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German Pages 184 [186] Year 2019
giovanni pico della mirandola
Über das Seiende und das Eine De ente et uno Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von paul richard blum, gregor damschen, dominic kaegi, martin mulsow, enno rudolph und alejandro g. vigo
Lateinisch-deutsch
FELIX MEINER VER L AG HA MBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 573
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN-13: 978-3-7873-1760-8 ISBN-10: 3-7873-1760-0 Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Luzern. © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2006. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Marcel Simon-Gadhof. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
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Vorwort ...............................................................
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Einleitung ............................................................
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I. Pico zwischen Aristoteles und Platon .......... ix II. De ente et uno ............................................ xv III. Die Tradition der Concordia Platonis et Aristotelis ............................................... xxv IV. Ficino und die Gefahr des Neopaganismus .. xxxviii V. Die Stellung Polizianos ............................... xlvii VI. Platonismus und Christentum .................... lii VII. Zur Wirkungsgeschichte ............................. lviii Literaturverzeichnis ............................................. lxxv Siglen .................................................................. lxxxiv Zur Textgestaltung .............................................. lxxxvii
GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA Über das Seiende und das Eine De ente et uno / Über das Seiende und das Eine ...
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Anmerkungen ..................................................... Personenregister ..................................................
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In memoriam Raymond Klibansky (1905-2005)
V O RW O RT
Das Problem der Vereinbarkeit von Platonismus und Aristotelismus war ein zentrales, ideenpolitisch vielleicht das brisanteste Thema der Renaissancephilosophie. Picos »De ente et uno« gehört in diesem Zusammenhang zu den Schlüsseltexten. 1496 posthum veröffentlicht, bietet die Schrift eine exegetisch ambitionierte Synthese der einschlägigen Positionen Platos und Aristoteles’ – mit dem Ziel, den Streit der Schulen gleichsam an der Quelle zu schlichten. Die Wirkung der Schrift war eminent, auch wenn die Tradition der Concordia Platonis et Aristotelis bereits Ende des 16. Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren hatte. Für die neuzeitliche Philosophie stellte sich die Konkordanzfrage nicht mehr, es ist im Grunde erst die moderne, philologisch informierte Plato- und Aristotelesforschung, aus deren Perspektive sich Anspruch und Niveau des Picoschen Traktats, die Forcierungen, aber auch das Raffinement einzelner Argumentationsgänge neu erschließt. »De ente et uno« erscheint aus dieser Perspektive zugleich als Dokument einer für die Wirkungsgeschichte der antiken Philosophie typischen Konstellation, in der sich, unter christlich-theologischen Vorzeichen, Rezeption und Konstruktion der Antike verschränken. Der mit dieser Ausgabe erstmalig in deutscher Übersetzung vorgelegte Text basiert auf der Edition von Stéphane Toussaint (L’esprit du quattrocento. Pic de la Mirandole: De l’être et de l’un & Réponses à Antonio Cittadini, Paris 1995). Einleitung, Texterstellung, Übersetzung und die Kommentierung sind das Resultat gemeinsamer Arbeit und Diskussion, wobei auf die äußerliche Glättung stilistischer Differenzen bewußt verzichtet wurde. Zu danken ist der Forschungskommission der Universität Luzern sowie dem
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Vorwort
Interdisziplinären Forschungszentrum FESt (Heidelberg) für ihre finanzielle Unterstützung des Projekts. Die Herausgeber
EINLEITUNG
I. Pico zwischen Aristoteles und Platon Im Herbst 1482 schreibt der neunzehnjährige Giovanni Pico della Mirandola an Marsilio Ficino. Pico hatte Ficino zwar auf einer Florenzreise 1479 kurz kennengelernt, war aber noch nicht näher mit ihm in Austausch getreten. Nun aber hatte er ein mehrjähriges Studium in Padua hinter sich und wollte seinen Horizont erweitern. Er bittet Ficino um ein Exemplar seiner Theologia Platonica. »Seit drei Jahren schon habe ich mich mit den Aristotelikern beschäftigt. (…) Jetzt möchte ich Platon mit Aristoteles vergleichen.«1 Die Jahre, die Pico in Padua verbracht hatte, als Schüler von Nicoletto Vernia und Elia del Medigo, waren eine Zeit des Aristotelesstudiums gewesen, in der Interpretationsrichtung entsprechend den lokalen Debatten zwischen Averroismus und Thomismus oszillierend. In Padua hatte man in diesen Jahren begonnen, neuplatonische Aristoteles-Kommentatoren aus dem Griechischen ins Lateinische zu übersetzen; Picos späterer Freund Ermolao Barbaro übersetzte Themistius, und Vernia selbst folgte Simplikios in vielen Punkten. Mit diesen Übersetzungen wollte man die Interpretationen von Averroes stützen und ihnen eine antike Dimension verleihen2; freilich war damit auch der Effekt gegeben, daß sich der »averroistische« Aristotelismus dem Platonismus annäherte und Männer wie Vernia Opera, 373: »Iam tres annos … apud Peripateticos versatus sum … ut iam … Platonem cum Aristotele conferrem.« Vgl. Kristeller (1993) 251; Garin (21979) 255. – Abgekürzt zitierte Literatur findet sich im Literaturverzeichnis. 2 Vgl. Mahoney (1982). 1
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von Simplikios die These der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles übernahmen.3 1482 führte Venedig Krieg gegen Ferrara, und Pico zog sich auf seinen gräflichen Sitz in Mirandola zurück, studierte dort Griechisch und öffnete sich für den Platonismus. Zwei Jahre später findet man ihn denn auch in Florenz, nun in engem Kontakt zu Ficino und zu Angelo Poliziano, dem Humanisten und Philologen.4 Barbaro berichtet er über seine Platon-Studien, macht ihm aber auch deutlich, daß er sich nicht als Deserteur vom Aristotelismus fühle: »Mir scheint – ich will offen mit Dir reden, Ermoalo –, daß es bei Platon zwei Aspekte gibt: die homerische Eloquenz, die sich in die Himmel der Poesie erhebt, und eine völlige theoretische Übereinstimmung mit Aristoteles, wenn man nur bis zum Grund vordringt. Wenn Du daher nach der Form gehst, dann könnte es keinen größeren Unterschied geben, wenn du dich aber nach der Substanz richtest, gibt es nichts, was übereinstimmender wäre.«5 Pico hatte seine Platon-Studien von Beginn an, wie der Brief an Ficino sagt, als Vergleich angelegt. Und er hatte offenbar sehr schnell Vgl. Nicoletto Vernia in: Albert von Sachsen, Acutissime questiones super libros De physica auscultatione, Venedig 1522, fol. 85va. 4 Zu Poliziano vgl. Peter Godman: From Poliziano to Machiavelli, Princeton 1998; Anthony Grafton: The Scholarship of Poliziano and its Context, in: Ders.: Defenders of the Text. The Tradition of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800. Cambridge / Mass. 1994. 5 Pico an Barbaro, 6. 12. 1484, Opera, 368 f.: »Diverti nuper ab Aristotele in Academiam, sed non transfuga, ut inquit ille, verum explorator. Videor tamen (dicam tibi Hermolae quod sentio) duo in Platone agnoscere, & Homericam illam eloquendi facultatem, supra prosam orationem sese attollentem, & sensuum, si quis eos altius introspiciat, cum Aristotele omnino communionem, ita ut si verba spectes, nihil pugnantius, si res nihil concordius …«. 3
