferenzieren; bei allen Gemeinsamkeiten hat die Wucht der spanischen oder portugiesischen Gegenaufklärung in den 1770er Jahren eigene, gegenüber den deutschen, englischen und französischen Ausprägungen veränderte Konturen,56 weil auch die Aufklärung in Spanien ab 1759 eine relativ eigenen Kontur hatte;57 ähnliches gilt für Siehe erneut Schneiders, Hoffnung auf Vernunft (wie Anm. 14), 10 ff. Siehe hierzu paradigmatisch Francisco Su#rez, De legibus ac Deo legislatore. Liber I / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch I–III, hg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening, Stuttgart-Bad Cannstatt 2019, 2 – 11; die Gegner dieser sich als Rechtstheologie vollendenden praktischen Theorie sind vor allem selbst Dogmatiker, nämlich Protestanten, oder durch die Kirchentrennung erzwungene, also nur pragmatische Säkularisten wie Jean Bodin. 54 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 31990, A XI. 55 Siehe hierzu Albrecht, Weiß: Einleitung (wie Anm. 29), 13 ff. 56 Vgl. hierzu Ulrich Mücke, Gegen Aufklärung und Revolution. Die Entstehung konservativen Denkens in der iberischen Welt, Köln, Weimar, Wien 2008. 57 Siehe hierzu Beate Möller, Die spanischen Regionen im Zeitalter der Aufklärung. Literarische Darstellungen und politisch-ökonomische Reform, Bern u. a. 2019. 52

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die amerikanische Aufklärung, ihre Kritiker und Gegner.58 Andererseits müssen diese aufklärerischen Kontrastfolien systematisch präziser, aber auch umfassender bestimmt werden als bei Berlin. Wie schon erwähnt, ist es keineswegs nur die französische Aufklärung, gegen die die Gegenaufklärung in Deutschland entsteht und agiert; Crusius benötigte Voltaire nicht, um sein aufklärungskritisches Programm ins Werk zu setzen. Aber ohne Leibniz und Wolff ist sein – übrigens mit allen Mitteln der rationalistischen Aufklärung agierender – großer philosophischer Wurf nicht zu denken. Auch ein Johann Melchior Goeze hat kaum mehr als die Namen von Diderot und Voltaire gekannt, aber die beiden – immerhin eher gemäßigten – Aufklärer Lessing und Reimarus59 waren erforderlich, um seine Kampagne gegen den ,Wolfenbütteler UngenanntenR allererst loszutreten.60 Auch die wütende Gegenwehr gegen die kantische Transzendentalphilosophie hat erneut ganz eigene Konturen, gerade weil Kant vollkommen eigene Thesen, Begründungen und Ergebnisse vorstellte als die empiristischen oder rationalistischen Aufklärungskonzepte zuvor.61 Allein seine Kritik am ethischen, aber auch politischen Eudämonismus hat bis weit in die Reihen der Aufklärer Kritiken, ja Widerlegungsexzesse hervorgerufen.62 An Johann Georg Heinrich Feders Autobiographie kann man ermessen,63 was es bedeutet, wenn einem praktischen Philosophen der Aufklärung ein zentraler Grundsatz genommen wird, der nämlich, 58 Siehe hierzu Frank Kelleter, Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolutionen, Paderborn 2002. 59 Nur anmerkungsweise sei darauf hingewiesen, dass, wenn man wenigstens zwischen – in sich noch einmal ausdifferenzierten – Aufklärern, Aufklärungskritikern und Gegenaufklärern unterscheidet, auch festgefügte Urteile womöglich aufgebrochen werden könnten; so firmiert Reimarus schon länger als Radikalaufklärer, was vor dem Hintergrund seines eifernden Anti-Katholizismus sowie seiner ebenso notorischen wie pauschalen Pöbelkritik noch einmal überdacht werden könnte; vgl. hierzu auch meine Überlegungen in Gideon Stiening, „Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche“. Theologie und Metaphysik in ReimarusQ Allgemeiner Betrachtung über die Triebe der Thiere, in: Stefan Klingner, Dieter Hüning (Hg.), Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie, Berlin, Boston 2022, 243 – 267. 60 Zu Goezes intellektueller Biographie vgl. u. a. Hans Höhne, Johan Melchior Goeze. Stationen einer Streiterkarriere, Münster 2004. 61 Vgl. hierzu u. a. Wolfgang Bartuschat, Kant über Philosophie und Aufklärung, in: Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, Boston 2009, 7 – 27. 62 Siehe hierzu u. a. Martin Bondeli, Alessandro Lazari, Kants Gegner, in: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa, Basel 2014, 1121 – 1151 sowie jetzt Andreas Brandt, MeinersQ Kant-Kritik, in: Stefan Klingner, Gideon Stiening, Christoph Meiners (1747 – 1810). Anthropologie und Geschichtsphilosophie in der Spätaufklärung. Berlin, Boston 2023, 117 – 140 sowie Rudolf Meer, „Bey dieser Gelegenheit kann ich nichtumhin […] einige Worte mit Herrn Kant zu reden“. Die Kontroverse zwischen Meiners und Kant, in: ebd., 97 – 115. 63 Johann Georg Heinrich Feder, Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus anzunehmen geneigt sind, Leipzig, Hannover, Darmstadt 1825.

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das menschliche Leben strebe nach Glücksmaximierung. Feder war nicht nur beleidigt, er ließ sich auch zu gegenaufklärerischen Ausfällen verleiten.64 Am Beispiel Feders lässt sich auch eine weitere Differenzierung im Anschluss an Berlin vorschlagen: Wir können mit Berlin an der klaren und auch strikten Unterscheidung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung festhalten und müssen diese Kategorien doch nicht mit jeweils einzelnen Personen oder Personengruppen verbinden. Nimmt man das Beispiel Albrecht von Hallers, so zeigt sich, dass der Göttinger ohne jeden Zweifel einer der bedeutendsten Naturforscher seiner Zeit war, schon die Zeitgenossen und auch er selber haben diesen Sachverhalt anerkannt. Dabei tendierte Haller in seiner Naturforschung durchaus zu einer materialistischen Anthropologie, was beim Primat des Körpers in seiner Forschung auch wenig verwundert und dabei Tendenzen zu einer säkularen Aufklärungsanthropologie forciert. Zugleich aber war und blieb Haller ein wütender Gegner des philosophischen Materialismus (bekanntermaßen hat er wegen der Widmung La Mettries an ihn getobt65) und ein strenger Verteidiger der christlichen Religion, zumal ihres Unsterblichkeitsglaubens. Der Grund dafür bestand u. a. darin, dass er davon überzeugt war, dass ohne diesen Glauben und der durch ihn ermöglichten Angst vor der postmortalen Abstrafung keinerlei Normativität mehr aufrecht zu erhalten sei, d. h. schlicht die Anarchie, der Naturzustand oder – mit Carl Schmitt66 – der Ausnahmezustand ausbrechen würde.67 Das mag man als eher mäßige Begründung für die Unsterblichkeit ansehen und auch als inkonsequent der eigenen wissenschaftlich formierten Anthropologie gegenüber. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings vielmehr, dass in der Person Albrecht von Hallers die Konfliktlinien zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung verliefen, denn dieser vollkommen haltlose, rein politfunktionale Unsterblichkeitsglaube entsprach den oben zitierten Minimalkriterien der Aufklärung nicht.68 Gerade Siehe hierzu Gideon Stiening, „Ganzer Mensch“ statt „reiner Vernunft“. Feders Zeitschriftenprojekt Philosophische Bibliothek und seine Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, in: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Heinrich Feder (1740 – 1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant, Berlin, Boston 2018, 209 – 234, spez. 233 f. 65 Siehe hierzu u. a. Raymond de Saussure, Haller and La Mettrie, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 4.4 (1949), 431 – 449. 66 So beispielsweise Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 92009, 18. 67 Vgl. hierzu den exzellenten Beitrag von Thomas Kaufmann, Über Hallers Religion. Ein Versuch, in: Norbert Elsner, Nicolas A. Rupke (Hg.), Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung, Göttingen 2009, 307 – 379. 68 Das gilt ebenfalls für den auch von Berlin als Gegenaufklärer ausgemachten Justus Möser, dessen rein funktionales Religionsverständnis kürzlich präzise auf den Begriff gebracht wurde von Albrecht Beutel, Der „fromme Laie“ Justus Möser. Funktionale Religionstheorie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2020. 64

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wenn also an der Unterscheidung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung festgehalten werden soll, kann man zumindest für solche Figuren wie von Haller durchaus nicht sagen, es gebe eine religiöse Aufklärung – was es grundsätzlich nur schwer geben kann69 –, sondern es gibt je und je Gründe für das Festhalten an religiösen Überzeugungen oder Theologumena, und das auch bei Autoren, die in anderen Hinsichten als Aufklärer zu bezeichnen sind. Wie ist nun mit dem berlinischen Konzept von Gegenaufklärung umzugehen? Zunächst hält Berlin zu Recht fest, dass das Vertrauen in die Macht des Verstandes und der Wissenschaften im Westeuropa in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus nicht allgemein war, d. h. um erneut mit Kant zu sprechen, dass das Zeitalter der Aufklärung durchaus noch kein aufgeklärtes Zeitalter war. Es gab, so Berlin, allgemeine Skeptiker und besondere Verteidiger der Macht der Kirche, Verteidiger individueller und kultureller Verschiedenheiten sowie lokaler und traditioneller Werte, und natürlich gab es Verteidiger einer ungezügelten künstlerischer Einbildungskraft, die nicht unter die Herrschaft des Verstandes gezwungen werden dürfe. Mit letzterem verbindet er Autoren und Theorien des Sturm und Drang – und tatsächlich kann und sollte diese Anregung Berlins gegen die in der Forschung zum 18. Jahrhundert üblich gewordene These, Empfindsamkeit und Sturm und Drang seien Erweiterungen, nicht kritische Absetzungen von der Aufklärung,70 erneut fruchtbar gemacht werden. Seine beiden bevorzugten Autoren der deutschsprachigen Gegenaufklärung, mit denen er sich – wie mir scheint – völlig zu Recht in und für diesen Zusammenhang immer wieder beschäftigt, sind Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi. Betrachtet man zunächst nur Hamann, so macht Berlin ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Hamann bis 1759 ein gelehriger und als begabt geltender Schüler der Aufklärung war; 1759 aber habe sich während eines London-Besuches seine Haltung grundlegend geändert, und er habe sich zu einem radikalen Gegenaufklärer entwickelt. Im Folgenden sollen nur einige Kriterien benannt werden, die Berlin zum Nachweis dieser Behauptung ausführt, so heißt es: Hamanns Thesen beruhen auf der Überzeugung, dass Wahrheit immer nur einzeln und nie allgemein ist, dass der Verstand unfähig ist, die Existenz von irgendetwas zu beweisen, dass er nur ein Instrument ist, um Vorgegebenes nach Konventionen zu klassifizieren und in Schablonen zu pressen, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung haben, und daß verstehen heißt, mit einen Menschen oder Gott in einer Einheit verbunden zu sein.71 69 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening, „Katholische Idioten“. Johann Pezzls Faustin-Roman als Beispiel einer Selbstaufklärung der Aufklärung im katholischen Raum, in: Aufklärung 33 (2021), 223 – 248. 70 So vor allem Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974 sowie Mathias Luserek-Jaqui (Hg.), Handbuch Sturm und Drang, Berlin, Boston 2017, 1 – 8. 71 Berlin, Die Gegenaufklärung (wie Anm. 10), 70.

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Diese Ausführungen können als eine präzise Zusammenfassung wesentlicher Momente der hamannschen Epistemologie und Handlungstheorie bezeichnet werden.72 Das zunächst wichtigste Element besteht in der Prämisse, dass Wahrheit immer nur einzeln, nie allgemein sein könne. Im Hintergrund dieser Annahme steht eine Vermögenlehre, die von Berlin nicht tangiert wird, sondern von einem der herausragenden Hamann-Forscher, Hans Graubner, vor nicht allzu langer Zeit rekonstruiert worden ist. Nach dieser Lehre können Verstand und Einbildungskraft – als „Agenten des Satans“ im Menschen – keine Wahrheit hervorbringen, weil all jene Vermögen, die mit einem Eigenanteil menschlicher Tätigkeit ausgeführt werden müssen, sündhaft sind: Von diesem doppelt sinnlich Gegebenen versuchen sich die Einbildungskraft und die Vernunft durch eigenes Herstellen von poetischen Phantasien und philosophischen Abstraktionen zu entfernen mit dem Ziel des Selbstseinwollens und der Überwindung bzw. der Verdrängung der mit der sinnlichen Existenz zugleich gegebenen Zeitgebundenheit und Endlichkeit des Menschen. Unter dessen gespaltener Perspektive nach dem Sündenfall hat die Natur den Charakter des vollkommenen Schöpfungswerks Gottes verloren. […] Der luziferische Drang, die Natur und den Menschen unter Umgehung der Sündenfallanthropologie wieder heil sehen oder gar heil machen zu wollen im Sinne einer menschlichen Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfungsnatur, ist nicht sinnliche Wahrnehmung, sondern abstraktes Sehen, theoria, eine Form, welche von der materia peccans abstrahiert hat.73

Daher ist die von Hamann als rein rezeptiv interpretierte sinnliche Wahrnehmung das einzige Vermögen, das uneingeschränkt Wahrheit hervorbringen kann – allerdings an den je wahrgenommenen einzelnen Gegenstand nur im Hinblick auf einen Teilaspekt. Mit dieser Epistemologie liegt der Kern des gegenaufklärerischen Entwurfs einer Vermögenslehre vor, weil die zentralen Vermögen, mit denen nach der wolffschen wie der lockeschen oder noch der kantischen Aufklärung Wahrheit zu produzieren war, Einbildungskraft und Verstand, als unüberwindlich – zwar nicht a priori, weil es das nach Hamann nicht gibt, aber immerhin seit dem Sündenfall – korrupt bestimmt werden. Nicht nur im Hinblick auf das von Berlin oben formulierte Aufklärungsprogramm der französischen philosophes, sondern auch gegenüber Leibniz, Wolff oder gegenüber Kant sowie jeder anderen aufklärerischen Konzeption von Epistemologie ist Hamanns anti-satanische Vermögenslehre ein gegenaufklärerisches Konzept, dem allein in der traditionellen Unter72 Siehe hierzu auch Gideon Stiening, Epistolarität als Reflexions- und Darstellungsform. Hamanns Fliegender Brief als religiöse Bekenntnisschrift, in: Eric Achermann, Janina Reibold (Hg.), „…sind noch in der Mache“. Zur Bedeutung der Rhetorik in Hamanns Schriften. Acta des zwölften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Heidelberg 2019, Göttingen 2021, 347 – 370. 73 Hans Graubner, Der junge Hamann und die Physikotheologie, in: Eric Achermann, Johann Kreuzer, Johannes von Lüpke (Hg.), Johann Georg Hamann: Natur und Freiheit. Akten des 11. Internationalen Hamann-Kolloquiums 2015, Göttingen 2020, 35 – 51.

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scheidung der Vermögen das Negierte notwendig anhaftet, und deshalb nicht irgendeine alternative Konzeption ist, sondern eben im Sinne des Wortes Gegenaufklärung. Neben diesen epistemologischen Feldern könnte man jene Stellung Hamanns als paradigmatischer Gegenaufklärer auch an seiner politischen Theorie bzw. seiner Naturrechtskonzeption zeigen, die recht eigentlich eine wuchtige Kritik an Mendelssohns Naturrechtsmodell ausführt.74 In Golgatha und Scheblimini benennt Hamann auch seine Gegner, die elenden „Berliner Aufklärer und Theoristen“,75 und bezeichnet sich gleichsam selber als Gegenaufklärer; sein politisches Staatsmodell läuft auch darauf hinaus, nämlich auf die Rückbesinnung auf den Bund Gottes mit den Menschen, der schon, ja recht eigentlich ausschließlich für innergesellschaftliche Probleme Sorge tragen würde; Hamann nennt das „himmlische Politik“ und erkennt in ihr die einzige Rettung des Menschen.76 Zum Zwecke ihrer Bestimmung setzt er sich durchgehend von ,wolffianischen SpitzfindigkeitenR, ,blinden NicolaitenR, einem angeblichen Naturalismus Mendelssohns und immer wieder – wenn auch ungenannt – vom Despoten Kant ab. Betrachtet man nicht nur Hamanns theonome Epistemologie, sondern auch seine religiöse Politik, und zwar in systematischer wie in methodischer Hinsicht, dann scheint es keine erkennbaren Gründe zu geben, diesen Autor nicht als Gegenaufklärer zu bezeichnen. Vergleichbares gilt für Friedrich Heinrich Jacobi oder Friedrich von Gentz; über die Leistungsfähigkeit ihrer Konzepte Vernunft und Handeln des Menschen ist damit noch kein Urteil gefällt; von einer normativen Überlagerung ist ein solcher Begriff von Gegenaufklärung im Anschluss an Isaiah Berlin aber vollkommen frei. IV. Fazit und Ausblick Im Vorstehenden wurde zu zeigen versucht, dass, warum und wie Isaiah Berlin mit dem Begriff der Gegenaufklärung produktiv und anschlussfähig umgegangen ist. Dabei wurde einerseits der Versuch unternommen, eine Rekonstruktion der berlinschen Konzeption als einem ,Meilenstein der AufklärungsforschungR vorzunehmen. Neben diesem historischen Interesse wurde zudem das Anliegen verfolgt, Kriterien – und seien es vorerst Minimalkriterien – für konsensfähige und operationalisierbare Begriffe von Aufklärung und Gegenaufklärung zu fin74 Siehe hierzu auch Gideon Stiening, „Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“. Hamanns Kritik des Naturrechts im Kontext, in: Eric Achermann, Johann Kreuzer, Johannes von Lüpke (Hg.), Johann Georg Hamann: Natur und Freiheit. Akten des 11. Internationalen Hamann-Kolloquiums 2015, Göttingen 2020, 279 – 309. 75 Johann Georg Hamann, Golgotha und Scheblimini, in: ders., Sämtliche Werke, 6 Bde., hg. von Joseph Nadler, Wien 1949 – 1957, Bd. 3, 291 – 320, hier 295. 76 Ebd., 307.

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den und zu bündeln. Es ging und geht folglich auch um die Leistungsfähigkeit jener ,MeilensteineR für die aktuelle und zukünftige Forschung. Zu diesem Zweck kann die Erforschung der Formationen der Gegenaufklärung im Anschluss an Isaiah Berlin hilfreiche Dienste für die Bestimmung eines Aufklärungsbegriffes leisten, wenn man sich darüber verständigen kann, dass der Begriff – angemessen bestimmt – keineswegs ideologisch überlagert sein muss. Beide Anliegen – historische Rekonstruktion und systematische Absicht – scheinen nicht allein möglich, sondern vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren zu verzeichnenden Debatten über eine Neue Aufklärung auch dringend geboten.77 Dies lässt sich abschließend an einigen Beispielen erläutern. Berlin hat sich auch und immer wieder mit der politischen Theorie der Aufklärung und der Gegenaufklärung beschäftigt. Dazu zählt ohne jeden Zweifel die Theorie der Gewaltenunterscheidung, die nach einigen Vorformen von Montesquieu entwickelt und von Kant als Gewaltenteilung hinreichend begründet wurde. Es gibt genügend politische Theoretiker, die dieses Theorem und vor allem seine praktische Realisation grundlegend ablehnten, weil sie einen Bürgerkrieg zwischen den relativ unabhängigen Gewalten heraufziehen sahen. Hier stehen sich schlicht und gut erkennbar Aufklärung und Gegenaufklärung deutlich gegenüber.78 Noch ein zweites Theorem (ein weiteres wäre das der Verfassungsstaatlichkeit79), das eine strenge Differenz zwischen Gegenaufklärung und Aufklärung – und so rekursiv für eine präzisere Bestimmung beider Begriffe – markiert, ist das Verständnis von Souveränität. War der frühen Neuzeit und damit dem absolutistischen Herrschaftsverständnis zumindest nach den Leistungen Bodins vollkommen selbstverständlich, dass die summa potestas und damit die politische Souveränität eines stabilen Staates einzig in einem Monarchen als einer Einzelperson begründet werden konnte und durfte,80 so tauchte seit 1761 in Rousseaus

77 Siehe hierzu u. a. Steven Pinker, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Frankfurt am Main 2018; Michael Hampe, Die dritte Aufklärung, Berlin 2018; Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020 oder auch Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, übersetzt von Ulrike Bischof, Darmstadt 2021. 78 Siehe hierzu den herausragende Beitrag von Louis Pahlow, Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 15 (2003), 275 – 299 sowie demnächst Gideon Stiening, Betrug, Bigamie, Standesanmaßung – und Konversionspolitik. Anmerkungen zu Peter Mege gibt sich für den Herrn von Caille aus (Pitaval II.1), in: Eric Achermann, Peter Oestmann, Sebastian Speth (Hg.), In Dubio. Zweifel vor Gericht im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2024 [i. D.]. 79 Siehe hierzu u. a. Ulrike Müssig, Dier europäische Verfassungsdiskussion im 18. Jahrhundert, Tübingen 2008; Alexander Thiele, Der konstituierte Staat. Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 2021, spez. 55 – 141. 80 Siehe hierzu u. a. Thomas Hobbes, De Cive. Vom Bürger. Lateinisch/deutsch, übersetzt von

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Du Contrat social,81 erneut hinreichend begründet erst 1797 in Kants Metaphysik der Sitten82 der Gedanke einer Volkssouveränität auf, die allein eine Herrschaft des Menschen über den Menschen nach den Prinzipien des Rechts tatsächlich legitimieren könnte. Diese – wie schon das der Gewaltenteilung – nachgerade unerhörte Theorem, das, weil als Prinzip des Rechtsstaates, genuin aufklärerisch ist, hatte aber nicht allein erhebliche Auswirkungen auf die Debatten zur politischen Theorie der Aufklärung, so ab 1777 zwischen Dohm, Wieland, Forster, und Jacobi,83 sondern auch auf die politische Praxis. Der schon von Zeitgenossen und erst recht von der Forschung der letzten Jahrzehnte als aufgeklärter Monarch gefeierte Joseph II. hat bei allem Reformeifer, den er in den 1780er Jahren nach den Prinzipien der Aufklärung an den Tag legte – Zensurfreiheit, Unterwerfung der Kirche unter den Staat, Sozialversicherungen u. v. m. – doch immer wieder deutlich gemacht, dass er das Prinzip der Volkssouveränität für inakzeptabel und gefährlich hielt; sein Wahlspruch „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“84 ist eben gegen dieses Prinzip der Aufklärung gerichtet. Nicht nur Friedrich Heinrich Jacobi hat ihn deshalb eines aufgeklärten Despotismus bezichtigt. Auch im Hinblick auf Theorie und Praxis des Souveränitätsgedankens lässt sich also eine glasklare Differenz zwischen Gegenaufklärung und Aufklärung markieren, die damit zugleich beide Begriffe deutlicher konturiert. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass der in vielerlei Hinsicht nicht nur als aufgeklärter, sondern aufklärerischer Praktiker zu bezeichnende Joseph II. in einem zentralen Moment aufgeklärter Theorie und Praxis, dem Souveränitatsgedanken, der Gegenaufklärung zuzurechnen ist. Die ,AufklärungR und ihre Erforschung müssen sich also mit ihrem Gegenteil, ihrem Widerspruch beschäftigen, sei es in systematischer, sei es in historischer Absicht, und sei dieses Gegenteil systematisch oder historiographisch organisiert. Dieser Befund gilt nicht nur für das 18. Jahrhundert und die französische Aufklärung, sondern auch und im Besonderen für die Gegenwart, in der selbst nach 40 Jahren poststrukturalistischer Gegenaufklärung scheinbar stets neue kritische Andree Hahmann unter Mitarbeit von Isabella Zühlke, hg. von Andree Hahmann und Dieter Hüning, Stuttgart 2017, 215 – 221 (VI, 5 – 9). 81 Vgl. hierzu Oliver Hidalgo (Hg.), Der lange Schatten des Contrat Social. Demokratie und Volkssouveränität bei Jean-Jacques Rousseau (Staat – Souveränität – Nation), Wiesbaden 2013. 82 Vgl. Martin Welsch, Anfangsgründe der Volkssouveränität. Immanuel Kants ,StaatsrechtR in der Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 2021. 83 Vgl. hierzu Gideon Stiening, „Wo für Alle Einer nur Entschlüsse faßt“. Ideengeschichtliche Anmerkungen zu Friedrich Heinrich Jacobis Etwas, das Lessing gesagt hat, in: Maximilian Benz, Gideon Stiening (Hg.), Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Berlin, Boston 2022, 367 – 400. 84 Siehe hierzu Helmut Reinalter, Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, München 2011, 23 ff.

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Perspektiven auf die Geschichte und das Projekt eines „Wandels durch Vernunft“ entworfen werden.85 Neuerdings – das sei jedoch nur en passent erwähnt – gibt es eine Aufklärungskritik, die sich als historische Aufklärungsforschung und gar als Nachweis einer „Legitimität der Aufklärung“ ausgibt,86 im Kern und zwar im berlinschen Sinne, gegenaufklärerische Programme transportiert und begründet. Von dieser Neuen Unübersichtlichkeit in der Aufklärungsforschung ist Berlin aber weit entfernt. Für ihn gibt es klare Grenzen zwischen der Aufklärung bzw. ihren verschiedenen Varianten und der Gegenaufklärung und deren unterschiedlichen Formationen und Begründungformen. Das heißt aber nicht, dass Berlin etwa dogmatische Parteilichkeiten vorgeführt hätte. Im Gegenteil scheint mir Berlin an den Prämissen, Voraussetzungen, Thesen, Beweisgängen und Exemplifikationen, ja auch der Methode und den bestimmten Schreibstilen der Gegenaufklärung bzw. einzelner Gegenaufklärer in besonderer Weise interessiert zu sein und sie daher präzise und sensibel analysiert und interpretiert zu haben. Berlin bedient sich also der begriffsanalytischen Instrumente der Aufklärung, die er bei Hume oder bei Kant, von dessen Philosophie er ebenfalls eine höchst intime Kenntnis besaß, gelernt hatte, um sie auf textliche Gegenstände anzuwenden, die eine machtvolle Gegenposition vor allem zu Voltaire, Diderot und Kant formulierten oder, komplexer, sich auf eigentümliche Weise bei u. a. Hume bedienten, um gegenaufklärerische Positionen zu legitimieren. Berlin interpretiert also Texte der Gegenaufklärung zur Konturierung des Zeitalters der Aufklärung – auch und gerade um dessen historische Konturen zu schärfen und deren systematische Valenz zu prüfen. Das ist sowohl für seine Zeit, die 1960er und 1970er Jahre, als auch für unsere Zeit ungewöhnlich – widerläufig eben –, weil mindestens im deutschsprachigen Forschungsraum der Begriff der Gegenaufklärung als historiographische Kategorie derzeit diskreditiert scheint. Bei Berlin kann man lernen, dass, warum und in welcher Weise man arbeiten kann und sollte, um dieses Vorurteil abzubauen. In den vorstehenden, durchaus noch vorläufigen Überlegungen wurde also versucht, was auch Berlin selber unternahm: Historische Rekonstruktionsarbeit in systematischer Absicht, die – Isaiah Berlin und Wilhelm Schmidt-Biggemann haben das – in je eigener Weise – vorgeführt87– nicht auf das 18. Jahrhundert zu beschränken ist. Denn: So wie der Begriff der Aufklärung Epoche und Projekt impliziert, so der der Gegenaufklärung. 85 Siehe hierzu u. a. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2014. 86 Siehe hierzu Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt am Main 2019. 87 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004.

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Der Begriff der Gegenaufklärung hat derzeit einen schweren Stand; der kulturwissenschaftlich geprägten Forschung zum 18. Jahrhundert gilt er als ideologisch überlagert. Ein Blick in Isaiah Berlins Forschungen zu gewichtigen Autoren der Gegenaufklärung kann in diesem Zusammenhang differenzierend wirken. Denn der britische Ideengeschichtler hat in einer Reihe von Aufsätzen zu Vico, Hamann, Jacobi oder Herder anhand sensibler Textinterpretationen ein Konzept von Gegenaufklärung vorgeschlagen, an das – trotz vielfältiger Mängel – durchaus anzuschließen ist. Der Beitrag versucht, auf der Grundlage einer historischen Rekonstruktion des berlinschen Konzepts systematische Konturen einer operationalisierbaren Kategorie von Gegenaufklärung zu entwerfen. The concept of Counter-Enlightenment is currently in a difficult situation; it is considered to be ideological by cultural studies-oriented research on the 18th century. A look at Isaiah BerlinQs research on important authors of the Counter-Enlightenment can have a differentiating effect in this context. In a series of essays on Vico, Hamann, Jacobi, and Herder, the British Historian of Ideas proposed a concept of Counter-Enlightenment based on sensitive interpretations of texts, which – despite numerous shortcomings – can definitely be followed. The article attempts to design an operationalizable category of Counter-Enlightenment based on a historical reconstruction of the Berlin Concept of systematic contours. Prof. Dr. Gideon Stiening, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, E-Mail: [email protected]

Cornel Zwierlein Wer die Aufklärung sucht, findet die Romantik nicht: John G. A. Pococks Barbarism and Religion und Gibbons Geschichtsbild

Pococks Barbarism and Religion1 ist ein Geschichtswerk über Historiographie und gehorcht vielleicht selbst weniger einem intrinsischen Geschichtsphilosophem, als man es bei Koselleck, Habermas oder anderen ableiten kann, anders als dies beim Machiavellian Moment der Fall gewesen war. Es wäre unverfroren zu sagen, dass die gewichtigen sechs Bände das anspruchsvollste und gedankenreichste Werk sind, das nicht über Gibbons Decline and Fall geschrieben wurde, denn immerhin erscheint Gibbon und sein Werk als erklärter Hauptgegenstand – doch gibt es einige Gründe, warum man bei manchen Bänden – II, III, IV – über gute Strecken diesen Eindruck haben kann. Gibbons Werk wurde und bleibt bis heute meist als Chiffren-Historiographie für den Untergang des ersten British Empire erinnert, weil der erste, im Wesentlichen nur die weströmische Geschichte betreffende Band gerade 1776 im Moment des Ausbruchs des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs erschien und in diesem Kontext reißenden Absatz fand.2 Viel spricht dafür, dass Pocock eigentlich diese Verankerung des Geschichtswerks in der atlantischen Kontextualisierung fortschreibt, obgleich die lange Vorarbeit und die Gesamtanlage des Werks dagegen stehen. Pococks BR ist ein komplexes, in sich additiv wirkendes Werk, dessen roten Faden man immer wieder mit Behutsamkeit aufnehmen muss. Es ist Pococks erklärtes Ziel, das Konzept der Aufklärungs-Historie in seiner spezifischen Prägung bei Gibbon herauszuarbeiten, dies aber in einer mehrfachen Stufung und BreIch zitiere Gibbons Werk als DF 1, 2 und 3 plus römischer Ziffer des Kapitels = Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the roman Empire, Bd. 1 (Volume the First [1776] and Volume the Second [1781]), Bd. 2 (Volume the Third [1781] and Volume the Fourth [1788]), Bd.3 (Volume the Fifth [1788] and Volume the Sixth [1788]), hg. von David Womersley, London, New York 1994. Pococks Werk als BR I bis VI = John G. A. Pocock: Barbarism and Religion, 6 Bde., Cambridge 1999 – 2015. 2 David Wormersley, Gibbon and the ,Watchmen of the Holy CityR: The Historian and his Reputation, 1776 – 1815, Oxford 2002, 6, 16 f., 28. 1

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chung. ,Barbarism and ReligionR als Titel nimmt ein Wort von Gibbon vom Schluss des letzten Bandes von Decline and Fall auf (DF 3, LXXI, 1068) und hebt zunächst auf die Kräfte ab, die den Verfall sowohl des west- wie des oströmisch-byzantinischen Reiches bewirkt hätten: Einfall von ,BarbarenR (Goten, Lombarden, Franken, Sachsen) im 5. Jahrhundert und die Zersetzungskraft des Christentums gegenüber der römischen Herrschaft; Einfall von Islam und den neuen ,BarbarenR der Turkstämme ins byzantinische Reich bis zur Eroberung 1453. Insofern fragt Pocock insgesamt nach der historischen Kausalanalytik bei Gibbon, nach seinem Verständnis vom Strukturverlauf von Reichen an sich und von dem/den römischen im Speziellen. Methodisch allerdings präsentiert sich die sechsbändige Analyse des ersten Teils des in LXXI Kapiteln und 6 Volumina veröffentlichten DF Gibbons wie eine Vermessung der Aufklärungshistoriographie schlechthin: prismatisch zwar dadurch veranlasst, wie Gibbon jeweils auf die einzelnen Themenkomplexe und Autoren zugreift, aber dann doch in einer Addition fast von Einzelstudien von Werken und Autoren, sei es des Späthumanismus bei Lipsius, sei es von Giannone, Voltaire, meist geleitet durch die Fußnoten und Verweise in Gibbons Werk auf diese Referenzautoren. Pocock hat in allen großen Büchern versucht Rezeptions- und Appropriationslinien durch Epochen hindurchzulegen: in Ancient Constitution als einem Buch über die spät- oder posthumanistische Neuvereinnahmung und -konstruktion des mittelalterlich verankerten Common und Feudal Law im England des 17. Jahrhundert; im Machiavellian Moment mit dem Versuch, den republikanischen Motivkomplex vom Florenz Machiavellis bis zur Amerikanischen Verfassung nachzuverfolgen. Im letzteren Buch hatte er hierfür das Konzept der „diachronen Übersetzung“ eingesetzt.3 Hinsichtlich Gibbons Werk will er hingegen nicht selbst eine solche thematische Linie nachverfolgen, das Konzept von ,diachroner ÜbersetzungR kommt nicht mehr vor, obwohl er für jeden Autor, jede Problemstellung und Thematik durchaus das Verhältnis von Gibbon zu den früheren Diskursstrata und Autoren eruiert. Aber es wird nichts von A nach B übersetzt, sondern Gibbon wird in TextKontexte eingestellt. Pocock räsonniert oft viele Seiten lang frei primär über die Kontext- oder Quell-Autoren Gibbons ohne zu letzterem zurückzukehren. Pocock stellt so in den Bänden gleichsam Werkrekonstruktion neben Werkrekonstruktion wie in einem Kabinett oder Garten auf, um dann irgendwann auch Gibbon einen Platz in diesem schon bevölkerten Kabinett zuzuweisen. Es gibt Spiegelungs-, Brechungs-, vielleicht ,NetzwerkR-Verbindungen, die der Betrachter im bevölkerten Kabinett dann mit Pococks Hinweisen feststellen kann, aber keine zwanghafte Einflussverbindung. Man möchte fast sagen: Pocock verhält sich zu Gibbon methodisch frei wie Guicciardini zu Machiavelli zu Livius als er die Considerazioni 3 John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975.

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sopra i Discorsi di Machiavelli schrieb und auch kaum weder über Livius, noch nur verstehend über Machiavelli schrieb, sondern räsonnierend über die gestellten Probleme nachdachte.4 Das Kabinett will aber eben doch kein beliebiges sein, sondern irgendwie Gibbon verstehend erklären – und insofern darf man, wie hier folgend, doch kritisch fragen, ob dies gelingt und ob zumindest die Bevölkerung dieses Kabinetts hinreichend und angemessen war. Ganz grob aufgegliedert zerfällt Pococks Sechsbänder in die Teile I. Biographie/Kontext Gibbons II. Varianten von Aufklärungshistoriographie, die vor und neben Gibbon existierten III. Varianten des ,Aufstieg-und-NiedergangsR-Motivs IV. ,BarbarenR als Gegner von Imperium und Zivilisation V. ,ReligionR (Christentum) als Triumphator über das niedergehende weströmische Reich. VI. Religionsstabilisierung; Barbaren vom Westen, Untergang von Westrom und Ausblick Nach Pococks Vermessung der Aufklärungshistoriographie (Giannone, Voltaire, Hume, Robertson, Ferguson) im zweiten Band von BR, wird der ,Anlass GibbonR nur am Schluss wieder aufgenommen – und an sich eher kontrastierend: As we work our way through the two volumes of 1781, and the first of the three of 1788, the Decline and Fall increasingly ceases to be a civil and becomes an ecclesiastical history, Enlightened in spirit, but not an Enlightened narrative as we have come to know them. It is Greek, not Latin; a history of Councils, not Popes, and of theology, not jurisdiction. (BR II, 378)

Man möchte dies fast paraphrasieren mit: ,die von mir hier auf den 350 vorherigen Seiten gemachten Ausführungen sind wichtig, um zu verstehen, was man eigentlich von einer Aufklärungsgeschichtsschreibung erwarten würde – aber wir finden diese nicht bei GibbonR. Um diese, Pocock vielleicht selbst überraschende Widerstrebigkeit Gibbons zu verdeutlichen, sei kurz ein Blick auf die ungefähren Proportionen der Referenzautoren-Dichte bei Gibbon im Vergleich mit den von Pocock präferierten ,Quell-AutorenR geworfen. Allerdings beziehe ich dabei eben das Gesamtwerk Gibbons ein, während, wie der Leser der sechs Bände Pococks am Schluss merkt, dieser ja mit Westrom, mit der Hälfte, also bei Kapi4 Francesco Guicciardini, Considerazioni intorno ai Discorsi del Machiavelli sopra la prima deca di Tito Livio, in: ders., Opere inedite, hg. von Giuseppe Canestrini, Bd. 1, Florenz 1857, 2 – 79. Zur etwas geringeren Profilierung als Theoretiker, der sich an ein Arbeits-, Theorie- oder Thesenprogramm hielt vgl. Martin Mulsow, Andreas Mahler, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Frankfurt am Main 2010, 7 – 19, hier 11.

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tel XXXVIII von LXXI mit Gibbons Nachwort zu Volume 3 („General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West“) schließt: Ungefähre Anzahl der direkten Fußnotenreferenzen bei Gibbon auf Autoren des 17./18. Jahrhunderts, die ausführlich von Pocock kommentiert werden5 Guignes Montesquieu Le Clerc Voltaire Giannone Lipsius Besaubre Hume Raynal

93 56 46 42 42 37 37 30 7

Beaufort Robertson Thomas Carte Goguet Adam Smith Bossuet Anquetil-Duperron Ferguson

11 9 8 8 5 5 1 0

Anzahl der direkten Fußnotenreferenzen bei Gibbon auf Autoren des 17./18. Jahrhunderts, die von Pocock kaum oder gar nicht kommentiert und erwähnt werden Tillemont Muratori Ducange dQHerbelot Baronius DQAnville Antonio Pagi Joh. Albert Fabricius Johann Lorenz Mosheim Edward Pococke Giuseppe Simone Assemani Gagnier Johann Christian Heinecke Ezechiel Spanheim Claude Fleury Basnage La Bl8terie Jean-Baptiste Dubos Ockley

301 269 204 165 161 148 106 92 79 71 64 56 56 50 45 44 43 43 40

Demetrius Cantemir EusHbe Renaudot Maffei La Croze Bayle Niebuhr Maracci T. Shaw Reiske Tournefort Thomas Hyde Jean Thevenot Cardonne Prideaux P8tis de la Croix Hiob Ludolph Henry Dodwell Bohadin

41 39 38 37 [23] 37 33 32 31 29 26 21 20 17 19 16 15 14 13

5 Die Zahlen wurden nach dem Bibliographical Index in DF 3, 1185 – 1277 erstellt. Eine gewisse Vorauswahl der besonders häufig zitierten Autoren wurde getroffen neben den von John Pocock behandelten. Kursiv gesetzt sind die ,orientalisierenden ff, Griechenland, Byzanz, später auch Islamisches bzw. überhaupt den Osten betreffendenR, normal gesetzt die den ,Lateinischen WestenR betreffenden Autoren.

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Voltaire ist ohne Zweifel ein geschichtsphilosophisch wie inhaltlich wichtiger Autor für Gibbon und zwar gerade hinsichtlich der Beschäftigung Voltaires mit dem Islam und Asien.6 Die Frühaufklärungsgeschichte Giannones ebenfalls, aber schon für Hume gilt, dass Gibbon selbst vor allem die Essays zitiert, während die von Pocock relativ breit analysierten historischen Werke nur etwa dreimal auftauchen. Ferguson wird, soweit ich sehe, von Gibbon nirgends direkt zitiert. Das gleiche gilt auch für einen Großteil der in BR III verhandelten Autoren, die vom Humanismus bis zum 18. Jahrhundert über ,Aufstieg und NiedergangR des römischen Reichs bzw. die translatio-imperii-Theorie geschrieben haben (Otto von Freising, Bruni, Machiavelli, Biondo, Mex&a, Harrington): sie alle sind für Gibbons Werk kaum von ersichtlicher direkter Bedeutung. Pocock bemüht sich hier also, eine Art diskursiven Sockel vorheriger Konzepte der Zyklen-, Imperien-Verfassungs-, Nieder- und Übergangstheorien zu erörtern. Warum aber zwar Polybios und Machiavelli, nicht aber zum Beispiel Bodin und die sehr breite europäische Bodin-Diskussion vorkommen, ohne die weder Lipsius noch Bossuet denkbar sind, ist dann schwer verständlich.7 Die Auswahl der im Kabinett stehenden Werk-,FigurenR scheint weder von Gibbon vorgegeben zu sein, noch ist sie aber ,kanonischR oder repräsentativ für die gesamteuropäischen Gewichtungen. Die ephemere Berührung gerade mit der schottischen Geschichtsstadien-Theorie muss freilich nicht ihre gänzliche Unwichtigkeit indizieren, für die großen Gedankenzüge und die geschichtsphilosophischen Strukturelemente einer Geschichtsschreibung können die Ideengeber oder die Ideen als ungenannte Rahmen-Bedingungen im ,offR des eigenen Schreibens stehen.8 6 Pierre Force: The ,Exasperating PredecessorR. Pocock on Gibbon and Voltaire, in: The Journal of the History of Ideas 77 (2016), 129 – 145. 7 Mit Verfassungskreislauf, seiner Verallgemeinerung als ,Auf- und Niedergang politischer Entitäten (wie u. a. Imperien)R und seiner Handhabung durch Politiker ist das Mischverfassungskonzept als eine Lösung implizit auch angesprochen, aber die Zyklentheorie wurde auch jenseits dessen entwickelt und untersucht. Dan Edelstein, A ,RevolutionR in Political Thought: Translations of Polybius Book 6 and the Conceptual History of Revolution, in: Journal of the History of Ideas 83 (2022), 17 – 40; Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980; Alois Riklin, Machtteilung: Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006; Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München 1980; Margherita Isnardi Parente, Les metabolai politeion revisit8es (Bodin, Rep. IV), in: Il pensiero politico 18 (1985), 49 – 61; Girolamo Cotroneo, Jean Bodin, teorico della storia, Neapel 1966, 148 – 171; Diego Quaglioni, I limiti della sovranit/. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dellQet/ moderna, Padua 1992, 107 – 139, 169 – 197; Nicole DockHs-Lallement, Les r8publiques sous lQinfluence des nombres: le hasard et la n8cessit8 chez Jean Bodin, in: LQŒuvre de Jean Bodin. Actes du colloque tenu / Lyon 1996, Paris 2004, 127 – 150. 8 Man mag in der Charakterisierung der Lebensart der Steppenvölker durch Gibbon einen Reflex der Stadien-Theorien der schottischen Aufklärer sehen (so erneut, ohne direkten Textbeleg Tim Stuart-Buttle, Gibbon and Enlightenment History in Eighteenth-Century Britain, in: Karen

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Pocock ist sich der Ferne von Teilen der Erörterungen in BR II und BR III von Gibbons Werk ganz bewusst und kündigt auch an, dass die eigentliche Bezugnahme auf Gibbon erst wieder am Schluss des Bandes im kurzen sechsten Abschnitt erfolgt (BR III, 2): Elemente der taciteischen, der humanistischen und ParallelDecline-Motive entdeckt er stets an einigen Punkten des gibbonschen Narrativs. Im genannten sechsten Schlussteil (BR III, 417 – 449) werden aber kaum die Früchte der Analysen von BR II und BR III aufgenommen: nur an zwei Stellen wird Gibbons Verweis of Polybios und Lipsius (BR III, 428) en passant und auf Hume (BR III, 434 mit Verweis auf DF 2, II, 57 n. 3), dessen Polytheismus-Konzept Gibbon übernommen habe, mit den vorherigen Analysen verbunden.9 Pocock reduziert vom Titel her und in der Anlage seines eigenen Band-SerienAufbaus relativ stark für die dann im Kern erschlossenen Werkteile von Gibbon auf die Kapitel DF 1, VIII und IX (,BarbarismR) und Kapitel DF 1, XV und XVI (,ReligionR) andererseits: BR V ist im Grunde ausschließlich der Analyse der Kausalität der Religion für die Imperien-Zersetzung in diesen gibbonschen Kapiteln gewidmet. Nur mit dieser DF 1, VIII/IX und XV/XVI-Reduktion lässt sich auch der Satz verstehen, dass Decline and Fall „a history of late antiquity rather than of modernity“ war (BR II, 375). – Denn dies verwundert eigentlich, wenn es andererseits einige Stellen bei Pocock gibt, in denen er, wie oben, deutlich ausdrückt, dass das Herz des gibbonschen Werks fast eine ost-orientierte Kirchengeschichte als Unterbau der Imperiums-Geschichte ist. Pocock unterstreicht zwar, dass in „GibbonQs last volumes […] Byzantium is the inert centre to which Arab, Latin and Turkish vitality are successively drawn“ (BR II, 391), OQBrien, Brian Young [Hg.], The Cambridge Companion to Edward Gibbon, Cambridge 2018, 110 – 126, hier 116 – 118), aber eigentlich fehlt bei Gibbon gerade ein Stadien-Entwicklungsgesetz – wenn es eine quasi-gesetzförmige Kausalität bei Gibbon gibt, ist es die Anstoß-Motorik dieser periodisch nach Süden oder Westen ,drückendenR Völker, dabei weniger eine Gesellschaftsentwicklung notwendig implizierend oder als Hauptstrukturelement seiner Geschichte präsupponierend. Für die Beschreibung der Pastoral Nations und der Hordes etwa in DF 1, XXVI, 1023 – 1044 sind neben de Guignes und P8tis de La Croix die Kompilationen jesuitischer Lettres 8difiantes durch Jean-Baptiste du Halde (Isabelle Landry-D8ron, La preuve par la Chine. La Description de JeanBaptiste du Halde, Paris 2002) und die jesuitische Kompilation bzw. Übersetzung chinesischer Historien durch Joseph-Anne-Marie de Moyriac de Mailla (Histoire g8n8rale de la Chine ou Annales de cet Empire, Paris 1777 – 1785) die Hauptquellen. Zu letzterem Nicolas Standaert, Jesuit Accounts of Chinese History and Chronology and their Chinese Sources, in: East Asian Science, Technology, and Medicine 35 (2012), 11 – 87. Man mag anführen, dass die narrativ-konzeptuelle Formung des Materials bei Gibbon selbstverständlich durch die britisch-aufklärerische Brille erfolgt, aber hier unweigerlich gerade Ferguson oder Robertson zu identifizieren (und nicht allgemein eine aufklärerische Dichotomie von Naturvölkern vs. zivilisierten Völkern), scheint mir unmöglich. 9 Zum Verhältnis von Gibbon und Hume hinsichtlich der Religionsgeschichte vgl. Girolamo Imbruglia, ,My ecclesiastical historyR: Gibbon between Hume and Raynal, in: Womersley, Gibbon (wie Anm. 2), 73 – 101.

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aber gerade diesen Kapiteln zu Byzanz und zu den Ostkirchen, ja auch zu den Arabern, dann Mohammed und dem Islam als aufsteigender neuer Kraft, ja neuem empire bei Gibbon widmet Pocock dezidiert keinen Platz in seinem Gesamtwerk. Man möchte also pointieren, dass die sechs Bände von BR nicht nur lediglich die erste Hälfte von DF untersuchen, sondern noch weiter sich sehr stark auf nur vier Kapitel von Decline and Fall gleichsam als zentralen Repräsentanten der wirkmächtigen Zersetzungskräfte von ,BarbaryR und ,ReligionR konzentrieren, um dann in BR VI zwar Kapitel XXXVIII von Gibbons Œuvre zu erreichen, aber in viel rascher springender Linienbildung im Vergleich zu den herausgehobenen vier Kapiteln der Grundmotivanalyse. So gibt die Charakterisierung, dass DF eigentlich eine spätantike Geschichte sei, nur Pococks Selektion wieder: Aus vielen Perspektiven hatte er sich an das Werk herangearbeitet, hat gezeigt, was das Werk als Aufklärungsnarrative hätte übernehmen können, aber nur marginal übernahm, und ist dann bei der Spätantike verblieben: Hätte Gibbon vielleicht besser einen Beitrag zum britischen ,Augustan AgeR verfasst?10 Zu Beginn, in Bd. I lenkt Pocock proleptisch den Blick auf Gibbons Werk erhellend mit dem Hinweis auf die ,OstverschiebungR des Gesamtwerks, auf die eurasiatische Prägung: Anstatt unter dem römischen Reich primär nur jenes um 476 untergegangene Westreich zu verstehen, verschob sich Gibbons Blick rasch auf Konstantinopel und Byzanz, und Pocock (BE I, 3; 29 f., 40) erinnert daran, wie sehr Gibbon hier – auch nach seinen eigenen Memoires – in der Tradition der spezifisch laudianisch geprägten frühen anglikanischen Orientalistik stand, beginnend mit jenem Namensvetter von John Pocock, dem 17. Jahrhundert-Orientalisten Edward Pococke.11 Der ehemalige chaplain der Levant Company in Konstantionpel in den 1630ern hatte zuerst auch Wissen über arabische bzw. arabisch-christliche Geschichtsschreibung und ihre Chronologie für die mittelalterliche Zeit in den Kanon der Gelehrtenrepublik eingeschrieben: neben der Abulpharagh (Bar Hebraeus)Übersetzung, die Gibbon benutzt, ist es auch das direkt aus den Manuskripten geschöpfte Specimen historiae arabum, das Gibbon immer wieder heranzieht – nicht von ungefähr, denn bis 1750 war dieses kleine Werk für viele Jahrhunderte der arabischen mittelalterlichen Geschichte die maßgebliche Grundlage; es gab schlicht kaum andere Direktübersetzungen arabischer Geschichtswerke oder Joseph M. Levine, The Battle of the Books. History and Literature in the Augustan Age, Ithaca, London 1991. 11 Vgl. hierzu G. J. Toomer, Eastern Wisedome and Learning. The Study of Arabic in Seventeenth-Century England, Oxford 1996; G. A. Russell (Hg.), The ,ArabickR Interest of the Natural Philosophers in Seventeenth-Century England, Leiden, Boston 1994; Alastair Hamilton u. a. (Hg.), The Republic of Letters and the Levant, Leiden, Boston 2005; Simon Mills, A Commerce of Knowledge. Trade, Religion, and Scholarship between England and the Ottoman Empire, c. 1600 – 1760, Oxford 2020. 10

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Chroniken (Bar Hebraeus selbst war ja ein arabischer Christ, kein Muslim). Spätestens im fünften Volume Gibbons (1788) wird dies nicht nur für die ostkirchlichen Fragen prägend: After pursuing above six hundred years the fleeting Caesars of Constantinople and Germany, I now descend, in the reign of Heraclius, on the eastern borders of the Greek monarchy. While the state was exhausted by the Persian war, and the church was distracted by the Nestorian and Monophysite sects, Mahomet, with the sword in one hand and the Koran in the other, erected his throne on the ruins of Christianity and of Rome. The genius of the Arabian prophet, the manners of his nation, and the spirit of his religion, involve the causes of the decline and fall of the Eastern empire. (DF 3, L, 151).

Ganz bezeichnend ist, wie Gibbon mit historiographischem Wahrheitsethos, zugleich aber doch der selbstbewussten aufklärerischen britischen Position klarstellt, dass er selbst keine einzige orientalische Sprache kenne: As in this and the following chapter I shall display much Arabic learning, I must profess my total ignorance of the Oriental tongues, and my gratitude to the learned interpreters, who have transfused their science into the Latin, French, and English languages. (DF 3, L, 151 n. 1)

Diese bewusste Ausstellung der eigenen „ignorance“, zugleich aber das ständig genaue Wiedergeben der Manuskript-Quellen und der strata von Forschung, auf denen seine Darstellung aufruht, ist einer sehr bewussten Auseinandersetzung mit der europäischen Orientalistik seit Erpenius und Edward Pococke sowohl hinsichtlich muslimischer wie vor allem christlich-orientalischer Autoren geschuldet, er studierte Herbelot und die „lists of authors“ und tarikhs, die er selbst nicht lesen konnte, um seinen Wissenshorizont und das Nichtwissen genau abzugrenzen: es ist eine ganz bewusste Markierung von Nichtwissen und der kennerhaften Auswahl der besten Aufklärungsorientalisten.12 Pocock verficht die These, dass die drei Volumes, „which pursue history to 1453“, und die nicht vor 1788 erschienen waren, als Gibbon 1783 nach Lausanne wechselte oder emigrierte 12 Vgl. etwa auch die Fußnoten und Kommentare bei Gibbon DF 3, LI, 238, Fn. 12; das Abwägen verschiedener Prozesse von Vergessen und Kulturverlusten gegeneinander, etwa beim Untergang der Alexandrinischen Bibliothek DF 3, LI, 284 oder beim Abwägen der Ignoranz der Muslime gegenüber der Ignoranz der Europäer: „[T]hey possessed in lazy ignorance the colonies of the Macedonians […] the heroes of Plutarch and Livy were buried in oblivion […]. Our education in the Greek and Latin schools may have fixed in our minds a astandard of exclusive taste; and I am not forward to condemn the literature and judgment of nations, of whose language I am ignorant. Yet I know that the classics have much to teach, and I believe that the Orientals have much to learn“ (DF 3, LII, 352 f.). Lionel Gossman, The Empire UnpossessQd. An Essay on GibbonQs Decline and Fall, Cambridge 1981, 90. Zur aufklärerischen Exposition von Nichtwissen, der Reflexion über die Grenzen mit Blick auf außereuropäischen Kulturkontakt bei imperialen Expansionsbewegungen vgl. Cornel Zwierlein, Imperial Unknowns. The French and the British in the Mediterranean, 1650 – 1750, Cambridge 2016, 185 – 254.

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(BR VI, 506), ein „separate enquiry“ bedürfen, dass Gibbon „was by then no longer studying the decline and fall of the empire achieved by the Roman republic and principate“ (BR VI, 371). Er insistiert, dass die Geschichte des Ostens „must have been in his [Gibbons] mind as he concluded the preceding volume, they were not published until 1788 and must be studied as part of the corpus of historical writing that appeared then. They cannot be examined [sc. hier, in BR durch Pocock], though they cannot be altogether forgotten, as Barbarism and Religion concludes its study of ,the first Decline and FallR“ (BR VI, 480).13 Pocock insistiert weiter, dass es um eine „western history“ gehe, und dass „Scholars wishing to continue the enterprise of Barbarism and Religion through the Decline and FallQs last volumes should therefore enquire, not only on what sources Gibbon drew in constructing this plurality of histories, but in what continuities of discourse he found himself participant […] it would be rash to expect too much; but equally unwise to expect too little of Edward Gibbon or the late EnlightenmentQs capacity for universal history“ (BR VI, 508 f.). Diese Warnung Pococks im Hinterkopf mag man sich doch kurz anhand obiger Tabelle und einiger Hinweise vor Augen führen, was Gibbon seit seiner frühen Studienzeit (wie Pocock selbst anführt) an westlich-orientalistischer Literatur zu Gebote stand: Neben Edward Pococke konstruiert Gibbon seine historischen Informationen über den Mittleren Osten hinsichtlich der arabischen, persischen und frühosmanischen Geschichte im Wesentlichen aus den Werken der führenden englischen, französischen, deutschen und italienischen Orientalisten,14 angeführt von Barth8lemy dQHerbelot, den Übersetzungsarbeiten und der Mohammedbiographie und Abulfeda-Teilausgabe des in Oxford wirkenden Hugenottenabkömmlings Jean Gagnier, Johann Heinrich Hottinger, Simon Ockley, dessen Rekonstruktion der frühen Islam-Expansionsgeschichte nach Mohammed aus den Manuskripten der Bodleian Library geschöpft war und für diesen Zeitabschnitt der frühen Islamisierung Edward Pococke ablöste, dazu die Koranstudien des in Rom lehrenden Maracci, sowie Niebuhrs und Reiskes frühe Grundlagenarbeiten.15 Für die byzan13 Ähnlich BR VI, 7: „[Gibbon embarks] on the ,ByzantineR history […] That did not appear until 1788, as one of a trilogy of volumes […]. The series Barbarism and Religion breaks off at this point, on the premise that the second trilogy differs from the first, in subject matter and method, in so many ways that it should be left to the exploration of other historians, with their own approaches.“ 14 Vgl. zu einer Auswahl Orient-bezogener Autoren aus Gibbons Bibliothek Geoffrey Keynes, The Library of Edward Gibbon: a cathalogue of the books, London 1950) wurde schon bei Claire Gallien, LQOrient anglais. Connaissances et fictions au XVIIIe siHcle, Oxford 2011, 177 – 179. 15 Zu den genannten Autoren vgl. die Literatur oben Anm. 12, dazu weiter Nicholas Dew, Orientalism in Louis XIVQs France, Oxford 2009; Jan Loop, Johann Heinrich Hottinger: Arabic and Islamic Studies in the Seventeenth Century, Oxford 2013; Alexander Bevilacqua, The Republic of Arabic Letters. Islam and the European Enlightenment, Cambridge/Mass., London 2018; HansGeorg Ebert, Thoralf Hanstein (Hg.), Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung, Leipzig 2005; Reinhold Glei, Roberto Tottoli, Ludovico Marracci at work: The evolution of his Latin translation of

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tinische Geschichte konnte er mit guten Griechischkenntnissen stärker auf edierte Originalquellen und Chroniken zurückgreifen, im Übrigen ist seine Hauptautorität in dieser Hinsicht Du Cange, nicht nur mit dessen Lexikonwerken, sondern auch dem editorischen Werk (Anna Comnena) samt Kommentarapparat. Für die Quellen und die Geschichte der christlichen Ostkirchen in ihrer spätantiken und mittelalterlichen Auffächerung bis Indien und China und in ihrer arabischen, syrischen, koptischen Überlieferung sind die zentralen Quellengrundlagen und Autoritäten der zum Protestantismus konvertierte preußische Hofbibliothekar La Croze, der maronitische Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek Giuseppe Simone Assemani sowie EusHbe Renaudot, für Äthiopien Job Ludolph. Die Geographie des Mittleren Ostens und Ägyptens ist insbesondere mit dem ,armchairRAkademie-Geographen Jean-Baptiste dQAnville erschlossen, dessen kommentierende m8moires eine neue Form von Geo-Historie nach der Dynastie der Cassini begründete. Schließlich sind die Werke etlicher gelehrter Levantereisende wie Tournefort, Th8venot, P8tis de la Croix, Thomas Shaw, Beno%t de Maillet, die dem institutionellen Feld des Botschafter- und Konsulnetzwerks der französischen wie britischen Monarchie in der Levante zuzuordnen sind, seine Hauptquellen, nimmt man die Proportion der Zitatfrequenz zum Maßstab.16 Gibbon steht damit gerade für die Geschichte vom 6. bis zum 15. Jahrhundert auf dem diskursiven Gebäude, das die beginnende religionsethnographische, kirchenhistorische, sprachkundliche, geographische und teilweise auch antiquarische (früharchäologische) Erschließung des östlichen Mittelmeerraums und des Mittleren Ostens bis zu diesem Zeitpunkt geschaffen hatte – alle genannten Autoren waren entweder selbst Levante- oder Nahostreisende, waren selbst Kaplane oder Konsuln in diesem Raum gewesen, oder wirkten als Orient-Spezialisten an der Kurie oder den königlich-akademischen Wissenszentren in Paris, Berlin, Oxford oder London. Pocock ist sicher recht zu geben, dass es nicht auf eine schlichte Rezeptionsund Quellengeschichte ankommen kann; Gibbon verhält sich zu jedem dieser Authe QurQa¯n in the light of his newly discovered manuscripts, Wiesbaden 2016. Hier ist noch viel Detailarbeit zu leisten, es gibt immer wieder bemerkenswerte Notizen Gibbons, etwa dass er sich den von Reiske nur ins Deutsche übersetzten Marei wiederum „verbally“ von einem Freund aus dem Deutschen übersetzen ließ (DF 3, LVII, 551, Fn. 67 – Gibbon meint hier Johann Jacob Reiske, Marai, des Sohns Josephs, von Jerusalem. Geschichte der Regenten in Aegypten, in: BüschingQs Magazin für die neue Historie und Geographie 5 [1771], 366 – 454). 16 Martin Mulsow, Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin VeyssiHre La Croze (1661 – 1739), Tübingen 2001; Cornel Zwierlein, Orient contra China: EusHbe RenaudotQs Vision of World History (ca. 1700), in: Journal of the History of Ideas 81, (2020), 23 – 44; ders., Prussia against Rome, 1724 – 1742: Mathurin VeyssiHre La CrozeQs and Giuseppe Simone AssemaniQs Mediterraneist views on the Nestorians in India, in: Mediterranean Historical Review 36 (2021), 237 – 257. Zu Ludolf vgl. Asaph Ben-Tov, Jan Loop, Martin Mulsow (Hg.), Hiob Ludolf and Johann Michael Wansleben. Oriental Studies, Politics, and History between Gotha and Africa, 1650 – 1700, Leiden 2024 [i. D.].

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toren in den Fußnotenbemerkungen oft sehr dezidiert urteilend, er hängt von keinem sklavisch ab und konstruiert zweifelsohne seine Geschichtsnarration ganz eigen. Dies kann nur im Detail studiert werden, was hier nicht ansteht. Es ist oft müßig über Bruch und Kontinuität im Werk eines Autors zu räsonnieren, aber Gibbons frühe Begeisterung für orientalische Studien, für Simon Ockley und William Howells Weltgeschichte, Mohammed und die Araber, wird von ihm selbst schon für den Bath-Aufenthalt 1751 festgehalten,17 die meisten der orientalisierenden Autoren sind, soweit sie schon für die Zeit bis ins 6. Jahrhundert etwas hergeben, auch schon in den frühen Kapiteln, mindestens im Second Volume schon präsent, schon in seinem Essai sur lQPtude de la Litt8rature von 1761 referiert er auf dQAnville, dQHerbelot, George Sale, de Molainville und Adrian Reland.18 dies gilt etwa auch für so rezente Autoren wie Niebuhr, dessen Beschreibung der Arabien-Reise 1761 – 1767 erst 1772 erschien und erst 1776 auf Französisch (letztere Fassung besaß Gibbon). Gibbon war also ganz ersichtlich gerade auch in diesem Literaturbereich am Puls der Zeit, und es spricht mehr für eine Kontinuität als für einen großen Konzeptionsbruch zwischen dem erste und dem letzten Band (1776 – 1788) – auch wenn die sich überstürzenden Ereignisse (Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg, Krimkriege, diwani-Erwerb der East India Company in Indien und zentrale Achsenverschiebung der britischen Politik von atlantische auf asiatische Ausrichtung) sich gerade in dieser Zeit ereigneten. Man muss also die Ostverschiebung des Narrativs und des Konzepts von „Empire“ wohl ernst nehmen. Der historische Akteur ,Roman EmpireR wird bei Gibbon eben anders und neu geprägt, nicht nur im Sinne Pococks als jenes in Rom aus Republik und Prinzipat geborene. Der Neubegründung des ,westlichenR römischen Reiches mit Karl dem Großen werden bis zu Karl IV. und der Goldenen Bulle 1356 bei Gibbon mit raschen Strichen gut 30 Seiten gewidmet und dann im Wesentlichen außer Acht gelassen (DF 3, XLIX, 122 – 149): jene mittelalterlichen Kaiser, die sich römisch nannten im Norden Europas, zählt er nur als Nachkommen der Grafen von Habsburg, und die Konstitutionalisierung des ständischen Gegengewichts im Reich markiert den „striking […] contrast“ zwischen Augustus und Karl IV., welcher letztere „concealed his weakness under the mask of ostentation“ (DF 3, XLIX, 149). Im Vergleich hierzu widmet Gibbon das Vielfache an Seiten seines Werks der Expansion und Pluralisierung der Ostkirche (Nestorianer, Maroniten, Jakobiten), ihrer Missionsmigration, aber auch der Expansion des Islam. Ganz Nordwesteuropa gerät aus dem Blick, Italien taucht bei Gibbon nach den Karolingern im Wesentlichen wieder auf mit Blick auf die Päpste, auf die Stadt Rom, auf Petrarca, Cola di Rienzo – also die säkularen Versuche Brian Norman, The Influence of Switzerland on the life and writings of Edward Gibbon, Oxford 2002, 18, Fn. 60. 18 Norman, The Influence (wie Anm. 18), 57. 17

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der Wiederbelebung ,römischerR (republikanischer) Herrschaft im 14. Jahrhundert, während die nach Italien reisenden nordalpinen Kaiser (die Staufer) nur kurze Randnoten wert sind: Italien ist eigentlich nur noch ein Raum der ImperiumsLeere, der Vergangenheit von West-Rom, eingenommen vom Akteur ,christliche ReligionR in Gestalt des Papsttums in dem von Pocock insoweit natürlich korrekt gewählten Kausalitäten-Binom der beiden siegreichen Überwinder des römischen Reichs ,ReligionR und ,BarbarentumR. Vergleicht man Gibbons Werk mit Montesquieus frankozentrisch-protonationalen Blick auf die Geschichte von Chlodwig über die Merowinger zur Verkrustung des französischen Königtums im Feudalwesen einerseits oder vergleicht man es mit den biederen Historikern des Heiligen Römischen Reiches in Deutschland, die die translatio-imperii-Lehre trotz der lange erfolgten humanistischen Fälschungsnachweisen der Konstantinischen Schenkung (Lorenzo Valla) gern von Augustus bis zu Karl VII. oder Joseph II. weiterführten,19 so ist Gibbons Roman Empire als historischer Akteur eben eine sehr eigene Kreation: Im Grunde ist Kontinentaleuropa nach 476 vollkommen der christlichen Kirche einerseits und den (nicht weiter als Akteure beachteten und beschriebenen) entstehenden unabhängigen Königreichen überlassen, der Akteur ,OstromR hingegen wird in der Dimension von Ungebrochenheit und Kontinuität nach Justinian bis 1453 mit der Dignität ausgestattet, gegen christliche Latinität (expandierendes Papst-Rom, das schon zum Zerfall von Westrom beitrug) einerseits und Islam andererseits eine Zeitlang weiterzubestehen und über die ostchristlichen Kirchen sogar bis Asien weiter auszugreifen. Wenn man die Elemente des Ostens (also griechisch-römische Herrschaft, dann Byzanz, sowie griechische und anderssprachige/-schriftliche christliche Ostkirchen) sowie Asiens (Hunnen, Araber, Islam, Turkstämme, Verbindung nach China) gegen die des Westens bei Gibbon ganz grob nur nach den Proportionen der Inhaltsverzeichnisse gegeneinander aufwiegt, so schmilzt der WestTeil ab Band 4 (1781) gegen durchschnittlich 5 bis 20 % eines Bandes, mit Ausnahme des geradezu melancholischen Schlussblicks auf Rom im letzten Band. 19 Jean Heiss, Histoire de lQEmpire, Contenant son Origine, ses ProgrHs, ses R8volutions, Amsterdam 1733; Louis de Maimbourg, Geschichte von dem Verfalle des römischen Reiches nach Karl dem Großen, Ulm 1768; [Plie-Catherine Fr8ron,] Histoire de lQEmpire dQAllemagne, et principalement de ses R8volutions, 8 Bde., Paris 1771; zu Pfeffel, den Gibbon auch rezipierte, Jörg Ulbert, Les Affaires 8trangHres franÅaises et la constitution du Saint-Empire. La cr8ation de la charge de jurisconsulte du roi pour le droit germanique et son premier d8tenteur Johann Konrad Pfeffel (1723), in: Christine Lebeau (Hg.), LQespace du Saint-Empire du Moyen ffge / lQ8poque moderne, Straßburg 2004, 215 – 224; Jürgen Voss, Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: Johann Daniel Schöpflin (1694 – 1771), München 1979; ders., Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1972.

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Pocock weist darauf hin, dass Gibbon eben eine „history of the medieval west […] never wrote in full“ (BR VI, 445). Mit hoher Aufmerksamkeit analysiert er das letzte Scharnierkapitel LXXXVIII der volumes, die er ins Zentrum stellte, in dem es um den Aufstieg des fränkischen Königtums unter Chlodwig und kurz auch um den Rückfall der britischen Inseln in das nicht-römische ,BarbarentumR der Briten in ,splendid isolationR geht. Pocock zeigt, wie die klassische französische Diskussion (Dubos, Boulainvilliers, Mably, Montesquieu) über das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheiten sowie dem Aufstieg des Feudaladels im Hintergrund stehen, von Gibbon aber nur lose berührt werden. Pocock vermerkt auch, dass Gibbon „is no believer in Gothic liberties or the ancient constitution“ für England (BR VI, 487) und dass er zum Verhältnis der westlichen zur östlichen Geschichte keine Stellung nehme („we have yet no means of knowing“, BR VI, 488). Es deutet sich bei Pocock fast das Bedauern an, dass hier keine „possible metamorphosis into a medieval historian“ (BR VI, 480) stattfand. Vor diesem Hintergrund bleibt erneut unklar, warum der translatio-imperii-Tradition in BR III soviel Raum eingeräumt wurde, da sie für Gibbon eben ganz insignifikant bei Gibbon bleibt. Pocock meint, dass eine „medieval“ Geschichte „therefore modern“ sei (BR VI, 448), die von Gibbon aber letztlich geschriebene eine „late antique“ und daher „early modern“ (BR VI, 457).20 Dies nimmt im Schlussband VI den Gedanken aus dem Band II wieder auf, dass Gibbon sich dem Standardnarrativ der Aufklärungsgeschichte verweigerte: But if it is the metanarrative it is not the narrative of the Decline and Fall; Gibbon did not reiterate the Enlightened narrative as Voltaire, Hume or Robertson had written it. Where they were all historians of modernity, of the ,Christian millenniumR and the way out of it, his Decline and Fall was the history of late antiquity and the way into it – intro a ,modernR history defined as that of ecclesiastical power rather than civil. The lack of a history,modernR in the sense that it traces the preconditions of Enlightenment is the first of GibbonQs departures from the Enlightened narrative considered as a norm – as he clearly knew it to be; but it is not the last. A second occurs when we perceive that the Decline and FallQs later volumes offer no history of the Christian millenium, in the sense of the ascendancy of feudal and clerical power in the Latin west; that history is known and even utilised, but it is not the central narrative. Instead, the later volumes pursue the history of eastern, Greek-speaking empire to the Turkish conquest completed in 1453; a history not narrated by any other philosophic or Enlightened historian of GibbonQs day and age. (BR II, 371)

Pocock kennt also jede Seite von Gibbons Werk, er weiß, dass die Gesamtanlage so ist, er ermittelt geradezu durch Bevölkerung seines ,KabinettsR oder ,GartensR 20 Vgl. zu dieser interessanten Epochen-Semantik allgemein Andreas Mahler, Cornel Zwierlein (Hg.), Zeichen bezeichnen. Frühneuzeitliche Epochenbegriffe: europäische Geschichte und globale Gegenwart / Labelling Times. The ,Early ModernR – European Past and Global Now, Wiesbaden 2023.

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von anderen Historikern und Schreibern der Frühen Neuzeit kontrastiv ein mehr oder minder ,zu erwartendesR Normalnarrativ – und er stoppt im Band VI dort, wo Gibbons Werk nun wirklich aufhört, kongruent mit diesem Normalnarrativ zu sein. Gibbon hat eben diese fränkisch-französische und die britische mittelalterliche Geschichte, die die Rekonstruktion des kulturellen Sockels auch der europäischen Aufklärung gewesen wäre, auf dem er, Gibbon, selbst stand, nicht vorgenommen. Nur die westlich-mittelalterliche Geschichte führt für Pocock zur europäischen Aufklärungs-Moderne, aber Gibbon wende sich gleichsam fehlerhaft hiervon zugunsten der östlich-spätantik-frühneuzeitlichen ab. Mit dieser Teil-Negierung des Nicht-Normalen bei Gibbon ist kongruent, dass Pocock selbst bei der quasi-archäologischen Aufarbeitung des ,BarbarenR-Motivs zunächst solchen Vorlagemöglichkeiten viel Raum gibt, die für Gibbon selbst kaum zentral sind: die lange Analyse von Raynals Histoire des Indes etwa versieht Pocock mit einigen eleganten Markierern der Semi-Relevanz angesichts dessen, dass Raynal – den Gibbon freilich persönlich kannte, und der ihn auch in Lausanne noch besuchte – in Gibbons riesigem Œuvre in einer einzigen Fußnote vergleichsweise kühl erwähnt wird (DF 1, XX, 748, Fn. 74). Pocock gibt zu, dass die Histoire des Indes vielleicht eher zur „prehistory of Revolution than in the history of the historiography of empire“ einzuordnen sei (BR IV, 337), zum anderen ist ihm bewusst, dass Gibbons Decline and Fall historisch dort aufhört (1453), wo Raynal überhaupt erst beginnt (1492), da dieser sich mit der Moderne beschäftigt, aber es gelte bei dieser oder jener Formulierung, „Gibbon might have had these words, or others like them, in mind when he wrote“ (BR IV, 241): Hier gibt sich Pocock also alle Freiheit eines annähernden sowie kontrastiven Vergleichs der Grundzüge des Barbarenkonzepts in Gibbons DF einerseits und den zeitgleichen Analysen Raynals der europäischen Expansion mit dem Verarbeiten des Motivs vom Wilden und amerikanischen Barbaren – es bleibt aber immer bei einem solchen losen Bezug. Auch Robertsons America spielt bei Gibbon zumindest als direkt erkennbare Referenz kaum eine Rolle.21 Raynal und Robertson spannen damit die ,BarbarismR-Konzeptualisierung bei Pocock also zunächst wieder in eine Atlantische Achse ein. Dieser Haltung Pococks eingedenk, einerseits die ,western historyR klassische Antike-Mittelalter-Aufklärung-Moderne und andererseits die ,Atlantische AchseR (wie im Machiavellian Moment) zu präferieren, ist es dann doch bemerkenswert, wie er in BR II und einigen anderen Stellen sehr wohl die euroasiatische Achsen-Präferenz bei Gibbon herausarbeitet und zwar insbesondere bei der Untersuchung des isotopischen Akteurs der ,BarbarenR. Die beiden einzigen Autoren, die wirklich zentrale Quellen Gibbons waren und denen Pocock vertiefte Auf21 Nur etwa fünf Mal allgemein erwähnt, erst in DF 3, LVIII, 590, Fn. 82 ein inhaltlicher Vergleichsvermerk zwischen Belagerung von Nicaea und CortezQ Belagerung von Mexiko.

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merksamkeit widmet für diese euroasiatische Ausrichtung sind Joseph de Guignes (BR IV, part II) und Voltaire (BR II, part II, chap. 7). Etwa 40 Seiten der monumentalen sechs Bände Pococks treffen also Aussagen zum eigentlichen Kern des gibbonschen Werks selbst – diese ,Werk-FigurenR gehen in Pococks Kabinett oder Garten, um die Metapher vom Eingang aufzunehmen, fast etwas verloren. Robert Mayhew hat aber zu Recht auf Pococks in dieser Hinsicht sensible Themensetzung hingewiesen, denn Guignes ist ein sonst in der britischen Aufklärungshistoriographie selten behandelter Stichwortgeber und Korrespondent.22 GuignesQ Frage nach dem Herkommen und Ursprung jener Völker und Stämme, die von Osten her zunächst Westrom (Hunnen) und dann auch noch Ostrom zerstörten und bedrängten (Tartaren, Turkvölker), ist prägend für Gibbons Werk. Die Kräfte des Zerfalls des römischen Imperiums brauchen eine geographisch-zivilisatorische Bewegungskraft, ein ,WoherR. The Roman Empire is on the receiving end of a domino effect originating in north-west China […]. The Decline and Fall – meaning the loss of military control over the Latinspeaking provinces – has now ceased to be a mysterious effect of barbarian movement out of unknown space, and acquired a narrative history whose causes run back to adjustments of Chinese rule. (BR IV, 147 f.)

Pocock erkennt in GuignesQ Darstellung das master narrative für Gibbons ,BarbarenR-Herausforderung von Osten her, und auch für den ,zweiten Fall RomsR, also die osmanische Bedrohung.23 Was Pocock bei der Analyse von GuignesQ Histoire g8n8rale des huns, des Turcs, des Mogols et des autres tartares occidentaux (1756) herausarbeitet, sind im wesentlichen zwei Typen der Verbindung von Europa und Asien, die als Funktionen oder Bewegungskräfte von Aktanten des gibbonschen Narrativs resultieren, will man es mit Greimas artikulieren: a) Entanglement Westen – Osten: Einerseits zeigt er, dass der frühe Sinologe und Orient-Spezialist an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation für die Erklärung des steten Nachwachsens und Nachrückens der Chinesen als Volk im Fernen Osten eines vorherigen Ursprungs bedurfte: Da deren Erfolg nämlich stets gerade in der überlegenen Zivilisation und darin lag, dass sie ihre Gesetzestexte und sonstigen Wissenschaften bei der Migration in die chinesische Festlandtiefe schon mitbrachten, musste Guignes klären, woher diese zivilisatorische Kraft 22 Robert Mayhew, GibbonQs Geographies, in: OQBrien, Young (Hg.), The Cambridge Companion (wie Anm. 8), 41 – 61, hier 54. 23 „This consists of the origins and rise of the Ottoman Turks, who are to bring Hellenistic and Roman history to an end, and needs to be situated in the history of the steppe as Gibbon has inherited it from de Guignes as one of his master narratives“ (John G. A. Pocock, Overview of The Decline and Fall of the Roman Empire, in: OQBrien, Young (Hg.), The Cambridge Companion (wie Anm. 8), 20 – 39, hier 35).

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rührte, die umgekehrt später sogar die anderen söldnerartigen Völker und Krieger bändigte, die von den Chinesen etwa der TQang-Dynastie in Dienst genommen wurden. Diese zivilisatorische Ursprungskraft führte Guignes nach der Publikation der Histoire in Folge-M8moiren, die 1759 ff. vor der Acad8mie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres verlesen und dann gedruckt wurden, auf die Ägypter zurückführen.24 b) Völkerwanderungs-Domino-Effekt Osten – Westen: Umgekehrt werden die Konflikte und Revolutionen in China und der vom chinesischen Reich ausgeübte Druck auf die anlagernden Völker als Gründe für die große Westbewegung der westlich von China gelegenen Völker angeführt. Dies ist die Kausallogik der eurasiatischen Verkopplung, die Gibbon in seinem Gesamtaufbau als explicandum für den Untergang auch Ostroms durch den periodisch wiederkehrenden Druck von Attila bis zu den Osmanen benötigt und die Füllung des isotopischen Akteurs ,BarbarenR in Pococks eigener Analyse bedeutet. Für die Völkerwanderungs-Druck-Analyse zeigt Pocock im Ganzen sehr überzeugend, wie bei Gibbon in mehreren Anläufen der periodische Druckaufbau von 24 Gibbon besuchte im Frühjahr 1763 Paris und traf dort nach eigener Aussage auch de Guignes persönlich (BR I, 248) und frequentierte vor allem Kreise der Acad8mie des Inscriptions et BellesLettres. Dort hatte de Guignes, der auch Fellow der Londoner Royal Society war, das M8moire dans lequel on prouve, que les Chinois sont une Colonie egyptienne (14. 11. 1758, Paris 1759) verlesen. Die Diskussion über das Verhältnis der ägyptischen Hieroglyphen zu den chinesischen Zeichen wurde weiter geführt, gerade in einem Austausch zwischen französischen und englischen Aufklärer, insbesondere geführt von Joseph Needham und de Guignes. Needham hatte Schriftzeichen auf einer (gefälschten) ägyptischen Büste angeblich aus Turiner Beständen als identisch mit chinesischen angesehen und sich hierfür in 1761 vermittelt durch Giuseppe Simone Assemani von einem dortigen chinesischen Konvertiten bei der Beutzung eines chinesischen Wörterbuchs helfen lassen (Joseph Needham, De inscriptione quadam aegyptiaca Taurini inventa, Rom 1761). Nach Diskussionen mit Caylus – den Gibbon auch traf – und Baillie de Breteuil sowie einer Auskunft, die von den Jesuiten in China selbst vom Provinzial R. B8noist in Paris eingeholt wurde, trafen Needham und Guignes, der die Statue und die Zeichen für gefälscht hielt, in Paris, wohl 1763, zusammen, um in der bibliothHque royale die Überprüfung noch einmal mit dem gleichen Lexikon vorzunehmen (vgl. BL London Add Ms. 21416, fol. 1v). Die Originalbriefe an de Guignes, der in der rue des Francs Bourgeois, porte St. Michel, wohnte, und die entsprechenden Dokumente sind in BL London Add Ms. 21416 erhalten und geben so wohl guten Einblick in eines der zentral diskutierten Probleme in den Kreisen, die Gibbon frequentierte, kurz bevor er selbst die Reise nach Rom antrat (Patricia B. Craddock, Young Edward Gibbon. Gentleman of Letters, Baltimore, London 1982, 165 – 229): Tatsächlich spricht viel dafür, dass hier seine Orient-bezogenen Interessen weiter vertieft und geprägt wurden. De Guignes ist für ihn neben dQHerbelot der entscheidende Gewährsmann für Orient-Fragen, vgl. die Zusammenstellung der Urteile DF 3, [Bibl. Index], 1222 f. Pocock kannte S. A .M. Adshead: ,China a Colony of EgyptR. An Eighteenth-Century Controversy, in: ders., J. E. Cookson, M. C. Peters (Hg.), Essays in Honour of N. C. Phillips, University of Canterbury (N.Z.) 1983, 193 – 215; vgl. als wohl dichteste Darstellung zu de Guignes und dem Diskussionsumfeld der 1750er/1760er Jahre Rolando Minuti, Oriente barbarico e storiografia settecentesca. Rappresentazioni della storia dei Tartari nella cultura francese del XVIII secolo, Venedig 1994, 141 – 189.