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die Lesart entwickelt, die noch De ente et uno zugrundeliegen wird, nach der die Lehren der beiden großen Griechen als miteinander vereinbar zu erweisen waren. Im Juli 1485 reist Pico für neun Monate nach Paris, um seine Scholastikkenntnisse zu vertiefen. Dort mag ihm der Gedanke gekommen sein, eine öffentliche Disputation – geradezu einen Philosophenkongreß – abzuhalten, in der er seine Ideen über die allgemeine Vereinbarkeit aller Traditionen vorstellen und diskutieren lassen wollte. Nicht nur die platonische und aristotelische, auch scholastische, arabische, jüdische und »chaldäische« Traditionen sollten sich in einer gewaltigen synoptischen Sicht als Aspekte einer universellen Wahrheit erweisen.6 Es ist ein großes Projekt, das Pico da skizziert, eine Reaktion auf die aufbrechende Pluralität der Traditionen, die im Quattrocento weit mehr als noch im Mittelalter bemerkbar geworden war.7 Von Frankreich zurückkehrend, macht er sich nach einem kurzen Florenzaufenthalt auf den Weg nach Rom. Die Reise geht über Arezzo und Perugia, wo Pico mit seinem Paduaner Lehrer Elia del Medigo zusammentrifft. Elia berichtet: »Als ich mich in Perugia mit dem hochgelehrten Grafen und großartigen Herrn Johannes von Mirandola, dem berühmten Philosophen, aufhielt, sprachen wir viel über das Sein, das Wesen und das Eine.«8 Da die Position von AverVgl. Roulier (1989), 81–156: »Le grand projet«; zu den Kontroversen der Forschung: Craven (1981) Kap. 5. 7 Vgl. Bori (2000); zum Begriff der Pluralität und Pluralisierung vgl. Martin Mulsow: Pluralisierung, in: Anette VölkerRasor (Hrsg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch: Frühe Neuzeit, München 2000, 303–307. 8 Elia del Medigo: De ente, essentia et uno, Venedig 1572, fol. 142r: »Cum essem Perusij cum doctissimo comite magnifico domino Ioanne mirandulano philosopho clarissimo, multa de esse & essentia & uno diximus.« Zu dieser Schrift vgl. Paolo Ragnisco: Nicoletto Vernia, Venedig 1891, 167–182; Toussaint 6
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roes, den Elia verteidigt, in diesem Punkt nicht klar expliziert war, setzt er einen kleinen Traktat De esse et essentia et uno auf, um Pico die von ihm, Elia, favorisierte Lehre zu erläutern. Pico hatte sich jedoch längst von den averroistischen Positionen Elias entfernt und war zudem mehr und mehr daran interessiert, die Verbindungen zwischen dem Intellectus agens des Averroes und der Lehre der Kabbala zu verstehen, die sein Lehrer gelegentlich erwähnte. In einem Brief, den Pico bei seiner Ankunft in Rom vorfand, fügte Elia dann zahlreiche Materialien bei, vor allem zur Interpretation der aristotelischen Metaphysik durch Averroes.9 In Rom hatte Pico keinen Erfolg. Die Disputation fand nie statt. Papst Innozenz VIII. verbot das Philosophentreffen und setzte im Februar 1487 eine Kommission ein, die wenig später dreizehn der neunhundert »conclusiones« als häretisch verurteilte. Pico reagierte mit einer Apologia, mußte dann aber nach Paris fliehen, wo er auf Druck des Papstes im Januar 1488 verhaftet wurde. Er kam nur durch die Intervention einiger Fürsten frei, darunter Lorenzo de’ Medici, der ihn an seinen Hof holte. Von nun an lebte er dauerhaft in Florenz. Bald zeigten sich, trotz ihrer Freundschaft, auch deutliche Differenzen zu Ficino. So sehr sich Pico auf den Platonismus eingelassen hatte, indem er 1486 die Canzona seines Freundes Girolamo Benivieni kommentierte10, der ein Ficino-Anhänger war, so sehr er damit eine Vorstudie für (1995) 207 f.; Roulier (1989) 185 f. mit der Benutzung von Elias Schrift nach Paris BN ms. lat. 6505. 9 Vgl. Kieszkowski (1964). 10 Commento sopra una canzona de amore composta da Girolamo Benivieni cittadino Fiorentino secondo la mente et opinione de’ Platonici, in: De hominis dignitate, Heptaplus, De ente et uno e scritti vari, 451–581; jetzt in deutscher Übersetzung: Kommentar zu einem Lied der Liebe, italienisch-deutsch, übers. und hrsg. von Thorsten Bürklin, Hamburg 2001.
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einen eigenen Symposion-Kommentar entwarf, so läßt sich doch auch eine beginnende Konkurrenz und Verschiebung in der Akzentsetzung beobachten. Manche Notizen Picos – später unterdrückt und erst von Eugenio Garin nach Manuskriptfunden rekonstruiert – üben offene Kritik an Deutungen Ficinos.11 Pico schwebte kein Platonismus im Sinne Ficinos vor, sondern eine argumentativ erarbeite Synthese der platonischen und aristotelischen Positionen. In der Thesenvorlage für die Disputation, die Pico in Rom geplant hatte, den Conclusiones, heißt es entsprechend: »Es gibt keine naturwissenschaftliche oder theologische Frage, in der Aristoteles und Platon dem Sinn und der Sache nach nicht übereinkommen, auch wenn sie den Worten nach unterschiedlicher Meinung zu sein scheinen.«12 In der Oratio de hominis dignitate, die das gesamte Unternehmen vorstellen und plausibel machen sollte, liest man erläuternd: »Ich habe zunächst die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles vorgebracht, die bisher von vielen vermutet, aber von niemandem hinreichend bewiesen worden ist. Bei den Lateinern versprach Boethius, dies zu tun, aber man findet nicht, daß er je getan hätte, was immer er tun wollte. Simplikios kündigte bei den Griechen dasselbe an: hätte er es doch ebenso erfüllt, wie er es verspricht. Auch Augustinus schreibt in Contra Academicos, es habe nicht an mehreren gefehlt, die in ihren scharfsinnigen Erörterungen dieses zu beweisen versucht hätten, nämGarin (1937) 209–215; vgl.auch Allen (1986). 12 Conclusiones paradoxae numero XVII, secundum propriam opinionem, dicta primum Aristotelis et Platonis, deinde aliorum doctorum conciliantes, qui maxime discordare videntur. No. 1, in: Opera, 83: »Nullum est quaesitum naturale aut divinum in quo Aristoteles et Plato sensu et re non conveniant, quamvis verbis dissidere videantur.« 11
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lich daß die Philosophie des Platon und des Aristoteles ein und dieselbe sei. Ebenso hat Johannes Grammaticus, wenn er sagt, daß Platon und Aristoteles nur für diejenigen nicht übereinstimmten, die die Äußerungen Platons nicht verstehen, dies zu beweisen doch der Nachwelt hinterlassen.«13 Ende 1490 oder Anfang 149114 – mehr als acht Jahre nach dem Brief an Ficino – diskutiert Pico im engen Kreis zusammen mit Lorenzo de’ Medici und Poliziano die Kernfrage der Vereinbarkeit von Platon und Aristoteles. Poliziano hielt in diesen Jahren eine Vorlesung über die Nikomachische Ethik und stand daher in gewisser Weise für die Seite der Aristoteliker, während Lorenzo, der die florentinische Accademia Platonica ins Leben gerufen hatte15, für die platonische Seite stand. Auf die Diskussion mit Poliziano De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, 49. Vgl. den lat. Text a.a.O., 48: »Proposuimus primo Platonis Aristotelisque concordiam a multis antehac creditam, a nemine satis probatam. Boethius, apud Latinos, id se facturum policitus, non invenitur fecisse umquam quod semper facere voluit. Simplicius, apud Graecos, idem professus, utinam id tam praestaret quam pollicetur. Scribit et Augustinus in Academicis non defuisse plures qui subtilissimis suis disputationibus idem probare conati sunt, Platonis scilicet et Aristotelis eamdem esse philosophiam. Joannes item Grammaticus cum dicat apud eos tantum dissidere Platonem ab Aristotele, qui Platonis dicta non intelligunt, probandum tamen posteris hoc reliquit.« 14 Der genaue Zeitpunkt der Komposition von De ente et uno ist unklar. Wir kennen nur das Datum von Cittadinis zweiten Einwänden, den 22. 5. 1491. Poliziano hielt seine Vorlesung über die Nikomachische Ethik 1490/91. 15 Zur Accademia vgl. Manfred Lentzen: Die humanistische Akademiebewegung des Quattrocento und die Accademia Platonica in Florenz, in: Klaus Garber und Heinz Wismann (Hrsg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, 2 Bde., Tübingen 1996, 190–213, vgl. Hankins (1990) und (1991) sowie unten Anm. 56. 13
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und Lorenzo geht der Traktat zurück, der unter dem Titel De ente et uno 1496 postum im Rahmen der Opera veröffentlicht wurde. II. De ente et uno Der Text, der in zehn Kapitel gegliedert und an Poliziano gerichtet ist, beginnt mit einer Untersuchung der Argumente der Platoniker dafür, daß das Eine höher als das Seiende sei. Pico beruft sich auf zentrale Stellen aus dem Parmenides und dem Sophistes, um zu zeigen, daß diese nicht in Richtung auf ein nichtseiendes Eines ausgelegt werden können, wie es üblicherweise geschah. »Üblicherweise« meint: aus der neuplatonischen Perspektive, der Ficino nahestand. Pico erwähnt in seiner Schrift den Freund nicht, doch es ist offensichtlich, daß er es ist, mit dem er sich in Wirklichkeit auseinandersetzt. Er fährt fort, indem er die Bedeutung von »seiend« bei Aristoteles erläutert, das mit »eines« konvertibel sei, zeigt dann aber, inwieweit man von Gott als dem Einen als einem in eminenter Weise Seienden sprechen könne – und wie man in Form eines Aufstiegs zu seiner Erkenntnis gelangt. Die Differenz zwischen Aristoteles und den Platonikern im Blick auf das Verhältnis »sein«–»eines« läßt sich nach Pico folgendermaßen rekonstruieren. Die Aristoteliker gehen deswegen vom Prinzip der Konvertibilität des Seienden und des Einen aus, weil sie, modern gesprochen, extensionalistisch argumentieren: von allem, wovon »sein« ausgesagt wird, kann auch »eines« ausgesagt werden.16 Vgl. Aristoteles, Met. 2, 1003 b 22 – 1004 a 2 sowie 2; für eine ausführliche Diskussion der aristotelischen Position im Rahmen der später so genannten Konvertibilität von ens und unum vgl. Karl Bärthlein, Die Transzendentalienlehre in der alten Ontologie, Berlin 1972, 153–204, bes. 198 ff. 16