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Migrationsströmen aus dem Norden erfolgt: the „fierce giants of the north“, seien es Germanen oder Scythen in ihren Subformen (Mongolen, Tartaren, Osmanen): sie alle ,drücktenR aus den Steppen des Nordens entweder im Westen oder im Osten Eurasiens ,nach untenR, ,nach SüdenR, kamen in Bewegung mit den zivilisierten Nationen, adaptierten sich halb und halb und bewegten sich dann (im Fall der skythischen Variante) nach Kriegen im asiatischen Raum nach Westen. In Bezug auf die Germanen formuliert Pocock, „we are concerned with GibbonQs occidental roots rather than his oriental interests“ hinsichtlich dieser Druckausübung (BR IV, 37). From distant spaces marked by the names of unfamiliar peoples and features of geography, we emerge suddenly upon the well-lit theatre of the Decline and Fall. The Roman Empire is on the receiving end of a domino effect originating in north-west China, in which no one people need move far – though some do – to produce a great Volkerwänderung [sic] on the Roman frontiers. We think, as Gibbon did, of these pressures as coming out of the Pontic steppe and invading Rome through the Danube basin; but de Guignes has the nord in mind. From much earlier times – aided no doubt by the legendary migration of Odin, Woden and Fo – came the tradition known to Gibbon that the invaders of Rome came from the north and even from Scandinavia, that vagina gentium where the kingdom of Sweden called itself the kingdom of the Goths. (BR IV, 147)

Und in der Tat, so formuliert Gibbons diese Bewegungslogik zu Beginn von Kap. XXVI, in der er eine Art proto-ethnologische und zugleich freilich halbfiktive Darstellung des ,Ur-LebensR der Nord-Steppenvölker gibt hinsichtlich ihrer Nahrung, ihrer Wohn-Formen (Zelte), ihrer Praxis des Nomadentums und der Wanderung, die sie kriegsfähig und hochmobil machten im Gegensatz zu den an die Scholle gebundenen Ackerbauern und Kultivierern von imperial beherrschten Zonen. The original principle of motion was concealed in the remote countries of the North; and the curious observation of the pastoral life of the Scythians, or Tartars, will illustrate the latent cause of these destructive emigrations. (DF 1, XXVI, 1024 f.)

Diese Ebenen im Norden Eurasiens sind das Sammelbecken des isotopischen Akteurs ,BarbarenR, die immer wiederkehren: In every age, the Scythians, and Tartars, have been renowned for their invincible courage, and rapid conquests. The thrones of Asia have been repeatedly overturned by the shepherds of the North. […] the revolutions of the North have frequently determined the fate of the south […] the victor and the vanquished have alternately drove, and been driven, from the confines of China to those of Germany. (DF 1, XXVI, 1025, 1029)

Wie Pocock feststellte mit Blick auf Gibbons Guignes-Rezeption wird hier ein geohistorisch an sich erstaunlich vager Großraum des Nordens von Skandinavien bis zur Mongolensteppe und noch weiter in Asiens Norden gezogen, um eine Art

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ständig verfügbaren Kausalmotor für ausschweifende gigantische Massen von Nomadenkriegern, zunächst nach Süden, dann nach Osten in seiner Geschichtsschreibung zu besitzen.25 So wie Gibbon immer wieder als ,hidden transcriptR seines Schreibens eine geographische Rahmung des diegetischen Feldes konstruiert – oft Karten und geographische Analysen von dQAnville vor Auge –, versucht er an einer Stelle für diesen ,UrsprungsnordenR auch eine klare Längen- und Breitengrad-Vermessung anzugeben: From the mouth of the Danube to the sea of Japan, the whole longitude of Scythia is about one hundred and ten degrees, which, in that parallel, are equal to more than five thousand miles. The latitude of these extensive deserts cannot be so easily, or so accurately, measured; but, from the fortieth degree, which touches the wall of China, we may securely advance above a thousend miles to the northward, till our progress is stopped by the excessive cold of Siberia. In that dreary climate [befindet sich der Ursprung der Hunnen, später aller anderen Barbaren]. (DF 1, XXVI, 1034 f.)

Was hier in dem ersten Hunnen-Kapitel, das noch das spätantike West- bzw. Gesamtrom betrifft, grundsätzlich angesprochen wird, kehrt als Motiv bei Gibbon dann immer wieder: auch die frühe Sammlung der Turk-Stämme im LVII. Kapitel wird, noch auf ihr „Scythian empire of the sixth century“ zurückgeführt und originär wieder in der „scattered over the desert from china to the Oxus and the Danube“ lokalisiert (DF 3, LVII, 523). Freilich wurden die „northern swarms of Barbarians“ (DF 3, LVII, 531) durch den Koran funktional äquivalent zu Christen relativ stark zivilisiert. Auch Djingis Khans gewaltige Expansionsbewegung 1206 bis 1227 wird in dieser Logik erzählt und eingeleitet als „remote authors of the fall of the Roman empire“ (DF 3, LXIV, 791): „From the spacious highlands between China, Siberia, and the Caspian Sea, the tide of emigration and war has repeatedly been poured“ (ebd.), und dieser Djingis Khan wird eben als der im 13. Jahrhundert aktuelle „monarch of the pastoral world“, die gleichsam transhistorisch in der Nordzone besteht, identifiziert (DF 3, LXIV, 795). Ihre von der Chinesischen Mauer ein wenig abgefederte Expansionsbewegung verfolgt Gibbons auf der quasi auf seinem Arbeitstisch liegenden Landkarte: 1,5 Millionen Mongolen- und Tartaren-Barbaren waren so schnell in ihrem Nomaden-Wander-Training, „that in less than six years they had measured a line of ninety degrees of longitude, a fourth part of the circumference of the globe“ (DF 3, LXIV, 803). Das Auge des historischen Erzählers ,zoomtR zurück, sieht den Globus als Ganzes, und zeigt dem Leser, wie der historische Akteur ,Barbaren-MasseR innerhalb einer ver25 „It is as if the Scandinavian peninsula were perceived as a promontory of northern Asia, not yet part of the ,EuropeR defined as the lower penin-sula between the Baltic and Mediterranean seas. The central Asian steppe, however, offers a direct route to the heart of Europe“ (BR IV, 148); „De Guignes had used the collision of two wholly static cultures to provide the history of barbarism with a dynamic covering the history of Eurasia as a single system“ (BR IV, 153).

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gleichsweise winzigen Zeitspanne China und den Bosporus, das Donau-Becken verbindet, eben jene von Pocock hervorgehobene eurasiatische Verklammerung. Die Osmanen als Abkömmlinge der Turkstämme waren schon länger in Mittelasien und im Mittleren Osten angekommen, ihr Aufstieg ergibt sich aus dem Fall der Mongolen („the decline of the Moguls gave a free scope to the rise and progress of the Ottoman Empire“, DF 3, LXIV, 809). Die Expansion der Osmanen nach Anatolien und später bis ins byzantinische Hinterland ist dann aber nicht ohne die Islamisierung und die Verinnerlichung des Korans zu verstehen. Gibbon greift hier auf die gazi-Ideologie zurück, die im 20. Jahrhundert Gegenstand einer klassisch gewordenen Debatte in der Osmanistik wurde.26 Die Zentralität von de Guignes für Gibbon ist insoweit von Pocock zu Recht hervorgehoben, dass nicht nur in den Hunnen-Kapiteln der drei Bände, sondern auch an vielen dieser Scharnierstellen in den letzten beiden volumes wieder kurz oder umfangreicher auf Guignes als Referenz für diese Nord-Süd-dann-West-Bewegung von Gibbon referiert wird. Allerdings gibt es Elemente in diesen letzten Bänden Gibbons, die eben überhaupt nicht bei Pocock erfasst sind, insbesondere das Verhältnis von Arabern/Mohammed zu Osmanen/Osmanischem Reich/Mehmet: Für Gibbon scheint der endgültige Untergang Roms – auch wenn er ohnehin die Schwäche des zweiten Rom Byzanz oder des häufig so genannten „Greek Empire“ betont – doch nur durch diese Amalgamierung von Islam mit Turk-Osmanentum erreicht worden zu sein. Das oben zitierte Auftreten Mohammeds zu Beginn von Kapitel L,27 seiner Biographie und des frühen Kalifats ist von Gibbon in einem hohen, erhabenen Ton der Bewunderung beschrieben, hier Erbe der frühen Mohammed-Biographien von Prideaux, der Koran-Übersetzung Maraccis und von Ockleys Islam-Expansions-Geschichte neben anderen Werken.28 Dazu ist aber die Charakterisierung der Araber als Volk, aus dem Mohammed hervorging, zu lesen. Sie sind ein ganz neuer Akteur-Typ, der mit den Zersetzungsakteuren ,BarbarenR und ,ReligionR nicht kongruent ist, sondern ein produktiver Akteur des empire-building. Offenbar ist Gibbon gerade hier von Niebuhr und dessen Schilderung des Jemen und seiner Charakterisierung der Araber geprägt.29 Die Araber werden als nie wirklich Cemal Kafadar, Between Two Worlds: The Construction of the Ottoman State, Berkeley 1995. Abschnitt hinter Anm. 12. 28 J. J. Saunders, Mohammed in Europe: A Note on Western Interpretations of the Life of the Profit, in: History 39, 135/136 (1954), 14 – 25; Bernard Lewis, Gibbon on Muhammad, in: Daedalus 105 (1976), 89 – 101; Womersley, Gibbon and the ,WatchmenR (wie Anm. 3), 147 – 172. 29 Vgl. die Verweisdichte auf Niebuhr in Kap. L. Pocock hat in BR II, 110 festgestellt, dass schon Voltaires Darstellung des Volkscharakters der Araber positiv und nobel im Vergleich zu dem der Juden war, aber ohne Verweis auf Gibbons Werk. In der Tat ist dies eine andere, oft eben auch positive Traditionslinie der Wahrnehmung der ,tugendhaften, naturnahen, honestenR Araber, die man sehr wohl auch der Aufklärung zuschreiben kann. Zu Niebuhrs Beschreibung der Araber als ,nationR, 26 27

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besiegtes Volk von Freien beschrieben, die keinerlei Vergleichszüge mit den Barbaren des europäischen wie asiatischen Nordens tragen. Ein entscheidender Charakterzug dieses Volksstamms ist die perpetual independence [of the Arabs] […] the body of the nation has escaped the yoke of the most powerful monarchies […] The long memory of their [sc. Arab] independence is the firmest pledge of its perpetuity, and succeeding generations are animated to prove their descent and to maintain their inheritance. […] Their spirit is free, their steps are unconfined, the desert is open, and the tribes and families are held together by a mutual and voluntary compact […] and, since mankind must be either compelled or persuaded to obey, the use and reputation of oratory among the ancient Arabs is the clearest evidence of public freedom. (DF 3, L, 158, 161)

Auf Niebuhr und Edward Pococke zurückgreifend, vergleicht er diese angeblich herrschende Praxis deliberativer Rhetorik mit Demosthenes, welcher zwar überlegen ist, aber dies deutet schon den Vergleich mit den ,westlichR-antiken Republiken an: But their simple freedom was of a very different cast from the nice and artificial machinery of the Greek and Roman republics, in which each member possessed an undivided share of the civil and political rights of the community. In the more simple state of the Arabs, the nation is free, because each of her sons disdains a base submission to the will of a master […] The liberty of the Saracens survived their conquests. (DF 3, L, 161)

Die Araber der Vor-Mahomet-Zeit werden in ihrer „hospitality“ mit Abraham und Homer in ihren Sitten verglichen (DF 3, L, 165). „Arabia was free […] The liberty of choice was presented to the tribes: each arab was free to elect or to compose his private religion“ (170 f). Die „free society of the Arabs“ ist die Umgebung, in der der „genius“ Mohammed geboren wird, seine ersten Erkundungsreisen nach Syrien betätigt und in Einsamkeit seine Inspiration erfährt („solitude is the school of genius“, ebd., 176). Die Vermittelbarkeit seiner Offenbarungsreligion ergibt sich aus der genialen Einfachheit, aus einem „rational enthusiasm“, mit dem der Monotheismus wieder in sein Recht gesetzt wird. But Mahomet was content with a character, more humble, yet more sublime, of a simple editor: the substance of the Koran, according to himself or his disciples, is uncreated and eternal; subsisting in the essence of the Deity, and inscribed with a pen of light on die frei, im Gegensatz zu den tyrannisch unterdrückenden Osmanen ist und gegebenenfalls sogar noch Reste paganer vor-islamischer Religiösität bewahrt, vgl. Han F. Vermeulen, Before Boas: the Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment, Lincoln 2015, 252 – 267; Lawrence J. Baack, Undying Curiosity: Carsten Niebuhr and The Royal Danish Expedition to Arabia (1761 – 1767), Stuttgart 2014, 313 f.; Friedhelm Hartwig, Carsten Niebuhrs Darstellung von Jemen in seiner ,Beschreibung von ArabienR (1772) und dem ersten Band seiner ,Reisebeschreibung nach ArabienR (1774), in: Josef Wiesehöfer, Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr, 1733 – 1815, und seine Zeit, Stuttgart 2002, 155 – 202; Annette Katzer, Araber in deutschen Augen. Das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Paderborn 2008, 201 – 203.

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the table of his everlasting decrees. […] The word of God, and of the apostle, was diligently recorded by his disciples on palm-leaves and the shoulder-bones of mutton; and the pages, without order of connection, were cast into a domestic chest in the custody of one of his wives. Two years after the death of Mahomet, the sacred volume was collected and published by his friend and successor Abubeker. (Ebd., 181)

Die ursprüngliche Ermächtigung des „sovereign“ des an sich „independent people“ in devotem Enthusiasmus (ebd., 196) stattet ihn mit den (von Gibbon in quasi grotianischer Sprache beschriebenen) Souveränitätsrechten der „just prerogative of forming alliances, and of waging offensive or defensive war“ aus, und diese Ermächtigung sei vergleichbar mit jener von Moses, den Richtern oder Königen Israels (ebd., 197), welche im christlichen Kontext die Grundlage für alle Religionskriegstheorien seit Bucer, Calvin, Bullinger, Vermigli und anderen gewesen waren. Die Expansion des Islam nimmt von diesem spirituellen Moment seinen Ausgang und Gibbon beschreibt ihn mit allen Tönen und Farben der empathischen Bewunderung für eine zivilisatorische Leistung. Über den frühen Kalifen Omar wird zusammenfassend gesagt Under his reign, and that of his predecessor, the conquerors of the East, were the trusty servants of God and the people […] a prudent mixture of justice and bounty, maintained the discipline of the Saracens, and they united, by a rare felicity, the dispatch and execution of despotism, with the equal and frugal maxims of a republican government. (DF 3, LI, 236)

Die ganze islamisch-arabische Expansion (Ägypten, Nordafrika, al-Andalus) wird erzähllogisch bei Gibbon also nicht auf die Nord-Süd-Ost-Bewegung der vagina gentium im Norden der asiatischen Steppen zurückgeführt, sondern hat seinen Ursprung autark in der Freiheitlichkeit eines nie unterworfenen Volkes, das auch eine Bildungs- und Schriftkultur entwickelt, die es als zivilisiert auszeichnet, und das seine Bewegungskraft aus dem Enthusiasmus der monotheistischen Offenbarung und Prophetie Mohammeds herleitet. Es gibt auch eine „essential difference […] between the hords of Scythia and the Arabian tribes“, da die Araber neben dem Beduinen-Leben durchaus auch die Urbanisierung (42 Städte nach Abulfeda im ältesten Jemen) kannten (DF 3, L, 156). Araber und Mohammed sind so ein ur-republikanischer Akteur am Ursprung eines noch fernen Empires.30 Gibbon hatte in DF 1 seine Geschichte ja erst im 2. Jahrhundert begonnen und die Gründung und erste Expansion zwar auf die römische Republik zurückgeführt, diese aber gar nicht näher analysiert. Mit dem 30 Soweit ich sehe, wird ,RepublikanismusR für Gibbon nur mit Hinblick seiner biographischen Situation und Haltung zur Schweiz und später zur Französischen Revolution untersucht, nicht der hier konstitutive Niebuhr-Arabistische Republikanismus in DF, vgl. B8la Kapossy, Richard Whatmore, Gibbon and Republicanism, in: OQBrien, Young (Hg.), The Cambridge Companion (wie Anm. 8), 128 – 146.

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Akteur Arabern/Mohammed taucht so eigentlich erstmals ein republikanisch-imperialer Akteur auf, den man dem Strukturmuster nach dann mit Römern und ansatzweise mit den Griechen vergleichen müsste, wie er es selbst andeutet. Es wäre zu einfach, die osmanische Expansion gleichsam als monarchisch-imperiale Folgestufe nach der arabischen republikanischen Expansion mit römischer Republik und Kaisertum zu parallelisieren; diese Parallele zieht auch Gibbon nicht explizit, und das Verhältnis von Turkvölkern zu Arabern wird im Detail nicht charakterisiert: Die Turkvölker sind wieder (de Guignes folgend) skythische Barbaren eher bäuerlichen Typs, die ihren „native barbarism“ (DF 3, LVII, 554) auch bis in die Spätzeit nicht ablegen. Durch den Islam und die Heilige-Kriegs-Ideologie sind sie mit den Arabern verbunden, ihre Sitten werden durch letztere und die Perser verfeinert, aber die Bewegungskraft nehmen sie eher wieder aus dem Barbarischen. Doch ist der Erfolg der Imperiengründung mit Charakterbildern von Mehmet I. zum Konstantinopel-Eroberer Mehmet II. (DF 3, LXVIII, 934 ff.) auf dieser auch enthusiastisch-republikanischen Grundlage der arabischen Islamisierung aufgebaut: Damit erzählt Gibbon mitten in Decline und Fall eben auch die Entstehung eines Reiches mit kausallogischen Strukturmustern. Das ist für Gibbon sicher zentral und es scheint kaum wahrscheinlich, dass dieser Grund-Plot nicht von Anfang an geplant war, denn die osmanische Eroberung Konstantinopel ist schon 1776 im ersten Vorwort und auch im Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes 1782 deutlich als eine der drei Epochen erwähnt (DF 1, Pref., 1 – 3). Es ging von Beginn an nicht nur um die westliche Geschichte, sondern um die mehrschichtige West-Ost-Verstrebung, nicht nur von periodisch wiederkehrenden zerstörerischen ,BarbarenR, sondern auch der Genese und Stabilisierung eines östlichen Imperiums aus Arabia felix einerseits und der anatolischen Tiefebene andererseits.31 Auch der Akteur der christlichen Religion, dessen Aufstieg im und ,am BusenR des Imperiums im XV. und XVI. Kapitel von Gibbon große Aufmerksamkeit bei Pocock eingeräumt wird, hat bei Gibbon in den hinteren Kapiteln seine vielgestaltige Entwicklung und Eigendynamik. Hier ist Gibbons Hauptreferenz zwar nicht mehr Le Clerc, dem von Pocock fast als einzigem eine detaillierte Einzelanalyse gewidmet wird, aber die Kapitel XV und XVI sind doch erzähllogisch ganz deutlich von Gibbon mit der Funktion der christlichen Religion und ihren Denominationen auch für den Second Fall verbunden; gerade das östliche Christentum macht eine Verbindung der beiden Niedergänge von West- und Ostrom sinnvoll. Das von Pocock mehrfach fast mit Bedauern geäußerte Faktum, dass Gibbons Werk über weite Strecken doch viel ,kirchenhistorischenR Charakter aufnimmt, Pocock, BR II, 372 f. ist sich dieses Werkplans im Preface von 1776 bewusst, zitiert ihn wörtlich, aber vertritt später, vor allem in BR VI, immer die ,BruchR-These (ab 1783 in Lausanne / ab 1788 habe sich die Werkausrichtung gänzlich ,verschobenR). 31

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hat gerade mit Blick auf Gibbons Kausalanalytik der Wirkkräfte seinen Sinn – er erzählt ja keineswegs devot oder parteinehmend, sondern insoweit aufklärerisch auf die Funktion von Religion blickend. So wird dem Schisma mit der lateinischen Kirche großer Erzähl-Raum gewidmet: „the schism has precipitated the decline and fall of the Roman empire in the East“ (DF 3, LX, 655), in dieser Hinsicht ist das „venom of religious zeal“ (ebd., 660) auch im 10. bis 12. Jahrhundert ein zentrales explicandum. Die Griechen werden als in einem langen Schlaf befindlich beschrieben, die schon von der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer überrascht werden („By the recent invasion, the Greeks were awakened from a dream of nine centuries; from the vain presumption that the capital of the Roman empire was impregnable to foreign arms“, ebd., 685). Dies erscheint als prolepsis der dann von Osten erfolgenden Invasion. „The Greeks, by their intestine divisions, were the authors of their final ruin“ (DF 3, LXIV, 813): Hier meint man Echos der Beurteilung der Griechen zu verspüren, die Gibbon zum Zeitgenossen von Reisebeschreibenden wie Richard Pococke und anderen machten, die zwar philhellen waren, aber die im 18. Jahrhundert lebenden Griechen als depravierte Abkömmlinge und schwache Nation erfuhren, die unter dem Joch der Osmanen vielleicht nicht zu Unrecht ihr Dasein fristeten.32 Mit geographischem Amüsement stellt Gibbon für die Ausdehnung des ,ReichesR unter Johannes Paleologos (1355 – 1391) fest: „The Roman world was now contracted to a corner of Thrace, between the Propontis and the Black Sea, about fifty miles in length and thirty in breadth“ (DF 3, LXIV, 823), und im Jahr der Eroberung 1453 durch Mehmet II. überlässt Gibbon als Erzähler ohne größeres Lamentieren oder Mitleiden den kleinen Imperiumsrest dem Sieger: „The remaining fragments of the Greek kingdom in Europe and Asia I shall abandon to the Turkish arms“ (DF 3, LXVIII, 971) und leitet eine kleine gelehrsame Übersicht der dem interessierten Leser vielleicht hilfreichen Bücherliste und Einführung in die benutzte byzantinische Historiographie mit den Worten ein: „As I am now taking an everlasting farewell of the Greek empire, I shall briefly mention the great collection of Byzantine writers, whose names and testimonies have been successively repeated in this work“ (DF 3, LXVIII, 976, Fn. 97). Keine Lamentatio, kein opfernaher Schmerz auf der Seite ,des WestensR, nur ein leichtes Winken ,farewell, goodbyeR – während den inzwischen aufgestiegenen Mächten, zuletzt den osmanischen Sultanen viel eher erzählerperspektivisch Respekt für Größe und Rang im Gefüge der welthistorischen Ereignisse gezollt wird. Das romantisch-historisierende Hinsinnen auf das Dahinversunkene reicht eher auf die frühe Größe und historische Tiefe des alten Roms,

32 Vgl. nur Rachel Finnegan, Richard PocockeQs Letters from the East (1737 – 1740), Leiden, Boston 2021.

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auf die Ruinen Athens zurück, dass hier Christentum vom Islam überwunden wird, ist für sich keiner Wertung bedürftig bei Gibbon. Für diese letzten Jahrhunderte geht beim Leser zunehmend das Bewusstsein für die Identität zwischen ,römischem ImperiumR und Byzanz verloren, das immer mehr auch nur als ,Greek empireR oder als Herrschaft ,der GriechenR beschrieben wird. Welthistorisch erscheint es eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon genauso unbedeutsam wie oder noch unbedeutsamer als das kaum gestreifte mittelalterlich erneuerte West-Rom der Karolinger und Ottonen. Man könnte denken, es bräuchte einer größeren Tragik am monumentalen Schluss, einen Second Fall voller Größe – aber genau deshalb ist Gibbons Werk eben vielleicht gar keine aufklärerische Geschichtsschreibung, die Pocock sucht, sondern das erste große Geschichtswerk der Romantik: Für die Kausalmotorik der Geschichte reicht es, zu zeigen, wie die Ostkirchen weiter ihren Dispersionseffekt haben. In den Kapiteln LX bis LXVII wird den Ostkirchen viel Raum gewidmet, aber eigentlich nicht bewundernd oder emphatisch in dem Sinne, dass man hier das Ausgreifen der Nestorianer bis in den Mittleren Osten, der Thomaschristen bis Indien und erneut der Nestorianer bis China als ,LeistungR des Christentums begreifen könne – sondern Gibbon will so, jedenfalls mit Blick auf das byzantinische Imperium, die nicht intendierte Doppelschadhaftigkeit dieser sich abspaltenden kirchlichen Gruppierungen aufzeigen: einerseits trägt die Pluralisierung der kirchlichen Gruppierungen zur inneren Schwäche, zu Streit und Zwist, schließlich auch im Verhältnis zum Papsttum bei, was schon die in Kap. XV und XVI beschriebene Funktion im First Fall gewesen war. Andererseits führen die migrierenden schismatischen Kirchen den muslimischen und/oder paganen Herrschern weiter im Osten eine große Zahl schutzbedürftiger und damit tributzahlungswilliger Untertanen zu: Die Toleranz der Perser und dann der Osmanen gegenüber Nestorianern oder später im Reich allen Gruppierungen (Kopten, Jakobiten, Melkiten), hat ihre funktionale Dimension in dieser Hinsicht: „In every age, a principle of toleration has been fortified by a sense of interest; and the revenue of the prince and his emir was increased each year, by the expence and tribute of so many thousand strangers“ (DF 3, LVII, 550). Die wirtschaftliche und funktionale Dimension von Toleranzpolitik war seit dem 16. Jahrhundert Teil des Argumentationshaushalts, sie war insbesondere auch Teil der englischen analytischen Staatsbeschreibung hinsichtlich des Osmanischen Reiches bei Paul Rycaut, den Gibbon nutzte, und welcher eine Art islamisches Staats-Toleranzkonzept seit Mohammed nach einer arabischen Fälschung des Gabriel Sionita zentral bekannt gemacht hatte.33 Hier wird dies gerade für den islamischen Raum als überzeitlich gültige, analytische Kategorie für größere Zusammenhänge in jahrhundertelan33 Genauere Nachweise bei Cornel Zwierlein, Tol8rance et Controverse confessionnelle entre Occident et Orient, XVIe–XVIIIe siHcle (in Vorbereitung).

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gen Geschichtszusammenhängen eingesetzt: die West-Ost-Bewegung der Kirchen in ihrer christlichen Missionsarbeit führt zwar so zu einem kulturell-religiösen Entanglement, bei genauer Betrachtung verstärkt sie aber sogar wie ein gegenläufiger warmer Strom in größerer Wassertiefe die genau gegenläufige Bewegung Ost-West der nicht-christlichen Völker, die periodisch gen Ostrom rücken, da die Völker von diesen migrierenden Untertanen als Abgabenzahler profitieren. Das oströmische Reich blutet so gleichsam zweifach aus. So sehr Gibbon also mit auch einiger theologischer Genauigkeit die Streitpunkte innerhalb der Kirche darstellt, die Details der Streitabläufe und die Biographien der Hauptakteure wie von Nestorius selbst mit (in Relation zum eher säkularen Gesamtskopos doch bemerkenwertem) Feingefühl beschreibt, so sehr gerät nicht die Gesamtfunktion von Streiten, Unionsbewegungen, Pluralisierungs- und Spaltungsbewegungen wie Migrationen für Decline and Fall aus dem Blick. Bezeichnender Weise ist dabei Kapitel LVII neben wenigen anderen kurzen Passagen das einzige Kapitel, in dem Gibbon die an sich vorgegebene Erzählzeit bis 1453 verlässt und bis in seine Erzählgegenwart hinein das Schicksal der Ostkirchen vor allem in China (Nestorianer) und Indien (Thomaschristen) verfolgt, in denen Jesuiten, andere Missionare und Händler der trading empires den Nachkommen der frühmittelalterlichen ostchristlichen Migranten dort begegnen.34 Es ist, als ob Gibbon damit en passant das Hineinragen Ostroms in seiner kirchlichen Dimension wie ein mediterranes Erbe und Ausstrahlen in den Fernen Osten hinein, wie ein lebendes Monument miterfassen will:35 vergleichbar den steinernen Ruinen des paganen westlichen Imperiums, die in Rom zu betrachten waren. Dies führt zu einer weiteren Ebene des gibbonschen Schreibens, die mir schließlich auch bei Pocock wenig behandelt zu sein scheint: Pococks Interesse gilt den Plot-Strukturen, der Imperienzyklik und der Völkerbewegungslogik im eurasiatischen Raum, unterfüttert durch dichotomische Unterschiede zwischen Barbaren/Zivilisationsvölkern und Religion/Imperium, Barbaren/Imperium. Er sucht nach der Aufklärungshistorie, er vermisst den Weg vom Mittelalter zur Moderne. Wenig Ausführungen macht er zu dieser abwägenden Gesamtsicht des Erzählers, dem historischen Tiefensinn eines frühromantischen Geschichtserzählens: Durch Gibbons Werk zieht sich aber immer wieder dieses Auftauchen der Erzählerstimme in der Betrachtung des historischen Gesamt, der Ruinen, der Koexistenz von Vergangenheitsüberresten als Monumenten, Derivaten von 34 „Since the expulsion of the Portuguese, the Nestorian creed is freely professed on the coast of Malabar. The trading companies of Holland and England are the friends of toleration; but if oppressioon be less mortifying than contempt, the Christians of St. Thomas have reason to complain of the cold and silent indifference of their brethren of Europe“ (DF 2, XLVII, 968, vgl. auch 998 – 1002). 35 „[A]fter a period of thirteen hundred and sixty years, the spark of controversy, first kindled by a sermon of Nestorius, still burns in the bosom of the East“ (DF 2, XLVII, 979).

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einst Blühendem und Restgruppen wie jenen übriggebliebenen Nestorianern in Asien mit der lebendigen Gegenwart und ihren Konvulsionen. So endet das Gesamtwerk eben auch in Kapitel LXXI mit dem Ruinenrom, wie es der GrandTour-Reisende des 18. Jahrhunderts kannte. Statt großen Imperien-Kausalanalytiken setzt er noch einmal zu einer kleinen Kausalbetrachtung ein – um vier Gründe für den Verfall auch noch der Erinnerungsorte, der Ruinen selbst, also dem Untergang der Überreste des Untergangs, zu entwickeln: Eigentlich ist diese Ebene jene, wo Gibbon am stärksten bei sich selbst ist, in einer eher kontemplativen, erhaben-distanzierten, manchmal auch ironischen und amüsiert-amüsierenden,36 und so auch genießenden Haltung zur Geschichte, weniger in einer rein geschichtsphilosophischen Geschichtsschreibung, der es auf die proto-soziologische Entdeckung von institutionellen und historisch-kollektiven Regelmäßigkeiten ankommt. In den 20 Zeilen des allerletzten Schlussabschnitts von Gibbons Werk steht nicht die Dichotomie von Barbarism & Religion, sondern Gibbon reflektiert über die Wirkungsästhetik von Geschichte und Geschichtsschreibung: „every reader“ wird „excited“ sein, seine „attention“ wird erregt sein durch die „awful scene“ von „decline and fall of the Roman empire“, auch die Kausalkräfte sind Wirkungsbeziehungen, die auf Staunen, Erhabenheitsgefühl stoßen, „events most interesting“ gilt es zu erfahren. „[A]mong the ruins of the Capitol“ in Rom habe er, Gibbon, zum ersten Mal in der fühlenden Erfahrung der Reminiszenzen des Reiches den Plan zum Werk gefasst und für zwanzig Jahre habe diese Arbeit ihn „amused and exercised“, die er nun der „curiosity and candour of the Public“ zu Verfügung stelle: diese hier angedeuteten Elemente einer Wirkungsästhetik historiographischer Produktion und ihres Kontexts in frühromantischen Zirkeln (man denke an Shaftesbury-Kreis, Richardson-Briefroman-Lesekultur, spätere Ossian-Begeisterung) wäre sicher noch als Meta-Kontext einer eigenen zusammenhängenden Beleg-Zusammentragung und Gesamtanalyse wert gewesen. Pocock hat 2016 in einem B&R gewidmeten Sonderheft des Journal of the History of Ideas sein Anliegen noch einmal zusammengefasst: The ,contextR (or rather contexts) I sought to establish in these volumes were and are intended to constitute a history of historiography: that is to say, the history of a series of historiographies, to each of which GibbonQs text belongs, so that we may read it as situated in a series of interlocking contexts. [… dies gehorcht der Konzeption …] to se„The Roman empire (I smile in transcribing the name) might soon have sunk into a province of Genoa“ (DF 3, LXIII, 790). – „Narrative is repeatedly described as the essence of GibbonQs historical work, but goes unanalyzed [sc. by Pocock]“ (David P. Jordan, Barbarism and Religion: Where is Gibbon the Historian?, in: History and Theory 40 (2001), 385 – 392, hier 391 – mit Verweis auf Harold T. Bond und Leo Braudy. Vgl. auch W. B. Carnochian, GibbonQs Solitude. The Inward World of the Historian, Stanford 1987, 79 – 100 zur Ironie. Zur (v. a. klassisch-deutschen) Ironie in ihrer gelehrt-philosophischen Form am Beginn der Romantik vgl. nach wie vor Ingrid StrohschneiderKohrs, Romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 1960. 36

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parate the history of ,EnlightenmentR into a number of histories occuring in distinguishable contexts. [Decline and Fall sei letztlich eine Geschichte der Emergenz um 1700 einer Opposition zwischen politisch-sozialen Beziehungsgefügen der säkularen Welt auf der einen und von Kirche und Theologie auf der anderen Seite. Gibbons Geschichte des frühen Christentums ist die nötige Wiederholung (reiteration) der in der Aufklärung geführten Reflexion über die Natur des offenbarten und Fleisch gewordenen Gottes in ihren eigenen Termini.] This is how I have tried to present the theology and historiography of theology that provides the Decline and Fall with its context, and I do not see how a more comprehensive or cosmopolitan version of Enlightenment […] could have been offered.37

Auch hier geht es Pocock wieder um Enlightenment, nur das könne man bei Gibbon suchen und finden. Es bleibt eine nicht ganz zu klärende Frage, warum Pocock sich dermaßen der zweiten Hälfte von Gibbons Werk verweigert hat. Er deutet nie an, dass es etwas mit Alterslast, Bescheidung zu tun habe, dass es sich um einen torso handele, sonden von BR II bis BR VI zeigt Pocock immer wieder, dass er ganz genau den gewaltigen Überschuss von Gibbons eigentlichem Werk und Anliegen gegenüber dem Teil, den er dann rekonstruiert, kennt. Die milde Form, dies zu erklären, mag sein, dass Pocock die Aufklärung suchte und so die Frühromantik nicht fand, die bei Gibbon deutlich fühlbar ist – er sucht schottische Aufklärer, Voltaire, Raynal und ihre auf Moderne hingerichtete teleologische Linie38 – und sieht nicht den vielleicht zwar noch nicht historistischen, aber jedenfalls eher ästhetisch-romantischen Erforscher und Genießer von Geschichte. Die weniger milde Form wäre zu suggerieren, dass sich hier bei Pocock als Vertreter der Cambridge School, die natürlich einst in der Abwendung von Arthur Lovejoy und Leo Strauss39 und anderen Ideenhistorikern durchaus eine selbst aufklärerisch-progressive und institutionell immer atlantische, gerade UK und US verbindende Schule war und ist, ein Hauch von Ideologie niederschlägt. Nicht dass man eine Auswirkung des 11. September 2001 auf die Ausrichtung von Pococks Werk, das 1999 begonnen wurde, nachweisen wollte oder könnte – Aber das fast ostentative Sich-Verwehren, Gibbons Hinwendung zum Orient, Byzanz, zum 37 John G. A. Pocock, Response and Commentary, in: Journal of the History of Ideas 77 (2016), 158, 165 f. 38 Einer der häufig am Machiavellian Moment geäußerten Kritiken war ja ähnlich, dass der Schritt Florenz/Machiavelli – Harrington/England/1689 – Federalist Papers/USA eine US-amerikanische atlantische Achse durch ,dieR Republikanismus-Tradition gelegt hatte, die schon innerhalb Europas eine Fülle andersartiger Republikanismen gänzlich ausblendete, vgl. Lea Campos Boralevi, Diego Quaglioni (Hg.), Politeia biblica, Florenz 2002; Lea Campos Boralevi, Classical Foundational Myths of European Republicanism: The Jewish Commonwealth, in: Martin van Gelderen, Quentin Skinner (Hg.): Republicanism. A Shared European Heritage, Cambridge 2002, 247 – 261. 39 Cornel Zwierlein, Politische Theorie und Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2020, 41.

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Islam und seiner Geschichte und eben auch dem Aufstieg des Osmanischen Reiches nachzuvollziehen, das Beharren darauf, dass es sich um eine „western history“ handele (handeln müsse), lässt doch ein Substrat von Westen im Sinne von „the West and the rest“ hervorschimmern. Wie oben versucht wurde anzudeuten, scheint es mir nicht so schwer, ein homogenes Gesamtkonzept bei Gibbon zu finden, und es erscheint sogar feinfühlig und fast prophetisch, dass Gibbon die euroasiatische Verschiebung so vollzieht, und zwar genau in dem Moment, als es für Großbritannien auch globalpolitisch bis ins 19. Jahrhundert hinein um diese Verschiebung, gerade weg von der atlantischen Achse, gehen musste. Die West-OstVerschiebung des europäischen Staatensystems hatte spätestens mit dem ersten osmanisch-russischen Krieg (Frieden von Belgrad 1739) einen entscheidenden Schub erhalten und wurde im zweiten und dritten osmanisch-russischen Krieg (1768 – 1774, 1787 – 1792) verstärkt, Russland besetzte 1783 die Krim als Gibbon gerade nach Lausanne umzog. Während er schrieb, konnte er hiervon Nachrichten empfangen,40 die einmal mehr als Vorboten des Untergangs des Osmanischen Reichs gedeutet wurden. Indien war der Ort, an dem das British Empire mit der East India Company (1757/1773) gerade einen Aufstieg an Macht erfuhr,41 während die Kolonien in den USA wegfielen. Gibbons Werk passte so eigentlich hervorragend, und es konnte für das ganze 19. Jahrhundert ein gewinnbringendes Buch sein mit all dem orientalischen Geschichtsmaterial, das er verarbeitet hatte – ein ,augustäischesR Werk, dass nur Westroms Untergang mit dem Ereignis von 1776 überblendet hätte, hätte dem 19. Jahrhundert gar nichts mehr bedeutet – anders dieser ästhetisch-frühromantische Blick auf die lange Vorgeschichte und das Fundament der Begegnung etwa der East India Company mit dem Ausglühen der byzantinischen Reste in Gestalt von Ostchristen in Indien im Moment, als gerade ein weiteres Reich – nun das muslimische Moghul-Reich – ersichtlich an Boden verlor. Wäre Pocock doch ein latent leicht ideologischer Atlantiker, der sich jener anderen Regionsausrichtung verwehrt, der sich auch einer Vielzahl von Wegen in die Moderne verweigert und nur die eine europäisch-westliche mit klarer Konzen40 Lavender Cassels, The Struggle for the Ottoman Empire, 1717 – 1740, London 1966; L. Lockhart, Nadir Shah. A critical study based mainly upon contemporary sources, London 1938; Robert W. Olson, The Siege of Mosul and Ottoman-Persian Relations 1718 – 1743, Costa Mesa 2017; Virginia H. Aksan, Ottoman Wars 1700 – 1870, London 2007; Will Smiley, Let whose people go? Subjecthood, sovereignty, liberation, andlegalism in eighteenth-century Russo-Ottoman relations, in: Turkish Historical Review 3 (2012), 196 – 228. Gibbon nutzt 1788 schon Beschreibungen von Akteuren, die aktiv in Aushandlungen mit und gegen das späte Osmanische Reich einbezogen waren (Baron de Tott, Volney). 41 Robert Travers, Ideology and Empire in Eighteenth-Century India: The British in Bengal, Cambridge 2007; Nicholas Dirks, The Scandal of Empire: India and the Creation of Imperial Britain, Cambridge, Mass. 2006; Philip J. Stern, The Company-State: Corporate Sovereignty and the Early Modern Foundations of the British Empire in India, Oxford 2011.

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tration auf Antike – Feudalwesen – Aufklärung – Moderne als Interpretationsmatrix favorisieren mag? Wäre Pocock dann so zu verstehen, als ob ein Niall Ferguson oder Paul Kennedy verformend auf Chakrabarty zugriffe, indem er aus einem frühromantischen – sicherlich westlich-orientalisierenden,42 aber im Vergleich doch dezentrierenden – Œuvre Gibbons wieder ein zentriertes machen will? – Dies sei mit Respekt als Frage und nicht als klar beweisbare These am Schluss formuliert. John G. A. Pococks sechsbändiges Werk Barbarism and Religion ist ein komplexes Monument von close readings zur europäischen Aufklärungshistoriographie gruppiert um Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776 – 1789) herum, aber keinesfalls in einer Analyse nur dieses Werks aufgehend. Der Beitrag zeigt, dass Pococks B&R sich in vielfacher Hinsicht sogar sehr eigenwillig vom Anstoßgeber Gibbon entfernt: Gibbon intendierte wohl schon 1776 als Gesamtkonzept die Geschichte des Untergangs von West- und von Ostrom (476 bis 1453) als eine (selbst eigenwillige) Einheit. Pocock hingegen konzentriert sich dezidiert nur auf den „first fall“, den Untergang des lateinischen Westrom und endet daher im Wesentlichen mit dem 38. von 71 Kapiteln des Gibbonschen Werks. In Gibbons Restwerk ist auch der Ur-Republikanismus der Araber und der Aufstieg von Islam und Osmanischem Reich enthalten als einem neuen Motivkomplex: Dieser geht nicht mehr im Binom der zerstörenden Kausalmotoren ,BarbarismR und ,(Christliche) ReligionR auf. Die Barbaren-Angriffe (Hunnen, Tartaren, Mongolen), speisen sich in geo-historischen Rhythmen immer wieder aus Ost-West-Strömen von Nomadenkriegern, die aus dem globalen Norden (von Skandinavien bis China reichend) nach unten und abgefedert nach Westen ,drückenR. Dies hätte so im Dominoeffekt das europäische Imperium mit Gewalt, das Christentum moralisch-zersetzend von innen zerstört. Diese gibbonsche Plotstruktur analysiert Pocock sehr erhellend, aber die Islam/Osmanen-Republikanismus/Reichsentstehungs-Motivik wird ausgeblendet, so dass die für Pocock titelgebenden Hauptakteure ,Christentum und BarbarenR Gibbon nur zur Hälfte erfassen. Der Beitrag versucht auf die Diskrepanz in der analytischen InteresseKonzentration Pococks im Vergleich zu Gibbons eigenen Gewichtungen, auf Pococks halb-explizite methodische Ansatzpunkte, hinzuweisen, sowie – unabgeschlossen – auf die große Dimension der Ost-Ausrichtung Gibbons und seiner Quellen im Kontrast. Diese kongruierten an sich gut mit der Achsenverschiebung des British Empires 1757/1776 von einer stark Atlantisch-Amerikanischen hin zu einer Euro-Asiatischen. Gibbon wäre vielleicht auch mehr als bedeutendster frühromantischer Historiker, denn als letzter britischer ,augustäischerR Aufklärungshistoriker zu verstehen, was wohl der Einhegungsskopos oder jedenfalls -effekt von Pococks Kontextualisierungsformation ist. John G.A. PocockQs six-volume work Barbarism and Religion is a complex monument of close readings on European Enlightenment historiography grouped around Edward Gib42 Es ist keine Frage, dass Gibbon dezidiert westlich, selbst leicht ideologisch doch die Überlegenheit der eigenen Welt gegenüber Ostkirchlichem, Muslimischen und Orient insgesamt transportiert – das ist hier nicht Untersuchungsgegenstand. Aber er betrieb doch ein Studium der Region und der in westlichen Sprachen verfügbaren besten philologisch-orientalistischen Werke, die ihm zur Verfügung standen und konstruierte eine andere Weltsicht, als die von Pocock letztlich gesuchte.

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bonQs The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776 – 1788), but is by no means absorbed in an analysis of just this work. The article shows that in many respects PocockQs B&R even moves quite consciously and wilfully away from the Gibbon: as early as 1776, Gibbon probably intended the overall concept of the history of the fall of the Western and Eastern Rome (476 to 1453) as an (also consciously chosen and eventually idiosyncratic) unit. Pocock, on the other hand, concentrates decidedly only on the „first fall“ only of the Latin Western Rome and therefore ends essentially with the 38th of 71 chapters of GibbonQs work. GibbonQs remaining work also includes the ur-republicanism of the Arabs and the rise of Islam and the Ottoman Empire as a new complex of motifs: This no longer falls into the binomial of the destructive causal engines ,barbarismR and ,(Christian) religionR. The barbarian attacks, manifest again and again in eastern-western flows (Huns, Tartars, Mongols), are fed in geo-historical rhythms by nomadic warriors who ,pushR down from the global north (ranging from Scandinavia to China). They thus destroy the European empire in this physical domino effect, while christian religion ,destroys it from withinR. Pocock analyzes GibbonQs structural plot very illuminatingly, but the Islam/Ottoman Empire motif is ignored, so that the main protagonists of PocockQs title, ,Christianity and BarbariansR, only grasp the half of Gibbon. The article attempts to point out the discrepancy in PocockQs analytical concentration of interest if compared to GibbonQs own emphasis; it tries to uncover PocockQs semi-explicit methodological starting points, and tries – in an incomplete manner – to remind the large dimension of GibbonQs eastern orientation and his sources. GibbonQs eastern orientations was in itself strongly congruent with the axial shift of the British Empire in 1757/1776, taking into account not only its Atlantic-American, but also the Euro-Asian dimension. Gibbon would perhaps be understood more as the most important early romantic historian than as the last British Enlightenment historian, as Pocock tried to contain or perhaps to domesticate him in this contextualizing manner. PD Dr. habil. Cornel Zwierlein, Mozartstraße 30, D-53115 Bonn, E-Mail: [email protected]

Eric Achermann Aufklärung und ffge classique Zu Episteme, Diskurs und Periodisierung bei Michel Foucault

Wer sich anschickt, über Aufklärung – mit oder ohne Anführungszeichen – bei Michel Foucault zu schreiben, sieht sich schnell mit einer Folge eher unüblicher Schwierigkeiten konfrontiert. Sie setzen beim Übersetzen von ,AufklärungR ein und enden bei ethischen Implikationen, die viele von uns – allen voran im deutschsprachigen Raum – mit dem Begriff der Aufklärung verbinden. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den Foucault von Les mots et les choses, der Ideengeschichte als Geschichte wissengenerierender und -regulierender Formationen versteht. Im Zentrum steht die Frage, ob die daraus hervorgehenden oder diese begründenden Epochenkonstrukte, die sogenannten Episteme, wissenschaftstheoretischen Ansprüchen, namentlich Foucaults eigenen, genügen. Die Frage ist insofern von Bedeutung, als die Belastbarkeit dieser und ähnlicher Konstrukte ohne eine kritische Prüfung der deskriptiven oder explikativen Leistungsfähigkeit ihrer Argumente nur schwer einzuschätzen ist. Um zu verstehen, was Foucault unter ,AufklärungR als Name einer Epoche, falls überhaupt, verstehen mochte, gilt es vorerst zu verstehen, was Foucault unter ,EpocheR, falls überhaupt, verstanden hat. Erst anschließend, und weniger ausführlich, wird nach der Verwendung von ,AufklärungR als systematischem und praktisch-emanzipatorischem Begriff gefragt. Dabei sieht sich das ganze Unterfangen einer wissenschaftstheoretischen Kritik an den vorgenommenen Periodisierungen sowie einer kritischen Beurteilung der politischen Dimension des Aufklärungsbegriffs mit zwei zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert, nämlich dass zum einen Foucaults Sicht auf Geschichte und Gesellschaft Veränderungen erfährt, die weit dramatischer sind, als die breite undifferenzierte Bezugnahme seiner Rezipienten mehrheitlich vermuten lässt, zum anderen, dass Foucault in seiner Verhältnisbestimmung von Geschichte und Philosophie nicht nur das wertende, kritische Urteil suspendiert sehen möchte, sondern sich ipso facto selbst gegen eine wertende Kritik zu immunisieren scheint. Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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I. ,Sciencificit8R und die Grammatik des Wissens 1966 erscheint Les mots et les choses, auf Deutsch: Die Ordnung der Dinge, ein Werk, das seinen Autor – wie man so schön sagt – ,über NachtR berühmt macht. 1966 ist ein Jahr, in dem der französische Strukturalismus seinen Zenit erlebt. Einzig zur Veranschaulichung, und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, sei hier angeführt, was die strukturalistische Sprach- und Textwissenschaft zum Zeitpunkt des Erscheinens von Foucaults erstem großen Erfolg an Neuerscheinungen vorzuweisen hat: Waren ein Jahr zuvor die grundlegenden linguistischen Arbeiten von Andr8 Martinet La Linguistique synchronique und Jean DuboisQ erster Band der Grammaire structurale du franÅais erschienen, so finden wir für das Jahr 1966 neben der Zweitauflage von Roman Jakobsons Essais de linguistique g8n8rale Pmile Benvenistes ProblHmes de linguistique g8n8rale, eine Sondernummer von DiogHne mit Beiträgen von Jakobson, Noam Chomsky, Benveniste und Martinet zu ProblHmes du langage, Algirdas Julien GreimasQ S8mantique structurale, Tzvetan Todorovs Th8orie de la litt8rature. Textes des formalistes russes, die berühmte Nr. 8 der Zeitschrift Communications, also das Themenheft Analyse structurale du r8cit mit Beiträgen von Roland Barthes, Greimas, Claude Br8mond, Todorov und G8rard Genette, den ersten Jahrgang von La Linguistique. Revue internationale de linguistique g8n8rale, das Martinet herausgibt, sowie das von Todorov besorgte Periodikum Langages. Revue trimestrielle, deren erste vier Trimester die Titel Recherches s8mantiques, herausgegeben von Todorov, Logique et linguistique, mitherausgegeben von Oswald Ducrot, Linguistique franÅaise, herausgegeben von Greimas und Jean Dubois sowie schließlich La grammaire g8n8rative, herausgegeben von Nicolas Ruwet, tragen. Kurz, alles, was im französischen Strukturalismus Rang und Namen hat, ist vertreten, ließe sich doch für 1966 auch Claude L8vi-Strauss mit dem zweiten Band seiner Mythologiques anführen. Wer ,ZenitR sagt, denkt Abstieg mit. So verweist der Name ,RuwetR für Eingeweihte auf die Generative Transformationsgrammatik, die genau in diesen Jahren auch in Paris Einzug hält, und dies nicht zu knapp.1 Es lassen sich erste Vorzeichen erkennen, dass das saussuresche Programm – ob in rigoristischer Kopenhagener oder in gefälliger Prager Lesart – die Alleinherrschaft im Bereich einer allgemeinen Sprachwissenschaft, mehr noch einer alle bedeutungstragenden Systeme umfassenden Semiotik, zu verlieren droht. Der steile Aufstieg von Chomskys Stern bedeutet für den französischen Strukturalismus eine Wende. Ungeachtet, wie man sich zur begründeten oder vorurteilsbehafteten Kritik an Saussures Cours verhalten will, so gehörte es zu den Gemeinplätzen einer nun als reaktionär verschrienen 1 Vgl. FranÅois Dosse, Histoire du structuralisme, Bd. 2: Le chant du cygne, 1967 / nos jours, Paris 1992, 14 – 28.

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Geisteswissenschaft, den theoretischen Entwürfen mit dem Vorwurf der Ahistorizität zu begegnen. Die synchrone Vereinnahmung degradiere Forschung aus diachroner Perspektive, ja alle Geisteswissenschaft, zur Liebhaberei, um nicht von ,DilettantismusR zu sprechen. Die Konzentration auf die langue verhindere zudem, die empirische Grundlage der Sprachverwendung (parole) in den Blick zu nehmen, und verwandle die Sprache in ein System abstrakter Algorithmen. Es scheint ausgemacht: Wer sich mit den grundlegenden Mechanismen eines elementar beschränkten, in seiner paradigmatischen Elementarität einzig differenziell artikulierten Zeichensystems sowie dessen permutativ und kommutativ syntaktischen Realisierung beschäftigen wolle, der oder die müsse die kulturelle Einbettung und kommunikative Funktion von Sprache außer Acht lassen. Als Kronzeuge konnte hier Louis Hjelmslev angeführt werden, dessen Die Sprache aus dem Jahr 1963 die sprachgeschichtliche Evolution in den Augen der Kritiker und Kritikerinnen vielsagend ins Abseits führte. Alle Aussagen, so der Kopf der Kopenhagener Schule, bezüglich der tatsächlichen Bedeutung oder Aussprache von überlieferten Sprachzeichen aus historischer Vorzeit seien rein hypothetisch; aus theoretischer Sicht hingegen führe die Kenntnis der Formationsregeln zu semiotischen Minimaleinheiten, die notwendig sind, ungeachtet, ob die kontingente Geschichtsentwicklung die regelhaft angelegte Möglichkeit realisiere. Hjelmslev schließt: „So darf man die genetische Sprachwissenschaft als absolut exakt bezeichnen; sie ist vielleicht das exakteste Gebiet innerhalb der ganzen Geisteswissenschaft“.2 ,SoR bedeutet hier ,so und nicht andersR. Hjelmslevs Äußerung ist bloß ein Beispiel, und der Beispiele wären viele. Wollten wir aber die Geschichte des Strukturalismus schreiben, so gälte es Hjelmslevs Sonderstellung hervorzuheben,3 insofern er einen harten, für seinen Rigorismus gefeierten differenzialistischen Standpunkt verkörpert, der gegen die Prager in der Nachfolge Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoys und Roman Jakobsons gehalten wurde. Diese nämlich lassen ,materielleR Gründe gelten, d. h. empirische Beobachtung am sprachlichen Material, ja, sie beharren gar darauf, dass zahlreiche Erkenntnisse hinsichtlich der Funktion und der Regeln der Sprache nur durch solche gewonnen werden könnten. Es ist niemand geringerer als Jacques Derrida, der anhand von Hjelmslevs Saussure-Interpretation seine semiotische Fundierung der Philosophie begründet, insbesondere seine DurchstreiLouis Hjelmslev, Die Sprache. Eine Einführung, übers. von Othmar Werner, Darmstadt 1968, 105. – Hjelmslevs eigentliche Provokation, die Omkring sprogteoriens grundlaeggelse (1943), ab 1953 als Prolegomena to a Theory of Language bekannt, stößt in Frankreich aufgrund fehlender Übersetzung auf eine weniger breite Rezeption als Hjelmslevs kleinere, französischsprachige Aufsätze. So orientieren sich Greimas und Derrida hauptsächlich an den Prolegomena, der strukturalistische Barthes hingegen an denjenigen Essais, die ihm zugänglich sind. 3 Zu Hjelmslevs rigoristischer Saussure-Interpretation, insbesondere in den Prolegomena, vgl. Iwar Werlen, Hjelmslevs Saussure-Rezeption, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 35 (1981), 65 – 86. 2

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chung einer phänomenologischen Gegenwärtigkeit als An- und Innehalten.4 Andere jedoch begegnen der Herausforderung, indem sie – nach dem Vorbild des amerikanischen Strukturalismus eines Zellig S. Harris – als Grundlage linguistischer Deskription die tatsächliche Distribution sprachlichen Materials wählen, gleichzeitig eine einheitsstiftende, regelgebende oder gar generative langue als transzendentale Ermöglichungsgrundlage allen Äußerns (8nonciation) präsupponieren und deren genauere Erkenntnis in Aussicht stellen. Zurück also zu Foucault, von dem wir uns – recht besehen – gar nicht so weit entfernt haben: Die Debatten, die sich im Vorfeld und auch im Rücken der Transformationen und Adaptationen eines sprachwissenschaftlichen Strukturalismus ereignen, sind für Foucaults Denken von Belang. Einigermaßen spät, dafür aber mit Vehemenz, stimmt er in den Chor derjenigen ein, die in der Gesetzlichkeit zeichenbildender Mechanismen ein weiteres Argument gegen den totgesagten Humanismus erkennen. Dies geschieht mit Les mots et les choses, Foucaults viertem Buch, Übersetzungen einmal ausgenommen. Vor Les mots et les choses hatte Foucaults Interesse nicht primär der Geschichte des Wissens gegolten, sondern der Geschichte des Wahnsinns, insbesondere dessen institutioneller Repression, klinischen Therapie und medizinischen Disziplinierung. Natürlich kann man die Herausbildung einer modernen Psychiatrie als ein wissenschaftsgeschichtliches Ereignis bezeichnen, doch stehen die von Foucault geschilderten Entwicklungen in einem direkteren, ,unmittelbarerenR Verhältnis zu Maßnahmen der Sozialdisziplinierung als zu einem Denken, das in Les mots et les choses der Sprache, dem Reichtum sowie den Lebewesen gilt und sich beinahe ausschließlich auf das Korpus einschlägiger, gelehrter oder wissenschaftlicher Publikationen beschränkt. Auch entwickelte sich die Geschichte des Wahnsinns aus dem Widerstreit von vier verschiedenen „Bewusstseinsformen“ (formes de conscience).5 Die jeweilige Dominanz einer dieser Bewusstseinsformen ist es, die Epoche macht. Ist hier der Tenor, ja das thematische Kontinuum6 der Untersuchung der Wahnsinn als das Andere, das kraft „der Wiederholung eines Trennungsrituals“ aus der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen wird,7 so liegt der eigentlich historische Erkenntnisgewinn in der Identifikation und Analyse der Herrschaft dieser oder jener Bewusstseinsform. Gleichzeitig aber behauptet Foucault, dass quasi ,unterR der Oberfläche der machtausübenden Form archaische Residuen einer nun subversiven Existenz frönen, die bei einem Artaud Vgl. Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, 78 – 95. Michel Foucault, Histoire de la folie / lQ.ge classique, Paris 1972 (1961), 222. 6 Dies wird Derrida als Ausgangspunkt für seine vehemente Kritik an Foucaults Histoire de la folie dienen; Jacques Derrida, Cogito et histoire de la folie, in: Revue de m8taphysique et de morale 68/4 (1963), 460 – 494, hier 463 f. 7 Foucault, Histoire de la folie (wie Anm. 5), 223. 4

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oder einem Nietzsche ihren manifesten Ausdruck erhalten.8 Die ,polizeilichenR, ethischen, wissenschaftlichen etc. Regulierungen und Normierungen sind so Manifestationen der herrschenden Bewusstseinsform, während die latenten Spannungen den „im Herzen unserer Kultur“ weiterwirkenden Bewusstseinsformen zu verdanken sind, zu welchen bloß noch eine „lyrische Formulierung“ ihren Weg finden kann.9 Der Praxis der Exklusion entspricht die Theoretisierung des Wahnsinns, die das vorherrschende Bewusstsein des Wahnsinns eher spiegelt als bewirkt.10 Foucaults Anti-Humanismus ist hier weder ein semiotischer noch ein szientistischer oder auch positivistischer, sondern vielmehr ein ideologiekritischer, der die verborgenen Mechanismen einer repressiven Macht hinter der angeblich emanzipatorischen Selbstermächtigung des Subjekts freizulegen sucht. Dies alles ist insofern bemerkenswert, da mit der nun ausschließlich wissensgeschichtlich ausgerichteten Untersuchung desselben ffge classique in Les mots et les choses eine neue Phase in Foucaults Denken einsetzt. Aus heutiger Sicht erscheint diese weniger Etappe denn Auszeit: Der Exklusion des Wahnsinns in der Histoire de la folie wird ab dem ersten Band von Histoire de la sexualit8 im Jahr 1976 die Untersuchung der Biopolitik als Repression sexueller Begierde folgen, eine Untersuchung, die trotz der im Untertitel La volont8 de savoir in Aussicht gestellten nietzscheanisch gewendeten Wissensgeschichte den frühen Schriften näher steht als Les mots et les choses und dem daran anschließenden Methodentraktat LQarch8ologie du savoir. Letztere verabschieden sich beide von einem emanzipatorischen Anliegen, also von einer Analyse der Macht, die als Mittel einer praktisch-philosophischen Bewusstseinsbildung verstanden werden könnte und auch durchaus so verstanden wurde. Dem steht nun aber der polemische Verzicht auf eben dieses ,BewusstseinR im Wege, den Foucault spätestens ab Les mots et les choses zu proklamieren nicht müde wird. Les mots et les choses und LQarch8ologie du savoir vertreten die Ansicht, dass zwischen demjenigen, was Geschichte als ein Beziehungsgeflecht zwischen Institutionen und Akteuren ist, und der Möglichkeit von Wissensäußerungen, die durch ,RegelnR definiert und delimitiert wird, letztlich kein Unterschied besteht. Tatsächlich kommt Foucault auf das Verhältnis von Histoire de la folie zu seinem neuen Unternehmen gegen Schluss seines Vorworts von Les mots et les choses zu sprechen: Jene sei „Geschichte des Anderen“, das von der jeweiligen Zivilisation in seiner Alterität ausgeschlossen wird und aus der Position heraus ausgeschlossen werden muss, diese aber die „Geschichte des Gleichen“ – oder des „An-Sich“, des „Selbst“ (die Rede ist hier von du MÞme) –, das aus der identifikatorischen Diskrimination von „gleichzeitig Verstreutem und Verwandtem“ (/ la 8 9 10

Vgl. ebd., 223. Ebd., 223. Vgl. ebd., 226.

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fois dispers8 et apparent8) resultiere. Den Techniken der Identitätsbildung obliege es, „durch Markierungen zu unterscheiden und in Identitäten aufzufassen“, wobei ,recueillirR hier wohl eher mit ,aufsammelnR als ,auffassenR wiederzugeben wäre. Die Geschichte des Wissens bildet so das „Echo“ zur Geschichte des Wahnsinns.11 Exklusion und Identifikation scheinen sich aber auch darin zu unterscheiden, dass die Exklusion in besagt ,unmittelbarerenR Verhältnis zur Macht steht – wie auch immer diese geartet ist –, während der Prozess der Identifikation vorerst einmal einer Eigengesetzlichkeit folgt, die das Verweisverhältnis von Zeichen und Sachen, also die Beziehung (rapport) des einen zu einem anderen, regelt. Aus dieser Warte erscheinen repressive Maßnahmen nun jedoch als bloß eine der Äußerungsformen einer umfassenderen, grundlegenderen Kodifizierung. Oder anders, und nun wieder mit Blick auf Hjelmslev gesprochen: Die von Foucault avisierte historische Epistemologie folgt einem Wissenschaftsverständnis, das bewusstseinsunabhängigen Artikulationsprozessen und regelhaften Verbindungen das Primat einräumt. Sie erhebt für die eigene Methodik den Anspruch auf Exaktheit, und dies nicht zuletzt im Vertrauen darauf, dass aus dieser methodologischen Grundlegung eine ,GeisteswissenschaftR letztlich obsolet wird. Die Beseitigung des Subjektivitätsverdachts, der Residualwirkungen eines wie auch immer gearteten Humanismus, setzt eine neue Form der Mathesis voraus, die Züge einer allgemeinen Semiotik trägt. Auf das Wissen einer Zeit appliziert, ergibt sich daraus gleichsam eine wissenshistorische Variante der Sapir-Whorf-Hypothese: die sprachlichen bzw. die diskursiven Formationsregeln bestimmen die Möglichkeit von Wissen.12 Die Gesetze dieser wissensgenerierenden Prozesse erscheinen dem Wissenshistoriker Foucault nicht unmittelbar an eine institutionelle, kodifizierte, moralische, polizeiliche etc. Instanz gebunden, die außerhalb der Systeme stünde, sondern sind selbst Reflexion eben dieser primären Regulierungen, ohne dass dadurch aber die eigene Abhängigkeit reflektiert würde, nein, im Gegenteil scheint diese Reflexion vielmehr das ,spontaneR Wirken von Praktiken

11 Hier und im Folgenden werden Foucaults Les mots et les choses sowie LQarch8ologie du savoir nach der deutschen Übersetzung zitiert, wobei abweichende eigene Übersetzungen durch die Anführung der originalen Lexik in Klammern markiert wird. Solche Klammern dienen bisweilen auch als Hinweis auf Bedeutungsnuancen, welche die Übersetzung nicht mittransportiert; Stellennachweise nehmen immer Bezug auf beide Ausgaben: Michel Foucault, Les mots et les choses. Une arch8ologie des sciences humaines, Paris 1966, 15; Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1971, 27. 12 Die Bezeichnung folgt hier gängiger Verwendung und nicht etwa einer historisch adäquaten Beschreibung von Edward Sapirs oder auch Benjamin Lee Whorfs tatsächlicher Leistung in Fragen der Semantik. Für einen guten Überblick zur ,VirulenzR der These in den 1960er Jahren vgl. Iwar Werlen, Sprachliche Relativität. Eine problemorientierte Einführung, Tübingen, Basel 2002, 187 – 239.

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intransparent zu machen.13 Gleichzeitig setzt Reflexion aber auch ein Moment befreiender Distanzierung voraus. Beides, Distanz und Intransparenz, trägt das Seine zur Bildung einer r8gion m8diane bei. Dieses neue Gebiet steht zum einen über dem empirischen Boden der Praktiken, zum anderen unter einer sich als rein wähnenden oder gebenden transzendentalen Reflexion. Es bildet in dieser mittleren Lage gleichzeitig den Ermöglichungsgrund sowohl für die reflexive Ordnung als auch die empirische Ordnung.14 Oder, in der etwas paradoxen Formulierung Foucaults, die „Mittel-Region“ kann sich als die „fundamentalste“ erweisen.15 Diese Mitte oder das Fundament zu erkunden, ist Aufgabe der Archäologie. Foucault macht es einem nicht immer leicht, den ,ausuferndenR Katachresen seines topologischen Empfindens zu folgen. Was ,untenR, ,obenR, ,zwischenR, ,darüberR, ,darunterR, ,außerhalbR und ,innerhalbR bezeichnet, trägt weder in Bezug zu den Wertungsdimensionen solcher Räume noch der Konsistenz der Raumvorstellungen zur Anschaulichkeit bei. Auch was die Begrenzungen und Organisationsprinzipien der zahlreichen räumlichen Ausdehnungen betrifft, sind der Variationen viele. Er bezeichnet seine r8gions gerne mit changierender Begrifflichkeit: espace, domaine, champ, aire u. a. m. Diese Räume haben, wie könnte es anders sein, Grenzen. Die daraus resultierende ,DiskontinuitätR wird durch die ,PositivitätR von Regeln bewirkt, wobei ,PositivitätR hier mehrheitlich die Existenz, Geltung und Wirksamkeit von ,GesetzenR bezeichnet. Die Verräumlichung von Zeiten und die Verzeitlichung von Räumen kann nur gelingen, wenn das In-KraftTreten und In-Kraft-Sein von Regeln die Organisation der Korrelationen und das Muster der Dispersionen konturiert, d. h. wenn eigentliche Rechtskreise anhand des Geltungsradius von Gesetzen definiert werden. Die Trennung von Synchronie und Diachronie, von „Struktur – Werden“ (structure-devenir),16 wird dadurch aber gerade nicht überwunden, ist es doch die Gegenwärtigkeit der Geltung, die Positivität, welche den ,synchronen SchnittR – man verzeihe das Wortspiel – zur ,synchronen SchnitteR macht. Die aus dieser positiven Setzung resultierenden oder emergierenden Räume sind in Les mots et les choses noch ,configurationsR, in LQarch8ologie du savoir vorzugsweise ,formationsR, wobei der Übergang von einer bloßen Menge von Aussagen zu einer diskursiven Formation nun wohl eher der Regelmäßigkeit als der Regel geschuldet ist. Das konfigurierende Regelwerk will für den ArchäoVgl. Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 12 und 14; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 23 und 26. 14 Vgl. Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 11 – 13; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 22 – 24. 15 Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 12; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 23. 16 Michel Foucault: LQarch8ologie du savoir, Paris 1969, 20; Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1981, 22. 13

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logen kein präskriptives, sondern ein deskriptives sein. Foucaults Ringen um eine methodologische Grundlegung seiner Wissensgeschichte steht auch hierin exemplarisch für Schwierigkeiten, die dem Strukturalismus mit Blick auf dasjenige, was Norm, was System und was Gebrauch ist, begegnen.17 Die Konfigurationen nämlich bestehen aus Aussagen (8nonc8s), deren historisches Gesamt, d. h. die Menge ihrer realen, materiellen und positiven Vorkommnisse, einzig deskriptiv erfassbar sei. Mehr noch: Die Beschreibung darf denn auch nur die Distribution der Aussagen – in Bezug auf Ort und Zeit ihres Auftretens – in den Blick nehmen. Dem unvoreingenommen Blick auf die Verteilung oder dispersion geben sich die Linien (Konturen und Verbindungen) auch jener Konfiguration zu erkennen, die auf fundamentalster Ebene die Möglichkeit des Wissens delimitiert. Aus der genauen Beobachtung der Verteilung folgt die Entdeckung der Regel wie von „selbst“.18 Die Bedingungen der Möglichkeit als entdeckte Regeln, nicht die Bedeutungen oder gar die Wahrheit der Zeichen und Sätze, konstituieren letztlich auch den ,WertR (valeur) der Aussage,19 wobei Faktizität der Aussage, deren Verortung und deren Funktion in eins zu fallen scheinen.20 17 Es gehört mit zu den wesentlichen Problemen strukturalistischer Sprachwissenschaft, zwischen Gesetz und Gewohnheit unterscheiden zu können; vgl. Eugenio Coseriu, System, Norm und Rede (1952), in: ders., Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft. 5 Studien, München 1975, 11 – 101 sowie die grundlegenden Überlegungen Milners zum Status der Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft, Jean-Claude Milner, Introduction / une science du langage, Paris 1989, 183 – 185. 18 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 63; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 70: „Man hatte die Einheit des Diskurses in [du ckt8 de, also: bei] den Gegenständen selbst, ihrer Distribution, dem Spiel ihrer Unterschiede [diff8rences], ihrer Nähe oder ihrer Entfernung gesucht – kurz, in dem, was dem sprechenden Wesen [Subjekt, sujet] gegeben ist: und man wird schließlich verwiesen auf die Herstellung von Beziehungen, die die diskursive Praxis selbst charakterisiert; und man entdeckt auf diese Weise keine Konfiguration oder Form, sondern eine Gesamtheit von Regeln, die einer Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifität definieren“. – Zu den Grenzen, welche die Diskursanalyse sich mit Blick auf die Distribution selber setzt, vgl. auch Arch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 100; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 110 f. Diese Grenzen bedeuten auch, dass die Analyse nicht ins Detail, d. h. in kleinteiligere Regulierungen (structure fine), gehen soll. 19 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 158; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 175: „Interpretieren ist eine Weise, auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durch die Vervielfachung des Sinns zu kompensieren; eine Weise, ausgehend von ihr und trotz ihrer zu sprechen. Aber eine diskursive Formation zu analysieren heißt, das Gesetz dieser Armut zu suchen, ihr Maß zu nehmen und ihre spezifische Form zu bestimmen. Es ist also in einem gewissen Sinn das Wägen des ,WertesR [valeur] der Aussagen [8nonc8s]. Dieser Wert wird nicht durch ihre Wahrheit definiert, wird nicht durch die Präsenz eines geheimen Inhalts geschätzt, sondern charakterisiert ihren Platz, ihre Zirkulations- und Tauschfähigkeit, ihre Transformationsmöglichkeit, nicht nur in der Ökonomie der Diskurse, sondern in der allgemeinen Verwaltung der seltenen Ressourcen. So begriffen hört der Diskurs auf, das zu sein, was er für die exegetische Position ist: unerschöpflicher Schatz, aus dem man stets neue, jedesmal unvorhersehbare Reichtümer ziehen kann. Vorsehung, die

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Der Distributionalismus ist – auch wenn sich Foucault dessen nicht erinnern will oder kann – ein linguistischer Lösungsansatz zur Vermeidung eines (hermeneutischen) Zirkels, den nicht etwa Saussure und sein Pariser Gefolge entwickelt und favorisiert, sondern der amerikanische Deskriptionismus, wie ihn Zellig S. Harris in seinem bahnbrechenden Beitrag Discourse Analysis von 1952 vertritt. Dieser avanciert nicht zuletzt durch die ablehnenden Bemerkungen Chomskys in Syntaktische Strukturen, die Foucault mehrfach ohne Nennung des Autors zitiert,21 auch in Paris zu einer methodologischen Option: Die Identifikation sprachlicher Zeichen darf deren Bedeutung nicht voraussetzen.22 Aus dieser neopositivistisch anmutenden Strenge speist die strukturale Methode ihre Legitimität; daraus leitet sie ihre Autonomie gegenüber der Tradition einer geisteswissenschaftlichen Vorgehensweise ab, die sich in einem gewissen Mentalismus, mehr noch in einem Geist begründenden Subjektbegriff die Legitimation des zeichenhaften Bedeutens abholt. Nicht anders als der Behaviorismus vermutet der Strukturalismus der 1960er Jahre in einem sich subjektiv ermächtigenden Geist eine Black box

stets im vorhinein gesprochen hat und, wenn man zu hören versteht, retrospektive Orakel erklingen läßt: er erscheint als ein endliches, begrenztes, wünschenswertes, nützliches Gut, das seine Erscheinungsregeln, aber auch seine Aneignungs- und Anwendungsbedingungen hat. Ein Gut, das infolgedessen mit seiner Existenz (und nicht nur in seinen ,praktischen AnwendungenR) die Frage nach der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand eines Kampfes [lutte], und [zwar] eines politischen Kampfes ist“. 20 Clemens Kammler: Archäologie des Wissens, in: ders., Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe, Stuttgart, Weimar 2014, 51 – 62, hier 57: „Obwohl sie [die Aussage] mit einer bestimmten Materialität ausgestattet ist, die sie in Raum und Zeit identifizierbar macht, lässt sie sich nicht auf bloße Materialität reduzieren. Denn jede Aussage hat einen Sinn, allerdings ist dieser nicht das Resultat subjektiver Sinnstiftung, sondern der bloße Effekt ihres materiellen und diskursiven Umfeldes, das ihr Auftreten als Aussage überhaupt erst ermöglicht. Foucault bestimmt die Aussage als eine Funktion, und zwar als eine ,ExistenzfunktionR, da sie auf die Existenzbedingungen hinweist, unter denen einer Zeichenfolge in einer gegebenen diskursiven Formation Sinn überhaupt erst zukommen kann“. 21 Vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 108 und 119; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 119 und 131. Es handelt sich um Anspielungen auf Chomskys berühmtes Beispiel für eine unsinnige Aussage ,Farblos grüne Ideen schlafen wütendR. 22 Vgl. die programmatischen Anfangszeilen in Zellig S. Harris, Discourse Analysis, in: Language 28/1 (1952), 1 – 30, hier 1: „The method is formal, depending only on the occurrence of morphemes as distinguishable elements; it does not depend upon the analystQs knowledge of the particular meaning of each morpheme. By the same token, the method does not give us any new information about the individual morphemic meanings that are being communicated in the discourse under investigation. But the fact that such new information is not obtained does not mean that we can discover nothing about the discourse but how the grammar of the language is exemplified within it. For even though we use formal procedures akin to those of descriptive linguistics, we can obtain new information about the particular text we are studying, information that goes beyond descriptive linguistics“.

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oder, in der Ausdrucksweise Gilbert Ryles, den Dreh- und Angelpunkt des seit Descartes vorherrschenden „dogma of the Ghost in the Machine“.23 Wer das manifeste Interagieren von Zeichen beobachtet, der präsupponiert keine Latenz, die sich selbst als tieferliegende Schicht einer okkulten, künftig noch zu erforschenden, mehr noch: zu ergründenden Kraft gibt. Darin besteht die kritische Volte des Strukturalismus und Post-Strukturalismus gegen die angestammte Ideologiekritik. Die Kritik am Freudo-Marxismus und dem phänomenologischen Intentionalismus eines Husserl durchzieht Foucaults gesamtes Oeuvre. Die Feier der Oberfläche wird zum Signum eines sich bald deskriptiv gebenden Positivismus, bald dem Physikalismus zuneigenden Reduktionismus.24 Eine Kritik an den eigenen Dichotomien von verborgen und offen, von oben und unten, von ,geheimen NetzenR und ,inneren GesetzenR findet dabei nicht statt.25 Es ist vielmehr das Freilegen-Wollen, das an und für sich das hermeneutische Subjekt geradezu definiert und sich somit in den Augen des Posthumanisten auch diskreditiert. So äußert Foucault in der Arch8ologie, wohl zum Erstaunen eines nicht geringen Teils seiner damaligen Leserschaft, dass es seiner Methode nicht etwa mehr um die Freilegung eines Ensembles diskursiver Regeln gehe, welche die Übereinstimmung sprachlicher Äußerungen anhand der so entdeckten Gesetzmäßigkeit zu erklären vermöchte, sondern um die Beantwortung der Frage, wieso eine historisch gegebene Positivität, und nur insofern sie eine positive ist, da ist, wo sie ist, und keine andere ist, als sie ist.26 Es geht also nicht mehr um die codes fondamentaux, die sich gegenüber dem Latenz-Verdacht zu verantworten Gilbert Ryle, The Concept of Mind, Harmondsworth 1963 (1949), 17. So behauptet Foucault, dass die „Identität“ eines Zeichens – aufgrund von dessen grundlegender „Materialität“ – von Ort (lieu) und Zeit (date) seines Vorkommens abhängig ist; Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 133; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 147. – Foucaults Kokettieren mit dem eigenen Positivismus, Stichwort: ,positiviste heureuxR (als antihusserlscher Affekt, vgl. G8rard Lebrun, Note sur la ph8nom8nologie dans ,Les Mots et les ChosesR, in: Michel Foucault philosophe. Rencontre internationale Paris 9, 10, 11 janvier 1988, Paris 1989, 33 – 52, hier 48) war schon öfter Anlass zur Kritik, allen voran als eine ,paradoxe VerbindungR von Positivismus und Ideologiekritik bei Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 318. 25 Vgl. etwa den Aufforderungskatalog von LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 38; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 41: Foucault verspricht, sich nicht in die Diskurse selbst hineinzuversetzen, sondern sich einzig „so lange“ auf diese „zu stützen“, solange es braucht, um „zu fragen, welche Einheiten sie bilden [forment]; mit welchem Recht [droit] sie ein Herrschaftsgebiet [domaine], das sie im Raum [espace] spezifiziert, und eine Kontinuität in Anspruch nehmen können, die sie in der Zeit individualisiert; nach welchen Gesetzen [lois] sie sich bilden [forment]; auf der Grundlage [fond] welcher diskursiven Ereignisse sie sich ,ausschneidenR [d8coupent]; und ob sie letztlich [finalement] nicht in ihrer akzeptierten und quasi institutionellen Individualität die Oberflächenwirkung [effet de surface] von konsistenteren Einheiten sind“. 26 Vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 39; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 42. 23

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hätten, auch nicht mehr um das umfassende tableau, das sich dem Totalitäts-Verdacht aussetzen würde, und schon gar nicht um die vorherrschende forme de conscience, sondern um dasjenige, was aus der Geschichte der Zeichensetzung als performativer Akt der institutio oder impositio bekannt ist. Es geht darum zu klären, wo die Dinge sind, was sie sind und wie sie als dasjenige gelten können, was sie zu sein vorgeben. Jenseits, Diesseits, Oberhalb und Unterhalb der Geltung ist aber nichts außer der Praxis eines Willens zur Geltung, der in seiner eigenen Performanz aufzugehen scheint. Mit Blick auf die in Les mots et les choses entwickelten epochalen Einheiten fragt sich, was nun die Wendung ,Bedingungen von MöglichkeitR für eine Bedeutung hat, die das Episteme als Gegenstand der Archäologie zu präzisieren behauptet. Und es fragt sich, welchen Stellenwert eine ,DiskontinuitätR hat, d. h. der Bruch mit einer nicht näher bestimmten Vorgängigkeit. Diskontinuität setzt Kontinuität voraus, die wohl einzig auf der Kompatibilität bzw. Inkompatibilität der Elemente eines Systems aufbauen kann. Diese erscheint aus der faktischen Nachweisbarkeit der Positivität von Äußerungen ohne den Nachweis von Widersprüchen, Irrationalismen oder anderen Unverträglichkeiten wohl kaum nachweisbar. Kurz, die logischen Gesetze, seien sie auch historisch bedingt, müssen vorausgesetzt werden. Ein Begriff des Möglichen, der sich auf Faktizität reduzieren lässt, ist im Übrigen schwierig. Worin nämlich unterscheidet sich das Mögliche vom Realen, wenn es doch vorgängig realisiert, mehr noch: „effektiv“27 sein muss, um als möglich zu gelten? Wie lassen sich über die Distribution, die wir ja einzig räumlich und durch Verräumlichung der Zeit beobachten können, Grenzen bestimmen? Wie ist die ,institutionellR gestiftete Materialität der Aussage als irreduzibles Ereignis auf die Potentialität eines diskursiven Ermöglichungsraums zu beziehen, der notwendig denselben Umfang wie die Menge der Aussagen haben muss? Ganz wie bei Strukturalisten jedweder Couleur definiert sich Foucaults ,AussageR (8nonc8) nicht primär durch Beziehung (rapport) auf Dinge der Welt oder Konzepte des Geistes, sondern durch innere Organisation. Bei Saussure sind es die berühmten zwei Seiten, die unabtrennbar das Zeichen konstituieren: signifiant und signifi8. Vermeidet Foucault in Arch8ologie du savoir28 zwar tunlichst, sich zu diesen strukturalistischen Erzvokabeln zu bekennen,29 so lädt der Blick auf die Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 38 f.; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 41 f. 28 Folgen wir Dosse, so fühlt sich Foucault noch 1967, zwei Jahre vor der Arch8ologie, als „glücklicher Strukturalist“. Dies Glück zerbreche mit der Kritik FranÅois Wahls, der Foucault eine strukturalistisch unzureichende Methodologie vorwerfe; Dosse, Le chant de cygne (wie Anm. 1), 106 f. 29 In LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 117; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 129 behauptet Foucault, dass seine „spezifische Verweisfunktion“ (rapport sp8cifique) anhand von 27

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„Methode“, die „Begriffe“ und auch die „Schlüsselwörter“ – entgegen Foucaults eigener Ansicht30 – durchaus dazu ein, Übereinstimmungen zwischen seiner Diskursanalyse und einer strukturalistischen Zeichentheorie festzustellen.31 Auch schiene es merkwürdig, einen Wissenshistoriker, der die Phänomenologie, den Strukturalismus sowie den Positivismus etc. als Ausdrucksformen ein und derselben humanistischen Episteme bezeichnet, einer vergleichenden Analyse zu entheben. Ausdrucks- und Inhaltsseite eines Zeichens sind für Saussure korrelierende und portionierte ,RegionenR, deren Binnengrenzen sich differenziell aus der Konkurrenz zu anderen Elementen ergeben, d. h. ihren Wert (valeur) als autonome, autodifferenzielle Größen. Dem beobachtbaren Trägermaterial entspricht ein ,BündelR an negativen Differenzen, dem seinerseits ein ebenso negativ ausdifferenzierter Bereich auf Seiten der Bedeutung gegenübersteht; die jeweiligen Umfänge prädeterminieren die Funktionen des Zeichens. Foucault spricht, einigermaßen analog, von Aussagen in Diskursräumen, die sich auf Korrelationsräume beziehen, ohne dass Letztere mit einer bezeichneten Realität oder auch einem bedeuteten geistigen Konzept identifiziert werden dürfen.32 Ganz wie bei Saussure33 bilden sich gegenseitig determinierende Differenzen eigentliche „Raster“ (grilsignifiant und signif&8 nicht zu erklären sei; was er in der Folge tatsächlich erklärt, steht nicht etwa im Widerspruch zu den Äußerungen Saussures – vgl. in diesem Zusammenhang Foucaults (LQarch8ologie du savoir [wie Anm. 16], 130; Archäologie des Wissens [wie Anm. 16], 144) Verwendung von ,ausschneidenR (d8couper) und ,unterscheidenR (distinguer), durch welche das „enonziative Element“ seine Konturen in einem champ 8nonciatif erhält –, sondern vielmehr zu Foucaults eigener höchst merkwürdiger Reduktion von Saussures Vorstellungen auf eine Semantik logischen Zuschnitts, namentlich Wahrheitswert und Referenz. 30 Vgl. Foucaults Vorwort, das einzig der deutschen Ausgabe beigegeben ist: „[D]er letzte Punkt ist eine Bitte an den deutschsprachigen Leser. In Frankreich beharren gewisse halbgewitzte ,KommentatorenR darauf, mich als einen ,StrukturalistenR zu etikettieren. Ich habe es nicht in ihre winzigen Köpfe kriegen können, daß ich keine der Methoden, Begriffe oder Schlüsselwörter benutzt habe, die die strukturale Analyse charakterisieren. // Ich wäre dankbar, wenn eine ernstere Öffentlichkeit mich von einer Verbindung freimachen würde, die mich sicher ehrt, die ich aber nicht verdient habe. Es mag bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den Werken der Strukturalisten und meinen geben. Es stünde mir – von allen – am schlechtesten an, zu behaupten, daß mein Diskurs von Bedingungen und Regeln frei sei, auf die ich wenig achte und die andere heute gelieferte Arbeiten bestimmen. Aber es wäre zu leicht, die Mühe der Analyse solcher Arbeit zu vermeiden, indem man ihr ein zugegeben eindrucksvoll klingendes, aber ungenaues Etikett verpaßt“. Foucault, Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 15 f. 31 Vgl. Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1983, 135 – 245. 32 Vgl. Kammler, Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), 57. 33 Vgl. Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique g8n8rale, hg. von Charles Bailly und Albert S8chehaye (1916), krit. Ausg. hg. von Tullio de Mauro, Paris 1983, 156 f. – Für eine knappe Darstellung vgl. Eric Achermann, Struktur/Sturkturalismus, in: Helmuth Reinalter, Peter J. Brenner (Hg.), Lexikon der Geiseswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, Wien, Köln, Weimar 2011, 759 – 766, hier 761 f.

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les) aus, ihrerseits bestehend aus „cases blanches“ (freien Feldern),34 aus welchen Aussagen als emergierende sich der Wahrnehmung eröffnen. Das Raster als mittleres und vermittelndes System – Saussure bezeichnet die langue ausdrücklich als „interm8diaire“35 – umreißt für Foucault nun aber nicht die zu einer bestimmten Zeit syntagmatisch aus den präartikulierten Paradigmen möglichen Aussagen, sondern den Raum der tatsächlich realisierten Aussagen. Und dennoch scheinen die gesetzmäßig ablaufenden Artikulationsprozesse sowie die daraus differenziell hervorgehenden Funktionsmöglichkeiten, welche die Deskription zugänglich macht, mit der Episteme, dem „historischen Apriori“, identisch.36 Kredo und Krux von Les mots et les choses liegt in der Methode, die einen Weg zwischen einem naiven Empirismus – als sinnlicher Erfahrung sachlicher Dinge – und einem phänomenologischen Transzendentalismus – als absolute Erfahrung der Gegenwärtigkeit solcher Sachen37 – zu gehen vermöchte: eine Analyse der epochal vorherrschenden Gesetzmäßigkeit als Bedingung historischer Wissensstände. Der Diskurs muss hierbei als performatives Ensemble von Regeln verstanden werden, das Subjekt und Objekt, Verbindungen und Verteilungen sowie Geltung und Verdrängung durch die eigene Praxis hervorbringt. Dieses Hervorbringen aber ist historisch nur immer als Ergebnis gegeben. Was hätte sein können, geht die Historie nichts an; ihr Gegenstand ist, was in und durch Praxis unter all den regelhaft vorgegebenen Möglichkeiten tatsächlich ,positiviertR wurde. Woher dieses Bedürfnis nach einer Neuorientierung, welche diskursive Regeln an die Stelle des Subjekts treten lassen? Aufschlüsse gibt die Lexik. Sowohl in Les mots et les choses, mehr noch in LQarch8ologie du savoir begegnen wir einem technischen Vokabular, das sich so in Raison et D8raison. Histoire de la folie / lQffge classique nicht findet. Es ist in seiner Technizität sowie in der Suggestion exakter Wissenschaftlichkeit der zeitgenössischen Semiotik, auch in dem Affekt Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 11; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 22. Saussure, Cours de linguistique g8n8rale (wie Anm. 33), 156. 36 Es handelt sich um einen Ausdruck, den Foucault von Husserl entliehen haben dürfte; vgl. Rik Peters, The Episteme and the Historical A Priori. On FoucaultQs Archaeological Method, in: Journal of French and Francophone Philosophy – Revue de la philosophie franÅaise et de langue franÅaise 29/1 – 2 (2021), 109 – 129, hier 115; Foucaults Archäologie hingegen verdanke ihren Namen Kant, vgl. Andrea Hemminger, Kants Einfluss auf Foucaults Kritik der Subjektphilosophie, in: Valerio Rohden, Ricardo R. Terra u. a. (Hg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 5, Berlin, New York 2008, 587 – 598, hier 594; vgl. auch dies., Nachwort, in: Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, Frankfurt am Main 2010, 119 – 141, hier 130 – 133. Zu einer kritischen Beurteilung dieser Anthropologie, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, und deren Bedeutung für die Entwicklung von Foucaults Denken vgl. HansDieter Gondek, Vom Weltbürger zum Übermenschen. Michel Foucault über Kants Anthropologie, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 5/1 (2011), 245 – 253. 37 Zur Kritik beider Vorstellungen von ,RealitätR vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 65; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 72. 34

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gegen das historische Kontinuum als Diachronie, zumindest nachempfunden. Als ursprüngliche Absicht bezeichnet Foucault den Nachweis, dass auch die „simpelsten Begriffe in einem gegebenen Augenblick den Gesetzen eines bestimmten Wissenscode“38 gehorchen. Die durch das Regelwerk auf Synchronie gestellte Artikulation wert- und funktionsbehafteter Aussagen, nicht deren diachrone Evolution ist das entscheidende Moment und das Ziel der neuen deskriptiven Wissenschaft: Die Erkenntnisse [connaissances] können sich vielleicht fortsetzen [sQengendrer], die Ideen sich ändern [transformer] und aufeinander wirken (aber wie? die Historiker haben es bis heute uns nicht sagen können), eines bleibt auf jeden Fall sicher: die Archäologie definiert Systeme der Gleichzeitigkeit, etwa die Serie der notwendigen und ausreichenden Mutationen, um die Schwelle einer neuen Positivität zu beschreiben, indem sie sich an den allgemeinen Raum der Gelehrsamkeit [savoir], an ihre Konfigurationen, an die Seinsweise [mode dQÞtre] der Dinge wendet, die darin auftauchen.39

Die Sprache verrät – auch wenn sie es nur ungern tut – ihren Ursprung; es geht um Diachronie,40 Serien notwendiger und ausreichender Mutationen, die Positivität von Zeichen und Aussage, die beobachtbare Verteilung von Elementen in einem zeiträumlichen Kontinuum. Es geht um das Programm der Übertragung einer strukturalistischen Methode in transphrastische Zusammenhänge und historische Kontexte, wie sie die strukturale Linguistik seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts einzufordern beginnt41 und mit den Arbeiten Pmile Benvenistes und L8vy38 39

25 f.

Foucault, Vorwort zur dt. Ausgabe von: ders., Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 9 f. Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 14; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11),

40 Es darf vermutet werden, dass die entscheidende Dichotomie zwischen -etischer (Phonetik, Semiotik etc.) und -ologischer (Phonologie, Semiologie) Perspektive, die seit Saussures Cours de linguistique g8n8rale (wie Anm. 33), 56 und 114, auf die verschiedenen sprachlichen und semiotischen Ebenen systematisch angewendet wird (-etisch vs. -emisch), hier Pate steht. Gerade mit Blick auf die Geschichtswissenschaft hatte Saussure nolens volens der strukturalistischen Geschichtswissenschaft das Konzept tableauhafter Synchronie vermittelt, welches erlaubt, die Wissenschaft kontingenter historischer Veränderungen zur Wissenschaft historischer Mechanismen zu erheben. Existenz, Funktion und Struktur dieser Mechanismen kommen mit den Grenzen einer Epoche überein. Gleichzeitig zeigt Saussure an, dass die eigene Disziplin analog der Wirtschaftswissenschaft in der gleichzeitigen Systematizität und Historizität ein Alleinstellungsmerkmal hat: „Die Phonetik ist eine historische Wissenschaft; sie analysiert Ereignisse und Transformationen; sie bewegt sich in der Zeit. Die Phonologie steht außerhalb der Zeit, da ja der Mechanismus der Artikulation [i. e. der differenziellen Gliederung] sich gleichbleibt“.; „Die Mehrheit der anderen Wissenschaften ignorieren diese radikale Dualität; die Zeit produziert darin keine besonderen Wirkungen“. Übers. E.A. 41 Hier sei nochmals HarrisQ Discourse Analysis (wie Anm. 22), 1 zitiert: „One can approach discourse analysis from two types of problem, which turn out to be related. The first is the problem of continuing descriptive linguistics beyond the limits of a single sentence at a time. The other is the question of correlating ,cultureR and language (i. e. non-linguistic and linguistic behavior)“.

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StraussQ42 sowie der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit discours und r8cit bei Tzvetan Todorov, G8rard Genette und Claude Br8mond um das Jahr 1966 ins Zentrum der strukturalistischen Aufmerksamkeit rückt. Ja, wir finden bei Foucault mitunter methodologische Kautelen, die nichts anderem als einer strukturalen Analyse der elementaren Beschaffenheit von Aussagen und deren historischen Konfigurationen gelten.43 Natürlich liegt es nahe, dass eine historische Untersuchung, die zu einem nicht geringen Teil dem historischen Wissen von der Sprache gilt, sich bisweilen einer sprachwissenschaftlichen Lexik bedient. In Foucaults Analyse aber geht es um mehr, nämlich nicht etwa um das bloße Wissen von der Grammatik, sondern vielmehr um die Grammatik des Wissens. Im Gegensatz zur philosophischen Semantik ist ihre elementare Grundlage nicht die Proposition, im Gegensatz zur grammatikalischen Analyse nicht der Satz und im Gegensatz zur Sprechakttheorie nicht der illokutionäre Akt, sondern die „Aussage“ (8nonc8)44 – und diese nicht so sehr als Äußerung, sondern als Aussagefunktion. Letztere entspricht zwar so ziemlich demjenigen, was wir gängig unter der Institution eines Zeichens verstehen, ohne dass Foucault jedoch bereit wäre, eine solche Gleichsetzung einzuräumen.45 Was aber ist die positive, zeit-räumliche Okkurrenz eines materiellen Gegenstandes, der durch sein Auftreten performativ in das historische Wissen hineinwirkt, wenn nicht eben dasjenige, was ein solches Wissens bezeichnet? Auch lässt sich, bei allem begrifflichen Lavieren um die Materialität46 dieser Zeichen eine methodologische Grundausrichtung im Fahrwas42 Zur strukturalistischen Vorgeschichte von ,discoursR vgl. Manfred Frank, Sur le concept de discours chez Foucault, in: Michel Foucault philosophe (wie Anm. 24), 125 – 134. 43 So z. B. der unvoreingenommene Blick. Wer Ordnung analysiert, hat auf die eigene Prädetermination zu achten; vgl. Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 11; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 22 f.: „Dennoch könnte ein Blick, der nicht im voraus gewappnet ist, einige ähnliche Figuren einander annähern und andere aufgrund diesen oder jenen Unterschiedes trennen. Tatsächlich gibt es selbst für die naivste Erfahrung keine Ähnlichkeit, keine Trennung, die nicht aus einer präzisen Operation und der Anwendung eines im voraus bestehenden Kriteriums resultiert. Ein ,System von ElementenR, eine Definition der Segmente, bei denen die Ähnlichkeiten und Unterschiede erscheinen können, die Variationstypen, durch die diese Segmente berührt werden können, schließlich die Schwelle, oberhalb derer es einen Unterschied und unterhalb derer es Ähnlichkeiten gibt, ist unerläßlich für die Errichtung der einfachsten Ordnung. Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert“. 44 Vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 105 – 115; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 115 – 127. 45 Vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 66 f.; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 73 f. 46 Nachdem Foucault wiederholt auf die zeit-räumliche Okkurrenz der Zeichen als materielle Gegenstände verwiesen hat, präzisiert oder revidiert er, indem er den Herrschaftsraum der Materialität nun auf die Institution (nicht die Okkurrenz) bezogen sehen möchte; LQarch8ologie du savoir

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ser Saussures erkennen, welche die Struktur klar priorisiert, wie es für Foucaults intellektuelles Umfeld geradezu selbstverständlich ist. Die zitierte „Schwelle einer neuen Positivität“ bezeichnet nichts mehr und nichts weniger als den Eintritt in ein „Feld“,47 dessen „Realitätsbedingungen“ durch die ausschließlich auf die Diskurse ausgerichtete Archäologie zu klären sind.48 Dadurch könnte denn auch die andere „Schwelle“, diejenige zwischen einer naiven Geschichtsschreibung zu einer eigentlichen Geschichtswissenschaft überschritten werden, die tatsächlich Anspruch auf das Etikett ,scientificit8R – im Gegensatz zu den beschriebenen Wissensformationen – hätte. Denn, so gilt es zu vermuten, Foucaults Archäologie dürfte für sich selbst wohl einen anderen Status des Wissens reklamieren, als ihn die Psychopathologie der Belle Ppoque, die physiokratische Analyse der Produktivität oder die Sprachursprungsdebatten der Sensualisten bereithalten.49 Die ganze Rede von der Positivität könnte letztlich nicht viel mehr bedeuten, als dass es diskursive, regelmäßig verlaufende Ausdifferenzierungsmechanismen sind, die in radikaler Arbitrarität sowohl das historische Wissen als auch deren Subjekte und Objekte sowie das Denken als ,InterkonnexionR dieser Elemente hervorbringen und ermöglichen.50 Das Geschichtsbewusstsein scheint eines, das um das Primat der Struktur als eigentliche Positivität – bei aller Materialität ihrer Elemente – als vorgängiges und eigentliches Erkenntnisziel weiß. Zum Vergleich mag hier nochmals Hjelmslev zitiert werden, dass „die Grundsprache selbst“ in ihrer „Erkenntnis“ nichts anderes als der „Satz von Formeln zur Bezeichnung der Elementfunktionen“ sein kann, da ein „Sprachzustand“ einzig als „Sprachbau“ gegeben ist.51 Die methodologischen Grundannahmen und deren Transformation, die Foucault vornimmt, stehen ganz im Zeichen desjenigen, was der spekulative Strukturalismus sich vom rigoristischen borgt:52 Die Vorstellung historischer Notwen(wie Anm. 16), 136; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 150: „Das System [r8gime] der Materialität, dem die Aussagen notwendig gehorchen, gehört also mehr der Institution zu als der räumlich-zeitlichen Lokalisierung; es definiert Möglichkeiten der Re-Inskription und der Transkription (aber auch Schwellen und Grenzen) mehr als begrenzte und vergängliche Individualitäten“. 47 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 166 f.; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 183 f. 48 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 167; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 184. 49 Vgl. Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 240 und 242 f.; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 262 und 264 f. 50 Zum Einfluss, den hier der klassische Strukturalismus entfaltet, vgl. Werlen, Sprachliche Relativität (wie Anm. 12), 262 f. 51 Hjelmslev, Die Sprache (wie Anm. 2), 148. 52 Ich folge hier der überzeugenden Kritik Pavels, der einen „gemäßigten“, einen „szientisti-

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digkeit gründet in einer sich streng gebenden formalen Reduktion, deren Methode sich ihrerseits auf einige wenige Grundoperationen beruft. Sicher, von dieser Form der Scientificit8 verabschiedet sich Foucault mit ironischer Volte, indem er das eigene Ziel in den Bereich des Unerreichbaren rückt;53 und dennoch: Wohin und in welche Richtung sollte die Reise bei aller Unerreichbarkeit denn führen, wenn nicht in diejenige des Ziels? Tatsächlich kann, bei aller selbstironischen Distanzierung, Foucaults Schwanengesang auf die eigenen Ansprüche als eine Absage an den klassischen, sprachwissenschaftlichen Strukturalismus verstanden werden,54 als eine Einsicht in die Unmöglichkeit des ganzen Unterfangens: der Übertragung der an der Phonologie und Morphologie gewonnenen Einsichten in die Ausdifferenzierungsleistungen des Systems als solchem und dessen strukturierter Aktualisierung in der Äußerungspraxis.55 Was Foucaults im engen Sinne wissenshistorische Phase betrifft, so bleibt – bei all dem begrifflichen Hin und Her – die vorherrschende Position, dass ein Set an Regeln den Grund bildet, auf dem das empirische Gebilde aus Wissensäußerungen (jenseits von Sender und Adressat) ruht; den Regeln verdankt es seine zeiträumliche Identität sowie auch den Ermöglichungsgrund, um Auftreten und Bildung seiner Elemente zu erklären. Foucault spricht denn auch – so als wollte er zu den Domänen, Feldern, Räumen noch eine weitere, noch konkretere Metapher des abstrakt Allgemeinen hinzufügen – vom „sol dQune disposition 8pist8mologique rigoureuse et g8n8rale“, vom „Boden einer epistemologischen Disposition, die rigoros und allgemein ist“.56 schen“ und einen „spekulativen Strukturalismus“ unterscheidet; Thomas Pavel, Le mirage linguistique. Essai sur la modernisation intellectuelle, Paris 1988, 12 f. 53 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 178; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 194: „Vielleicht bin ich im Grunde nur ein Ideengeschichtler […]. Ein Ideengeschichtler, der von Grund auf seine Disziplin hat erneuern wollen; der zweifelsohne [sans doute] den Wunsch hatte, ihr jene Strenge zu geben, die so viele andere Beschreibungen, die verwandt sind [apparent8], in letzter Zeit kürzlich erreicht haben; der aber, unfähig, jene alte Form der Analyse wirklich zu modifizieren, unfähig, sie die Schwelle der Wissenschaftlichkeit [scientificit8] überschreiten zu lassen (sei es, daß eine solche Metamorphose für immer unmöglich ist oder daß er nicht die Kraft hatte, selbst diese Transformation vorzunehmen), erklärt, um den Schein zu wahren [pour faire illusion], daß er stets etwas anders getan hat und hat tun wollen“. 54 Wie Dosse zeigt, dürfte der Siegeszug von Chomskys Generativer Grammatik nicht wenig zur Distanzierung führender französischer Intellektueller gegenüber dem nun als statisch kritisierten saussureschen Strukturalismus beigetragen haben. In den Augen zeitgenössischer Rezipienten versprach jener, wohl im produktiven Missverständnis des einzigen Begriffs des Generativen eine Dynamik, welche den historischen, gesellschaftlichen und politischen Dimensionen zu entsprechen vermöchte, ein Umstand der mit Blick auf die Ereignisse von 1968 alles andere als eine Petitesse darstellt; vgl. Dosse, Le chant de cygne (wie Anm. 1), 19 f. 55 Zu den politischen Motiven, die Foucault im Mai 1968 zu den seinigen erklärt, vgl. Dosse, Le chant du cygne (wie Anm. 1), 191 – 193. 56 Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 178 f.; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 213.

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II. Eine Epoche der Aufklärung? Ein ,Boden epistemologischer DispositionR artikuliert sich archäologisch wohl am deutlichsten als historische Herrschaftsdomäne, die sich durch ihren jeweiligen Modus semiotischer Bezüglichkeit auszeichnet: Ähnlichkeit beherrscht die Verweisfunktion von Zeichen und Dingen in der Renaissance, Identität im ffge classique, historisierende Subjektivität im Zeitalter des Menschen. Die Epochen sind holistische Gebilde, in welche realiter und potentialiter alles mit allem zusammenhängt, ja in welchem das Gesamt als Voraussetzung des einzelnen Elements erscheint.57 Wie gezeigt, sind die Gesetze, die hier herrschen, Ergebnisse einer deskriptiven Analyse von Regelmäßigkeiten, wobei diese durch den Anspruch, den Rahmen des Möglichen zu definieren, eo ipso den Status von Gesetzen erhalten. Der Zwang ist beachtlich, die Herrschaft souverän.58 Vor dem Hintergrund dieser Auffassung – also derjenigen, die Foucault mehr oder minder in Les mots et les choses und LQarch8ologie du savoir vertritt – ist die Frage nach Aufklärung als Epoche fast ebenso rasch beantwortet wie gestellt. Historisch kann sie nur dort situiert werden, wo das ffge classique zu finden ist, also grosso modo zwischen dem frühen Descartes und den späten Id8ologues. Der Ausdruck ,siHcle de LumiHresR, mit welchem man gemeinhin das französische Aufklärungszeitalter bezeichnet, findet sich in Les mots et les choses ebenso wenig wie das Etikett ,PhilosophesR, das Gegner und Anhänger der Aufklärung den Aufklärern anheften. Die Bezeichnung ,ffge classiqueR umfasst zudem dasjenige, was die französische Geschichtsschreibung sonst als Grand siHcle, Classicisme, Pr8-Classicisme, SiHcle de Louis XIII, SiHcle de Louis XIV u. a. m. bezeichnet, wobei es generell zu beobachten gilt, dass Franzosen und Französinnen sehr gut auch mit Ordinalzahlen zu leben wissen, also XVIIe oder XVIIIe siHcle. Foucault hält sich also nicht an die Epocheneinteilungen, wie sie in allen französi57 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 128; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 142: „Es genügt nicht, einen Satz zu sagen, es genügt nicht einmal, ihn in einem auf ein Objektfeld [champ dQobjets] hin determinierten Verhältnis oder in einem auf ein Subjekt hin determinierten Verhältnis [rapport] zu sagen, damit eine Aussage vorliegt – damit es sich um eine Aussage handelt. Man muß ihn in Verhältnis zu einem ganzen angrenzenden [adjacent] Feld stellen. Oder vielmehr, da es sich dabei nicht um ein zusätzliches Verhältnis handelt, das die anderen ,überprägtR [surimprimer], kann man einen Satz nicht sagen, kann man ihn nicht zu der Existenz einer Aussage gelangen lassen, ohne daß ein Nebenraum [espace collat8ral] hervorgebracht [mis en œuvre] wird“. 58 Vgl. die Zeichenvorstellung, welche das ffge classique durchherrscht: „Die klassische Ordnung verteilte [distribuait] in einem permanenten Raum die nicht-quantitativen Identitäten und Unterschiede, die die Dinge trennten und vereinten. Jene Ordnung herrschte souverän, aber jedes Mal nur gemäß Form und leicht verschiedenen Gesetzen, über den Diskurs der Menschen, das Tableau der natürlichen Wesen und den Austausch der Reichtümer“; Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 230 f.; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 271.

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schen Gymnasien von Alters her eingeübt werden. Was jedoch stärker überrascht, ist nicht die Zusammenfassung von Klassizismus und Aufklärung unter der einen identitätsstiftenden Bezeichnung, sondern das Fehlen derjenigen Autoren und Werke, die als die bekanntesten unter den Aufklärern gelten: Voltaire taucht ein einziges Mal auf, nämlich als Popularisator von Newton, wobei die Popularisierung als „wahrscheinlich“ selbst „nicht mehr als ein soziologisches Phänomen“59 rasch abgetan ist; Diderot ein halbes Dutzend Mal, wobei stets in Namenskaskaden, die dem Vitalismus oder der Zeugungslehre gelten, dQAlembert schafft es auf eine Erwähnung, wobei sein Name lediglich als terminus ad quem in der Geschichte der Mechanik dient,60 Rousseau auf sechs, vorzugsweise im Zusammenhang mit seiner Sprachursprungsschrift etc. Foucaults Zeitalter der Aufklärung ist vielmehr dasjenige Condillacs (ca. 45 Okkurrenzen), Buffons (über 20), Destutts de Tracy (ca. 15), Laws, Cantillons und Dutots (etwa ein Dutzend) etc. Sicher, das alles hat mit den gewählten Untersuchungsgegenständen zu tun: Sprache, Leben, Reichtum. Doch auch hier unterscheidet sich Foucault von zahlreichen Geschichten der französischen Aufklärung, indem er – ähnlich wie zeitgleich Chomsky in seinen Cartesian Linguistics von Port-Royal über Descartes und Herder bis Humboldt61 – nicht etwa Condillac oder dessen Radikalisierung bei den Id8ologues von der Sprachauffassung DescartesQ oder Port-Royals absetzt, sondern eine grundlegende klassische Repräsentationsfigur bei all diesen Autoren als gegeben erachtet. Das klassische Denken der Ordnung nämlich „impliziere“ offensichtlich notwendig, dass es von „einer Genese der Erkenntnisse verdoppelt [werde], wie […] es in der Tat [effectivement] und ohne Unterbrechung von Locke bis hin zur Id8ologie“ der Fall war.62 Locke, der ansonsten praktisch nur noch im Zusammenhang mit der sogenannten Quantitätstheorie Erwähnung findet, steht wie Hobbes, Descartes, Port-Royal, Condillac etc. etc. für eine Sprachauffassung, die auf eine reine Repräsentation zielt und aufgrund ihrer Transparenz denn auch ,klassischR heißen darf. Die zentrale Beziehung der Zeichen zu den Dingen ist die „Repräsentation“, die für das gesamte Zeitalter auch 59

127.

Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 103; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11),

60 Vgl. Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 140; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 169. 61 Noam Chomsky, Cartesian Linguistics. A Chapter in the History of Rationalist Thought. New York, London 1966. – Über weite Strecken ließe sich gegen die Unterschiedslosigkeit, mit welcher Einwände, Gegenentwürfe, glatte Ablehnungen als bloße Oberflächenphänomene abgetan werden, dasjenige einwenden, was Aarsleff in seiner berühmten Abrechnung mit Chomskys Cartesian Linguistics äußert, nämlich, dass es primär Locke über die Vermittlung Condillacs und nicht Descartes sei, der das sprachliche Paradigma der Aufklärung prägte; Hans Aarsleff, The History of Linguistics and Professor Chomsky, in: Language 46/3 (1970), 570 – 585. 62 Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 86; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 107.

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das Wissen vom Leben und von den Reichtümern bestimmt, und wie zu vermuten ist, auch für alle anderen, weniger prominenten Bereiche des Wissens gelten kann. Die Menschen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts denken den Reichtum, die Natur und die Sprachen nicht mit dem, was ihnen die voraufgehenden Zeitalter gelassen hatten, und auf der Linie dessen, was bald entdeckt werden sollte; sie denken ausgehend von einer allgemeinen Einteilung, die ihnen nicht nur Begriffe und Methoden vorschreibt, sondern die, auf fundamentalere Weise, eine bestimmte Seinsweise für die Sprache, die Einzelwesen, die Natur, die Gegenstände des Bedürfnisses und des Verlangens vorschreibt. Diese Seinsweise ist die der Repräsentation. Von nun an erscheint ein ganzer gemeinsamer Boden, auf dem die Geschichte der Wissenschaften als eine Oberflächenwirkung figuriert. Das heißt nicht, daß man sie künftig beiseite lassen kann, sondern daß eine Reflexion über das Historische eines Wissens sich nicht mehr damit zufriedengeben kann, durch die Folge der Zeiten dem Faden der Kenntnisse zu folgen.63

Es gilt für die Aufklärung oder das ffge classique, was mit Blick auf jede Zeit gilt: Eine „Geschichte des Wissens kann nur ausgehend von dem gebildet werden, was ihm gleichzeitig war“. Was gleichzeitig ist, kann nicht „Einfluss“ sein, sondern muss als Bedingung gedacht werden, d. h. heißt als „Apriori“.64 Ist es auch unmöglich, das „Archiv“ einer gesamten Epoche, d. h. die neue Mitte zwischen der langue als „System der Konstruktion aller möglichen Sätze“ und dem „Korpus“ aller tatsächlichen Äußerungen, als Ebene einer „Vielheit von Aussagen“ (multiplicit8 dQ8nonc8s) unter dem Gesichtspunkt einer „Praxis regelmäßiger Ereignisse“ erschöpfend zu beschreiben, so scheint es doch möglich und gerechtfertigt, das Apriori all der Regelmäßigkeit auf wenige Erkenntnisse zu beschränken. Was die Folge der Epochen betrifft, so ist es aufgrund der Diskontinuitäten, die jeder dieser Brüche bedeutet, nicht möglich – wie sollte es auch anders sein –, ein Apriori der Folge dieser Epochen, d. h. ein Apriori jenseits seiner historistischen Relativität, zu behaupten. Und nur so kann denn auch die Archäologie von „der Existenz einer allgemeinen Grammatik, einer Naturgeschichte und einer Analyse der Reichtümer berichten“, die als bruchlose, mehr noch als „risslose“ (sans fissures)65 Gleichzeitigkeit sich von dem einen Ende der Epoche bis zum anderen erstreckt, d. h. von einem „Bruch“ (rupture) zum nächsten. Und doch kommt es zum Ende des ffge classique zu einem zweiphasigen Übergang, der die Zeit zwischen 1775 und 1825 segmentiert und offensichtlich die Gleichzeitigkeit eines neuen Zeitalters und der alten Repräsentation erlaubt, kon63

260.

Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 221; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11),

64 Foucault, LQarch8ologie du savoir (wie Anm. 16), 166 – 173; Archäologie des Wissens (wie Anm. 16), 183 – 190. 65 Foucault, Les mots et les choses (wie Anm. 11), 221; Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 11), 261.

Aufklärung und ffge classique

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kret: die Gleichzeitigkeit der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und der post-sensualistischen Id8ologie. Der Umstand hat denn auch als Beleg gedient, Foucaults Diskontinuität nicht als dasjenige zu verstehen, als was sie gemeinhin verstanden wird, sondern als eine, die bedingt Kontinuitäten in Form von Übergängen zulasse.66 Der strategische Nutzen einer solchen Ansicht ist mit Blick auf derzeitiges Belieben groß: Zum einen befreit sie Foucault vom Vorwurf eines historischen Determinismus, der einen Begriff von Freiheit und damit ein emanzipatorisches Wirken verunmögliche, zum anderen befreit er Kant von dem offensichtlich nicht gern gesehenen Vorwurf, Ausdruck einer unterschiedslosen Episteme des ffge classique zu sein. Kant avanciert vielmehr zu derjenigen historischen Autorität, deren kritisches Denken Foucaults eigenes kritisches Geschäft präfiguriere. ,BruchR scheint also hier weniger Diskontinuität zu bedeuten, als ein Bröckeln zu bezeichnen, mehr noch: Die rupture zwischen ffge classique und dem Zeitalter einer humanistischen Subjektivität wird für eine zentrale Figur wie Kant zu einer rapture, durch die sich dieser den codes fondamentaux seiner Zeit enthoben sieht und so eine Wirkung entfalten sowie eine Bedeutung beanspruchen kann, die auch noch zwei Jahrhunderte später im Kommentieren, in einem durch und durch hermeneutischen Akt, freigelegt und programmatisch jenseits aller Epochalität einem neuen Programm der Aufklärung als Freiheitspostulat dienen kann. 1984 verfasst Foucault einen Aufsatz zum 200jährigen Geburtstag von Kants Was ist Aufklärung? Es handelt sich um ein überraschendes Dokument, das zum einen Kants „Ausgang“ (im Original auf Deutsch) aus der Unmündigkeit als Grenzüberschreitung im Spannungsverhältnis von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch liest, zum anderen Baudelaires Verständnis von Modernität, die sich als Heroisierung der Gegenwart nur in der Kunst ereignen könne, in den Blick nimmt, zum dritten einen Begriff von Aufklärung (im Original, bis auf den Titel, durchgehend auf Deutsch) entwirft, die als „permanente Reaktivierung einer Haltung“ definiert wird, „das heißt eines philosophischen ethos, das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte“.67 Es enthält zudem die nun schon bekannte Absage an Kants transzendentales 66 Vgl. Andrea Hemminger, Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants? Berlin, Wien 2004, 80 – 83. 67 Die Veröffentlichungsgeschichte des Kommentars ist etwas kompliziert. Er geht auf Foucaults Eröffnungsvorlesung für das Jahr 1983 am CollHge de France zurück. Diese erscheint ein erstes Mal in der Nummer 207 (1984) des Magazine litt8raire, die Foucault gewidmet ist. Foucault baut den Text für den Foucault Reader von Paul Rabinow (New York 1984) aus. Das Magazine litt8raire druckt auch diese Fassung unter dem unveränderten Titel QuQest ce que les LumiHres?, und zwar in der Nummer 409 (1993), die Kant gewidmet ist, bevor dieser noch in die Sammlung von Foucaults Textes et entretiens (Paris 1994) aufgenommen wird. Die deutsche Übersetzung von Hans-Dieter Gondek beruht auf der englischen und findet sich in in: Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften,

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Subjekt und ein Bekenntnis zur Genealogie (Nietzsches) an deren Statt. In unserem Zusammenhang, also demjenigen wissensgeschichtlicher Periodisierung und deren Konsequenzen für das Denken, ist Foucaults einleitender kleiner Versuch einer Typologisierung des Verhältnisses von Gegenwart und Geschichtsauffassung von Interesse. Es sind drei Alternativen, die Foucault hervorhebt: Gegenwart als Wendepunkt einer dramatischen Entwicklung (Platon im Politikos), als Vorbotin der Zukunft (Augustinus) oder als transitorisches Moment auf dem Weg in eine neue Welt (Vico). Kants Verständnis von Aufklärung sei da ein anderes: Es gehe ihm um Ausgang, und damit um ein rein negatives, auf die einzige Differenz zum Vergangenen hin ausgerichtetes Zeitverständnis. Die Vergangenheit gehört der Unmündigkeit, dieser sich zu entledigen, ist eine Aufgabe, welche sich die Aufklärung gibt. ,AufklärungR bezeichnet hier nicht eine Epoche, sondern eine Haltung, und zwar diejenige der Kritik. Foucault fragt nicht, wie der Imperativ des Sapere aude! sich zu seiner Zeit, d. h. derjenigen Kants, verhält, noch ob dieser Imperativ für Wolff eine andere Bedeutung hatte.68 Eine historische Verortung der Haltung nimmt Foucault nur insofern vor, als der Aufruf zum ,AusgangR als Rückseite einer Medaille gelesen wird, deren Vorderseite die gouvernementalisation, das heißt den „großen historischen Prozess der Regierbarmachung“,69 zur Darstellung bringt. Der Prozess der Regierbarmachung ist es also, der als historische Bedingung der kantschen Kritik erkannt und gelesen werden muss. Selbstdenken oder -wissen ist nur dann, was es ist, wenn es von Gehorchen begleitet und kontrastiert wird. Ob aus dem Widerstreit von Freiheit und Gehorsam nun der Gehorsam als Bedingung und eigentlicher Anlass des Freiheitspostulats abgeleitet werden kann, sei dahingestellt. Tatsächlich bildet die Frage den Ausgangspunkt von Foucaults dialektischer Behandlung des privaten und öffentlichen Vernunftgebrauchs bei Kant. Doch auch hier gilt Foucaults Interesse nicht einem übergeordneten humanistischen Ethos, das im Imperativ seinen formalen Ausdruck fände, sondern der materialen Bestimmtheit, mehr noch: historischer Bedingtheit eines jeden

Bd. 4: 1980 – 1988, hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald, Frankfurt am Main 2005, 687 – 707, hier 699. – Nach Ewald handle es sich um den letzten Text Foucaults; die mündliche Mitteilung gibt Hemminger, Kritik und Geschichte (wie Anm. 66), 186 wieder. 68 Bekanntlich fand sich das Sapere aude! auf einer Medaille, die Leibniz neben Wolff auf dem Helm der Minerva zeigt und im Auftrag der Gesellschaft der Alethophilen (also Manteuffels) von Johann Georg Wachter realisiert wurde; vgl. Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin, New York 2010, 161 – 164. 69 Michel Foucault, QuQest-ce que la critique? [Critique et Aufklärung] (1978), in: Bulletin de la Soci8t8 franÅaise de Philosophie 84/2 (1990), 35 – 63. Hier zit. nach Hemminger, Kritik und Geschichte (wie Anm. 66), 177.

Aufklärung und ffge classique

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Versuchs, Wahrheit in Kraft zu setzen, oder – um es mit dem späten Foucault zu sagen – einer jeden v8ridiction.70

III. Ethische Implikationen Bekanntlich überschlagen sich die Metaphern flacher, dezentrierter und entgrenzter Hierarchien in der Rezeption des französischen Post- oder Neostrukturalismus: Konstellationen, Sedimentierungen, Verknotungen, Rhizome, Netze aller Art, Texturen und Geflechte. Foucaults Angebot oder Aufforderung, die Beschreibung an die Stelle der Analyse zu setzen oder besser: den Unterschied zwischen Beschreibung und Analyse aufzuheben, scheint tatsächlich weniger einem Bekenntnis zum Historismus des 19. Jahrhunderts, als vielmehr einem eigenen Imperativ zu entsprechen, nämlich Macht, wo immer sie ist oder sein mag, nicht an dem eigenen Selbstanspruch teilhaben zu lassen. So scheint er sich beim Verfassen seines Discours de la m8thode, der Arch8ologie du savoir, bewusst geworden zu sein, dass die Grammatik als eine Tiefengrammatik, die eigentliche ,MaschineR der Sinnproduktion, tatsächlich ein Verborgenes ist, das zum Analogen der latenten ökonomischen oder libidinösen Determinanten der marxistischen oder freudianischen Analysen werden könnte – und sich also auch analoge Vorwürfe gefallen lassen müsste, die Foucault selbst gegen den Freudo-Marxismus erhebt. Die Oberflächeneffekte mutieren so unter der Hand zu den einzig tragbaren Positivitäten, die es nun nicht mehr zu ordnen, in ihren formalen Abhängigkeiten zu verstehen, transzendental in ihrer Ermöglichung zu erklären gilt, sondern einzig zu beschreiben. Die Volte zurück, von der Wissensgeschichte zu einer Geschichte der Macht, zu einer Entdeckung des Willens, der die Ereignisse nicht nur in die Geschichte eines eigenen historischen Möglichkeitsraums als geltende einzuschreiben vermag, sondern als positivierender Akt dem Wissen Macht verleiht, wo nicht in der Macht aufgehen lässt, mag als Aufklärung der Aufklärung, d. h. heißt als Offenlegungen einer verborgenen Macht und eines verborgenen Willens hinter, vor oder über den Proklamationen von Aufklärung und Kritik, verstanden werden oder aber als Absage an die Aufklärung, indem diese in die sattsam bekannten Aporien einer sich selbst der Kritik entziehenden Kritik, einer sich selbst verpflichtenden Freiheit, einer unvernünftigen Vernunftgläubigkeit etc. geführt werden. Die Gefahr, dies darf wohl festgehalten werden, zwischen historischer Bedingung und Ursache, zwischen Interesse und Sinn Gleichheitszeichen zu setzen, Vgl. Pasquale Pasquino, La probl8matique du ,gouvernementR et de la ,v8ridictionR, in: Actes. Les cahiers dQaction juridique 54 (1986), 16 – 21; Luca Paltrineri, LQexp8rience du concept. Michel Foucault entre 8pist8mologie et histoire, Paris 2012, 213 – 268. 70

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ist groß. Sie erscheint – für unser Verständnis von Geschichte – nur umso größer, wenn eine Figur wie Kant diejenige Haltung präfiguriert, deren Bedingungen als eigentliche Bedeutung die Geschichte erst noch zu realisieren hat, damit wir denn den eigentlichen Kern der Kritik zu erkennen vermögen. Die Frage, die sich hier stellt, ist nicht mehr diejenige nach der Aufklärung als Epoche, nicht mehr diejenige nach der Verbindung der Epoche mit einer philosophischen Haltung, sondern diejenige nach den ethischen Absichten, die hinter der Interpretation oder Re-Interpretation des kantischen Programms einer kritischen Aufklärungsphilosophie bei Foucault steht. Nach Archäologie und Genealogie – und sicherlich auch gleichzeitig zu diesen – entwickelt Foucault in seinem Spätwerk eine Ethik, oder eher: ein eigenes Untersuchungsfeld ethischer Selbstkontrolle, die sich als eigentliche „Kunst“ (ars, techne), als eine „Technologie des Selbst“ versteht. Es sind historische Praxen der Selbstoptimierung, die „einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit“ zu erlangen suchen.71 Doch auch hier, bei der Ausübung dieses Willens zur Selbstoptimierung gilt „der explanatorische Tod des Subjekts“, so dass „von einer subjekttheoretischen Wende und einem radikalen Bruch in der Ethik […] bei Foucault nicht die Rede sein“ kann. Grund dürfte auch hier sein, dass „Menschen mit Individualität, Personalität und Ichbewusstsein insofern Subjekte [sind], als sie zusätzlich durch spezifische Mechanismen geformt und diesen Mechanismen somit unterworfen sind“.72 Für eine ethische Beurteilung von Foucaults Denken, d. h. nun für eine spezifisch deutschsprachige Verwendung von ,AufklärungR,73 ist zentral, ob wir Fou71 Michel Foucault, Technologien des Selbst (1982), in: ders., Dits et 8crits (wie Anm. 67), 966 – 999, hier 968. 72 Wolfgang Detel, Schriften zur Ethik, in: Foucault Handbuch (wie Anm. 20), 129 – 138, hier 135. 73 Das Zeitalter der LumiHres wird in Frankreich viel eher mit der Entwicklung moderner Naturwissenschaften, dem technischen Fortschritt, dem Fortschrittsdenken überhaupt verbunden als mit den heute gängigen Assoziationen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und kritischer Partizipation. Diese Priorisierung spiegelt sich denn auch in der Folge, die Foucault der Behandlung der Aufklärung bzw. LumiHres in seinem Aufsatz für die Sondernummer für den verehrten Georges Canguilhelm vornimmt; Michel Foucault, La vie: lQexp8rience et la science, in: Revue de M8taphysique et de Morale 90/1 (1985), 3 – 14, hier 4; zit. nach der dt. Übers. von Hermann Kocyba, Michel Foucault, Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft, in: ders., Dits et Ecrits (wie Anm. 67), 943 – 959, hier 948 f.: „Verschiedene Prozesse, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen, haben die Frage der Aufklärung [LumiHres] wieder ins Zentrum der gegenwärtigen Bemühungen gerückt. Der Erste besteht in der Bedeutung wissenschaftlicher und technischer Rationalität bei der Entwicklung der Produktivkräfte und im Spiel politischer Entscheidungen. Der Zweite ist die Geschichte einer ,RevolutionR, deren Hoffnung seit Ende des 18. Jahrhunderts von einem Rationalismus getragen war, den man nach seinem Anteil an den Despotismus-Effekten befragen darf, in denen sich diese Hoffnung verirrte. Der Dritte schließlich besteht in der Bewegung, durch die man gegen Ende des Kolonialzeitalters daranging, im Okzident und an den Okzident die

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caults historistische Neutralität als deklarierten Determinismus tatsächlich ernst nehmen und somit „emanzipatorische Strategien“ als „Koketterie“ abtun müssen.74 Handelt es sich umgekehrt um ein provokatives Spiel mit einer sich „zynisch“, nietzscheanisch gebenden Genealogie,75 das ein zutiefst ethisches Engagement kaschiert, wie es Foucault im Privaten durchaus kannte? Ist es tatsächlich so, dass die „Unlöslichkeit des Wissens und der Macht“76 bei Foucault immer präsupponiert erscheint oder dass er diese Verbindung gar nicht so unlöslich sieht,77 dass wir nicht auch anders könnten, als wir müssen. Wenn Letzteres der Fall ist, dann stellen sich zumindest zwei Fragen, nämlich wieso er seinen codes fondamentaux und dem daraus resultierenden historischen Relativismus allen Denkens einen so hohen und unangefochtenen Rang einräumt, und zum zweiten, wie wir ihn denn besser verstehen sollten oder könnten, da eine hermeneutische Schneise durch das Dickicht seiner zahlreichen Äußerungen ja definitiv und prinzipiell nicht ernsthaft gewollt werden darf. Um zu verstehen, was Foucault unter ,AufklärungR versteht, gilt es zu verstehen, welche Epochenformationen Foucault entwirft. Erst anschließend kann gefragt werden, wie sich die Epoche der Aufklärung zu den Inhalten des jeweiligen Aufklärungsverständnisses, zum Programm der Aufklärer oder zu Aufklärung als ethischem Leitbegriff verhält. Die vorliegende Untersuchung einer auf Epochenbildung angelegten Methodik fokussiert den Foucault von Les mots et les choses und LQarch8ologie du savoir, der mit Begriffen wie ,DiskursR, ,EpistemeR, ,KonfigurationR u. a. die Methodendebatten der Geschichtswissenschaften der letzten Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt hat. Insbesondere geht es um die Frage, ob Foucault in seiner Verhältnisbestimmung von Geschichte und Philosophie das wertende, kritische Urteil historisierend suspendiert oder nicht doch Diskursanalyse als Mittel von Aufklärung im Sinn eines emanzipatorischen Wissens zu nutzen beabsichtigt.

Frage zu stellen, mit welchem Recht seine Kultur, seine Wissenschaft, seine gesellschaftliche Organisation und schließlich seine Rationalität selbst universelle Geltung beanspruchen können. Handelt es sich nicht um ein Trugbild, das mit ökonomischer Herrschaft und politscher Hegemonie verknüpft ist? Zwei Jahrhunderte später kehrt die Aufklärung [dt.] wieder: zugleich als eine Weise, in der sich der Okzident seiner aktuellen Möglichkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Freiheiten vergewissert, und als eine Weise, ihn nach seinen Grenzen und den entgegengesetzten Kräften zu fragen. Die Vernunft als Despotismus und als Aufklärung [lumiHre]. // Wundern wir uns nicht, dass die Wissenschaftsgeschichte, und ganz besonders in der Form, die ihr Georges Canguilhem gegeben hat, in Frankreich einen so zentralen Platz in den zeitgenössischen Debatten einnehmen konnte […]“. 74 Detel, Schriften zur Ethik (wie Anm. 72), 137. 75 Wolfgang Detel, Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike, Frankfurt am Main 1998, 8. 76 Michel Foucault, QuQest-ce que la critique? (wie Anm. 69), hier zit. nach Hemminger, Kritik und Geschichte (wie Anm. 66), 182. 77 Vgl. Hemminger, Kritik und Geschichte (wie Anm. 66), 236, hier Fn. 16.

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In order to understand what Foucault understands by REnlightenmentQ, it is important to understand what Foucault conceives an epoch formation to be. Only then can we ask how the epoch of Enlightenment relates to the content of the respective understanding of Enlightenment, to the programme of Enlightenment thinkers or to Enlightenment as an ethically guiding concept. The present investigation of a methodology directed to epoch formation focuses on the Foucault of Les mots et les choses and LQarch8ologie du savoir, who, with concepts such as RdiscourseQ, RepistemeQ, RconfigurationQ and others, has had a decisive influence on the methodological debates of historical scholarship in recent decades. In particular, the question is whether Foucault, in his definition of the relationship between history and philosophy, suspends the evaluative, critical judgement in a historicising way, or whether he intends to use discourse analysis as a means of enlightenment in the sens of an emancipatory knowledge. Prof. Dr. Eric Achermann, Universität Münster, Germanistisches Institut, Schlossplatz 34, D-48143 Münster, E-Mail: [email protected]

Gisela Schlgter Radikaler Reformismus – Franco Venturi, Historiograph der europäischen Aufklärung

I. So präsent Franco Venturi in Italien noch heute sein mag – hierzulande ist er auch in der Aufklärungsforschung bis heute allenfalls eine Randfigur geblieben. Venturi (1914 – 1994) hat, auch jenseits seiner international weit vernetzten Forschungstätigkeiten, ein ungewöhnliches und ungewöhnlich engagiertes Leben geführt. Seine Biographie, sein antifaschistisches Engagement, seine frühen Jahre in Paris, Internierung in Spanien und dann in einem italienischen Lager, sein Aufenthalt als Kulturattach8 der italienischen Botschaft in Moskau 1947 – 1950, sein langjähriges Wirken als Historiker an der Universität Turin, die von ihm begründete Schule, seine Turiner Kontakte zum Verlagshaus Einaudi und seine langjährige Herausgeberschaft der Rivista Storica Italiana sowie seine russischen, osteuropäischen und dann vor allem US-amerikanischen Forschungsreisen und Kontakte, all dies muss im Folgenden ausgeklammert werden. Seit 2014 liegt eine umfassende Biographie von Adriano Viarengo vor.1 Stattdessen sei Venturis weit über die italienische Aufklärung hinaus reichende Aufklärungsforschung zunächst knapp in ihrem zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Kontext skizziert (II.), um anschließend sein Leitmotiv des aufklärerischen Reformismus anzusprechen (III.). In einem nächsten Schritt werden noch heute gültige Forschungspostulate Venturis in Erinnerung gerufen: sein vielzitiertes Konzept der Ideenzirkulation (circolazione delle idee) und sein Adriano Viarengo, Franco Venturi, politica e storia nel Novecento, Rom 2014. Vgl. u. a. folgende Rezensionen (chronologisch): Christof Dipper, [Rez.] Franco Viarengo: Franco Venturi […], in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 95 (2015), 614 – 616; Gisela Schlüter, Settecentistik: Franco Venturi heute, in: Romanische Studien 4 (2016), 575 – 582; Guido Franzinetti, Franco Venturi in Retrospect, in: Storia della storiografia 71/1 (2017), 131 – 149. Schon 2006 ist eine Biographie Venturis aus der Feder von Leonardo Casalino erschienen, Leonardo Casalino, Influire in un mondo ostile. Biografia politica di Franco Venturi (1931 – 1956), Aosta 2006. 1

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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Bemühen um eine komparative Chronologie der europäischen Aufklärungsbewegungen (IV.). Abschließend sei ein kurzer Blick auf die seit fast einem Jahrhundert herausragende Turiner Aufklärungsforschung geworfen. In der italienischen Forschungstradition ist man traditionell „mehr als gesättigt mit Historiographiegeschichte“ („supernutrit[o] di storia della storiografia“)2 (V.).

II. Venturis sehr umfangreiches und im Zeitraum eines halben Jahrhunderts entstandenes historiographisches Œuvre3 gruppiert sich, grob gesagt, um drei thematische Schwerpunkte: 1. den russischen Populismus des 19. Jahrhunderts sowie die politische Ideengeschichte von Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus; 2. die italienische Aufklärung; 3. die französische Aufklärung und die europäischen Aufklärungsbewegungen.4 Schon 1941 hatte Venturi, Jahrgang 1914, mithin als ganz junger Mann, die Absicht zum Ausdruck gebracht: „Ich werde irgendwann (wer weiß, wann) eine Geschichte des 18. Jahrhunderts in Europa schreiben“ („Scriverm [quando?] una storia del settecento europeo“).5 Seit Ende der 1950er bzw. der 1960er Jahre setzte er diese Absicht vor allem mit den zahlreichen Bänden seiner Werke Riformatori italiani und seines Settecento riformatore in die Tat um. Die drei Bände der Riformatori italiani (Italienische Reformer) enthalten umfangreiche kommentierte Quelleneditionen zur italienischen Aufklärung und machen wie in einer Galerie deren teilweise zuvor wenig bekannten Akteure sichtbar und zugänglich. Settecento riformatore, Venturis Hauptwerk – als deutscher Titel läge nahe: Das 18. Jahrhundert als Reformjahrhundert –, öffnete, ausgehend von Italien, die PerFranco Venturi, Introduzione, in: ders., Utopia e riforma nellQIlluminismo, Turin 2001 (1970), 9 – 27, hier 25. Deutsche Übersetzungen auch im Folgenden von der Vf.in. 3 Eine umfassende Bibliographie von Venturis Schriften findet man in dem Band: Il coraggio della ragione. Franco Venturi intellettuale e storico cosmopolita, hg. von Luciano Guerci und Giuseppe Ricuperati, Turin 1998 (Fondazione Luigi Einaudi), 441 – 478: Paola Bianchi, Leonardo Casalino, Bibliografia degli scritti di Franco Venturi. 4 Zum Konnex der Forschungsschwerpunkte: „Il comunismo H insieme lQombra e la negazione dellQilluminismo, nel medesimo“ („Der Kommunismus ist zugleich der Schatten und die Negation der Aufklärung“); Venturi, Comunismo e Socialismo. Storia di unQidea, hg. von Manuela Albertone, Daniela Steila, Edoardo Tortarolo und Antonello Venturi, Turin 2014, 28, Anm. 14. 5 26. Oktober 1941, zit. nach Viarengo, Franco Venturi (wie Anm. 1), 106, Fn. 74. Aus einem Brief Venturis an Croce vom 6. 8. 1942: „Le dirm anzi che mi sono sempre piF fermato sulla decisione che gi/ da parecchio tempo stavo discutendo con me stesso, di dedicarmi ad uno studio ampio, molto ampio sul settecento europeo“ („Ja, ich möchte sogar sagen, dass ich, nachdem ich dies seit einiger Zeit gründlich erwogen habe, immer mehr entschlossen bin, mich einer breiten, sehr breiten Untersuchung zum 18. Jahrhundert in Europa zu widmen“), ebd. 2

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spektive auf die Aufklärungsbewegungen in West-, Ost- und Nordeuropa und ließ ihn international zum wichtigsten italienischen Vertreter einer genuin europäisch angelegten Aufklärungsforschung avancieren.6 Vorausgegangen waren ab 1939 und in den 1940er Jahren Monographien und Editionen zur französischen Aufklärung und vor allem zu Diderot und der Encyclop8die. Zwischen 1932 und 1940 lebte Franco Venturi mit seiner Familie im Exil in Paris. Er war intensiv im antifaschistischen Widerstand engagiert und begann ein Studium an der Sorbonne, die er als verstaubte Institution empfunden hat.7 Sein Aufklärungsinteresse weckten in diesen Jahren vor allem Paul Hazard (La crise de la conscience europ8enne, 1935)8 und Daniel Mornet (Les origines intellectuelles de la R8volution franÅaise, Paris 1933), den er später als seinen Lehrer an der Sorbonne bezeichnen sollte.9 Venturis profunde und quellennahe Arbeiten zu Diderot (in französischer Sprache) und der Encyclop8die, zu Boulanger und Dom Deschamps, dann auch zur französischen Revolutionshistoriographie wiesen ihn schon lange vor seinem akademischen Debüt in Italien als Experten für das SiHcle des LumiHres aus. Daher und auch auf Grund seiner späteren akademischen Kontakte zur französischen Aufklärungsforschung verknüpfen sich Venturis Werk und Wirkungsgeschichte sehr eng mit Frankreich und der französischen Aufklärung, mit der er vertraut war wie kaum ein Zweiter. Diese enge Bindung dokumentiert sich wirkungsgeschichtlich in einer ganzen Reihe von Übersetzungen einzelner seiner Werke ins Französische. Allerdings haben nicht alle methodologischen Trends in der französischen (Aufklärungs-)Forschung seit den 1960er Jahren Venturis Beifall gefunden, weder der Strukturalismus noch die statistisch-quantifizierende Sozialgeschichte noch die Buch- und Leserforschung10 oder die Mentalitätsgeschichte und auch nicht die überaus erfolgreichen Arbeiten FranÅois Furets, vor allem zur Französischen Revolution.11 Letztere, die Französische Revolution, hat Venturi am Ende 6 „In short, Venturi achieved what no other contemporary Italian historian ever managed to achieve: recognition at a European and global level.“ Franzinetti, Franco Venturi in Retrospect (wie Anm. 1), 132. 7 Vgl. Viarengo, Franco Venturi (wie Anm. 1), 44 f. 8 Hazard mag zu Venturis französisch-italienisch-komparatistischem Forschungsschwerpunkt auch beigetragen haben mit seiner Studie über die Französische Revolution und ihre Resonanz in Italien, vgl. Paul Hazard, La R8volution franÅaise et les lettres italiennes (1789 – 1815), Paris 1910. 9 Vgl. Viarengo, Franco Venturi (wie Anm. 1), 45. Giuseppe Giarrizzo hält Mornets Les origines intellectuelles de la R8volution franÅaise für „il grande libro decisivo per la sua formazione di storico della cultura […]“ („das große und entscheidende Buch für seine Entwicklung zum Kulturhistoriker […]“). Giuseppe Giarrizzo, Venturi e il problema degli intellettuali, in: Il coraggio della ragione (wie Anm. 3), 10 – 59, hier 14. 10 Zu seinen methodologischen Vorbehalten gegenüber der neueren französischen Aufklärungsforschung vgl. Venturi, Introduzione (wie Anm. 2), 18 ff. 11 „Venturi si colloca consapevolmente fuori e al di sopra dellQaspro dibattito che Furet ha acceso

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der die Krise des Ancien R8gime betreffenden Bände des Settecento riformatore ins Blickfeld gerückt, freilich nicht mehr ausführlich behandelt; auf die Gründe für diesen Umstand ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Über erhebliche methodologische Differenzen hinweg hat Daniel Roche Venturis Wirken gewürdigt und mit der französischen Forschung rückgekoppelt in einem Aufsatz, der in dem 1998 zu Ehren des 1994 verstorbenen Franco Venturi herausgegebenen gewichtigen Sammelband Il coraggio della ragione erschienen ist.12 Intensive Kontakte pflegte Venturi auch zu nordamerikanischen Universitäten. In seiner Aufklärungshistoriographie hatte er nicht nur der britischen und – auch diesbezüglich zählte Venturi wohl zu den Pionieren der kontinentalen Aufklärungsforschung – vor allem auch der schottischen Aufklärung, sondern auch der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eine wesentliche Funktion im Rahmen der europäischen Aufklärung zugewiesen. Die Arbeit von R. R. [Robert] Palmer hatte Venturis Interesse gefunden,13 und John Pocock wurde zu einem wichtigen Gesprächspartner. Dass etliche von Venturis Arbeiten zur Aufklärung, darunter mehrere Bände des Settecento riformatore und der auf in Cambridge gehaltene Vorlesungen zurückgehende Band Utopia e riforma nellQIlluminismo (1970) ins Englische übersetzt wurden und in den USA auf anhaltendes Interesse stießen, trug den regen Forschungskontakten Venturis zur englischsprachigen Welt Rechnung. Im angelsächsischen Raum war aber vor allem auch seine 1952 zuerst erschienene Arbeit über den russischen Populismus auf großes Interesse gestoßen und 1960 unter dem Titel Roots of Revolution erschienen;14 Isaiah Berlin hat ein Vorwort zur englischen Übersetzung geschrieben und darüber hinaus Venturis Arbeiten zur russischen Geschichte gewürdigt, später aber auch kritisiert.15

attorno alla Rivoluzione francese“ („Venturi situiert sich bewusst außerhalb und jenseits der von Furet entzündeten harten Debatte über die Französische Revolution“), Giarrizzo, Venturi e il problema degli intellettuali (wie Anm. 9), 53. 12 Daniel Roche, Histoire des id8es, histoire de la culture, exp8riences franÅaises et exp8riences italiennes, in: Il coraggio della ragione (wie Anm. 3), 151 – 170. 13 R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760 – 1800, Princeton 1959/1964; zu Venturi – Palmer vgl. u. a. Giuseppe Galasso, Il modulo storiografico venturiano, in: Il coraggio della ragione (wie Anm. 3), 171 – 201, hier 200. 14 Franco Venturi, Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth Century. Vorwort von I. Berlin, London 1960. 15 Vgl. Viarengo, Franco Venturi (wie Anm. 1), 185 f., 265 f., 288 f. – Mehrere von Venturis Schriften zu Russland und der UdSSR wurden wiederabgedruckt in: Venturi, Scritti sparsi, hg. von Guido Franzinetti und Edoardo Tortarolo, Turin 2022 [Scrittori e scrittrici italiani di politica, economica e storia, fondata da Luigi Firpo e Franco Venturi], Parte II. Dieser verdienstvolle, Mitte 2022 erschienene Band enthält ,klassischeR, bislang z. T. schwer erreichbare Aufsätze Venturis, die von den Herausgebern jeweils informativ und prägnant eingeleitet werden.

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Dass Venturi als der maßgebliche italienische Aufklärungsspezialist hierzulande schon immer wenig bekannt war und keines seiner Werke ins Deutsche übersetzt wurde, hatte zur Folge, dass die italienische Aufklärung als solche in Deutschland bis vor einigen Jahren weitgehend terra incognita war – abgesehen von einer schon 1976 erschienenen, hierzulande innovativen Arbeit von Christof Dipper zum italienischen Reformismus.16 Die Forschungssituation hat sich gebessert, angefangen von einer 2005 erschienenen Monographie von Wolfgang Rother zur lombardischen Hochaufklärung17 und einigen neueren deutschen Publikationen zum Settecento, darunter auch der breit angelegte und gründlich dokumentierte Band zum 18. Jahrhundert in Italien im Rahmen des Neuen Ueberweg.18 Venturis Werk freilich wurde hierzulande, von wenigen Ausnahmen wie Christof Dippers Engagement in Sachen Venturi abgesehen, selten eigens gewürdigt.19 Diese Absenz Venturis in der deutschen Aufklärungsforschung mag seine eigenen Vorbehalte gegenüber einer geschichtsphilosophisch modellierten, aber auch einer marxistisch-deterministischen20 sowie später einer theorielastigen deutschen Geschichtsschreibung bzw. Geschichtswissenschaft spiegeln.21 Christof Dipper, Politischer Reformismus und begrifflicher Wandel. Eine Untersuchung des historisch-politischen Wortschatzes der Mailänder Aufklärung (1764 – 1796), Tübingen 1976. 17 Wolfgang Rother, La maggiore felicit/ possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien, Basel 2005. 18 Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe, hg. von Helmut Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 3: Italien, hg. von Johannes Rohbeck und Wolfgang Rother, Basel 2011. 19 Eine mehr als nur kursorische Kenntnis von Venturis Aufklärungswerk hat Christof Dipper schon 1976 unter Beweis gestellt und 1996 erneut dokumentiert, vgl. Christof Dipper, Franco Venturi und die Aufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 20.1 (1996), 15 – 21. Dipper würdigt den im Kontext der traditionell auf das Risorgimento hin ausgerichteten italienischen Historiographie innovativen Ansatz Venturis, die italienische Aufklärung als Epoche sui generis zu würdigen, er betont Venturis stupende Arbeit an den Quellen, kritisiert aber die Gesamtkonzeption in mancherlei Hinsicht. Für Dipper blieb Venturi im Historismus befangen. – Zur Einführung wird der deutsche Leser insbesondere einen in Biographie und Werk Venturis einführenden Artikel von Edoardo Tortarolo konsultieren: Edoardo Tortarolo, Franco Venturi (1914 – 1994), in: Lutz Raphael (Hg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 2: Von Fernand Braudel zu Natalie Z. Davis, München 2006, 77 – 95. 20 Auf italienischer Seite legte Nicolao Merker eine marxistisch inspirierte Interpretation der deutschen Aufklärung vor, die ihm Venturis Kritik eingetragen hat, vgl. Nicolao Merker, LQIlluminismo tedesco, Bari 1968, dazu Venturi, Introduzione (wie Anm. 2), 10. Ebd., 19 ff.: Kritik an marxistischer Geschichtsschreibung. 21 Venturi zufolge besteht die Aufgabe des Historikers darin, „den Theorien die Fakten, der Metaphysik die Methode, dem Glauben die Untersuchung und dem Schematismus den Einzelfall gegenüberzustellen“, Venturi 1963 in der Rivista Storica Italiana, zit. nach Tortarolo (wie Anm. 19), 91. – Im Allgemeinen sind Venturis Haltung gegenüber Deutschland und seine Konzeption der deutschen Aufklärung außerhalb des Habsburgerreichs nicht leicht zu fassen. In seinem monu16

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Die klassische deutsche Aufklärungsforschung in Gestalt und in der Nachfolge von Ernst Cassirers Die Philosophie der Aufklärung (1932; schon 1935 in italienischer Übersetzung erschienen)22 war Gegenstand von Venturis Kritik, welche im Übrigen generell die philosophiegeschichtlich23 und vor allem auch die – etwa in Frankreich traditionell dominante – literarhistorisch profilierte Aufklärungsforschung und -historiographie betraf.24 So blieb denn auch etwa die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno folgenlos für Venturis historische Aufklärungsforschungen. Trotz seiner späteren Absage an eine traditionell geistes- und literaturgeschichtliche Aufklärungsforschung interessierte Venturi sich seit seinen Studienjahren sehr für Diderot und die Encyclop8die, und dieses Interesse brachte ihn in Kontakt zu den Romanisten Herbert Dieckmann, der in die USA emigriert war, und Werner Krauss; letzterer war, nebenbei bemerkt, nicht der einzige der in der DDR lehrenden und forschenden Kollegen, zu denen Venturi Kontakte pflegte – dies traf auf zahlreiche Historiker des damals sogenannten Ostblocks zu.25 Venturi war bestens vertraut mit der internationalen Aufklärungsforschung in ihren unterschiedlichen disziplinären Spielarten, nicht zuletzt dank seiner Mehrsprachigkeit.

mentalen Aufklärungstableau spielt Preußen eine vergleichsweise geringe Rolle. Was etwa Friedrich II. betrifft, hält zumindest der junge Venturi es mit Diderot, der in einem von Venturi entdeckten und edierten Text Friedrich II. als Despoten erscheinen lässt, ganz im Gegensatz zu dem Habsburger Joseph II., den Venturi als großen Reformer gewürdigt hat, ohne im Übrigen auch dessen Bruder Peter Leopold entsprechend ins Licht zu rücken. Zu Diderot / Friedrich II. vgl. Edoardo Tortarolo, La rivolta e le riforme. Appunti per una biografia intellettuale di Franco Venturi 1914 – 1994, in: La reinvenzione dei lumi. Percorsi storiografici del Novecento, hg. von Giuseppe Ricuperati, Florenz 2000, 171 – 199, hier 186. Zu Venturis Haltung zu Joseph II. vgl. u. a. Derek Beales, Franco Venturi and Joseph IIQs Grande Progetto, in: Rivista Storica Italiana [RSI] 108, 2 – 3 (1996) [Sondernr. Franco Venturi. Politica e storia], 742 – 750. Während seiner Internierung in einem italienischen Lager hat Venturi sich auf Anregung von Federico Chabod mit einer Übersetzung von Herders Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit befasst und auch Lessing gelesen, vgl. Viarengo, Franco Venturi (wie Anm. 1), 107 sowie Tortarolo, La rivolta e le riforme, 192. Die Herder-Übersetzung erschien später bei Einaudi. 22 Vgl. Giuseppe Ricuperati, Illuminismo e Settecento dal dopoguerra ad oggi, in: ders. (Hg.), La reinvenzione dei lumi (wie Anm. 21), 201 – 222, hier 201, Fn. 2. 23 Vgl. Venturi, Introduzione (wie Anm. 2), 9 f. Venturi kritisierte gleichermaßen den philosophisch-geistesgeschichtlichen approach in Carl Beckers Civitas dei. The Heavenly City of the Eighteenth Century Philosopers (1932) wie auch in Peter Gays The Enlightenment. An Interpretation (1967 ff.). Ebd., 12, 13 f. 24 Zu Venturis Zurückweisung einer literaturgeschichtlich orientierten Aufklärungsforschung vgl. Gisela Schlüter, Storia politica e storia letteraria nellQopera storiografica di Franco Venturi, in: La responsabilit/ dellQintellettuale in Europa allQepoca di Leonardo Sciascia / Die Verantwortung des Intellektuellen in Europa im Zeitalter Leonardo Sciascias, hg. von Titus Heydenreich, Erlangen 2001, 117 – 127. 25 Vgl. dazu Franzinetti, Franco Venturi in Retrospect (wie Anm. 1), 141 f.

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Aus heutiger Perspektive bemerkenswert ist Venturis Desinteresse (wenn dieses Wort den Sachverhalt denn trifft) an Kosellecks Kritik und Krise (1959) sowie an dessen Theorie der Begriffsgeschichte und seinen großen begriffsgeschichtlichen Unternehmungen.26 Mittlerweile sind Kosellecks Arbeiten in Italien ja durchaus in Übersetzungen und im akademischen Diskurs präsent.27 Die Gründe für Venturis Desinteresse mögen zum Teil mit der stark theoretischen Kontur von Kosellecks Arbeiten zusammenhängen, welche dem Theorieskeptiker Venturi fremd geblieben sein mögen. Was die Begriffsgeschichte bzw. Historische Semantik als solche betrifft, so sei an dieser Stelle jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Venturi seit 1959 selbst mehrere begriffsgeschichtliche Einzelstudien publiziert und in der von ihm geleiteten Rivista Storica Italiana eine Rubrik mit Beiträgen zur Historischen Semantik (unter dem Titel Contributi ad un dizionario storico, Beiträge zu einem historischen Wörterbuch [im Sinne von: einem Wörterbuch geschichtlicher Begriffe]) begründet hat.28 Venturis einschlägige begriffsgeschichtliche Artikel, unter denen seine historische Rekonstruktion des Kantischen sapere aude hervorragt, sind, das ist bemerkenswert, ins Französische und Englische übersetzt worden.29 Die Erträge deutscher begriffsgeschichtlicher Forschung werden seltener übersetzt. Die Gründe dafür sind naheliegend, hingegen bieten ebenso offenkundig die romanischen Sprachen hinsichtlich der Übersetzbarkeit, zumindest innerhalb der romanischen Sprachfamilie deutliche Vorteile. III. Dass Venturi in seinen monumentalen Werken Settecento riformatore30 und Riformatori italiani mit einem begriffsgeschichtlich ungeklärten Begriffswort riforma Vgl. u. a. John Robertson, Franco VenturiQs Enlightenment, in: Past & Present 137 (1992), 183 – 206, hier 197. 27 Zur Koselleck-Rezeption und dem Stand der Begriffsgeschichte in Italien vgl. Gennaro Imbriano, Koselleck in Italien, in: Forum für interdisziplinäre Begriffsgeschichte [E-Journal], 4. Jg./1 (2015), 12 – 20. 28 Contributi ad un dizionario storico, I: „Was ist Aufklärung? Sapere aude!“, II: „La parola ,baroccoR“, in: RSI LXXI, Fasz. 1 (1959), 119 – 130. Contributi ad un dizionario storico. Despotismo orientale, in: RSI LXXII, Fasz. 1 (1960), 117 – 126. Contributi ad un dizionario storico, ,SocialistaR e ,socialismoR nellQItalia del Settecento, in: RSI LXXV, Fasz. 1 (1963), 129 – 140. Wiederabdruck in: Venturi, Scritti sparsi (wie Anm. 15), [90 – 148; Seitenangaben unter Vorbehalt, da sie sich auf einen Vorabdruck des Bandes beziehen, den Edoardo Tortarolo freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat]. – Zu Venturis eigenen und für die RSI eingeworbenen Beiträgen zur Begriffsgeschichte vgl. Luciano Guerci, Gli studi venturiani sullQItalia delQ700, dal Vasco agli Illuministi italiani, in: Il coraggio della ragione (wie Anm. 3), 203 – 224, hier 218 f. 29 Bibliografia degli scritti di Franco Venturi (wie Anm. 3), 456 f., 461 (Nr. 231, 248, 297). 30 Kritische Einwände hatte etwa John Robertson schon 1992 erhoben, darunter eine gewisse 26

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operiert habe, ist ihm u. a. noch 2015 von Christof Dipper, einem Schüler Kosellecks, vorgeworfen worden, der seinerseits schon 1976 in seiner Arbeit über politischen Reformismus und begrifflichen Wandel mit Blick auf die Mailänder Aufklärung eine begriffsgeschichtliche Vertiefung der Historiographie der lombardischen Aufklärung vorgenommen hatte. Und in der Tat hat Venturi Leitvokabeln seiner historischen Rekonstruktionen wie riforma und crisi „nicht einer systematischen begriffsgeschichtlichen Kontrolle unterworfen“,31 sondern vielmehr anhand von Beispielen „Unsicherheiten und Schwierigkeiten der Wortund Ideengeschichte“ („queste incertezze e difficolt/ della storia delle parole e delle idee“) konstatiert.32 2015 fand in der Villa Vigoni der Workshop „Reformsprachen der Aufklärung: das Werk von Franco Venturi“ unter der Leitung von Manuela Albertone und Thomas Maissen statt. Die Veranstaltung war Teil eines breiter angelegten Projekts zur historischen Semantik des Reformbegriffs im 18. Jahrhundert, dessen Erträge mittlerweile erschienen sind33 und in dessen Rahmen die Verfasserin eine Studie zur historischen Semantik des Reformbegriffs in der Frühen Neuzeit und der Aufklärung in den größeren europäischen Sprachen vorgelegt hat.34 In allen Sprachen ist die religiös-monastische Bedeutung des Wortes reformieren / Reform anfänglich dominant. Reformismus – und dieser Begriff bzw. dieses Begriffswort bedarf als Titelwort des vorliegenden Beitrages der Erklärung – ist zwar in der Sprache des 18. Jahrhunderts noch nicht gebräuchlich, sondern wird erst im 19. Jahrhundert als Gegenbegriff zu Revolution geprägt. Freilich kennt schon das ausgehende 18. Jahrhundert das Adjektiv engl. reformist / ital. riformista sowie Ausdrücke wie frz. esprit de r8forme / engl. spirit of reformation. Dass im Gegenzug zum Zäsurcharakter der erfolgten Revolution(en) im 19. Jahrhundert dann in der Begriffsprägung Reformismus die Reform als iterativer und dynamischer Prozess Einseitigkeit der Quellenauswahl in den mittleren Bänden von Settecento riformatore und ein unscharfes und negatives Konzept des Ancien R8gime betreffend, vgl. Robertson, Franco VenturiQs Enlightenment (wie Anm. 26), hier 196. Zu den häufig geäußerten und einleuchtenden Kritikpunkten zählt die weitgehende Ausblendung aus heutiger Perspektive so wichtiger Figuren des Settecento wie Giambattista Vico, ganz abgesehen von herausragenden Literaten wie Goldoni, Parini und Alfieri (dies hängt mit Venturis bereits erwähnter literarhistorischer Abstinenz zusammen), wie auch Venturis Desinteresse am aufklärerischen Freimaurertum. 31 „Er bediente sich, anders als Koselleck, eines Vokabulars, das er nicht einer begriffsgeschichtlichen Kontrolle unterwarf (besonders auffällig bei ,riformaR und ,crisiR) und [das] deswegen missverständlich wirkt, und er blieb natürlich ganz allgemein im Horizont seiner Quellen gefangen.“ Dipper (wie Anm. 1), 616. Der apodiktische letzte Teilsatz ist gewiss zu relativieren. 32 Venturi, Introduzione (wie Anm. 2), 18. 33 Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe Lost Its Fear of Change, hg. von Susan Richter, Thomas Maissen und Manuela Albertone, N.Y., London 2020. 34 Gisela Schlüter, The Concept of Reform in Polyglot European Enlightenment, in: Languages of Reform (wie Anm. 33), 29 – 61.

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und als Modus permanenter Selbstkorrektur und -optimierung auf den Begriff gebracht wurde, lag nahe. In dem Ausdruck Reformismus kulminiert die facettenreiche historische Semantik des aufklärerischen Reformbegriffs. Dieser implizierte im 18. Jahrhundert bereits die Perspektive auf die Reform als Teil eines umfassenden und als solches immer mitgemeinten Reformprogramms, welches par degr8s de r8forme, etappenweise, sukzessive umgesetzt werden sollte und übrigens auch die Forderung nach Sprachreformen enthielt.35 Selbst wenn Venturi der historischen Semantik des aufklärerischen Reformbegriffs kaum explizit nachgegangen ist36 und in dieser Hinsicht einer begriffsgeschichtlich orientierten Aufklärungsforschung nicht viel zu sagen hat, ist sein Settecento riformatore und sind die Riformatori italiani gleichwohl die wohl profundesten und am gründlichsten und breitesten dokumentierten Studien zu dem, was man später den aufklärerischen Reformismus genannt hat. „Die Reformbewegung ist der rote Faden durch unser 18. Jahrhundert“ („Il moto riformatore H il filo rosso del nostro Settecento“),37 so hat Venturi 1968 postuliert, und dies erscheint aus heutiger Sicht so zutreffend wie es damals dem Zeitgeist zuwiderlief. Venturi machte 1968 bis 1971, auch in seiner berühmten Schrift Utopia e riforma nellQIlluminismo, den Reformbegriff stark in Abgrenzung gegen den 1968 gefeierten und, so Venturi, frühneuzeitlich vor allem von Italien mächtig ausstrahlenden Utopiebegriff.38 Venturis Konzeption dahingehend zu charakterisieren, er habe einen radikalen Reformismus als Movens der Aufklärung angenommen, zielt nicht darauf ab, seinen moderaten Reformbegriff nachzuschärfen. Vielmehr kennzeichnet Venturis historiographischer Reformbegriff einen umfassenden, grundlegenden, prinzipienbasierten, auf Dauer gestellten, dynamischen Reformprozess.39 Zu dessen AkVgl. ebd., 38 ff. In einzelnen Formulierungen Venturis zeigt sich jedoch durchaus ein Bewusstsein von der Historizität der Reformbegriffs: „Sviluppandosi insieme ed accanto ad esso [al giurisdizionalismo] dai reali bisogni della societ/ degli stati italiani nasce lQidea della riforma, come allora si disse (da Radicati e Pilati, ad esempio), o delle riforme, come piF spesso diciamo noi“ („Aus den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft der italienischen Staaten entwickelt sich daneben [neben dem Jurisdiktionalismus] zugleich die Idee der Reform, wie man damals sagte (wie z. B. Radicati und Pilati), oder der Reformen, wie wir heute öfter sagen“). Venturi, La circolazione delle idee, in: ders., Scritti sparsi (wie Anm. 15), [9]. 37 Venturi, Settecento riformatore, Bd. 1: Da Muratori a Beccaria, Turin 1998, XVII (Prefazione). 38 Vgl. dazu u. a. John Robertson, Enlightenment without ,OriginsR? From Radicati di Passerano to Utopia e riforma, in: Manuela Albertone (Hg.), Il repubblicanesimo moderno. LQidea di repubblica nella riflessione storica di Franco Venturi, Neapel 2006, 131 – 154. 39 Cecilia Carnino hingegen pointiert Venturis Reformbegriff zu einem subversiven Begriff: „[Venturi had] sympathy for and appreciation of the rebellions to which their [the sovereignsQ] reformist policies gave rise. This particular perspective makes it possible to observe an ever-present 35 36

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teuren im Zeitalter der Aufklärung, Protagonisten, aber auch randständigen Figuren, zählt Venturi weniger Philosophen, geschweige denn Literaten, und auch nicht in erster Linie Politiker und Ökonomen, sondern kritische Zeitgenossen, Intellektuelle, die aufmerksam, kritisch und aktiv an ihrer Zeit, ihrer Gegenwart teilnahmen. Ihnen hat er, zunächst und vor allem in den Bänden der Reihe Riformatori italiani, lebendige, sensible, pointierte biographische Porträts gewidmet, welche in ihrem Genre unübertroffen sind40 und seiner Überzeugung entsprechen, dass sich eine Zeit in den Individuen verkörpert, die sie gewissermaßen bewohnen.41 IV. Soweit Venturi hierzulande im Gespräch ist, rekurriert man in erster Linie auf sein Konzept der Ideenzirkulation (la circolazione delle idee) aus dem Jahre 1953.42 Ein Paradebeispiel der entsprechenden internationalen und wirkungsgeschichtlichen Sondierungen Venturis ist seine vorzügliche Dokumentation der europäischen, vor allem französischen, aber auch deutschen Wirkungsgeschichte von Cesare Beccarias strafrechtsreformerischer Schrift Über Verbrechen und Strafen streak of radicalism in VenturiQs ideas.“ Cecilia Carnino, Rereading Franco VenturiQs Eighteenth Century. Absolutist monarchy between reform and revolt, in: History of European Ideas 35.1 (2009), 11 – 23, hier 11, 23. Silvia Berti hat aufgezeigt, wie eng sich bei Venturi Republikanismus, Kosmopolitismus und Radikalismus der Aufklärung miteinander verbinden und dass sich diese Konzeption von Radikalität klar vom Radical Enlightenment in der Version M. C. Jacobs und Jonathan I. Israels unterscheidet, vgl. Silvia Berti, Repubblicanesimo e illuminismo radicale nella storiografia di Franco Venturi, in: Albertone (Hg.), Il repubblicanesimo (wie Anm. 38), 155 – 186. 40 Vgl. dazu u. a. Marino Berengo, Franco Venturi e la biografia, in: RSI 108, 2 – 3 (1996), 717 – 726. Diesbezüglich gilt Lewis Namier als Vorbild Venturis. 41 „[L]a vera sintesi, come accade, si ritrova nellQindividuo.“ „Die wahre Synthese findet sich tatsächlich konkret im Individuum.“ Venturi, Settecento riformatore, Bd. 2: La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, 1758 – 1774, Turin 1976, XIII. „LQuniverso storico di Venturi non H mai popolato da forze impersonali, strutture e altre leggi della storia. LQevocazione di un individuo non H mai un pretesto per far emergere una storia scritta con la maiuscola. Gli individui che lo storico scopre come autori storici hanno un nome, e ciascuno conobbe il proprio destino, unico e irriducibile“ („Das historische Universum Venturis ist nie von unpersönlichen Kräften, Strukturen und anderen historischen Gesetzen bevölkert. Wenn ein Individuum ins Spiel gebracht wird, ist das nie ein Vorwand, um DIE Geschichte hervortreten zu lassen. Die Individuen, die der Historiker als historische Akteure entdeckt, haben einen Namen und jedes hatte sein eigenes, einmaliges und irreduzibles Schicksal“). Bronislaw Baczko, Opere, uomini e idee, fra il Vrai systHme e la Jeunesse de Diderot, in: Il coraggio della ragione (wie Anm. 3), 139 – 149, hier 143 f. 42 Venturi, La circolazione delle idee, in: Rassegna storica del Risorgimento, XLI, Fasz. 2 – 3, April–Sept. 1954, 203 – 222 (Kongressbeitrag 1953); neu abgedruckt in: Venturi, Scritti sparsi (wie Anm. 15), [4 – 42]. – Zur Nähe des Konzepts zu Croce vgl. Tortarolo, Franco Venturi (1914 – 1994) (wie Anm. 19), 84. Vgl. auch Italien in Europa. Die Zirkulation der Ideen im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frank Jung und Thomas Kroll, Paderborn 2014.