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Die Platoniker lehnen ihrerseits die Konvertibilitätsthese ab, weil sie das Eine als »früher« (prius) im Sinne von »einfacher« (simplicius) und »gemeinsamer« (communius) ansetzen. In der Kritik der Konvertibilitätsthese greifen sie auf Argumente zurück, die nicht nur den extensionalistischen, sondern auch den intensionalistischen Aspekt berücksichtigen. Unter dem extensionalistischen Gesichtspunkt verweisen die Platoniker darauf, daß der Umfang von »eines« in Wahrheit größer sei als von »sein«: Gott nämlich ist »eines«, aber nicht »seiend«; entsprechendes gilt für die ursprünglich formlose Materie, die materia prima. Unter dem intensionalistischem Gesichtspunkt wiederum gilt nach Lesart der Platoniker, daß »sein« und »eines« verschiedenes bedeuten, sofern beide jeweils verschiedene Gegensätze (opposita) besitzen: »nichts« (nihil) als Gegensatz von »sein«, »Vielheit« (multitudo) als Gegensatz von »eines«. Um die Argumente der Platoniker gegen Aristoteles zu entkräften, erörtert Pico kritisch drei Grundannahmen in ihrer Tragweite, und zwar: (1.) das Prinzip, daß »eins« im erklärten Sinne »früher« als »sein« ist; (2.) das Prinzip, daß »eins« umfangsreicher als »sein« ist, und (3.) das Prinzip, daß »eins« und »sein« unterschiedliche Gegensätze und damit auch verschiedene Bedeutungen haben. Zuvor jedoch stellt Pico die Frage, wie es mit Platons Auffassung in bezug auf das erste Prinzip tatsächlich stehe (Kapitel 2), und versucht, anhand von platonischen Texten (vor allem des Parmenides) zu zeigen, daß Plato ein solches Prinzip eben nicht vertrete, sondern vielmehr der Meinung sei, daß »eins« und »sein« gleich sind. Anschließend folgt eine Diskussion der Bedeutung und Tragweite des ersten Prinzips: zuerst (Kapitel 3) zeigt Pico, daß die aristotelische Auffassung des Seins mit der platonischen insofern kompatibel ist, als auch Platon und platonische Autoren wie Dionysius Areopagita anerkennen, daß
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»sein« in seiner einfachsten und allgemeinsten Bedeutung (Sein als dem Nichts entgegengesetzt), von allem ausgesagt wird. Also: »sein« umfaßt in dieser Bedeutung – die der Sache nach dem in der Scholastik sogenannten ens commune (im Unterschied zum summum ens) entspricht – nicht weniger als »eins«. Das wird von Platon im Sophistes zugegeben, wo er behauptet, daß Nicht-Seiendes bzw. Nichts unmöglich »eins« genannt werden kann. Danach (Kapitel 4) versucht Pico umgekehrt zu zeigen, an welcher Bedeutung von »sein« sich die These orientiert, die behauptet, daß das Eine höher als das Sein steht: dabei wird das Sein im allgemeinen Sinne als »Sein durch Teilhabe« (esse participatum) verstanden, während dasjenige, das das Sein für sich selbst (d. h. nicht durch Teilhabe) besitzt, nicht mehr als »seiend«, sondern vielmehr als »eins« bezeichnet wird. Das ist der Fall bei Gott, der als Ursache für das Sein der Dinge selbst für etwas Höheres als das Seiende erklärt wird. Nun ist diese Verwendung von »sein« und »eins« – so Pico weiter – auch bei Aristoteles zu belegen, nämlich dort, wo er von Gott spricht (Met. , im Gegensatz zur Lehre von ens qua ens in Met. ): Gott wird dabei nicht so sehr als summum ens, sondern vielmehr als das ) verstanden, das – im Sinne des platoEine ( ˆ – jenseits des Seins steht. In nischen ™ diesem Sinne behauptet Pico, daß Gott bei Aristoteles einen transkategorialen Charakter hat: Gott als Ursache für das Sein der Dinge steht jenseits des kategorialen Seins, das Aristoteles in Met. erörtert, und fällt somit auch nicht unter die Kategorie der Substanz. Daß Gott für Aristoteles keine Substanz sei, ist zwar eine höchst problematische Behauptung angesichts der Tatsache, daß Aristoteles in Met. von einer Unterscheidung von drei Arten der Substanz ausgeht (vgl. 1069 a18 ff.) und von Gott als einer ewigen und unbewegten Substanz spricht (vgl. 1071 b 3–5). Sie wird aber vor dem Hintergrund der neoplatonischen Kri-
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tik an der aristotelischen Auffassung der Kategorien verständlicher: Bereits Plotin macht Aristoteles nämlich zum Vorwurf, daß die von ihm thematisierten Kategorien nur für den Bereich des Sinnlichen, nicht aber für den Bereich des Übersinnlichen gelten. Plotins Kritik betrifft in erster Linie die Kategorie der Substanz. Aristoteles macht nämlich einen unzulässigen Gebrauch der Substanz als einer obersten Gattung, wenn er sie für die Erörterung der übersinnlichen Welt in Anspruch nimmt. Denn für Sinnliches und Übersinnliches, Vergängliches und Unvergängliches gibt es – wie Aristoteles selbst zugibt (vgl. Met. 10)17 – keine gemeinsame Gattung. Wird also die Kategorie der Substanz auf den Bereich des Übersinnlichen erweitert, dann wird diese Erweiterung mit einem hohen Preis bezahlt, denn dabei geht das für jede echte Gattung charakteristische Merkmal der Univozität (Eindeutigkeit, ) verloren. Angewendet sowohl auf den sinnlichen wie auch auf den übersinnlichen Bereich wird die Bezeichnung »Substanz« also von Aristoteles – so die Schluß) verfolgerung Plotins – äquivok (mehrdeutig, wendet (vgl. Plotin VI 3, 2). Wahrscheinlich hat Pico eine solche Kritik im Auge, wenn er die aristotelische Position so rekonstruiert, daß dabei die Beschreibung von Gott als Substanz nicht in Anspruch genommen und sogar als falsch abgelehnt wird. Als Zusammenfassung von Picos Diskussion des ersten Prinzips kann man folgendes festhalten: je nachdem, ob man sich an der allgemeinen Bedeutung von »sein« als dem Nichts entgegengesetzt oder an der engeren Bedeutung von »sein« im Sinne des esse participatum ori-entiert, wird man mit Recht sagen können, daß »sein« und »eins« gleich sind bzw. daß das Eine (d. h. dasjenige Sein, das jenseits des esse participatum steht) höher als das Zu diesem Komplex vgl. Pierre Aubenque: Le problème de l’être chez Aristote, Paris 41977, 314–322. 17
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Sein (im Sinne des esse participatum) ist. Sowohl Platon wie auch Aristoteles machen ausdrücklich Gebrauch von beiden Annahmen und stimmen somit miteinander überein. Die anschließende Beschreibung des ascensus zu Gott in vier Stufen (Kapitel 5) soll in concreto zeigen, wie das prädikationstheoretische Modell der via eminentiae (vgl. »Deus omnia est et eminentissime et perfectissime«)18 ermöglicht, die (positiven) Aussagen der Aristoteliker über Gott mit den entsprechenden (negativen) Aussagen der Platoniker zu kompatibilisieren. Dabei wird die via eminentiae aus prädikationstheoretischer Sicht als eine Art Mittelweg zwischen dem (aristotelischen) Modell der Prädikation per analogiam und dem (platonischen) Modell der via apophatica betrachtet, also als ein prädikationstheoretisches Modell, das das Moment der analogischen Attribution der jeweils verwendeten Prädikate einerseits und das Moment der apophatischen Aufhebung der so attribuierten Prädikate andererseits in einer synthetischen Einheit verbindet. Das zweite Prinzip, also das extensionalistische Prinzip, daß »eins« umfangsreicher ist als »sein«, wird im 6. Kapitel ausdrücklich behandelt. Von den zwei Argumenten, die die Platoniker verwenden, um das Prinzip zu beweisen, wird hier nur dasjenige erörtert, das sich auf den Fall der materia prima bezieht. Das Argument, das sich auf Gott als jenseits des Seins bezieht, wird dagegen nicht ausdrücklich erwähnt, denn die Diskussion im 4. und 5. Kapitel hat schon gezeigt, inwiefern eine solche Einsicht als völlig kompatibel mit der aristotelischen Auffassung zu betrachten ist. Hier läuft Picos Argumentation lediglich darauf hinaus zu zeigen, daß Platon die materia prima nicht einfach für nichts gehalten De ente et uno, S. 22 (Seitenangaben hier und im folgenden nach der vorliegenden Ausgabe). 18
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hat, d. h.: auch von ihr wird »sein« in seiner allgemeinsten Bedeutung ausgesagt. Schließlich wird das dritte Prinzip, wonach »eins« und »sein« verschiedene Gegensätze und somit auch verschiedene Bedeutungen haben, im 7. Kapitel kritisch erörtert. Hier liegt der Grundfehler der Platoniker nach Pico darin, die Tatsache übersehen zu haben, daß es sich dabei um verschiedene Arten der Entgegensetzung handelt: Einheit und Vielheit sind einander bloß konträr entgegengesetzt, während »sein« und »nichts« einen kontradiktorischen Gegensatz bilden. So Pico unter Verweis auf Aristoteles, Met. 3. Dazu bringt Pico noch ein anderes Gegenargument: »eins« kann unmöglich als eine Art Gattung gedacht werden, die umfangsreicher als »sein« wäre. Sollte das Sein als eine Art unter einer umfangsreicheren Gattung gelten, dann müßten die anderen Arten dieser Gattung, die neben dem Sein stehen, als »nicht-seiend« gedacht werden. In Met. 3, 998 b 22 ff. bringt Aristoteles ein vergleichbares Argument, das beweisen soll, daß weder das Sein noch das Eine als Gattungen gedacht werden können: Würden sie Gattungen sein, dann würden die Differenzen, die die untergeordneten Arten konstituieren, notwendigerweise als »nichtseiend« bzw. »nicht-eins« gelten müssen, denn die Differenz ist in der Gattung nicht enthalten. Auf diesen Grundsatz greift auch Picos Argument ausdrücklich zurück, nur so, daß dabei das Eine als die umfassende Gattung und das Sein als die untergeordnete Art – welche durch eine in der Gattung nicht enthaltene spezifische Differenz konstituiert wird – angesetzt wird: Ist eine solche Differenz wirklich als spezifisch zu denken, dann gilt sie nur für eine einzige Art und wird von den anderen Arten der gleichen Gattung nicht ausgesagt. Die anderen Arten der angeblichen Gattung »eins« würden dann notwendigerweise als »nicht-seiend« gelten. Man tut gut daran, in Picos Text eher eine Art vorläufi-
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ges Positionspapier zu sehen denn einen endgültigen Traktat.19 So sehr das Papier, das unter dem Titel De ente et uno 1496 postum im Rahmen der Opera veröffentlicht wurde, von gedanklicher Tiefe und argumentativer Brillanz zeugt, so sehr ist es doch nur Vor- und Seitenstudie für Picos eigentliches, großes Projekt. Dieses Projekt sollte seine Gedanken zur Vereinbarkeit von Platon und Aristoteles, die er seit 1483/84 hegte, ausführen und ein Buch mit dem Titel Concordia Platonis et Aristotelis hervorbringen. Seit Jahren arbeitete er daran. So schreibt Pico etwa im März 1490 an Battista Spagnuoli: »Ich arbeite unablässig an der Concordia Platonis et Aristotelis.«20 Und auch gegenüber Polizian sagt er 1490/1, er arbeite an diesem Werk.21 Da Pico früh, nämlich 1494, gestorben ist, wurde das Werk nie abgeschlossen. Wir sind auf Vermutungen und auf Picos wenige Andeutungen angewiesen, wenn wir uns ein Bild vom Inhalt des Buches machen wollen, das sicherlich viele hundert Seiten umfaßt hätte. Es sollte offenbar in zehn ‹Dekaden› eingeteilt werden, die unterschiedlichen Themenbereichen gewidmet waren. Wenn man thematisch vergleichbare Schriften wie die von Plethon oder Bessarion heranzieht, dann sieht man, daß die Vergleiche von Platon Vgl. in diesem Sinne Allen (1986), 428: »The De Ente et Uno was written, moreover, when he was in his late twenties and still in the process of altering his opinions on a number of key issues. In other words, we must endeavour to see the treatise through his eyes as a preliminary position paper and not as a definitive epitome of Aristotelian ontology.« Demgegenüber spricht Toussaint (1995), 11 von einem Werk der Reife. 20 Pico an P. Battista Spagnuoli, 20. 3. 1490: »Concordiam Platonis et Aristotelis adsidue molior; do illi quotidie justum matutinum.« (Opera, 369). 21 De ente et uno, S. 2: »Efflagitas enim ut quamquam de his fusius in ipsa quam adhuc parturio Platonis Aristotelisque Concordia sim scripturus (…).« 19
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und Aristoteles im allgemeinen enzyklopädisch angelegt waren und Punkt für Punkt sämtliche Bereiche von deren Philosophien durchschritten. Pico hatte 1491 offenbar schon einige Teile des Buches skizziert oder ausgeführt, denn er bezieht sich bereits auf spezifische Partien seines Werkes.22 Man hatte schon in den Worten am Ende der Oratio erkennen können, für wie ausbaufähig Pico die Thematik hielt. Dort heißt es: »Hätte ich [die Disputation], ebenso wie andere es gewöhnlich tun, in ihre Glieder teilen und zerreißen wollen, wäre sie mit Sicherheit zu einer unendlichen Zahl angewachsen. Und wer wüßte denn nicht, daß ich, um von den übrigen zu schweigen, einen Lehrsatz von den neunhundert, nämlich den über die Vereinbarkeit der Philosophien Platons und des Aristoteles, außerhalb jedes Verdachts, die Zahl künstlich in die Höhe getrieben zu haben, bis in tausend, um nicht zu sagen noch mehr Kapitel hätte entfalten können?«23 Das geschah jetzt. Wir wissen nicht, wie sehr innerhalb der zehn Dekaden die Unterkapitel angeschwollen sind, aber man kann sich bei Picos Arbeitsgeschwindigkeit den großen Umfang in etwa ausmalen. In Dekade fünf – erfahren wir – ging es unter anderem gegen bestimmte Aristoteliker, die Gott mit der Seele des Himmels oder des Universums identisch erklären.24 Der
De ente et uno, S. 32. De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, 66: »Et, ut taceam de ceteris, quis est qui nesciat unum dogma ex nongentis, quod scilicet de concilianda est Platonis Aristotelisque philosophia, potuisse me citra omnem affectatae numerositatis suspicionem in sexcenta ne dicam plura capita deduxisse, locos scilicet omnes in quibus dissidere alii, convenire ego illos existimo particulatim enumerantem?« 24 De ente et uno, S. 32: »Sed profanam hanc opinionem quinta decade nostrae Concordiae late incessuimus.« 22 23
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Hauptvorwurf ging offenbar dahin, solche Position als idolatrisch zu erweisen.25 Überhaupt scheint das traditionelle Bemühen der theologia negativa, Gott nicht zu vergegenständlichen, nichts Weltliches als Gott zu denken und so die Idolatrie zu vermeiden, ein Hauptmotiv Picos gewesen zu sein. Man kann die Wichtigkeit dieses Punktes vor allem an der PseudoDionysius-Rezeption in De ente et uno ablesen. Ebenso scheint Pico eine Darstellung der Kontroverse zwischen Averroes und Avicenna über Avicennas Erweiterung der Einteilung der Transzendentalien durch die Prädikate »etwas« und »Ding« in die Schrift inkorporiert zu haben. »Doch darüber an anderer Stelle«26, sagt Pico lapidar und verweist offenbar auf eine geplante Sektion, in der er das, was er mit Elias del Medigo diskutiert hatte, niedergelegt hat. All diese Einzelinformationen über Struktur und Inhalte der Concordia sind spärlich. Das bei Picos Tod unfertige Textkonvolut ist verloren gegangen. Farmer vermutet, daß Picos Neffe Gianfrancesco das Material der Concordia noch in Händen hatte und sich aus ihm für seine eigenen Werke bediente; möglicherweise lasse sich aus diesen Plagiaten, wenn man sie erkenne, ein wenig von der Condordia rekonstruieren.27 Ebd.: »[…] unde utrisque magnum fomentum idololatriae, ubi alibi declarabimus.« 26 De ente et uno, S. 45. 27 Vgl. Farmer (1998), bes. 35 und 163 f. Farmer weist vor allem auf G.F. Picos Traktat Examen veritatis doctrinae gentium (1520) hin, in dem sich eine Sektion mit dem Titel »Quod rationes Aristotelis contra ideas Platonis demonstrationes non sunt, ut plerique putaverunt, ideoque ostenditur multipliciter, ubi & plurima de opinione idearum.« Joannes Picus Franciscus Mirandulanus: Opera omnia, Basel 1573 (Reprint Turin 1972), II, 1231–1236. 25
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Pico ist am 17. November 1494 gestorben, plötzlich und unerwartet. Er hatte sich vor seinem Tod noch Savonarola zugewandt, hatte die antiastrologischen und kritisch zur heidnischen Weisheitstradition stehenden Disputationes adversus astrologiam divinatricem geschrieben, und wir wissen nicht, wie stark ihn in dieser Geisteswendung die Vollendung der Concordia noch beschäftigte. Anthony Grafton hat die These stark gemacht, daß Pico in seinen letzten Lebensjahren von einem Eklektiker zum Humanisten geworden sei. Das zeigten vor allem die Disputationes, in denen sich der philologische Einfluß Polizianos mit dem theologischen Savonarolas verbunden hätte, nach dem christliche Quellen nicht neben, sondern vor den heidnischen Zeugnissen rangierten. Akzeptierte man diese Prämisse, so Grafton, dann ließ sich das große synkretistische Projekt nicht mehr durchführen, und akzeptiert man die Hermeneutik der Philologen, nach der die geschichtlichen Umstände die Bedeutung einer Philosophie bestimmen, hat man die Weisheitslehren der Alten auf ihre Authentizität zu prüfen statt aus ihnen ‹Perlen› der Wahrheit auszuwählen.28 Wäre diese These vom Wandel Picos in den 90er Jahren richtig, hätte sie zentrale Konsequenzen für unser Verständnis des Projektes der Concordia, das ja genau in diesen Jahren Gestalt annahm. Die Concordia gerade Platons und Aristoteles’ wäre in dieser Perspektive nicht einfach ein Beispiel für viele, wie es die Formulierung in den Schlußsätzen der Oratio nahelegen könnte.29 Vielmehr würde sich in dieser Fokussierung bereits der Vorzug griechischer Philosophie gegenüber ‹östlichen› Weisheitslehren abzeichnen, und die Durchführung des Vergleiches wäre nicht mehr ahistorisch sammelnd im Sinne der Conclusiones, 28 29
Vgl. Grafton (1999). Vgl. De hominis dignitate, 66.