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(Dei delitti e delle pene).43 Der Zirkulation von Ideen, der seit geraumer Zeit gern so genannten Migration von Begriffen nachzugehen,44 ist mittlerweile gängige Forschungsmaxime und Forschungspraxis. Auch Venturis starkes Leitkonzept des aufklärerischen Kosmopolitismus hat in der neueren Aufklärungsforschung viele Nachfolger gefunden, und das gilt auch für sein Republikanismus-Konzept, mit dem sich ein von Manuela Albertone 2006 herausgegebener, gehaltvoller Sammelband befasst.45 Venturi hat die vielen Orte der Aufklärung und die Transportwege ihrer Konzepte und Programme ins Licht gerückt und erforscht. Er hat deutlich gemacht, dass die Aufklärungsforschung sich dem Problem einer vergleichenden Chronologie der Aufklärung in den unterschiedlichen Ländern zu stellen hat. Um hier frühe kürzere Studien außerhalb von Settecento riformatore anzuführen: Noch heute wertvoll erscheinen sein Beitrag über Chronologie und Geographie der Aufklärung, 1970 in Utopia e riforma nellQIlluminismo erschienen,46 sowie sein breit angelegter Problemaufriss zur gesamteuropäischen Aufklärung in dem Aufsatz The European Enlightenment, der 2010 in einer repräsentativen englischsprachigen Forschungsanthologie zur Aufklärung nachgedruckt wurde.47 Da sich mittlerweile die Pluralisierung des Aufklärungsbegriffs vor allem im Sinne einer Differenzierung unterschiedlicher nationaler Aufklärungen in der Forschung etabliert hat, ist eine Sichtung der unterschiedlichen historischen Verläufe in den verschiedenen Ländern und der offenkundigen Phasenverschiebungen zum alltäglichen Forschungsproblem der Aufklärungshistoriographie geworden. Hier hat sich zweifelsohne viel getan, angefangen mit den seit Jahren vielfältigen Bemühungen 43 Venturi (Hg.), Cesare Beccaria. Dei delitti e delle pene. Con una raccolta di lettere e documenti relativi alla nascita dellQopera e alla sua fortuna nellQEuropa del Settecento, Turin 1965. 44 Diese Metapher kommt schon im 19. Jahrhundert vor, vielleicht auch schon früher. Für das 19. Jahrhundert sei verweisen auf Rudolf Eucken, er verwendet diesbezüglich mehrfach das Wort wandern, vgl. Eucken: Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss, hg. von Gisela Schlüter, unter Mitarbeit von Hanns Christof Brennecke, Michael Erler und Katharina ZeppezauerWachauer, in: Eucken, Gesammelte Werke, hg. von Rainer A. Bast, Bd. 9, Hildesheim, Zürich, New York 2005, 195; in einem englischen Text spricht er 1896 von der migration of a term, vgl. Eucken, Philosophical Terminology and Its History. Expository and Appellatory, übers. von Thomas J. McCormack, in: The Monist, vol. 6/4 (July 1896), 497 – 515, hier 500; „migration of a term from one province to another“, ebd., 502. Es fragt sich, ob dieser metaphorische Ausdruck Euckens Eingang in das heute kursierende Konzept der travelling concepts gefunden hat. 45 Vgl. Albertone (Hg.), Il repubblicanesimo moderno (wie Anm. 38). 46 Venturi, Cronologia e geografia dellQilluminismo, in: Venturi, Utopia e riforma (wie Anm. 2). Vgl. dazu Tortarolo, Franco Venturi (wie Anm. 19), 88, Guerci, Gli studi venturiani (wie Anm. 3), 228 ff. 47 Venturi, The European Enlightenment, in: The Enlightenment. Critical Concepts in Historical Studies, hg. von Ryan Patrick Hanley und Darrin M. McMahon, Bd. 1: Definitions, London, New York 2010, 129 – 156; Quelle: Venturi, Italy and the Enlightenment. Studies in a Cosmopolitan Century, hg. von Stuart Woolf, übers. von Susan Corsi, London 1972, 1 – 32.

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um eine vergleichende Betrachtung der Frühaufklärung. Festzuhalten ist aber, dass Venturi sich wohl als Erster ausdrücklich und detailliert der komplizierten, kaum lösbaren Frage der gestaffelten Verlaufsgeschichte der Aufklärung in den unterschiedlichen Ländern bis in die russische und polnische Aufklärung hinein gestellt hat. Venturi hat nicht viel gehalten von der Suche der Historiker nach Vorgängern und historischen Anfängen.48 Dessen ungeachtet ist seine stupende Innovationskraft innerhalb der Aufklärungsforschung zu würdigen: Er hat den Reformismus als Movens der Aufklärung erkannt und in beeindruckender Weise dokumentiert. Und er hat schon früh und kenntnisreich die internationale Dimension der Aufklärung in den Blick genommen und deren unterschiedliche Konstellationen und Verläufe herausgearbeitet. Auch die, wie mancher Kritiker geltend gemacht hat, fragwürdigeren Seiten seiner Arbeit, seine angebliche Befangenheit in einem eigentümlichen Historismus und auch Einseitigkeiten und Probleme seiner Quellenwahl, schmälern nicht seine außerordentlichen und dauerhaften Verdienste um die internationale Aufklärungsforschung.

V. Die Frage nach Epochenbegriffen und Diskurskonzepten der Aufklärung im 20. und 21. Jahrhundert ruft zentrale konzeptionelle und historiographische Paradigmen der Aufklärungsforschung in Erinnerung. In der fortlaufenden Bilanzierung und historiographischen Revision der Aufklärungsforschung hat Italien eine erhebliche Rolle gespielt.49 Hier sei abschließend auch das umfangreiche und vielseitige historiographische Œuvre von Giuseppe Ricuperati erwähnt, einer von Venturis Nachfolgern als Herausgeber der Rivista Storica Italiana, und an wichtige Forschungserträge erinnert wie den von Ricuperati edierten Band La reinvenzione dei Lumi. Percorsi 48 „Non alle origini delle idee dobbiamo risalire, evidentemente, ma alla loro funzione nella storia del Settecento. I filosofi hanno la tentazione di rinavigare verso la sorgente. Gli storici debbono dirci come il fiume si apr& la sua strada, in mezzo a quali ostacoli e difficolt/. […] questa nostalgia [tedesca] dellQUr“ („Selbstverständlich müssen wir nicht auf die Ursprünge einer Idee zurückgehen, sondern auf ihre Funktion in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. Philosophen tendieren dazu, sich auf die Quelle hin zu bewegen. Die Historiker müssen uns sagen, wie der Fluss sich seinen Weg gebahnt hat, inmitten all der Hindernisse und Schwierigkeiten. […] diese [deutsche] Sehnsucht nach dem Ur“). Venturi, Introduzione (wie Anm. 2), 11. 49 Auch in der Erforschung der Geschichte der Geschichtsschreibung zum 18. Jahrhundert hat schon der junge Venturi 1948 Vorbildliches geleistet mit seiner kritischen Revision der französischen Revolutionshistoriographie, vgl. Venturi, Jean JaurHs e altri storici della Rivoluzione francese, Turin 1948.

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storiografici del Novecento (Die Neuerfindung der Aufklärung. Historiographische Sondierungen im 20. Jahrhundert; 2000) sowie seinen Band Frontiere e limiti della ragione. Dalla crisi della coscienza europea allQIlluminismo (Grenzen und Begrenzungen der Vernunft. Von der Krise des europäischen Geistes [Hazard; hier wörtlich wie im frz. Titel: Bewusstseins] zur Aufklärung; 2006), die allesamt hierzulande zu wenig Aufmerksamkeit gefunden haben.50 Ricuperati hat die Aufklärungsforschung von Paul Hazard über Venturi bis zu Jonathan Israel und darüber hinaus kritisch Revue passieren lassen und viele Fragen Venturis, so auch die nach der Periodisierung der Aufklärung, aufgegriffen und weitergeführt.51 Er ist es auch, der das von Venturi im Anschluss an Fausto Nicolini schon 1953 benannte Desiderat der historischen Rekonstruktion eines Giannone europeo52 in zahlreichen Publikationen umgesetzt hat.53 Edoardo Tortarolo, Schüler Venturis, hat sich, über wichtige eigene Arbeiten zur europäischen Aufklärung hinaus, neben anderen herausragenden Persönlichkeiten der Turiner Aufklärungsforschung verdient gemacht um die kritische Sichtung von Venturis Nachlass und die Edition seiner zentrale Schriften, die der heutigen Forschung in aktuellen Ausgaben zur Verfügung gestellt werden. Institutionen wie die Fondazione Einaudi unterstützen kontinuierlich die Turiner Aufklärungsforschung. Im Turin des Secondo Novecento, der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur Zeit Venturis und seiner Schüler und Nachfolger, hatte die genuin europäische Aufklärungsforschung ein Zentrum, dessen Bedeutung hierzulande wohl noch nicht genügend gewürdigt worden ist. Man beherrschte dort mehrere Sprachen und rezipierte ganz selbstverständlich die internationale Forschung. Neben ihrer hohen Professionalität haben die Turiner Historiker,54 deren erste Generation im

Giuseppe Ricuperati (Hg.), La reinvenzione dei Lumi (wie Anm. 21). Vgl. auch ders., A Long Journey. The Italian Historiography on the Enlightenment and Its Political Significance, in: ders. (Hg.), Historiographie et usages des LumiHres, Berlin 2002, 229 – 261 sowie ders., Frontiere e limiti della ragione. Dalla crisi della coscienza europea allQIlluminismo, hg. von Duccio Canestri, Turin 2006. 51 Giuseppe Ricuperati, Le categorie di periodizzazione e il Settecento. Per unQintroduzione storiografica, in: Studi settecenteschi 14 (1994), 9 – 106. 52 Venturi, La circolazione delle idee (wie Anm. 42), [9]. Zu Giannone europeo vgl. LQAffaire Giannone face / lQEurope. Vie de Pietro Giannone, Profession de foi et Abjuration. Un choix de textes traduits, annot8s et comment8s par Gisela Schlüter et Giuseppe Ricuperati, Paris 2019 (Libre pens8e et litt8rature clandestine, 72). 53 Damit verbunden ist der für das Italien der Aufklärung charakteristische giurisdizionalismo (Jurisdiktionalismus), auf den in der vorliegenden Skizze von Venturis Werk nicht eingegangen werden konnte, obwohl er in der italienischen Aufklärungsforschung traditionell eine zentrale Rolle spielt. 54 Vgl. Giuseppe Ricuperati, Apologia di un mestiere difficile. Problemi, insegnamenti e re50

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antifaschistischen Widerstand gereift war, ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein vom eigenen Tun55 an den Tag gelegt. Auch von Stil und Haltung Venturis56 lässt sich noch immer viel lernen. Der Beitrag zeigt die Bedeutung von Franco Venturis umfangreichem Werk über die italienische, französische und darüber hinaus europäische Aufklärung. Nach seinen Studienjahren an der Sorbonne und dort entstandenen Arbeiten über die französische Aufklärung widmete Venturi sich seit Mitte der 1950er Jahre in umfangreichen Quellenuntersuchungen der italienischen und später der europäischen Aufklärung. Während sein Einfluss auf die französische und die angelsächsische Aufklärungsforschung beträchtlich war, ist Venturi in Deutschland weitgehend unbekannt und von geringem Einfluss geblieben. Das mag mit der traditionell stärker geistesgeschichtlichen und, seit Koselleck, geschichtstheoretischen Ausrichtung der deutschen Aufklärungsforschung zusammenhängen. Gerade heute aber scheint es geboten, an ein historiographisches Werk zu erinnern, das Reformen als Zentrum der Aufklärungsbewegung identifizierte, wie dies schon der Titel von Venturis monumentalem Werk Settecento riformatore belegt. Virulent bleiben auch die von Venturi präzise begründeten Fragen nach der Chronologie der europäischen Aufklärungen. The article outlines the importance of Franco VenturiQs monumental work on Italian, French and, beyond that, European Enlightenment. After his studies at the Sorbonne and his early publications on French Enlightenment, Venturi, from the mid-1950s onwards, devoted himself to extensive source research on the Italian and later on the European Enlightenment(s). While his influence on French and Anglo-Saxon Enlightenment research has been considerable, Venturi has remained largely unknown and of small influence in German Aufklärungsforschung. This may be due to the traditional inclination of German historical Enlightenment research towards the history of ideas and, following Koselleck, towards the theory of history. According to recent trends in Enlightenment studies, it seems important to recall a historiographical work explicitly identifying reforms as the centre of the Enlightenment movement, as the very title of VenturiQs monumental work Settecento riformatore attests. VenturiQs precise arguments and questions concern-

sponsabilit/ della storia, Rom, Bari 2005; ders., Un laboratorio cosmopolitico: Illuminismo e storia a Torino nel Novecento, Neapel 2011. 55 Vgl. u. a. Venturi, La lotta per la libert/. Scritti politici. Saggi introduttivi di Vittorio Foa / Alessandro Galante Garrone, Turin 1996. Zur politischen Dimension von Venturis geschichtswissenschaftlicher Forschung vgl. u. a. Girolamo Imbruglia, Franco Venturi e la politica dello storico, in: Illuminismo e storicismo nella storiografia italiana. In appendice il carteggio Venturi – Cantimori dal 1945 al 1955, Neapel 2003, 257 – 303, wie auch die Sondernummer der RSI 108, 2 – 3 (1996): Franco Venturi. Politica e storia. 56 Höchst lesenswert ist ein Interview, das Venturi 1992, zwei Jahre vor seinem Tod, Federico Jolli gegeben hat und in dem er sich als unprätentiöser, unbeirrbar auf die Vernunft setzender und zugleich skeptischer Gelehrter mit einem unerschöpflichen intellektuellen und politischen Erfahrungsschatz zeigt, vgl. Federico Jolli, Una societ/ fondata sulla ragione. Incontro von Franco Venturi, in: Linea dQombra 10 (1992), 63 – 69. Wiederabdruck in: Venturi, Scritti sparsi (wie Anm. 15), [435 – 453].

Radikaler Reformismus

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ing the very chronology of diverse European Enlightenment movements also remain highly productive. Prof. Dr. Gisela Schlüter, In den Sieben Stücken 9G, D-30655 Hannover, E-Mail: [email protected]

Edoardo Tortarolo Die Aufklärung als europäisches Phänomen Die Perspektive aus Italien im 20. Jahrhundert

Lange Zeit1 hatte die italienische Tradition nicht einmal ein Wort für das, was wir heute gemeinhin als ,AufklärungR bezeichnen. Oder besser ausgedrückt: Der Begriff ,Aufklärung bedeutete das Bekenntnis zur Verschwörung des Illuminatenordens und damit den Wunsch nach revolutionärem Umsturz, den Augustin Barruel in den Mittelpunkt des philosophischen Verständnisses der Französischen Revolution stellte. Erst durch die Übersetzung aus dem Deutschen erhielt das Wort ,AufklärungR seine heutige, uns geläufige Bedeutung als eine historische Epoche innerhalb der europäischen Geschichte. Mitte des 19. Jahrhunderts verstand man unter einem ,AufklärerR sowohl den Anhänger des Illuminatenordens als auch einen Verfechter des Rationalismus im 18. Jahrhunderts. Die Übersetzung der Phänomenologie des Geistes popularisierte 1863 den Begriff „Illuminismo“ als Übersetzung des deutschen Begriffes „Aufklärung“ und setzte ihn in den historischen Kontext zu „dem Kampf mit dem Aberglauben.“2 Der Jahrestag der Französischen Revolution veranlasste den sizilianischen Jesuiten Luigi Previti 1889 zu der Aussage, dass die Pressefreiheit den Untergang der christlichen Ordnung verursacht habe und dass die „aufsässige Sekte der Aufklärung“ Frankreich mit „schlechten Büchern“ überschwemmt habe.3 Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Wort Illuminismo (Aufklärung) zur Bezeichnung einer historischen und philosophischen Epoche verwendet, wie es in England mit dem Begriff Dieser Beitrag wurde von Luca von Bogdandy übersetzt. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, La fenomenologia dello spirito, ordinata da Giovanni Schulze. Traduzione dallQoriginale per A[lessandro]. Novelli, Neapel 1863. Vgl. E. Nardelli, Le traduzioni di Alessandro Novelli (1863/64). UnQoperazione „semplicemente scellerata“? in M. Diamanti (Hg.), La fortuna di Hegel in Italia nellQOttocento, Neapel 2020, 107–124. Grundlegend Benedetto Croce, Alessandro Novelli, il traduttore italiano di Hegel, in: La Critica 36 (1938), 311–316. 3 Claudio Rosso, Inventing ,illuminismoR (and ,enlightenmentR). The emergence of a word and of a concept, in: Historiographie et usage des LumiHres, hg. von Giuseppe Ricuperati, Berlin 2002, 123–132. 1 2

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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„Enlightenment“ bereits erfolgte. 1904 benutzte Gioele Solari, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Turin, den Epochenbegriff Illuminismo in Verbindung mit dem Naturrecht, dem demokratischen Denken und dem Austieg der Bourgeoisie im 18. Jahrhundert.4 Vor dem Jahre 1913 übersetzte Piero Martinetti, ein bekannter italienischer Philosoph, die Geschichte der neueren Philosophie. Eine Darstellung der Geschichte der Philosophie von dem Ende der Renaissance bis zu unseren Tagen des Dänen Harald Høffding aus dem Jahr 1895 und verwendete „et/ dellQilluminismo“ als Merkmal einer Epoche, die mit Leibniz begann: „[W]ir merken hier, dass wir in das Jahrhundert der Aufklärung eintreten“.5 „Es öffnete sich hier ein weiter Horizont, ein weiterer sogar als derjenige, der den Heroen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorschwebte; denn Voltaire und Diderot verhielten sich entschieden ablehnend zu dem Gedanken einer Aufklärung des vulgus“.6 1912 verwendete die italienische Ausgabe von Wilhelm Windelbands Geschichte der Philosophie (1892) den deutschen Begriff „Aufklärung“, kritisierte jedoch in den Anmerkungen diese als unpassend. Benedetto Croce schlug vor, die Epoche der Aufklärung als „rischiaramento“, also eher „Erhellung“ oder „Erleuchtung“ zu beschreiben. So geschah es etwa in den Aufsätzen von 1912 und 1913, die 1917 Teil der ersten italienischen Ausgabe von Teoria e storia della storiografia wurden. Zu erwähnen ist auch, dass Croces Buch erst 1915 auf deutsch mit dem Titel Zur Theorie und Geschichte der Historiographie erschien. In dieser deutschen Übersetzung wurde der Terminus Aufklärung natürlich benutzt.7 Aber erst vier Jahre später, im Jahr 1917, wurde das Kapitel in der Ausgabe mit dem Titel La storiografia dellQilluminismo überschrieben.8 Angesichts des enormen 4 Gioele Solari, La scuola del diritto naturale nelle dottrine etico-giuridiche del secolo XVII–XVIII, Turin 1904, 214–217. 5 Harald Høffding, Geschichte der neueren Philosophie. Eine Darstellung der Geschichte der Philosophie von dem Ende der Renaissance bis zu unseren Tagen, Leipzig 1905, 404. 6 Ebenda, 319. 7 Vgl. Benedetto Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie. Aus dem italienischen übersetzt von Enrico Pizzo, Tübingen 1915, 211–221. 8 Grundlegend dazu Girolamo Imbruglia, Filosofia e storiografia nellQilluminismo da Croce a Venturi, in: Belfagor 50 (1995), 397–410. Vgl. Benedetto Croce, Teoria e storia della storiografia. Quarta edizione, Bari 1941, 223 f.: La storiografia dellQilluminismo: „Tutti sentono, e dicono, che si H usciti non solo dalle tenebre ma dai chiarori antelucani, e il sole della Ragione H alto sullQorizzonte e rischiara gli intelletti, e li irradia di luce vivissima. ,LuceR, ,rischiaramentoR e simili, sono parole che si pronunziano a ogni tratto e con sempre maggiore persuasione ed energia; onde il nome di ,et/ dei lumiR, del ,rischiaramentoR, o dellQilluminismo, che si d/ al periodo che va da Cartesio a Kant. E con quelle parole unQaltra, che prima si udiva di rado e solo in significato assai ristretto, cominciava a circolare: ,progressoR; e anchQessa si fa sempre piF insistente e familiare, finch8 perviene a designare il criterio per giudicare i fatti, per condurre la vita, per costruire la storia, e lQoggetto di speciali indagini, e una nuova sorta di storia: la storia dei progressi dello spirito umano“ (224).

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Einflusses, den Croce bis zu seinem Tod im Jahr 1952 auf den italienischen Diskurs ausübte, ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff „Illuminismo“ endgültig Eingang in den italienischen historisch-philosophischen Wortschatz fand. Der Begriff „Illuminismo“ hielt Einzug in das Vokabular der Historiker, sein historischer Gehalt und die Bedeutung seiner Rolle in der Geschichte Italiens und Europas blieben jedoch weiterhin höchst umstritten. Im Zuge dieser Diskussion über die Aufklärung im 20. Jahrhundert war Franco Venturis Position von zentraler Bedeutung. Im Folgenden werde ich einige Ausführungen zu der Gruppe von Forschern zur Aufklärung aus Venturis Umfeld machen, die vor allem in den 1960er und 1970er Jahren aktiv waren. An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass sich die italienische Diskussion nicht in Venturis Forschung erschöpfte. Im Gegenteil: ich möchte die These aufstellen, dass Venturi ein neuartiges Verständnis der Aufklärung vertrat, die oft in krassem Gegensatz zu denjenigen stand, die in verschiedenen italienischen historiografischen Schulen des 20. Jahrhunderts vorherrschte.

I. Ich möchte das sehr vielfältige Panorama dazu vereinfachen, indem ich sechs Deutungstendenzen ausmache, die jeweils eine Sichtweise der italienischen Gesellschaft und Geschichte widerspiegeln. Jede dieser Ansichten hatte dauerhafte Auswirkungen auf die Zeit nach 1945. 1. Die erste Interpretationsmöglichkeit wurde von Antonio Gramsci entwickelt. Sein Interesse an der Aufklärung war der Schaffung einer Philosophie der Revolution untergeordnet, die an die Besonderheiten der italienischen Geschichte angepasst war. Die Aufklärung war in erster Linie eine Philosophie des materialistischen Denkens, die sich gegen den übermächtigen katholischen Spiritualismus richtete. Somit wies die Aufklärung Aspekte auf, die sie zu einer Vorläuferin des marxistischen Materialismus machten. Sie war aber auch ein Beleg dafür, dass eine Änderung der Verhaltensweise der italienischen Intellektuellen notwendig war. Mit dem „errore illuministico“ (Irrtum der Aufklärung) bezeichnete Gramsci die abstrakte Haltung der Intellektuellen: Diese gingen davon aus, dass sich die breiten Volksmassen durch das Verkünden klarer Konzepte von oben herab von selbst bekehren würde.9 Nichts könnte verkehrter sein. Es lag in der Verantwortung dieser progressiven Intellektuellen, sich verständlich zu machen, indem sie ihre Botschaften an die intellektuelle Aufnahmefähigkeit der breiten Massen anpassten. Für die Niederlage der neapolitanischen „aufgeklär9 Vgl. Nadia Urbinati, From the periphery of modernity. Antonio GramsciQs theory of subordination and hegemony, in: Political Theory 26 (1998), 370–391.

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ten“ Republik im Jahr 1799 waren nicht die von Kardinal Fabrizio Dionigi Ruffo angeführten Bauernmassen verantwortlich, sondern die Aufklärer, die, unterstützt von Frankreich, die Bedürfnisse und Lebensweise der ländlichen Bevölkerung vernachlässigt hatten. Die Niederschlagung des aufklärerischen „Experiments“ in Neapel 1799 verurteilte in der Konsequenz die demokratische Revolution im 19. Jahrhundert und während des Risorgimento zum Scheitern.10 Die Schwäche der Aufklärung lag also in ihrer Verfahrensweise. Im 20. Jahrhundert sollte die Aufklärung nach Gramsci Teil einer Massenbewegung sein, die Robespierre und Kant, Politik und Philosophie „in der dialektischen Einheit einer sozialen Gruppe, die nicht nur französisch oder deutsch, sondern europäisch oder global ist“, zusammenführte.11 Gramsci selbst und – nach seinem Tod 1937 und der Veröffentlichung der Gefängnishefte von 1948 bis 1951 – der Kommunistischen Partei Italiens nahestehende Gelehrte wollten die Geschichte Italiens als insbesondere im 18. Jahrhundert von einer Trennung zwischen Intellektuellen und dem Volk geprägt erfassen. Die Aufklärung war als Antithese die Grundlage für Gramscis Konzept der Hegemonie. Die Erbsünde der Aufklärung war, dass sie aus der „vernünftigen Vernunft“, dem französischen Enzyklopädismus und der „gesamten freimaurerischen Tradition Frankreichs“ entsprungen, geboren war.12 2. Die Kluft zwischen den intellektuellen Eliten und dem Volk sowie die Rückständigkeit des durch den Weltkrieg geschwächten italienischen Einheitsstaates waren zentrale Themen in den historischen und politischen Debatten Italiens. Die Aufklärung befand sich im Brennpunkt dieser oft polemisch geführten Neuinterpretationen der italienischen Geschichte. Sie bot sich als potenziell innovative Kraft an, an die wieder angeknüpft werden konnte, um die Krise des Landes nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu überwinden. Gramsci bewertete die philosophische und politische Strömung der Aufklärung aus der Perspektive seines Marxismus neu; Piero Gobetti aus Turin beurteilte sie aus liberaler Sicht, die sich gegen die konservative Monarchie, die den Prozess der nationalen Einigung unzureichend geführt hatte, wandte. Gobetti untersuchte eine Eigenart der Aufklärung, die er als „ketzerisch“ bezeichnete und die sich aus Opponenten zusammensetzte, die radikale Reformen eines zutiefst katholischen Landes forderten. Der Titel des Buches, in dem die Aufsätze über die piemontesische Aufklärung gesammelt wurden, lautete Risorgimento ohne Helden (senza eroi).13 Dieser Titel zeigt auf, dass Gobetti in der Aufklärung nach Elementen suchte, die in Italien 10 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere. Edizione critica dellQIstituto Gramsci, hg. von Valentino Gerratana, Turin 1975, 19 (X), 128 f. 11 Ebd., 10 (XXXIII), 1233. 12 Ebd., 13 (XXX), 1642. 13 Piero Gobetti, Risorgimento senza eroi, Edizioni del Baretti, Turin 1926. Vgl. David Ward, Piero GobettiQs New World: Antifascism, Liberalism, Writing, Toronto 2010.

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einen solchen sittlichen Wandel herbeiführen konnten, den die protestantische Reformation in den nordeuropäischen Ländern bewirkt hatte. Diese Länder erschienen fortschrittlicher, laut Gobetti, als das katholisch geprägte Europa. Die Aufklärung war daher eine große verpasste Chance für Italien. Die von Gobetti analysierten „häretischen“ Aufklärer waren 1926 noch wenig bekannte Persönlichkeiten: Radicati di Passerano, die Brüder Vasco, der Dramaturg Vittorio Alfieri, aber auch der Neapolitaner Pietro Giannone. Gobetti starb 1926 in Paris, wahrscheinlich an den Folgen eines faschistischen Anschlags in Turin, und so konnte er seine Erkenntnisse nicht weiter ausbauen, aber „Risorgimento senza eroi“ wurde zum Bezugspunkt für radikale, nicht-marxistische Interpretationen der italienischen Aufklärung. Auch hatte Gobetti 1924 eine Zeitschrift ins Leben gerufen, die nach Giuseppe Baretti, einem im 18. Jahrhundert lebenden Italiener, benannt war, der jedoch die meiste Zeit seines Lebens in London verbrachte (die Zeitschrift Il Baretti wurde von 1924 bis 1928 veröffentlicht). Der erste programmatische Aufsatz trug den Titel „Illuminismo“: Dieser stellt keinen historischen Aufsatz dar, sondern ist vielmehr ein Manifest, das im Namen aufklärerischer Werte den DQAnnunzianismus, den Futurismus, den Dilettantismus ablehnt – alles sittliche Missstände, die die Aufklärung überwunden hätte. Fast zeitgleich gründeten in Mailand zwei antifaschistische Politiker, Riccardo Bauer und Ferruccio Parri, die Zeitschrift Il CaffH, nach dem Vorbild der gleichnamigen Zeitschrift der lombardischen Aufklärung, gegründet und herausgegeben von Pietro Verri unter Mitarbeit u. a. Cesare Beccarias (1764–1766). Diese Zeitschrift erschien von 1924 bis 1926. 3. Gramsci und Gobetti teilten die Vorstellung, dass die Aufklärung einen Versuch darstellte, Italien aus der durch die katholische Gegenreformation verursachten Isolation und wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Rückständigkeit zu befreien, um es wieder in die europäische Kultur zurückzuführen. Diese Interpretationen wurden von Benedetto Croce bestritten. Sein „storicismo assoluto“ (absoluter Historismus) erkannte weder den naturrechtlichen Kern als zentrales Moment der Aufklärung an, noch die Tendenz, die in dem charakteristischsten und bekanntesten Vertreter der Aufklärung, nämlich Voltaire, denjenigen sah, die Vergangenheit auf der Grundlage von Werten zu beurteilen, die den Anspruch erhoben, vernünftig und ewig zu sein und nicht dem kulturellen Relativismus zu unterliegen. Die französische Aufklärung, von Voltaire und der Encyclop8die verkörpert, war laut Croce nicht auf die italienische Tradition anwendbar: weder im 18. Jahrhundert, noch weniger zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte das der Fall sein. Auf die abstrakten Illusionen der Aufklärung hatte die italienische Kultur eine präventive Antwort gegeben: die Philosophie des Giambattista Vico. Wie Voltaire vertrat Vico die Ansicht, dass Geschichte und gesellschaftliche Realität ausschließlich Werke menschlichen, säkularisierten und immanenten Handelns darstellen. In dem zu seiner Zeit isolierten Vico sah Croce einen Vor-

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läufer des Historismus, der die Grenzen der abstrakten und moralisch geprägten französischen Strömung aufgezeigt hatte.14 Mit Croce eröffnete sich ein wichtiges Forschungsgebiet, nämlich die Frage nach der Eigenart der italienischen Kultur bei der Mitwirkung an der europäischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Die Antwort auf diese Frage kam vom Faschismus. Der Faschismus weigerte sich, Vorbilder in Frankreich zu suchen oder einen Vorläufer des Historismus wiederzuentdecken. Er wollte alle Verbindungen zum Naturrecht und Liberalismus abbrechen. Gioacchino Volpe und Benito Mussolini sahen in der Aufklärung die Begründerin des Liberalismus, der Individualismus und Parlamentarismus propagierte.15 Der Faschismus, traditionalistisch, konservativ, hierarchisch und kollektivistisch, war die Alternative zu allem, was die Aufklärung hervorgebracht hatte.16 In einem langen Artikel für die Enciclopedia italiana, der der Geschichte des Faschismus gewidmet ist, stellte Volpe die These auf, dass der Faschismus die Verbindung zwischen der aufklärerischen Tradition und der modernen Gesellschaft, die durch die Französische Revolution begründet wurde, unterbrochen hat. Alle Werte der Aufklärung, von der Toleranz bis zur Säkularisierung, von der Pressefreiheit bis zu den Menschenrechten, standen im Widerspruch zum Faschismus.17 Für Mussolini war das 20. Jahrhundert das „Jahrhundert der Rechte“, beherrscht vom ideokratischen Staat als Gegenspieler des „Mythos des Glücks und des unendlichen Fortschritts“, das Jahrhundert der „organisierten, zentralisierten, autoritären Demokratie“, konservativ und korporatistisch, die absolute Negation der abstrakten und utopischen Ideologien der Aufklärung: Sozialismus, Demokratismus, Liberalismus, drei Varianten derselben progressistischen und akademischen Ideokratie.18 1934 erklärte Mussolini vor der alle fünf Jahre stattfindenden Versammlung des faschistischen Regimes, dass sich der große historisch-geistige Kampf zwischen den beiden großen Strömungen abspielt: der Demokratie, dem Sozialismus, dem Liberalismus und der Freimaurerei auf der einen Seite (französischkantianische Aufklärung und marxistischer Materialismus) und der konservativen Revolution der Rechten auf der anderen. „Die Doktrin des Faschismus“ schließt mit der Betonung der Universalität des Faschismus, der „einen Moment in der Geschichte des menschlichen Geistes“ darstellen würde. Ein solcher Universalismus sollte einerseits einen italienischen „Risorgimento“ imperialen AusBenedetto Croce, La filosofia di Giambattista Vico, Bari 1911. Gabriele Turi, Ideologia e cultura del fascismo nello specchio dellQEnciclopedia Italiana, in: Studi Storici 20 (1979), 157–211. 16 Zeev Sternhell, Les anti-lumiHres. Du XVIIIe siHcle / guerre froide, Paris 2006. 17 Gioacchino Volpe, [Art.] Fascismo, in: Enciclopedia italiana Treccani, Bd. XIV (1932), 847–884. 18 Benito Mussolini, La dottrina del Fascismo. Con una storia del movimento fascista di Gioacchino Volpe, Mailand 1932. 14

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maßes und andererseits eine globale Kampagne gegen rationalistische und aufklärerische Ideologien bedeuten.19 4. Parallel zu dieser faschistischen Polemik gegen den aufgeklärten Rationalismus fremden Ursprungs blieb die nicht überraschende Ablehnung durch den Katholizismus lebendig, für den die Aufklärung das zerstörerische Werk der protestantischen Reformation fortgesetzt und Ideen eingeführt hatte, die für das Wohlergehen des Individuums und der Gesellschaft gefährlich waren. Seit dem Syllabus (Enzyklika Quanta cura 1863) hatten katholische Historiker das 18. Jahrhundert so beschrieben, dass sie die Aufklärung ausklammerten und die soziale, trostspendende und ausgleichende Rolle kirchlicher Institutionen betonten. Der Liberalismus und der marxistische Sozialismus hatten ihren Ursprung im selben Stamm der Aufklärung. Und dieser Stamm musste ausgerottet werden, so auch mit Hilfe des Faschismus nach den Lateranverträgen von 1929. 5. Alles klar und eindeutig? Natürlich nicht, wie immer, wenn es den italienischen Faschismus betrifft. Gerade in der Enciclopedia italiana und in Universitätskreisen, in denen dank der Toleranz von Gioacchino Volpe, Giovanni Gentile und dem Bildungsminister Giuseppe Bottai Nischen relativer Eigenständigkeit vom Faschismus entstanden waren, erhielt die Forschung zur Aufklärung eine wichtige Erneuerung. Der brillanteste der italienischen Historiker jüngerer Generation in den 1930er Jahren, Federico Chabod, schrieb 1934 einen Beitrag zur Aufklärung, der sich auf die neue historiografische Literatur stützte: Troeltsch, Cassirer und Groethuysen. Chabod versuchte, die verschiedenen Darstellungen der Aufklärung, denen er sich verbunden fühlte, darunter auch denen von Croce und Volpe, zu vereinen und schlug eine Lesart der Aufklärung als Schritt zur unumkehrbaren Säkularisierung der europäischen Welt (Croce), als Ausdruck einer neuen und aufstrebenden sozialen Klasse, der Bourgeoisie (sozialistische Geschichtsschreibung) und als einen des von der italienischen Renaissance eingeleiteten Prozesses (Volpe) vor. Darüber hinaus betrachtete Chabod die Aufklärung ausdrücklich als eine Epoche der Geschichte der europäischen Kultur, vergleichbar mit der Renaissance und den anderen Perioden der modernen Geschichte. Chabod benutzte die Aufklärung als zentralen Begriff in seinen Vorlesungen über die Begrifflichkeiten von „Nation“ und „Europa“, die er während der deutschen Besetzung 1943/44 in Mailand hielt und die nach Chabods Tod 1960 posthum mit großem Erfolg veröffentlicht wurden.20

Benito Mussolini, Discorso del duce alla seconda assemblea quinquennale del regime, Roma, 18 marzo XII, Rom 1934. 20 Federico Chabod, LQidea di nazione, Bari 1961; ders., Storia dellQidea dQEuropa, Bari 1961. 19

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II. Es geht also darum, dass in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, bis zur Wiederbelebung der Forschung und der Publikationsaktivitäten nach 1945, die europäische Aufklärung vor allem im Lichte der italienischen Nationalfrage, der gescheiterten Nationalstaatsbildung, bewertet wurde, wobei die jeweilige politische, akademische und konfessionelle Ausrichtung der zu diesen Themen Forschenden eine große Rolle spielte. Im Großen und Ganzen blieb die italienische Forschung über das 18. Jahrhundert vor 1945 allerdings hinter den großen europäischen historiographischen Traditionen – mit Ausnahme von Benedetto Croce – zurück und war außerhalb der nationalen Geschichtsschreibung wenig einflussreich. Deshalb war die Veröffentlichung von Venturis Jeunesse de Diderot im Januar 1939 eine Überraschung und wurde vom Croce-Anhänger Adolfo Omodeo als Beginn einer neuen Phase der Forschung gefeiert. Der Krieg konnte diese Erneuerung nur vorübergehend unterbrechen. Nach 1945 fand in Italien zweifelsohne eine entscheidende Erneuerung der Forschung zur Aufklärung und in der Haltung ihr gegenüber statt. Venturi spielte bei dieser Erneuerung eine wichtige Rolle, aber sie kann nicht allein auf seine Tätigkeit in der Erforschung des 18. Jahrhunderts zurückgeführt werden, die er nach der Fertigstellung und Veröffentlichung seines monumentalen Werks über den russischen Populismus im Jahr 1953 wiederaufgenommen hatte. Sein 1954 und 1960 vorgestelltes Forschungsvorhaben wurde in der Erarbeitung des ersten Bandes von Settecento riformatore verwirklicht. Unabhängig von Venturi entstanden in den 1950er Jahren weitere Ansätze in der Forschung, die nicht nur politisch, sondern auch methodologisch einen entscheidenden Fortschritt gegenüber der Zeit des Faschismus darstellten.21 Um es deutlicher zu benennen: Das erste Moment der Wiederbelebung der Aufklärung kam von der philosophischen Strömung, die sich mit dem Neopositivismus des Wiener Kreises auseinandersetzte. Die Bewegung nannte sich in Italien „neoilluminismo“, um sich von den traditionsorientierteren Strömungen in Philosophie und Politik abzugrenzen, die den Sturz des Faschismus überdauert hatten. Um sich gegen die Metaphysik, gegen den katholischen und marxistischen Dogmatismus und gegen den katholischen Spiritualismus zu positionieren, berief der Gründer Nicola Abbagnano am 15. Mai 1953 eine Konferenz ein.22 Dieser neoilluminismo sollte sowohl die Ideale der italienischen Resistenza wiederbeleben als auch einen dritten Weg schaffen, der den Gegensatz zwischen den NarraFranco Venturi, Scritti sparsi, hg. von Guido Franzinetti und Edoardo Tortarolo, Turin 2022. Mirella Pasini, Daniele Rolando, Il neoilluminismo italiano. Cronache di filosofia (1953–1962), Mailand 1991, 9. 21 22

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tiven der PCI und denen der DC überwinden sollte. Der neoilluminismo sollte sowohl eine Strömung neuer Philosophie als auch neuer Forschung über die Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts sein. Charakteristisch für diesen Forschungsansatz ist Carlo Augusto Vianos 1960 erschienenes Werk über John Lockes Vom Rationalismus zur Aufklärung mit der These, Locke sei ein Vordenker der Aufklärung gewesen.23 Im Wesentlichen wollte der neoilluminismo über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren eine philosophische Erneuerung durchführen, einschließlich neuer historischer Forschungen zu den Klassikern der europäischen Aufklärung. Neben Vianos Werk über Locke widmete sich Antonio Santucci Hume und dem englischen Skeptizismus. Die Universitäten von Bologna, Turin (Abbagnano, Rossi, Viano) und Mailand (Dal Pr/) wurden zu Zentren des neoilluminismo und belebten das historische Interesse an der Philosophie der Aufklärung. Mitte der 1960er Jahre verlor diese Bewegung an Strahlkraft, um schließlich ganz zu verschwinden. Zur Strömung des neoilluminismo gehörte ursprünglich auch Norberto Bobbio, der sich innovativ mit dem juristischen und naturrechtlichen Denken und den politischen Werken bekannter Aufklärer von Locke über Rousseau bis Kant auseinandersetzte. Neben dem philosophisch geprägten neoilluminismo in den 1950er Jahren entwickelte sich ein Interesse am historischen und politischen Denkansatz in der Epoche der Aufklärung. Wie im Falle des neoilluminismo geschah dies vor einem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Marxismus und einer Neubewertung von Croces Vermächtnis. Zwei Arbeiten eröffneten den Blick auf bis dahin vernachlässigten Aspekten der Aufklärung. 1954 veröffentlichte Giuseppe Giarrizzo seine umfangreichen Forschungen über Edward Gibbon. Bereits der Titel Edward Gibbon e la cultura europea del Settecento (Edward Gibbon und die europäische Kultur des 18. Jahrhunderts) deutete an, dass der italienische Historiker alle Verbindungen nachzeichnen wollte, die Gibbon nicht nur mit Voltaire und der Acad8mie des Inscriptions, sondern auch mit der niederländischen Gelehrtenwelt und den Editionen der italienischen Schriften verbanden. Wie Arnaldo Momigliano, ein weiterer Erneuerer der Sichtweise auf die Aufklärung, korrigierte Giarrizzo die gängigen Vereinfachungen einer ahistorischen Aufklärung. In denselben Jahren schrieb Sergio Bertelli Erudizione e storia in Ludovico Antonio Muratori, veröffentlicht 1960. Muratori war nicht nur der eifrigste Sammler mittelalterlicher italienischer Quellen, sondern hatte sich sein Leben lang darum bemüht, seinen religiösen Glauben zu bewahren (Muratori war Priester, Bibliothekar und Pfarrer in Modena), den Katholizismus für die Moderne zu öffnen und diesen rationaler zu gestalten, jedoch ohne seinen Charakter als eine geoffenbarte Religion zu verlieren.

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Carlo Augusto Viano, John Locke. Dal razionalismo allQilluminismo, Turin 1960.

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Dieser Ansatz stellt den dritten Strang zur Erneuerung der Aufklärung nach 1945 dar. Die Suche nach einer katholischen Aufklärung (oder einem aufgeklärten Katholizismus) vermittelte zwischen der deistischen und antiklerikalen Aufklärung und der gegenreformatorischen Version des päpstlich-römischen Katholizismus. In den 1950er und 1960er Jahren bildete sich eine große Gruppe von katholischen Historikern, die politisch fortschrittlich eingestellten waren und im Krieg häufig als Partisanen gekämpft hatten, um die konkreten Auswirkungen einer katholisch geprägten Kultur der Aufklärung zu untersuchen, von Ettore Passerin dQEntreves bis Mario Rosa. Durch die Erforschung dieses italienischen aufgeklärten Katholizismus änderte sich die Darstellung der europäischen Aufklärung. Die Verbindungen mit den katholischen deutschsprachigen Regionen und den Einflüssen um Maria Theresia kamen hinzu und ersetzten oftmals die Bindung an die französische Tradition einer deistischen und in manchen Fällen atheistischen Ausformung der Aufklärung. Durch diese Debatten gelangten Autoren des 18. Jahrhunderts, die die Erneuerung Europas durch den katholischen Glauben gefiltert und entsprechend angepasst haben, wieder in die Debatte über die italienische und europäische Aufklärung. Denker aus dem Königreich Neapel, von Paolo Mattia Doria über Antonio Genovesi bis Ferdinando Galiani, traten vollumfänglich in den Blick der europäischen Aufklärung ein. John Robertsons Buch über Schottland und Neapel The Case for the Enlightenment hatte seinen Ursprung in dieser in den Jahren nach 1945 erneuerten Forschung.24 Zuvor wäre die bloße Idee eines Vergleiches mit der italienischen Aufklärung abwegig erschienen und hätte keinen historiografischen Bezug gefunden. Dieser erweiterte Blickwinkel führte auch zu einem besonderen Interesse an nicht-italienischen Aufklärern, insbesondere an der französischen Aufklärung. Frankreich blieb weiterhin der Bezugspunkt auch für solche Forschungen, die über die Ideengeschichte hinausgingen. An dieser Stelle kann ich lediglich den bekannten italienischen Historiker, der sowohl Italien als auch Frankreich im 18. Jahrhundert zum Forschungsgegenstand hatte, beispielhaft nennen: Furio Diaz (Filosofia e politica nel settecento francese, 1962; Francesco Maria Gianni dalla burocrazia alla politica sotto Pietro Leopoldo di Toscana, 1966). Furio Diaz gab nach 1956 eine vielversprechende politische Karriere in der Kommunistischen Partei Italiens auf. Er entschied sich nicht nur dafür, das 18. Jahrhundert und die Aufklärung aus wissenschaftlicher Sicht zu erforschen, sondern auch, das Konzept der Aufklärung als Alternative zum Katholizismus und Marxismus neu zu beleben: Voltaire anstelle von Antonio Gramsci, Peter Leopold Großherzog der Toskana als das Ideal eines aufgeklärten Herrschers. Was viele nicht-marxistische und nicht-katholische Gelehrten der 1950er, 1960er und 1970er Jahre implizit angenommen hatten, wurde von Diaz mit seiner 24

Roy Porter, Mikulas Teich (Hg.), The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981.

Die Aufklärung als europäisches Phänomen

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These der „Rückkehr zur Aufklärung“ (ritorno allQilluminismo) offen ausgesprochen. Für viele Historiker im Umfeld von Venturi, wie Diaz einer war, oder von Venturi inspiriert, bedeutete die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, sich mit ihren Werten zu identifizieren und sich für ihre Umsetzung in eine progressive Politik einzusetzen. Außerdem hatten italienische Arbeiten zur Aufklärung die Herausforderungen, die sich aus europäischen Diskussionen ergaben, nicht immer in ihre Forschungen einbezogen. Obwohl ins Italienische übersetzt, blieben einige Klassiker, die den Begriff der Aufklärung problematisierten, ohne nennenswerten Nachhall in Italien: Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, Kosellecks Kritik und Krise, Lester Crockers An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth-Century French Thought (1959, 1975 ins Italienische übersetzt). Allesamt Werke, die der Aufklärung auf unterschiedliche Weise kritisch gegenüberstanden, blieben sie doch ohne erkennbaren Widerhall. Die Bücher von Daniel Roche und FranÅois Furet entsprachen besser der Ausrichtung der italienischen Geschichtsschreibung, die die Interaktion zwischen politischen Vorhaben und der Wirkung von Macht untersucht, sowohl um ihre Übereinstimmungen zu sehen als auch um die Abweichungen zu ermessen. In den 1980er und 1990er Jahren war der Prozess der Öffnung der italienischen Geschichtsschreibung für die europäische Dimension abgeschlossen und in Bezug auf die Untersuchungsgegenstände und methodologischen Bezüge unumkehrbar. Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Krieges, der auch die Auseinandersetzung zweier entgegengesetzter Visionen europäischer Geschichtsphilosophie war, führte auch in Italien dazu, die von Venturis und der unmittelbar darauffolgenden Generation vertretene Narrativ zu überdenken und neue Aspekte in das Verständnis der Geschichte des 18. Jahrhunderts zu integrieren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung waren die historiografischen Verdienste von Venturi und seiner Generation unbestreitbar, aber auch sie mussten angesichts der immer stärkeren Auseinandersetzung mit der internationalen Forschung der Generation nach Venturi angepasst und überarbeitet werden. Im 20. Jahrhundert näherte sich die italienische Kultur der Interpretation der Aufklärung aus vielen verschiedenen Perspektiven. Bis 1945 lassen sich sechs verschiedene und miteinander konkurrierende Interpretationsmodelle ausmachen: das von Antonio Gramsci entwickelte, das von Piero Gobetti, das von Benedetto Croce, das vom Faschismus vorangetriebene, das der Katholiken und das von Federico Chabod. Nach 1945 kam es zu einer radikalen Erneuerung der Aufklärungsforschung, die die italienische Aufklärungsgeschichtsschreibung wieder mit der europäischen Diskussion in Verbindung brachte, insbesondere dank der Arbeit von Franco Venturi. In the 20th century, Italian culture approached the interpretation of the Enlightenment from many different perspectives. Until 1945, six different and competing models of in-

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terpretation can be identified: that developed by Antonio Gramsci, that of Piero Gobetti, that of Benedetto Croce, that advanced by Fascism, that of the Catholics, and that of Chabod. After 1945 there was a radical renewal of Enlightenment research that reconnected Italian Enlightenment historiography to the European discussion, thanks in particular to the work of Franco Venturi. Prof. Dr. Edoardo Tortarolo, Fondazione Luigi Einaudi, via principe Amedeo 34, I-10123 Torino, E-Mail: [email protected]

Matthias Lçwe „Schlacht mit Begriffen“: Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis

1981 erschien im Verlag Klett-Cotta das 725 Seiten starke Opus magnum Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus des griechisch-deutschen Philosophen Panajotis Kondylis (1943 – 1998).1 Das beinahe eintausend Titel umfassende Literaturverzeichnis und der üppige Fußnotenapparat, der als gelehrter Generalbass beständig unter KondylisQ nüchterner Nominalstil-Prosa grummelt, verraten bei diesem noch nicht einmal 40-jährigen Autor einen ausgeprägten Willen zur Klassizität, zum Standardwerk: Kondylis will sich mit der mit Ernst Cassirer beginnenden Tradition geistesgeschichtlicher Aufklärungsforschung messen und zugleich eine gänzlich neue Darstellung bieten. Der Wille zur Klassizität manifestiert sich auch in der gediegenen verlegerischen Aufmachung von KondylisQ Aufklärungsbuch. Mit seinem hochwertigen Leineneinband und Schutzumschlag, ebenso wie mit dem relativ hohen Ladenpreis von 148 DM wirkt das Buch ein wenig overdressed, wie ein unzeitgemäßer Kontrapunkt zur Understatement-Materialität der broschierten Suhrkamp-Kultur. Die in schweres Gewand gekleidete Überwältigungsgelehrsamkeit von KondylisQ Aufklärungsbuch verhallte im Kontext der 1980er Jahre jedoch weitgehend. Erst seit den 1990er Jahren stieß das Buch auf einige Resonanz, da sich mit seinen Thesen das neue Forschungsinteresse an spätaufklärerischer Anthropologie stützen ließ. Dies führte jedoch zur Eindampfung von KondylisQ Argumentation auf das Schlagwort von Aufklärung als „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (19).2 Mein Beitrag versucht KondylisQ komplexe Aufklärungsdeutung, die in dieser Formel eingewickelt wurde, wieder aufzudröseln und sie zugleich in die bundesrepublikanische Ideengeschichte einzuordnen: Das Aufklärungsbuch lässt sich, 1 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981. – Sämtliche Zitate aus KondylisQ Aufklärungsbuch werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert und direkt im Haupttext in Klammern belegt. 2 Vgl. etwa Jörn Garbers und Ulrich Kronauers Vorwort zur Neuausgabe von KondylisQ Aufklärungsbuch im Meiner-Verlag (Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Hamburg 2002, 3 f.).

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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so meine These, als später Beitrag zur geisteswissenschaftlichen Säkularisierungsdebatte verstehen, die in den 1960er und 1970er Jahren geführt wurde. Um dies darzulegen, wird im Folgenden zunächst detailliert das zentrale Deutungsangebot von KondylisQ Aufklärungsbuch rekonstruiert: sein strittiges und voraussetzungsreiches Verständnis von Aufklärung als Zweifrontenkrieg gegen Theologie und Skepsis.3 Zweifrontenkrieg: Aufklärung im Kontext agonaler Ideengeschichte KondylisQ Aufklärungsbuch erhebt einen emphatischen Explikationsanspruch: Ideengeschichte wird hier als Konfliktgeschehen verstanden, Ideen werden anhand der mit ihnen verfolgten Interessen analysiert. Ideen sind für Kondylis Entscheidungen gegen andere Ideen: „Die beste Art, eine bestimmte Philosophie geistesgeschichtlich zu begreifen, ist demnach die, ihren Gegner klar ins Auge zu fassen und zu erwägen, was sie beweisen muß bzw. will, um diesen Gegner außer Gefecht zu setzen“ (20). In diesem martialisch-polemiologischen Ansatz liegt das zentrale Skandalon von KondylisQ Buch, weil er Ideengeschichte damit psychologisiert, und zwar auf der Grundlage einer offenbar für wahr gehaltenen Fundamentalerklärung menschlichen Handelns, der Vorstellung nämlich, dass Machtstreben zentrales Motiv menschlichen Tuns sei, dass Menschen sich auch bei der Produktion von Ideen im Kampf befinden.4 Dass diese machtanthropologische Setzung selbst nicht hergeleitet, nicht einmal benannt wird, darin besteht KondylisQ zentrale Begründungslücke.5 Diese Setzung ermöglicht es Kondylis jedoch große Bögen zu 3 Zur Rekonstruktion von KondylisQ Argumentation vgl. auch Ludwig Stockinger, Philosophie als Konfliktgeschehen. Vor fünfunddreißig Jahren erschien Panajotis KondylisQ Darstellung der europäischen Aufklärung, in: Scientia Poetica 20 (2016), 121 – 136. 4 Vgl. dazu die Kritik von Oliver Flügel-Martinsen, Apodiktischer Dezisionismus? KondylisQ Machtdenken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), 365 – 382. 5 In der kurzen Studien Macht und Entscheidung (1984) formuliert Kondylis allerdings nachträglich einige methodische Überlegungen zu seinem Verfahren machtanthropologischer Ideengeschichtsschreibung. Hier wird deutlich, dass er selbst die Anthropologie des Machtstrebens offenbar vornehmlich als heuristische Annahme versteht, die es erlaubt, Ideengeschichte besser zu erklären, nämlich Ideen aufzufassen als einen Akt der Absonderung von einem Gegner im Rahmen eines Kampfs um Aufmerksamkeit. Seine ideengeschichtliche Analysemethode nennt er ,deskriptiven DezisionismusR, der Ideen und Normen als Entscheidungen gegen andere Normen auffasst und sie auf dahinterstehende Interessen befragt. Er grenzt diese Methode von einem ,militantenR oder ,normativen DezisionismusR ab: Dem militanten Dezisionismus gilt als ,wahresR Leben nur dasjenige, das sich permanent wach und entscheidungsbereit hält und sich nicht an Gewissheiten klammert, sondern auch das praktische Handeln in der Lebenswelt an einer Anthropologie des Machtstrebens orientiert. Kondylis dagegen versteht seinen machtanthropologischen Ansatz nicht als

Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis

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schlagen und Ideengeschichte nicht nur enzyklopädisch aufzubereiten, sondern zugleich zu erklären. Dies bemerkte schon eine frühe Rezension von Silvio Vietta in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der sich auch das Titelzitat meines Beitrags verdankt: Vietta zufolge gelinge es Kondylis, „Ideengeschichte dramatisch zu inszenieren“, als „Schlacht mit Begriffen“, womit er den methodischen Zugriff dieses Autors präzise benennt.6 Der Titel von KondylisQ Aufklärungsbuch erzeugt trotz seiner Nüchternheit hohen Erklärungsbedarf, denn was bedeutet: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus? Für Kondylis ist Aufklärung keineswegs deckungsgleich mit Rationalismus und Rationalismus meint nicht allein Vernunftglaube, sondern bezeichnet – wie die Kombination mit dem Adjektiv „neuzeitlich“ nahelegt – das Denken der Neuzeit insgesamt, so wie es seit dem Hochmittelalter entsteht. Seine zentrale Kontur gewinnt der Rationalismusbegriff bei Kondylis durch die Gegnerschaft zur mittelalterlichen Theologie. Der neuzeitliche Rationalismus opponiert gegen die Vorstellung, „daß Gott Garant der festen Seinsordnung und daher auch der Festigkeit bzw. Sicherheit ihrer Erfassung ist“ (43). Gegenüber der praktisches Sollen. Er will keine Fundamentalerklärung menschlichen Handelns bieten, sondern eine heuristische Hypothese für eine Theorie der Ideengeschichtsschreibung. Mit dem ,deskriptiven DezisionismusR verbindet sich keine Anleitung für das Handeln in der Praxis, denn hier braucht man offenbar Normen, die man nicht permanent als bloße Entscheidungen relativiert, die man nicht permanent zum bloßen Produkt der eigenen Interessen erklärt oder sie auf ihre Einbettung in polemische Konstellationen hinterfragt: „Unser deskriptiver Dezisionismus läßt also weder die Entscheidung als Sollen noch die pflichtgemäße Bindung von Entscheidungen an ein angeblich objektives Sollen gelten. […] [E]rst durch die Einsicht in die soziale Notwendigkeit der Vorherrschaft des Normativismus vermag diese Theorie deskriptiv, d. h. wertfrei zu bleiben. Das mag paradox klingen, und dennoch gehören, bei Licht besehen, theoretische Wertfreiheit und Anerkennung der Überlegenheit des wert- und normgebundenen Denkens auf praktischem Gebiet unzertrennlich zusammen. Denn restlos wertfrei ist eine Betrachtung nicht schon dann, wenn sie sich der Subjektivität und Relativität der Werte bewußt bleibt, sondern erst dann, wenn sie ihrerseits auf die Rolle des Aufklärers und des Therapeuten – kurzum: des Führers – ganz und gar verzichtet: […] Wertfreie Erkenntnis kann sich nicht die Zerstörung von Illusionen zum Ziel setzen, denn gerade durch die Feststellung von der Unzerstörbarkeit, ja Lebensnotwendigkeit von Illusionen ist sie wertfrei geworden. Sie muß deshalb ein parasitäres Dasein führen und sich eigentlich ausschließlich an diejenigen richten, die praktisch überflüssige, ja hemmende Einsichten zu schätzen wissen“ (Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984, 9). Bei solchen Aussagen schwingt immer auch KondylisQ offenbar identitätsstiftende Selbststilisierung zum unabhängigen Privatintellektuellen mit, der außerhalb aller Institutionen steht und vermeintlich nur so einen nüchternen Blick auf die Ideengeschichte werfen könne. Zu den Aporien von KondylisQ deskriptivem Dezisionismus vgl. auch dessen luzide Rekonstruktion bei Reinhart Koselleck, KondylisQ Beiträge zu den ,geschichtlichen GrundbegriffenR, in: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis – Aufklärer ohne Mission. Aufsätze und Essays, Berlin 2007, 1 – 14, hier 12 – 14. 6 Silvio Vietta, Die Schlacht mit Begriffen. Panajotis KondylisQ Monumentalwerk über die Aufklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Okt. 1981.

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theologischen Weltanschauung propagiert der neuzeitliche Rationalismus eine „Loslösung der Denktätigkeit vom ontologisch-metaphysischen Rahmen“ (45), ein „neuartige[s], als autonom selbstdefinierte[s] Denken“ (ebd.). Allerdings folgt diese Loslösung von der mittelalterlichen Ontologie nicht dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas), sondern mittelalterliches wie neuzeitliches Denken fußt bei Kondylis auf argumentativ nicht einholbaren Entscheidungen, auf dem Postulat von Normen, denn „die Beantwortung der letzten Fragen erfolgt durch Machtansprüche“ (37), nicht durch Argumente, so die Grundthese von KondylisQ machtanthropologischer Ideengeschichtsschreibung. In seinem Aufklärungsbuch fokussiert er daher vor allem die Selbstwidersprüche, in die sich neuzeitliches Denken verstrickt, indem des jenen bloßen, „ultra rationem“ (ebd.) liegenden Entscheidungsakt zu kaschieren versucht, aus dem es vermeintlich hervorgeht. Im Kampf gegen die Theologie produziert der neuzeitliche Rationalismus Widersprüche, die in der Aufklärung „besonders stark – und schmerzhaft – empfunden“ (126) werden und „zum Durchbruch kommen“ (41). Am Beginn neuzeitlichen Denkens steht ein Zweckbündnis zwischen zwei „zusammengehörende[n] Formen“ (49) des neuzeitlichen Rationalismus, zwischen der Idee autonomer Vernunft und einer Aufwertung der Sinnlichkeit, womit Kategorien wie Natur, Erfahrung oder Geschichte gemeint sind.7 Das neuzeitliche Denken opponiert gegen die mittelalterliche Theologie, indem es die Loslösung menschlicher Denktätigkeit aus dem Rahmen religiöser Ontologie behauptet. Um dieser Parteinahme für die Autonomie des Intellekts argumentatives Gewicht zu verleihen, wertet das neuzeitliche Denken zugleich mit Experiment und Beobachtung die Sinnlichkeit auf und erklärt dies als Abwendung von der Transzendenz hin „zum Unmittelbaren bzw. Lebendigen“ (ebd.). Dieses brüchige Zweckbündnis von Intellekt und Sinnlichkeit kommt zustande, weil beide denselben Gegner haben: das theologische Welt- und Menschenbild. Um sich von der Theologie zu emanzipieren, entwickelt das neuzeitliche Denken den säkularen Wertmaßstab autonomer Vernunft und emanzipiert die Sinnlichkeit, um Vernunft als etwas Erfahrbares erscheinen zu lassen, das sich zum Beispiel in der Natur zeige. Der neuzeitliche Rationalismus vollzieht eine „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (19), um zu beweisen, dass „weder der Umweg der [göttlichen] Autorität zur Erreichung der Wahrheit noch der Askese zur Gewinnung der Moral“ nötig seien, denn „Wahrheit und Moral seien potenziell in uns, an uns“ (49). Kondylis verfolgt diese aus seiner Sicht aporetische Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft im neuzeitlichen Denken mithilfe von eingehenden Argumentationsanalysen, beginnend bei der Naturphilosophie Thomas von Aquins (59 – 80) über die Entstehung des mathematisch-natur7 Zum Verständnis der Kategorie „Sinnlichkeit“ vgl. Kondylis, Aufklärung (wie Anm. 1), 15, Fn. 14.

Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis

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wissenschaftlichen Denkens von Galileo Galilei bis Gottfried Wilhelm Leibniz (80 – 119) sowie anhand des Naturrechts von Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf (147 – 169). In dem wichtigen Kapitel „Der Mensch als Natur und die Skepsis“ (124 – 147) wird dann dargelegt, wie aus dem Zweckbündnis von Vernunft und Sinnlichkeit ein grundlegendes Problem neuzeitlichen Denkens entsteht, das „im Zeitalter der Aufklärung besonders sichtbar geworden“ (124) sei. Kondylis erläutert dieses Problem, das partiell an die Dialektik der Aufklärung (1944/1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erinnert, wie folgt: Wenn der emanzipierte, d. h. vom Himmel ab- und der Natur zugewandte Mensch dieselbe durch Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten beherrschen kann, so beherrscht aber auch die eben durch die eigene Aufwertung gegenüber Gott allmächtig gewordene Natur ihrerseits den Menschen: dieser wird ja, nachdem er sich von Gott emanzipiert hat, in erster Linie als Teil […] der Natur angesehen, d. h. als biologisches Naturwesen, das Naturgesetzen unterworfen ist. (124 f.)

Das neuzeitliche Denken emanzipiert die Vernunft mithilfe rehabilitierter Sinnlichkeit (z. B. unter Berufung auf die ,NaturR, in der sich Vernunft vermeintlich zeige) und aus dieser Allianz entsteht ein Problem, das den neuzeitlichen Rationalismus wie ein Gespenst begleitet: die Denkmöglichkeit der Skepsis, die „die Ohnmacht des menschlichen Intellekts und die Macht der menschlichen Sinnlichkeit geltend macht“ (125). Wo behauptet wird, dass Werte nicht absolut seien, sondern „Produkte der Kultur, Produkte von Setzungen, Nützlichkeitsprodukte“, dort wird Kondylis zufolge „[d]er entscheidende Schritt zur Skepsis […] getan“ (136). Kondylis rekonstruiert die Anfänge einer solchen Skepsis bei Niccolm Machiavelli, Michel de Montaigne und Thomas Hobbes. Doch weshalb kommt es zur Verbreitung skeptischen Philosophierens innerhalb des neuzeitlichen Denkens? Zu einer der wenigen sozialgeschichtlichen Bezüge in KondylisQ philosophieimmanenter Darstellung gehören einige Bemerkungen zum Aufstieg neuzeitlicher Skepsis parallel zur Entstehung des absolutistischen Staates nach dem 30-jährigen Krieg, wobei sich Parallelen zu Reinhart Kosellecks Deutung der frühneuzeitlichen Ideengeschichte in Kritik und Krise (1959) zeigen:8 Um dem Chaos der Religionskriege ein Ende setzen zu können, mußte […] der absolutistische Staat die Wahrheitsfrage entschieden beseitelegen. […] Seine Autorität liegt nicht darin, daß er „die“ [religiöse] Wahrheit ausfindig und verbindlich gemacht, sondern ganz im Gegenteil darin, daß er sich über die Wahrheit hinweggesetzt, sie zur Privatangelegenheit erklärt hat. […] Diese Eliminierung [der Wahrheitsfrage] ergibt den wesentlichen Berührungspunkt mit der Skepsis – und es war kein Zufall, daß ausge8 Zu KondylisQ Auseinandersetzung mit Kosellecks Kritik und Krise vgl. Kondylis, Aufklärung (wie Anm. 1), 157 f., Fn. 510 und 511.

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rechnet Skeptiker, die auf die Relativität und Vergänglichkeit der jeweiligen Moral und Wahrheit bzw. auf die Endlichkeit und sinnliche Bedingtheit des menschlichen Intellekts hinwiesen, zu warmen Anhängern des absolutistischen Staates wurden. (130)

Ausgerechnet der absolutistische Staat wird bei Kondylis zum Motor skeptischen Denkens: Um den Religionskrieg zu beenden, muss er skeptisch werden, muss auf die Entscheidung über Wahrheitsfragen verzichten und diese an die Privatindividuen delegieren. Mit dem Aufkommen der Skepsis als Denkmöglichkeit und der damit einhergehenden „Angst vor dem Nihilismusverdacht“ (211) wird jedoch die schwierige Allianz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die der neuzeitliche Rationalismus gegen die Theologie geschmiedet hatte, wieder brüchig. Die beiden Flügel neuzeitlichen Denken drohen sich „in zwei Lager“ (173) zu spalten: nämlich einerseits der Intellektualismus vor allem Ren8 DescartesQ, der dem Intellekt das Primat vor der Sinnlichkeit einräumt (vgl. 170 – 209), und andererseits der Empirismus, der der Sinneswahrnehmung das Primat vor der Verstandestätigkeit zuspricht und den Menschen als Natur versteht (vgl. 210 – 356). Seit dem späten 17. Jahrhundert gewinnt, Kondylis zufolge, die polemische Auseinandersetzung zwischen Intellektualismus und Empirismus die Oberhand und überschattet ihr verbindendes Projekt, den Kampf gegen die Theologie. Das überwölbende Projekt neuzeitlichen Denkens wird nun zur „weltanschaulichen Waffe[]“ (19) im Rangstreit seiner beiden Binnenströmungen, die sich Verrat an der gemeinsamen Sache vorwerfen. Besonders effektiv kann man den weltanschaulichen Konkurrenten diskreditieren, indem man ihn anklagt, „[e]xtreme Positionen“ (211) zu vertreten, die der Theologie in die Hände spielen: So lässt sich dem Intellektualismus von empiristischer Seite aus vorwerfen, dass er für die Vorstellung der Vernunftautonomie einen zu hohen Preis bezahlt, indem er zum Glauben an die Vernunft als überpersönlicher Autorität aufruft, denn er produziert damit eine von der sinnlichen Erfahrung abgelöste Idee und praktiziert eine vergleichbare idealistische Ontologie wie die theologische Ontologie mit der Idee Gottes. Vice versa lässt sich von intellektualistischer Seite gegen den Empirismus der Vorwurf erheben, dass das Primat der Sinnlichkeit in letzter Konsequenz zu Materialismus und Determinismus führe und damit die Behauptung der menschlichen Freiheit unterminiert, im Namen derer sich das neuzeitliche Denken von der Theologie emanzipiert hatte. Genau hier setzt KondylisQ Deutung von Aufklärung an: Er beschreibt Aufklärung als Versuch, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen Willensfreiheit und Determinismus zu vermitteln, und zwar aus Furcht vor solchen Extrempositionen: [D]ie Vermittlung [erfolgt] im Hinblick auf die Extreme und aus Furcht vor ihnen […]: ganz unabhängig vom Grad ihrer theoretischen Vervollkommnung stehen diese Extreme wie Gespenster da und motivieren Aktionen und Reaktionen. (52)

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Aufklärung ist bei Kondylis daher das Ergebnis eines Zweifrontenkrieges9 gegen Theologie und Skepsis: Das Ausräumen des Nihilismusverdachtes war also für den neuzeitlichen Rationalismus primäres polemisches Bedürfnis – ja Überlebensfrage. Seine klassischen Vertreter kämpfen daher an zwei Fronten gleichzeitig: gegen den theologischen Gegner und – oft viel heftiger – gegen alle jene, die sich bereit zeigen, aus der direkten oder indirekten Herabsetzung Gottes (der Theologie) und dem sich daraus ergebenden Primat des Menschen (der Anthropologie) skeptische oder gar nihilistische Schlußfolgerungen zu ziehen. (55)

Durch ihre Vermittlungsbemühungen steht die Aufklärung aber permanent in der Gefahr, sich zu übernehmen. Kondylis bezeichnet diese Gefahr als aufklärerischen „Dualismus des Schwankens: man will nämlich auf die Aufwertung der Materie im Kampfe gegen die Theologie nicht ganz verzichten, kann aber diese Aufwertung mit Rücksicht auf das Schicksal von Norm und Geist nicht allzu weit treiben“ (211 f.). Dieses Bemühen um eine Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit erreicht eine besonders extreme Form im „monistische[n] Ansatz der deutschen Spätaufklärung“ (576 – 649), dem das letzte Kapitel des Aufklärungsbuchs gewidmet ist. Hier beschäftigt sich Kondylis unter anderem mit Johann Gottfried Herder und dessen Versuch, die Norm der Humanität mithilfe einer rehabilitierten Sinnlichkeit zu begründen, mithilfe von empirischen Beispielen aus der menschlichen Kulturgeschichte. In Herders Konzept einer ,anthropologischen HistorieR soll Ganzes und Entwicklung bzw. Normatives und Kausales miteinander verschmolzen werden […]: das Relative bzw. sinnlich Bedingte soll so interpretiert werden, daß kein Relativismus und keine Skepsis daraus entstehen kann. (620)

KondylisQ zentrale These besteht in der Annahme, dass sich Aufklärer in widersprüchliche Vermittlungspositionen stürzen und zwar aus Furcht vor den nihilistischen Konsequenzen jener Rehabilitation der Sinnlichkeit, die sie selbst betreiben. Gerade in der Spätaufklärung wird die Empirie zur neuen Quelle von Normen hochstilisiert: Kondylis nennt dies einen „spekulativen Gebrauch der Empirie“ (307).10 In einer anderen Studie spricht er pointiert von einer „Vergeistigung der Sinnlichkeit als Voraussetzung ihrer Rehabilitation“.11 In einer später entstandenen Studie spricht Kondylis wörtlich vom „Zweifrontenkampf gegen Theologie und Materialismus“ (Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990, 277). 10 „Die Bühne beherrschen nicht Monographien über ein empirisch begrenztes und restlos interpretierbares Problem, sondern ambitiöse und voluminöre [sic] ,SystHmes de la NatureR […]. In der Tat ist die Haltung der Aufklärer, wenn sie sich z. B. auf allgemeine Instanzen wie die Natur berufen, um einzelne Phänomene zu interpretieren, in ihrer polemischen Folgerichtigkeit logisch höchst paradox. Man verfährt in Wirklichkeit deduktiv, nur daß die Prinzipien der Deduktion als 9

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Hieraus ergibt sich auch eine spezifische Deutung der Philosophie Immanuel Kants, mit der Kondylis sein Aufklärungsbuch abschließt. Kant gilt Kondylis nicht als Vollender der Aufklärung: Stattdessen spricht er von Kants „philosophische[r] Isoliertheit innerhalb der deutschen Spätaufklärung“ (639), weil Kant das Monismus-Bedürfnis vieler Spätaufklärer untergräbt, weil er säuberlich zwischen ,Ding an sichR und Erscheinung, Sollen und Sein trennt, zwischen der empirischen Natur des Menschen und der Idee der Freiheit, die sich in der Empirie nirgends zeigt (vgl. 638 f.).12 Bei einer Gesamtbetrachtung von KondylisQ Aufklärungsdarstellung ergibt sich ein ambivalentes Bild. Kritisch zu benennen ist die klaffende Begründungslücke, die KondylisQ gesamter Argumentation zugrunde liegt: die Setzung, dass Machtstreben der treibende Motor von Ideengeschichte sei. Daraus ergibt sich die etwas penetrante Tendenz zur Psychologisierung von Ideengeschichte, etwa wenn Kondylis Aufklärung als Ergebnis einer „Furcht“ (52) vor Extrempositionen erklärt, sowie eine gewöhnungsbedürftige Vorliebe für militärische Metaphorik wie bei der Rede von Ideen als „weltanschaulichen Waffen“ (19). Andererseits sind KondylisQ konkrete Argumentationsanalysen aufschlussreich, weil er Ideengeschichte nicht nur enzyklopädisch betreibt, sondern auch Erklärungsangebote für das Zustandekommen ideengeschichtlicher Prozesse bieempirisch gegeben definiert werden, worauf das ganze Verfahren ruhigen Gewissens induktiv genannt wird. Es handelt sich dabei eher um die Entscheidung, sich auf die Empirie als höchste Instanz zu berufen, so oft man eine höchste Rechtfertigungsinstanz braucht, als um das geduldige Verweilen bei ihr […]. Wir haben es mit einer spekulativen Empirie bzw. mit einem spekulativen Gebrauch der Empirie zu tun, der auf der weltanschaulichen Entscheidung zur Aufwertung der Sinnlichkeit beruht“ (Kondylis, Aufklärung [wie Anm. 1], 305 – 307). 11 Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979, 129. 12 In seiner später erschienenen Studie Die neuzeitliche Metaphysikkritik (1990) präzisiert Kondylis seine Thesen zur Sonderstellung Kants in der Spätaufklärung noch einmal: Entgegen einer weit verbreiteten Legende bestehe Kants zentrale philosophische Weichenstellung keineswegs darin, dass er der Erkenntnis Grenzen setzt, die traditionelle Metaphysik in ihre Schranken weist und die Erkenntnistheorie zur philosophischen Königsdisziplin nobilitiert: „In Wirklichkeit bildeten diese Auffassungen bereits seit Jahrzehnten Gemeinplätze der westeuropäischen Aufklärung […]; der antimetaphysische Agnostizismus bildete die fast obligatorische Einstellung jedes Aufklärers nach Locke“ (Kondylis; Metaphysikkritik [wie Anm. 9], 350). Die isolierte Sonderstellung Kants in der monistischen deutschen Spätaufklärung hat nach Kondylis andere Gründe, sie fußt vor allem auf Kants Konzept ,regulativer IdeenR: „Während Kant nämlich die Lehre von den Grenzen menschlicher Erkenntnis akzeptiert, die bis dahin in der Regel mit empiristischen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einherging, behauptet er gleichzeitig in bewußtem Gegensatz zum westeuropäischen Empirismus die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori […]; und während er den Primat der Erkenntnistheorie einerseits und des Praktischen andererseits bejaht, will er daraus das Gebot einer Restauration zentraler Ideen der traditionellen, und zwar der theologischen Metaphysik ableiten“ (ebd., 350 f.).

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tet. Kondylis schärft den Blick dafür, dass der Aufklärungsmainstream widersprüchliche Vermittlungspositionen formuliert und bietet eine diskutable Erklärung für typisch aufklärerische Kompromissformeln und Synthesebestrebungen zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die sich etwa im Konzept des ,moral senseR zeigen sowie in der spätaufklärerischen Vorstellung vom ,ganzen MenschenR oder in Gotthold Ephraim Lessings Mitleidskonzept: Mit dem Mitleidskonzept13 wertet Lessing die Sinnlichkeit des Theaterpublikums auf, das Drama wird nicht als Mittel vernünftiger Belehrung konzipieren, sondern als Medium zur Schulung der Gefühle. Dabei sollen aber Extrempositionen vermieden werden, die Aufwertung darf nicht zur Entfesselung der Sinnlichkeit geraten: Nach Lessings Mitleidsästhetik sollen Dramen zwar das Gefühlsleben des Publikums ansprechen und kultivieren, aber nicht alle Gefühle, sondern nur die Fähigkeit zu sympathisieren. Das Mitleid, das Lessings Dramen erzeugen sollen, ist ein unterschützendes Mittel zur Erlangung von Vernünftigkeit. In Lessings Mitleidskonzept manifestiere sich damit einer jener Kompromisse zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die Kondylis zufolge typisch sind für den Aufklärungsmainstream. Die Legitimität der Aufklärung: Kondylis und die Säkularisierungsdebatte Kondylis Aufklärungsdeutung entstand nicht im luftleeren Raum, sondern ist über feine Fäden mit den intellektuellen Debatten der mittleren Bundesrepublik verbunden, insbesondere mit der geisteswissenschaftlichen Säkularisierungsdebatte.14 Gegenstand dieser Debatte war das sogenannte Säkularisierungstheorem, demzufolge zentrale Begriffe und Konzepte der Moderne als Säkularisate aufzufassen seien, als verweltlichte religiöse Konzepte. Die kulturkritisch zugespitzteste Formulierung dieses Säkularisierungstheorems findet sich bekanntermaßen in Carl Schmitts Schrift Politische Theologie (1922/1934): „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“15 Nach 1945 erfuhr das Säkularisierungstheorem eine prominente Reaktualisierung in Karl Löwiths Schrift Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953), in der versucht wird, geschichtsphilosophisches Denken, gemeint sind vor allem marxistische Revolutionsideen, als Säkularisate christlicher Heilsgeschichte auszuweisen. 1962 war das Säkularisierungstheorem dann Gegenstand auf dem 7. Kongress 13 Vgl. Friedrich Vollhardt, Gotthold Ephraim Lessing – Epoche und Werk, Göttingen 2018, 246 – 251. 14 Die bislang umfassendste Darstellung der Säkularisierungsdebatte stammt von dem französischen Philosophen und Blumenberg-Forscher Jean-Claude Monod, La querelle de la s8cularisation. Th8ologie politique et philosophies de lQhistoire de Hegel / Blumenberg, Paris 2002, 203 – 279. 15 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 102015, 43.

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der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, den Joachim Ritter unter dem Titel Philosophie und Fortschritt an der Universität Münster organisierte: Anwesend waren unter anderem Karl Löwith und Theodor W. Adorno, aber auch Angehörige einer jüngeren Generation wie Jürgen Habermas, Hermann Lübbe und Hans Blumenberg. Dieser Kongress kann als Beginn der bundesrepublikanischen Säkularisierungsdebatte gelten.16 Vier Jahre später erschien Blumenbergs berühmtes Buch Die Legitimität der Neuzeit (1966), mit dem er u. a. auf Löwiths Thesen reagierte. Darin wehrt sich Blumenberg gegen das Bild von der Moderne, das bei Löwith zugrunde liegt: Blumenberg will neuzeitliches Denken nicht als von der Religion gebeiztes Säkularisat verstehen, sondern betont die Eigenständigkeit der Moderne. Danach kommt die Debatte in Fahrt, weil die von Blumenberg kritisierten Intellektuellen sich ihrerseits kritisch mit Blumenberg auseinandersetzen: etwa Hans Georg Gadamer, Löwith, Carl Schmitt, Odo Marquard, Jacob Taubes und Reinhart Koselleck. 1973 veröffentlicht Blumenberg eine erweiterte Neuausgabe seines Buches, mit der er wiederum auf die Kritik reagierte. Danach glätten sich die Wogen. Auch KondylisQ Aufklärungsbuch kann, so meine These, als später Beitrag zur Säkularisierungsdebatte verstanden werden. Dafür sprechen insbesondere zwei lange Fußnoten, in denen sich Kondylis mit Blumenbergs Thesen auseinandersetzt.17 Bei der zweiten dieser Fußnoten handelt es sich um die längste des gesamten Buchs und dieser Umfang ist Indikator für die große Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit Blumenberg für Kondylis besitzt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: KondylisQ Aufklärungsdeutung basiert auf jener Vorstellung von Säkularisierung, die bei Blumenberg kritisiert wird, wobei Kondylis allerdings nicht meint, dass in der Neuzeit religiöse Ideeninhalte in säkulare Begriffe umgewandelt werden, sondern lediglich, dass Theologie und Vernunft Denkstrukturen bzw. Funktionen teilen. Kondylis spricht von „Gemeinsamkeit der Denkstruktur und Gegensatz des Inhalts“ (57). Folgende Passage veranschaulicht seine Position besonders plastisch: [Die] traditionelle Transzendenz wurde in der Neuzeit entweder beseitigt oder in ihrer Wirksamkeit erheblich eingeschränkt, dadurch wurde aber die Spaltung zwischen Transzendenz und Immanenz nicht aus der Welt geschafft. Sie entstand von neuem […]; sie meldete sich nämlich gerade innerhalb jener Immanenz, die die alte Transzendenz in den Schatten stellte, und hatte die gleiche normative Funktion zu erfüllen. Konkreter gesagt: Jene Natur, die zunächst die Immanenz im Kampfe gegen die Transzendenz Gottes vertrat, wurde bald etwas mehr als die empirische Welt, sie bekam nämlich den Status einer höheren Instanz, die […] auf höchst objektive Weise erklärt, was Gut und Böse ist. […] Es ist offensichtlich und läßt sich historisch reichlich belegen, daß die neuzeitliche Transzendenz, wie sie sich auf bestimmte Schlüsselbegriffe (Natur, Ver16 17

Vgl. Monod, La querelle de la s8cularisation (wie Anm. 14), 203. Kondylis, Aufklärung (wie Anm. 1), 44, Fn. 4 und 56 – 58, Fn. 10/10a.

Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis

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nunft, Mensch) konzentriert, in sozialer Hinsicht ähnlich fungiert wie die alte. Unter Berufung auf sie wird die jeweilige Wertskala aufgestellt, und Herrscher ist, wer sie jeweils verbindlich interpretieren kann. (58 f.)