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sondern zunehmend auf der Basis einer historisch genauen Einordnung erfolgt. Doch vielleicht ist das Bild, das Grafton zeichnet, übertrieben. Schon zur Zeit der Conclusiones läßt sich ein humanistischer Pico erkennen, der griechischen Texten statt rein scholastischer Positionen Interesse entgegenbringt.30 Andererseits wäre es gewagt zu meinen, daß Pico in den 90er Jahren nicht mehr an der synkretistischen Prämisse festgehalten und den Wert der Kabbala, der Orphica oder des Hermes geringer geschätzt hätte. Was jedenfalls unstrittig ist, ist der Umstand, daß Picos De ente et uno und sein Konkordanz-Projekt Teil einer Tradition gewesen ist, die seit dem Beginn des Quattrocento sich bemüht hat, das Verhältnis der Philosophie von Platon und Aristoteles zueinander zu bestimmen.
III. Die Tradition der Concordia Platonis et Aristotelis Was war das Problem, auf das dieser Bestimmungsversuch antwortete? Es war das Problem, daß die Lehren von Platon und Aristoteles prima facie entgegengesetzt sind, es aber immer wieder Situationen gab, in denen man an die Einheitlichkeit der großen Tradition der klassischen griechischen Philosophie glauben zu müssen meinte, sei es aus historischen Umständen, sei es aufgrund der Überzeugung der Unteilbarkeit der einen Wahrheit.31 Die Grundformel Zum Verhältnis von Humanismus und Scholastik in der Auseinandersetzung mit Barbaro 1485/6 vgl. Panizza (1996); Text s. Barbaro/Pico 1998. 31 Vgl. Eugenio Garin: Der italienische Humanismus, Bern 1947, 154–159; Joseph Moreau: De la concordance d’Aristote avec Platon, in: Platon et Aristote à la Renaissance. XVIe colloque international de Tours (1973), Paris 1976, 45–58; Sylvain 30
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der Konkordanz-Tradition lautet: es handelt sich bei den Lehren von Platon und Aristoteles um zwei Philosophien, die zwar dem Wortlaut nach verschieden sind, in der Sache aber übereinstimmen. Diese Formel stammt aus einer Zeit, in der von Aristoteles – vor seiner Wiederentdeckung durch Andronikos von Rhodos – vor allem die ‹exoterischen› Dialoge in Umlauf waren, die meisten Lehrschriften aber vergessen.32 In der hellenistischen Zeit verstärkten synkretistischen Denkens hat Antiochos von Askalon, Schuloberhaupt der Akademie, in den Jahren um 80 v. Chr. die Formel benutzt, um eine Annäherung der platonischen und peripatetischen Schulen zu erreichen. Sein Schüler Cicero hat sie der Nachwelt bekannt gemacht: »una et consentiens duobus vocabulis philosophiae forma (…), Academicorum et Peripateticorum, qui rebus congruentes, nominibus differebant.«33 Paradox wurde dieses Modell nach dem Wiederbekanntwerden der aristotelischen Lehrschriften, der Metaphysik, der Physik oder De anima, Schriften also, deren beträchtliche Differenz zu Platon nicht zu übersehen ist. Dennoch – das ist das Verwunderliche – hielt sich die Formel und wurde, wenn auch nur gelegentlich, immer wieder heranMatton: Quelques figures de l’antiplatonisme de la Renaissance à l’Age Classique, in Monique Dixsault: Contre Platon. 1. Le platonisme devoilé, Paris 1993, 357–414, bes. 360–401; Charles B. Schmitt: Aristotle and the Reanissance, Cambridge / Mass. 1983, 89–109 (»Eclectic Aristotelianism«); André-Jean J. Festugière (1932), 185–207; Hankins (21991). 32 Vgl. Moreau: De la concordance, {Anm. 31} 47: »C’est donc à la faveur de l’oubli des oeuvres charactéristiques de l’aristotelisme que s’est répandue la thèse de la concordantia (…).« 33 Cicero: Academica I, 4, 17. Zu Antiochos vgl. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, 2 Bde., Berlin 1984.
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gezogen, wenn man die beiden großen griechischen Denker als kompatibel erweisen wollte. So etwa bei den spätantiken neuplatonischen Aristoteleskommentatoren, die in bestimmten Abschnitten ihres Lehrkanons von Themen handelten, die zwischen Aristoteles und Platon kontrovers waren, und so auf die Frage stießen, wie sie mit den Differenzen umgehen sollten. Sie plädierten dann etwa für ein Abrücken vom Wortlaut, um den gemeinsamen »Geist« zu erkennen. So liest man bei Simplikios, einem Autor, der Pico wohlvertraut war: »Der geeignete Ausleger der aristotelischen Schriften sollte nicht völlig hinter dessen großem Geist zurückbleiben. Er muß aber auch in allem, was der Philosoph an verschiedenen Orten geschrieben hat, erfahren sein und sich in den Gewohnheiten des Aristoteles auskennen. Er soll auch ein unbestechliches Urteilsvermögen besitzen, damit er nicht das, was gut gesagt ist, schlecht aufnimmt und unverständlich darstellt und auch nicht, wenn etwas noch diskussionsbedürftig ist, sich damit abmüht, es als in jeder Hinsicht tadellos hinzustellen, so als wollte er sich in die Schule des Philosophen einschreiben. Er darf aber, wie ich glaube, auch das, was von Aristoteles gegen Platon gesagt wird, nicht, indem er nur auf den Wortlaut schaut, als Meinungsverschiedenheit der Philosophen bewerten, sondern muß auf den Geist schauend die in den meisten Fällen bei ihnen bestehende Einmütigkeit aufspüren.«34 Pico hatte den Kommentar zu den aristotelischen Kategorien, aus dem diese Passage stammt, in seiner Bibliothek. Sein Freund Polizian war immerhin in den Jahren der Arbeit Picos an der Concordia mit der Kommentierung der KategorienSimplikios: In Aristotelis Categorias Commentarium, ed. C. Kalbfleisch, in: CAG VIII, 7, 23–32. Wir danken Eckhard Keßler, der uns auf die Stelle aufmerksam gemacht hat und dessen Übersetzung wir hier übernehmen. 34
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schrift beschäftigt, und Pico spielt ja auch in der Oratio auf Passagen wie diese an. Nicht nur Simplikios, auch Themistios, Philoponos oder Boethius haben sich in diesem Sinne für eine Konkordanz der beiden großen Denker geäußert. Die Vorzeichen der Konkordanz-Idee in der Renaissance standen anders. Ihre Geschichte gliedert sich in ein Vorspiel und eine Haupttradition. Das Vorspiel entstand aus der humanistischen Praxis der neuen Aneignung antiker Texte heraus. Leonardo Bruni Aretino, Kanzler von Florenz und bedeutender Humanist, hat 1429 in seiner Biographie des Aristoteles einen Vergleich der beiden Denker angestellt; ihm lag daran, Aristoteles von einem humanistischen Standpunkt aus neu zu lesen und zu verteidigen. Explizit vertritt er die Vereinbarkeit der Lehren von Platon und Aristoteles sechs Jahre später in der Dedikation seiner Übersetzung der aristotelischen Politik. Beide Denker schienen ihm in ihren Ansichten kompatibel zur christlichen Wahrheit.35 Schon wenige Jahre später aber wurde dieser frühe Versuch überlagert von der nun – durch die politischen Umstände – leibhaftig gewordenen Begegnung der italienischen Philosophen mit der griechischen Welt. Konstantinopel wurde von den Türken bedrängt, und der byzantische Kaiser Johannes Palaeologus, der Allianzen im Westen benötigte, schickte eine Delegation von Theologen und Philosophen auf das ökumenische Konzil von Ferrara 1438. Enea Silvio Piccolomini berichtet vom Paduaner Mediziner Ugo Benzi, er habe anläßlich des Konzils mit den Griechen die Frage erörtert, ob Platon oder Aristoteles den Vgl. L. Zannoni: Il ‹Liber vitae Aristotelis› di Leonardo Bruni, in: Rivista di filosofia neoscolastica 3 (1911); Hans Baron: Leonardo Bruni Aretino. Humanistisch-philosophische Schriften, Leipzig 1928; Frantisec Novotny: The Posthumous Life of Plato, Prag 1977, 332. 35
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Vorrang habe.36 Ein Jahr später dann erscheint eine Schrift von Georgios Gemistos Plethon, einem der byzantinischen Philosophen, die auf das inzwischen nach Florenz transferierte Konzil gekommen waren.37 Sie trägt den Titel De differentiis platonicae atque aristotelicae disciplinae38 (der griechische Titel lautet übersetzt: Worin Aristoteles von Platon abweicht) und ergreift für Platon Partei – an die Adresse der italienischen Humanisten. Diese Schrift ist ein grundlegender Text für die ganze folgende Debatte einschließlich Picos De ente et uno. Plethon hat mit seiner These von der Unbrauchbarkeit des Aristoteles und der Überlegenheit Platons für die christliche Theologie kaum verholen erklärt, warum es zwischen dem aristotelisch geschulten lateinischen Westen und dem platonisch geprägten griechischen Osten keine tiefgehende Union geben könne, welche das politische Ziel dieses Konzils war. Vgl. Enea Silvio Piccolomini: De Europa LII. Der Text ist zitiert bei Francesco Fiorentino: Il risorgimento filosofico del Quattrocento, Neapel 1885, 247 Anm. 3. 37 Della Torre (1968), 428–478; François Masai: Pléthon et le platonisme de Mistra, Paris 1956; John Monfasani: George of Trebizond. A Biography and a Study of His Rhetoric and Logic, Leiden 1976, Kap. 7: The Plato-Aristotle Controversy, 201–229; Eugenio Garin: Il ritorno dei filosofi antichi, Neapel 1983, 79–95; Christopher Montague Woodhouse: Gemistos Plethon. The Last of the Hellenes. Oxford 1986; Georgios Gemistos Plethon: Politik, Philosophie und Rhetorik im spätbyzantinischen Reich (1355–1452). Übersetzt und erläutert von Wilhelm Blum, Stuttgart 1988; Peter Schulz: Georgios Gemistos Plethon, Georgios Trapezuntios, Kardinal Bessarion, in: Philosophen der Renaissance, hrsg. von Paul Richard Blum, Darmstadt 1999, 22–32; Hankins (21991), 193–217, 436–440. 38 Plethon: De differentiis platonicae atque aristotelicae disciplinae; eine deutsche Übersetzung findet sich in: Georgios Gemistos Plethon: Politik, Philosophie und Rhetorik, {Anm. 37} 112–150. 36
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Dieser Philosoph aus dem peloponnesischen Mistra hegte die Idee einer Renaissance vorchristlicher hellenischer Religion, die er zwar erst in seinem dem gleichnamigen Werk Platons nachempfundenen Buch Nomoi ausformuliert, offenbar aber schon seit längerem propagiert hatte.39 Die Tatsache, daß er in der Delegation byzantinischer Theologen nach Florenz reisen durfte, läßt sich nur aus seinem Ruf als Gelehrter und aus dem Mangel der Griechischen Kirche an solchen Persönlichkeiten erklären. Nach seiner Rückkehr nach Griechenland wurden seine Nomoi bekannt und lösten wegen ihrer Propaganda einer neu-heidnischen Theologie mit Jupiter, Juno und Neptun als Spitze einer Götterhierarchie einen Skandal unter griechischen Theologen aus. Nun war Nicolaus Cusanus als westlicher Gesandter 1437 mit auf dem Schiff, als die byzantinische Delegation, darunter Gemistos Plethon, von Konstantinopel nach Venedig zum Konzil reiste. Im Februar 1440, also kurz nach Abschluß des Konzils von Florenz, das mit einer sehr schwachen Union der beiden Kirchen geendet hatte, erzählt Cusanus, daß ihm die Eingebung zur »belehrten Unwissenheit« als der paradoxalen Methode der Gotteserkenntnis eben auf jener Reise gekommen sei. Cusanus’ De docta ignorantia kann also bereits als Reaktion auf Plethons Provokation gelesen werden. Cusanus erzählt die Episode von der Reise in dem Brief, mit dem er die gesamte Schrift Kardinal Giuliano Cesarini widmet, gerade jenem Kirchenmann, der ihn wegen ihrer aus dem Konzil von Basel herrührenden Freundschaft nach Konstantinopel delegiert hatte und der im Auftrag des Papstes die Geschäfte des Konzils von Florenz führte.40 Cesarini müßte Pléthon: Traité des lois, hrsg. von Charles Alexandre, Paris 1858 (Reprint Amsterdam 1966). 40 Nikolaus von Kues: Die belehrte Unwissenheit, Buch III, hrsg. von Hans Gerhard Senger, Hamburg 1977. Der Brief 39
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schon recht taub gewesen sein, wenn er diese Erzählung nicht so interpretiert hätte, daß er und seine Kollegen, die aristotelisch-logisch geschulten westlichen Theologen, vom Platonismus der Griechen einiges zu lernen vermöchten, zumindest einen Sinn für das Paradox, das in jedem Versuch, Gott rational zu verstehen, eingeschlossen ist. Damit waren fortan die Ankläger des Aristoteles zwar nicht gerechtfertigt, die Anhänger Platons aber theologisch gesellschaftsfähig geworden. Ein Punkt, auf den Plethon in De differentiis besonders die Aufmerksamkeit gerichtet hat, ist das Problem der Äquivozität des Seins. Gegen Aristoteles sagt er: »Nun, wenn das eine Ding mehr, das andere weniger am Sein Anteil hat, so behauptet er, diese Dinge seien äquivok miteinander: doch diese seine Behauptung kann nicht zutreffend sein.« In diesem Zusammenhang hat Plethon auch die Passage aus dem zwölften Buch der aristotelischen Metaphysik zitiert, in der Gott, Homer folgend, mit einem Herrscher und Heerführer verglichen wird und auf die Pico später zurückkommt. Bei Plethon heißt es: »Wenn nämlich von dem Einen, und zwar dem in höchster Weise Einen, das Ganze seinen Ausgang nimmt, mag dies vieles, ja unzählig sein, so kann unmöglich ein jedes sowohl das Eine als auch an Kardinal Cesarini, 98–101 (lat.-dt.). Vgl. zur Delegation Raymond Klibansky: Zur Überlieferung der Docta ignorantia, a.a.O., 206–209; Hugh Lawrence Bond: Nicholas of Cusa from Constantinople to ‹Learned Ignorance›: The Historical Matrix for the Formation of the De docta ignorantia, in: Nicholas of Cusa on Christ and the Church, hrsg. von Gerald Christianson und Thomas M. Izbicki, Leiden 1996, 134–163. Zu Cusanus und Plethon vgl. Woodhouse, Gemistos Plethon, {Anm. 37} 132, und Paul Oskar Kristeller: A Latin translation of Gemistos Plethon’s De fato by Johannes Sophianos dedicated to Nicholas of Cusa, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno, hrsg. von Giovanni Santinello, Florenz 1970, 175–193.