Genau genommen sind Kondylis und Blumenberg damit gar nicht so weit voneinander entfernt. Auch Blumenberg geht davon aus, dass beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, von Theologie zur Vernunft, keine inhaltlichen Substanzen weitergegeben werden, sondern bestimmte Denkstrukturen bzw. Funktionen erhalten bleiben: Die Kontinuität der Geschichte über den Epochenbruch hinweg liegt nicht im Bestand einer ideellen Substanz, sondern in der Hypothek der Probleme, in der übernommenen Funktion, auch und wieder zu wissen, was schon einmal gewußt worden war.18

Nach Blumenberg wandeln sich beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwar die Begriffssysteme, es entstehen neue Begriffe und alte Begriffe werden mit neuer Bedeutung ausgestattet, erhalten bleiben jedoch bestimmte Fragen, zum Beispiel nach obersten Normen und Werten zur Unterscheidung von richtig und falsch. Neue Deutungssysteme geraten daher unter den Druck, Antworten zu produzieren, die denen älterer Deutungssysteme äquivalent sind. Die Neuzeit übernimmt also alte Fragen, produziert aber eigenständige Antworten: [W]as in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang tatsächlich geschehen ist, ist nicht Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten, die sich hinsichtlich der ihnen korrespondierenden Fragen nicht eliminieren ließen.19

Blumenberg kann jedoch den Druck, unter dem die Neuzeit stehen soll, nämlich Problemhypotheken vom Mittelalter zu übernehmen und neue Antworten auf alte Fragen zu finden, nicht wirklich erklären. Er versteht den Wandel von Deutungssystemen als diachrone Abfolge, bei der eine Epoche die Probleme älterer Epochen mehr oder minder freiwillig erbt. Bei Blumenberg wird nicht klar, warum eigentlich fast niemand das mittelalterliche Problemerbe ausschlägt. Warum will die neuzeitliche Vernunft von der Theologie gestellte Fragen – z. B. nach wahr und falsch, gut und böse – mit neuen Inhalten beantworten, warum lässt sie diese Fragen nicht einfach fallen? Genau hieran entzündet sich KondylisQ Kritik: Anders als Blumenberg beschreibt er das Verhältnis von Theologie und Vernunft eben nicht als diachrone Abfolge, nicht als aufeinander folgende Epochen, sondern als synchrone Deutungskonkurrenz, als polemischen Konflikt zwischen Vertretern verschiedener Deutungssysteme, die gleichzeitig um Aufmerksamkeit und Sozialprestige für ihre Antworten ringen. Aus diesem Konfliktgeschehen heraus erklärt er, warum neuzeitliche Deutungskonzepte wie die Vernunft so stark 18 19

Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, 35. Ebd., 42.

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darum bemüht sind, auf Fragen vorhandener theologischer Deutungssysteme mit neuen Lösungen zu reagieren, denn „[m]an wirkt in der Polemik nicht überzeugend, wenn man keine Grundfragen beantworten kann“ (300). Kondylis erklärt die Struktur aufklärerischen Denkens aus den polemischen Szenarien, in denen Aufklärer stehen: Sie sehen sich u. a. konfrontiert mit konkreten Vertretern der Offenbarungstheologie. Um diese polemische Situation zu illustrieren, erinnere ich beispielhaft an die Konflikte zwischen einem Aufklärer wie Christian Wolff und dem pietistischen Luthertum an der Theologischen Fakultät in Halle. Diese Gleichzeitigkeit der Konkurrenz von Theologie, Vernunft und Skepsis bedeutet auch, dass einzelne Individuen den Konflikt von Deutungssystemen in ihrer eigenen Identitätsfindung austragen: Genau dabei entstehen jene Kompromisse zwischen Vernunft und Sinnlichkeit oder auch Vernunft und Theologie, die laut Kondylis typisch sind für die Aufklärung. Der Unterschied zwischen Blumenberg und Kondylis zeigt sich auch bei der Frage, was die treibende Kraft hinter dem Prozess der Neuzeitwerdung sei: Während für Kondylis eine Anthropologie des Machtstrebens diesen Prozess vorantreibt, weil Akteure mit Ideen um Aufmerksamkeit konkurrieren, führt nach Blumenberg ein ganz anderer Antrieb zur Neuzeitwerdung, nämlich die curiositas, die „Bewegung des Forschens und Suchens“.20 Blumenberg spricht von der „Rehabilitierung der theoretischen Neugierde als eine[m] der initiierenden Akte der Neuzeit“.21 Auch dagegen richtet sich KondylisQ Kritik. Er besteht darauf, dass sich hinter neuzeitlicher Neugierde ebenfalls Machtansprüche verbergen: Es gibt nicht die Neugierde an sich, sondern immer nur eine bestimmte Neugierde, die von konkreten Menschen unter konkreten Umständen empfunden wird. Daß Vertreter des neuzeitlichen Rationalismus, deren Selbstverständnis Blumenberg ohne historische oder psychologische Bedenken […] teilt, die Neugierde als absolute Größe haben hinstellen wollen, ist […] polemisches Argument, wodurch das gleichsam anthropologisch verbuchte Recht des Einzelnen zur Loslösung des eigenen Denkens vom theologischen Orientierungsrahmen geltend gemacht werden sollte. (44)

Es ist fraglos der Bescheid wissende Entlarvungsgestus, kombiniert mit einem in seiner Schärfe oft unangenehmen, manchmal ins Zynische driftenden Stil, der die Rezeption von KondylisQ Aufklärungsdeutung wenig begünstigt hat. Dies gilt schon für das Promotionsverfahren, aus dem KondylisQ Buch hervorging und dem ich abschließend noch einige vignettenhafte Bemerkungen widme.

20 21

Ebd., 207. Ebd., 205.

Das Aufklärungsbuch von Panajotis Kondylis

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Magna: Das Aufklärungsbuch als Qualifikationsschrift Kondylis hat zwischen 1972 und 1977 in Heidelberg eine Doktorarbeit geschrieben, die ca. 1.300 Maschinenseiten umfasst und die den Titel trägt: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der europäischen Aufklärung und der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802.22 Gegenstand dieser Arbeit ist aber nicht primär die Aufklärung, sondern die Vorgeschichte des Marxismus in Gestalt der hegelschen Dialektik, die Kondylis im Kontext der Philosophien von Schelling und Hölderlin untersucht.23 Eine zentrale und verblüffende These besteht darin, dass die Vereinigungsphilosophie des Deutschen Idealismus einen Vorläufer habe in den Kompromisslösungen der Aufklärung, vor allem im Monismus der deutschen Spätaufklärung. Deshalb schreibt Kondylis eine umfängliche Einleitung zu seiner Dissertation, aus der dann das 1981 veröffentlichte Aufklärungsbuch hervorging. Den Hauptteil der Arbeit hatte er schon 1979 unter dem Titel Die Entstehung der Dialektik veröffentlicht. Das Aufklärungsbuch ist demnach die nachträglich erschienene Vorgeschichte des Dialektikbuchs. Die Dissertation wurde von Dieter Henrich betreut, zunächst wohlwollend, nach der Lektüre der Arbeit aber mit merklicher Distanz, wozu wohl auch der Entlarvungsgestus von KondylisQ Argumentation und sein scharf urteilender Stil beitrugen. Die Gutachten sind nicht zugänglich, aber Gisela Horst – Autorin einer neueren Monographie über Kondylis – hat sie einsehen können und auch mit Henrich dazu korrespondiert. Ein Grund für die gutachterlichen Vorbehalte war demnach, dass Kondylis nicht selbst philosophiere,24 was laut Henrich die mündliche Prüfung im Rahmen des Promotionsverfahrens noch einmal verschärft bestätigt habe: „Seine [KondylisQ] Schwäche in der philosophischen Argumentation trat während der mündlichen Prüfung dann noch deutlicher hervor, so dass ich über das Gesamturteil gar nicht in Zweifel sein konnte.“25 Der zweite Gutachter Michael Theunissen kritisierte zudem, dass Kondylis „die Wahrheitsfrage“26 nicht stelle. In einem undatierten fünfseitigen Brief an Theunissen (vermutlich vom Januar 1978) nahm Kondylis zu dessen Kritik an seiner Arbeit ausführlich Stellung, und zwar mit einigem Zynismus: „Wer die Frage nach der Wahrheit stellt, muss 22 Das Originaltyposkript von KondylisQ Dissertation wird in digitalisierter Form vom National Documentation Centre (National Archive of PhD Theses) der Republik Griechenland zur Verfügung gestellt. URL: https://thesis.ekt.gr/thesisBookReader/id/4816#page/1/mode/2up (abgerufen 23. 2. 2023). 23 Vgl. Gisela Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk – eine Übersicht, Würzburg 2019, 61 – 66. 24 Ebd., 63. 25 Dieter Henrich an Gisela Horst, 21. Mai 2019 (zitiert nach Horst, Panajotis Kondylis [wie Anm. 23], 63). 26 Horst: Panajotis Kondylis, 26.

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wissen, dass es sie gibt, und damit eben im Besitz dieser Wahrheit sein“; „Wenn Philosophiegeschichte nur philosophisch behandelt werden darf, dann kommt das gleich der Behauptung, dass nur Priester über Kirchengeschichte schreiben dürfen.“27 Die Vorbehalte der Fachphilosophie gegen KondylisQ reine Philosophiegeschichtsschreibung schlugen sich auch in der Notengebung nieder: Kondylis bekam für seine monumentale Studie kein „Summa“, sondern nur „Magna“. Aus historischem Abstand betrachtet eine – trotz aller Kritik – vielleicht etwas zu strenge Bewertung. Der Beitrag rekonstruiert das Aufklärungsverständnis des griechisch-deutschen Philosophen Panajotis Kondylis (1943 – 1998). In seinem Buch Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) erläutert Kondylis die spezifische Struktur aufklärerischen Denkens als intrikate Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Getragen wird seine Deutung von einer voraussetzungsreichen Vorannahme, von der Vorstellung, dass Menschen sich bei der Produktion von Ideen im Kampf um Sozialprestige befinden. Auch die Aufklärung führe daher einen ,ZweifrontenkriegR gegen Theologie und Skepsis. – Überdies wird KondylisQ Aufklärungsbuch in der bundesrepublikanischen Säkularisierungsdebatte verortet: Bei seiner Deutung der Aufklärung versucht Kondylis, so die These, mit Hans Blumenbergs einflussreichem Verständnis neuzeitlicher Philosophie zu konkurrieren. The article deals with Panajotis KondylisQ (1943 – 1998) depiction of the Enlightenment. In his book Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) the German-Greek philosopher Kondylis interprets the Enlightenment as an intricate negotiation between concepts of reason and sensuality. His understanding of the Enlightenment is based on the presumption that the history of philosophy can be explained as a battle for attention, a competition between ideas. Therefore, Kondylis interprets the Enlightenment as ,two-front warR against theology and skepticism. – Furthermore, the article describes KondylisQ book on the Enlightenment in the context of the German debate on secularization: I argue that Kondylis tries to compete against Hans BlumenbergQs influential understanding of modern philosophy. PD Dr. Matthias Löwe, Universität Jena, Institut für Germanistische Literaturwissenschaft, Fürstengraben 18, D-07743 Jena, E-Mail: [email protected]

27 Panajotis Kondylis an Michael Theunissen, vermutlich Januar 1978 (zitiert nach Horst: Panajotis Kondylis, 65).

Ritchie Robertson Zwei neuere Aufklärungskonzepte aus Großbritannien: Keith Thomas und David Wootton

Thema dieses Beitrags1 sind zwei der interessantesten, bemerkenswertesten Historiker, die das Vereinigte Königreich heute zu bieten hat: Keith Thomas und David Wootton. Die beiden gehören verschiedenen Generationen an. Thomas wurde 1933 geboren, während David Wootton 1953 zur Welt kam. Beide sind Historiker der Frühmoderne von ungefähr 1500 bis 1800. Keinen von beiden würde man in erster Linie als einen Historiker der Aufklärung bezeichnen, im Unterschied zu beispielsweise Jonathan Israel oder Peter Gay. Und doch haben sich beide im weiteren Kontext der Frühen Neuzeit auch eingehend zur Aufklärung selbst geäußert. Manche von ThomasQ Büchern lassen sich als kritische Reflexionen auf die wohlbekannten Aufklärungsnarrative vom Rückgang des Glaubens an übernatürliche Kräfte oder von der Entwicklung der Zivilisation lesen. Woottons neuestes Buch, Power, Pleasure and Profit, befasst sich explizit mit der Aufklärung und interpretiert diese in einer originellen These als Ursprung zentraler Begrifflichkeiten der Moderne. Keith Thomas: Geschichte und Sozialanthropologie Keith ThomasQ beruflicher Werdegang lässt sich prägnant zusammenfassen mit dem Hinweis darauf, dass er die höchsten Ehren erlangt hat, die einem in Großbritanniens akademischen Kreisen zuteil werden können.2 Zunächst wurde er jung zu einem Fellowship (Dozentur) am St JohnQs College in Oxford ernannt. Zu jener Zeit war es üblich, beim Antritt einer Vollzeitdozentur die Arbeit am Doktorat aufzugeben – zahlreiche weitere distinguierte Beispiele ließen sich hier anführen –, und so blieb er Mr. Thomas, bis ihm 1988 die Ritterwürde verliehen wurde. Sich auf eine Professur zu bewerben zögerte er und, als er es schließ1 Für wesentliche Hilfe bei der sprachlichen Gestaltung dieser Arbeit bin ich Frau Dr. Kirstin Gwyer (Oxford) zu großem Dank verpflichtet. 2 Eine detailreiche Biographie bietet Peter Burke, Brian Harrison, Paul Slack (Hg.), Civil Histories: Essays presented to Sir Keith Thomas, Oxford 2000, 1 – 30.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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lich doch tat, wurde er nach nur wenigen Monaten im Amt 1986 zum President (Oberhaupt) des Corpus Christi College in Oxford ernannt. 1979 wurde er in die British Academy aufgenommen und diente zwischen 1993 und 1997 als deren Präsident. Erwähnenswert ist ferner noch, dass er Förderer der Stiftung Humanists UK (vormals British Humanist Association) ist, die sich für einen säkularen Staat einsetzt. Diese Auszeichnungen würdigen einen außergewöhnlichen Beitrag zur Geschichtsforschung, der 1971 mit der Veröffentlichung von Religion and the Decline of Magic seinen Anfang nahm. Doch ist hier nicht die Rede von Geschichtsforschung im hergebrachten Sinn. My subject [schrieb Thomas 2010] is what I think of as the historical ethnography of early modern England. Equipped with questions posed by anthropologists, sociologists and philosophers, as well as by other historians, I try to look at virtually all aspects of early modern life, from the physical environment to the values and mental outlook of people at all social levels.3

Einer von ThomasQ frühsten Artikeln, veröffentlicht als er 30 war, beklagt einerseits den unwissenschaftlichen Impressionismus, der allzu oft die Geschichtsforschung dominiert, andererseits die damals übliche enge Fokussierung auf die politische Geschichte, und fordert Historiker dazu auf, sich der reichhaltigen Literatur zuzuwenden, die speziell von britischen Sozialanthropologen in Afrika und andernorts hervorbracht worden war.4 Er weist zum Beispiel darauf hin, dass die Sakralität, die der Stamm der Schilluk im Sudan der Königswürde zumessen, ein Licht auf das göttliche Recht der Könige in der europäischen Geschichte wirft; dass die absolute Verbindlichkeit des Eidschwures bei den Kikuyu frappante Entsprechung im England des 17. Jahrhunderts findet; und dass der Millenarismus der Fifth Monarchy Men zu der Zeit des englischen Bürgerkriegs sich in Analogie zu den Cargo-Kulten in Melanesien verstehen lässt. Entsprechend vertritt Thomas in seinem ersten Buch eine sozialgeschichtliche Auffassung von Religion und Magie als Mechanismen, die es dem Menschen ermöglichen, mit Unglück und Leiden fertigzuwerden. Die Bedeutsamkeit solcher Bewältigungsstrategien wird in einem einprägsamen Einführungskapitel hervorgehoben, das die soziale Umwelt Englands in der Frühmoderne darstellt, einem England, in dem Krankheiten häufig und selten heilbar und Pestausbrüche bis ins späte 17. Jahrhundert weit verbreitet waren, und dessen Städte, die hauptsächlich aus Holz bestanden, mit erschütternder Regelmäßigkeit von katastrophalen Feuersbrünsten heimgesucht wurden. In solch prekären Umständen suchte die Bevölkerung bereitwillig Zuflucht in der Vielfalt von magischen Überzeugungen und 3 4

10.

Keith Thomas, Working Methods, in: London Review of Books 32, Nr. 11, 10 June 2010. Keith Thomas, History and Anthropology, in: Past and Present, Nr. 24 (Apr. 1963), 3 – 24, hier

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Riten, die, wie Thomas in erstaunlichem Detail dokumentiert, neben und trotz der Autorität der Kirche fortbestanden. Sogenannte ,cunning menR und ,wise womenR (,HexenmeisterR und ,KräuterhexenR) wurden aufgesucht, denen magische Heilkräfte zugeschrieben wurden; Astrologen wurden konsultiert, und die zahlreichen von diesen veröffentlichten Almanache gelesen, um den günstigsten Zeitpunkt für wichtige Unternehmungen ausfindig zu machen; und allzu oft wurde hinter Unglücksfällen und Missgeschicken Zauberei vermutet. Zwar sind Magie und Religion als Zufluchtsmittel völlig verschieden gewichtet. Die Religion gründet im Gebet, in dem man die Gottheit um Hilfe ersucht, ohne Gewissheit, dass diese gewährleistet wird. Ziel der Magie dagegen ist es, mittels Beschwörungsformeln übernatürliche Kräfte zu beeinflussen und sie sich zu Willen zu machen. Im Gebet gestehen Gläubige ihre Ohnmacht ein und appellieren an Gott, während der Rekurs auf die Magie vom Verlangen bestimmt ist, selbst übernatürliche Kräfte ausüben zu wollen. Im mittelalterlichen Christentum allerdings, und selbst darüber hinaus, war der Übergang von der Religion zur Magie ein fließender. Thomas demonstriert dies in einem Kapitel, dessen Titel „The Magic of the Medieval Church“, „Die Magie der Kirche im Mittelalter“, für einiges Stirnrunzeln gesorgt haben dürfte. Wie Thomas zeigt, wurde die bloße Wiederholung bestimmter heiliger Worte, wie dies im Gebet der Fall ist, an sich schon als lindernd empfunden. Vor allem dem Ritus der Messe wurde zunehmend eine gewisse mechanische Heilswirksamkeit zugeschrieben, dank der Segnung der Elemente durch einen Priester, die unabhängig von den Gläubigen operierte und nicht einmal bedingte, dass diese dem Inhalt der Zeremonie folgen konnten. In diesem Sinne fungierte die mittelalterliche Kirche als „a vast reservoir of magical power“.5 Theologen bestanden auf dem kritischen Unterschied zwischen Gebeten und Beschwörungsformeln, aber die Bevölkerung erkannte unschwer das Potential von Sakramentalien, als magische Gegenstände herzuhalten. Manche Kommunikanten schmuggelten heimlich im Mund Hostien aus dem Gottesdienst in der Hoffnung, sie möchten dazu verwendet werden, Seuchen zu kurieren, kranke Tiere zu heilen oder die Felder fruchtbar zu machen. Die protestantischen Reformer setzten sich gegen den abergläubischen Missbrauch der Sakramente zur Wehr, oft vermittels Gewalt oder Bilderstürmerei, aber der Volksglauben hielt sich hartnäckig und wurde sogar noch bestärkt, als die Kirche aufhörte, eine alternative Quelle für magischen Beistand zu bieten. Wenn der Volksaberglaube also die Reformation überlebte, wieso schwand er dann im späten 17. Jahrhundert? Dies ist die Kausalitätsproblematik, mit der sich 5 Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, Harmondsworth 1973, 51. Zitiert wird aus dieser Paperback-Ausgabe, weil sie gegenüber der Erstausgabe (London 1971) leicht überarbeitet, korrigiert und neu paginiert wurde.

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die Aufklärungsforschung nach wie vor konfrontiert sieht. Wir müssen zugeben, dass nicht die Aufklärung mit dem Glauben an Hexerei aufräumte, sondern dass, im Gegenteil, das Nachlassen des Hexenaberglaubens eine Voraussetzung für die Aufklärung darstellte. Man könnte die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts als Katalysator anführen. Jedoch dauerte es lange, wie Thomas ausführt, bis der Anschauungswandel, den die 1660 gegründete Royal Society vorlebte, durch populäre Enzyklopädien zu breiten Schichten selbst der gebildeten Bevölkerung herabgefiltert war. Intellektuelle Ansichten wandelten sich zwar offensichtlich, und zwar so sehr, dass der Großteil der gebildeten Bevölkerung mit der Zeit den Glauben an Magie als lächerlich empfand, aber die Verbreitung der wissenschaftlichen Vernunft allein liefert hierfür keine ausreichende Erklärung. Wenden wir uns stattdessen Veränderungen in den materiellen Lebensbedingungen zu, so lässt sich schwerlich leugnen, dass in der Praxis der Heilkunde, im Unterschied zur bloßen Theorie, im 18. Jahrhundert nur wenige Fortschritte zu verzeichnen waren. Dagegen wurde das Leben in anderer Hinsicht sicherer. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war der englischen Bevölkerung ein besserer Lebensstandard gewiss als den Einwohnern in irgendeinem anderen Land der Welt, mit Ausnahme von Holland. Nach der zweifachen Katastrophe der Großen Pest und dem Großen Brand von London in den 1660er Jahren verschwand die Pest aus England, während das Risiko einer Feuersbrunst zunehmend durch eine Feuerversicherung abgedeckt werden konnte. In seinem vorsichtig nuancierten Schlusskapitel weist Thomas auf eine auf multiple Ursachen zurückgehende, weitgreifende Wandlung in Anschauung und Mentalität hin, in deren Folge die Welt weniger unberechenbar und leichter zu steuern sowie der Bedarf nach magischen Behelfsmitteln weniger vordringlich erschien als zuvor. Ein Teil der Originalität von Religion and the Decline of Magic besteht im anthropologischen Ansatz, den Thomas in seiner Analyse des frühneuzeitlichen England verfolgt. In den 1960ern konnte er sich hierfür an einer regen Forschungstätigkeit im Bereich der sozialen Anthropologie orientieren, die auf Feldforschungen in den Territorien des britischen Empires, und speziell in Afrika, beruhte. Für die Erforschung von magischem Denken war dies eine besonders ergiebige Quelle. So wirft zum Beispiel die klassische Studie des Oxforder Anthropologen Sir Edward Evans-Pritchard zu Magie und Hexenglauben bei den Azande in Ostafrika einiges Licht auf den Stellenwert magischer Glaubensvorstellungen in der englischen Gesellschaft der Frühmoderne.6 ThomasQ Überlegungen zum Hexenglauben in England haben besonders viel Aufsehen erregt. Der Hexerei bezichtigt wurden vor allem verarmte ältere Frauen, die nicht ins enggeknüpfte soziale Netzwerk der frühmodernen Gemeinschaften integriert waren. Der vermeintlichen Bosheit der Hexe wurde ein klares Motiv zugeschrieben in der 6

Edward E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937.

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Form des Grolls, den sie angeblich hegte, weil ihr die Vergabe von Almosen verweigert worden war. Also findet Thomas eine Teilerklärung für die frühmoderne Hexenobsession im Übergang von der gemeinschaftsorientierten zu einer zunehmend individualistischen Gesellschaft, in der die Bevölkerung weniger zur Armenhilfe geneigt war. Eine arme Person, zumeist eine ältere Frau, empfand Bitterkeit, wenn ihr Ersuchen um Wohltätigkeit verweigert wurde, und brachte diese Bitterkeit zum Ausdruck, während die verweigernde Person Schuldgefühle empfand und diese nach Möglichkeit auf die Leidtragende zu projizieren suchte. Während jedoch der englische Hexenglaube auf den zunehmenden Zusammenbruch von Gemeinschaften hinwies, deuten afrikanische Zauberglauben eine intakte Gemeinschaft an, in der die mutmaßlichen Kräfte der Hexe dem Zweck dienen, die unkaritativen Impulse anderer zu korrigieren. Der Ansatz, den Thomas zum ersten Mal in Religion and the Decline of Magic praktizierte und in späteren Büchern fortsetzte, hat einen bemerkenswerten doppelten Effekt. Einerseits distanziert uns sein ethnographischer Ansatz vom Gegenstand seiner Untersuchung. Er lädt uns ein, das frühmoderne England nicht als eine frühere Version des modernen England zu betrachten, sondern als eine separate Gesellschaft, die sich von der unseren bezüglich ihrer Glaubenseinrichtungen, Annahmen und gesellschaftlichen Praktiken fast ebenso so sehr unterscheidet wie die der Azande. Dieser Verfremdung entgegen wirkt jedoch ein aufrichtiges Bemühen, sich mit einfühlsamem Verständnis in die Mentalität von Menschen in einer uns vollkommen unvertrauten Gesellschaft hineinzuversetzen. Zu diesem Zweck konsultiert und zitiert Thomas eine wahrhaft erstaunliche Menge von Primärquellen, mit dem „Ziel“, wie er es beim britischen Historiker G. M. Young ausgedrückt findet, „so lange immer weiter zu lesen, bis ich die Menschen sprechen höre“ – „my aim is to go on reading until I can hear the people talking“.7 Jedes Zeitzeugnis, von einer Predigt bis hin zu einer Einkaufsliste, kann Einblick ins Geistesleben der Vergangenheit geben. Zur gleichen Zeit, wie wir von der Vergangenheit distanziert werden, wird sie uns so aufs Innigste nahegebracht. Zwar erzählt Thomas in Religion and the Decline of Magic anhand seiner historischen Anthropologie der vorhergehenden Epochen die Entstehung der Aufklärung nach, doch formuliert er kein explizites Metanarrativ dazu, wenngleich er im Vorbeigehen auf zwei bekannte Großerzählungen (grand narratives) hinweist. Die eine ist die der Säkularisierung. Er zitiert das wohlbekannte Argument von Durkheim, dass die Religion eine Praxis sei, durch die sich eine Gesellschaft ihrer 7 Keith Thomas, Working Methods (wie Anm. 3) (ohne Quellenangabe). Siehe den Artikel: Young, George Malcolm (1882 – 1953) im Oxford Dictionary of National Biography: „His advice to the historian was ,to go on reading until you can hear people talkingR“ (https://ezproxy-prd.bodleian.ox.ac.uk:2102/10/1093/ref.odnb/37076).

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kollektiven Einheit vergewissere, und dass diese Einheit seit dem Mittelalter zunehmend durch die Kräfte des Individualismus und schließlich die der Industrialisierung fragmentiert worden sei. Thomas stellt dieses Narrativ in Frage mit der Begründung, dass die vermeintliche kollektive Einheit der mittelalterlichen Gesellschaft von der modernen Geschichtsschreibung stark übertrieben worden ist. Er selbst liefert eine Fülle von Beweismaterial dafür, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft wie auch in der Frühen Neuzeit eine ganze Anzahl von religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen neben dem offiziellen Christentum Bestand hatten. Heutzutage brauchen wir nur an die Forschungsbefunde von Carlo Ginzburg zu denken, um weitere Belege für diese Behauptung zu finden. Thomas macht auch mit jenem anderen Aufklärungsnarrativ kurzen Prozess, das Max Weber als „die Entzauberung der Welt“ bezeichnet hat. Thomas erkennt dies zwar als eine im weitesten Sinn korrekte Beschreibung des Prozesses an, wonach magische Glaubensvorstellungen zunehmend von einer rationalen und geordneten Weltanschauung abgelöst wurden, was wiederum die Umwälzung des materiellen Lebens durch die Technologie möglich machte. Aber er kritisiert die zugrundeliegende Kausalitätsannahme. Magisches Denken wurde nicht überwunden, weil es von der Technologie redundant gemacht wurde, sondern war bereits im Rückgang begriffen, ehe diese effektiv Einzug hielt. Offensichtlich ist Thomas nicht an Metanarrativen interessiert, und schon gar nicht daran, sein eigenes vorzulegen. Sein Bild vom England der Frühen Neuzeit setzt sich aus einer Fülle verschiedenster Daten zusammen. Diese Daten werden aber nicht in den Dienst einer Theorie gestellt. Noch lässt sich aus seiner Arbeit irgendeine ideologische Agenda herauskristallisieren, wenngleich seine Assoziierung mit den Humanists UK kaum zu erstaunen vermag. Bei der Lektüre fragt man sich zuweilen, ob ThomasQ Erstlingswerk nicht ebensogut den Titel The Decline of Magic and Religion hätte tragen können. In seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion und Magie bewahrt Thomas jedoch den unparteiischen Standpunkt des Anthropologen und praktiziert, was man als methodologischen Agnostizismus bezeichnen könnte. Evans-Pritchard war nicht daran gelegen, den Glauben der Azande als falsch aufzuzeigen. Ebensowenig zielt Thomas darauf ab, die Glaubensvorstellungen der Frühen Neuzeit anzugreifen oder zu kritisieren. In seiner respektvollen, transparenten, funktionalen Prosa ist, anders als zum Beispiel bei Edward Gibbon, kein Zeichen von Polemik oder Ironie auszumachen. Doch wirkt dieser zivilisierte, sachbezogene Ansatz auf andere Weise verheerend. Denn indem Thomas uns die wesentlichen Unterschiede zwischen Magie und Religion in Erinnerung ruft, stellt er beide als konkurrierende Denksysteme auf ein gleiches Niveau. In dieser Weise ist Religion and the Decline of Magic von einem Skeptizismus durchdrungen, der nie explizit ausformuliert werden muss, denn er liegt dem gesamten Werk zugrunde. Auch in

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dieser Hinsicht ist Thomas in herausragendem Sinne ein Historiker der Aufklärung. Aus Platzmangel bin ich gezwungen, die nächsten zwei Bücher von Thomas en passant zu behandeln. Man and the Natural World: Changing Attitudes in England 1500 – 1800 (London 1983) liefert Unterstützung für die These, nach der im Zuge der Aufklärung die allmähliche Überwindung von theologischen Annahmen über die Unterordnung der Natur unter den Menschen zunehmende Sympathie mit Tieren und der natürlichen Welt allgemein zuließ. The Ends of Life: Roads to Fulfilment in Early Modern England (Oxford 2009) verfolgt erneut einen anthropologischen Ansatz und bietet einen Überblick über frühneuzeitliche Auffassungen von Krieg, Arbeit, Wohlstand, Ehre, Freundschaft und Ruhm. Hinzu kommt eine beachtliche Anzahl von Vorlesungen und Vorträgen zu Themen wie der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, der Lese- und Rechenfähigkeit in der Frühmoderne (in welchem Zusammenhang wir erfahren, dass frühneuzeitliche Geschäftsbücher oft Rechenfehler enthalten), dem Lachen, der Kindheit und vielem mehr. Ich erinnere mich daran, eine Vorlesung von Thomas gehört zu haben, die meines Wissens unveröffentlicht geblieben ist, über Polaritäten im England der Frühen Neuzeit – also über Dualismen wie männlich/weiblich, Nord/Süd, links/rechts – mit den verschiedensten und unerwartetsten Beispielen. Des weiteren ist zu erwähnen, dass zu seinen akademischen Interessen auch die politische Ideengeschichte gehört, was zu Veröffentlichungen inbesondere zu Thomas Hobbes geführt hat.8 ThomasQ neuestes Buch, In Pursuit of Civility, wurde inspiriert von Norbert EliasQ Über den Prozeß der Zivilisation (1939), das zwischen 1978 und 1982 zum ersten Mal in englischer Übersetzung erschien. Elias präsentiert ein grand r8cit, das im Mittelalter beginnt, einer Epoche politischer Anarchie, in der es der Menschheit an Selbstbeherrschung mangelt, und sie sich von gewalttätigen Impulsen leiten lässt und übermäßige Gelassenheit hinsichtlich körperlicher Funktionen demonstriert. Absolutistische Herrscher domestizierten den Adel, indem sie ihn bei Hof versammelten und ihm die Regeln der Zivilität und anständige Manieren einschärften. Es galt nunmehr als unhöflich, zu rülpsen, furzen, sich die Nase am Ärmel zu wischen oder mit den Fingern statt einer Gabel zu essen. Von hier sickerten gute Manieren zum Rest der Bevölkerung durch und kamen als Zeichen für eine erweiterte Fähigkeit zur Rücksichtnahme auf andere zu stehen. Dieses wohlbekannte Narrativ ist oft kritisiert worden. Aber es versorgt Thomas mit einem neuen Vorrat an Fragen, die er an seine Primärquellen stellen kann. Thomas geht jedoch weiter als Elias und hinterfragt das ganze Narrativ von einem Aufstieg des Menschen von der Barbarei zur Zivilisation und somit einen wesentlichen Baustein der großen Erzählung der Aufklärung insgesamt. Der anthro8

Eine bis 2000 vollständige Bibliographie findet sich in der in Anm. 1 zitierten Festschrift.

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pologische Ansatz beugt jeglichem linearen Fortschritts- oder Aufstiegsnarrativ vor. In der Frühen Neuzeit galt das gemeine Volk als ungesittet und Fremden mangelte es vermeintlich an zivilisierten Gebräuchen. So formuliert, handelt es sich hierbei um ausschließlich negative Charakterisationen, die sich jedoch umdeuten lassen. Es leuchtet ein, dass die Armen einen anderen Benehmenskodex hatten als die Reichen, wie auch Land- und Stadtbewohner verschiedene Verhaltensnormen hatten. Reisende in der Frühen Neuzeit machten die Erfahrung, dass fremde Länder nicht weniger gesittet waren, sondern andere Sitten hatten, oft mit Hygienestandards und Regelungen für einen friedfertigen Umgang, die denen Europas weit überlegen waren. Obwohl es gang und gäbe war, die Barbarei der ,TürkenR zu denunzieren, trafen einige Reisende im 17. Jahrhundert unter den Muslimen auf „another kind of civility“,9 eine „andere Art von Zivilität“. So besehen, haben wir es im Rückblick auf die Vergangenheit weder mit einem Aufstieg von der Barbarei zur Zivilisation zu tun, noch (wie ebenfalls vielfach behauptet worden ist) mit einem Rückgang im Zivilisationsstandard, sondern schlicht mit einer Folge von verschiedenen Verhaltenskodizes. Was heutzutage gerne als Rückgang im gesitteten Verhalten beklagt wird, sollte vielmehr, wie Elias vorschlägt, als ,InformalisierungR betrachtet werden, als eine Zuwendung zu entspannteren, zwangloseren Umgangsformen, die selbst auf das 18. Jahrhundert zurückgeführt werden könne. Joseph Addison schrieb 1711, dass „a very great revolution“ im Benehmen stattgefunden habe: aufwendige Zeremonien seien abgeschafft worden, so dass „at present […] an unconstrained carriage, and a certain openness of behaviour are the height of good breeding“.10 ThomasQ Skepsis gegenüber Metanarrativen vom Aufstieg der Zivilisation grenzt manchmal gefährlich nahe an Kulturrelativismus. Wie er darlegt, wurden primitive Völker, wie die Ureinwohner Nordamerikas, oft der Grausamkeit bezichtigt, wenngleich das so bezeichnete Verhalten von ihnen nicht als grausam empfunden worden wäre. Im Rahmen ihrer eigenen Gepflogenheiten war die Ermordung von Gefangenen als Akt legitimer Revanche gerechtfertigt.11 Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied dazwischen, das angeblich zivilisierte Betragen anderer Völker verstehen zu wollen, indem man sich in deren mentale Welt und Wertsysteme hineinversetzt, oder dasselbe unkritisch zu billigen. In diesem Zusammenhang schiebt Thomas einen kurzen Exkurs zu Herder ein, in dem dieser, in der Definition von Isaiah Berlin, als Pluralist, aber nicht als Relativist 9 Keith Thomas, In Pursuit of Civility. Manners and Civilization in Early Modern England, New Haven, London 2018, 254. Thomas zitiert hier den Priester Lancelot Addison, der um 1670 im damals von England besetzten nordafrikanischen Tangier amtierte. 10 Joseph Addison u. a., The Spectator, hg. von Donald Bond, Oxford 1965, hier 17. Juli 1711. 11 Thomas, In Pursuit of Civility (wie Anm. 9), 149 f.

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beschrieben wird.12 Thomas beschuldigt Herder der Inkonsequenz, da er einerseits für die Beurteilung einer jeden Kultur nach ihren eigenen Maßstäben eintrat, sich andererseits aber den „universal values of cultural progress and human fulfilment (Humanität)“ verschrieb.13 Ohne selbst in eine Verteidigung Herders abschweifen zu wollen, wäre hier vielleicht doch anzubringen, dass der Begriff der Humanität auf fundamentalen anthropologischen Konstanten gründet, die in manchen Kulturen besser realisiert sind als in anderen. So beklagt Herder zum Beispiel den Eroberungsdrang der Römer und hegt den Griechen gegenüber gemischte Gefühle, wobei er ihren Errungenschaften in den Künsten die stetigen Kriege und die Misshandlung der eigenen Bürger entgegenhält.14 Natürlich sollten wir uns hüten, Zivilisation als Werturteil zu verwenden. Wir haben gesehen und sind gerade heute wieder Zeugen, mit welcher Unmenschlichkeit zivilisierte Europäer koloniale Subjekte aber auch ihre europäischen Landsleute zu behandeln imstande sind. Trotzdem geht Thomas womöglich etwas weit, wenn er von aufgeklärten Denkern (in einem übrigens uncharakteristisch ungelenk ausgefallenen Satz) behauptet: „By invoking the concept of ,civilizationR they were, of course, celebrating their own way of life and what it was about it that made them feel it was superior to that of others.“15 Gegen Ende des Buches zitiert er den bekannten Satz von Claude L8vi-Strauss, demzufolge „the real barbarians were now those who believed in the existence of barbarism“.16 Thomas fügt hinzu: The irony of this celebrated aperÅu is that, by making this unprecedented willingness to regard other cultures as of equal value into an essential attribute of modern civility, it implicitly proclaims the superiority of our own broad-minded outlook to the narrowly parochial prejudices of less-enlightened peoples.17

Der Scharfsinn dieser Dekonstruktion steht außer Frage, doch weicht Thomas in seiner Zerlegung von den L8vi-StraussQ Bemerkung zugrunde liegenden Voraussetzungen der grundlegenderen Möglichkeit aus, dass eine aufgeschlossene Haltung einer engstirnigen tatsächlich vorzuziehen sein könnte. Ich würde mit einem Zitat von Nietzsche kontern: „je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kom12 Ebd., 249. Thomas stützt sich auf eine breite Auswahl der englischsprachigen Forschungsliteratur zu Herder, vor allem auf die Arbeiten von Isaiah Berlin, z. B. dessen Three Critics of the Enlightenment (London 22013). 13 Thomas, In Pursuit of Civility (wie Anm. 9), 249. 14 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), in: ders., Werke, hg. von Günter Arnold u. a., 10 Bde., Frankfurt am Main 1985 – 2000, Bd. 6, hg. von Martin Bollacher (1989), 535. 15 Thomas, In Pursuit of Civility (wie Anm. 9), 178. 16 Ebd., 267. Der Originaltext wird in einer Anmerkung zitiert: „Le barbare, cQest dQabord lQhomme qui croit / la barbarie“, Claude L8vi-Strauss, Race et histoire, Paris 1961, 22. 17 Ebd.

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men lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ,BegriffR dieser Sache, unsre ,ObjektivitätR sein.“18 Bemerkenswerterweise beschließt Thomas seine Darstellung der Zivilität wie Herder, indem er uns auf eine fundamentale anthropologische Konstante zurückführt. Die Zivilität kann viele Formen annehmen, aber sie reguliert menschliches Verhalten in den Bereichen, die vom Gesetz nicht praktikabel abgedeckt werden können. Alle sozialen Beziehungen werden von oft unausgesprochenen Regeln bestimmt, sei es beim Schlangestehen an der Bushaltestelle oder beim Teilnehmen einer Sitzung. Das Einhalten solcher Regeln im kleinen Rahmen ist umso wichtiger im Maßstab der anonymen Großgesellschaft, in der wir ständig wieder Fremden begegnen. Die Zivilität wirkt als „social glue“ (341), wenn andere Formen von Solidarität unabkömmlich sind.19 Thomas selbst mag sich zwar also bewusst an sein Mandat als Historiker halten, seine Bücher aber weisen über sich selbst hinaus und reißen die größten Fragen zu unseren Glaubens- und Wertvorstellungen, zu unserer Beziehung zur Welt der Menschen und der Natur um uns herum und zu unserem gemeinsamen Umgang an. Wollte man den Versuch wagen, ein so massives und reichhaltiges Lebenswerk auf einen Nenner zu bringen, so scheint ihm eine historisch bedeutsame Spannung innezuwohnen. Auf der einen Seite geht Thomas wiederholt von wohlbekannten Aufklärungsnarrativen aus, indem er den Untergang des Aberglaubens, die Entwicklung der Sympathie für die Natur und den Aufstieg der Zivilisation aus der Barbarei nachzuerzählen vorgibt. Auf der anderen Seite wird diesen Narrativen ein anthropologischer Ansatz entgegengehalten, der die vermeintlichen Unterschiede zwischen Magie und Religion, Barbarei und Zivilisation zu nivellieren tendiert und somit die vielgerühmten Leistungen des geistigen und materiellen Fortschritts hinterfragt und unterminiert. Gerade dieses Spannungsverhältnis wäre als konstitutiv für unsere Gegenwart zu bezeichnen, in der sich die hochgestochenen Hoffnungen, die wir von der Aufklärung geerbt haben, mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und den teils eingetretenen, teils vorauszusehenden Katastrophen des einundzwanzigsten konfrontiert sehen.

18 Zur Genealogie der Moral, III, 12, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., München 1967 – 1977, Bd. 5, 365. 19 Thomas, In Pursuit of Civility (wie Anm. 9), 341. Der Ausdruck wird dem Oxforder Historiker John Darwin zugeschrieben (ebd., 440, Fn. 225).

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David Wootton: Kampf gegen historiographische Orthodoxien David Wootton hält die angesehene Anniversary Professur für Geschichte an der Universität York inne. Seine Forschungsinteressen sind außergewöhnlich weit gefächert, lassen sich aber, wie auf seiner eigenen Website dargestellt, in eine Anzahl von Unterbereichen einsortieren.20 In jeder Kategorie ficht Wootton eine akzeptierte Orthodoxie im entsprechenden Forschungsbereich der Geschichte an. So nahm seine Karriere ihren Anfang, wie schon bei Thomas der Fall, und darauf gründet sie bis heute. Zunächst nahm er sich die Geschichte des Unglaubens in der Frühen Neuzeit vor. Ausschlaggebend dafür war, wie er selbst sagt, die Aussage von Lucien Febvre, dem Doyen der Annales-Schule, in dieser Epoche seien Zweifel an der Existenz Gottes schlechterdings undenkbar gewesen. Woottons erstes Buch setzte sich mit Paolo Sarpi auseinander, dem skeptischen Historiker des Konzils von Trient, dessen Atheismus aus persönlichen Schriften, die wohlweislich der Öffentlichkeit vorenthalten wurden, klar hervorgeht.21 Als nächstes vertiefte sich Wootton in die politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, ein Fach, das von der Cambridge-Schule um Quentin Skinner dominiert wurde, und brachte seine Skepsis über deren Konstruktion der Fachgeschichte zum Ausdruck.22 Sich anschließend der Geschichte der Naturwissenschaften zuwendend schlug Woottons Forschungstätigkeit zwei verschiedene Richtungen ein. Zum einen machte er seinen Zweifeln darüber Luft, ob die Geschichte der Medizin wirklich als Fortschrittsgeschichte gelesen werden kann, und zeigte in Bad Medicine, dass Ärzte bis ins 19. Jahrhundert hinein wenig Kenntnis davon hatten, wie sie ihren Patienten von Nutzen sein konnten, und sich auf jahrtausendealte, doch selten erfolgreiche Heilmittel wie den Aderlass verließen.23 Was die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts generell betrifft, so verteidigt Wootton diese vehement gegen altbekannte Behauptungen, wissenschaftliche Erkenntnisse seien soziale Konstrukte.24 Und in seiner Arbeit über die Aufklärung, die hier präsentiert werden soll, nimmt er diese gegen Angriffe durch Foucault und andere in Schutz, indem er zeigt, wie weitreichend die Aufklärung die moderne westliche Gesellschaft durchzieht und die liberalen Werte untermauert, denen sich die meisten von uns verschreiben würden. 20 Eine vollständige Liste von Woottons Publikationen ist erreichbar über https://www.york.ac.uk/history/staff/profiles/wootton/. 21 David Wootton, Paolo Sarpi. Between Renaissance and Enlightenment, Cambridge 1983. 22 Beispielhaft dafür David Wootton (Hg.), Republicanism, Liberty, and Commercial Society, 1649 – 1776, Stanford 1994. 23 David Wootton, Bad Medicine: Doctors Doing Harm since Hippocrates, Oxford 2005. 24 David Wootton, The Invention of Science, London 2015.

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Woottons Buch Power, Pleasure and Profit von 2018 befasst sich mit „the long Enlightenment that runs from Machiavelli to Bentham“.25 Er verleiht diesem Zeitraum Einheitlichkeit, indem er kurz auf Alasdair MacIntyres vielkritisierten Begriff des ,AufklärungsprojektsR zurückgreift. MacIntyre behauptet, dass, allen voran Machiavelli und Hobbes, eine objektive Moralphilosophie unmöglich gemacht hätten durch ihre Neubestimmung von der Tugend als „merely a set of strategies for pursuing pleasure and advantage“.26 Wootton zeigt sich weitgehend mit dieser Einschätzung einverstanden. Dem Wort ,ProjektR, das zu viel bewusste Vorplanung bedingt, zieht er jedoch den Begriff des ,AufklärungsparadigmasR vor, um Voraussetzungen, die nicht zwingend bewusst sein müssen, zu kennzeichnen. Er zeigt, wie in diesem Zeitraum und von diesen Denkern, namentlich von Thomas Hobbes, David Hume und Adam Smith, eine Philosophie ausgearbeitet wurde, in deren Mittelpunkt das Begehren stand. Machiavelli gilt als Vorbote einer so verstandenen Aufklärung, weil nach ihm jeder Fürst bzw. jede Republik nach Macht und Ruhm streben und zu diesem Zweck rationale Mittel einsetzen soll. Nach Hobbes streben alle Menschen nach der Empfindung von Lust und der Vermeidung von Schmerz. Nach Macht streben sie, weil ihnen diese als Mittel zum Lustgewinn dient. Die Lust kann eine vorgestellte sein: sie mag in der bloßen Erwartung zukünftigen Lustempfindens bestehen; aber solche Erwartung ist an sich schon Lust. Der ,ProfitR kommt ins Spiel, da er die Grundlage für ökonomische Aktivitäten im Sinne vor allem von Adam Smith stellt und weil solche Aktivitäten vor allem rationale Berechnung fordern. Als Gegenstände des Begehrens haben Macht, Lust und Profit gemein, dass sie nie vollkommen gestillt werden können. Wird man der Lust müde, begehrt man nicht stattdessen Schmerz, sondern subtilere, nuancenreichere Formen von Lust. Ein Geschäftsmann ist mit seinem Profit nie zufrieden, sondern strebt stets danach, diesen zu vergrößern, denn in kommerziellen Begriffen kann ein Unternehmen nie stillstehen; es ist entweder im Wachstum begriffen oder es stagniert. Aus diesem Grund beruht das Geschäftsleben immer und unausweichlich auf Konkurrenz. Im Gegensatz dazu ist das Verlangen nach Status ein stillbares: ist man einmal König, Präsident oder anderswie Rudelführer, gibt es keine höhere Position. Dieses Aufklärungsparadigma lässt sich mit Doktrinen von Mäßigung und moralischen Argumenten, man solle mit seinem Los zufrieden sein, nicht vereinbaren. In gleichem Maße schließen sie einen Glücksbegriff aus, der, wie der Epikurs, in der von Begehren ungetrübten Seelenruhe besteht. In der christlichen Welt waren die Kirchen auf die Wahrung der konservativen Weltordnung bedacht und pre25 David Wootton, Power, Pleasure and Profit. Insatiable Appetites from Machiavelli to Madison, Cambridge, MA, London 2018. ,BenthamR ist der radikale Spätaufklärer und Verkündiger des Utilitarismus Jeremy Bentham (1748 – 1832). 26 Ebd., 11. Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, London 1981.

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digten daher die Genügsamkeit. In der nachchristlichen Welt – so nimmt Wootton an, und ich teile seine Annahme, dass dies die Welt ist, in der wir heute leben – ist es nicht die konservative Ordnung, die wir schätzen, sondern die soziale Mobilität. Um ein deutsches Beispiel zu zitieren, die Appelle an ,ZufriedenheitR, die seitens der Autoren des Biedermeier, wie Stifter oder Grillparzer, laut wurden, erscheinen heute als schöne aber überholte Idealisierungen einer vergangenen Welt, die wir nicht wiedererwecken möchten. Dies trägt zur Erklärung bei, weshalb Machiavelli in Woottons Buch eine so prominente Stellung eingeräumt wird. In seinen Diskursen zu Titus Livius finden wir Machiavellis notorische Behauptung, das Christentum sei als Grundlage für eine freie Republik (oder im weiteren Sinne für irgendeinen Staat) untauglich, da es die Menschen dazu anhalte, demütig, bescheiden, passiv und jenseitsorientiert zu sein. Um jedoch sich selbst und seinen Staat in der Welt verteidigen zu können, müsse man kriegerisch gesinnt sein, weswegen also die römische Religion, in der häufige Opfer einen an den Anblick von Blut gewöhnten, dem Christentum weit überlegen sei.27 Das Aufklärungsparadigma ist schlicht unvereinbar mit den christlichen Werten der Mäßigung und Zurückhaltung, und es ist bezeichnend, dass Woottons bevorzugte Denker alle dem Christentum tief skeptisch gegenüber standen.Wootton berichtet von einer tiefgreifenden Umwertung der christlichen Werte, wobei Laster wie Habsucht und Ruhmsucht in Tugenden umgedeutet wurden und zugleich der Ehrgeiz und die Neugier, die in den christlichen Jahrhunderten verpönt waren, eine Aufwertung erfuhren.28 Eine wichtige Komponente von Woottons Aufklärungsparadigma ist der Egalitarismus. Hobbes geht von einer fundamentalen Gleichheit der Menschen aus. Alle streben wir nach der Vermehrung von Lust und dem Vermeiden von Schmerz. Diese Annahme von der Uniformität der menschlichen Natur war ein wesentlicher Bestandteil der Aufklärung. In ihr ist der Ehrgeiz der Aufklärung begründet, eine Wissenschaft vom Menschen zu entwickeln (wie in Humes Vorrede zu seiner Treatise of Human Nature). Und heutzutage ist es eine Annahme, zu der die meisten von uns sich (zumindest bewusst) bekennen würden, mit der Folge, dass Frauenfeindlichkeit und Rassismus heutzutage als ebenso verabscheuungswürdig gelten wie der Atheismus und die Blasphemie vor vierhundert Jahren. Von solch unausstehlichen Einstellungen abgesehen ist die heutige Gesellschaft, wie Wootton betont, eine pluralistische. Es ist uns allen freigestellt, unsere Niccolm Machiavelli, Opere, hg. von Corrado Vivanti, 3 Bde., Turin 1997, Bd. 1, 333. Von der Neubewertung der Neugier erzählt bekanntlich die im 16. Jahrhundert entstandene Faust-Legende. Ein aufschlussreiches Beispiel für die Aufwertung von Ehrgeiz findet sich bei Shakespeare, wo Othello von „the big wars / That makes ambition virtue“ spricht (Othello, III.3); das heißt, der Ehrgeiz wäre normalerweise nicht lobenswert, wird aber bei einem bedeutenden Anlass, wie z. B. einem großen Krieg, zur Tugend. 27 28

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eigenen Werte zu bestimmen. Wie Bentham behauptete, besteht hinsichtlich ihres Vermögens, Lust zu bereiten, kein qualitativer Unterschied zwischen der Poesie und dem Kinderspiel Push-Pin.29 Bentham wäre wohl mit dem Hedonismus Marions in Büchners Dantons Tod einverstanden gewesen: „Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nämliche Gefühl.“30 Die Lust gilt uns nur dann als unzulässig, wenn bei ihrer Erlangung andere zu Schaden kommen. Der Multikulturalismus ist ein Ausdruck dieses zugrunde liegenden Pluralismus. Wenn die Menschen darauf ausgerichtet sind, nach Lust zu streben, impliziert dies, dass wir alle im Grunde eigennützig sind. Hobbes ist oft vorgeworfen worden, er habe eine Philosophie des Egoismus begründet. Wootton belegt diesen Vorwurf mit einer Anzahl aufschlussreicher Zitate. In seinen Augen ist dies jedoch keine Kritik, sondern eine natürliche Konsequenz des Aufklärungsparadigmas. In seinem eigenen Leben war Hobbes weit davon entfernt, ein Monster zu sein. Wootton belegt dies mit einer Anekdote, der zufolge Hobbes einem Bettler ein Almosen gab, da, in seinen eigenen Worten, „I was in pain to consider the miserable condition of the old man; and now my alms, giving him some relief, doth also ease me“.31 Wootton schließt hieraus: „So Hobbes has acted to benefit someone else, but only out of self-love. What has motivated his action is his imaginary experience of someone elseQs suffering.“32 HobbesQ Handlung wurde angeregt durch das vorgestellte Nachempfinden von eines anderen Menschen Leiden. Diesem Argument zufolge ist Mitgefühl mit anderen in Wahrheit Selbstsucht. Diese kommt am stärksten dann zum Ausdruck, wenn wir uns in die Situation eines anderen, der unsere Nächstenliebe ersucht, einfühlen können. Es ist einfacher, mit Armen Mitleid zu haben oder mit Flüchtlingen, da wir uns vorstellen können, wie es wäre, wenn wir selbst der Armut anheim fielen oder von zu Hause vertrieben würden, während es uns schwerer fällt, uns in die Lage eines verurteilten Kriminellen hineinzuversetzen, da es unwahrscheinlich ist, dass wir ein Kapitalverbrechen begehen würden. Wootton belässt es aber nicht bei der ohnehin fragwürdigen Konstatierung eines universellen Egoismus. Er gibt vielmehr zu, dass es ein Mitgefühl gibt, das nicht auf verkappte Selbstsucht zu reduzieren ist, und stellt mit Hilfe lexikographischer Forschungen fest, dass im 18. Jahrhundert sowohl Beispiele für die Vokabeln sympathy und fellow-feeling als auch Aufforderungen zu selbstlosen 29 „Prejudice apart, the game of push-pin is of equal value with the arts and sciences of music and poetry.“ Jeremy Bentham, The Rationale of Reward, London 1825, 206. 30 Georg Büchner, Schriften. Briefe, Dokumente, hg. von Henri Poschmann, 2 Bde., Frankfurt am Main 1999, Bd. 1, 28. 31 Zit. bei Wootton, Power, Pleasure and Profit (wie Anm. 25), 94. 32 Ebd.

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Handlungen sich häuften.33 Zugleich aber weist er auf die Entwicklung eines Gesellschaftsentwurfs hin, demzufolge das allgemeine Beste gefördert werden konnte und sollte, ohne die Stütze menschlicher Sympathien nötig zu haben. Die Gesellschaft wurde zunehmend als selbstregulierendes System verstanden, analog zu Newtons Modell eines selbstregulierenden Universums, dessen Ordnung auf der göttlichen Vorsehung beruhte und keiner Einmischung Gottes bedurfte. Am Verfassungskonvent, der die amerikanische Konstitution entwarf, wurde die Gewaltenteilung ausdrücklich mit „dem Sonnensystem“ verglichen, „in dem die Staaten die Planeten darstellen, die man frei auf ihrer jeweiligen Umlaufbahn ziehen lassen sollte“, mit einer Metapher, die im Anschluss von James Madison übernommen wurde.34 Aber der auf eine autonome Staatenbewegung abzielende Gebrauch des Bildes deutet auf einen statischen Systembegriff hin. Im späteren 18. Jahrhundert kam hingegen auch die Vorstellung von wirklich selbstregulierenden und selbstjustierenden Systemen auf. Für solche Systeme stand nicht das Sonnensystem, sondern die Flügelwindmühle Modell, die 1745 erfunden worden war und deren Jalousieflügel dazu entworfen waren, sich der jeweils vorherrschenden Windrichtung anzupassen. Im Bereich der Ökonomie, wie Wootton ausführt, entwarf Adam Smith ein Bild von der Wirtschaft als selbstregulierend. Diesem zufolge handelt der Kaufmann, für den es am gewinnbringendsten ist, lokale Arbeitskräfte anzustellen, aus Eigennutz, aber die ,unsichtbare HandR des Marktes, die ihn steuert, sieht vor, dass seine Handlung dem Wohl der Allgemeinheit zuträglich ist: By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was not part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the public good. It is an affectation, indeed, not very common among merchants, and very few words need be employed in dissuading them from it.35

33 Vgl. insbesondere den S. 106 zitierten Brief Humes an den Verleger William Strahan, wo Hume den Freund bittet, einen ihm völlig unbekannten Besucher in London mit Hilfe beizustehen. Wootton ist aber eine Textstelle entgangen, wo der Jurist George Wallace die Situation eines von Seeräubern gefangengenommenen Europäers mit der tatsächlichen Lage von Tausenden afrikanischer Sklaven vergleicht: „Have not these unfortunate Africans, who meet with the same cruel fate, the same right? are they not men as well as we? and have they not the same sensibility?“ Vgl. Ritchie Robertson, The Enlightenment. The Pursuit of Happiness 1680 – 1790, London 2020, 345 f. 34 Zit. bei Wootton, Power, Pleasure and Profit (wie Anm. 25), 139. 35 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg. von R. H. Campbell und A. S. Skinner, 2 Bde., Oxford 1976, Bd. 1, 456.

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Gerade mit Smiths Verherrlichung des freien Marktes aber geht Wootton kritisch ins Gericht und zeigt damit, dass er das von ihm ausgearbeitete Aufklärungsparadigma keineswegs bedenkenlos akzeptiert. Ein besonders prüfendes Kapitel befasst sich mit Smiths Antwort auf das Problem der Hungersnot. Hungersnöte waren auch im 18. Jahrhundert noch ein zeitweises Problem. Die Toskana und weitere Teile Italiens litten in den frühen 1760er Jahren unter einer Hungersnot, die Zeitgenossen in Erschütterung versetzte, wie sich den Dialogues sur le commerce des bleds des Abb8 Galiani entnehmen lässt. Irland erlebte mehrere Hungersnöte, zwei in den 1720er Jahren und eine weitere zwischen 1740 und 1741, der 10 % der Bevölkerung zum Opfer gefallen sein sollen. Das Problem mit Hungersnöten war oft nicht der Mangel an Nahrung, sondern die Tatsache, dass die Armen sich diese nicht leisten konnten. Stimmen wurden laut, die Regierung solle eingreifen und den Preis des Getreides senken, während Privatpersonen die Verhungernden durch private Armenhilfe unterstützen möchten. Smith aber zieht, wie Wootton zeigt, keine von beiden Lösungen in Betracht. Er unterscheidet zwischen einer ,dearthR (Lebensmittelknappheit), wenn der Nahrungsmangel die Bevölkerung dazu nötigt, an der Grenze zum Verhungern zu existieren, und der tatsächlichen Hungersnot, in der eine Großzahl ums Leben kommt. Er empfiehlt, dass selbst zu Zeiten der von ihm bezeichneten Knappheit der freie Getreidehandel uneingeschränkt bleiben solle, und besteht darauf, dass es das Eingreifen der Regierung sei, das die Knappheit in eine Not verwandle, denn „a famine has never arisen from any other cause but the violence of government attempting, by unproper means, to remedy the inconveniences of a dearth“.36 Wootton kommentiert die Herzlosigkeit, die im Euphemismus ,inconveniencesR (Unannehmlichkeiten) mitschwingt. Er folgert, Smith habe nicht akzeptieren können, dass im Falle von Hungersnöten das Wirken der ,unsichtbaren HandR versagt habe: „When it came to famine, Smith allowed his judgment to be clouded by his dogmatic attachment to the principle of free trade.“37 Diese Auseinandersetzung mit Smiths Ansichten zum Problem der Hungersnöte möge als ein Beispiel dienen für Woottons flexiblen und – im Unterschied zu Smiths Behandlung dieses Themas – dankenswerterweise undogmatischen Umgang mit seinen Quellen. Insgesamt also führt Wootton auf die Aufklärung – und auf Machiavelli als Vorläufer der Aufklärung – die Ursprünge dessen zurück, was wir als modernen liberalen Konsens bezeichnen könnten. Dieser umfasst die Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind; die Freiheit des Individuums, Ziele selbstbestimmt und nach eigenem Gutdünken zu verfolgen; die Toleranz in sexuellen Fragen – Bentham war ein früher Befürworter der Entkriminalisierung von Homosexuali36 37

Ebd., Bd. 1, 526. Wootton, Power, Pleasure and Profit (wie Anm. 25), 214.

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tät; und das Vertrauen in die Regulierung der Wirtschaft durch die Gesetze des Marktes. Als Historiker plädiert Wootton nicht für einen solchen Konsens, wenngleich er offensichtlich damit einverstanden ist; er weist darauf hin, dass dieser Konsens existert und dass seine intellektuellen Ursprünge auf eine Anzahl großer Denker der langen Aufklärung zurückgeführt werden können. Trotzdem bleibt in Woottons Darstellung des Aufklärungsparadigmas eine ungelöste Spannung zurück. Das Paradigma, das im wesentlichen in der rational geleiteten Selbstsucht besteht, scheint keinen Raum zu bieten für die Sympathie, die fellow-feeling, deren Bedeutung, wie Wootton zugibt, im Laufe des 18. Jahrhunderts unverkennbar zunahm. Denn die Sympathie ist ebenfalls ein Produkt der Aufklärung. Wir finden in der Aufklärung auch die Ansicht vertreten, die besonders nachdrücklich bei Shaftesbury zum Ausdruck kommt, dass ,fellowshipR (Gemeinschaft) eine naturgegebene, eine anthropologische Konstante sei: „If eating and drinking be natural, herding is so too. If any appetite or sense be natural, the sense of fellowship is the same.“38 Des Weiteren argumentiert Shaftesbury, dass der Gemeinschaftssinn pragmatisch notwendig ist, um unser Überleben zu gewährleisten: „if anything be natural in any creature or any kind, it is that which is preservative of the kind itself and conducing to its welfare and support“.39 In seiner Kritik an Smith, und in eigener Person schreibend, bemerkt Wootton, dass der Gemeinschaftssinn „is an essential prerequisite if we are not to be purely selfish, purely self-interested in our dealings with our friends and neighbors; generosity, self-sacrifice for the benefit of others, really is a virtue.“40 Dem könnte man hinzufügen, dass die mediale Vernetzung der Welt heutzutage selbst Menschen aus den abgelegensten Teilen der Erde wie Freunde und Nachbarn miteinander in Verbindung setzen kann. Aktuell wird uns besonders das Leiden der Ukrainer nahe gebracht. Während ich diese Worte schreibe, berichtet das Disasters Emergency Committee, dass sein Aufruf für humanitäre Hilfe für die Ukraine in vier Tagen £ 100 Mio. gesammelt habe. Selbst wenn wir zulassen, dass in manchen Fällen leere Sentimentalität im Spiel sein mag, legt ein solcher Grad an praktischer Unterstützung nahe, dass doch mehr hinter dem von der Aufklärung gepriesenen Mitgefühl stecken könnte als bloßer verschleierter Eigennutz. Wootton erkennt dies an. Aber es ist schwer ersichtlich, wie diese wichtige Empfindung in sein Aufklärungsparadigma hineinpasst.

38 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hg. von Lawrence E. Klein, Cambridge 1999, 51. 39 Ebd. Hervorhebung im Original. Zu der internationalen Verbreitung von Shaftesburys Denken in der Aufklärung vgl. Mark-Georg Dehrmann, Das ,Orakel der DeistenR: Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008. 40 Wootton, Power, Pleasure and Profit (wie Anm. 25), 214.

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Dies ist kein bloß theoretischer Einwand. Denn Woottons reichhaltige und provokative Studie legt die weitere Überlegung nahe, dass die Entfesselung des Begehrens nach Macht, Vergnügen und Gewinn, die seinem Aufklärungsparadigma zugrundeliegt, ein unbegrenztes wirtschaftliches Wachstumspotenzial voraussetzt und dank dieser irreführenden Annahme zu der Klimakrise geführt hat, der wir manchmal widerstandslos entgegenzutreiben scheinen. Es bleibt zu beobachten, ob ein uneigennütziges, auf das wahre Wohlergehen der Menschheit gerichtetes Mitgefühl in Verbindung mit einer humanen Anwendung der instrumentellen Vernunft uns aus dieser Sackgasse retten kann. Ziel dieser Studie ist es, zwei hervorragende englische Historiker der Frühmoderne vorzustellen, die jeweils eine eigene Sicht der Aufklärung entwickelt haben. Der ältere, Keith Thomas, 1933 geboren, hat in seiner Bahn brechenden und reichlich dokumentierten Studie Religion and the Decline of Magic (1971) mit Hilfe der Sozialanthropologie nachgezeichnet, wie man, um die zahlreichen Schwierigkeiten des Alltagslebens zu bewältigen, magische Praktiken zugunsten von praktischen Lösungen aufgab, indem das Leben ab den 1660er Jahren zunehmend kontrollierbar und vorhersagbar wurde. Da er grands r8cits skeptisch gegenübersteht, stellt sich die Frage, ob er auch implizit eine Geschichte der Säkularisation im Geiste der Aufklärung erzählt hat. In seinem jüngsten Buch, In Pursuit of Civility (2018), untersucht er in teilweiser Anlehnung an Norbert Elias die Entwicklung zivilisierter Sitten und des Zivilisationsbegriffs im frühmodernen England, wobei er, statt sich zum Begriff des Fortschritts zu bekennen, eher auf eine Vielfalt von Zivilisationsbegriffen hinweist, damit aber den kulturellen Relativismus zu streifen scheint. – David Wootton (Jahrgang 1953) hat neuerdings in Power, Pleasure and Profit (2018) den modernen liberalen Konsens, d. h. den säkularen, egalitären, toleranten Individualismus, auf eine ,lange AufklärungR zurückgeführt, die von Machiavelli bis Bentham reicht. Problematisch an seinen anregenden und insbesondere durch Wortgeschichten fundierten Thesen ist, dass er den hartherzigen ökonomischen Rationalismus Adam Smiths kritisiert, ohne sich aber auf den vor allem von Shaftesbury geprägten Begriff des Mitleids zu berufen. The purpose of this paper is to sketch the work of two exceptionally interesting English historians of the early modern period, who have both developed distinctive views of the Enlightenment: Keith Thomas and David Wootton. In Religion and the Decline of Magic, Thomas eschewed grand narratives and provided a fine-grained, richly documented study of how between 1500 and 1800 people in England ceased to rely on magic to cope with the many hazards of everyday life. His explanation is that thanks to material improvement life was becoming more predictable. In his most recent book he deals with the growth of civil manners and concepts of civilization, following Norbert EliasQ Rcivilizing processQ but again avoiding a grand narrative of progress, suggesting instead that there are different kinds of civility. This brings him in danger of cultural relativism. – David Wootton in his most recent book, Power, Profit and Pleasure, offers an interpretation of the Rlong EnlightenmentQ from Machiavelli to Bentham as the foundation of the modern liberal consensus, a secular, egalitarian, tolerant and pluralist outlook. His work is again amply documented, especially from linguistic history, but problematic in that it foregrounds egoism,

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yet criticizes the economic rationalism of Adam Smith, without considering the sympathy advocated by many Enlightenment thinkers from Shaftesbury on. Prof. Ritchie Robertson, Faculty of Modern Languages, 47 Wellington Square, Oxford, OX1 2JF, United Kingdom, E-Mail: [email protected]

Monika Fick Die „moderne moralische Ordnung“ und deren Grenzen: Charles Taylor

Mein Beitrag nähert sich Charles Taylors Entwurf nicht aus philosophischer, sondern aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive.1 Ich frage nicht nach der philosophischen Berechtigung seiner Sichtweise,2 die in der Tradition einer ,Kritik der wissenschaftlichen VernunftR steht,3 sondern danach, was man für die literaturwissenschaftliche Erforschung der Aufklärung aus seinen Thesen machen kann. Meine Ausführungen gliedern sich in zwei Teile. Zunächst arbeite ich heraus, was in Taylors Beschreibung des Zeitalters der Aufklärung, das eine Kernphase im großen Prozess der Säkularisierung darstellt, neuartig ist. Im Anschluss daran möchte ich die erschließende Kraft seiner Befunde in einem Vergleich mit derjenigen kulturwissenschaftlichen Richtung sozusagen auf die Probe stellen, von der die philosophische Tradition der Aufklärung heute grundsätzlich infrage gestellt wird, nämlich im Vergleich mit dem Postkolonialismus. Ich möchte am Beispiel von Jean-FranÅois Marmontels 1777 veröffentlichtem Roman über die Eroberung und Zerstörung des Reiches der Inkas zeigen, dass im Blick auf den Meiner Darstellung liegen die folgenden Werke zugrunde: Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1994 (engl.: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, 1989); ders.: A Secular Age, Cambridge, Mass., London 2007. Literatur und Kunst spielen in Taylors Genealogie der Säkularisierung nicht nur als häufig herangezogene Zeugen für kulturellen, mentalitätsgeschichtlichen Wandel eine herausragende Rolle. Eine Affinität zur Literatur scheint auch dadurch gegeben, dass er das Narrative als ein konstitutives Element des Selbst (Quellen des Selbst, 94 – 104) und als notwendiges Medium seiner philosophischen Erklärung betrachtet. 2 Vgl. dazu die Diskussionsbeiträge in Michael Kühnlein, Matthias Lutz-Bachmann, Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Frankfurt am Main 2011. 3 Taylor nimmt nicht auf Kurt Hübner Bezug; gleichwohl stimmen manche Aspekte seiner Kritik der instrumentellen, „prozeduralen“ Vernunft (zur Herleitung vgl. Quellen des Selbst [Anm. 1], 262 – 287, bes. 284) und seiner Rekonstruktionen von historisch bedingten Denkrahmen als den Prämissen für Wirklichkeitserfahrungen mit Hübners wissenschaftskritischem Ansatz überein. Vgl. Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, München 1978 (4. Aufl. 1993) und ders., Die Wahrheit des Mythos, München 1985. 1

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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Ethnozentrismus der Aufklärung Taylors Konzept der modern moral order eine Deutungsalternative zum Postkolonialismus bereithält. I. Taylors Erzählung vom ,entbetteten SelbstR Das Neue in Taylors ,großer ErzählungR der Aufklärung mit ihrem Säkularisierungsschub resultiert aus seiner Zurückweisung der Auffassung, die Formulierung und Verwirklichung der universalistischen Werte – Menschenrechte, Demokratie, Toleranz, friedliche Koexistenz, Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit etc. – ließen sich als das Ergebnis einer Subtraktion erklären, das wie selbstverständlich nach dem Wegfall der religiösen und metaphysischen Irrtümer ,übrig bleibeR, weil es den normalen, natürlichen menschlichen Bedürfnissen am besten entspreche.4 Im Gegensatz dazu entwickelt Taylor seine Position, dass die ,moderne moralische OrdnungR („modern moral order“5) eine Neuschöpfung zur Voraussetzung habe, nämlich die Entstehung des entbetteten, moralisch kompetenten Selbst („buffered self“6), das zu deren Verwirklichung intrinsisch motiviert und befähigt sei. Es habe die Quellen, aus denen moralisches Handeln fließt, nicht nur als immanent gesetzt, sondern sich selbst zugeschrieben und internalisiert, sodass es sie nun als eigene Kraft erlebe: So exclusive humanism wasnQt just something we fell into, once the old myths dissolved, or the ,infamousR ancien r8gime church was crushed. It opened up new human potentialities, viz., to live in these modes of moral life in which the sources [d. i. die Quellen des sittlichen Lebens] are radically immanentized.7

,EntbettetR ist dieses Selbst aus den Resonanzen des Kosmos, für die das ,poröse SelbstR („porous self“8) vormoderner Kulturen offen gewesen sei. Mit dem Erfahrungsmodus des entbetteten Selbst sei die ,anthropozentrische WendeR („anthropocentric shift“9) eingetreten, jene ungeheure Umkehrung in der Verhältnisbestimmung zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung, die besagt, dass die göttliche Vorsehung zu ihrem Ziel die menschliche Wohlfahrt auf Erden habe und nicht, umgekehrt, der Mensch durch die Transformation seines Willens in die ganz andere Gemeinschaft mit Gott hineingenommen werde. Zugleich korre4 Zur Diskussion der „Subtraktionstheorie“ vgl. Holmer Steinfath, Subtraktionsgeschichten und Transzendenz. Zum Status der „modernen moralischen Ordnung“, in: Kühnlein, Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne (wie Anm. 2), 599 – 622 und Taylors Antwort im selben Band: Replik, 821 – 861, bes. 821 – 828. 5 A Secular Age (wie Anm. 1), 159 – 171. 6 Ebd., 27 und passim. 7 Ebd., 255. 8 Ebd., 27, 35 – 42. 9 Ebd., 221 – 269.

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liert dem ,entbetteten SelbstR die Bedeutung, die Taylor dem Konzept ,SäkularisierungR gibt: Maßgeblich ist für ihn das Bewusstsein, die Wahl zwischen Glauben und Nichtglauben sowie zwischen den unterschiedlichsten Formen des Glaubens und Nichtglaubens zu haben, wodurch jede Entscheidung für eine Option unausweichlich vor der Folie ihrer möglichen Negation geschehe. Die These eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels bei der Entstehung des entbetteten Selbst beweist oder belegt Taylor mittels einer Neuinterpretation der Reformation, in welche die christlichen Reformbestrebungen des Mittelalters mündeten; anders ausgedrückt: Er weist der Reformation eine Schlüsselrolle für die Formierung des entbetteten Selbst zu, womit er dessen vielfach christliche Prägung ebenfalls freilegt.10 In dreifacher Hinsicht seien von der Reformation die entscheidenden Impulse ausgegangen, wobei alle drei Aspekte auf das engste miteinander verflochten sind: Der sozusagen entfesselte Reformeifer, der Anspruch, jeder müsse den hohen Anforderungen des Christentums gerecht werden, habe eine gewaltige Disziplinierungswelle ausgelöst (Taylor spricht von der Entstehung der „disciplinary society“11), die mit der Verbreitung des gesellschaftlichen Ideals der ,ZivilisiertheitR zusammengewirkt habe. Der reformatorische Erfolg habe langfristig das Vertrauen in die Kraft des rationalen Willens gestärkt. Zweitens habe die Ersetzung der symbolischen (,RealismusR) durch eine relationale Ordnung (,NominalismusR) mit Gott als dem obersten, uneingeschränkten Werkmeister, der die Zwecke der Lebewesen aufeinander abstimme, maßgeblich zur Entzauberung der Welt beigetragen, denn nun habe sich der Begriff einer autonomen Natur herausbilden können, die einen harmonischen Funktionszusammenhang darstelle und nicht länger als der Wohnort oder gar die leibliche Manifestation von Geistern, Dämonen, höheren Wesen erfahrbar gewesen sei. Schließlich hätten drittens das gewöhnliche Leben, der Alltag der ,kleinen LeuteR, eine große Aufwertung erfahren, was eine entscheidende Voraussetzung für alle späteren – atheistischen wie theistischen – Humanismen gewesen sei. Reformdynamik und Reformeifer sind für Taylor immer noch ein bedeutsamer ,MotorR innerhalb der westlichen Zivilisation: Weder der Selbstkontrolle noch den Optimie-

10 Ebd., 90 – 145, 227 f. u. ö. – Zur Diskussion der Rolle der Reformation in Taylors Erzählung vgl. Jürgen Goldstein, Säkularisierung als Vorsehung. Charles Taylors Erzählung der Moderne, in: Kühnlein, Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne (wie Anm. 2), 623 – 649, bes. 642 – 646. Goldsteins Kritik, Taylor habe die atheistischen Strömungen in der griechischen Antike und die ,ModernitätR des mittelalterlichen Nominalismus ignoriert, trifft jedoch zumindest pauschal nicht zu, da Taylor geradezu bemüht ist, anscheinende Ähnlichkeiten zwischen Moderne und Antike zu widerlegen (vgl. A Secular Age [wie Anm. 1], z. B. 112 – 117, 120, 132 – 134, 245 – 247 [Ethik]; 275 – 280 [Angriff auf den personalen Gottesbegriff]) und er dem vom Nominalismus begründeten Naturbegriff eine wichtige Funktion im Prozess der Säkularisierung zuweist (ebd., 97 – 99). 11 A Secular Age (wie Anm. 1), 90 – 145.

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rungsvorstellungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Ordnung noch dem Steuerungswillen gegenüber der Natur würden prinzipiell Schranken gesetzt. Im Deismus als der ,KernideologieR der Aufklärung gelangt, Taylors Erzählung zufolge, das entbettete Selbst zu seiner vollen Ausprägung und Artikulation, indem es deutliche Konturen als spezifisch moralisches Kraftzentrum annehme und die Wechselbezüglichkeit mit den modernen Forderungen nach sozialer Solidarität und einer gerechten Gesellschaft hervortrete. Alle theologischen Charakteristika des Deismus – die Ablehnung des Sünde-Gnaden-Zusammenhangs und damit der ewigen Verdammnis, des Wunders und der Offenbarung – lassen sich unter dem Stichwort der ,anthropozentrischen WendeR zusammenfassen: Nicht mehr die Transformation des Daseins in der Anschauung Gottes, das Aufgehen in einer höheren Gemeinschaft (der Heiligen), werde als das Ziel betrachtet; vielmehr werde umgekehrt der göttliche Heilsplan mit der Schaffung der irdischen Wohlfahrt aller Menschen identifiziert. Gleichzeitig damit, vielleicht sogar analog dazu, werde ein ökonomisches Modell entwickelt, wie das irdische Wohlergehen in der Gesellschaft zu realisieren sei; und dies sei wiederum das Erstaunliche, nicht Selbstverständliche: dass die Verwirklichung des Glücks und der Glückseligkeit möglichst aller Menschen – die Schaffung einer sozialen Ordnung, die das gedeihliche Miteinander umfassend bewerkstelligt – als Aufgabe jedes einzelnen und als gemeinsam erreichbares Ziel betrachtet werde, als etwas, das im Vermögen des Menschen liege. Die modern moral order etabliere sich als allgemein akzeptierte Vorstellung von einer moralisch plausiblen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie fuße zum einen auf der reformatorischen Aufwertung des gewöhnlichen Lebens zu einem hohen moralischen Gut, zum anderen jedoch auf dem Glauben an den Interessenausgleich, den letztlichen Zusammenfall von (wohlverstandenem) Eigennutz und Gemeinwohl; diese Interessenharmonie setze die intrinsische Orientierung des Menschen am Glück des Nebenmenschen und die Bereitschaft voraus, im Blick auf das ,große GanzeR das eigene Selbst zu überschreiten.12 Die Begründungen, die Taylor für die Zuversicht ausmacht, dass der Mensch zu solcher sozialen Transzendenz nicht nur motiviert, sondern auch fähig sei, verweisen zurück auf das moderne Selbstkonzept, das mit der Dynamik der Reformation neu entstanden sei. Die eine Begründung ergebe sich aus der Wertschätzung der desengagierten Vernunft. Die vernunftkonforme Erkenntnis des göttlichen Plans, in dem alles zu wechselseitigem Nutzen ineinandergreife, werde als geradezu identisch mit der Überwindung von Einzelinteressen, die immer auf individuellen Leidenschaften und Begierden beruhten, betrachtet; die desengagierte Vernunft sei also konstitutiv am universellen Wohlwollen ausgerichtet, so das Axiom (Descartes, Spinoza, Leibniz). Die andere Begründung, die Doktrin des moral sense, berufe sich dagegen auf die menschlichen empathischen Emp12

Z. B. ebd., 231 f.

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findungen – die Sympathie, das Mitleid –, die dafür sorgten, dass die Eigenliebe mit der Nächstenliebe zusammenfalle; dass der Mensch sein Glück im Glück des Nebenmenschen fühle. Beide Begründungen verlegten die Quellen der Moral in die menschliche ,NaturR, gefasst entweder als auf das Wohl aller bezogenes Erkenntnisvermögen (Spinoza), als Wille zu einer allgemeinen Gesetzgebung (Kant), oder als aus dem Inneren strömende Kraft eines universellen Mitgefühls. Diese immanenten Moralquellen konstituierten das moderne Bewusstsein von der Würde des Menschen, das moderne Selbstgefühl. Wie eine solche immanente Moralquelle – in diesem Fall die Selbstachtung der desengagierten Vernunft und die Wertschätzung des gewöhnlichen Lebens – funktioniert, erläutert Taylor, indem er die Selbsttäuschung der radikalen Aufklärer und materialistischen Utilitaristen (Bentham, Condorcet, Diderot, Helvetius, dQHolbach, La Mettrie) bezüglich ihrer moralischen Motivation freilegt.13 Taylor schreibt der Entstehung des Denk- und Erfahrungsmodus des entbetteten Selbst und der modern moral order, auf die bezogen es sich verwirklicht, einen hohen Stellenwert und geschichtlichen Gewinn zu. Neue menschliche Möglichkeiten, neue Moralquellen seien mit dem Vertrauen in die Gestaltungskraft des modernen Subjekts und mit der Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens er13 Vgl. das Kapitel „Radikale Aufklärung“ in: Quellen des Selbst (wie Anm. 1), 566 – 618. Dass hinter der materialistischen Reduktion der menschlichen Motivation auf den Lust-Schmerz-Mechanismus bzw. das Reiz-Reaktion-Schema, mit der viele radikale Aufklärer provozierten, eine Vision ganz anderer Art stehe, nämlich der Entwurf einer Gesellschaft, in der das größtmögliche Glück der größten Zahl herrsche, Leid vermindert und die alltägliche Lebenswelt wertgeschätzt sei (die modern moral order), liest Taylor vor allem an der Polemik, der Empörung gegen die Irrtümer und die gesellschaftlichen Missstände ab, die von diesen Irrtümern zementiert würden. Widersprüchlich würden die naturalistischen Systeme und Philosophien dadurch, dass sie ein Vokabular und Argumentationsstrategien benutzten, welche die Anerkennung moralischer Güter und Wertsetzungen gerade als illusionär dekuvrieren sollen. Das eigene moralische Bestreben müsse also verborgen bleiben. Im Zusammenhang damit stehe ein zweiter Widerspruch, nämlich die Verwechslung von Soll-Zustand und Ist-Zustand im Hinblick auf den Ausgleich der Interessen als demjenigen gesellschaftlichen Mechanismus, der die Glückseligkeit aller erzeugt. Bei dem Versuch, diesen Wirkmechanismus mittels einer materialistischen, utilitaristischen Psychologie zu erläutern, täten die Vertreter dieser Richtung so, als sei die Interessenharmonie bereits Realität, sodass der Einsatz für das Gemeinwohl den einzelnen ,wirklichR mit Glückszuwachs belohne. Damit sei aber verdeckt, dass die Motivation, im Ist-Zustand sich für die zukünftige Verbesserung einzusetzen, im 18. Jahrhundert eine ganz andere gewesen sein muss, da dieser Einsatz mit massiven Glückseinbußen verbunden war (z. B. Publikationsverbot, Verfolgung, Verbannung etc.). Taylor schlägt eine eigene Antwort auf die Frage nach den Moralquellen des naturalistischen Humanismus vor: die Achtung der in der Zukunft vielleicht möglichen besseren gesellschaftlichen Ordnung bzw. die Achtung der Glückseligkeit der Menschen, die vielleicht in einer solchen Ordnung werden leben können, als ein höherwertiges Gut, das den Einsatz auch unter Verzicht auf die eigene Glückserfüllung von mir fordert. So wäre die Bejahung des gewöhnlichen Lebens bzw. der Menschen, die es führen, als Moralquelle der modernen Identität konstituiert, ohne dass die Motivation aus dem LustSchmerz-Mechanismus begründet oder abgeleitet werden kann.