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das Gemeinsame zugleich besitzen. Was aber kann dieses, das ein jedes hat, anderes sein als das Sein, und wie könnte dieses je äquivok sein? Wäre es nämlich äquivok, so wäre es nicht mehr das eine. So sagt ja auch Aristoteles selbst, die Dinge ‹wollten nicht schlecht regiert werden›, und: ‹nicht gut ist die Herrschaft vieler, einer soll der Herr sein›; mit diesem Zitat sagt er ganz feierlich das Richtige, tatsächlich ist aber gerade er es, der den Dingen die schlechte Regierung beigibt, indem er nicht zulassen will, daß das Sein auch eines bleibt.«41 In Picos Argumentation von De ente et uno, die wie die Philosophie von Cusanus eine Reaktion auf Plethons Provokation darstellt, erhält diese Referenz eine ganz andere Ausrichtung. Sein Bestreben geht auf eine Rehabilitierung von Aristoteles in diesem Punkt. Pico möchte zeigen, daß »Aristoteles als einer der ersten diese zwei Namen, das Gute und das Eine, Gott gegeben hat.«42 »Denn er fragt im zwölften Buch der Metaphysik, (…) ob es außer dem Guten, das wie in einem Heer in der Allgemeinheit des Seienden ist, auch ein abgetrenntes Gutes wie in einem Führer dieses Heeres gibt; und er stellt fest, daß es das gibt, daß das Gute Gott ist, dessen Einheit er folglich in demselben Kapitel beweist, und er zitiert nach überzeugenden Argumenten zum Beleg den Satz von Homer: ‹Nur einer sei Führer, nur einer König›.« Der Unterschied zu Plethon ist, daß Pico diese Stelle strategisch gegen jene Platoniker ins Feld führt, die meinten, Aristoteles kenne nicht »das Geheimnis«, daß Gott auch das Gute sei. Solche direkten Berührungspunkte zwischen Plethon und De ente et uno sind allerdings nur marginal gegenüber der generellen Bedeutung, die diese Schrift für die DePlethon, De differentiis, {Anm. 38} 116. Vgl. Aristoteles, Met. 1076 a 3 f. 42 De ente et uno, 21 f. 41
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batten der folgenden Jahrzehnte gewonnen hat. Denn sie wurde Anlaß einer Kontroverse über den Vorrang von Platon oder von Aristoteles, die hauptsächlich auf Griechisch zwischen den verschiedenen Fraktionen der Exilbyzantiner geführt wurde.43 So hat Georgios Scholarios (auch: Gennadius) 1443 für die Aristoteliker auf Plethon geantwortet, worauf dieser wiederum gegen Scholarios schrieb. Scholarios wurde von seinen Kollegen Johannes Argyropoulos und Theodor Gaza unterstützt. Vor allem aber schrieb Georgios von Trapezunt in seiner Comparatio philosophorum Aristotelis et Platonis, verfasst um 1455, eine vehemente Polemik von aristotelischer Seite gegen den häretischen Charakter des Platonismus, gedacht als definitive Antwort auf Plethon.44 Inzwischen war Konstantinopel von den Türken erobert worden, viele der griechischsprachigen Intellektuellen hatten dauerhaft in das italienische Exil kommen müssen. 1469 erschien eine Verteidigung Platons, diesmal aus der Feder eines Byzantiners, der zur römischen Kirche gewechselt war: Kardinal Bessarion. Sie hieß In calumniatorem Platonis. Bessarion geht in dieser Schrift bereits auf die Frage der Übereinstimmung der beiden griechischen Denker hinsichtlich des Einen und des Seienden ein, wenn auch noch – verglichen mit Picos späteren Ausführungen – kursorisch und wenig durchdringend.45 Sein Hauptanliegen ist es aber, die Bedenken, die Georgios von Trapezunt gegen die Vereinbarkeit Platons mit dem Christentum geVgl. außer den oben genannten Werken Eugenio Garin: Storia della filosofia italiana, Turin 1966, Bd. 1, 358–372. 44 Vgl. Monfasani: George of Trebizond {Anm. 37}. 45 Bessarion: In calumniatorem Platonis, Venedig 1516, Buch II, Kap. 3 (fol. 13v) und Kap. 5 (fol. 19r). Das Werk ist ediert in Ludwig Mohler: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann, Paderborn 1927, Bd. 2. 43
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äußert hatte, zu zerstreuen. Bessarion greift in seiner Argumentation auch das Homer-Zitat vom »Rex unus, princeps unus« bei Aristoteles auf, um zu zeigen, daß Aristoteles in den wesentlichen Punkten Platon gefolgt sei.46 Und es ist Bessarion, der in seiner Schrift die Theorien des PseudoDionysius Areopagita in die Debatte bringt, die für Pico später so wichtig werden sollten.47 »Überall nämlich«, sagt Bessarion, »nennt Platon das erste Prinzip aller Dinge das Eine, überall nennt er es den Werkmeister und Schöpfer des Universums, überall das höchste Gut, den König und Gründer aller Dinge. (…) Daher aber ist diese Theologie Platons den heiligsten Gelehrten unseres Glaubens genehm gewesen, so daß sie, wann immer sie etwas über Gott geschrieben haben, nicht nur gern seine Ansichten, sondern auch seine Worte benutzt haben. Denn der hochheilige Mann Dionysius Areopagita, der der erste und höchste Urheber der christlichen Theologie gewesen ist (…), hat im Buch, das er über die göttlichen Namen herausgegeben hat, folgendes geschrieben: ‹Es bleibt jedenfalls über allen Substanzen eine übersubstantielle Unendlichkeit und über den Geistern (mentes) eine übergeistige Einheit, und diese ist für alle Intelligenzen unintelligibel, weil sie jede Intelligenz überragt als das Eine und Unaussprechliche Gute, das alles sprachliche Argument überragt.› Und weiterhin: ‹Die Bessarion, in: Mohler: Kardinal Bessarion, {Anm. 45} 93: »Plato itaque in his mirifice ab omnibus comprobatus est, Aristoteles vero, quicquid de huiusmodi rebus scripsit, Platonem secutus est, quamvis non ita expresse de his locutus fuerit. Quale est, quod in libro de divinis rebus ponit Homericum illud: ‹Rex unus, princeps unus›, aut si uspiam deum et naturam nihil frustra agere profitetur, aut si qua Naturalis auditionis libro ultimo et Divinarum rerum duodecimo de primo movente immobili, per se substante brevissime attigit.« 47 Vgl. Watts (1987), die allerdings nicht auf De ente et uno eingeht. 46
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einigende Einheit ist die Substanz aller übersubstantiellen Einheit, der unerkennbare Geist, die unaussprechbare Vernunft, die Unvernünftigkeit, Uneinsehbarkeit, Unnennbarkeit, sie hat zu keinem Seienden eine Ähnlichkeit und ist Grund aller Seienden, sie selbst aber ist nichtseiend, weil sie jenseits aller Substanz ist.› (…).«48 Bessarion spricht hier mit Dionysius von Gott als Unendlichem jenseits jeder Substanz, als Einheit jenseits des Begriffes. Man kann in diesen Bestimmungen, wenn man will, eine Konvergenz mit der Kritik der Humanisten an der scholastischen Sprache der Metaphysik erkennen. Stéphane Toussaint jedenfalls betont diesen Punkt in seiner Pico-Interpretation.49 In dieser Perspektive scheint Bessarions Heranziehung
Bessarion: In calumniatorem Platonis, a.a.O., II, 3, fol. 13v, ed. Mohler: Kardinal Bessarion, {Anm. 45} 89: »Ubique enim primum omnium principium Plato unum appellat, ubique opificem et creatorem universi, ubique summum bonum, regem et conditorem omnium nominat. (…) Adeo autem haec Platonis theologia sanctissimis fidei nostrae doctoribus grata fuit, ut quotiescumque de deo aliquid scripserunt, non modo sententiis eius, sed etiam verbis uti voluerint. Nam vir sanctissimus Dionysius Areopagita, qui primus et summus christianae theologiae auctor fuit, (…) in libro, quem de divinis nominibus edidit, ita scripsit: ‹Manet quidem supra omnes substantias supersubstantialis infinitudo, et supra mentes supermentalis unitas, et omnibus intelligentiis inintelligibile est quod omnem intelligentiam superat unum, et ineffabile quod omnem dicendi rationem excedit bonum.› Et rursus: ‹Unitas unifica omnis unitatis supersubstantialis substantia, mens intellegibilis, ratio ineffabilis, irrationabilitas, inintelligibilitas, innominabilitas est, nullius entis similitudinem gerit et causa est entium omnium, ipsum autem est non ens, utpote quod ultra omnem substantiam est.›« Vgl. Ps-Dionysius, De divinis nominibus I, 1. Vgl. Moreau, De la concordance d’Aristote avec Platon, {Anm. 31} 49 f. 49 Toussaint (1995), 25 ff: ‹Grammaticus: Etre et rhetorique›. 48
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von Dionysius Areopagita für Picos Entwurf wesentlich gewesen zu sein. Allerdings ist zu beachten, daß Pico bei aller Berufung auf Dionysius das Eine nicht als nichtseiend konzipiert hat. Bessarions Schrift ist, ähnlich wie die ganze Kontroverse, nach theologischen Loci strukturiert: nach den Fragen des Monotheismus, der Trinität, der Schöpfung oder der Providenz. Insofern kann noch Picos De ente et uno als Beitrag zu einer Debatte verstanden werden, die um die Frage geführt wurde, ob Platon oder Aristoteles eher geeignet sind, die Lehre des Christentums zu fördern. Allerdings wird die Debatte mit Pico einen rein philosophischen Charakter erhalten – ohne daß der theologische Hintergrund verschwindet. Der Umschlagspunkt von einer Betonung der Differenzen zwischen Platon und Aristoteles – mal zugunsten der einen, mal zugunsten der anderen Seite – hin zu einer Betonung der Vereinbarkeit deutete sich, nachdem Bessarion vorangegangen war, seit den 1470 und 1480er Jahren an, als nach und nach die spätantiken griechischen Aristoteleskommentare in Italien bekannt wurden. Pico, der seinen Freund Polizian bei dessen Studium der Aristoteleskommentatoren begleitet hat und selbst im Umkreis der Übersetzungen von Barbaro und anderen mit den Texten von Simplikios, Themistios oder Philoponos groß geworden ist,50 konnte in einigen von ihnen den Gedanken von der Vereinbarkeit von Platon und Aristoteles finden und so auf die Idee kommen, ihn gegen die Differenzstreitigkeiten seit Plethon auszuspielen. Zugleich erlebten die letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts den massiven Impuls, der durch Ficinos Über-