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schlossen worden.14 Insbesondere würdigt Taylor den Kampf der Aufklärer gegen das Gewaltpotential, den Verfolgungsgeist und den Machtanspruch der kirchlich verfassten Religion sowie ihre damit verbundene Polemik gegen die ,dunklenR Dogmen des Christentums, in denen sie die vornehmste Quelle der Gewalt und Unterdrückung erkannt hätten: gegen die Lehren von der Erbsünde, der Prädestination und der ewigen Verdammnis, gegen das Bild eines zornigen Willkürgottes. Besonders deutlich erweise sich hier der Vorstellungskomplex des entbetteten, moralisch kompetenten Selbst als der vorgelagerte Denkrahmen für den Generalangriff auf diese Komponente des Christentums, die Kehrseite des Glaubens an Gnade und Erlösung. Den ,Niedergang der HölleR („decline of hell“15) bezeichnet Taylor als eine entscheidende Errungenschaft der Aufklärung, die auch der Weiterentwicklung der christlichen Religion gedient habe. Zugleich jedoch sieht Taylor den Pluralismus an Lebensweisen, Sinnentwürfen, an spirituellen Erfahrungen und Moralquellen samt ihrer Artikulation, den die Säkularisierung mit der Konstruktion des entbetteten Selbst ermöglicht habe, durch die Wirkung der „closed world structures“ gefährdet.16 Darunter versteht Taylor axiomatische Annahmen und Setzungen, Hintergrundbilder, welche die Verbindung von immanentem Denkrahmen und Atheismus als notwendig und unausweichlich erscheinen ließen. Solche „closed world structures“ seien z. B. die epistemische Vorstellung vom Erkenntnisgewinn durch Objektivierung, bei der man sich ausschließlich an naturwissenschaftlichen Methoden orientiere, um sie auf den Bereich kultureller und geistiger Phänomene zu übertragen, oder das „Gott ist tot“-Narrativ, das seine Attraktivität maßgeblich seiner ethischen Komponente, der Suggestion von Ehrlichkeit, Illusionslosigkeit und erwachsener Reife, verdanke. In den „closed world structures“ würden vor allem das konstruktiv-schöpferische Element und die historische Kontingenz der modernen Identität, des entbetteten Selbst und seines gesellschaftlichen Horizontes, ausgeblendet; es werde sozusagen dasjenige naturalisiert (oder vergessen gemacht), was nur als das Ergebnis eines schwierigen historischen Prozesses zu verstehen sei. 14 Ein ,ZurückR zu den vormodernen Erfahrungsweisen des porösen Selbst ist für Taylor weder möglich noch wünschenswert; wie auch eine der Leitlinien seiner Erzählung in A Secular Age darin besteht, zwischen ,religiösem TranszendenzbezugR und ,Verzauberung der WeltR zu unterscheiden; ersteres sei unabhängig von letzterem. Zugleich ist das Konzept ,entbettetes SelbstR nicht zu verwechseln mit ,unsozialem SelbstR; vielmehr ist die Solidarität mit dem Nebenmenschen in der großen Vision der modern moral order konstitutiv für die moderne (westliche) Identität. Volker Gerhardts Vorwurf, Taylor favorisiere, indem er die „Individualisierung“ für die „Säkularisierung verantwortlich“ mache (Säkularisierung: Eine historische Chance für den Glauben, in: Kühnlein, Lutz-Bachmann [Hg.], Unerfüllte Moderne [wie Anm. 2], 547 – 572, hier 550), eine „religiöse Botschaft“, welche die „kritisch urteilenden und selbstbestimmt handelnden Personen“ ausschließe (551), trifft deshalb ins Leere. 15 A Secular Age (wie Anm. 1), 223 u. ö. 16 Ebd., 551 – 592.

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Im Hinblick auf die Fragilität der modern moral order, deren Stabilität auf dem Ausgleich, der Harmonie der Interessen beruhe und die auf das intrinsische Wohlwollen der Menschen baue, sei es jedoch wichtig, neben den immanenten Moralquellen des exklusiven Humanismus auch die religiösen, aus der Erfahrung von Transzendenz und Transformation (des Willens, des Selbst) sich speisenden Moralquellen zu artikulieren, damit sie ein kultureller Faktor blieben.17 Um dies einsichtig zu machen, profiliert Taylor den prekären Status des modernen exklusiven Humanismus mittels zweier Fragen. Erstens: Wie kann die allgemeine Glückseligkeit erreicht werden, ohne die individuellen Bedürfnisse zu beschädigen, wie können die Hindernisse zur Verwirklichung des Wohls aller so aus dem Weg geräumt werden, dass die menschliche Natur dabei nicht unterdrückt, nicht aufgeopfert wird? Und zweitens: Welche Motivation trägt den Einsatz für das allgemeine Wohl auch da, wo er enttäuscht und ggf. gewaltsam verhindert wird, ohne dass der positive Elan in Gegengewalt oder Menschenhass umschlägt? Die Fragen zeigen ihre Dringlichkeit angesichts von Taylors Analyse der Spannungen, welche gegenwärtig die westlichen Gesellschaften spalteten. Zum einen stehe der Konsens zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsform und dem modernen westlichen Selbst, das sich mit der modern moral order und dem durch sie geschaffenen Freiraum für individuelle Verwirklichung identifiziert habe, auf dem Spiel, wobei es zu erkennen gelte, wie tief wir in die Herkunftsgeschichte dieses modernen Selbst verstrickt seien.18 Zum anderen müssten wir realisieren, in welchem Ausmaß aus dem Vorstellungskomplex der modern moral order die Sehnsucht nach Intensitätserfahrungen sowie das menschliche Gewaltpotential verdrängt worden seien. Denn das moralisch kompetente entbettete Selbst bleibe, empirisch betrachtet, eine kontrafaktische Konstruktion, auch wenn es als Moralquelle ontische Realität besitze.

II. Das ,entbettete SelbstR – ein Agent der Kolonisierung? Charles Taylors Ansatz als Korrektiv zur postkolonialistischen Aufklärungskritik Obwohl Taylor weder den Kolonialismus noch dessen postkolonialistische diskursive ,BewältigungR explizit thematisiert, ist seine philosophische Erzählung 17 Was nicht ausgesprochen, nicht artikuliert wird, verschwindet: Diese Bedingung menschlichen Seins expliziert Taylor in: Quellen des Selbst (wie Anm. 1), 105 – 174 („Ethik der Inartikuliertheit“). 18 Vgl. Charles Taylor: Legitimationskrise?, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Übers. von Hermann Kocyba. Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt am Main 1988 (engl. 1985), 235 – 294.

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vom entbetteten Selbst nicht nur ein Plädoyer für kulturelle Vielfalt, sondern gibt auch Hinweise darauf, wie eine solche Vielfalt zu denken sein könnte, nämlich als Berücksichtigung prinzipiell anderer Weisen, das Selbst in Relation zur Gesellschaft, zur Natur bzw. dem Universum, zu Gott oder den Göttern zu konstituieren, als es in der westlichen Zivilisation geschieht; welche Alternativen nicht nur jenseits der desengagierten Vernunft, sondern auch jenseits des romantisch-expressivistischen Ideals einer neuen Naturverbundenheit liegen.19 Ein Werterelativismus ist dabei für Taylor keine Option, da er von jeder wissenschaftlichen Beschreibung fordert, dass sie von einem klaren Bewusstsein für die Rangordnung der konstitutiven Güter, die ihr zugrunde liegt und sie sozusagen orientiert, getragen ist.20 Meine These lautet nun, dass sich, was das Zeitalter der Aufklärung anbelangt, die heuristische Kraft von Taylors Geschichte des entbetteten Selbst und der modern moral order besonders deutlich anhand desjenigen Diskurses im 18. Jahrhundert zeigen lässt, der die aufklärerischen sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen ins Feld führt, um das Versagen der europäischen Mächte gegenüber den überseeischen Völkern und Kulturen anzuklagen und eine bessere Welt imaginativ zu modellieren, nämlich anhand der literarischen Aufarbeitung der Conquista, der Eroberung Mexikos und Perus. Das ist natürlich ein weites Feld. Ich beschränke mich auf ein einziges exemplarisches Fallbeispiel, den eingangs erwähnten, äußerst populären Roman Marmontels Les Incas, ou la destruction de lQempire du P8rou (1777), der zahlreiche Bühnenbearbeitungen angeregt hat; Susanne Zantop bezeichnet ihn als „master fantasy“.21 Indem ich Taylors Kategorien als Analyseinstrumentarium verwende, soll zugleich eine innere Widersprüchlichkeit der postkolonialistischen Literaturkritik benannt werden, die hinter den universalistischen liberalen Ideen der Aufklärer häufig euro- und ethnozentrische Machtstrategien aufzudecken sucht.22 Die (häufig mangelnde) Wahrnehmung der Andersartigkeit von Hintergrundbildern und Konstitutionsweisen in fremden Kulturen nennt Taylor das „predicament“ der Ethnologie: A Secular Age (wie Anm. 1), 549. 20 Vgl. Taylor, Quellen des Selbst (wie Anm. 1), v. a. 52 – 104 („Das Selbst im moralischen Raum“). 21 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770 – 1870), Berlin 1999, hier 147. Marmontels Roman war ein ungeheurer Erfolg; seine Figuren bevölkerten nicht nur die europäischen Bühnen, sondern schmückten auf Tapeten und Wandteppichen auch die bürgerlichen Wohnzimmer. Vgl. Karl-Ludwig Löhndorf, Marmontel als intermediale Quelle. Neues zur Rezeptionsgeschichte von Jean-FranÅois Marmontels „Bestsellerroman“ Les Incas, ou la destruction de lQempire du P8rou, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 2009, hier 7 – 31. Ein breites Spektrum von Kolonialdramen untersuche ich in der Studie: Von Jerusalem nach Tenochtitlan oder: Das Kreuz in Mexiko. Lessings Nathan der Weise im Kontext des literarischen Südamerika-Diskurses der Aufklärung, in: Monika Fick, Lessing und das Drama der anthropozentrischen Wende, Hannover 2020, 247 – 288. 22 Die Initialzündung zu dieser Sichtweise gab Edward W. Said, Orientialism, London 2003 19

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Marmontels Roman funktioniert auf zwei Ebenen: Auf einer utopischen, diskursiv entfalteten Ebene wird eine Vision entworfen, wie die Begegnung zwischen ,AlterR und ,NeuerR Welt hätte ablaufen können, während die an der historischen Realität ausgerichtete fiktive Handlung den Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug nachzeichnet.23 In der Vorrede und in mehreren Gesprächen zwischen den Akteuren und Kontrahenten (Pizarro, Las Casas, Alonzo de Molina, die Mexikaner Orosimbo und Telasko, der Inka Ataliba [für Atahualpa]) fallen die zentralen Begriffe,24 welche die zugrunde liegenden Ordnungsvorstellungen verdeutlichen: der Verzicht auf Eroberung,25 die Selbstbeschränkung des Stärkeren,26 die Geltung des Naturund Völkerrechts,27 die Achtung der Freiheit der indigenen Bevölkerung sowie ihres Besitzes und angestammten Wohnraums, die Einrichtung eines auf freiem Handel und Austausch gegründeten Verkehrs zu wechselseitigem Nutzen.28 ,BilligkeitR und Gerechtigkeit sollten dabei den Interessenausgleich gewährleisten. Las Casas fordert die Verleihung voller Bürgerrechte an die Amerikaner, was al(zuerst 1978); für unseren Kontext maßgebliche wissenschaftliche Folge-Studien: Zantop, Kolonialphantasien (wie Anm. 21); Aamir R. Mufti, Enlightenment in the Colony: The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture, Princeton 2007. Heute ist die postkolonialistische Aufklärungskritik ein Topos der intellektuellen Debatte und die Fülle der Beiträge unüberschaubar geworden. Zur Diskussion der Konfliktlinien vgl. Robertsons Auseinandersetzung in: Ritchie Robertson, The Enlightenment. The Pursuit of Happiness, 1680 – 1790, London 2020, bes. 600 – 654 („Cosmopolitism“). 23 Zu Marmontels Umgang mit seinen geschichtlichen Quellen und zur Unterordnung des Historischen unter die philosophischen Intentionen vgl. Karl-Ludwig Löhndorf, Marmontels Incas. Untersuchungen zu ihrer Stellung in der Literatur der Aufklärung, ihrer Aufnahme und Nachwirkung, Diss. Bonn 1980, bes. 52 – 90. 24 Ich benutze die Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode, Die Inkas oder die Zerstörung PeruQs, aus dem Französischen des Herrn Marmontel von Neuem verdeutschet, 2 Bde, Frankfurt am Main, Leipzig 1783 (elektronische Ausgabe: Google Books). Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. – Zur Übersetzung, die von den Zeitgenossen als sehr gut gerühmt wurde (im Kontrast zu einer 1777 erschienenen, die nicht von Bode stammt) vgl. Hans-Joachim Jakob, „Die Uebersetzung ist in recht gute Hände gefallen“. Ausgewählte Übertragungen Johann Joachim Christoph Bodes im Spiegel ihrer Rezensionen in der Allgemeinen deutschen Bibliothek und der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek (1767 – 1800), in: Cord-Friedrich Berghahn, Gerd Biegel, Till Kinzel (Hg.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk, Heidelberg 2017, 347 – 370, hier 365 (Korrektur der bislang üblichen Zuschreibung der Übersetzungen). 25 Vorrede, unpag. [3]; Bd. 1, 280 („Sucht des Eroberens [!]“). 26 Die Forderung ist in der Anklage enthalten, dass der Starke den Schwachen „in diesen Ländern, wie in allen übrigen“, „unterjochet“ (Vorrede [12; vgl. auch ebd., 28 f.]). 27 Z. B. Vorrede, unpag. [20]; Bd. 1, 118 u. ö. 28 „Sich mit einem freyen Umtausch gegenseitiger Bedürfnisse zu begnügen, das wäre freylich das billigste gewesen“ (Vorrede, unpag. [3 f.]); Las Casas: „[…] unter ihnen und dem spanischen Reiche ein gegenseitiges Verkehr gleich nützlich und vortheilhaft für beyde, zu bewirken“ (Bd. 1, 118); Pizarro: „Inka, dies ist der friedsame Vertrag und der wechselseitige Handel, den mein Herr und Souverain […] mir aufgetragen hat, Dir anzubieten“ (Bd. 2, 296).

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lerdings deren vorgängige Unterwerfung impliziert; Alonzo de Molina dagegen, ein edler Spanier, der auf der Seite des peruanischen Volkes kämpft, verteidigt dessen Souveränität gegen die europäischen Eindringlinge, ohne deswegen des Hochverrats bezichtigt zu werden. Pizarro bietet in seinen Verhandlungen mit Ataliba Autonomie an; das Volk und Reich der Inkas, nominell zwar zum Vasallenstaat des spanischen Kaisers gemacht, solle weiter nach seinen eigenen „Gesetzen“ (Bd. 2, 294) und seiner Verfassung leben. Die Tributpflichtigkeit solle dabei die Form des freien Handels und des Kulturtransfers (von Ost nach West) annehmen: Im Austausch gegen das Gold, dem die Peruaner selbst keinen materiellen Wert beimäßen, würden die Spanier nützliche technische Errungenschaften in das Land bringen. Von den kulturellen Errungenschaften Perus ist dabei nicht die Rede, wiewohl sie der Roman permanent als vorbildlich darstellt.29 Ataliba akzeptiert das Angebot und die Bedingungen Pizarros; sogar in die Ersetzung der eigenen Sonnenreligion durch die christliche Religion, die freilich von dem spanischen Feldherrn als deistische, freigeistige Vernunftreligion präsentiert wird,30 willigt er ein. Dem Übergang von der Inkaherrschaft zu dem neuen Bündnis wird dabei die Kontur einer Fortschrittsgeschichte gegeben, deren erste (oder zweite) Stufe die vormalige Etablierung des peruanischen Reiches ist: Auch die Inkas hatten viele Völker erobert und sie sodann ,kultiviertR, das heißt, die Praxis der Menschenopfer abgeschafft und den indianischen Stämmen eine bessere Religion, bessere Gesetze und soziale Strukturen etc. gegeben. Auf der Linie solcher Verbesserung und ,AufklärungR sieht Ataliba in Marmontels Fiktion offenbar den von den Spaniern angebotenen Freundschaftsvertrag – die Annäherung stellt zugleich eine ,SelbstaufklärungR über die Triebfedern der eigenen Kultur dar. Vor allem anhand der Sonnenfeste der Inkas wird gezeigt, dass die sozialen Einrichtungen und Gesetze des Landes darauf zielen, die gesellige, auf wechselseitige Hilfeleistung angelegte ,NaturR des Menschen zu entfalten.31 Es zeichnet sich ab, dass die ideellen Ordnungsvorstellungen, welche die Figuren leiten, sich sehr gut als modern moral order konzipieren lassen, als auf Interessenausgleich bedachter Entwurf einer friedlichen und freiheitlichen Koexistenz der Völker bei gedeihlichem Handel zwecks geteiltem Wohlstand. Zugleich zeichnet sich ab, dass als universelle Prämisse und Ermöglichungsgrund für die Etablierung dieser auf Interessenausgleich fußenden modern moral order die Beispiele sind: Die Sonnenfeste, welche die Struktur des Romans bestimmen; „bewunderungswürdige Monument[e] für die Größe der Inkas“ wie das Wegsystem mit immer offenen Gasthäusern für die Reisenden, mit Festungen und Tempeln (Bd. 2, 43) oder der mit Goldarbeiten ausgekleidete Palast Huaskars, von dem es heißt, Alonzo habe „niemals etwas so Erhabenes gesehen“ (Bd. 2, 44). 30 Der Fanatiker Valverde erkennt dies sofort: „Pizarro redet so davon [von der christlichen Religion], wie die stolzen Freygeister pflegen“ (Bd. 2, 311). 31 Z. B. anhand des Fests der Vaterschaft: Bd. 2, 150 – 153. 29

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christliche Ethik gilt, die von den spezifisch christlichen Religionsinhalten abgelöst und mit der deistischen Vernunftreligion verbunden wird. Die Toleranzforderung ist dieser Ethik eingeschrieben: Der religiöse Fanatismus, der sich mit unersättlicher Habgier verbündet, wird als vornehmste Antriebskraft der spanischen Eroberer diagnostiziert; die Schilderung eines Autodaf8s prangert die Judenverfolgung in Spanien an.32 In der Zuspitzung auf das Gebot der Feindesliebe verspricht die christliche Ethik, einen herrschaftsfreien Raum zu schaffen, wie es Las Casas in seinen Beziehungen mit den Indigenen vorzuleben sucht. Exemplarisch ist die Episode von der Auslösung eines gefangenen Konquistadorensohns aus der Hand des Kaziken Capana, dessen Volk vom Vater des Gefangenen mit der Vernichtung bedroht wird. Zwar gesteht Las Casas dem Kaziken das uneingeschränkte Recht auf Widerstand und Verteidigung zu, belehrt ihn aber zugleich darüber, dass nur der Verzicht auf Vergeltung und Rache dem wehrlosen Gefangenen gegenüber, sozusagen die Überwindung der Sündenbockmentalität, ihn aus dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt herausführen und zu einem freieren Daseinsgefühl verhelfen werde.33 Aufgrund der Erfahrung, zur Vergebung fähig zu sein, übernimmt der Kazike das Gottesbild der Christen; er durchschaut den Zusammenhang von Unfreiheit, Not, Furcht und Gewalt mit dem Glauben an grausame Götter, die Menschenopfer fordern.34 Der Übertritt zur christlichen Religion wird hier als Erkenntnis über die eigene ,NaturR modelliert; anders formuliert: Als ,herrschaftsfreiR erscheint die christliche Ethik der Nächsten- und Feindesliebe in dieser Episode deshalb, weil sie als konform mit dem innersten seelischen Bedürfnis des Menschen, für den der Angehörige der First Nation hier steht, dargestellt wird. Spiegelbildlich dazu sind Szenen angelegt, in denen spanische Soldaten die eigene Hilfsbedürftigkeit erfahren und so zu der Einsicht gelangen, dass die von ihnen überfallenen Amerikaner ihre ,BrüderR sind und ein Anrecht auf eine entsprechende Begegnung gehabt hätten.35 Mit diesem Bild der geselligen, intrinsisch solidarischen Natur des Menschen, der, notorisch schwach, auf Hilfe angewiesen und zu ihr verpflichtet sei, wird wiederum die Ordnungsvorstellung freiheitlicher Entfaltung im wechselseitigen Austausch und Ausgleich der Interessen unterstützt. So lässt sich als ein erstes Analyseergebnis die unlösliche Verflechtung von modern moral order und entbettetem, moralisch kompetentem Selbst in der Darstellung, der Imagination des Romans festhalten. Als gleichrangigen, in ethischer Hinsicht vielfach überlegenen Partnern der Europäer im Netzwerk der modern moral order wird den Peruanern ein modernes Ichbewusstsein verliehen; sie agie32 33 34 35

Bd. 2, 184 – 194. Bd. 1, 155 – 158. Bd. 1, 147 f.; 154 – 158; vgl. auch Bd. 1, 60 und Bd. 2, 4 f. Bd. 1, 257; vgl. auch Bd. 2, 306 – 308.

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ren als Figuren mit moderner, westlicher Identität. (Nur) auf diesem Weg werden sie als autonome Subjekte der Handlung und Wahrnehmung ernst genommen, sodass sie innerhalb ihres exotisch ausgeschmückten Kulturkreises als empfindsame, moralisch kompetente Individuen auftreten, die auch die Spanier belehren können. Dazu gehört die Aufsplitterung der Handlung in mehrere Erzählstränge, die individuelle Schicksale verfolgen (die mexikanischen Emigranten; die Geschichte des Kaziken Capana und seines Volks; die Liebesgeschichte zwischen Cora, der peruanischen Sonnenjungfrau, und Alonzo); dazu gehört das auffallende foregrounding der Inkakultur: Den Roman strukturieren die Feste der Sonnenreligion, anlässlich derer die Lebensanschauung und sinnstiftenden kultischen Riten der Peruaner dargestellt werden, wobei die paganen Elemente, die Anbetung der Sonne als des Vaters (in Bodes Übersetzung: der Mutter) der Inkas, als Ursprungs des Staats und seiner gütigen Gesetze, das Bild eines unentfremdeten Gemeinwesens unterstreichen.36 Der zweite Teil beginnt mit dem Mythos der Inkas (7 – 10), dessen Sonnensymbolik am Ende in die Lichtmetaphorik der Aufklärung überführt wird – eine Steigerung, zu der die christlichen Fanatiker ihrerseits nicht fähig sind.37 Auch die Geschichte der Inkas (Eroberungszüge, Teilung des Reiches und Bruderkrieg gegen Huaskar) wird aus deren Perspektive präsentiert.38 Während schließlich der Inka von Peru als guter Herrscher gezeichnet wird, der, von seinen Völkern verehrt, immer im Besitz der Regierungsgewalt ist und seine Befehle noch während seiner Gefangenschaft durchsetzen kann, wird Pizarro ihm gegenüber diskreditiert: Er besitzt keinerlei Führungskraft und wird von seinen Offizieren gegängelt, sodass sich seine menschenfreundlichen Absichten ständig in ihr Gegenteil verkehren. Von Ataliba heißt es: „Dieser König […] beherrschte sein Volk aus dem Innern seines Gefängnisses, und sein Volk gehorchte ihm, als säß er noch auf seinem Throne“ (Bd. 2, 325). Dagegen wird von Pizarro wiederholt berichtet: Er „war zu schwach“ (z. B. Bd. 2, 340); aus dieser Schwäche resultiert seine Rolle in der Eroberung Perus, nämlich sein „Verbrechen“, „so vielen Gräueln Thüre und Thore geöfnet zu haben“ (Bd. 2, 366). So lässt sich das Dilemma von Marmontels Roman, das er mit den in seiner Nachfolge stehenden Perustücken teilt, wie folgt formulieren: Mit der Erfüllung des Gerechtigkeitsprinzips der modern moral order wird den peruanischen Figu36 Allerdings steht die Zeichnung der peruanischen Kultur wiederum in der Tradition der (europäischen) utopischen Literatur. Löhndorf verweist auf die starke Stilisierung der Sonnenfeste: Marmontels Incas (wie Anm. 23), 87 – 90. 37 Während Ataliba kraft seiner Vernunft die Sonnenreligion zur deistischen Religion umgestaltet und in diesem Sinn um ,ErleuchtungR bittet, bleiben seine christlichen Mörder, die das Taufritual missbrauchen, in der Finsternis des Aberglaubens gefangen; so das Metaphern-Arrangement beim Tod des Inka, vgl. Bd. 2, 362 f. 38 Z. B. Bd. 1, 213 oder Bd. 2, 100 – 103: Perspektive der Anführer unterschiedlicher unterworfener Völker; Bd. 2, 3 – 15: Perspektive Atalibas.

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ren die Identität des moralisch kompetenten Selbst verliehen; damit aber sind der Inka Ataliba, die Kaziken, Sonnenpriester und indigenen Krieger bis hin zu Cora, der Sonnenjungfrau, genauso wie die Europäer konstituiert, die das ,WildeR in sich ebenfalls empfindsam zivilisiert haben – eine rousseauistisch-eurozentrische Konstruktion. Deshalb entwickelt der Roman zwar ein abstraktes Modell für die Autonomie und Koexistenz der Völker, bietet aber keinen Ansatz für eine Wahrnehmung des Fremden, eine Konkretisierung des Anderen, die über oberflächliche Motive des Exotismus hinausginge. Die Forderung nach Gerechtigkeit für die Völker wird ohne Reflexion darauf erhoben, wie kulturell bedingten Unterschieden zum Beispiel in den Rechtsauffassungen und ethischen Normen zu begegnen wäre; von den rituellen Menschenopfern ganz zu schweigen, die auch im Reich der Inkas eben nicht gänzlich abgeschafft waren. Der hier vorgestellten Analyse zufolge muss es deshalb offen bleiben, ob die postulierte Gerechtigkeit nur ein Deckmantel ist für die Fortsetzung kolonialen Machtanspruchs, oder ob sie, im Sinn einer regulativen Idee, Raum lässt für einen Interessenausgleich, in dem die Differenzen berücksichtigt sind. Explizit gemacht werden jedenfalls die Konsequenzen, zu der die modern moral order und die in ihr wirksamen Gerechtigkeitsvorstellungen verpflichten: die Anklage gegen die Kolonisatoren und die Wahrnehmung der Kolonisierten als gleichberechtigter Subjekte. In den postkolonialistischen Ansätzen jedoch wird dieser Mangel an Konkretion vereindeutigt: Die Universalisierung der aufklärerischen politischen und gesellschaftlichen Ideale wird als Vereinnahmung, Unterdrückung des Fremden bewertet, als aktives, kolonisierendes zum Verschwinden-Bringen;39 welche Sichtweise auf die ,LeerstelleR durch die Dekuvrierung rassistischer Stereotypen Bestätigung findet.40 Damit sind jedoch Funktion und Leistung der Individualisierung, wie sie in Marmontels Roman (und mehr noch in Bühnenstücken wie Kotzebues Sonnenjungfrau oder Rollas Tod41) zur Geltung kommt, nicht angemessen reflektiert: eine Individualisierung, die im Horizont der modern moral order zu verorten ist und aus kollektiven Denkstrukturen, zu denen auch die Wahrnehmung in Stereotypen gehört, herausführt. Vertreter des Postkolonialismus müssten klä39 Dieser Vorwurf trifft vor allem die Christianisierung, wobei man dagegenhalten könnte, dass das Christentum z. B. in Marmontels Roman und Kotzebues Peru-Dramen wiederum zu einem abstrakten Modell ausgedünnt wird, das (zumindest in der Theorie) Raum gibt für die unterschiedlichsten Konkretisierungen von Religion. 40 Dass Marmontels Darstellung der Anthropophagen (Bd. 1, Kap. 20), deren Frauen der erotischen Anziehungskraft Alonzos erliegen, rassistische Klischees transportiert, wie Susanne Zantop hervorhebt (wie Anm. 21, 147 – 149), ist evident; für Zantop folgt die Liebesgeschichte zwischen Alonzo und der Sonnenjungfrau Cora dem gleichen Stereotyp der erotischen Überlegenheit des Europäers. Dass sich Marmontels vielschichtige, komplexe Erzählung auf solche Muster nicht reduzieren lässt, sollte deutlich geworden sein. 41 Vgl. die Analysen in Monika Fick, Von Jerusalem nach Tenochtitlan (wie Anm. 21), 262 – 271.

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ren, inwiefern der eigene Bewertungsmaßstab für den Umgang der Literaten und Schriftsteller mit nicht-europäischen Kulturen immer noch der modern moral order und ihren Gütern, dem universellen Wohlwollen des entbetteten Selbst, dem gewöhnlichen Leben und der desengagierten Vernunft, entstammt; ob sich also die Empörung gegen den aufklärerischen universalistischen Diskurs daraus speist, dass dessen moralische Ansprüche verletzt werden. Zugleich wäre die Positionierung gegenüber den anderen, differierenden Moralquellen und Gütern der fremden Kultur zu klären. Die latente Selbstwidersprüchlichkeit des Ansatzes kommt zum Beispiel in Susanne Zantops Vorwurf zum Ausdruck, Kotzebue verweigere in seinen Marmontel-Adaptionen den peruanischen Figuren die volle, komplex ausdifferenzierte Individualität und lasse sie somit nicht als autonome Subjekte agieren, was eine ,kolonialistischeR Degradierung gegenüber den spanischen Akteuren bedeute.42 Abgesehen davon, dass sich dies in einer textnahen Lektüre leicht widerlegen lässt, bedeuten Psychologisierung und Individualisierung ja nichts anderes als: Zuschreibung der modernen, westlichen Identität (also wieder: ,KolonisierungR). Ich versuche ein Resümee: Taylors Plädoyer für ,mehr TranszendenzR ist nicht antimodernistisch, im Gegenteil soll die Öffnung des entbetteten Selbst – in der säkularen Gesellschaft immer nur eine Option neben anderen – dazu dienen, in Konfliktfällen die Errungenschaften der modern moral order besser zu verteidigen, als es dem exklusiven Humanismus manchmal möglich wäre. So verstanden, bietet Taylors Ansatz vielleicht einen Ausweg aus einem zentralen Dilemma der westlichen Zivilisation, dem Dilemma zwischen universellen Werten und der Bewahrung kultureller Vielfalt. Denn es handelt sich um ein Modell, in dem einerseits Differenz bis hin zur radikalen Unterschiedlichkeit von ,HintergrundbildernR gewürdigt wird, andererseits mit Entschiedenheit das unbedingt Gültige, die ,ontischeR Realität derjenigen modernen Werte herausgearbeitet wird, durch die friedliche und gerechte Koexistenz gelebt werden kann. Deshalb (und nicht nur wegen ihrer historischen Herleitung) bietet Taylors Konzeption der ,modernen moralischen OrdnungR auch ein valides Analyseinstrumentarium für diejenigen umstrittenen Textarchive der Aufklärung, deren Problematik, mutatis mutandum, in eben diesem Dilemma besteht. Taylors Beitrag zur Bestimmung von ,AufklärungR, dem Zwilling der Säkularisierung, ist zunächst ein historischer: Die liberalen Werte der Aufklärung werden in ihrer Entstehung und geschichtlichen Entwicklung rekonstruiert. Dabei tritt zum einen die Wechselbezüglichkeit von ,entbettetem SelbstR und der ,modernen moralischen OrdnungR hervor, die bis heute in der westlichen Welt mehrheitlich gelte und fraglos akzeptiert werde – das eine ist unabdingbar mit dem anderen gegeben –, zum anderen legt Taylor die (impliziten, unausgesprochenen) Denkvoraussetzungen, die ,HintergrundbilderR und epistemischen Axio42

Zantop, Kolonialphantasien (wie Anm. 21), 150 – 163.

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me frei, welche dem Selbstverständnis der Aufklärer verborgen sind bzw. waren. Mit der Konturierung des historisch bedingten ,BezugssystemsR von Aufklärung (und Säkularisierung) schärft Taylor den Blick für deren Grenzen und Defizite. Darüber hinaus gibt seine Konzeptualisierung den Blick frei für das, was Diversität und Pluralismus konkret bedeuten müssten, nämlich ein Verstehen jenseits der Konstitutionsweisen des entbetteten, modernen Selbst. Damit liefert seine ,GenealogieR der Werte der Aufklärung ein valides Analyseinstrumentarium und eine Grundlage der Kritik hinsichtlich deren Konfrontation mit dem Kolonialismus, der Begegnung des Westens mit nicht-westlichen Kulturen. TaylorQs contribution to the definition of Enlightenment, the twin of secularization, is initially a historical one: the liberal values of the Enlightenment are reconstructed in their origins and historical development. On the one hand, the interrelatedness of the disembedded („buffered“) self and the „modern moral order“ emerges, which still applies to the majority in the Western world and is unquestionably accepted; the one is indispensably given with the other. On the other hand, Taylor lays out the implicit presuppositions of thought, the „background images“ and epistemic axioms, which were hidden from the self-image of the Enlightenment thinkers. By outlining the historically determined Qreference systemQ of the Enlightenment (and secularization), Taylor sharpens the eye for its limits and deficits. Furthermore, his conceptualization provides a clear view of what diversity and pluralism should mean in concrete terms, namely an understanding beyond the modes of constitution of the disembedded, modern self. His QgenealogyQ of the values of the Enlightenment thus provides a valid analytical tool and a basis for criticism regarding their confrontation with colonialism, the encounter of the West with non-Western cultures. Prof. i.R. Dr. Monika Fick, Wittelsbacher Straße 3, D-97974 Würzburg, E-Mail: [email protected]

Daniel Fulda Eine Aufklärungsgeschichte für die Berliner Republik? Steffen Martus: Das deutsche 18. Jahrhundert

I. Aufklärungsstudien als gesellschaftliche Orientierung Dass die Beschäftigung mit Vergangenem sich stets in einer Gegenwart vollzieht und von ihr beeinflusst wird, so wie sie durch Veröffentlichung auf die eigene Gegenwart wirken soll, gehört zur konstitutiven Dialektik jeglichen historischen Interesses. Handelt es sich bei der erforschten und dargestellten Geschichte um die Aufklärung, so scheint diese Wechselwirkung noch offensichtlicher als bei anderen historischen Phänomenen. Denn wer sich mit dieser Reformbewegung des 18. Jahrhunderts beschäftigt, den stellen ihre kritischen Impulse und ihr präzedenzloser Weltgestaltungsanspruch vor die Frage: Wie hältst du es mit Aufklärung? Welche Bedeutung misst du ihr für deine eigene Zeit und Gesellschaft zu? Interessieren wir uns – als Beobachter zweiter Ordnung – für Aufklärungsrezeptionen und die Geschichte der retrospektiven Beschäftigung mit der Aufklärung, liegt es dementsprechend nahe, sich nicht auf die Werklektüre und auf die Analyse intellektueller Dependenzen zu beschränken. Wolfgang Schmale hat in diesem Sinne kürzlich gefordert, die Orientierungsfunktion, die Aufklärungsstudien im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext haben, mit in den Blick zu nehmen.1 Desto leichter fällt dies, je auffälliger die Abhängigkeit auch wissenschaftlicher Aufklärungsstudien von ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist, etwa wenn politische und ideologische Zwangssysteme oder Umbruchszeiten Thema sind.2 Was aber, wenn es um ein Aufklärungsbuch geht, das erst vor wenigen Jahren in der pazifizierten Bundesrepublik Deutschland erschienen ist, wo das Wissenschaftssystem vergleichsweise unabhängig arbeitet? Konkret meine ich Steffen MartusQ großangelegtes „Epochenbild“ (so die selbstgewählte Gattungsbezeichnung) mit dem Titel Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, 1 Vgl. Wolfgang Schmale, Gesellschaftliche Orientierung. Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert), Stuttgart 2021, 18. 2 Vgl. Daniel Fulda (Hg.), Revolution trifft Aufklärungsforschung. 1989/90, DDR-Erbe und die Gründung des hallischen Aufklärungszentrums, Halle 2021.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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das 2015 bei Rowohlt erschienen ist. Hier scheint es schwieriger zu sein, die „gesellschaftliche Orientierung“3 zu erkennen, die in einer bestimmten Beschäftigung mit der Aufklärung nolens volens zum Ausdruck kommt, zumal der Zeitabstand noch klein ist und wir im Jahr 2023 weitgehend in denselben Selbstverständlichkeiten befangen sind wie der Autor, als er sein Buch schrieb. Der vorliegende Beitrag prüft, ob sich die (aktive wie passive) ,gesellschaftliche OrientierungR von MartusQ Buch mit Hilfe des Schlagworts von der ,Berliner RepublikR fassen lässt. Seit Mitte der 1990er Jahre und besonders seit dem 1999 vollzogenen Umzug der Bundesregierung in die alte neue Hauptstadt wird die Bundesrepublik als ,Berliner RepublikR charakterisiert, von links ebenso wie von konservativer Seite, von Jürgen Habermas bis Johannes Gross, wobei sich positive Erwartungen und Befürchtungen auf beiden Seiten mischen.4 Mehr Urbanität, mehr Weltläufigkeit, mehr ostdeutsche Erfahrungen und Perspektiven in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit, so lauten die typischen Erwartungen an die ,Berliner RepublikR, die in Feuilletondebatten geäußert wurden. Dass wichtige Verlage und Zeitschriften ihren Standort nach Berlin verlagerten, schien solche Hoffnungen zu stützen. Mehr Streitpotential bargen die im engeren Sinne politischen Erwartungen bzw. Befürchtungen: mehr nationalstaatliches Selbstbewusstsein, mehr ,RealpolitikR, mehr außenpolitische ,VerantwortungR einschließlich Militäreinsätzen.5 Jenseits der Streitfrage, was sein soll und was nicht, fand die neue Kategorie rasch auch Verwendung in der Geschichtsschreibung, hier meist nüchtern erläutert von den geänderten außenpolitischen Rahmenbedingungen her: Insbesondere die durch den Maastrichter Vertrag und den Euro enger gewordene Europäische Union und deren Osterweiterung stellten signifikant erhöhte Anforderungen an die deutsche Außenpolitik, während es innenpolitisch weit weniger Unterschiede zwischen wiedervereinigtem Deutschland und dem Bonner Teilstaat gebe.6 Ob sich die ,Berliner RepublikR als historiographischer Begriff halten wird, ist offen. Als Schlagwort öffentlicher Debatten hatte sie ihren Höhepunkt bereits um die Jahrtausendwende.7 Und es gibt mittlerweile eine ganze Reihe neuer HerausSchmale, Gesellschaftliche Orientierung (wie Anm. 1), 18 (im Orig. hervorgehoben). Vgl. Jürgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt am Main 1995; Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; Katharina Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990, Berlin, Boston 2014. 5 Vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte B 1 – 2/2001, Berliner Republik. 6 Vgl. Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin 2009, 8 f., 179 – 192. 7 Vgl. Googles Ngram Viewer: https://books.google.com/ngrams/graph?content=Berliner+Republik&year_start=1980&year_end=2019&corpus=de-2019&smoothing=1 (zuletzt besucht am 05. 02. 2023). Die Zweimonatszeitschrift Berliner Republik, die 1999 von eher ,rechtenR 3

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forderungen, auf die der Begriff noch nicht gemünzt war, etwa die seit 2015 manifeste gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland und den russischen Krieg gegen die Ukraine, aber auch längerfristige und noch weiträumigere Prozesse wie die Globalisierung, den Klimawandel, die Konkurrenz der Europäer und NordAmerikaner mit China sowie postkoloniale Infragestellungen des westlichen Selbstverständnisses. Letzteres lässt sich gut ablesen am Wandel, den der Symbolwert des Berliner Stadtschlosses, eines ehemaligen Prestigeprojekts der ,Berliner RepublikR, erlebt hat. Es könnte daher sein, dass uns heute bereits ein historischer Abstand von der ,Berliner RepublikR trennt. Den Gebrauch des Begriffs zu Analysezwecken würde dies freilich begünstigen. Aber was legt es nahe, die Aufklärungsstudie von Steffen Martus in diesen Horizont zu rücken? Dass der Autor seinen Lehrstuhl an der Berliner Humboldt-Universität hat (seit 2010) wie zuvor schon eine Juniorprofessur (seit 2002), ist kein hinreichender Grund, ebenso wenig dass ihn seine akademische Laufbahn zu eben der Zeit aus der westdeutschen Provinz in die Hauptstadt führte, als die Diskussion über die ,Berliner RepublikR begann. Als bestens passendes Signal darf hingegen verstanden werden, dass Martus seine Aufklärungsgeschichte mit einem langen Berlin-Kapitel über den Kurfürsten Friedrich III./König Friedrich I. beginnt, und dies sogar gegen die Chronologie der erzählten Ereignisse. Auch die Bebilderung des Buches stellt gleich zu Anfang die politischen Ambitionen und die Selbstinszenierungen des Berliner Herrschers heraus; die ersten drei Abbildungen zeigen die Königskrönung in Königsberg (31), das von Friedrich prächtig ausgebaute Berliner Schloss (40) sowie den Zeremonienmeister des Hofes und Dichter Johann von Besser (57).8 Ob es weitere Gesichtspunkte in MartusQ Buch gibt und ggf. solche, die typisch sind für die ,Berliner RepublikR, werden wir im Verlauf der Analyse sehen. MartusQ Aufklärungsbuch richtet sich nicht primär an eine akademische Leserschaft und die gelehrten Kollegen, sondern an ein breiteres historisch und intellektuell interessiertes Publikum. Es basiert zwar zu erheblichen Teilen auf eigener Forschung und darüber hinaus auf extensiver Rezeption und intensiver Verarbeitung sowohl klassischer als auch aktueller Forschungen anderer und dokumentiert dies auf gut 120 Seiten voller Anmerkungen und Literaturangaben. Die verlegerische Präsentation (durch einen Publikumsverlag) und der Stil des Buches zielen vor allem jedoch auf Leser, die nicht von Forschungsfragen herkommen, sondern Bundestagsabgeordneten der SPD gegründet worden war, hat ihr Erscheinen nach der Bundestagswahl 2017 eingestellt. 8 Die Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015. Das zunächst folgende Referat stützt sich auf meine Besprechung in: Das achtzehnte Jahrhundert 41 (2017), 102 – 110. Ausführlicher als hier gehe ich dort auf die Stoffdisposition, den Stil sowie MartusQ Gebrauch des Begriffs ,AufklärungR ein.

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ein Orientierungsbedürfnis mitbringen, das in gesellschaftlicher Zeitgenossenschaft wurzelt. Diese Adressierung scheint trotz des immensen Umfangs von fast 900 Seiten Haupttext gut funktioniert zu haben: Gleich im Erscheinungsjahr folgte eine zweite Auflage, später zudem eine Taschenbuchausgabe. Im Folgenden versuche ich, beiden Seiten gerecht zu werden, der binnenwissenschaftlichen und der gesellschaftssymptomatischen. Zunächst interessiert mich, welche neuen Akzente Martus in der Aufklärungsforschung setzt (Abschnitte II. und III.). Anschließend frage ich, welche gesellschaftlichen Trends und Stimmungen er damit aufnimmt (IV. und V.).

II. Eine Geschichte der Aufklärung als systemtheoretisch inspirierte Interaktionsanalyse – zur Form der dargestellten Geschichte Höchst ungewöhnlich ist der Anfang, den Martus für seine Aufklärungsgeschichte wählt, denn er beginnt mit Friedrich III., dem brandenburgischen Kurfürsten, der sich am 18. Januar 1701 zum König in Preußen krönte und fortan Friedrich I. nannte. Mit der Erzählung der diplomatisch geschickten Vorbereitung, der aufwendigen zeremoniellen Ausgestaltung sowie der plurimedialen Bekanntmachung dieser Rangerhöhung setzt sein Buch ein, nach einer kurzen Einleitung. Den Krönungstermin wenige Tage nach dem Beginn des neuen Jahrhunderts nutzten, wie Martus erläutert, bereits die Propagandisten des neuen Königs zur Verheißung „eines neuen Zeitalters“ (25). Aber auch der Historiograph erkennt hier Zukunftsweisendes: den Willen zur Machtsteigerung, ein planvolles Aufbrechen traditionaler Ordnungen, die Bereitschaft zur Innovation, das Werben um Zustimmung in einer durch die Verbreitung von Druckschriften konstituierten Öffentlichkeit. In Intention und Durchsetzungsformen eines fürstlichen Machtstrebens findet Martus manches, was charakteristisch für die Aufklärung als Epoche einer in die Moderne führenden Dynamisierung der Gesellschaft sei. Indem er sein „Epochenbild“ mit Friedrich III./I. anfangen lässt, signalisiert Martus seinerseits Innovationswillen – bezogen auf die Aufklärungsforschung. Denn indem er den „Hof als Teil der Aufklärung“ (54), ja als deren initialen Motor begreift, geht er über die seit längerem etablierte Kritik an der alten Assoziation von Aufklärung und Bürgerlichkeit entschieden hinaus.9 Von den Höfen betriebene ,ProjekteR (so der schon um 1700 und heute wieder beliebte Begriff) sind für Martus paradigmatisch für die Funktionsweise der Aufklärung, nämlich für das hochproblematische Verhältnis von Verbesserungs-Intention und Ausführung. Was die Höfe unternahmen, um ihre Macht zu steigern, weise eben die Ambiva9 Vgl. aktuell dazu Thomas Biskup u. a. (Hg.), Enlightenment at Court. Patrons, Philosophes, and Reformers in Eighteenth-Century Europe, Oxford 2022.

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lenz auf, der Steuerungsversuche in der modernen Gesellschaft generell unterliegen: Die Obrigkeit versuchte, wie Martus schreibt, „mit Gesetzen, Regeln und Vorschriften direkt“ auf die „Staatsbürger“ einzuwirken, war damit aber nur begrenzt erfolgreich, so dass die mehr oder weniger freiwillige Beteiligung der Bürger hinzukommen musste Die aber musste von den Autoritäten lediglich angeregt werden (ebd.). Die von der Aufklärung begründete Moderne ist demnach das Zeitalter der scheinbar autonomen, deshalb aber umso wirkungsvoller vergesellschaftenden Selbstregulierung, so der teils von Michel Foucault, teils von dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann herkommende Grundgedanke: Die Aufklärung fragte immer wieder, wie sich vorauseilender Gehorsam, grundsätzliches Einverständnis mit den Zielen der Regierung, prinzipielle Bereitschaft zur Befolgung bestimmter Normen, Werte, Regeln und Gesetze erwirken lasse. Sie nannte dieses Einverständnis Tugend oder Moral – oder eben den Mut, seine Vernunft selbst zu gebrauchen. Auch wenn der Aufklärung die Theatralität der höfischen Inszenierung suspekt war, teilte sie letztlich den Problembezug mit der Staatsmacht, die Herrschaft abstrakter ausüben wollte, die eher mit Machtunterstellung als direkter Herrschaftsausübung operieren mochte, die eher auf Selbst- als auf Fremdverpflichtung setzte. (69)

Programmatisch ist MartusQ ungewöhnlicher Ansatz nicht nur in dieser Hinsicht. Auch sein Interesse für die konkreten Akteure (zunächst den Kurfürsten, dessen Berater und Diplomaten sowie den Zeremonienmeister und, als Kontrahenten, den Kaiser) sowie für das Hin und Her der Absichten und Argumente unterscheidet sich deutlich von den üblichen Weisen der Epochendarstellung, egal welchen Fachs. Weder begreift er Aufklärung als Ausbildung und immer weitere Durchsetzung charakteristischer „Grundideen“ (22, nach Norbert Hinske10), wie es in der Philosophie- und Ideengeschichte nach wie vor üblich ist,11 noch gibt er ein Epochenbild in der Weise, wie Historiker es heute meist tun, also in einer Mischung aus depersonalisierter Strukturbeschreibung und Ereignisgeschichte.12 Am deutlichsten setzt er sich von den Darstellungskonventionen seines eigenen Fachs – der Germanistik – ab, denn literarische Gattungen oder Stilrichtungen spielen für die Ordnung des Stoffs nahezu keine Rolle. Die Perspektive seiner Erzählung ist vorwiegend die der historischen Akteure, bis hin zu Passagen in erlebter Rede. Der Erzähler nimmt dann die Perspektive einer Person ein, über die er schreibt, so versetzt sich Martus z. B. in den jungen Christian Thomasius hinein (104). Den Leser nehmen solche Erzählverfahren gewissermaßen mit ins 10 Vgl. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Karlfried Gründer, Nathan Rotenstreich (Hg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, Heidelberg 1990, 67 – 100. 11 Als jüngeres Beispiel aus renommierter Feder vgl. John Robertson, The Enlightenment. AVery Short Introduction, Oxford 2015. 12 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000; Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009.

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18. Jahrhundert, in Kabinette, Hörsäle oder Labore, ebenso auf Schlachtfelder oder den Platz einer öffentlichen Hinrichtung sowie zu Schauplätzen, die als Literatur berühmt geworden sind wie der von Klopstock besungene Zürcher See. Das vor zwei bis drei Jahrhunderten Gewesene scheint sich gerade erst zu ereignen. Diese Darstellungsweise ist eine heute ungewöhnliche Antwort auf die Frage, was Geschichte eigentlich sei. Bei Martus ist sie das Produkt von in vielen konkreten Situationen, Konstellationen und Kommunikationen Geschehendem, einem Hier und Jetzt mit personalen Akteuren. In der Regel erst nachträglich und bloß intermittierend wählt er die retrospektive Übersicht mit ihren summarischen Formulierungen und begrifflichen Abstraktionen, die in der wissenschaftlichen Historiographie (wieder: gleich welchen Fachs) seit geraumer Zeit dominiert. In solchen Rück- und Überblicken zieht er weitreichende Schlüsse, im Anschluss an die Erzählung von der Königsberger Königskrönung und deren propagandistischer Begleitung etwa den, dass die Schaffung einer mediengestützten Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert als prinzipielle Umstellung in der Organisation von Gesellschaft zu verstehen sei: von der Kommunikation unter Anwesenden13 hin zu einer gesellschaftlichen Koordination von vermeintlich individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen durch die lesende Teilhabe an Diskursen, also auf Distanzkommunikation (53 f.). Indem Martus seine systemtheoretisch inspirierte Epochendeutung durch eine Darstellung plausibilisiert, die nicht von vornherein von den Subjekten absieht, sondern sich auf deren Perspektive einlässt, führt er an sich auseinanderstrebende Perspektiven zusammen. Sein Verfahren zielt offensichtlich darauf, eine außergewöhnlich große Amplitude zwischen den Ebenen der rekonstruierten Ereigniszusammenhänge und ihrer historischen Signifikanz zu erzeugen und die anschauliche Erzählung von Handlungszusammenhängen mit maximalen Abstraktionen zu verbinden. Nicht zuletzt diese Amplitude macht die Lektüre reizvoll.

III. Aufklärung als „Entdeckung der Unmündigkeit“ (17) – zum Gehalt Den ersten von vier großen Teilen des Buches bildet das auf Friedrich III./I. und den Berliner Hof zentrierte erste Kapitel zusammen mit zwei nachfolgenden Kapiteln über die 1694 neugegründete Universität Halle sowie den in Hamburg ,erfundenenR Patriotismus. Durchgängig ist es MartusQ Anliegen, die Reformen oder neuen „Kulturmuster“ (885) der Aufklärung aus dem Zusammenwirken einzelner Neuerer mit den Obrigkeiten zu verstehen. Das gilt für das monarchische Bran13 Vgl. Rudolf Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014.

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denburg-Preußen ebenso wie für das oligarchisch-republikanische Hamburg (228). Die von Christian Thomasius betriebene Traditionskritik und Praxisorientierung der neuen Universität in Halle stellt er nicht allein als mit den Machtsteigerungsintentionen der Fürsten kompatibel, sondern als erst im „Bündnis“ (98) mit ihnen möglich dar. Von daher hat es Sinn, ja verbindet sich eine These damit, dass das Berlin-Kapitel vor dem Halle-Kapitel steht – und ein Fürst damit an die Spitze dieses Aufklärungsbuches rückt –, obwohl die Universitätsgründung und ebenso die pietistische Glaubensreform August Hermann Franckes (gleichfalls in Halle) chronologisch vorangingen. Die Pointe des Hamburg-Kapitels wiederum liegt in der Deutung des neuen, dem lesenden Bürger angebotenen Patriotismus als ein Weltbild, mit dem „man sich zufrieden in der Unruhe einrichten“ kann (222), nämlich in der ehedem theologisch beklagten, jetzt als Produktivität wahrgenommenen Unruhe des Menschen und des Weltgetriebes. Ebenso entspricht es MartusQ Epochendeutung, dass er den Patriotismus als eine Strategie zur Befriedung konfessioneller und sozialer Konflikte interpretiert, die nicht nur Hamburg um 1700 erschütterten, soll heißen als Befriedung durch die Integration „unterschiedlicher Positionen, Interessen und Meinungen“ in Druckerzeugnisse wie die aus England übernommenen Moralischen Wochenschriften, die vorführten, dass Pluralität „normal“ sei (235). Aufklärung als Erzeugung von gesellschaftlichem Einverständnis – diese Leitthese von MartusQ Buch wird hier besonders gut nachvollziehbar. Machen wir uns ganz klar, wie ungewöhnlich und provokant die Deutung der Aufklärung als, zugespitzt formuliert, „vorauseilender Gehorsam“ (69) ist. Seit den 1960er Jahren lautet das in den liberalen Demokratien des Westens übliche Aufklärungsverständnis so: „[T]he Enlightenment had provided the intellectual foundation for the liberal democracies“.14 Das gilt insbesondere für big pictureGesamtdarstellungen (wie MartusQ Buch eine ist), während die Spezialforschung seit den 1980er Jahren vielfach herausgearbeitet hat, dass die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen der Aufklärer kaum je auf gleiche Rechte für alle und die politische Partizipation aller zielten.15 Gegen die „klassische Modernisie14 Annelien de Dijn, The Politics of Enlightenment: From Peter Gay to Jonathan Israel, in: The Historical Journal 55 (2012), 785 – 805, hier 788. 15 Wie de Dijn an Robert Darnton und Roy Porter zeigt (ebd., 793 – 797), sind es teilweise sogar die revisionistischen Forscher selbst, die in Publikationen für eine größere Leserschaft zu einer harmonisierenden Aufklärungsdeutung zurückkehrten, nachdem sie sie in fachwissenschaftlichen Studien angegriffen hatten. Auch Lynn Hunt und Margaret Jacob, Enlightenment Studies, in: Alan Charles Kors (Hg.), Encyclopedia of the Enlightenment, Oxford 2003, Bd. 1, 418 – 480, hier 430 resümieren, dass die foucauldianische, feministische oder post-koloniale Kritik letztlich den Effekt hatte, das Ansehen der Aufklärung als Fundament der westlichen, freiheitlichen Moderne zu festigen. Zwei Jahrzehnte später sind die Deutungskämpfe wieder voll entbrannt, vor allem die feministisch und post-kolonial inspirierten, und ihr Ausgang ist offen.

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rungserzählung“ und ihren präsentistischen Ansatz (403) wendet sich Martus sowohl prinzipiell als auch inhaltlich, nämlich mit seiner Leitperspektive, wie sich die historische Aufklärung mit der Staatsmacht verbündete und wie sie die Grenzen autonomer menschlicher Welterkenntnis und -gestaltung, an die sie stieß, nicht nur reflektierte, sondern teilweise sogar begrüßte. Dabei stellt er dann zwar doch wieder Ähnlichkeiten zwischen 18. und beginnendem 21. Jahrhundert fest – aber eben weniger als Affirmation des Freiheitspathos der Moderne denn als Respekt vor dessen Begrenzung. „1680 – 1726: Die Anfänge der Aufklärung“ – so ist der erste Teil überschrieben – stellt mit den drei Zentralorten Berlin, Halle und Hamburg den darstellungsdramaturgisch klarsten Teil dar. Danach wird die Gliederung und gruppierende Präsentation des sehr vielfältigen Materials schwieriger. Der zweite Teil des Buches trägt die Überschrift „1721 – 1740: Aufklärung ohne Grenzen“, was vermutlich auf die Ausweitung des ,AufklärungsprojektsR auf immer mehr Bereiche anspielt. Behandelt werden vor allem die Bestreitung des theologischen Weltdeutungsanspruchs durch die WolffQsche Philosophie, die GottschedQsche Literaturund Theaterreform, das wachsende Interesse an der Naturforschung, teilweise auf experimenteller Grundlage, die Beteiligungschancen von Frauen – die Martus als anfänglich keineswegs so gering taxiert, wie es sich dann aus der Polarisierung von Geschlechtscharakteren mit einem vernünftigen, aktiven Mann und einer empfindsamen, passiven Frau ergab – sowie die Wertheimer Bibelübersetzung als Beispiel für den Zugriff des Rationalismus auf die wichtigste traditionelle Grundlage der europäischen Weltdeutung; die Auseinandersetzung um sie habe, da sie auf dem Buchmarkt und in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, die Unmöglichkeit erwiesen, alte Gewissheiten autoritativ ,von obenR aufrecht zu erhalten (423). Den nicht sehr starken, aber immer wieder aufgenommenen roten Faden bildet die singuläre Überzeugungskraft, welche die neuartig gründliche Philosophie Christian Wolffs im zweiten Jahrhundertviertel gehabt habe. Enden lässt Martus den zweiten Teil mit einer Blickwendung auf den preußischen Thronfolger. Friedrich II. ist dann auch die wichtigste, obschon keineswegs die alles beherrschende Figur des dritten Teils „1740 – 1763: Aufklärung im Widerstreit“. Bereits die Jahresdaten mit seinem Regierungsantritt bzw. mit dem Überfall auf Schlesien einerseits, dem Ende des Siebenjährigen Kriegs andererseits weisen auf ihn hin. Das Gegengewicht zu diesem zentrierenden Moment bildet der „Widerstreit“ gemäß MartusQ Verständnis der Aufklärung als zunehmende Einsicht in die Unaufhebbarkeit von Pluralität. Im genannten Zeitraum verlor die wolffische Philosophie ihre Vorherrschaft. Hinzu kam eine neue Frucht des Wolffianismus: die von Alexander Gottlieb Baumgarten inaugurierte Ästhetik, die Empfindungen und andere undeutliche Eindrücke zu schätzen anfing. Damit wurde nun das ins Auge gefasst und sogar kultiviert, was bisher als Quelle zu überwindender Widerstände gegen die Einsichten der Vernunft galt. Gerade auf diese

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Widerstände, auf ihre Berücksichtigung, ihre Einhegung oder sogar Nutzung kommt es Martus an. Bereits in der Einleitung schreibt er: Die Bedeutung der Aufklärung für uns liegt daher weniger im Aufruf zur rationalen Ermächtigung als vielmehr darin, uns unsere Unmündigkeit einzugestehen und mit ihr produktiv umzugehen. (19)

Der Bestreitung theologischer und anderer traditionaler Weltdeutungsansprüche durch eine Philosophie, die alles der Prüfung durch die Vernunft unterwirft, widmet er zwar die gehörige Aufmerksamkeit. Den eigentlich interessanten Punkt sieht er jedoch dort erreicht, wo die von Wolff und seinen Anhängern postulierte Souveränität der Vernunft philosophie-intern in Frage gestellt wird, nämlich durch die Thematisierung der ,niederen SeelenvermögenR und der Aisthesis. „Die Sinnlichkeit sollte […] die Probleme lösen, die deutliche und klare Argumente nicht nur nicht bewältigt, sondern sogar verschärft hatten“ (522). Nun sei es nicht mehr um Kontrolle, sondern um Kultivierung des Prärationalen gegangen, eine Kultivierung, der nicht zuletzt Poesie und Kunst dienen sollten. Martus erkennt darin eine epochale Umstellung, nämlich auf indirekte Steuerung durch die Weckung von Aktivität ,von untenR. Die Poetologie der mittleren Aufklärung habe diese Umstellung dadurch vollzogen, dass man sich vom Prinzip der Moralvermittlung abkehrte zugunsten der Erregung von Leidenschaften beim Rezipienten (518). Auch die Leitbilder der Vergesellschaftung änderten sich; man könnte mit einem anachronistischen Begriff sagen: Sie liberalisierten sich. Fast glaubt man in dieser Deutung die auf das kulturelle Selbstverständnis abhebende Gegenwartssoziologie gespiegelt bzw. vorweggenommen, die Gerhard Schulze 1992 in das vielrezipierte Schlagwort ,ErlebnisgesellschaftR fasste und Andreas Reckwitz in seinem 2017 erschienenen Buch Die Gesellschaft der Singularitäten formulierte:16 „Die anakreontische Aufklärung zielte nicht wie der Wolffianismus auf Lehrgemeinschaften oder wie der Pietismus auf Glaubensgemeinschaften, sondern auf die Erlebnisgemeinschaft von Menschen, die sich aufeinander einstimmten, die ihre Zugehörigkeit durch ein bestimmtes Taktgefühl und einen Sound des Lebens definierten“ (531). In der Herausstellung der Ästhetik als neuer Disziplin und Denkweise steckt eine weitere starke These nach der Charakterisierung der Frühaufklärung als obrigkeitskonforme Mobilisierung von Mitwirkungsbereitschaft. Zwar sind die ,Rehabilitation der SinnlichkeitR (Panajotis Kondylis)17 und der damit zusammenhängende Geltungsgewinn der Ästhetik und der Poesie seit längerem Gemeingut der 16 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 17 Zu KondylisQ Aufklärungsbuch von 1981 vgl. im vorliegenden Heft den Beitrag von Matthias Löwe.

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Forschung. Weniger geläufig ist jedoch, dass die der Ratio gezogene Geltungsbegrenzung zugunsten des Gefühls und seiner Medien (wie eben der Poesie) auch der Religion zugute kam. Wie Martus zeigt, artikulierten die Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz überwiegend großes Vertrauen in die bestmögliche Einrichtung der Welt durch Gott. „Auf der Gewinnerseite der Aufklärung steht […] eine empfindsame Moral aus dem Geist des Neuen Testaments, die die Welt mit guten Augen, nachsichtig, herzlich und ohne engstirnige Ängstlichkeit betrachtet“ (572). Der vierte und letzte Teil schließlich trägt die Überschrift „1763 – 1784: Das Ende eines ,ZeitaltersR?“ Positiv gesprochen, wählt Martus nicht die leichte Lösung, ein äußeres Ereignis wie die Französische Revolution oder die daraus resultierende Aufklärungsfurcht vieler deutscher Obrigkeiten für das Ende der Aufklärung verantwortlich zu machen. Vielmehr sucht er nach immanenten Widersprüchen, die sich als unlösbar erwiesen und die Aufklärung als Intention und Bewegung von innen heraus zerstörten. Das Ende der Aufklärung sieht er bereits vor 1789 erreicht, nämlich durch die Kritik der reinen Vernunft sowie Kants Aufsätze „Was heißt Aufklärung?“ und „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, die beide 1784 erschienen und von Martus als Frontalangriff gegen die herrschenden vermittlungsorientierten Denkweisen der Aufklärung interpretiert werden. Verglichen mit anderen Periodisierungen der Aufklärung ist das ein frühes Enddatum. Den seit den 1960er Jahren dominanten Trend der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung, Weimarer Klassik und Jenaer Frühromantik in die Großepoche Aufklärung einzubeziehen,18 macht Martus nicht mit. Folgen kann man seiner These, dass die kantische Trennung von Erfahrung und reiner Vernunft dem spätaufklärerischen Leitinteresse am commercium mentis et corporis ebenso den Boden entzogen habe (836) wie den philosophisch-anthropologischen Fortschrittsgeschichten Herders u. a. Trotzdem erscheint es gewagt, einem einzelnen Autor den Todesstoß für eine ganze Epoche zuzuschreiben, gerade unter der Voraussetzung, die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts sei ein Effekt multipolarer Kommunikationen. Martus selbst konzediert, dass es einige Zeit dauerte, bis Kant Gefolgschaft fand, und dann auch nur in einem Teil der Öffentlichkeit. Dass die Aufklärung von „zwei Selbstkrönungen in Königsberg“ gerahmt sei (885), wie es im Epilog mit wohl augenzwinkernder Engführung des brandenburgischen Kurfürsten/preußischen Königs auf der einen und Kants auf der anderen Seite heißt, ist daher ein AperÅu, das auf die initialen wie finalen Überspitzungen dieses „Epochenbildes“ weist. 18 Vgl. Jörg Schönert, Epochenkonzepte in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung zum 18. Jahrhundert, in: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam, hg. von Jan Standke unter Mitwirkung von Holger Dainat, Heidelberg 2014, 249 – 271, hier 268 f.

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IV. Eine Aufklärungsgeschichte für die Berliner Republik? Seit sehr langer Zeit hat kein einzelner Germanist eine so umfassende Aufklärungsgeschichte mehr vorgelegt. In ihrer transdisziplinären Anlage ist die von Martus verfasste sogar fast präzedenzlos. Innerhalb der deutschen Literaturgeschichtsschreibung finde ich einen ähnlich ambitionierten Vorläufer lediglich in der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts von Hermann Hettner, deren auf Deutschland bezogene Bände 1862 – 1870 erschienen (mit einem sogar doppelt so großen Gesamtumfang, weil Hettner auch den Sturm und Drang und die Weimarer Klassik behandelt). Qualitativ ist das ebenfalls kein kleiner Maßstab: Von „Hettners unübertroffenem Werk“ spricht Peter Pütz noch 1991.19 Ähnlich sind bei Hettner und Martus nicht nur die Adressierung an ein breiteres Publikum, die starke Kontextualisierung und das Hinausgreifen über die Literatur auf andere Künste und die Wissenschaften, sondern auch die prominente und zentrale Positionierung Friedrichs des Großen, die Gliederung nach Daten der preußischen Politik, und dass Kant die Rolle des alles Ändernden zugemessen wird. Natürlich ist die interpretative Rahmung bei dem (Jung-)Hegelianer Hettner eine völlig andere.20 Aber auch in dieser Hinsicht lassen sich Parallelen ziehen, bieten doch sowohl Hegel als auch Luhmann welt- und geschichtsbildliche Rahmenannahmen von maximaler Reichweite. So sehr mir eine Spitzenleistung der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts – die damals international führend war – als passender Vergleichsmaßstab für MartusQ großen Wurf erscheint, so sehr ist seine Zeitgenossenschaft im frühen 21. Jahrhundert zu betonen: Zu des Buches besonderen – allerdings nicht gefahrlosen – Qualitäten gehört, dass es ein Bild der Aufklärung für unsere Zeit und Gesellschaft zeichnet. Wenn wir lesen: „Wegweisend für die Aufklärung waren nicht die (fehlenden) Antworten, sondern das dauernde, nagende Fragen und die Ungewissheit in einem aus den Fugen geratenen Kosmos“ (362) und einerseits von der „Projektmentalität“ der Aufklärung (68) sowie andererseits von deren zunehmender Einsicht in die Grenzen obrigkeitlicher Steuerung die Rede ist: wie sollte das einem Bundesrepublikaner des frühen 21. Jahrhunderts nicht vertraut vorkommen? Hat doch sogar die damalige Bundeskanzlerin beteuert, und zwar auf dem Höhepunkt ihres Ansehens, kein Einzelner könne „die Dinge in Deutschland, in Europa und in der Welt mehr oder weniger zum Guten wenden, 19 Peter Pütz, Die deutsche Aufklärung, 4., überarb. u. erw. Auflage, Darmstadt 1991 (Erträge der Forschung, 81). Vgl. das Hettner-Referat bei Schmale, Gesellschaftliche Orientierung (wie Anm. 1), 167 – 182. 20 Vgl. Michael Ansel, Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik, Tübingen 2003, 156 – 172.

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schon gar nicht ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“.21 Das war 2016, von der Chronologie her könnte man also fast vermuten, Angela Merkel habe MartusQ Buch gelesen. Jedenfalls haben Politik und Gesellschaft seit einigen Jahren wieder heftig damit zu kämpfen, dass es, wie Martus eine Einsicht der Aufklärer seit spätestens der Mitte des 18. Jahrhunderts beschreibt, „mit guten Argumenten […] nicht getan“ ist (887), weil es primär Empfindungen und ,dunkleR Voreinstellungen sind, die das menschliche Verhalten steuern. Als MartusQ Buch erschien, begann es mit Ängsten und Aggressionen gegen Flüchtlinge. Inzwischen sind Impfängste und neue Verschwörungstheorien hinzugekommen und haben sich gesellschaftlich noch weiter verbreitet. Auch wo die Frage debattiert wird, wie dem russischen Angriff auf die Ukraine zu begegnen ist, spielen Emotionen und alte Gewohnheiten offenkundig eine große Rolle. Kurzum: Die für manche Aufklärungsfreunde provozierende Aufklärungsdeutung von Martus hat sich erschreckend schnell als höchst zeitgemäß erwiesen. Übrigens auch mit ihrer vorderhand irritierenden Deutung von Aufklärung als Erzeugung von Zustimmung zu obrigkeitlicher Politik: Die sich selbst als aufgeklärt begreifenden Teile der Bevölkerung standen und stehen am treuesten auf der Regierungslinie – sogar über den Regierungswechsel von 2021 hinweg, was zeigt, dass nicht Parteiloyalität der Grund ist –, in Flüchtlingsfragen ebenso wie in der Coronakrise und nun auch der Ukraine- bzw. Russlandpolitik. Ein weiteres Thema, das Martus in einer gegen geläufige Vorstellungen von der Aufklärung verstoßenden Weise behandelt, ist der Krieg. Dem Siebenjährigen Krieg und der Unterstützung, die vor allem Friedrich II. durch „Autoren an der Medienfront“ (653) erfuhr, ist ein langes Kapitel von über 50 Seiten gewidmet. Den Krieg weist Martus als Paradefall für die literarische Mobilisierung der Untertanen im Interesse der fürstlichen Politik aus und fragt provokativ – aber nicht affirmativ –, ob der Siebenjährige „vielleicht nicht nur ein Krieg zu Zeiten der Aufklärung, sondern auch ein Krieg der Aufklärung oder sogar ein aufklärerischer Krieg“ gewesen sei (637). Nahe liegt es, auch diese Nicht-Ausblendung des Krieges als vom atmosphärischen Wandel der ,Berliner RepublikR getragen zu verstehen, wenngleich uns die wirkliche „Zeitenwende“ auf diesem Gebiet erst am 27. Februar 2022 angekündigt wurde.22 Versuchen wir, eine erste Bilanz zu ziehen: Hat Martus eine Aufklärungsgeschichte für die Berliner Republik im eingangs erläuterten Sinne geschrieben? 21 Rede Angela Merkels auf dem CDU-Parteitag, 6.–7. 12. 2016, https://www.cdu.de/system/tdf/ media/dokumente/bericht-cdu-vorsitzende-merkel-2016.pdf ?file=1 (zuletzt abgerufen am 05. 02. 2023). 22 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2131062/78d39dda6647d7f835bbe76713d30c31/bundeskanzler-olaf-scholz-reden-zur-zeitenwende-download-bpa-data.pdf ?download=1 (zuletzt abgerufen am 24. 02. 2023).

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Ja und nein, möchte ich antworten, ohne der Frage damit ausweichen zu wollen. Denn seine Aufklärungsinterpretation setzt in entscheidenden Punkten ambivalente Akzente, indem sie einerseits die Machtsteigerungsambitionen des sich modernisierenden Fürstenstaates, dem die Aufklärer entgegenarbeiteten, und andererseits die in der späteren Aufklärung sich verbreitende Einsicht in die Grenzen solcher Steuerungsversuche betont. In dieser Ambivalenz ist MartusQ Aufklärungsbild komplexer als die Erwartungen oder Befürchtungen, die mit dem Staats- und Gesellschaftsbild der ,Berliner RepublikR-Debatte verbunden waren. Indem sie die Grenzen der Aufklärung und die entsprechenden Einsichten der Aufklärer herausarbeitet, entspricht seine Aufklärungsdeutung vielmehr den Erfahrungen der Regierungszeit Angela Merkels und (bisher) ihres Nachfolgers. Was zugleich heißt, dass die ,gesellschaftliche OrientierungR, die das Buch impliziert, nicht schon veraltet ist, weil sie an eine mittlerweile vergangene Phase der wiedervereinigten Bundesrepublik gebunden wäre (wie gesagt, ist von der ,Berliner RepublikR seit einigen Jahren viel weniger die Rede als um 2000). Zwei weitere Punkte seien angesprochen, die ebenfalls auf die ,Berliner RepublikR als realen und ideellen Entstehungsort des Buches weisen. Der problematischere ist eine übermäßige ,Berlin-OrientierungR im (kultur-)geographischen Sinne. Martus beschränkt sich fast vollständig auf die norddeutsche, die sächsische und die Zürcher Aufklärung und damit auf protestantische Gegenden. Von einer katholischen Aufklärung ist lediglich in zwei Absätzen (602), von einer österreichischen oder bayerischen Aufklärung ist nirgends die Rede. Bezeichnend ist die Anlage des wichtigen Kapitels zum Siebenjährigen Krieg (632 – 686). Die strategischen Überlegungen Friedrichs II. und das patriotische Potential seiner Feldzüge dominieren dort die Perspektive; auf Wien fallen nur kurze kontrastierende Blicke;23 andere Reichsstände spielen gar keine Rolle. Die von einem Berliner Germanisten verfasste Aufklärungsgeschichte gerät hier in einen unguten Borussozentrismus. Auch die Entscheidung, die Geschichte der deutschen Aufklärung mit dem Berliner Kurfürsten zu beginnen, kann berlinozentrisch wirken, obwohl damit, wie erläutert, eine These verbunden ist. Die Konzentration des Buches auf die deutsche Aufklärung ist dagegen fachbedingt und stellt keinen Beleg für nationale Selbstbezogenheit dar, wie sie der ,Berliner RepublikR von manchen Kritikern zugeschrieben wurde. Martus wirft reichlich Seitenblicke auf die Einflüsse, die vor allem französische, britische 23 Dazu vgl. jetzt Norbert Christian Wolf, Glanz und Elend der Aufklärung in Wien. Voraussetzungen – Institutionen – Texte, Wien, Köln 2023. Auch Wolf betont – mit Blick auf das josephinische Wien – das Bündnis zwischen Schriftstellern und Obrigkeit und formuliert, mit Foucault, noch schärfer als Martus: „Aus dieser alternativen Perspektive betrachtet, erscheint ,AufklärungR nicht als Vehikel individueller Emanzipation im Sinne Kants, sondern als Machttechnik, die es dem sich modernisierenden Staat erlaubt, seine Bevölkerung zu disziplinieren und einer rationellen Verwaltung zuzuführen“ (45).

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und niederländische, in geringerem Maße auch italienische Philosophen, Literaten, Juristen oder Naturwissenschaftler ausgeübt haben. Freilich ließe sich die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts weit über ,SeitenblickeR hinaus als beständige Auseinandersetzung mit Herausforderungen und Anregungen durch Fremdsprachiges konzipieren. In der Germanistik ist dergleichen noch nicht unternommen worden.24 Dies wäre ein anderer Bruch mit den Auffassungs- und Darstellungskonventionen des Fachs, nicht weniger weitgehend als MartusQ Verzicht auf eine Gliederung nach Gattungen oder Autoren. V. Jenseits der ,deutschen MisereR Der zweite Punkt ist MartusQ Blick auf die deutsche Geschichte. Als die Rede von der ,Berliner RepublikR aufkam, war damit häufig eine geschichtspolitische Stoßrichtung verbunden, sei es als Befürwortung eines ,normalisiertenR Nationalbewusstseins, sei es als Warnung davor. Das zielte auf die geschichtskulturelle Selbstverständigung der Deutschen und besonders den künftigen Umgang mit der NS-Vergangenheit.25 Drei Jahrzehnte später lässt sich feststellen, dass es zu keiner „Entsorgung“ (Hans-Ulrich Wehler) der verbrecherischen Teile der deutschen Geschichte gekommen ist. Im Gegenteil: Gerade auch diese Teile sind in der Öffentlichkeit der ,Berliner RepublikR26 (und bis heute) und ebenso in der Gegenwartsliteratur präsenter denn je.27 Mit Fragen der Aufklärungsforschung und -deutung haben diese gegenwartsnäheren Streitpunkte der Geschichtspolitik insofern zu tun, als sich in der alten Bundesrepublik eine Aufklärungsinterpretation etabliert hatte, die stark vom Leiden an der sog. ,deutschen MisereR geprägt war. Nach dieser schon bei Heinrich Heine angelegten, von Franz Mehring kanonisierten und von Georg Luk#cs intellektuell geadelten Meistererzählung blieb die Aufklärung in Deutschland schwach und zahm, entsprechend der ökonomischen Zurückgebliebenheit und 24 Ansätze dazu bietet Sandra Richter, Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur, München 2017, etwa mit einem Abschnitt zum Hof Friedrichs II. und zu Thomasius, der so überschrieben ist: „Wie die deutsche Literatur aus der französischen entstand“ (79 – 85). 25 Zumal in HabermasQ Beschäftigung mit der ,Berliner RepublikR bildete dies ein Leitmotiv, vgl. Habermas, 1989 im Schatten von 1945. Zur Normalität einer künftigen Berliner Republik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik (wie Anm. 4), 167 – 188. 26 Vgl. Manuel Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013, 508 – 510. 27 Eine gewisse Änderung hat sich in diesem Punkt allerdings insofern ergeben, als neben dem Holocaust auch andere Genozide die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit finden und der Gegenstand literarischer Gestaltungsversuche werden, vgl. Gerald Manstetten, Erzählen vom Genozid. Deutschsprachige Literatur über die Shoah und andere Völkermorde, Bielefeld 2023. Ob das Holocaust-Gedenken dadurch geschwächt wird, ist umstritten.

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Machtlosigkeit des deutschen Bürgertums sowie der verbreiteten Staats- oder Kirchengebundenheit der deutschen Bildungsschicht.28 Die linke Kritik an der deutschen Geschichte und Gesellschaft proliferierte dieses Narrativ bis in die späte ,Bonner RepublikR. Die 1980 als Rowohlt-Taschenbuch – also im selben Verlag wie MartusQ Buch – erschienene Sozialgeschichte der Deutschen Literatur ist zumal in ihrem abschließenden Überblick über den historischen Wandel der deutschen Aufklärungsgeschichtsschreibung von Gervinus bis zu einer Reihe von Marxisten dadurch geprägt.29 Der einzigartige Aufschwung von Literatur und Philosophie, der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzog, weist im Deutungsrahmen der ,deutschen MisereR nur umso deutlicher auf die politische Folgenlosigkeit der deutschen Aufklärung. In ihrem Radikalitätsmangel gilt sogar die – an sich zu den positiven, progressiven Traditionen zu rechnende – Aufklärung als Teil des zum Nationalsozialismus führenden ,deutschen SonderwegsR. Mit einer nationalgeschichtlichen Selbstkritik dieser Art hat MartusQ Aufklärungsbuch wenig gemein. Hier ist die deutsche Aufklärung weder verspätet noch schwach. Sie hat nicht die historische ,AufgabeR der Emanzipation des – wie es früher topisch hieß – ,aufstrebendenR Bürgertums und scheitert also auch nicht daran, sondern entsteht in einem „Bündnis“ von Obrigkeit und Intellektuellen und wird anhaltend davon getragen. Dass die meisten deutschen Aufklärer gläubige Christen bleiben, ist bei Martus kein Zeichen von Mutlosigkeit oder Inkonsequenz, sondern geht mit einem tiefgreifenden Wandel des Glaubens, nämlich dessen Subjektivierung und Ästhetisierung, einher. Die Revolution schließlich als von der deutschen Aufklärung ,unerreichtes ZielR spielt nicht nur deshalb keine Rolle, weil Martus die Epoche schon einige Jahre vor 1789 enden sieht. Unter systemtheoretischen Prämissen stellt sich eine Revolution vielmehr als die größte Überschätzung der Möglichkeit von gesellschaftlicher Steuerung überhaupt dar. Welche Gefahren damit verbunden seien, formuliert das letzte Zitat des Buches,

28 Vgl. Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 9: Die Lessing-Legende, hg. von Hans Koch, Berlin 1963, 326; Sascha Penshorn, Die deutsche Misere. Geschichte eines Narrativs, Phil. Diss. Aachen 2018, http://publications.rwth-aachen.de/record/784668/files/784668.pdf (zuletzt besucht am 05. 02. 2023); Georg Luk#cs, Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur, Berlin 1947, 15 – 26. „Das Erwachen des Bürgertums inmitten der deutschen Misere, sein Kampf gegen dieses Elend bestimmen das Wesen der deutschen Aufklärung“ (16); „Die Zaghaftigkeit in den Anfängen der deutschen Aufklärung führt sich selbst als ,beschränkter UntertanenverstandR ein – und große Teile der späteren deutschen Literatur werden die spießige Unterwürfigkeit nie los“ (19); „daß ein solches Umschlagen [der Theorie in die Praxis] in Deutschland prinzipiell ausgeschlossen oder wenigstens von vornherein aussichtslos und zum Scheitern verurteilt war, färbt zwangsläufig die ganze Produktion der deutschen Aufklärung“ (21). 29 Vgl. Peter Horn, Epoche in der Literaturgeschichtsschreibung, in: Ralph Rainer Wuthenow (Hg.), Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Reinbek 1980, 333 – 345.

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eine revolutionskritische Bemerkung von Lichtenberg: „Straßenerleuchtung durch angezündete Häuser ist eine sehr böse Erleuchtung“ (887).30 Noch eine letzte Überlegung: Wenn MartusQ Blick auf das 18. Jahrhundert so stark von gesellschaftlichen Erfahrungen in Deutschland seit etwa der Jahrtausendwende geprägt ist, wird seine Aufklärungsdeutung dadurch anachronistisch? Bevor man so urteilt, wäre zu bedenken, dass sich die Perspektive des Historiographen unvermeidlich von den Vorstellungen der historischen Akteure unterscheidet. Da historische Erkenntnis immer in der Gegenwart stattfindet, wäre es sowohl unmöglich als auch unfruchtbar, sie auf die Rekonstruktion vergangener Sichtweisen zu begrenzen. Zugespitzt: keine Geschichtsschreibung ohne Anachronismus.31 Gefahren drohen gleichwohl zu beiden Seiten des damit angedeuteten Spannungsverhältnisses: Übergeht der Historiograph, wie die Menschen in der von ihm untersuchten Vergangenheit die Welt sahen, so unterstellt oder suggeriert er eine Indifferenz der Zeiten, die der Beschäftigung mit Vergangenem ihren spezifischen Sinn nimmt. Tut er so, als spiele sein eigener Standpunkt keine Rolle, so ist er weder ehrlich, noch vermag er zu zeigen, was die von ihm erzählte Geschichte bedeutet – nämlich für ihn und uns. Indem Martus Sichtweisen des 18. Jahrhunderts in einer unverkennbar heutigen Perspektive rekonstruiert, scheint er mir zwischen dieser Skylla und Charybdis der Beschäftigung mit der historischen Aufklärung und jeder Geschichte souverän hindurchzusteuern. Auch wenn sie sich als Forschung vollzieht, wird der Beschäftigung mit der Aufklärung gerne die Funktion zugeschrieben, der „gesellschaftlichen Orientierung“ zu dienen. Was folgt daraus, wenn es um Orientierung in der wiedervereinigten Bundesrepublik geht? Der Beitrag geht dieser Frage anhand der großen Epochendarstellung von Steffen Martus nach, die 2015 erschien. Sie zeichnet sich durch ein Verständnis der Aufklärung als „Entdeckung der Unmündigkeit“ aus, das sowohl die gesellschaftliche Erwartung an politische Gestaltung als auch die Erfahrung der Grenzen politischer Steuerung spiegelt. Von der bis in die späte alte Bundesrepublik vorherrschenden Deutung der deutschen Aufklärung als schwach und Teil der sog. ,deutschen MisereR hat sich MartusQ Buch in mehreren Hinsichten weit entfernt. Even if it takes the form of scholarship, the discussion of the Enlightenment is often ascribed the function of serving „societal orientation“. What does this mean when it comes to orientation in in the „Berlin Republic“, i. e. reunified Germany? The article explores this question on the basis of Steffen MartusQ major book about „the German Eighteenth Century“, which was published in 2015. It is characterised by an seemingly contra-Kantian understanding of the Enlightenment as the „discovery of immaturity“, which reflects both the expectation of political shaping and the experience of the limits of political con30 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 2, 3., rev. Auflage, München, Wien 1991, 443 (Sudelbücher K 257). 31 Vgl. Daniel Fulda, Anachronismen als Widerparte des Historisierens, in: Kulturpoetik 22 (2022), 80 – 98.

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trol. In several respects, MartusQ book has come a long way from the traditional interpretation of the German Enlightenment as weak and part of the so-called RGerman miseryQ that prevailed until the last years of divided Germany. Daniel Fulda, Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, D-06099 Halle, E-Mail: [email protected]

Martin Mulsow Eine Globale Ideengeschichte der Radikalaufklärung? Jonathan Israel und das transnationale 18. Jahrhundert

I. Lassen Sie mich mit dem Quantitativen beginnen, denn es ist der Sache nicht äußerlich. Jonathan Israel hat zwischen 2001 und 2019, in weniger als zwanzig Jahren also, ein Œuvre von sechs gewaltigen Bänden zur Aufklärung vorgelegt. Gewaltig, denn jeder dieser Bände umfasst rund 1.000 Seiten. Genauer besehen handelt es sich um eine Tetralogie mit zwei flankierenden Bänden. Die bei Oxford University Press erschienene Tetralogie – zu erkennen an den fast gleichartig aufgemachten Titelumschlägen – besteht aus Radical Enlightenment (2001), Enlightenment Contested (2006), Democratic Enlightenment (2011) und The Enlightenment that Failed (2019). Flankiert wurde die Tetralogie durch zwei bei Princeton University Press erschienene Bücher zu den großen Revolutionen innerhalb der Aufklärung, Revolutionary Ideas (2014) zur Französischen und Expanding Blaze (2017) zur Amerikanischen Revolution und ihrer Wirkung.1 Sechs Bände mit knapp sechstausend Seiten also, durchschnittlich alle drei bis vier Jahre ein Band. Darüber, dass Israel zuvor schon Wirtschaftshistoriker, Historiker des spanischen Kolonialreichs, Historiker der Niederlande und Historiker des Judentums war und bis zu seiner Konversion zum Ideenhistoriker 2001 eben-

1 Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity, 1650 – 1750, Oxford 2001; Enlightenment Contested: Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man, 1670 – 1752, Oxford 2006; Democratic Enlightenment: Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750 – 1790, Oxford 2011; The Enlightenment That Failed: Ideas, Revolution, and Democratic Defeat, 1748 – 1830, Oxford 2019; Revolutionary Ideas: An Intellectual History of the French Revolution from The Rights of Man to Robespierre, Princeton 2014; The Expanding Blaze: How the American Revolution Ignited the World, 1775 – 1848, Princeton 2017. Zusätzlich erschien noch die zusammenfassende Revolution of the Mind: Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton 2009. Eine große Spinoza-Biographie von Jonathan Israel im Umfang von mehr als 1.300 Seiten erschien 2023: Spinoza. Life and Legacy, Oxford 2023.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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falls schon viele tausend Seiten produziert hat, will ich hier zunächst gar nicht einmal sprechen. Diese Quantität macht eine kritische Gesamtdarstellung schwierig. Zum einen, weil sie einem jeden Leser zwangsläufig einen enormen Respekt abnötigt, den Respekt vor einer schier übermenschlichen Leistung, wie ich sie in diesen Maßen kaum ein zweites Mal kenne. Zum anderen natürlich auch, weil es Jahre dauern würde, all diese Bände allein zu lesen. Der Normalleser – auch der Aufklärungsforscher – wird im allgemeinen nur Teile des Œuvres rezipiert haben. Das ist die eine Crux. Die andere besteht für mich darin, dass ich befangen bin. Ich bin mit Jonathan Israel befreundet, habe ein Jahr in Princeton im Büro neben dem seinen gearbeitet, habe mit ihm einen Band zusammen herausgegeben und eine Reihe von Konferenzen organisiert. Das hat mich zwar nie davon abgehalten, auch meine kritischen Ansichten zu seinem Ansatz zu äußern, aber völlig entgehen kann ich der Befangenheit dennoch nicht. Es wäre auch müßig, hier nochmals die Kritik an Israel in aller Ausgiebigkeit zu formulieren. Sie ist von einer ganzen Heerschaar von DixhuitHmisten vorgebracht worden, besonders prononciert von Anthony La Vopa, Antoine Lilti, Jeremy Popkin, Samuel Moyn, Theo Verbeek und Siep Stuurman.2 Der Grundtenor dieser Kritiken – die im Prinzip auch von mir geteilt werden3 – ist klar: Israel definiere Radikalaufklärung durch eine Reihe inhaltlicher Positionen wie atheistische Säkularität, reine Rationalität, individuelle Freiheit, Egalität, Demokratie, Menschenrechte – und umgekehrt die kompromisslose Ablehnung von Offenbarung, absolutistischem Ständestaat, Seelenunsterblichkeit und ähnlichem; er binde die radikalen Positionen fest an Spinoza und seinen Substanz-Monismus, obwohl dieser Monismus nur von einer verschwindend geringen Zahl von Theoretikern ge2 Anthony La Vopa, A New Intellectual History? Jonathan IsraelQs Enlightenment, in: The Historical Journal 52 (2009), 717 – 738; Antoine Lilti, Comment 8crit-on lQhistoire intellectuelle des LumiHres?, in: Annales 64 (2009), 171 – 206; Jeremy Popkin, Review of Jonathan Israel, Revolutionary Ideas, in: H-France Review 15, no. 66 (May 2015); Samuel Moyn, Mind the Enlightenment. Jonathan IsraelQs epic defense of „Radical Enlightenment“ has the dogmatic ring of a profession of faith, in: The Nation, 5. June 2010; Theo Verbeek, Spinoza on Natural Rights, in: Intellectual History Review 17 (2007), 257 – 275; sowie Siep Stuurman, Pathways to the Enlightenment: From Paul Hazard to Jonathan Israel, in: History Workshop Journal 54 (2002), 227 – 235. Vgl. auch die Sammelbände von Catherine Secr8tan, Tristan Dagron, Laurent Bove (Hg.), QuQest ce que les LumiHres „radicales“? Libertinage, ath8isme et spinozisme dans le tournant philosophique de lQ.ge classique, Paris 2007 und Steffen Ducheyne (Hg.), Reassessing the Radical Enlightenment, London 2017. 3 Vgl. Martin Mulsow, Radical Enlightenment: Problems and Perspectives, in: Frank Grunert (Hg.), Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, 81 – 94; ders., Radikalaufklärung, moderate Aufklärung und die Dynamik der Moderne, in: Jonathan Israel, Martin Mulsow (Hg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014, 203 – 233; ders., The Hidden Origins of the German Enlightenment, Cambridge 2023, Einleitung.

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teilt werde; dadurch werde er gezwungen, all seine Funde mehr oder weniger auf den Tatbestand eines „Spinozismus“ zu bürsten; er gehe historisch unsensibel oder gar anachronistisch vor, wenn er vergangene Denker nach den Werten heutiger Modernität bemesse, als hätten die Akteure damals schon nach diesem Kanon vorgehen müssen; er stülpe die von Margaret Jacob erstmals ins Spiel gebrachte Zweiteilung der Aufklärung in einen moderaten Mainstream und einen radikalen Flügel jeder lokalen Besonderheit und jeder Kultur über; er nehme eine direkte Kausalität von Ideen auf gesellschaftliche Umbrüche an, ohne in Rechnung zu stellen, dass oft nichtgeistige strukturelle Ursachen oder auch unintendierte Wirkungen nichtradikaler Positionen solche Umbrüche bewirkt haben können; er vernachlässige kulturelle Faktoren wie Änderungen und Ambivalenzen im Publikations- und Leseverhalten, in der Soziabilität, in Mentalitäten – Faktoren, wie sie von Robert Darnton, Roger Chartier und anderen herausgearbeitet worden sind. Für Israel sind das dann schnell Relativisten und Vertreter einer postmodernen Beliebigkeit.4 Er lanciert also einen massiven Revisionismus, der nach jahrzehntelanger Dominanz erst der Sozial- und dann der Kulturgeschichte die ,harte WährungR der philosophischen Ideen wieder zur Geltung bringen möchte, gestützt auf eine kraftvolle Verteidigung westlicher Modernität mit ihren Werten von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und kritischer Rationalität. So auch wieder in seinem neuen Buch Revolutionary Jews from Spinoza to Marx: The Fight for a Secular World of Universal and Equal Rights, erschienen im Juni 2021.5 Zugegeben: Philosophie und ihre Ideen waren sicherlich zu sehr aus dem Fokus geraten. Aber die naheliegende Frage, die ich Israel gestellt habe, ob man nicht beides berücksichtigen könne, Ideengeschichte und die Sozialgeschichte kultureller Praktiken, hat er negativ beantwortet. Trotz all dieser zahlreichen Kritiken hat Israel seine Position nämlich im Wesentlichen nicht modifiziert, sondern nach dem Prinzip „Viel Feind, viel Ehr“ die Einwände weggesteckt und auf sie repliziert.6 Er kann dabei eine ganze Reihe guter Argumente anführen: Wie nur wenige andere hat er umfassend die Forschung zur clandestinen Literatur rezipiert und in sein Bild integriert; er schaut nicht nur 4 Vgl. etwa Jonathan Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 1; ders., Radikalaufklärung: Entstehung und Bedeutung einer fundamentalen Idee, in: ders., Mulsow (Hg.), Radikalaufklärung (wie Anm. 3), 234 – 275. 5 Jonathan Israel, Revolutionary Jews from Spinoza to Marx: The Fight for a Secular World of Universal and Equal Rights, Seattle 2021. 6 Jonathan Israel, Enlightenment Contested (wie Anm. 1), 863 – 871; ders.: Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 1 – 8; ders.: Radikalaufklärung (wie Anm. 4). Vgl. u. a. auch Israel: Rousseau, Diderot and the „Radical Enlightenment“. A Reply to Helena Rosenblatt and Joanna Stalnaker, in: Journal of the History of Ideas 77 (2016), 649 – 677; A Response to Chappey and Miss8, in: Revue dQhistoire des sciences humaines 29 (2016), 293 – 305. Vgl. auch Joanna Stalnaker, Jonathan Israel in Dialogue, in: Journal of the History of Ideas 77 (2016), 637 – 648.

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auf die Texte selbst, sondern auch auf Kontroversen, die sie auslösen,7 auf die Polemik der Gegner, auf den politischen Ort intellektueller Trägergruppen und auf sozialökonomische Umstände. Man kann ihm daher nicht vorwerfen, völlig in alte „geistesgeschichtliche“ Muster zurückzufallen. Außerdem hat er, bei Licht besehen, durchaus im Laufe der Zeit Differenzierungen angebracht. So unterscheidet er verschiedene Varianten von moderater Aufklärung,8 fügt seinem Spinoza als weitere Heroen unter anderem Bayle, Diderot, Raynal und dQHolbach hinzu und verfeinert mit jedem Band die Beschreibungen der unterschiedliche Nationalkulturen und ihrer Querbezüge. Es gibt aber auch Verengungen: Spätestens seit Democratic Enlightenment wird die These stark gemacht, Aufklärung impliziere immer schon den Willen zur Revolution – was dann die beiden Revolutionsbücher zu Frankreich und zu Amerika vorbereitet hat. Auf der anderen Seite gibt es auch komplexere Thesen wie die, dass die radikalaufklärerisch motivierten politischen Revolutionen seit den 1780er Jahren nur deshalb stattfinden konnten, weil die bis dahin vorherrschende Reformpolitik der moderaten Aufklärung gescheitert war.9 Doch wie gesagt: all das ist bekannt und oft zum Thema gemacht worden. Was also kann ich tun? Was mir übrig bleibt, denke ich, ist, einen in der Diskussion weniger beachteten Aspekt herauszuarbeiten, einen Aspekt, der meiner Ansicht nach eine der großen Stärken Israels im Vergleich zu anderen Aufklärungsforschern darstellt: die geographische und kulturelle Weite seiner Arbeiten. Israel spricht viele Sprachen und ist mit noch mehr Nationaltraditionen vertraut. Das hat ihm ermöglicht, sich nicht wie üblich nur mit dem England und Frankreich, Deutschland und den Niederlanden des 18. Jahrhunderts zu befassen, sondern auch mit katholischen Ländern wie Spanien, Portugal und Italien,10 mit kleinen Regionen wie Belgien11 und Irland,12 mit ostmitteleuropäischen wie dem Baltikum13 oder Russland14 oder südosteuropäischen wie Griechenland,15 und dar-

Israel: Radikalaufklärung (wie Anm. 4), 256. Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 12. 9 Ebd., 14. 10 Zu Italien vgl. Israel, Radical Enlightenment (wie Anm. 1), 664 – 683; Enlightenment Contested (wie Anm. 1), 513 – 544; Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 349 – 373. Zu Spanien (und Portugal) vgl. Radical Enlightenment (wie Anm. 1), 528 – 540; Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 374 – 412; The Enlightenment that Failed (wie Anm. 1), 690 – 728. Vgl. auch The Spanish Revolution of 1820 – 1823 and the Clandestine Philosophical Literature, in: Gianni Paganini, Margaret C. Jacob, John Chr. Laursen (Hg.), Clandestine Philosophy. New Studies on Subversive Manuscripts in Early Modern Europe, 1620 – 1823, Toronto 2020, 355 – 377. 11 Zu Belgien vgl. The Enlightenment that Failed (wie Anm. 1), 533 – 562. 12 Zu Irland vgl. The Expanding Blaze (wie Anm. 1), 285 – 320. 13 Zum Baltikum vgl. Radical Enlightenment (wie Anm. 1), 558 – 562. 14 Zu Russland vgl. Enlightenment Contested (wie Anm. 1), 295 – 317; Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 609 – 632. 7

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über hinaus auch mit Spanisch Amerika, Niederländisch-Südostasien, mit Indien oder China. Weil die Grundthese von der „radikalen Aufklärung“ versus „moderate Aufklärung“ in einer solchen Breite durchdekliniert wird, liegt es nahe – so finde ich – zu fragen, wie sich Israels Werk denn zu transnationalen, globalgeschichtlichen Ansätzen verhält. Ist die Tetralogie als Globale Ideengeschichte der Radikalaufklärung zu lesen? Wenn ja, erfüllt sie dann die Standards, die eine solche Geschichte erfüllen müsste? Was für ein Profil erhält Radikalaufklärung, wenn man sie durch die globalgeschichtliche Brille ansieht? Die Frage nach einer Globalgeschichte der Radikalaufklärung ist in der Tat noch nicht gestellt worden. Es gibt in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zunehmend eine Forschung zur „Weltgeltung“ der Aufklärung, zur Aufklärung in der „atlantischen Welt“ oder anderen Weltregionen, zur Globalisierung der Aufklärung und zur Rezeption europäischer Aufklärungskonzepte in den Kolonien.16 Doch ist noch nicht spezifisch nach einem Profil allein der Radikalaufklärung über den ganzen Globus gefragt worden. Ich werde am Ende dieses Beitrages einige Überlegungen dazu anstellen, ob man diese Frage sinnvoll stellen kann, und, wenn ja, was eine Antwort dann berücksichtigen müsste. Zweifellos aber scheint mir der Befund zu sein: In Israels sechsbändigem Gesamtwerk ist eine solche Globalgeschichte der Radikalaufklärung enthalten und zu entdecken.

II. Schon Israels vor-ideengeschichtliches Werk hat eine potenziell globalgeschichtliche Weite, auch wenn man in den 1970er und 1980er Jahren noch nicht diesen Terminus benutzte. Er hat begonnen mit einem Buch über das koloniale Mexiko: Race, Class and Politics in Colonial Mexico von 1975, seiner Dissertation.17 Danach hat ihn die Rivalität von niederländischer und spanischer Weltmachtgeltung beschäftigt – in The Dutch Republic and the Hispanic World, erschienen 1982 –, 15 Zu Griechenland vgl. Enlightenment Contested (wie Anm. 1), 317 – 325; The Expanding Blaze (wie Anm. 1), 495 – 511. 16 Sebastian Conrad, Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique, in: The American Historical Review 117 (2012), 999 – 1027; Alexander Kraus, Andreas Renner (Hg.), Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt am Main 2008; Richard Butterwick, Simon Davies (Hg.), Peripheries of the Enlightenment, Oxford 2008; Susan Manning, Francis D. Cogliano (Hg.), The Atlantic Enlightenment, Aldershot 2008; Wolfgang Hartwig (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen 2010; John Brewer, Silvia Sebastiani (Hg.), Forum: Closeness and distance in the late eighteenth and early nineteenth centuries, in: Modern Intellectual History 11 (2014), 603 – 716; Ivan Michelangelo dQAprile (Hg.), Aufklärung global – globale Aufklärungen (= Das achtzehnte Jahrhundert 40/2, 2016). 17 Jonathan I. Israel, Race, Class and Politics in Colonial Mexico, Oxford 1975.

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dann die jüdische Diaspora als Faktor in der kolonialen Wirtschaftsgeschichte: European Jewry in the Age of Mercantilism, 1986; 1989 ist er nochmal auf den holländischen globalen Handel zurückgekommen – Dutch Primacy in World Trade –, und 1990 hat er alle drei Akteure – Holländer, Spanier und Juden – im Zusammenwirken dargestellt: Empires and Entrepots: The Dutch, the Spanish Monarchy and the Jews.18 Ich erwähne diese Vorgeschichte, weil man nicht denken sollte, Israel sei ein Neuling in globalen Fragen, wenn er seine Aufklärungsstudien Stück für Stück ausgehend von den Zirkeln der frühen Spinozisten in Holland auf die ganze Welt ausdehnt.19 Es ist eher eine Art Rückkehr in alte Gefilde unter neuer Perspektive. So zeichnen sich denn die Kapitel zu Südamerika oder Indonesien, zu Japan oder Indien, die Israel vor allem in Democratic Enlightenment präsentiert, durch eine präzise Schilderung der politischen und ökonomischen Umstände und eine bewundernswerte Kenntnis der Forschungslage aus. Man muss aber auch sehen: Seine Intention, gerade die Bedeutung der Radikalaufklärung für diese Länder und in diesen Ländern aufzuweisen, zumal in Bezug auf Revolutionen, Aufstände und Unabhängigkeitsbewegungen, steht zuweilen gegen die bisherige Tendenz der Forschung, die diesen Faktor entweder ignoriert oder explizit geleugnet hat. Ich möchte mir exemplarisch einige solcher Kapitel ansehen: zu Spanisch Amerika, Indonesien, Indien und dem Islam. In Democratic Enlightenment gibt es gewissermaßen einen radikalaufklärerischen Reiseführer, den Israel oft und gern benutzt, um sich in die entsprechenden Kulturen hineinzubegeben. Das ist die Histoire philosophique des deux Indes von Guillaume-Thomas FranÅois Raynal aus dem Jahr 1770, an der Denis Diderot bekanntlich einen entscheidenden Anteil gehabt hat.20 Das Buch, sofort auf den Index gesetzt und an vielen Orten verboten, stammt in der Tat aus dem atheistischen und materialistischen Zirkel um Diderot und dQHolbach, es prangert die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten der kolonialen Herrschaften an und verlangt den Respekt vor den unterdrückten Kulturen und deren Freiheit. Beginnen wir mit dem spanischen Weltreich in Amerika.21 Die gängige Forschungsmeinung war relativ eindeutig. So liest man bei John Tate Lanning: „In18 Jonathan I. Israel, The Dutch Republic and the Hispanic World, Oxford 1982; European Jewry in the Age of Mercantilism, Oxford 1985; Dutch Primacy in World Trade, Oxford 1989; Empires and Entrepots: The Dutch, the Spanish Monarchy and the Jews, London, Ronceverte 1990. 19 Der Beginn liegt schon vor der Radikalaufklärungs-Tetralogie in The Dutch Republic. Its Rise, Greatness and Fall, 1477 – 1806, Oxford 1995, 916 – 933. 20 Histoire philosophique et politique des 8tablissemens & du commerce des europ8ens dans les deux Indes, 6 Bde., Amsterdam 1770. Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Anthony Strugnell, LQHistoire des deux Indes: r88criture et polygraphie, Oxford 1995; Gilles Bancarel, Gianluigi Goggi (Hg.), Raynal, de la pole´mique a` lQhistoire, Oxford 2000. 21 Zu den Amerindias vgl. Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 480 – 503; zu Spanisch-

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deed, the intellectual revolution in the Spanish colonies depended very little upon the exuberant radicalism of the philosophes,“22 und bei Jaime Rodr&guez heißt es über die Aufklärung in der spanischen Welt: „The Hispanic variant was neither radical nor anti-Christian, as in France.“23 Fabricio Prado macht, was die Kontaktzone zum Portugiesischen Reich am Rio della Plata angeht, transatlantische Netzwerke und Rivalitäten für die Revolution verantwortlich, nicht die Radikalaufklärer.24 Rodr&guez und seine Kollegen betonen vielmehr, dass es die Siege Napoleons in Spanien seit 1808 gewesen seien, die das Spanische Weltreich so destabilisiert haben, dass Unabhängigkeitsbewegungen Oberwasser bekommen konnten. Was macht Israel also? Er argumentiert sehr präzise: Es sei eine Kerngruppe von Kreolen – also spanischstämmigen Lateinamerikanern – gewesen, die in den 1770er und frühen 1780er Jahren an den süd- und mittelamerikanischen Universitäten studiert hatten, welche nach den Bourbonenreformen, vor allem nach 1767, nicht mehr so eindeutig scholastisch waren wie zuvor, Kreolen, die danach durch Europa getourt waren. Dort hätten sie unter anderem radikalaufklärerische Ideen in sich eingesogen: Männer wie Don Jos8 Baquijano aus Peru, Francisco de Miranda aus Neu-Granada (Venezuela), Manuel Belgrano aus dem späteren Argentinien und Simon Rodr&guez, ebenfalls aus Neu-Granada, später Lehrer und Gefährte von Simln Bol&var.25 Die kreolische Elite war gegenüber dem spanischen Mutterland zunehmend eigenständig und selbstbewusst geworden, und die Blocklade ihrer aufklärerischen Ambitionen nach ihrer Rückkehr nach Amerika habe sie, so Israel, radikalisiert und auf Konfrontationskurs zu den moderateren Reformern gebracht.26 Der Grund für ihre Haltungen sei also schon vor 1789 dagewesen und nicht erst nach 1808 entstanden. Schwierig ist an solchen Argumentationen, so überzeugend sie im Prinzip sind, was genau die „radikalaufklärerischen“ Einflüsse aus Europa waren, und ob sie wirklich in distinkter Absetzung von den „moderat-aufklärerischen“ erfolgt sind. Israel zieht in solchen Fällen, um genau das zu beweisen, gern konservative Autoren, Apologeten und anti-philosophes als Kronzeugen heran – für Frankreich und Deutschland etwa Bergier oder Trinius, die eine scharfe Witterung für Spinozisten und Materialisten besaßen.27 Ähnlich hier für Lateinamerika, wenn er den Amerika vgl. Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 504 – 534; The Enlightenment that Failed (wie Anm. 1), 859 – 897; The Extending Blaze (wie Anm. 1), 423 – 455. 22 John Tate Lanning, The Eighteenth-Century Enlightenment in the University of San Carlos de Guatemala, Ithaca 1956, 115. 23 Jaime E. Rodr&guez, The Independence of Spanish America, Cambridge 1998, 36. 24 Fabricio Prado, The Edge of Empire: Atlantic Networks and Revolution in Bourbon Rio de la Plata, Los Angeles 2015. 25 Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 516 – 522. 26 Ebd., 509 f. 27 Nicolas Sylvestre Bergier, Apologie de la religion chr8tienne, contre lQauteur du „Christiani-

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Kapuziner Joaquin de Finestrad zitiert, der auf den schädlichen Einfluss der Radikalen und ihrer „neuen Philosophie“ schimpft.28 Es ist natürlich sinnvoll und legitim, solche Zeitzeugen anzuführen. Die Gefahr, die immer dabei besteht, ist, die polemische Sicht einer bestimmten zeitgenössischen Gruppe zu übernehmen und überzubewerten. Darf man das gegen moderne strukturhistorische Analysen anführen? Im Falle Mitteleuropas hat es bei Israel zumindest dazu geführt, so seine Kritiker, den überall gewitterten „Spinozismus“ zu stark zu akzentuieren. Worin Israel aber auf jeden Fall zuzustimmen ist: Er wendet sich völlig berechtigt gegen zwei Tendenzen der angloamerikanischen Forschung: zum einen, den Aufklärungs-Einfluss zunächst immer als britischen zu denken (und damit als moderat-aufklärerischen), zum anderen die Amerikanische Revolution als einflussreich auch für Südamerika darzustellen. In der Tat ist in der iberischen Welt eine Aufklärung wie die im spanischen Vizekönigreich Neapel manchmal näher als Tendenzen aus der englischsprachigen Sphäre.29

III. Kommen wir zu Israels Blick auf Holländisch-Südostasien, also die kommerzielle und militärische Einflusszone der Niederländer mit ihrem Hauptstützpunkt Batavia, dem heutigen Djakarta auf Java. Der Einfluss war Mitte des 18. Jahrhunderts in kontinuierlichem Niedergang, aber immer noch sehr stark. Israel interessiert sich dafür, wie die Aufklärung von Batavia in den asiatischen Raum ausgestrahlt hat.30 Denn innerhalb dessen, was die Histoire philosophique „kommerziellen Despotismus“ nennt, gab es auch einzelne Aufklärer wie Gustaaf Willem van Imhoff, den Gouverneur von Ceylon und dann General-Gouverneur in Batavia. Er bemühte sich, die Verwaltung, das Gesundheitswesen und die Justiz in diesem Quasi-Kolonialreich zu rationalisieren; er stabilisierte die Beziehungen zu den indigenen Lokalherrschern, allerdings auch mit dem Nebeneffekt, deren oft rücksichtslose Herrschaften zu stützen. Mit ihm war in den 1730er Jahren die typisch halbmoderne moderate Aufklärung in Holländisch-Südostasien angekommen. Halbmodern deshalb, weil trotz aller Reformen und einer gewissen Toleranz nasme d8voil8“ et contre quelques autres critiques, 2 Bde., Paris 1769; Johann Anton Trinius, Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister ihrer Schriften, und deren Widerlegungen, Leipzig 1759. 28 Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 530 ff. Zu ihm vgl. auch John Leddy Phelan, The People and the King. The Comunero Revolution in Colombia 1781, Madison, WI 1978, 212 ff. 29 Vgl. John Robertson, The Case for the Enlightenment: Scotland and Naples, 1680 – 1760, Cambridge 2005; ders., Enlightenment and Revolution: Naples 1799, in: Transactions of the Royal Historical Society 10 (2000), 11 – 44. 30 Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 543 – 557.

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türlich Spannungen in bestimmten religiösen und ethnischen Fragen auftauchen mussten. Wie etwa sollte man mit dem nicht unbeträchtlichen chinesischen Bevölkerungsanteil umgehen, der mit seinen Dienstleistungen und Handelsaktivitäten unverzichtbar zwischen Holländern und Indigenen stand? Als es infolge von Wirtschaftskrisen 1741 zu chinesischen Aufständen kam, wurden 10.000 Chinesen in Batavia niedergemetzelt. Das war ein Punkt, an dem Israel eine spezifische Spaltung zwischen moderater und radikaler Aufklärung in Batavia lokalisiert, zwischen solchen, die daraufhin wenig an der Praxis der Ostindischen Handelskompagnie (VOC) ändern wollten, und solchen, die konsequente Einschnitte bei der Behandlung anderer Ethnien forderten. In Analysen wie dieser zeigt Israel seine ganze Stärke als jemand, der souveräne soziale und ökonomische Beschreibungen mit ideengeschichtlicher Aufklärungsforschung in Bezug setzen kann. Man könnte vorschlagen, dass gerade an Punkten wie diesem Bezug von Calvinisten zu indigenen, chinesischen und mus-limischen Ethnien und Religionen nun Untersuchungen wie die des Anthropologen und Historikers Webb Keane angedockt werden könnten, der eine transkulturelle Beschreibung der calvinistischen Missionen in Indonesien vornimmt, bei der Objektivierungen und Subjektivierungen von unterschiedlichsten Seiten unter die Lupe genommen werden, um die Geschichte der sogenannten „Modernisierung“ in all ihrer Komplexität zu erzählen.31 Aber das wäre vielleicht zu viel verlangt, solche kulturalistischen Argumente sind nicht Israels Sache. Festzuhalten ist, dass Israel wieder – und noch überzeugender als für Lateinamerika – einen Punkt der Divergenz findet, der zu seinem Schema der zwei Aufklärungen passt. Ähnliches betreibt er für das Indien unter der Verwaltung der Britischen East India Company.32 Hier versucht er unter anderem, die potentielle Radikalität der sich langsam etablierenden Vorstellungen einiger Europäer herauszuarbeiten, dass das alte, vedische Indien früher eine ungeheuer hochstehende Kultur besessen habe, die womöglich sogar die Wiege der europäischen Kultur gewesen sei. Denn dann fielen die Unterschiede zwischen dem liberalen England und der Unterdrückung verachteter Inder umso mehr ins Auge. Männer wie William Bolts radikalisierten sich entsprechend, und Israel möchte auch die beiden großen Philologen Abraham Anquetil-Duperron (mit seiner Kritik an Montesquieus Konzept des orientalischen Despotismus) und William Jones in diesem Sinne für die Radikalaufklärung reklamieren.33 Man wird sich fragen müssen, ob diese 31 Webb Keane, Christian Moderns. Freedom and Fetish in the Mission Encounter, Berkeley 2007. 32 Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 1), 583 – 608. 33 Zu Anquetil vgl. Urs App, The Birth of Orientalism, Philadelphia 2010, 363 – 439; Siep Stuurman, Cosmopolitan Egalitarianism in the Enlightenment: Anquetil Duperron on India and America, in: Journal of the History of Ideas 68 (2007), 255 – 278. Zu Jones vgl. Garland Cannon, The Life and Mind of Oriental Jones. Sir William Jones, the Father of Modern Linguistics, Cam-

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Art von Konstatierung einer sozusagen impliziten Radikalität hilfreich ist oder zu weit geht. Auch möchte man darauf hinweisen, dass sich auch hier der modernen Forschung riesige Felder für die „entangled history“ auftun, so wie der Indologe Thomas Trautman die Interaktionen zwischen indischen und europäischen Sprachgelehrten um 1800 beschrieben hat,34 oder wie Kapil Raj die kartographische Wissensproduktion in Bengalen rekonstruiert, an der so viele Parteien mitgewirkt haben.35 Die spannende Frage an die Verflechtungshistoriker wäre also: Macht Israels Zwei-Aufklärungen-Differenzierung für sie Sinn? Können sie in ihren mikrohistorischen Tiefenbohrungen diese Spaltung wiederfinden oder nicht? Und vor allem: wie relevant war sie? Vorsichtig hat man in all solchen Fällen auf jeden Fall mit dem Vorschlaghammer-Argument „Spinozismus“ umzugehen, das sieht auch Israel. Einfache „Spinozisten“ lassen sich in der kolonialen und außereuropäischen Welt kaum je finden. Man schaue etwa auf die europäische Interaktion mit dem Islam, an der sich gut studieren lässt, welche Fallen sich da für simplistische Übertragungen auftun. Israel hat in Enlightenment Contested ein Kapitel zur Wechselwirkung der muslimischen Welt mit der europäischen Radikalaufklärung eingeschaltet. Dabei kommt auch Pierre Bayles Erwähnung der Hinrichtung des angeblichen Spinozisten oder Atheisten Mehmet Effendi im Osmanischen Reich um 1600 zur Sprache, die auf einem Bericht des englischen Gesandten Paul Rycaut beruhte.36 Bayle nahm das, so Israel, als Indiz für eine naturalistische Strömung mitten im Islam, für die Gott und Natur dasselbe seien. Man kann das so positiv ausdrücken. Man kann darin aber auch ein Musterbeispiel für die Entstehung europäischer Projektionen eines außereuropäischen „Spinozismus“ sehen, denn, wie Nenad Filipovic und Shabab Ahmed gezeigt haben, war dieser Mehmet Effendi (in Wirklichkeit Nada¯jli Sarı¯ Abdürrahma¯n) ein ratio˙ nalistischer Koranausleger, der meilenweit davon entfernt war, ein Atheist zu sein.37 Projektionen wie die von Bayle sind also von der Forschung zunächst einbridge 1990; Raphael Arnold, William Jones. Ein Orientalist zwischen Kolonialismus und Aufklärung, Würzburg 2001. 34 Thomas R. Trautman, Languages and Nations. The Dravidian Proof in Colonial Madras, Berkeley 2006; ders. (Hg.), The Madras School of Orientalism: Producing Knowledge in Colonial South India, New Delhi 2009. 35 Kapil Raj, Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650 – 1900, London 2007. 36 Israel, Enlightenment Contested (wie Anm. 1), 631 f. 37 Vgl. Nenad Filipovic, Shabab Ahmed, Two Seventeenth-Century Ottoman Heretics (Vortrag auf einer von Patricia Crone, Jonathan Israel und mir veranstalteten Konferenz von 2008 in Princeton: „Islamic Freethinking and Western Radicalism: Possible Ways of Transmission“, noch unveröffentlicht). Vgl. jetzt auch Marinos Sariyannis, The limits of going global: The case of „Ottoman Enlightenment(s)“, in: History Compass 18 (2020), online: https://compass.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/hic3.12623 (letzter Zugriff 24. 02. 2022).

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mal zu dekonstruieren, bevor man überhaupt daran denken darf, Radikalität im Sinne des „Radical Enlightenment“ fremden Kulturen zuzuschreiben. Israel hält sich klugerweise davon fern, er beschränkt sich in diesem Falle auf den Aufweis der Funktion idealisierender Beispiele und Rollenbilder nichteuropäischer Zivilisationen für die Radikalaufklärer.

IV. Was Israel macht, ist also zum einen, solche Funktionalisierungen – der gute Wilde, der weise Chinese, der hochstehende Moslem – zu untersuchen, zum anderen die Diffusion der Ideen von Spinoza, Diderot, Raynal, Helvetius und einiger anderer in außereuropäische Länder aufzuweisen, wobei er bemüht ist, ihre kausale Rolle bei Umstürzen zu belegen. Nun hat Sebastian Conrad allerdings den Diffusionismus als nur eine Variante aufgezählt, in der man eine Globalgeschichte der Aufklärung schreiben könne.38 Eine andere Variante wäre die modernisierungstheoretische der „Multiple Modernities“, nach der autochthone Ideenbewegungen in verschiedenen außereuropäischen Kulturen, im Zusammenwirken mit westlichen Einflüssen, dennoch eine gewisse Konvergenz hin zu modernen Gesellschaften bewirkt haben; eine dritte – die von Conrad bevorzugte – ist diejenige, nach der Puzzlesteine aus der europäischen Aufklärung von außereuropäischen Akteuren aufgenommen, selbständig adaptiert und mit ihren eigenen Traditionen zusammengefügt worden sind, oft auch in Zusammenlegung von Impulsen aus dritten Zivilisationen. Dieses kreative Umschmelzen geschah in nichteuropäischen Gesellschaften, so Conrad, die bereits von den ökonomischen und politischen Auswirkungen der europäischen Expansion verändert worden waren. In Meiji-Japan etwa war es der Begriff ri, der im Konfuzianismus Ordnung und Harmonie in der menschlichen Gesellschaft bezeichnet, der jetzt aber für das Laissez-Faire und die Marktrationalität verwendet wurde. In China entstand eine Auffassung von Fortschritt als Mixtur aus neo-konfuzianischen Diskussionen und sozialdarwinistischen Texten. Die sogenannte „Philippinische Aufklärung“ des späten 19. Jahrhunderts werde, so Conrad, nicht so sehr über ihre Vorbilder im europäischen 18. Jahrhundert verständlich als über die lokalen Umstände und Krisen ihrer eigenen Zeit. Instrumentelle Berufungen auf Rousseau und Voltaire, Adam Smith und Benjamin Franklin vermischten sich mit solchen auf Fukuzawa Yukichi und 38 Sebastian Conrad, Enlightenment in Global History (wie Anm. 16). Eine kürzere Fassung davon auf Deutsch in: Sebastian Conrad, Jürgen Osterhammel (Hg.), Wege zur modernen Welt 1750 – 1870 (Geschichte der Welt), München 2016. Vgl. für begriffliche Verschiebungen auch den Sammelband von Carol Gluck, Anna Lowenhaupt Tsing (Hg.), Words in Motion. Toward a Global Lexicon, Durham 2009.

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Liang Qichao, einen japanischen Ökonomen und einen chinesischen Journalisten.39 In der „Bengalischen Renaissance“ der 1820er Jahre verwende Rammohan Roy Ideen der europäischen Vernunftreligion, aber auch Hindu-Ideen und muslimische Vorstellungen.40 Es zeigt sich dann schnell ein Umstand, dem Israels Bücher aufgrund ihrer zeitlichen Beschränktheit nicht nachkommen können: Die Adaptation europäischer Aufklärung spielt sich in Außereuropa zum guten Teil im 19. Jahrhundert, teilweise sogar erst im frühen 20. Jahrhundert ab. Erst dann waren die Grundlagen gegeben, das Puzzlespiel der kreativen Rezeption zu beginnen. So gesehen, gehört das, was Israel für die 1780er und 1790er Jahre beschreibt, noch zur Vorgeschichte der eigentlichen Aufklärungs-Aneignung. Israel war immer zurückhaltend, über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinauszugehen, denn danach sei die Bedeutung der Radikalaufklärung deutlich zurückgegangen. Schaut man aber doch über diesen Horizont hinaus und hinein in die globale Welt: Was wird dann mit der Radikalaufklärung? Es zeigt sich eine Asynchronität: Rousseau wird zugleich mit Comte, dQHolbach zugleich mit Darwin, Locke zugleich mit Marx rezipiert. Insbesondere in Ländern, die sich erst spät den westlichen Einflüssen geöffnet haben wie das Japan der Meiji-Zeit nach 1868, hat sich eine Komprimierung der Einflüsse ergeben, geradezu ein Übereinanderlegen von intellektuellen Innovationsschichten des 18. und 19. Jahrhunderts.41 Das wirft völlig neue Probleme auf, die Israel aufgrund seiner zeitlichen Beschränkung nicht reflektiert: Können Radikalitäten des 19. Jahrhunderts zu denen des 18. addiert und mit ihnen aufgerechnet werden? Und was ist, wenn „moderate“ Aufklärungsideen sich mit „radikalen“ Gedanken des 19. Jahrhunderts paaren, zu monströsen Zwittern? Und es kommt zu weiteren Verwicklungen. Kürzlich hat Nathaniel Wolloch Israels Zweiteilung des Aufklärungsdenkens für den Liberalismus kopiert und versuchsweise von einem moderaten und einem radikalen Liberalismus im 19. Jahrhundert gesprochen. Er muß dabei aber auch zugestehen, dass es im 19. Jahrhundert oft die Moderaten waren, die am Ende, und mehrfach sogar unintendiert, radikale Ansichten kultivierten.42 Solch ein Befund ist in meinen Au39 Vgl. Albert M. Craig, Civilization and Enlightenment: The Early Thought of Fukuzawa Yukichi, Cambridge, MA 2009; Hao Chang, Liang ChQi-ChQao and Intellectual Transition in China, London 1971. 40 Vgl. auch David Kopf, British Orientalism and the Bengal Renaissance: The Dynamics of Indian Modernization, 1773 – 1835, Berkeley, Los Angeles 1969; Andrew Sartori, Bengal in Global Concept History. Culturalism in the Age of Capital, Chicago 2008. 41 Zu Meiji Japan vgl. Robert Hellyer, Harald Fuess (Hg.), The Meiji Restoration: Japan as a Global Nation, Cambridge 2020; Mark Ravina, To Stand with the Nations of the World: JapanQs Meiji Restoration in World History, Oxford 2017. 42 Nathaniel Wolloch, Moderate and Radical Liberalism. The Enlightenment Sources of Liberal

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gen gar nichts Besonderes. Er gilt, denke ich, auch schon für viele angeblich radikale Denker im 18. Jahrhundert.43 Wenn man diese Kreuz- und Querdynamik zwischen keineswegs feststehenden Zonen von radikaler und moderater Aufklärung einmal anerkennt, dann hat das aber auch etwas Befreiendes. Es entbindet einen vom Zwang, partout bestimmte Denker und Dogmen in anderen Milieus eins zu eins wiederfinden zu wollen, und es erleichtert die historische Offenheit für die Eigenheiten lokaler Kulturen und Adaptionen – auch im Falle der Rezeptionskomprimierung. Eine weitere Variante, die Globalgeschichte der Aufklärung zu schreiben, hat im Übrigen Emma Rothschild vorgeführt, und zwar eine, die Wirtschaftsgeschichte, Ideengeschichte und Mikrogeschichte verbindet: Sie verfolgt Familiennetzwerke über den Planeten, in ihrem Fall: die schottische Familie Johnstone, bekannt mit Größen wie Adam Smith und David Hume, die modern aufgeklärt war, aber auch globalen Handel betrieben hat, ja sogar in Sklavenhalterei verwickelt war. Natürlich ist das, mit Israel gesprochen, dezidiert moderate Aufklärung.44 Aber es ließe sich ebenso, wenn man nur Quellen fände, für eine Familie aus dem radikalaufklärerischen Milieu verwirklichen, zumal diese kombinatorische Methode den Vorteil hat, die Widersprüche einer Zeit am konkreten Beispiel aufzuzeigen. Was also wäre eine Globalgeschichte der Radikalaufklärung, die nicht auf einen Diffusionismus beschränkt wäre und auch nicht eine Präjudizierung bestimmter Schemata und Ergebnisse betreibt? Kann es so etwas überhaupt geben? Generell muss man sagen, dass das Feld der globalen Ideengeschichte noch recht jung und unbestellt ist, geradezu darauf wartet, dass originelle Fragen gestellt werden. Etwa nach einer Globalgeschichte der Häresie. Die wird man größtenteils nicht diffusionistisch schreiben, sondern Häresie als Gegenteil von in bestimmten Kulturen gängigen (und auch offiziell verordneten) Vorstellungen und Dogmen definieren und also als je spezifische Abweichungen untersuchen; was allerdings nicht davon abhält, in einem zweiten Schritt nach dem möglichen Transfer solcher Thought, Leiden 2022, 889: „The fact that there was still a tangible difference between the Moderate and Radical Enlightenments in the eighteenth century, whereas by the mid- nineteenth century the distance between Moderate and Radical Liberalism was much less pronounced, was the direct result of the fact that ever since the late eighteenth century it was often moderates who ended up accepting, and eventually promoting, radical notions. They did so often unintentionally. But as we observed at the beginning of this book, whether or not, in different cases, this was a deliberate or an unintended act, they served as the conduits for conveying these radical ideas, usually in updated form, into the mainstream of Western political philosophy.“ 43 Martin Mulsow, Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680 – 1720, 2 Bde., Göttingen 2018. 44 Emma Rothschild, The Inner Life of Empires: An Eighteenth-Century History, Princeton 2011.

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Häresien in andere Kulturen zu fragen, wo sie vielleicht positive und offiziell anerkannte Werte befördern.45 Diffusionismus kann also geradezu eine umgekehrte Wirkung bekommen, so wie wenn die Abkehr vom reinen Monotheismus in der jüdischen Kabbala im Christentum zur Bestärkung der Trinität genutzt wird,46 oder der in Europa noch umstrittene Darwinismus im 19. Jahrhundert in Bengalen zur Stützung von kosmologischen Ideen der Hindus eingesetzt wird.47 Andersherum kann ein in Persien wohlgelittener Dualismus in Europa zum bösen Manichäismus werden, oder eine in Europa entwickelte historisch-kritische Methode der Deutung heiliger Schriften im Islam zur Ketzerei.48 Lässt sich auf diese Weise auch nach der globalen Radikalaufklärung fragen? Das wären dann – nach dem Kriterium, dass radikal in einer Kultur das ist, was besonders starke Irritationen auslöst – jene Momente in der Adaptation westlicher (oder auch weiterer anderskultureller) Faktoren, die ihre Finger auf die Wunden oder Risse oder problematischen Zonen der chinesischen oder islamischen oder mexikanischen Kultur legen und daher besonders erbittert bekämpft werden. Das Besondere bei diesem Ansatz: Es müssen nicht genau jene Faktoren sein, die auch in Europa als radikal gelten; und es können Faktoren aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert in ihrem Zusammenwirken sein. Oder von noch weiter auseinander: IsmaQil Mazhar, der Darwin in Ägypten 1919 ins Arabische übersetzt hat, brachte die Ideen der neuplatonisierenden Ikhwan al-SafaR aus dem 10. Jahrhundert mit Gedanken von Ernst Haeckel zusammen, er bezog Ibn Khaldun aus dem 14. Jahrhundert auf Lamarck und Spencer, um den Evolutionismus für die Moslems schmackhaft zu machen.49 Eine solche, anders als die von Israel konzipierte, Globalgeschichte der Radikalaufklärung wäre allerdings immer noch reine Ideengeschichte. Ich nehme daher meine schon zuvor geäußerte Frage nochmals auf: Kann man nicht ohne große Widersprüche beides berücksichtigen, die Ideengeschichte und die Sozialgeschichte kultureller Praktiken? Ich sehe da nichts Ausschließliches, im Gegenteil: Je komplexer und raffinierter das Besteck des Historikers ist, desto besser. Die 45 Vgl. Martin Mulsow, Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte, Berlin 2022, 337 – 387. 46 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte der Christlichen Kabbala, 4 Bde., Stuttgart 2012 – 2015. 47 Vgl. C. Mackenzie Brown, Western Roots of Avataric Evolutionism in Colonial India, in: Zygon 42 (2007), 423 – 448; David Gosling, Darwin and the Hindu Tradition: „Does What Goes Around Come Around?“, in: Zygon 46 (2011), 345 – 369. 48 Vgl. etwa Martin Mulsow, Den „Heydnischen Saurteig“ mit den „Israelitischen Süßteig“ vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth, in: Scientia Poetica 11 (2007), 1 – 50; Hava Lazarus-Yafeh, Intertwinded Worlds. Medieval Islam and Bible Criticism, Princeton 1992. 49 Vgl. Marwa Elshakry, Reading Darwin in Arabic, 1860 – 1950, Chicago 2013.

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Frage, die im Raum steht, lautet daher: Wie könnte eine Synthese aussehen, die das Zusammenwirken von ideengeschichtlichen, kulturellen und strukturellen Faktoren beschreiben kann? Breites Leseverhalten und Elitedenken, Veränderungen auf dem Zeitschriftenmarkt, in der Verwaltungsstruktur und im Zugang zu verbotenen Quellen? Wie wirken dabei – wie auch immer definierte – radikalaufklärerische und andere Impulse zusammen? Und weiter: Wie lässt sich dabei verflechtungstheoretisch argumentieren, so dass die intellektuellen Aktivitäten und Perspektiven beider Seiten, der europäischen und der außereuropäischen, berücksichtigt werden?50 Und schließlich: Welche Radikalität steckt möglicherweise auch in Bildern oder Objekten?51 Beispiele für solch ambitionierte Unternehmungen sind noch rar, oder besser: sie stehen noch aus. Aber sie sind durchaus möglich. Das Unternehmen von Emma Rothschild weist einen Weg, der Aufsatz von Sebastian Conrad auch, ebenfalls manche neue globale Mikrogeschichten, die auf Themen der Radikalaufklärung zu durchmustern wären.52 Jonathan Israel kann mit seinen beeindruckenden sechs Bänden dabei eine wichtige Rolle spielen: als Leitfaden, als Materiallieferant, als sozial- und wirtschaftshistorische Stütze, als Bereitstellung einer Unmenge an Indizien für Verbindungen nach Europa – wenn auch nicht als konzeptionelles Modell. Jonathan Israel hat ein gewaltiges Werk zur Radikalaufklärung geschaffen, das auch außereuropäische Kulturen behandelt. Der Beitrag stellt die Argumentation in einigen Beispielen vor und fragt danach, ob der Diffusionismus europäischer Radikalität die einzige Weise ist, Radikalaufklärung in globalhistorischer Hinsicht zu verstehen. Welches wären andere Modelle, die das erreichen würden? Jonathan Israel has created an enormous work on Radical Enlightenment that also deals with non-European cultures. The article presents his argument in a few examples and asks whether the diffusionism of European radicalism is the only way to understand Radical

50 Vgl. etwa Jeffrey D. Burson, Entangled History and the Scholarly Concept of Enlightenment, in: Contributions to the History of Concepts 8 (2013), 1 – 24; ders., Culture of Enlightening: Abb8 Claude Yvon and the Entangled Emergence of the Enlightenment, Notre Dame, IN 2019. Vgl. weiter Antonella Romano, Silvia Sebastiani, Borb#la Zsuzsanna Török (Hg.), Negotiating Knowledge in Early Modern Empires: A Decentered View, New York 2014. 51 Vgl. etwa Jürgen Müller, Thomas Schauerte, Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder, Emsdetten 2011; Thomas Schauerte, Jürgen Müller, Bertram Kaschek, Von der Freiheit der Bilder. Spott, Kritik und Subversion in der Kunst der Dürerzeit, Petersberg 2013. 52 Zur globalen Mikrogeschichte vgl. etwa Angelika Epple, Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen, in: Historische Anthropologie 21 (2013), 4 – 25; Sonderheft „Global History and Microhistory“ von Past and Present 242 (Supplement 14) (2019).

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Enlightenment in global historical terms. What could be other models that would achieve this? Prof. Dr. Martin Mulsow, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Schlossberg 2, D-99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

K U R Z B I O G R A P HIE VO LTAI R E ( FR A N 1 O I S - M A R IE AROUE T )

Als FranÅois-Marie Arouet, der sich seit 1718 Voltaire nannte (aus: Arovet l[e] i[eune]), am 30. Mai 1778 in Paris verstarb, kam ein Lebenswerk zum Abschluss, das wie kein anderes den Gang der Hochaufklärung begleitet und geprägt hatte. Schon jung mit Gedichten, Satiren und mit Theaterstücken zu Ruhm gelangt, sollte sich V. im Lauf seines Lebens in seltener Personalunion zum führenden Dichter, Philosophen und Historiker Frankreichs sowie zum Prototyp des europäischen Intellektuellen entwickeln, Briefpartner von Monarchen und Mitglied mehrerer Akademien, zugleich auch erfolgreicher Spekulant und tatkräftiger Gutsbesitzer werden. Jedem Systemdenken kritisch gegenüber hinterließ er keine geschlossene philosophische Lehre, dafür aber ein gewaltiges Œuvre, das sein Publikum in verschiedensten poetischen und prosaischen Formen durch alle Länder und Zeiten führt, immer auf der Suche nach Spuren einer intakten Humanität inmitten menschlicher Widersprüche und Grausamkeiten. Unter seiner Feder wurde der Begriff ,ToleranzR, eigentlich eine politische, staatskirchenrechtliche Kategorie, zur Lebenshaltung und fast synonym mit seiner Forderung nach Denk- und Meinungsfreiheit. Als Schüler Bayles und

seiner kritischen Eklektik misstraute er jeglichen Autoritäten und bot gegen sie einen immensen Scharfsinn, Witz und breite geschichtliche Kenntnisse auf, als Anhänger Lockes brach er mit dem Rationalismus und setzte ihm eine – zunehmend historisch fundierte – Kulturanthropologie entgegen, als früher Bewunderer Newtons suchte er in der moralischen Welt nach bleibenden Gesetzen für menschliches Handeln. Seine Kritik an der Kirche, am Aberglauben sowie an der Adelsgesellschaft seiner Zeit brachte ihn vielfach in Konflikt mit der Obrigkeit, zweimal sogar in die Bastille. Viele seiner Schriften erschienen anonym, einige wurden verboten oder öffentlich verbrannt. Stets bereit zur Flucht, verbrachte V. Jahre seines Lebens im Ausland und ließ sich schließlich nahe der schweizerischen Grenze nieder, wo ein imposantes Alterswerk entstand, bevor er sich auf eine letzte Reise nach Paris begab. Wenn man will, kann man zentrale Motive in V.s Schaffen schon im Frühwerk erkennen. Hatte die altsprachlich ausgerichtete Ausbildung am renommierten Pariser Jesuitenkolleg Louisle-Grand den Grundstein für V.s stilistischen Klassizismus gelegt, so bot ihm die freigeistige Societ8 du Temple erste

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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Kurzbiographie

Einblicke in libertinistisches und deistisches Gedankengut. Ein frühes literarisches Zeugnis dieser Einflüsse bildet die Versepistel Epitre / Uranie von 1722 (gedruckt 1733 und erst 1772 als Le pour et le contre unter V.s Namen erschienen). Dort inszeniert sich der Sprecher als „neuer Lukrez“, um seine Leserin über „geheiligte“ Lügen („des mensonges sacr8s“) zu informieren (OC 18, 485 f.). Der Anspielung auf die Priesterbetrugshypothese entspricht die Kontrastierung des rächenden, strafenden Gottes mit Schöpfungsplan und Heilsversprechen, aber auch die Absage an die christliche Kirche zugunsten einer offenbarungsunabhängigen ,natürlichenR Religion, die anders als Bibel und Dogma die liebende Hinwendung zu Gott ermögliche („Je ne suis pas chr8tien; mais cQest pour tQaimer mieux“, OC 18, 498). Schon in der 1718 aufgeführten Tragödie Oedipe klingt die Betrugshypothese an, wenn König Oedipus den Hohepriester, der ihn des Mordes bezichtigt, als „imposteur“ beschimpft (OC 1 A, 215). Nicht minder provokant stellt Jokaste, die noch an seine Unschuld glaubt, das Wort des Priesters infrage („Cet organe des dieux est-il donc infallible?“, 223) und führt die Macht des Klerus auf die „Leichtgläubigkeit“ („credulit8“) des Volkes zurück (224). Kurz wird so die von V. zugespitzte Konfrontation zwischen König und Hohepriester zum Kräftemessen zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt stilisiert.1 1

Vgl. Reinhardt (2022), 56 f.

In der Henriade (unter dem Titel La Ligue 1723 veröffentlicht), V.s ehrgeizigem Versuch, ein Nationalepos zu schaffen, steht mit Henri IV. ein Verfechter der religiösen Toleranz im Mittelpunkt. Diese Themen waren also schon Teil seiner Gedankenwelt, als V. 1726, um einen erneuten Aufenthalt in der Bastille vorzeitig zu beenden, ins englische Exil aufbrach. Ob der Aufenthalt in England, der bis Ende 1728 dauerte, entscheidende Impulse brachte, ohne die V. nicht zu seiner Bestimmung gefunden hätte, oder ob er nur Gelegenheit bot, bestehende Interessen und Fragestellungen zu verfolgen und zu vertiefen, sei dahingestellt. Sicher ist, dass V. in England ein Staatswesen, eine Gesellschaft und Kultur antraf, die auf ihn wie ein Gegenbild zum Ancien R8gime wirken mussten. Ob im Verhältnis von Staat und Religion, von Adel und Bürgertum oder von Literatur und Philosophie bzw. Naturwissenschaft – überall schien man in England der französischen Nation um Längen voraus zu sein. V. verkehrte bald mit führenden Köpfen des Landes wie Alexander Pope, Jonathan Swift, Edward Young und Lord Bolingbroke, den er aus Frankreich kannte. Dieser war es auch, der ihm, bereits 1724, zum Studium der Schriften Newtons und Lockes geraten hatte. Es waren nicht zuletzt die Begegnung mit Lockes Empirismus und Newtons Naturphilosophie sowie mit den Dramen Shakespeares, die in der Zeit des Exils den stärksten Eindruck auf ihn machten. Gemessen an den vielen Be-

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kanntschaften und intensiven Studien, von denen auch die erst im 20. Jahrhundert edierten Notebooks (OC 81/ 82) Zeugnis ablegen, blieb der literarische Ertrag in England zwar vorerst gering. Allerdings entstanden zwei Essays in englischer Sprache, der Essay upon epic poetry sowie der Essay on the civil wars of France. Obwohl dieser noch den Mustern traditioneller Geschichtsschreibung folgt, ist in der scharfen Kritik an Aberglauben und Mönchswesen wie in der Sympathie für verfolgte Protestanten bereits die Handschrift des Aufklärers zu erkennen.2 Versteckt in der Vorrede zum Bürgerkriegsessay fällt überdies auch der Hinweis auf die Arbeit an den 1733 erstmals gedruckten Letters Concerning the English Nation, bekannter unter dem französischen Titel Lettres philosophiques oder Lettres anglaises (die französische Ausgabe erschien 1734). Mit dieser Sammlung von Essays über Aspekte des Fortschritts am Beispiel Englands eröffnet V. die Reihe seiner philosophischen Schriften, seiner Angriffe auf die katholische Kirche und seiner Appelle an die Vernunft in theoretischen wie in praktischen Fragen (etwa bezüglich der Pockenimpfung im 11. Br.). Er begründet zugleich die auch in der deutschsprachigen Welt bald einsetzende Anglophilie. Neben Essays über religiöse und teils heterodoxe Gruppierungen von den Quäkern (Br. 1 – 4) bis zu den Antitrinitariern (7. Br.) sowie über politischen Institu2

Vgl. Brumfitt (1958), 7 f.

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tionen sind es vor allem die Porträts englischer Geistesgrößen wie Bacon, Locke, Newton, Rochester und Pope, in denen der Verfasser seine Bewunderung für das Gastland artikuliert. Dagegen werden mit Descartes, der gegen Newton ausgespielt wird (14. Br.), sowie mit Blaise Pascal (25. Br.) gleich zwei französische Denker des 17. Jahrhunderts scharf, bisweilen polemisch kritisiert. Zwischen den Zeilen werden die Hauptthemen dieser nur scheinbar deskriptiven Reisebriefe erkennbar. So bringt der Brief über Locke auch eine kurzgefasste Verteidigung der Meinungsfreiheit, im sechsten Brief über die Presbyterianer fällt die viel zitierte Formulierung über die praktizierte Toleranz an der Londoner Börse und das Lob der Religionsvielfalt als Bollwerk gegen den kirchlichen Despotismus. Und in dem Brief über Pascal (sowie einem daran anknüpfenden Appendix in späteren Auflagen) zeigt sich bereits die im Detail skeptizistisch-desillusionierte, im Ganzen jedoch verständnisvoll-optimistische Sicht auf die Natur des Menschen, die für das ganze Werk V.s maßgeblich bleiben wird (so etwa noch in den Discours en vers sur lQhomme von 1745 oder in Le philosophe ignorant von 1766). Zwischen der Rückkehr aus England und der Publikation der ,BriefeR 1733 bzw. 1734 lagen einige Jahre, in denen V. vorerst an den Erfolg früherer Jahre anknüpfen konnte. Zwar hatte er in England kaum Bücher veröffentlicht, doch war er von dort mit einigen Projekten zurückgekehrt, die er nun

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ausarbeitete. Auffallend ist die Hinwendung zur Geschichte, sowohl in den Dramen Brutus, La mort de C8sar und Za"re als auch in dem ersten großen Geschichtswerk, der Histoire de Charles XII, roi de SuHde (1731), für das V. schon in England Dokumente und Zeugenberichte gesammelt hatte. Stand das Werk auch lange im Schatten der späteren historischen Schriften, so wurde es erst jüngst unter die „Books that made the European Enlightenment“ gezählt (G. Kates). Neu war nicht die Kontrastierung zweier Herrscher (des kriegerischen Schwedenkönigs Karl mit Peter dem Großen als einem Idealbild des fürsorglichen Monarchen), sondern die gleich eingangs formulierte Orientierung an „les 8v8nements […] les plus int8ressants“ (OC 4, 154). Hier ist bereits angedeutet, was V. in dem berühmten Artikel ,HistoireR der Encyclop8die ironisch überspitzt hat: Wer als Historiker nicht mehr zu berichten wisse als die Herrscherfolge in einem beliebigen exotischen Land, habe der Öffentlichkeit nicht viel Nützliches zu bieten (OC 33, 185). Spätere Auflagen wurden um Briefe und Essays ergänzt, etwa die Remarques sur lQhistoire (1742) und die bedeutende Betrachtung Pyrrhonisme dans lQhistoire (zuerst 1748, seit 1752 unter diesem Titel; vgl. OC 4, 567). Der große Erfolg der Histoire de Charles XII und der Za"re konnte nicht verhindern, dass V. mit Veröffentlichung der Lettres philosophiques 1734 erneut zum Flüchtling wurde. Als erstes seiner Bücher wurden sie

in Frankreich nicht nur verboten, sondern auch öffentlich vom Henker verbrannt. Schon vorher war gegen V. eine lettre de cachet erlassen worden. Rechtzeitig durch Freunde gewarnt, zog er sich in das Grenzgebiet zu Lothringen zurück, wo er im Schloss Cirey 15 produktive Jahre zubringen und seine breit gefächerten Interessen vertiefen sollte. Die ältere V.-Biographik spricht sogar von einer „reeducation“ (Ira O. Wade) des Poeten V. zum Philosophen.3 Mit der Hausherrin, der philosophisch und naturwissenschaftlich hochgebildeten Emilie de Ch.telet verband V. mehr als nur Freundschaft und eine geistige Arbeitsgemeinschaft. Es war die wohl wichtigste Liebesbeziehung seines Lebens. In Cirey entstanden nicht nur einige seiner bekanntesten Dramen, die Alzire und der Mahomet (Premiere 1741), nicht nur die ersten der philosophischen Romane (Zadig, 1748; Microm8gas, veröffentlicht erst 1751) und Pläne für die großen historischen Werke, sondern auch die Elemens de la Philosophie de Neuton (1738). Angeregt durch Gespräche mit Maupertuis, Francesco Algarotti und Pmilie de Ch.telet, die selbst eine Newton-Übersetzung plante, hatte sich V. intensiv naturwissenschaftlichen Studien gewidmet und gemeinsam mit der Geliebten sogar Experimente durchgeführt. In Fortführung der Newton-Briefe aus den Lettres machte sich V. sodann an eine populärwissenschaftliche Darstellung, um das

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Werk des Engländers auch auf dem Kontinent bekannt zu machen. Die Kosmologie Newtons bot V. zugleich eine Grundlage für seine deistische Religiosität, deren Schöpfergott sich mit der Vorstellung universell gültiger Naturgesetze gut verbinden ließ. Erst der Tod Pmilie de Ch.telets im September 1749 veranlasste V., seinen Lebensmittelpunkt erneut zu verlegen, diesmal nach Potsdam, wohin ihn Friedrich II. schon länger eingeladen hatte. Der Kontakt bestand seit einem Schreiben Friedrichs am 8. August 1736, das den Auftakt zu einer der großen Korrespondenzen des 18. Jahrhunderts bildete. Obschon der Aufenthalt in Preußen, aufgrund zunehmender Konflikte mit Friedrich und dem mittlerweile zum Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannten Maupertuis, schon 1753 endete, konnte V. während dieser Zeit wichtige Projekte abschließen, darunter das SiHcle de Louis XIV (1751), das ihn als Meister einer neuen Art von Historiographie zeigt – der Kulturgeschichtsschreibung. Der Akzent auf dem Jahrhundert statt auf der Person des Sonnenkönigs kündigt die methodische Entscheidung an, nicht mehr die Geschichte eines Landes als Herrscherbiographie entlang von Hauptund Staatsaktionen zu zeigen, sondern andere, nämlich soziale, ökonomische und kulturelle Kräfte im Geschichtsprozess freizulegen. Es ist die Geschichte des menschlichen Geistes, die V. hier sichtbar machen will und die sich, so sein Postulat, gegen alle politische Einzelentscheidungen letztlich

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durchsetze. Daher gilt dieses Gründungsdokument der Kulturgeschichtsschreibung, sofern es den Einfluss der Mächtigen auf das Schicksal der Menschheit bedeutend relativiert, ohne dabei Zuflucht zum Numinosen zu suchen, auch als „politisches Manifest“ (V. Reinhardt). Aus der teleologischen Perspektive, die den bisherigen Gipfelpunkt der Menschheitsgeschichte just im Zeitalter des Sonnenkönigs sehen will, wird spätestens im deutlich umfangreicheren Essai sur les mœurs, erschienen zuerst 1756, eine Theorie und Dokumentation des Fortschritts in einer alle Zeiten und Völker umfassenden Zivilisationsgeschichte. Im Umfeld des roi philosophe entstanden darüber hinaus einige Schriften, in denen sich V. der Bibel- und Religionskritik und damit einem weiteren Hauptthema seines umfangreichen Werkes zuwandte. War schon das Newton-Buch als Kampfansage an das biblische Weltbild gedacht und gelesen worden, so lieferte V. mit dem PoHme sur la loi naturelle (entstanden 1751), anders als der Titel vermuten lässt, eine Programmschrift der ,natürlichen ReligionR mit Widmung an den preußischen König. Zwar endet das PoHme mit einem Gebet an den Schöpfer, das, wohl in Anlehnung an Popes Universal Prayer, auf konfessionsspezifische Merkmale des einen Gottes verzichtet, die Absage an die Offenbarung und die Gleichstellung der großen Weltreligionen ist aber mehr als deutlich. Der vergleichsweise milde Deismus des Gedichts, der im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Naturgesetze

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(nicht zuletzt in moralischer Hinsicht) auch gegen den Materialismus des ebenfalls am preußischen Hof weilenden La Mettrie gerichtet sein dürfte,4 wird ergänzt und konterkariert durch das weit bekanntere PoHme sur le d8sastre de Lisbonne, das erst nach Ende der Potsdamer Zeit entstand, aber gemeinsam mit dem PoHme sur la loi naturelle im Druck erschien (1756). In diesem drastischen, bei der Schilderung und Bewertung des großen Erdbebens vom 1. November 1755 nicht an Pathos („< malheureux mortels! k terre d8plorable!“) sparenden Text wird seit jeher „der Tod des Optimismus“ (Theodor Besterman) gesehen, den sich V. in der Beschäftigung mit Newton und Pope zumindest zeitweise angeeignet hatte.5 In der Vorrede müssen Leibniz und Pope (der noch immer mit großem Respekt behandelt wird) hinter dem Skeptiker Bayle zurückstehen. Das Axiom „Tout est bien“, das dem Untertitel des Gedichts zufolge auf den Prüfstand gehöre, sei nicht zu halten: „Il le faut avouer, le mal est sur la terre“ (OC 45 A, 341). Es ist mehr als naheliegend, V.s bis heute bekanntesten und meistgelesenen Text, den Roman Candide, ou lQoptimisme (1759), in direktem Zusammenhang mit dem Erdbeben-Gedicht Vgl. Wade (1969), 251; dagegen aber z. B. Stackelberg, Nachwort, in: Candide, 198. 4 Vgl. Trousson u. a. (1994), 166. 5 Besterman (1970), 351 („the death of optimism“); frz. Zitat: OC 45 A, 335 6 Zum Candide als einem frühen roman exp8rimental vgl. Stackelberg, Nachwort, in: Candide, bes. 191 – 194. 3

und der ,KriseR seines Autors zu sehen. Darauf deutet schon der Aufenthalt der Hauptfigur Candide und seines Lehrers Pangloß in Lissabon inmitten eben jenes Erdbebens hin sowie die Pangloß in den Mund gelegte Schlussfolgerung angesichts der Katastrophe: „Car tout est bien“ (OC 48, 137). Der Candide übertrifft das Gedicht noch in seinem Pessimismus, indem er die hier nicht mehr pathetische, sondern beißend sarkastische Kritik des philosophischen Optimismus sowie des abergläubischen Fanatismus mit einem politischen Anliegen zusammenführt – der Ablehnung des Eroberungskriegs. Zu der Entfremdung zwischen V. und Friedrich II. hatte nicht zuletzt dessen Kriegsführung beigetragen, die, seit V.s fluchtartiger Abreise aus Preußen 1753, im Siebenjährigen Krieg einen traurigen Höhepunkt erreichen solltet. Der Roman, teilweise verfasst in Schwetzingen, wo sich V. im Sommer 1758 als Gast des Kurfürsten Karl Theodor aufhielt, trägt deutliche Spuren dieser Haltung, so wenn Candide gleich im zweiten Kapitel unter die Werber der ,bulgarischenR (sc. preußischen) Armee gerät und als Rekrut mit unmenschlicher Härte behandelt wird. Im bekannten Schlussappell der Hauptfigur – „il faut cultiver notre jardin“ (OC 48, 260) – wird wohl kaum die letzte Konsequenz aus den philosophisch-theologischen Fragen gezogen, die in diesem „Experimentalroman“ mehr anschaulich-episodisch als argumentativ verhandelt werden.6 Das Plädoyer für praktische Diesseitigkeit dürfte jedoch durchaus ernst gemeint

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gewesen sein, wie die folgenden Jahre zeigen sollten. Kurz nach Ende des Pfalzaufenthalts erwarb V. zwei französische Landgüter in der Nähe von Genf. Im etwas weiter entfernten Ferney, dessen Besitz den bürgerlichen Käufer in den Stand eines Feudalherrn erhob, sollte er ab 1760 hauptsächlich residieren. Die Fülle und Dichte der Schriften, die V. hier bis zu seinem Tod verfasste, übertrifft noch den Umfang der in Cirey entstandenen Arbeiten (s. u.). Zunehmend mischte er sich auch in öffentliche Angelegenheiten ein. Zunächst aber war er mit dem Umbau des Schlosses, das einen neuen Theatersaal erhielt, und der kleinen Dorfkirche beschäftigt. Die Inschrift „Deo erexit Voltaire“ ist nicht als Ausweis von Altersmilde zu verstehen, sondern eher als strategisch-ironischer Schachzug des alternden Freidenkers, der mit dem Gottesbegriff längst nicht mehr das gleiche meinte wie die katholische Kirche, einen Schein von christlicher Wohlanständigkeit aber für vorteilhaft hielt, zumal er zunehmend und wohl mehr denn nötig als führender Kopf der Pariser philosophes angesehen wurde. Galt er vordem schon längst als der größte Schriftsteller Frankreichs und einer der ersten Köpfe Europas, steigerte sich sein Bild in dieser Lebensphase ins Mythisch-Legendenhafte. Fast jedes neue Werk wurde kurz nach Erscheinen bekämpft oder sogar verboten, obwohl V. seit Jahren daran gewöhnt war, ein ausgeklügeltes Versteckspiel mit Pseudonymen, Widerrufen sowie irreführenden Mittei-

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lungen in Briefen und Zeitschriften zu betreiben. Seinem rasant anwachsenden Ruhm tat das keinen Abbruch. In Ferney gaben sich europäische Geistesgrößen ein Stelldichein. Sie berichteten übereinstimmend von der Liebenswürdigkeit ihres Gastgebers, der bei derartigen Gelegenheiten auch gern selbst auf der Bühne des kleinen Schlosstheaters auftrat. Gespielt wurden meist seine eigenen Stücke, die er auch weiterhin in beträchtlicher Anzahl verfasste (z. B. Le Caff8 ou lQPcossaise, 1760; TancrHde, 1760; Les Scythes, 1767; Les GuHbres, ou la tol8rance, 1768; IrHne, 1778). Greift man aus der unüberschaubaren Produktion dieser Zeit einige zentrale Themen heraus, so ist es vor allem der Streit für die Toleranz und gegen die christliche Kirche samt der Bibel und der Historia sacra, die ihr zumeist als Rechtfertigung diente, indem sie die Geschichte der Menschheit am Leitfaden einiger ausgewählter Völker erzählte, während die übrigen Nationen der Verdammnis überschrieben wurden. Gegen dieses Konstrukt setzte V. seine Philosophie de lQhistoire, die nach langen Vorarbeiten 1765 erschien und seit 1769 dem Essai sur les mœurs vorangestellt wurde. Es geht darin nicht eigentlich um Geschichtsphilosophie (hier waren etwa die Essays im Umfeld der Histoire de Charles XII ergiebiger, s. o.), die Begriffsprägung kann jedoch V. zugeschrieben werden. Inhaltlich handelt es sich eher um eine polemische Schrift mit historiographischem Substrat, genauer: um eine kritische Geschichte der Religionen mit

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einem klaren Ziel – die Überlegenheit der deistisch zugeschnittenen ,natürlichenR Religion und das Vorhandensein eines universellen ,natürlichenR Moralgesetztes zu demonstrieren. Was diesem Leitmaßstab nicht entspricht, wird unter Aberglaubensverdacht gestellt. Das gilt indes auch für das Alte Testament und die jüdische Religion, die V. in antiklerikalem Eifer nicht ohne Rückgriff auf antisemitische Klischees schärfstens kritisiert.7 Zwar wird auch die katholische Kirche nicht geschont, ebenso setzt sich V. an vielen anderen Stellen für die Toleranz gegenüber dem Judentum ein; dennoch bleibt der Eindruck, dass er in seinem Feldzug gegen den Aberglauben hier zu weit gegangen ist. Der Text zeigt aber auch beispielhaft, wie V. das umfangreiche historische Wissen, das er sich für die großen Geschichtswerke angeeignet hatte, sowie das damit einhergehende Gespür für methodische Fragen in den Dienst einer mächtigen Offensive stellte. Sie lässt sich auf eine Formel bringen, die sich seit etwa 1760 durch seine Korrespondenz zieht: „Pcr.lQinf.“, ausgeschrieben „Pcraser lQinf.me“. Mit „lQinf.me“ ist nicht die Religion per se gemeint, sondern eine Mischung aus Aberglauben, Intoleranz und instiVgl. Gay (1964), 97 – 108; Reinhardt (2022), 392 – 394; zuletzt: Piazza (2023). 8 So bereits Gay (1964), 6 („the sum of his experience“). – Eine erste deutsche Gesamtübersetzung erschien, nach mehreren Teilausgaben, erst 2020 (siehe Bibliographie). 9 Stierle, Vorwort, in: Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, 11. 7

tutioneller Macht, besonders die Verknüpfung politischer und geistlicher Gewalt, die V. in Geschichte und Gegenwart unablässig aufzudecken suchte, sei es in der Philosophie de lQhistoire oder im Trait8 de la tol8rance (1763), der ausgehend vom Justizmord an dem Calvinisten Jean Calas die Geschichte der Toleranz vom alten China über Griechenland, Rom und die Reformation bis in die eigene Zeit verfolgt. Diese kurz gehaltenen historischen Exkurse dienen dem Nachweis, dass das Altertum keine Intoleranz gekannt habe. Sie werden ergänzt durch eine Reihe von in sich geschlossenen Betrachtungen, zum Teil im fiktionalen Gewand (Brief, Gespräch, Anekdote), die um das zentrale Thema herum gruppiert erscheinen. Einmal mehr zeigt sich darin V.s Vorliebe für die essayistische Form. In dieser Hinsicht steht der Trait8 Seite an Seite mit dem Dictionnaire philosophique portatif (1764), der oft als eine Summe oder Zusammenschau des V.schen Denkens angesehen wird und bis heute zu seinen meistgelesenen und -übersetzten Werken zählt.8 Auch bei diesem Text ist der Titel keineswegs wörtlich zu nehmen. Es handelt sich nicht um ein Wörterbuch im Sinn der enzyklopädischen Tradition der Frühen Neuzeit, sondern um eine „Kampfschrift“ (K. Stierle) der Aufklärung.9 Das Genre des Wörterbuchs dient V. als Vorwand für die Form des ironisch-polemischen Fragments oder Kurzessays, wie er sie in den Lettres philosophiques erprobt hatte und in späteren Jahren perfektionier-

Kurzbiographie

te. Das Wörterbuchformat schafft eine Ordnung ohne Systemanspruch und korrespondiert somit auch der Abkehr V.s vom mos geometricus. Zugleich verschleiert es die individuelle Autorschaft, indem es eine Gruppe von Beitragenden suggeriert und diese Vielstimmigkeit auch formal und stilistisch inszeniert. Die Artikel wenden sich, mal als Dialog, mal in direkter Leseransprache verfasst, im munteren Plauderton, aber oftmals auch mit grellen Pointen (so etwa im Artikel ,AnthropophagesR), der Demaskierung gängiger, insbesondere religiöser Vorurteile zu (die ,pr8jug8sR erhalten einen eigenen Eintrag). Zentrale Themen V.s wie Aberglaube, Fanatismus und Toleranz sind mit eigenen Artikeln vertreten, Werte wie Patriotismus, die Tapferkeit im Krieg oder das summum bonum der philosophischen Ethik werden knapp und bissig desavouiert, die Eigenliebe oder der Luxus dagegen, mit Lust am paradoxen Spiel, verteidigt. Definitionen und Sacherklärungen sucht man hingegen in den meisten der Artikel vergebens. Der bedeutende Erfolg des Werkes ermöglichte in kurzer Zeit mehrere Auflagen, die um weitere Artikel anwuchsen, von den 73 Kapiteln der Erstauflage bis zu 118 in der Auflage von 1769. Von dieser Ausgabe an entfiel folgerichtig der Titelzusatz „portatif“. Statt das Format des Dictionnaire durch weitere Artikel endgültig zu sprengen, konzipierte V. ein weit größer angelegtes lexikographisches Projekt, die Questions sur lQEncyclop8die, die von 1770 bis 1772 in ganzen neun

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Bänden erschienen. Neben 50 (teils erweiterten) Artikeln aus dem Dictionnaire enthalten sie fast 400 weitere Einträge, meist mittleren Umfangs und bieten so ein Panoptikum des V.schen Denkens in dieser letzten Lebensund Schaffensphase. Überhaupt wird ein Bemühen V.s erkennbar, eine Bilanz, oder besser: Zusammenschau seines Denkens in eine zugängliche, aber nicht systematische Form zu bringen. Hierher gehört etwa Le philosophe ignorant (1766), eine Schrift, in der auf fast katechetische Weise philosophische Grundfragen (z. B. Erkenntnis, Wissen, Nichtwissen, Ewigkeit, universelle Moral) und Leitfiguren (Zoroaster, Konfuzius, Hobbes, Spinoza, Locke) behandelt werden. Während dieses Werk noch einmal zu Fragen der Erkenntnistheorie aus den ähnlich angelegten Lettres philosophiques zurückkehrt, enthält der wuchtige Dialog LQA, B, C (1768) auch Gedanken V.s zur politischen Philosophie und zum Naturrecht. Insbesondere V.s Sprachrohr „A“ entwickelt auf eklektischskeptischer Grundlage, die sich von den großen Fragen der Metaphysik (z. B. Existenz und Natur der Seele) betont fernhält, ausgehend von der konstitutiven Schwäche des Menschen an Körper und Geist, eine common sense-basierte Minimalethik, für die eine kluge Politik allein die Rahmenbedingungen zu schaffen habe. Im Tonfall des angeregten Tischgesprächs führt V. an Figur „A“ sein Ideal des undogmatischen, nicht systemgebundenen Selbstdenkens und einer skeptisch-iro-

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nischen, dabei aber stets am Machbaren orientierten Lebensweisheit vor. Das letzte Lebensjahrzehnt stand im Zeichen anhaltender Konflikte, aber auch nachlassender Kräfte. Es begann mit einem Triumph des politischen Aktivisten V. In der 1769 wie so oft pseudonym erschienenen Histoire du parlament de Paris führte V. den historischen Nachweis, dass die höchste gerichtliche Institution des Landes, die so viele seiner Schriften verboten hatte, selbst der Legitimation entbehrte. Dem Abschluss der monumentalen Questions folgte Anfang 1773 eine schwere gesundheitliche Krise, von der sich V. nie mehr ganz erholen sollte. Der Tod Ludwigs XV. im Mai 1774 gab den Anlass für eine Bilanz der eigenen Zeit im Pr8cis du siHcle de Louis XV (1775), die zugleich auch eine Bilanz der Aufklärung wurde. Sie fiel ernüchternd aus und malte schon früh das Schreckgespenst einer Revolution an die Wand. In der Ruhe von Ferney bereitete V. noch ein größeres Werk vor, das die Summe seiner Bibelkritik seit den Jahren in Cirey enthalten sollte: La Bible enfin expliqu8e erschien 1776 und reihte V. in die Ahnengalerie der gelehrten Bibelphilologie ein. An seiner Vorstellung eines Schöpfergotts und der durch ihn dem Menschen eingepflanzten universellen Moral hielt er indes bis zuletzt fest. In Erwartung seines baldigen Ablebens begab er sich trotz schwerer Krankheit nach Paris, um dort der Aufführung seines Dramas IrHne beizuwohnen. Sie wurde ein rauschender Erfolg. Paris empfing ihn wie einen Monarchen und feierte den „homme aux

Calas“. Er sollte es nicht mehr lebend verlassen. Nach seinem Tod am 30. Mai wurden seine sterblichen Überreste heimlich in der Nähe von Troyes beigesetzt. Seit 1791 ruhen sie im Pariser Panth8on. Ausgaben: Œuvres complHtes de Voltaire, hg. von Louis Moland, 52 Bde., Paris 1877 – 1885 (online benutzbar); Les œuvres complHtes de Voltaire, hg. von Nicholas Cronk, Haydn T. Mason, Ulla Kölving u. a., 205 Bde., Oxford 1968 – 2022 (= OC). Übersetzungen: VoltairQs sämtliche Schriften, hg. und übers. von Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius, 29 Bde., Berlin 1786 – 1797; Kritische und satirische Schriften, übers. von Karl August Horst, Joachim Thimm und Liselotte Ronte, Nachwort von Fritz Schalk, München 1970; Erzählungen, Dialoge, Streitschriften, hg. von Martin Fontius, 3 Bde., Berlin (DDR) 1981; Philosophisches Wörterbuch, hg. und eingel. von Karlheinz Stierle, Frankfurt am Main 1985; Candide, oder der Optimismus, übers. und mit einem Anhang versehen von Jürgen von Stackelberg, München 1987; Sämtliche Romane und Erzählungen, übers. von Ilse Lehmann, mit einer Einleitung von Victor Klemperer, Frankfurt am Main 1988; Philosophisches Taschenwörterbuch, hg. von Rainer Bauer, übers. von Angelika Oppenheimer, Ditzingen 2020. – Literatur (Auswahl): Hermann A. Korff, V. im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe, Heidelberg 1917; Ray-

Kurzbiographie

mond Naves, V. et lQEncyclop8die, Paris 1938; Ren8 Pomeau, La religion de V., Paris 1956; John H. Brumfitt, V. Historian, Oxford 1958; Peter Gay, V.Qs Politics. The Poet as Realist, Princeton, NJ 1959; Peter Gay, The Party of Humanity. Essays in the French Enlightenment, New York 1964; Ira O. Wade, The Intellectual Development of V., Princeton, NJ 1969; Theodor Besterman, V., London 1969 (21970); Peter Brockmeier u. a. (Hg.), V. und Deutschland, Stuttgart 1979; Horst Baader (Hg.), V., Darmstadt 1980 (Wege der Forschung, 286); Christiane Mervaud, V. et Fr8d8ric II. Une dramaturgie des LumiHres 1736 – 1778, Oxford 1985; Ren8 Pomeau, V. et son temps, 5 Bde., Oxford 1985 – 1994; Raymond Trousson u. a. (Hg.), Dictionnaire de Voltaire, Brüssel 1994 (22003); Ulla Kölving, Christiane Mervaud (Hg.), V. et ses combats, 2 Bde., Oxford 1997; Nicholas Cronk (Hg.), Etudes sur le Trait8 sur la tol8rance de V., Oxford 2000; Brigitte Winklehner (Hg.), V. und Europa.

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Der interkulturelle Kontext von V.s Correspondance, Tübingen 2006; Jürgen von Stackelberg, V., München 2008 (BeckQsche Reihe); L. Mac8 (Hg.), Lectures du ,Dictionnaire philosophiqueR, Rennes 2008; Nicholas Cronk (Hg.), The Cambridge Companion to V., Cambridge 2009; Jürgen von Stackelberg, V. und Friedrich der Große, Hannover 2013; Kurt Flasch, Christentum und Aufklärung. V. gegen Pascal, Frankfurt am Main 2020; Norbert Campagna, Rüdiger Voigt (Hg.), Das Jahrhundert V.s. Vordenker der europäischen Aufklärung, Baden-Baden 2020; Gary Kates, The Books that made the European Enlightenment. A History in 12 Case Studies, London 2022; Volker Reinhardt, V. Das Abenteuer der Freiheit. Eine Biographie, München 2022; Marco Piazza, V. against the Jews, or The Limits of Toleration, London 2023. Björn Spiekermann

D I SK U SSI O N

Rainer Enskat Aufklärung – epochal oder weltgeschichtlich, individuell oder kollektiv? Eine kritische Miscelle

Schon seit über zweihundert Jahren ist es zur Gewohnheit geworden, dem achtzehnten Jahrhundert den Epochentitel des Jahrhunderts der Aufklärung zu verleihen. Seit ca. einhundert Jahren pflegen sich die westlichen Gesellschaften als aufgeklärte Gesellschaften, also als originäre Erben dieses Jahrhunderts zu beurteilen. Seit fast fünfzig Jahren wird das Phantom „eines in Zukunft hervorzubringenden Bewußtsein[s] massenhafter Aufklärung“1 beschworen. Diese Phasen-Zäsuren markieren jedoch nur die prominentesten Entwicklungen innerhalb der neuzeitlichen Geschichte der Bemühungen um die Aufklärung. Unterhalb dieser prominenten Phänomene hat sich in den Auseinandersetzungen mit dem Thema nicht grundsätzlich etwas an der fast hundert Jahre zurückliegenden Diagnose Ernst Cassirers geändert, dass sie „zu jenen Gedanken-Webermeisterstückchen gehört, wo ,Ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließenR“.2 Im Rückblick auf das nur äußerst schwer fassbare „Ganze dieser hin und hergehenden, dieser unablässig fluktuierenden Bewegung“3 hat man zwar mit Hilfe eines Kunstgriffs versucht, sich dieses ,GanzenR mit Hilfe der nominalistischen Einheit namens Aufklärung zu versichern. Doch wie sollte diese nominalistische Beschwörung dem einzelnen Menschen helfen können, „eine ursprüngliche Spontaneität des Gedankens“ zu gewinnen, die „ihm die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung“4 verleihen würde? Cassirers Buch von 1932 war zwar einzigartiger symbolischer Akt individueller jüdischer Selbstbehauptung mit Mitteln der Philosophie.

1 Jürgen Habermas, Die Scheinrevolution und ihre Kinder (11968), wieder abgedruckt in: ders., Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt am Main 1969, 188–201, hier 201. 2 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, Hamburg 1998, XIII. 3 Ebd. 4 Ebd., XII (Hvhg. im Original).

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Doch inmitten der nach wie vor ,unablässig fluktuierenden BewegungR namens Aufklärung – und nicht nur während der von allen guten Geistern verlassenen Deutschen Katastrophe (Friedrich Meinecke) – blieb Cassirers Weckruf einer individualistischen Aufklärungs-Konzeption so gut wie ungehört. Sterile Erbschaftsansprüche auf das Taufjahrhundert der Aufklärung, Texte auf der literarischen und der literatur-historischen Spielwiese der Aufklärung sowie pseudo-gesellschaftskritische Kollektiv-Phantasien beherrschen das thematische Feld. Die abstrakte pseudo-sokratische Frage Was ist Aufklärung? verführt immer wieder von neuem zu ebenso schlecht-abstrakten, also sterilen Versuchen, sie zu beantworten. Doch der platonische Sokrates war unter der Dialog-Regie Platons niemals an direkten Antworten auf seine legendären, essentialistisch klingenden Was-ist-X-Fragen interessiert. Solche Fragen waren für ihn regelmäßig stillschweigende methodologische Provokationen, sich mit ihm auf lehrreiche skeptische Wege von Fallerörterungen zu begeben, durch die geklärt werden sollte, ob seine Gesprächspartner – aber auch Platons Leser! – überhaupt die Fähigkeit besitzen zu beurteilen, ob ein gegebener Fall unter den Begriff X der jeweiligen Wasist-X-Frage fällt oder nicht. Haben die Bemühungen um die Aufklärung nichts aus diesem lehrreichen methodologischen Muster gelernt? Es ist gewiss nicht leicht, das in drei Dutzend Dialogen präsentierte vielgestaltige methodische Muster des platonischen Sokrates ohne externe Hilfe auf einen fruchtbaren Umgang mit der erst mehr als zweitausend Jahre später ausdrücklich gestellten Frage Was ist Aufklärung? zu übertragen. Die Theologie, die diese Frage durch Johann Friedrich Zöllner 1783 in der Berlinischen Monatsschrift zum ersten Mal formuliert hatte, musste ihn eingestehen lassen: „Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man zu aufklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“5 Zwar darf mit Blick auf das 20. Jahrhundert Leo Strauss als der gelehrteste, scharfsinnigste und tiefsinnigste Kritiker des Anspruchs der christlichen Religion auf Teilhabe an der Offenbarung einer ,absoluten WahrheitR gelten.6 Doch leider hat sich Strauss seinen Zugang vor allem zu Kants Bemühungen um die Aufklärung über die Religion schon von Anfang an durch ein stereotypes Vorurteil verstellt – durch das Vorurteil über den „Rückgangscharakter der modernen Philosophie in der […] ganze[n] Breite des 17. und 18. Jahrhunderts“,7 und zwar bedingt 5 Johann Friedrich Zöllner, Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), 508–516, hier 516, Anm. 6 Vgl. hierzu Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat (11930), wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1 (GS 1): Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart, Weimar 1996, S. 1–330. 7 Leo Strauss, Die geistige Lage der Gegenwart (11932), wieder abgedruckt in: ders., Gesam-

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durch „die Offenbarungs-Kritik der radikalen Aufklärung“.8 Ausnahmegestalten innerhalb des von Strauss diagnostizierten Verfalls der Philosophie durch diese radikale Aufklärung bilden in seinen Augen so gut wie ausschließlich Rousseau, Mendelssohn und Lessing.9 Doch auch mit der Aufklärung über die Religion liegt immer noch irgendetwas im Argen, und dies, obwohl inzwischen fast zweihundertfünfzig Jahre vergangen sind, seit Kant in seinem längst klassisch gewordenen Aufklärungs-Aufsatz in programmatischer Form erklärt: „Ich setze den Hauptpunkt der Aufklärung in Religionssachen“.10 Der amerikanische Historiker Robert Darnton – vermutlich der bedeutendste Kenner der medialen Verbreitungsformen des Aufklärungsprojekts im 18. Jahrhundert – hat in einem fulminanten Essay unter dem Titel George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?11 zugunsten der Wichtigkeit der von ihm apostrophierten kleingeschriebenen Fortschritte der Aufklärung plädiert12 – und damit zugunsten einer Revision der Kriterien, mit deren Hilfe man wohlbegründete Antworten auf Fragen nach Fortschritten der Aufklärung geben kann. Es ist unter diesen Vorzeichen gleichwohl irritierend, dass Darnton die von ihm umrissenen kleingeschriebenen Fortschritte der Aufklärung ausgerechnet am Beispiel von George Washingtons falschen Zähnen exemplifiziert, also an einem Musterbeispiel aus der Geschichte der Zahnheilkunde. Zwar widerfahren die Zahnschmerzen und der Zahnverfall den Menschen seit unvordenklichen Zeiten nicht nur in einer ganz und gar unscheinbaren, vergleichsweise winzigen und nicht-öffentlichen Region ihrer leibhaftigen Existenz. Sie sind sogar mit Gefahren für Leib und Leben bis hin zum Tod verbunden. Die außerordentlichen Wohltaten der modernen Zahnheilkunde sind ganz besonders vor diesem Hintergrund selbstverständlich gänzlich unbestreitbar. Doch ist es im Rahmen eines erneuten Versuchs zur Beantwortung der quasi-essentialistischen Aufklärungs-Frage angemessen, ausgerechnet die Fortschritte der Zahnheilkunde seit George Washingtons Zeiten als Musterbeispiel von kleingeschriebenen Fortschritten der Aufklärung zu behandeln?

melte Schriften, Bd. 2 (GS 2): Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart, Weimar 1997, 441–456, hier 454. 8 Strauss, Die Religionskritik Spinozas (wie Anm. 6), 63. 9 Vgl. hierzu Leo Strauss, Einleitungen zu Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, in: Strauss, GS 2 (wie Anm. 7), 465–608. 10 Immanuel Kant, Was heißt Aufklärung?, in: KantQs Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1900 ff., Bd. 8, 35–42, hier 41. 11 Robert Darnton, George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?, München 1997. 12 Vgl. ebd., 26 f.

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Man wird den Sozialhistoriker nicht gut dafür kritisieren können, wenn er Bedingungen der von ihm beschworenen kleingeschriebenen Fortschritte ausblendet, die für die Philosophie von alters her in einem Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit stehen. Denn es sind nun einmal die außerordentlichen kognitiven Fortschritte der klinischen Forschung, die im Schatten von Darntons enthusiastischer Dankbarkeit für die Wohltaten der gegenwärtigen Zahnheilkunde verschwinden. Der Grad der Abstraktion von dieser kognitiven Dimension ist beim Sozialhistoriker sogar so groß, dass auch noch die zweite, für das Aufklärungs-Thema sogar noch wichtigere kognitive Dimension jenseits der klinischen Forschung ausgeblendet bleibt – die kognitive Dimension der ärztlichen Diagnose und Therapie. Sofern der jeweils behandelte individuelle Patient in diese kognitive Dimension der ärztlichen Tätigkeit einbezogen wird, sprechen wir im deutschen Sprachraum von der Aufklärung, die der jeweils behandelnde Arzt seinem Patienten in Form seiner Diagnose und seines Heilbehandlungsplans angedeihen lässt. Man kann sich leicht klarmachen, dass an dem hier verwendeten AufklärungsBegriff sowohl eine kognitive wie auch eine praktische Komponente beteiligt ist, die hier in einer geradezu musterhaften Form zu einem generalisierbaren Aufklärungs-Begriff verschmolzen sind. Denn die ärztliche Diagnose klärt über somatische Bedingungen einer gestörten Alltagspraxis des individuellen Patienten ebenso auf wie der Heilbehandlungsplan über eine praktische und technische Form aufklärt, diese somatischen Praxis-Störungen zugunsten einer somatisch ungestörten Alltagspraxis zu überwinden. Doch vor allem haben die inzwischen inflationär gebrauchten Aufklärungsformeln Kants längst die Diagnosen in Vergessenheit geraten lassen, durch die er nicht nur die kognitive Instanz beim Namen genannt hat, von der die Fruchtbarkeit der Bemühungen um Aufklärung abhängt. Durch diese Diagnosen hat er insbesondere die strukturelle Geschichtlichkeit der Aufklärung ins Bewusstsein gehoben, wenn er den wichtigsten kognitiven Fortschritt seines Jahrhunderts „der gereiften Urteilskraft […] des Zeitalters“13 zuschreibt. Es ist diese geschichtlich gereifte, aber noch längst nicht vollkommene Urteilskraft, der es zu danken ist, dass „wir jetzt in einem […] Zeitalter der Aufklärung [leben]“, wenngleich noch nicht „in einem aufgeklärten Zeitalter“ – denn „daran fehlt noch viel“.14 Hier wird offensichtlich eine epochale Struktur der Aufklärung ins Auge gefasst. Doch wieviel hat diese Epoche bis heute an Reife der Urteilskraft gewonnen? Kants inflationär zitierte Aufklärungs-Maxime „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“15 ist nicht nur strikt individualistisch konzipiert. Ihr individualistischer Charakter macht auch unmissverständlich deutlich, dass Kant 13 14 15

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), A XI (Hvhg. R.E.). Kant, Aufklärung (wie Anm. 10), 40. Ebd., 36.

Diskussion

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sich mit der Thematisierung des Verstandes in diesem Kontext in begrifflicher Hinsicht vergriffen hat. Denn der Verstand ist „das Vermögen der Regeln“16 und anderer genereller Urteile. Indessen ist es, wie er schon in der Kritik der reinen Vernunft klarstellt, nur die Urteilskraft, die jedem individuellen Menschen in jedem individuellen Fall zu einem trefflichen, also auch zu einem aufgeklärten Urteil über die kognitiven und die praktischen Herausforderungen seines aktuellen Falls verhelfen kann, indem sie ihn befähigt zu beurteilen, ob „ein Fall in concreto“ unter „das Allgemeine in abstracto“17 gehört. In welchem Maß eine Gesellschaft bzw. eine Meso- oder Mikro-Gruppe in einer aktuellen Situation kollektiv aufgeklärt ist, hängt daher davon ab, in welchem Maß ihre erwachsenen individuellen Mitglieder von einer ,gereiften UrteilskraftR Gebrauch machen können – gleichgültig, ob diese Situation epochale oder sogar weltgeschichtliche Züge hat.

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KrV, A 132/B 171. Ebd., A 134/B 173 (Hvhg. R.E.).

R E Z E N S I O N EN

Birgit Sandkaulen, Walter Jaeschke (Hg.), Jacobi und Kant, Meiner, Hamburg 2021, 247 S., E 29,90. Dass neben Kant vor allem Jacobi entscheidend für die Formierung des so genannten Deutschen Idealismus war, ist kein Geheimnis. Die Idealisten selbst hoben das wiederholt hervor, die älteren großen Darstellungen des Entwicklungsgangs der Philosophie „von Kant bis Hegel“ taten es und auch neuere philosophiehistorische Überblicke erkennen Jacobis Einfluss auf die Entstehung der idealistischen Systementwürfe ausdrücklich an.1 Dabei stehen zumeist Jacobis Spinoza-Interpretation und seine Kritik am transzendentalen Idealismus im Mittelpunkt. Dass Jacobis Philosophieren nicht nur in ideenhistorischer Hinsicht von Interesse sei, ist dagegen keine so weit verbreitete Ansicht. Immerhin hat die Jacobi-Forschung in den letzten Jahren durchaus an Fahrt aufgenommen; anlässlich des 200. Todestags Jacobis 2019 fand am Forschungszentrum für Klassische Deutsche Philosophie/Hegel Archiv der Ruhr-Universität Bochum eine Tagung zu „Jacobi und Kant“ statt, deren Ergebnisse in dem vorliegenden Band veröffentlicht wurden und die Beschäftigung mit Jacobis Philosophieren weiter anregen sollen. Gerade die Fokussierung auf das Verhältnis zur kritischen Philosophie Kants ist dafür ein aussichtsreicher Ausgangspunkt, da einerseits an ihm das Eigentümliche von Jacobis Denken profiliert und andererseits von ihm ausgehend nach dem sachlichen Gehalt seiner Kant-Kritik gefragt werden kann. Der Band enthält neben einem kurzen Vorwort dreizehn Aufsätze, die in die drei Abteilungen „Epistemologie“, „Metaphysik“ und „Philosophie des Geistes und Moralphilosophie“ eingeordnet werden. Da eine einführende Darstellung von Jacobis und Kants Philosophieren sowie ihres Kontexts fehlt, richtet er sich offenkundig an eine mit der Thematik bereits vertraute Leserschaft. Das ist nicht nur insofern bedauerlich, als dadurch der Zugang für einen weiteren Kreis an Interessierten erschwert wird, sondern auch mit Blick auf die verstrichene Gelegenheit für die Formulierung eines Zwischenstands der Forschung. Das Gros der Beiträge bietet aber neben einem konzisen Einstieg in das jeweilige Thema auch Hinweise auf gängige Interpretationen und weiterführende Literatur. Etwa die Hälfte der Beiträge fördert bisher eher Unbekanntes über Jacobis Philosophieren zutage oder präzisiert bekannte Einsichten. So analysiert Brady Bowman („Die Wirklichkeit des Wahren“, 27 – 45) eingehend Jacobis Glaubensbegriff und markiert den wesentlichen Unterschied zu Kant, indem er auf grundlegende Differenzen in der Vernunftkonzeption hinweist: ,VernunftR sei für Jacobi ein „wesentlich nicht-propositionales Vermögen der offenen Empfänglichkeit für etwas, das […] meinem Denken und Handeln erst einen spezifisch menschlichen, geistigen Gehalt verschafft“ (41). Dieses Vernehmen der Vernunft („Gefühl“) sei zudem ein Wahrnehmen „von ethischen Werten“ (42), ähnlich den 1 Vgl. etwa Richard Kroner, Von Kant bis Hegel. Erster Band, Tübingen 1921, 303 – 308 sowie Frederick C. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy between Kant and Fichte. Cambridge, Mass., London 1987, chap. 2, Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie, Frankfurt am Main 2011, 87 – 110 oder Miklls Veto˝, Von Kant zu Schelling. Die beiden Wege des Deutschen Idealismus, Berlin, Boston 2019, 781 – 795.

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reactive attitudes bei Strawson, und mache deutlich, dass Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft „in seiner Zeit nicht alternativlos gewesen ist“ (45). Oliver Koch („Kausaler Zusammenhang und lebendige Einheit“, 107 – 123) nimmt Jacobis Naturbegriff in den Blick, indem er ihn demjenigen Kants gegenüberstellt und zeigt, wie Jacobi zwar an dessen Überlegungen anschließt, aber einen „originären praktischen Naturbegriff“ (122) zu entwickeln versucht und sich bei seiner Bestimmung des Leibes eines konkreten Subjekts eher an LeibnizQ Entelechie-Konzeption orientiert. Jacobis Religionsphilosophie wird in den Beiträgen von Catia Goretzki („Jacobis Denken im Spannungsfeld des Kantischen Theismus-Begriffs“, 125 – 140) und Majk Feldmeier („Der Mensch, ein ,krummes HolzR?“, 157 – 174) thematisiert. Goretzki führt sorgfältig aus, wie Jacobi in seiner Kritik am Konzept einer Vernunftreligion Kants terminologische Unterscheidung von ,TheismusR und ,DeismusR aufnimmt, um „sein eigenes theologisches Konzept durch einen spezifischen Terminus [zu] profilieren“ (136). Jacobis Begriff eines lebendigen Gottes entspreche allerdings keineswegs demjenigen Kants, da für ihn „der menschliche Geist Geist von Gottes Geist“ sei und zudem Gott „auch auf das Leid des Menschen bezogen sein“ müsse (139) – mit beiden Punkten geht er offenkundig weit über Kants Moraltheologie hinaus. Feldmeier widmet sich dagegen der „Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant“, die bei beiden zwar eine anthropologische, in ihren Annahmen über das spezifisch Menschliche aber völlig verschiedenartig sei. Während Kant „den Menschen als aufgespalten in zwei widerstreitende Naturen [entwirft]“ (157), sehe Jacobi ihn durch eine ursprüngliche „Unbedingtheitserfahrung“ (171) ausgezeichnet, in der die bei Kant diagnostizierte „Aufspaltung“ als eine „künstliche“ entlarvt werde (172). Entsprechend weniger umständlich stellt sich dann für Jacobi die Erkenntnis der Realität religiöser Ideen dar: Sie ist mit dem „unmittelbaren Bewusstsein personalen Selbstseins“ (ebd.) gleich mitgegeben, so dass Kants Überlegungen nur noch als solche erscheinen, die wahre religiöse „Einsicht letztlich nur verstellen kann“ (173). Den Fokus auf Kant nimmt Walter Jaeschke („Kant in Jacobis Kladden“, 175 – 190) in einem kurzen, aber lesenswerten Forschungsbericht zum Anlass, auf Jacobis Notizbücher einzugehen, die erst seit wenigen Jahren in einer textkritischen Ausgabe vorliegen.2 Ausgehend von der Beobachtung, dass es der Name Kants ist, „der von den ersten Seiten der ersten Kladde bis zu den letzten Seiten der letzten Kladde präsent ist“ (176), führt er an mehreren Beispielen vor, wie Jacobis in ,unverblümterR Sprache abgefasste Notizbücher den Entwicklungsgang seines Denkens nachvollziehbar machen, dabei dessen Schwerpunkte deutlicher werden lassen und griffige Formulierungen bieten. Zugleich weist Jaeschke ausdrücklich darauf hin, dass die Kladden die Druckschriften nicht ersetzen können, diese vielmehr immer auch bei der Rekonstruktion und Interpretation von Jacobis Philosophieren herangezogen werden müssen (vgl. 184 f.). Nahezu völliges Neuland erschließt Christoph Halbig („Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit“, 229 – 247), indem er in seinem Beitrag die „Grundstruktur“ expliziert, „die Jacobis eigenes Verständnis von Ethik auszeichnet“ (231). Gegen Jürgen Stolzenbergs Pionierarbeit zu Jacobis Moralphilosophie3 weist er in einer Analyse einschlägiger Textstellen aus Jacobis Schriften nach, dass dieser sich nicht einfach einer aristotelischen Tugendethik zuordnen 2 Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis, hg. von Sophia Victoria Krebs, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020. 3 Jürgen Stolzenberg, „Was ist Freiheit? Jacobis Kritik der Moralphilosophie Kants“, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen, Hamburg 2004, 19 – 36.

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lässt. Im Zentrum von Jacobis Strebensethik stehe vielmehr eine „Hermeneutik der Triebe“ (241), die „in einen perfektionistischen Rahmen [eingebettet]“ (246) sei. Vor allem aber konstatiert Halbig drei „Spannungen“ dieser Konzeption: Erstens changiere sie zwischen „dem Evaluativen und dem Deontischen“ (245); zweitens weise Jacobis Hermeneutik der menschlichen „Strebungen“ zwar „über sich selbst hinaus“ (245 f.), könne aber selbst nicht die Mittel zur Erreichung des Intendierten bereitstellen; und drittens nehme seine Ethik zwar strikt einen spezifisch menschlichen Standpunkt ein, führe aber das „göttliche[] Ideal einer schöpferischen, auf keinerlei Bedürftigkeit beruhenden Liebe“ als Maßgabe ethischen Strebens an, ohne dass Jacobi der Vermittlung beider Perspektiven aber „weiter nachgegangen“ wäre (246). Was aus Sicht systematischen Philosophierens als Makel erscheinen mag, deutet Halbig abschließend als konsequent im Rahmen jacobischen Philosophierens: Solche Spannungen machten gerade das spezifisch Menschliche im Bemühen um ein gutes Leben aus. Die andere Hälfte der Beiträge nimmt – mit einer Ausnahme – bereits bekannte Differenzen zwischen Kant und Jacobi aus einer sachbezogenen Perspektive in den Blick. Berüchtigt ist vor allem Jacobis Kritik am transzendentalen Idealismus, die daher auch zu Recht von gleich drei Beiträgen thematisiert wird – wenn auch mit sehr verschiedenen Mitteln. Andreas Arndt („Grenzen der Vernunft“, 13 – 25) weist darauf hin, dass Kant und Jacobi das Anliegen teilen, ,VernunftR durch deren Selbstbegrenzung zu bestimmen, Jacobi allerdings Kants „Grenzziehung für ungenügend“ (13) halte. Dieses Ungenügen betreffe einerseits das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, andererseits das von Verstand und Vernunft. Anders als Kant sehe Jacobi die Grenze der Vernunft nicht zwischen Bewusstsein und Realität, sondern „eigentlich im Bereich des Bewusstseins, wo zwischen dem Bereich des Wissbaren und Unwissbaren unterschieden wird“ (22). Dort verlaufe sie zwischen „der uns unbegreiflichen, unmittelbaren Einheit von Subjekt und Objekt“ und „der reflektierenden Tätigkeit des Verstandes“ (21). Entsprechend falle bei Jacobi „die Unterscheidung von Verstand und Vernunft in sich zusammen“, da der Mensch „die Vernunft nur als Grenze des Verstandes“ habe (25). Um einiges konkreter geht Peter Rohs („Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?“, 67 – 85) auf Kants Argumente für den transzendentalen Idealismus ein. Vor allem aber widmet er sich der „Annahme einer intelligiblen oder noumenalen Verursachung“ (75), die für Kants Theorie zentral sei, da ihr zufolge ein solcher „noumenaler […] Kausalprozess“ immerhin die „Basis unserer empirischen Erfahrung“ abgeben solle (77). Bekanntlich verstanden Jacobi und andere Zeitgenossen Kants Theorie ebenfalls in dieser Weise und hielten sie aufgrund dieser Annahme für inkonsistent. Doch ähnlich wie bei Jacobis Kritik an den Folgerungen, die sich aus Kants Lehre von der Idealität von Raum und Zeit ergeben, nennt Rohs zwar Jacobis Kritikpunkte, interessiert sich aber nicht weiter für diese, sondern geht seinen eigenen Überlegungen zu den aufgeworfenen Problemen des transzendentalen Idealismus nach. Daher skizziert er am Ende seines Beitrags die Grundlinien seines eigenen Entwurfs einer aktualisierten Transzendentalphilosophie,4 um zu zeigen, dass auf sie Jacobis Kritik nicht zutreffe. Auch Johannes Haag („Die Wirklichkeit der Dinge“, 47 – 66) verteidigt den transzendentalen Idealismus gegen Jacobis Einwände – allerdings mit kantischen Mitteln. Jacobi habe nämlich Kants „methodologische Wende“ unterschätzt (49). Zwar könne seine Kritik nicht auf diejenige Schulzes reduziert werden, der zufolge Kant eine Affektionsbezie4 Peter Rohs, Geist und Gegenwart. Entwurf einer analytischen Transzendentalphilosophie, Münster 2016.

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hung zwischen Dingen an sich und erkennenden Subjekten postuliere, die mit seiner Festlegung der objektiven Gültigkeit von Kausalbeziehungen auf den Bereich empirischer Gegenstände im Widerspruch stehe (und die Rohs in seinem Beitrag allein vor Augen hat). Jacobi setze tiefer an, indem er Kants „Eingangsbehauptung affizierender Gegenstände“ nicht für transzendentalphilosophisch einholbar hält.5 Allerdings lassen sich Haag zufolge Kants Einlassungen zum Gegenstandsbegriff in der ersten Kritik so verstehen, dass Kant zufolge der Begriff eines von der Vorstellung verschiedenen, „affizierenden“ Gegenstands nichts anderes als eine „begriffliche Bedingung der Möglichkeit“ von Gegenstandserkenntnis sei (65). Aus dieser Lesart, die Haag genau am kantischen Text belegt, ergibt sich die Annahme einer von Gegenständen affizierten Sinnlichkeit „direkt aus der transzendentalphilosophischen Analyse des Begriffs eines Gegenstands der Vorstellung“ (ebd.) und Jacobis Kritik läuft ins Leere. Ein wesentlicher Grund für Jacobis Unterschätzen des „kritischen Unternehmens“ ist, dass er „ein wenig zu sehr ,im Felde der MetaphysikR unterwegs zu sein“ scheint (59) und insofern die Eigenart transzendentalphilosophischer Reflexion missversteht. Ganz ähnlich sieht das Gunnar Hindrichs („Nihilismus“, 141 – 156), wenn er Jacobi eine „Ontologisierung des transzendentalen Denkens“ (141) zuschreibt, die dieses zu einem „nihilistische[n] Denken“ (142) werden lasse und Jacobis berüchtigten „Sprung“ (148) motiviere. Hindrichs weist darauf hin, dass sich diese ,OntologisierungR dem Rückgriff auf Spinozas Metaphysik verdankt, aber vor „dem Bereich der Geltung“ als dem spezifischen Thema transzendentaler Reflexion „einfach stehen“ bleibe (149). Als sachlich gerechtfertigt könne sie allerdings mit Blick auf Kants beiläufige Bemerkung, dass das „Ich denke“ den „Satz, Ich existiere, in sich [hält]“ (KrV, B 422 Anm.), angesehen werden. Denn damit scheint alles Seiende doch zum Produkt der „Selbsterzeugung“ (147) des Denkens degradiert zu werden und Jacobis Nihilismus-Vorwurf wieder zu greifen. Als Ausweg erwägt Hindrichs daher eine „Ontologie des Noch nicht“, in der das „Ich bin“ als „Vorwegnahme von zu erzeugender Bestimmtheit“ verstanden wird (156). Weniger im Kontext von Jacobis metaphysischem Realismus, sondern mit Blick auf die unterschiedlichen Konzeptionen personaler Identität thematisiert Ulrich Schlösser („Persönlicher Mensch, identisches Selbst, allgemeines Bewusstsein“, 211 – 228) die Subjekttheorien Kants und Jacobis. Im Mittelpunkt steht dabei das systematische Problem, wie ein sich als Einzelnes verstehendes Wesen zugleich „ein Denker sein kann“, also Gedanken haben könne, die „einen Anspruch an potentiell jedermann stellen können“ (212). Während Jacobi das Personsein an einer gefühlsmäßigen Vertrautheit mit dem eigenen, „konkreten Selbst“ (216) festmache, das sich in gewissem Sinne in den relevanten, viel späteren Überlegungen Freges und Heideggers wiederfinden lasse, vertrete Kant eine ganz andere Position. Diese habe zwei zu unterscheidende Seiten: Die erste betreffe die numerische Identität des einzelnen Subjekts, die den identischen Bezugspunkt aller seiner Vorstellungen ausmache; die zweite betreffe das „allgemeine Bewusstsein“, das Schlösser im Anschluss an Überlegungen Kants zur „Mitteilbarkeit“ aus der Kritik der Urteilskraft als die Gesamtheit möglicher Perspektiven auf denselben Gegenstand interpretiert (222). Mit dieser vergleichsweise komplexen Konzeption biete Kant eine Lösung des genannten systematischen Problems, die Jacobi aufgrund der transzendental-idealistischen Prämissen allerdings nicht teilen könne. Jacobis Konzeption könnte eine alternative In diesem Punkt schließt Haag sich explizit der Rekonstruktion Birgit Sandkaulens an (Das ,leidige Ding an sichR. Kant – Jacobi – Fichte, in: dies., Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, 169 – 197, hier 177 – 191). 5

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Lösung bieten, wenn sie „in der Fluchtlinie des semantischen Externalismus“ (226) / la Spinoza gelesen würde, was wiederum nicht gut zu Jacobis „Betonung der Innensphäre des Jemeinigen“ (227) passe. Schlösser sieht die jacobische Alternative daher an einer anderen Stelle, nämlich der ganz anderen Vernunftkonzeption: Jacobi denke Vernunft nicht als spontan, sondern als „responsiv“ (227). Ihm zufolge lasse sich „die Ich-Du-Beziehung nicht verständig rekonstruieren, weil wir nicht hinter sie zurücktreten können“ (ebd.). Sollte diese Analyse korrekt sein und macht man den Aufklärungscharakter eines Philosophierens an der Bestimmung der Vernunft als Spontaneität fest, dann – so Schlössers Fazit – könne Jacobi nicht als Aufklärer verstanden werden. Eine ganz andere Differenz zwischen dem Philosophierens Kants und Jacobis stellt schließlich Birgit Sandkaulen („Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit“, 193 – 210) heraus. Sie betrifft das Verhältnis von Lebenswelt und philosophischer Reflexion. Während Kant als zwiespältiger, nicht konsequenter Halbphilosoph erscheint, der zwar mit der „vorphilosophischen Sphäre des Common Sense“ (197) gelegentlich liebäugele, sie aber in einen gekünstelten Vernunftglauben ummodele, sei Jacobi geradezu der Philosoph, der den „Common Sense“ als „vorphilosophische, existentielle Sphäre lebensweltlicher Praxis“ (202) verstehe und „den praktischen Primat einer Handlungsmetaphysik“ (202 f.) absichere. Im Briefwechsel der beiden Philosophen von 1789 sieht Sandkaulen zudem die Bestätigung, dass Kant Jacobis Philosophieren gar nicht richtig verstanden habe, während Jacobi dieses Unverständnis trotz der gemeinsamen Berufung auf „die“ Freiheit nur irritieren konnte. Die weiter oben genannte Ausnahme ist der Beitrag von Stefan Schick („Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori“, 87 – 104). Er stellt insofern eine Ausnahme dar, als er weder Neues an Jacobis Philosophieren zutage fördert, noch bekannte Differenzen zwischen Kant und Jacobi aus einer sachbezogenen Perspektive in den Blick nimmt, sondern eher ideenhistorischer Art ist und eine Verbindung zum Deutschen Idealismus herstellt. In überzeugender Weise weist er nach, dass Jacobis Kant-Kritik einen wesentlichen Einfluss auf diejenige Hegels ausgeübt hat, ohne dass dieser das in gebührender Weise explizit gemacht hätte. Entgegen dem Mainstream der Rekonstruktion von Hegels Entwicklung seiner Logik und der damit verbundenen Kritik an Kants Auffassung von Vernunft und philosophischer Erkenntnis zeigt Schick bis in einzelne Formulierungen hinein, dass und inwiefern sich Hegels Kant-Verständnis Jacobi verdankt. Die Lektüre dieses Beitrags kann damit allen an der Genese des hegelschen Denkens Interessierten nur empfohlen werden.6 Wie die kurze Zusammenschau zeigt, bietet der Band einiges neues Material mit Blick auf Jacobis Philosophie und wird daher sicher dazu beitragen, ihren Gehalt weiter zu erschließen sowie ihren Einfluss auf die Formierung des Deutschen Idealismus besser einschätzen und würdigen zu können. Zudem bietet er teilweise auch Interessantes mit Blick auf Kant, obwohl in dieser Hinsicht vergleichsweise wenig Neues präsentiert wird, sondern die Auseinandersetzung mit Jacobi eher dazu dient, schon bekannte Überlegungen und Lösungsstrategien zu präzisieren. Schenkt man dagegen dem jeweiligen Umgang mit beiden Philosophen besondere Beachtung, wird rasch eine Linie erkennbar, die die 6 Diese Empfehlung muss allerdings in einem Punkt ein wenig relativiert werden. Er betrifft zwar nur Formales, stört aber doch bei der Lektüre. Wendungen wie „Hegels Verhältnis zu Kants transzendentaler Einheit der Apperzeption …“ (89) oder „Diese Interpretation der Einbildungskraft als der Grundkraft der Lehre Kants …“ (93) sind nicht besonders sorgfältig formuliert und erschweren daher nicht unerheblich das Verständnis.

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versammelten Texte gleichsam in zwei Lager teilt. Sie ist durch die unterschiedliche Einschätzung des sachlichen Gehalts von Jacobis Philosophieren markiert. Bei dem einen Teil der Beiträge wird es als die klarste Sache der Welt gehandelt, dass Jacobis Philosophie nicht nur die der kantischen überlegene, sondern insgesamt eine bis heute in ihrem Reflexionsniveau kaum überbotene darstellt: Kants Philosophie wird dann direkt durch die jacobische Brille gelesen, so dass sie nur schlechter als diese abschneiden kann – besonders in den Beiträgen von Feldmeier und Koch, aber auch dem von Jaeschke; oder ihr werden Inkonsistenz und Inkonsequenz zugeschrieben, was dann die Funktion hat, Jacobis Philosophie als Antidot zu profilieren – so besonders in dem Beitrag von Sandkaulen, aber auch in demjenigen von Bowman. Angesichts der bis heute verbreiteten Ignoranz für die Grundsätzlichkeit von Jacobis Kant-Kritik und auch der Reichhaltigkeit seines Philosophierens vonseiten der Kant-Forschung ist eine solche Haltung zwar durchaus verständlich, dürfte jedoch kaum zu einer besseren Dialogsituation zwischen „Kantianerinnen“ und „Jacobianerinnen“ führen. Glücklicherweise umgehen einige Beiträge diese Falle, indem in ihnen Jacobis Kritik in angemessener Weise ernstgenommen wird – wie im Beitrag von Haag – oder die grundsätzlichen Differenzen des Philosophierens Jacobis und Kants pointiert herausgestellt werden sowie um mögliche Vergleichspunkte und sachbezogene Einschätzungen ihres sachlichen Gehalts tatsächlich gerungen wird – wie etwa in den Beiträgen von Schlösser und Hindrichs, aber auch dem von Halbig. Konstanter Bezugspunkt der Jacobi-Freunde ist Sandkaulens Interpretation, die auch in ihrem eigenen Beitrag zum vorliegenden Band im Hintergrund steht. Schließt man sich dieser an, dann nimmt Jacobis Philosophie – im Unterschied zur Transzendentalphilosophie Kants – direkt konkrete Subjektivität in den Blick. Die Vorwürfe an Jacobis „Glaubensphilosophie“ als Form eines Irrationalismus werden dadurch nicht nur relativiert, sondern tatsächlich weitgehend gegenstandslos. Denn wer will schon bestreiten, dass das konkrete Subjekt in seinem praktischen Selbstverständnis auch auf einen „präreflexiven, von der Form diskursiver Vernunft unterschiedenen Glauben“ (202) vertraut? Offenkundig sind konkrete Subjekte keine bloßen Verkörperungen reiner Vernunft, sondern Personen, eingespannt in eine „Lebenswelt“. Damit aber den „Primat einer Handlungsmetaphysik“ (203) zu begründen, wirkt nicht nur schief, sondern muss aus einer kantianischen Perspektive vor allem als unkritisch erscheinen. Schief wirkt das, weil sich Kant mit seiner Transzendentalphilosophie vergleichsweise wenig um konkrete Subjektivität kümmert. Das mag als bedauerlich eingeschätzt werden und den Bedarf einer diesen Mangel behebenden Theorie – wie etwa eine „Handlungsmetaphysik“ – rechtfertigen.7 Dass diese begründungstheoretisch primär wäre, müsste jedoch allererst gezeigt werden. Dafür reicht der bloße Verweis auf ein praktisches Selbstverständnis nicht aus. Denn dieses mag zwar lebensweltlich oder ontologisch vorrangig sein, nicht aber in geltungstheoretischer Hinsicht.8 Als entsprechend unkritisch erscheint Sandkaulens Jacobi, da aus erkenntniskritischer Perspektive geltungstheoretische Überlegungen die begründungstheoretisch primäAnsätze dafür gab es selbstverständlich schon zu Kants und Jacobis Lebzeiten. Für ein weniger bekanntes Beispiel siehe Stefan Klingner, Das individuelle Subjekt. Zur Originalität von J. G. E. MaaßQ Versuch über die Einbildungskraft, in: Konzepte der Einbildungskraft in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts. Festschrift zum 65. Geburtstag von Udo Thiel, hg. von Rudolf Meer, Giuseppe Motta und Gideon Stiening, Berlin, Boston 2019, 453 – 482. 8 Für eine noch immer bedenkenswerte Argumentation für den begründungstheoretischen Primat geltungsnoematischer Reflexion gegenüber Arten ontologischer Reflexion siehe Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, München, Basel 31980, § 7. 7

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ren sind. Erst sie geben die Mittel an die Hand zu erkennen, welche unserer Überzeugungen wahrheitsfähig sind und bei welchen Gegenständen besondere Vorsicht in unserem Urteilen geboten ist – auch wenn es um unser praktisches Selbstverständnis geht. Geltungstheoretische Überlegungen als überflüssig oder gar grundsätzlich verfehlt anzusehen, darf daher mit Fug und Recht als „unkritisch“ bezeichnet werden. Fruchtbarer als ein Disqualifizieren des einen Philosophierens aus der für besser gehaltenen Position des anderen wäre es jedoch, danach zu fragen, inwiefern sich die Überlegungen Kants und Jacobis annähern und vielleicht in eine Art Ergänzungsverhältnis bringen lassen. Einige der Beiträge präsentieren dafür bereits erste Überlegungen. Zudem wäre eine solche auf Ergänzung und philosophischen Fortschritt abzielende Auseinandersetzung mit beiden Autoren sicher im Sinne aufklärerischen Denkens – zumal die Frage nach dem Verhältnis des Philosophierens Jacobis zur Aufklärung alles andere als geklärt ist. Jacobi einfach dadurch von dem „noch bis vor kurzem umlaufenden Ruf, vermeintlich ein Gegenaufklärer zu sein“ (197), loszusprechen, indem er zum besseren, weil die Grenzen der Aufklärung reflektierenden Super-Aufklärer erklärt wird, reicht jedoch wieder nicht aus.9 Hier wären genauere Einschätzungen nötig, die auf einer fairen Gegenüberstellung der verschiedenen Überlegungen aufbauen und klar benannte Kriterien für den systematischen Vergleich verwenden. Schlössers Beitrag ist hier beispielhaft – auch wenn dieser zu dem Schluss kommt, dass Jacobi zumindest hinsichtlich seiner subjekttheoretischen Überlegungen nicht als Aufklärer gelten kann (vgl. 228). Stefan Klingner (Universität Göttingen)

9 Siehe dazu Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt am Main 2019. Sandkaulen sieht mit dieser „großen Studie“ die „leidige Diskussion“ darüber, ob Jacobi ein Gegenaufklärer sei, „überwunden“ (198). Warum ich mich dieser Einschätzung nicht anschließen kann, habe ich in meiner Rezension des Buchs von Schick erklärt (vgl. Aufklärung 33 [2021], 347 – 356).

Ritchie Robertson, The Enlightenment: The Pursuit of Happiness, 1690 – 1790. Allen Lane, London 2020, 1.008 S., £ 40,–. Die Aufklärung und ihre anhaltende Bedeutung für unsere heutige Welt zu verteidigen, wurde in den letzten zehn Jahren von einer Reihe hochkarätiger Publikationen unternommen. Ihre Titel sind Programm: Anthony Pagdens The Enlightenment and Why it Still Matters erschien 2013, Steven Pinkers Enlightenment Now 2018, im gleichen Jahr wie die schmale, aber provokante Abhandlung des Zürcher Philosophen Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung.1 Der Titel von Ritchie Robertsons großangelegter Studie kommt im Vergleich weniger streitbar oder gegenwartsbezogen daher. Die Aufklärung als „Streben nach Glück“ zu charakterisieren erscheint auf den ersten Blick vielmehr als ein nostalgischer, verklärender Zugang zu dieser Epoche – und es ist durchaus Robertsons wichtiges Anliegen, der Idee eines vernunftgeleiteten Strebens nach materiellem Wohlergehen für alle Menschen (xvii) wieder Leben einzuhauchen in einer Welt, die einerseits von ideologiekritischen Verurteilungen aller Formen von Ungleichheit, andererseits von populistisch-sentimentalistisch verbrämten Verstärkungen eben dieser Ungleichheiten geprägt ist. Doch erweist er damit der Aufklärung, wie sie heute verstanden, oder besser: missverstanden wird einen guten Dienst? Was können aufklärerische Schlagworte wie Glück, Vernunft, Freiheit, Autonomie oder Fortschritt – alles zweifelsohne erstrebenswerte Ziele – einer Kritik entgegenhalten, die diese Ideen als ideologisch suspekt und nur einer privilegierten Gruppe von „dead white men in periwigs“ (E. Hobsbawm, zitiert xvi) vorbehalten desavouiert? Das Beibehalten eines traditionellen Vokabulars im Kampf gegen Vorurteile gegenüber der Aufklärung scheint mir eine taktische Schwachstelle von Robertsons Studie zu sein (hierzu später mehr). Inhaltlich hingegen zeigt sie sich der Herausforderung mehr als gewachsen. Klug räumt Robertson ein, dass den anti-aufklärerischen Vorwürfen ein Körnchen Wahrheit innewohnen mag. Doch wurden die Sandkörner in der Folge von Adornos und Horkheimers Kritik an der Aufklärung2 aufgetürmt zu Bergen schier unüberwindlich scheinender anti-aufklärerischer Vorurteile. Robertsons klarsichtige Analyse benennt zwei Faktoren hierfür: zum einen ein unbedingt gegenwartsbezogenes Denken, das vergangene Epochen ausschließlich nach heutigen Ansichten und Anliegen beurteilt und mit der gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Alterität des 18. Jahrhunderts nicht anders umzugehen weiß, als sie als fehlgeleitet abzuwerten, was Robertson zurecht als „abuse of hindsight“ (xx) kritisiert; zum anderen, und damit verbunden, ein unzureichendes Wissen davon, was in der Aufklärung wirklich gesagt, geschrieben und getan wurde (xvi). Mit anderen Worten, die heutige Zeit begegnet der Aufklärung oft mit populären Vorurteilen und bestätigt damit – ebenso unwissentlich wie unwillentlich – ihre anhaltende Notwendigkeit. Robertson macht sich daran, diesen Vorurteilen ein „rounded picture“ (xvii) der Aufklärung entgegenzuhalten: statt beschönigend oder verteidigend zu referieren, was denn nun die Aufklärung gewesen sei, lässt er die Stimmen der Aufklärer in einer Vielzahl zitierter Quellen selbst Wort kommen, auch und gerade dort, wo sie sich einander widersprechen. Statt die Aufklärung auf das ihr unbestritten zentrale Vernunftdenken zu reduzieren, zeigt Robertson auf, welch große Rolle der Glauben und das Gefühl nach wie vor hatten 1 Anthony Pagden, The Enlightenment and Why it Still Matters, Oxford 2015; Steven Pinker, Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress, New York 2018; Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018. 2 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (1944), Amsterdam 1947.

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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bzw. einnahmen. Seine Aufklärung ist zudem eine in sich heterogene, an verschiedenen Orten Europas und der Welt stattfindende: nicht nur in Frankreich, mit Paris als unbestrittener Hochburg der philosophes, sondern auch in Deutschland, Schottland und, mit großer Verspätung, England (siehe hierzu das wunderbare Kapitel „At Long Last, an English Enlightenment“, 735 – 745); sie erstreckte sich von St. Petersburg bis Philadelphia, von Haiti, dessen Sklavenrevolution direkt von aufgeklärtem Denken beeinflusst war, bis nach Madagaskar, wo Piraten gemeinsam mit Einheimischen den von Aufklärungsprinzipien gelenkten Staat Libertalia gründeten und so bereits in die Praxis umsetzten, wovon in Europa noch theoretisiert wurde.3 Diese außereuropäischen Verortungen und Verkörperungen des Aufklärungsdenkens untergraben eines der heute am häufigsten artikulierten anti-aufklärerischen Vorurteile, dass nämlich die Aufklärung Hand in Hand gegangen sei mit der imperialen Eroberung und Ausbeutung der Welt durch den Westen, ja sich gar zu ihrem ideologischen Handlanger gemacht habe. Damit wird aber der Imperialismus des 19. Jahrhunderts fälschlicherweise auf das späte 17. und das 18. Jahrhundert zurück projiziert. Es ist gewiss eine Tatsache, dass schon zu dieser Zeit die europäische ,EntdeckungR der Welt mehr von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen als von wissenschaftlichen oder gar humanitären Anliegen getrieben wurde. Es ist aber auch eine, von der anti-aufklärerischen Kritik weitgehend verkannte Tatsache, dass der Handel zwischen Menschen und Völkern als das bevorzugte Mittel galt, um friedvolle, auf gegenseitiger Achtung und Nutzen beruhende Beziehungen sowie Wohlstand sicher zu stellen. Robertson lässt Adam Smith als wichtigsten Vertreter dieses Gedankens zu Wort kommen: der Impuls zum Handel ist ein grundlegend sozialer Impuls, auch wenn Handelsbeziehungen nicht auf Wohltätigkeit, sondern auf Eigennutz beruhen. Smiths Begriff der ,SelbstliebeR (537) meint aber gerade nicht egoistische Selbstsucht, und schon gar nicht die Vorteilsnahme auf Kosten anderer; er ist vielmehr die Basis gesellschaftlicher Kooperation mit dem Ziel wechselseitigen Nutzens. Smiths theoretisches Ideal des freien Marktes, in dem dieser wechselseitige Nutzen verwirklicht werden kann, wird in der Realität allerdings durch verschiedene Faktoren gerahmt, gezügelt, und manchmal auch gestört. Der Kolonialismus ist ein solcher Störfall, insofern das Handelspotential der Kolonien durch Monopole und Handelsverträge mit dem ,MutterlandR nachteilig beeinflusst wird; der berechtigte Zorn ob dieser Ausbeutung muss durch kostspielige militärische Präsenz eingedämmt werden, während der Import von Reichtümern und Luxusgütern zu Verweichlichung, Korruption und schließlich Despotismus in Europa führt. Jenseits von Fragen internationaler Handelsbeziehungen steht das Leiden indigener Bevölkerungen unter fremder Herrschaft im Vordergrund der aufgeklärten Kritik am Kolonialismus: Smith selbst bezeichnet die Aktivitäten der englischen East India Company als „Plünderung Indiens“ (630) und prangert deren Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid oder Glück der indischen Bevölkerung an; William Robertsons History of America (1777) verurteilt die spanische Eroberung Mittel- und Südamerikas als absichtlichen Genozid (627), eine Sicht, die schon Montaigne Ende des siebzehnten Jahrhunderts vertreten hatte und die mit Raynals Histoire philosophique des deux Indes (1770) in Europa enorme Po3 Robertson erwähnt die haitianische Sklavenrevolution unter Toussaint Louverture nur am Rande; eine ausführliche Darstellung findet sich in Sudhir Hazareesinghs Biographie Black Spartacus: The Epic Life of Toussaint Louverture (London 2020). Die Geschichte des madegassischen Freiheitsstaats erzählt David Graeber in Pirate Enlightenment, or The Real Libertalia (London 2023).

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pularität und Unterstützung erreichte; und Kants Vision der gegenseitigen Gastfreundschaft zwischen Völkern verschiedener Kontinente weicht einer bitteren Anklage der grausamen Gewalt, Ungerechtigkeit und Ausbeutung im Zeichen des Kolonialismus. Seine Hoffnung ist es, dass das Wissen und der technologische Fortschritt, den die europäischen Kolonialmächte weit entfernten Völkern bringen, dazu führen möge, dass letztere selbst zu Furcht einflößenden Gegnern erstarken und so die Europäer zu einer Anerkennung ihrer Rechte zwingen werden (631). Die Aufklärer verurteilten den Kolonialismus als Form der Tyrannei; statt gewaltsamer Ausbeutung sollte „friedlicher Handel“ (Raynal, 635) die Beziehungen zwischen den Völkern prägen. Allerdings zeigte auch der Handel in der Realität seine Schattenseiten; und seine dunkelste Ausprägung war sicherlich der Sklavenhandel zwischen Westafrika und den transatlantischen Kolonien, sowie die Sklaverei, durch die in den Kolonien Produkte wie Zucker und Tabak für den europäischen Markt zunehmend erschwinglich produziert wurden. Die Aufklärer protestierten ebenso energisch wie leidenschaftlich gegen die Sklaverei und den auf ihr basierenden Kolonialhandel. Der französische Philosoph Claude Adrien Helv8tius kommentierte polemisch, dass jedes Stück Zucker, das in Europa konsumiert werde, mit menschlichem Blut getränkt sei. In Voltaires Candide erklärt ein Sklave dem Helden, dass seine Hand von einer Zuckerpresse amputiert wurde, sein Fuß als Strafe für eine versuchte Flucht: „Das ist der Preis für den Zucker, den ihr in Europa esst.“ Der schottische Jurist George Wallace argumentierte 1760 im Sinne des Naturrechts, dass alle Menschen frei geboren seien und daher die Sklaverei rechtlich nicht begründbar sei. Sir William Blackstone erklärte in seinen Commentaries on the Laws of England (1765), dass die Gesetze Englands Sklaverei verabscheuten. Condorcet verlangte die Abschaffung der Sklaverei in den R8flexions sur lQesclavage des nHgres (1781). In England und in den nordamerikanischen Staaten begründete die religiöse Sekte der Quäker eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, der sich zunehmend Politiker wie der einflussreiche englische Parlamentarier William Wilberforce anschlossen, und die eine breite Unterstützung in der Bevölkerung genoss. Die Lektüre populärer Pamphlete, autobiographischer Schriften ehemaliger Sklaven sowie sentimentaler Literatur spielte eine große Rolle bei der Mobilisierung dieser Unterstützung. Das vielleicht prominenteste Beispiel ist die Histoire philosophique des deux Indes, verfasst von Abb8 Raynal und Denis Diderot (Robertson widmet ihr ein ganzes Unterkapitel, 631 – 637). Diese Geschichte der europäischen Kolonisierung weiter Teile Amerikas und Asiens (die ,zwei IndienR des Titels meinen die als ,West IndiesR bekannten Inseln der Karibik Mittelamerikas sowie Indien) klagt die Ausbeutung und Auslöschung indigener Völker an. Sklavenhandel und Sklaverei werden als grausam, unmenschlich und – im Sinne des aufklärerischen Wissens um Eigennutz als Treibfeder menschlichen Handelns – auch als kontraproduktiv abgelehnt: in den Plantagen der amerikanischen Kolonien verrichten Sklaven so wenig Arbeit wie möglich, und so widerwillig wie möglich, sie laufen davon oder begehen in höchster Verzweiflung Selbstmord. Die Sklaverei schädigt ihre Opfer, aber sie schadet letztlich auch den Kolonialherren. Es gibt nur zwei Quellen der Hoffnung: Handel und Rebellion. Diderot, der Teile der Histoire zusammen mit Raynal verfasste, sieht koloniale Eroberung und religiösen Fanatismus, die zwei Ursachen von Unfrieden auf der Welt, im Zusammenbruch begriffen; an ihre Stelle wird die Einsicht der Herrschenden treten, dass ihre Völker sich nach Sicherheit und Wohlstand sehnen – und diese können nur erreicht werden durch eine starke Selbstverteidigung und durch Handel (636). Gelingt dies nicht, werden Rebellionen unausweichlich die Folge sein. Die Histoire warnt eindringlich, dass sich ein starker schwarzer Anführer erheben und die afrikanischen Sklaven in die Freiheit führen werde. Diese War-

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nung erfüllte sich in der Person des ehemaligen Sklaven Toussaint Louverture, der – inspiriert auch von seiner Lektüre der Histoire – 1791 eine Revolution auf der französischen Karibikinsel Saint Domingue anführte.4 Dies ist bis heute die einzige erfolgreiche Sklavenrevolution und führte zur Gründung des Staates Haiti. Leider spiegelt sich die zentrale Rolle, die die Aufklärer und ihre Argumente für die Abschaffung der Sklaverei spielten, nirgendwo im Inhaltsverzeichnis, das vielmehr die traditionellen Ordnungskategorien und Begrifflichkeiten eines Buches über die Aufklärung reproduziert. Unter Überschriften wie „Happiness, Reason and Passion“, „The Scientific Revolution“, „Toleration“, „Science and Sensibility“, „Sociability“, „Forms of Government“ uvm., firmieren jeweils acht bis elf Unterkapitel zu Aspekten dieser Kernthemen der Aufklärung. Eine Leserin auf der Suche nach einer Auseinandersetzung mit Themen wie Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus; Sklaverei und Sklavenhandel; Geschlechterdifferenz, Eherecht und Sexualität; oder Homosexualität und Homosozialität wird auf den ersten Blick enttäuscht – all diese Themen gehören zwar zu Robertsons „rounded picture“ der Aufklärung, doch bleiben sie leider verborgen hinter den traditionellen Ordnungskategorien des Inhaltsverzeichnisses. Erst ein Blick in den detaillierten, stupende 57 Seiten umfassenden Index zeigt ein Netz spannender Argumentations- und Verbindungslinien auf, das die dicht verwobene Textur der Aufklärung und ihrer intellektuellen sowie materiellen Ausdehnung greifbar macht. Allein die geographischen Namen verdeutlichen die globalen, höchst unterschiedlich gelagerten Interessen der Aufklärer und ihrer Zeitgenossen: an Einträge wie „Africans, views about“, „Alaska, exploration of“, „Alhallabad, Treaty of“ und „Asia, and climate theory“ reihen sich weitere zur „Bengal famine (1769/70)“, „Chile, Araucanian peoples“, „East India companies“, „Equiano, Olaudah“ (Autor einer autobiographischen slave narrative), „Haiti, slave revolt (1791)“, „Iroquois nation“, „Mughal Empire, India“ – die Liste der nicht-europäischen Schlagworte ist ebenso vielfältig wie lang. Nun wäre es vor dem Hintergrund der ideologischen Vorwürfe an die Aufklärung wünschenswert, wenn diese nicht-europäischen Dimensionen und ihre keineswegs eurozentrischen Perspektiven deutlicher sichtbar würden. Von besonderem Interesse für eine Zurückweisung anti-aufklärerischer Ressentiments ob der angeblichen Verquickung von vernunftgetriebenem Fortschrittsdenken, Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei, die der Aufklärung immer wieder vorgehalten wird, wären die vielen Äußerungen prominenter Denker und Philosophen, die sich explizit gegen Imperialismus und Sklaverei wendeten. Doch diese Informationen muss man sich mühevoll zusammensuchen in Kapiteln, deren Überschriften wie „Sentiment and Society“, „The American Revolution“ oder „Some Enlightenment Legacies“ dies kaum vermuten lassen würden. Ähnlich verhält es sich mit den Rassetheorien einiger Aufklärungsdenker: vom Titel her immerhin leichter identifizierbar bieten die Kapitel „Classifying Humanity“ und, etwas obskurer, „Cultural Cosmopolitanism“ eine Fülle and Beispielen für die dezidiert anti-rassistischen und anti-kolonialistischen Überzeugungen der meisten Aufklärer. Wo ihr Universalismusgedanke – dass es 4 Hazareesingh äussert sich vorsichtiger als Robertson zu der Rolle, die Raynals und Diderots Histoire für die haitianische Revolution gespielt haben mochte. Zwar war Louverture in Besitz einer Ausgabe – das einzige Buch aus der Bibliothek einer Plantage, das nach deren Besetzung nicht verbrannt wurde –, doch schien die Histoire eher die Funktion einer rückwirkenden Legitimation zu haben; Toussaints politisches Denken und Handeln war wahrscheinlich mehr von FranÅois Makanal, dem charismatischen Anführer der marrons (entlaufener Sklaven), beeeinflusst; vgl. Hazareesingh, Black Spartacus (wie Anm. 3), 11, 33 – 37.

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eine Menschheit gibt, deren Angehörigen das Naturrecht die gleichen Rechte zugesteht – auf die empirische Tatsache verschiedener körperlicher und kultureller Ausprägungen unter den Menschen stieß, führte dies oft zur Einsicht, dass die schiere Diversität der Menschen es gerade unmöglich mache, diese in Rassen zu unterteilen. Zudem wurde die wiederum empirische Beobachtung, dass ein Paar unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe zur Fortpflanzung fähig ist, als Argument gegen separate Menschenrassen angeführt. Herder schloss daraus, dass es abzulehnen sei, eine Rangordnung unter den Menschen auszumachen. Alle Menschen seien zu Vernunft und Gerechtigkeit fähig, auch wenn diese Anlagen nicht bei allen gleichermaßen ausgeprägt sein mögen – doch hierbei handele es sich eben nicht um eine kategorische Differenz, sondern um eine graduell-temporale, denn Individuen wie Völker hätten das Potential zur Weiterentwicklung (311 – 313). Es gibt freilich Äußerungen in Schriften der Aufklärer, die uns heute als rassistisch gelten, und die auf den ersten Blick in Widerspruch stehen zu aufklärerischen Prinzipien. Ein solcher (scheinbarer) Widerspruch entzündete im Sommer 2020 eine Debatte in deutschen Feuilletons: War Kant ein Rassist, oder ein Anti-Rassist?5 Diese Frage wäre zwar im 18. Jahrhundert so nicht gestellt worden, doch gab es bereits damals eine kritische Debatte um Kants Thesen, die sich vor allem daran abarbeitete, dass der Königsberger Philosoph (der eben kein Naturgelehrter war) keinerlei empirische Belege für seine Überlegungen anführen konnte – sie waren Ideen, keine Realitätsbeschreibungen. Und es gab Aufklärer, die in der Tat Thesen formulierten, die von der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und zur empirischen Wahrheit erhoben wurden: Robertson referiert den Fall des Göttinger Philosophen Johann Friedrich Blumenberg, dessen Vorschlag zur Unterteilung der Menschheit in vier Rassen auch eine ästhetisch-moralische Rangordnung derselben beinhaltete; wenig überraschend war die kaukasische Rasse diejenige, die ihm am schönsten und nobelsten erschien. Blumenbach verfasste wissenschaftliche Theorien über die Menschenrassen, doch war er dabei kein Rassist, wie Robertson hervorhebt: er verdammte die Sklaverei öffentlich und führte in seinen Schriften zahlreiche Beispiele von Gelehrten, Musikern, Ingenieuren und Schriftstellern schwarzer Hautfarbe an, von denen viele in Europa lebten und große Anerkennung genossen (313 – 316). 5 Angestossen wurde die Debatte durch einen Feuilletonartikel zur Denkmalsturzdebatte von Patrick Bahners („Kant und die Stammtischwahrheiten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juni 2020), auf dessen Versuch einer Einordnung in zeitgenössische Denkrahmen Marcus Willaschek aus einer – um mit Robertson zu sprechen – präsentistischen Perspektive antwortete: „Kant war ein Rassist“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. Juni 2020; Michael Wolffs Replik „Kant war ein AntiRassist“ in der Ausgabe vom 9. Juli 2020 bemüht sich um eine philosophische und philologische Trennung zwischen Kants theoretischen Ideen zu einem Begriff von Gattung und Rasse einerseits, und Kants Quellen andererseits, die negative Äußerungen zu den verschiedenen Menschenrassen enthielten, und die er in seinen Vorlesungen zur „Physischen Geographie“ (herausgegeben nicht von Kant selbst, sondern einem Schüler) höchstwahrscheinlich kritisch kommentierte. – Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kants Rassetheorien siehe Bernd Dörflinger, Die Einheit der Menschen als Tiergattung: Zum Rassebegriff in Kants phyischer Anthropologie, in: Kant und die Berliner Aufklärung, hg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher, Berlin 2001, 342 – 351 und Gideon Stiening, „[E]s gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen“: Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse über den Begriff der Menschenrasse, in: Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, hg. von Rainer Godel und Gideon Stiening, München 2012, 19 – 53.

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Diese Beispiele zeigen, dass Rassismusvorwürfe an die Aufklärung ein Paradebeispiel für Robertsons Befund eines „abuse of hindsight“ darstellen. Rassistisches Denken steht im Widerspruch zu Kernprinzipien der Aufklärung; wo es artikuliert wurde, zog es harsche Kritik anderer Aufklärer auf sich. Erst die Rassenlehre des 19. Jahrhunderts führte Trennlinien und Hierarchien zwischen Menschengruppen ein, und es war diese Rassenlehre, die vom kolonialen Imperialismus zu einer Rechtfertigung ihrer Ausbeutungspraktiken herangezogen wurde. Die Aufklärer selbst, auch diejenigen, die sich pauschalisierend negativ über nicht-europäische Völker äußerten, waren vereint in ihrer Kritik an der gewaltsamen Tyrannei des Kolonialismus. Anders gesagt: im Denken der Aufklärung gingen Rassismus und Kolonialismus keineswegs Hand in Hand, und die Rassetheorien der Zeit wurden nicht als ideologisches Deckmäntelchen für die Ausbeutung kolonialer Gebiete herangezogen – dies ist eine Entwicklung, die erst dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben ist und die nicht, wie vielfach gemutmaßt wird, ihren ursächlichen Ursprung in der Aufklärung hat. Unaufgeregt und klug differenzierend entkräftet Robertsons Buch solche anti-aufklärerischen Ressentiments, indem es in der Tat ein runderes, komplexeres und heterogeneres Bild der Aufklärung zeichnet. Sein profundes Wissen und der Reichtum an direkten Quellenzitaten, die den Lesern in einer ebenso zugänglichen wie nuancierten Sprache angeboten werden, machen die Lektüre zu einem lehrreichen Vergnügen. Dennoch findet zumindest diese Leserin es bedauerlich, dass sich dieses Buch damit zufriedengibt, die großen, bekannten Linien nachzuzeichnen und damit – zumindest auf den ersten Blick – das altbekannte Bild der Aufklärung wiederzugeben. Eine andere Rahmung, eine andere Behandlung von Vordergrund und Hintergrund, von Sujet und Technik hätte heutige Leserinnen und Leser vielleicht noch besser davon zu überzeugen vermocht, warum wir die Aufklärung mit ihren Prinzipien und Werten heute mehr denn je brauchen – warum wir sie in unsere Wohnzimmer, Klassenzimmer und Vorstandszimmer hängen sollten (um in Robertsons Metapher zu bleiben) anstatt sie ins Museum zu verbannen. Es wäre wohl müßig zu hoffen, dass Robertson sein Buch noch einmal neu schreibt; und so bleibt die Empfehlung, es von hinten zu lesen und den großartigen Index als Leitfaden zu einem anderen Bild der Aufklärung zu nutzen. Isabel Karremann (Universität Zürich)

Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Historisch-kritische Edition, mit einer Einleitung und Erläuterungen hg. von Lothar Kreimendahl und Michael Oberhausen, Meiner, Hamburg 2022, CLXXII/289 S., E 89,–. „Der scherzende Tiefsinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen in Zweifel, ob Hr. Kant die Metaphysik hat lächerlich oder die Geistseherei glaubhaft machen wollen“. Dies schrieb Moses Mendelssohn über Kants Träume eines Geistersehers in einer Rezension für die Allgemeine deutsche Bibliothek des Jahres 1767 (vgl. Anhang I, 132). Die durchaus ,verärgerteR Ratlosigkeit dieser (auch sonst äußerst kurzen) Buchbesprechung ist zum Teil verständlich, denn Kant verfolgte durch dieses rätselhafte Werk mindestens zwei Ziele in einer nicht vollkommen transparenten Weise: ein ,destruktivesR, das Mendelssohn genau (wenn auch sicherlich ungern) durchschaute, nämlich die Metaphysik „lächerlich“ zu machen; und ein ,konstruktivesR, das allerdings kein Leser der Zeit – auch nicht Mendelssohn, Herder oder Feder – hätte begreifen können (vgl. dazu CIX, dann vor allem Anhang I, 116 – 121 und 123 f.). Einerseits diskutierte und thematisierte Kant die mystischen Texte von Emmanuel Swedenborg (1688 – 1772), um die ,scholastischeR (vor allem deutschsprachige) Philosophie seiner Zeit durch eine Kritik der Methode radikal zu hinterfragen: ,Argumentieren wir weiter so wie die alten Scholastiker des Mittelalters und die neuen Scholastiker des 18. Jahrhunderts es tun, dann können wir unsere philosophischen Reflexionen in alle beliebigen Richtungen lenken und somit scheinbar gewisse theoretische Grundlagen für die Visionen von Mystikern entfaltenR. Man darf also – so Kant – in dieser Weise nicht mehr philosophieren. Diese Forderung war einerseits die Hauptbotschaft der Schrift. Andererseits nutzte Kant die Visionen Swedenborgs, um seine eigene Philosophie in einer ,kryptischenR und zugleich ,privatenR Weise zu entwerfen, also gleichsam programmatisch für sich zu konturieren: Nichts destoweniger herrscht darin [d. h. in Swedenborgs Arcana Coelestia (1749–1756), welches von jedem Tropfen der Vernunft „völlig entleert ist“, G.M.] eine so wundersame Übereinkunft mit demjenigen, was die feinste Ergru¨ belung der Vernunft u¨ ber den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, daß der Leser mir es verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in den Spielen der Natur angetroffen haben, als wenn sie etwa in fleckichten Marmor die heilige Familie, oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln […] entdecken; lauter Dinge, die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefu¨ llt ist.1 Angesichts der Bedeutung dieses Werkes vor der (und in der) sogenannten kritischen Wende Kants, zugleich aber des durchaus rätselhaften Charakters der Schrift, sind die Verdienste der hier anzuzeigenden neuen Ausgabe ohne Zweifel groß. Es überrascht auch nicht, dass laut den Herausgebern mehr als zehn Jahre akkurater Untersuchungen, Konfrontationen und Sammlungen von Informationen notwendig waren (also ungefähr die Zeit nach deren Herausgabe von Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des DaKants Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seite), hier AA II, 359 f. 1

Aufkl-rung 35 · V Felix Meiner Verlag 2023 · ISSN 0178-7128

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seins Gottes2), um eine so ausführliche und so reiche Edition der Träume zu erzielen. Diese enthält: ein Vorwort, eine ausführliche Einleitung in fünf Sektionen, Apparate zur Textgestalt und zur Editionsgeschichte, eine Bibliographie (mit den wichtigsten Texten der Primär- und Forschungsliteratur), den kritisch-philologisch edierten Text der Träume eines Geistersehers, Anhang I mit „Beilagen“ sowohl aus den Werken, Briefen, Reflexionen und Vorlesungen Kants als auch aus Texten von anderen Autoren (Rezensionen, Briefe sowie Textstellen aus den Jahren 1764 – 1804), die Erläuterungen der Herausgeber, Anhang II mit weiteren bibliographischen Hinweisen zur Primärliteratur (zu den Werken, aus denen Kant zitiert und auf die er anspielt, sowie zu den Werken, die für die Sacherläuterungen herangezogen wurden) sowie ein Namenregister und ein Sachregister. Wirft man auch nur einen vorläufigen Blick in die „Erläuterungen der Herausgeber“ (157 – 243), dann werden die umfassende Gelehrsamkeit und die beachtliche Dimension der vorliegenden Arbeit erkennbar. Formal bestehen diese „Erläuterungen“ aus einer Reihe von 291 Bemerkungen zu dem im Zentrum des Bandes stehenden Text. Das Hauptziel dieser Bemerkungen ist es weniger, Schwierigkeiten, die der Leser bei der Lektüre haben könnte, zu beheben, als vielmehr spezielle Begriffe (beispielsweise „Geist“ [Erl. 19], „Undurchdringlichkeit“ [Erl. 27], „Materielle Idee“ [Erl. 55], „Initiat/Initiation“ [Erl. 65], „Pneumatologie“ [Erl. 72], „mundus intelligibilis“ [Erl. 75], „sittliches Gefühl“ [Erl. 103], „Hirngespinst“ [Erl. 119], „Kabbala“ [Erl. 124], „Luftbaumeister“ [Erl. 126], „Papillon“ [Erl. 159], „Sympathie“ [Erl. 194], „Luftschiff“ [Erl. 219]), wie aber auch Zitate, allgemeine Thesen, Positionierungen oder Meinungen Kants zu erläutern, und zwar sowohl im Kontext der Entwicklung seiner Philosophie als auch im Diskussionszusammenhang der Philosophie, Wissenschaft und Literatur des 18. Jahrhunderts sowie schließlich im direkten Bezug zu vielen selten expliziten historischen Quellen (nicht nur der modernen, sondern vor allem der antiken Literatur und Philosophie). Es lohnt sich, diese „Erläuterungen“ während der Lektüre des Haupttexts zu beachten, um überhaupt die Schrift aus der Perspektive ihrer wechselnden und faszinierenden Kontexte besser zu verstehen. Darüber hinaus werden hier erstmalig die deutschen Übersetzungen der Stellen aus Swedenborgs Arcana Coelestia angeführt, die Kant im Text explizit erwähnt und in den Blick nimmt. Die Inhalte des Werkes werden im 3. Teil der „Einleitung“ anschaulich und ausführlich wiedergegeben. Dem Titel des Werkes entsprechend – Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik – hat Kant seine Abhandlung in zwei Teile untergliedert. Der „dogmatische“ Teil widmet sich den „Träumen der Metaphysik“ also dem „Geist“, wie dieser in der damaligen rationalen Psychologie behandelt wurde. Der „historische“ Teil ist den „Träumen der Geistseherei“ auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Arcana Coelestia gewidmet (zur Unterscheidung zwischen „dogmatisch“ und „historisch“ siehe die Erl. 14, 170 und 273). In der Tat gehört allein diese strenge Zweiteilung des Werkes zu den vielen rätselhaften Aspekten der Träume. Dazu äußert sich schon Johann Gottfried Herder mit präzisen Überlegungen am Ende seiner frühen Rezension für die Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitung (vom 3. März 1766): Das Ganze der Schrift dörfte nicht gnug Einheit, und ein Theil nicht gnug Beziehung auf den andern haben. Der Verfasser trägt die Wahrheiten von beiden Seiten vor, und Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Historisch-kritische Edition, mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Lothar Kreimendahl und Michael Oberhausen, Hamburg 2011. 2

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sagt wie jener Römer: einer sagt nein! Der andere: ja! Ihr Römer, wem glaubt ihr? Indessen schärft dies die Aufmerksamkeit desto mehr, und man sieht allenthalben, daß der Verf. den Genius der Philosophie so zu seinem Freunde habe, als Sokrates sich mit seinem Dämon auch in heiligen Träumen besprach. (Anhang I, 121) Eine offensichtliche Stärke dieser neuen Herausgabe des Textes liegt in der sorgfältigen Wiedergabe der Resultate von mehreren Interpretationen, Analysen und Erforschungen zu Kants Träumen. Vor allem im 4. Teil der „Einleitung“ werden diese systematisch zusammengefasst und prägnant kommentiert. Aber alle Teile des Bandes führen einen konstruktiven Dialog mit den Texten der Forschungsliteratur. Manche Analysen werden zwar leicht plakativ als „unseriös“ beseitigt („Manch ein Interpret freilich nimmt Kants Träume als Einladung, seine eigenen Träumereien in die Beschäftigung mit dem Text einfließen zu lassen …“, CVIII; vgl. vor allem CX–CXI); sorgfältig werden aber in der Einleitung die unterschiedlichen Positionen der „seriösen“ Forschungsliteratur mit sachlichen Fragen und Aspekten des Werkes konfrontiert: zur Frage nach dem Hauptzweck der Träume (CIXff.), zum historischen Problem des Anlasses des Werkes (CIXff.) oder – besonders wichtig – zum Verhältnis zwischen Kant und Swedenborg. Hat Kant Swedenborg wirklich geschätzt, wie zum Beispiel schon Hans Vaihinger (vgl. CXVIII), dann vor allem und dezidiert Gregory R. Johnson (vgl. CXV–CXX und CXXVII–CXXX) sowie Friedmann Stengel (CXXX–CXXXII) behaupteten? Gehört tatsächlich Swedenborg zu den wichtigsten Quellen der Philosophie Kants? Oder muss man von einer fundamentalen Missachtung und Ablehnung ausgehen, um überhaupt Kants Instrumentalisierung und Gebrauch dieser extravaganten Figur zu begreifen, wie beispielsweise schon (wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zwecken) Kuno Fischer, Ernst Cassirer oder Julius Ebbinghaus annahmen? Überaus kritisch werden von Kreimendahl und Oberhausen die (durchaus seriösen, aber im Grunde doch gewagten, zum Teil recht akrobatischen) Interpretationen von Klaus Reich (1975), Kant widerlege hier Christian Wolffs rationale Psychologie, bleibe aber im Grunde an einer wolffischen Konzeption von Raum und Zeit gebunden (vgl. CXXIV–CXXCII), und von Alison Laywine (1993), Kant kritisiere in den Träumen seine eigenen frühen metaphysischen Ansichten (vgl. CXX–CXXIII), kommentiert. Geschätzt werden dagegen auf den letzten Seiten der „Einleitung“ die Versuche (vor allem durch die oben erwähnten Johnson und Stengel), Swedenborgs Visionen mit fundamentalen Aspekten der späteren kritischen Philosophie in Verbindung zu bringen: mit der zentralen Annahme der Freiheit und der Autonomie des Menschen (vgl. AA II, 327Anm., 330), mit der Grundauffassung einer Regel des allgemeinen Willens (AA II, 335), d. h. eines praktischen Gesetzes (AA II, 336), mit dem sittlichen Gefu¨ hl (AA II, 335), mit der Verbindung aller vernünftigen Wesen in einer Gemeinschaft (AA II, 330–333), in einer sittlichen Einheit (AA II, 335) bzw. in das Reich der Zwecke (AA II, 341), und mit der Definition der exemplarischen Funktion Christi als Morallehrer, mit dem höchsten Gut als Definition eines Verhältnisses zu Gott (AA II, 337) sowie nicht zuletzt mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele (AA II, 336). Dies heißt natürlich nicht, dass die zentralen Aspekte des kritischen Denkens schon in der Umbruchphase der kantischen Philosophie wiederzufinden wären. Wahr ist eher das Gegenteil, und man sollte in diesem Zusammenhang solcherart programmatische Andeutungen nicht machen. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ist – wie schon angedeutet – kein Nebenaspekt der Herausgabe. Sie dient vielmehr als Basis für eine präzise Erläuterung des Anlasses, der Quellen, des Kontextes und des Inhalts des Werkes. Zum Thema „Anlass“ sind Kreimendahl und Oberhausen klar: „So ist der äußere Anlass zu

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den Träumen letztlich in den zufällig zu dieser Zeit in ganz Europa umlaufenden Nachrichten über Swedenborg gegeben“ (XIX). Der innere Grund ist viel schwieriger zu bestimmen. Wichtig sei jedenfalls, auch die „ungebrochene Präsenz des Visionärs in Kants Denken bis hin zum Streit der Fakultäten und der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahr 1798“ (XX) zu berücksichtigen. Die Textstellen in diesen späteren Werken, in denen „Swedenborg“ explizit erwähnt wird, werden in den „Beilagen“ auf S. 85 zitiert. Ausgerechnet in diesen Werken sind jedoch (unabhängig vom erwähnten „Swedenborg“) die Ausführungen zu ähnlichen Themen wie in den Träumen (mystische Visionen, Hypochondrie, Krankheiten des Kopfes usw.) deswegen bedeutsam, weil Kant hier die Entwicklungen der frühen Romantik und des frühen Idealismus in ähnlicher Weise kritisiert wie zuvor Methode und Inhalte der Metaphysik in den Träumen. Diesen weiteren Entwicklungen hat die Kant-Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet und es scheint vor diesem Hintergrund bedenkenswert, allein diejenigen Stellen wiederzugeben, die im Streit der Fakultäten und in der Anthropologie explizit den Namen „Swedenborg“ enthalten. Man kann allerdings von der Herausgabe dieses Werkes eine solche Projektion der Forschung in neue Richtungen keinesfalls verlangen. Insgesamt lässt sich gleichwohl festhalten, dass alle Teile dieser historisch-kritischen Arbeit überaus gewichtige Informationen und essenzielle Instrumente liefern, um einen derart schwierigen Text besser zu verstehen. Daher sollte die exzellente Arbeit von Kreimendahl und Oberhausen in vielerlei Hinsichten als mustergültig für ähnliche Neueditionen der Werke Kants gelten. Giuseppe Motta (Universität Wien)

AUFKL ÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Herausgegeben von Martin Mulsow, G ­ ideon Stiening und Friedrich Vollhardt Gegenstand des Jahrbuches ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedanke der erkenntnisfördernden Kraft der offenen, unparteiischen Diskussion war eine der wich­tigsten Überzeugungen des Jahrhunderts. Es ist diese Grundhaltung der Aufklärung, die auch die Anlage des Jahrbuches bestimmt. Das Streben nach Interdisziplinarität war eine dominierende Tendenz und Ausdruck der Integrationskraft der Epoche. Der Umbruch des kulturellen und zivilisatorischen Selbstverständnisses sowie die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurden von ihm mitbestimmt. Auch dieser Idee versucht die Aufklärung zu entsprechen. Fachübergreifend angelegt führt die Aufklärung thematisch flexibel ­Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen For­schungs­disziplinen im Hinblick auf die je­weiligen sachlichen Schwerpunkte zusam­men, die durch Kurzbiographien, Dis­kus­sionen sowie Forschungs- und Literaturberichte ergänzt werden. anschrif t der redak tion Dr. Udo Roth Ludwig-Maxi­mi­li­ans-Universität Institut für Deutsche Philologie Schellingstraße 3 D-80799 München [email protected]

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