Zur Präsenz der Kommentatoren in Picos Bibliothek vgl. Kibre (1936). 50
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setzungen von Platon, Hermes Trismegistos, Plotin und zahlreichen neuplatonischen Autoren ausgelöst wurde. Das Übersetzungswerk war späte Frucht der Anregungen und Manuskripte der griechischen Platoniker auf den Konzil von Ferrara und Florenz. Platon war in diesem Übersetzungswerk dicht eingebettet nicht nur in die neuplatonische Tradition, sondern zugleich in den Mythos von einer »prisca sapientia« oder »prisca theologia«, die über Autoren wie Zoroaster, Hermes und Orpheus zu ihm hingeführt haben sollte. Alle Debatten über die Konkordanz von Platon und Aristoteles in den 1480er und 90er Jahren standen daher unter diesem doppelten Eindruck der neuplatonischen Platonexegese und der »prisca sapientia«. Diesen Einflüssen hatte sich Pico zu stellen. Die Geburt des Mythos von der »prisca sapientia« war gleichwohl, mit Cesare Vasoli zu sprechen51, eine verzögerte Geburt. Denn die Idee war vornehmlich durch Plethon nach Florenz gekommen, und bei Plethon hatte sie unverkennbar einen neuheidnischen Akzent. Das machte sie problematisch und brachte ihr zunächst starken Widerstand ein. Als Cusanus auf Plethon reagierte, setzte er sich dem Vorwurf des Pantheismus aus, nicht aber dem des Paganismus. Dieser Verdacht haftete jedoch dem Vorstoß des Byzantiners an. Und derselbe Verdacht betraf Marsilio Ficino.52 Cesare Vasoli: Der Mythos von den ‹prisci theologi› als ‹Ideologie› der ‹Renovatio›, in: Martin Mulsow (Hrsg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567–1614), Tübingen 2002, 17–60. 52 John Monfasani: Platonic Paganism in the Fifteenth Century, in: Reconsidering the Renaissance, hrsg. von Mario A. Di Cesare, Binghamton 1992, 45–61 (nachgedruckt in: Monfasani: Byzantine Scholars in Renaissance Italy: Cardinal Bessarion and 51
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IV. Ficino und die Gefahr des Neopaganismus Der ungarische Augustinerpater Johannes Pannonius (de Varadino53) hatte Ficino im Jahr 1484 oder 1485 provozierend gefragt, ob denn seine wiederholten Hinweise auf astrologische Vorherbestimmung seines Wirkens zur Wiederbelebung der Weisheiten von Orpheus, Pythagoras und Zoroaster nicht die göttliche Vorsehung durch (heidnisches) Schicksal und Religion durch Kuriosität ersetze.54 Ficino führt zur Verteidigung an, daß manche, vor allem die vorchristlichen Denker, auf die bloße Vernunft angewiesen seien, und daß in der Tat »eine Art fromme Philosophie« (pia quaedam Philosophia) von Zoroaster über die Ägypter zu den Griechen tradiert worden sei. Ferner übersetze er jetzt Plotin, um vor allem die aristotelischen Philosophen davon zu überzeugen, daß es sich bei der Religion eben nicht um »abergläubische Geschichten« (de anilibus Other Emigrés, Aldershot 1995), faßt den Paganismusbegriff recht eng und behandelt nicht Ficino. Für eine Verteidigung Plethons gegen Paganismus s. Wind (1980), 244 f. 53 Also aus dem ungarischen (Nagy-)Várad, heute Oradea in Rumänien. 54 Epistolae VIII; Marsilio Ficino: Opera, Basel 1576 (Reprint Turin 1983), I, 871; kritisch ediert in: Analecta nova ad historiam renascentium in Hungaria litterarum spectantia, hrsg. von Eugenius Abel und Stephanus Hegedüs, Budapest 1903, 278, mit dem in Opera fehlenden Satz: »Deinde non est Christiana illa antiquorum Theologia.« Vgl. dazu Michael Allen, Synoptic Art. Marsilio Ficino on the History of Platonic Interpretation, Florenz 1998, Kap. 1: der Brief mit englischer Übersetzung a.a.O., 5 f. Vgl. auch Christopher S. Celenza: Temi neopitagorici nel pensiero di Marsilio Ficino, in: Les Cahiers de l’Humanisme, II, Marsile Ficin ou les mystères platoniciens. Actes du XLIIe Colloque International d’Etudes Humanistes. Centre d’Etudes Supérieures de la Renaissance. Tours, 7–10 juillet 1999, organisé par Stéphane Toussaint, Paris 2002, 57–70.
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fabulis) handle. Denn, so fügt Ficino an, die Aristoteliker seiner Zeit seien zwar in die Lager der Averroisten und der Alexandristen gespalten, gemeinsam sei ihnen aber, daß sie beide wegen ihrer jeweiligen Seelenlehre die Religion zerstörten.55 Damit nimmt Ficino ein Argument des Plethon gegen Aristoteles auf. Plethon und mit ihm zugleich Giovanni Pico werden in diese Verteidigungslinie eingebunden, als Ficino einen großen Teil dieses Briefes an den Augustiner Johannes Pannonius in seinen Widmungsbrief an Lorenzo de’ Medici integriert, der 1492 seine Plotin-Übersetzung eröffnet.56 Dort liest man folgende, oft nacherzählte Geschichte: Cosimo de’ Medici habe während des Konzils von Florenz (1439) Vorträge von Gemistos Plethon gehört, die ihn motiviert hätten, möglichst bald eine Platonische Akademie in Florenz zu gründen. Als dieser Plan weit genug herangereift sei (und ebenso Marsilio Ficino, geb. 1433, der Sohn seines Leibarztes), habe er ihn in die Tat umgesetzt, indem er Ficino die Werke Platons, Plotins und das Corpus Hermeticum beschafft und ihn beauftragt habe, die hermetischen Schriften und Platon zu übersetzen. Plethon – so werden wir 53 Jahre nach dem Ereignis unterFicino: Opera 871 f., Abel/Hegedüs: Analecta nova, {Anm. 54} 279–281, Allen: Synoptic Art, {Anm. 54} 14–17. 56 Ficino: Opera II, 1537; auch in: Praefationes et epistolae editionibus principibus auctorum veterum praepostitae, curante Beriah Botfield, Cambridge 1861, 600–603. Sebastiano Gentile diskutiert dieses Vorwort als Dokument der inhaltlichen Nähe zwischen Ficino und Plethon: Marsilio Ficino, Lettere, I, Florenz 1990, XIII–XLII. Vgl. Cesare Vasoli, Quasi sit deus. Studi su Marsilio Ficino, Lecce 1999, 23–50. Hankins (1990), 144–162, benutzt es, um die Annahme, Cosimo habe eine Akademie gründen wollen, zu widerlegen, und erklärt die prominente Nennung Plethons damit, daß der von Cosimo an Ficino übergebene Platon-Kodex aus dem Besitz Plethons stammt. 55
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richtet –, der als Delegat des Konzils über »platonische Mysterien« referiert hatte, dieser Plethon stehe ursächlich hinter den platonischen und vorchristlichen Studien in Florenz. Dabei muß offen bleiben, ob Plethon seine neuheidnische Theologie der Nomoi, seine Zoroastrischen Orakel oder seine Angriffe auf den Aristotelismus von De differentiis vorgetragen hatte. Die einzige Rechtfertigung im Sinne subjektiver christlicher Rechtgläubigkeit für Ficino, sich auf Plethon zu berufen, wäre dessen Verdikt57 gewesen, die Lateiner seien durch den arabischen Averroes zum Aristotelismus verführt worden; denn in der Tat ist Ficinos Theologia Platonica (wie auch Cusanus’ philosophische Theologie) über weite Strecken eine Abwehr des Averroismus. Allerdings bekämpft der Byzantiner dann nicht Averroes, sondern Aristoteles selbst. Das wiederum sagt Ficino an dieser Stelle nicht, er preist platonische Mysterien. Obwohl Cosimo seinem Philosophen, wie erwähnt, auch das Corpus der Schriften Plotins besorgt hatte, meint Ficino nun betonen zu müssen, daß damit nicht der ausdrückliche Auftrag verbunden war, sie zu übersetzen. Vielmehr sei dieser Auftrag erst auf providentielle Weise zustandegekommen, denn Giovanni Pico, der – wie betont wird – in demselben Jahr 1463 geboren wurde, als die Werke Platons »wiedergeboren« (nämlich übersetzt) wurden, suchte genau in dem Jahr 1484, als der lateinische Platon im Druck erschien, auf mysteriöse Weise, offenbar durch Eingebung des schon 1464 verstorbenen Cosimo, Ficino in Florenz auf, um unvermittelt dazu aufzufordern, an die Übersetzung Plotins zu gehen (»mit welchen Worten, weiß ich nicht und weiß auch er nicht«). Kurzum, es müsse ein Werk der Vorsehung sein, wenn Pico die Inspiration des Cosimo weitergibt. Und diese »himmlische Inspiration« entsprang der Plethon, De differentiis, Vorwort, Patrologia Graeca 160, 889/890 A; Woodhouse: Gemistos Plethon, {Anm. 37} 192. 57
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Erzählung nach dem Wirken Plethons.58 Hierauf läßt Ficino die referierte Apologie heidnischer Studien folgen, womit dieser Widmungsbrief zur Plotin-Übersetzung dieselbe Apologetik in die Narrativität vom Ursprung des Florentiner Platonismus hineinträgt. An die Kritik der Aristoteliker schließt Ficino nun neu die Behauptung an, derzeit sei nur Pico bereit, Aristoteles mit der nötigen »pietas« zu interpretieren, wie dies – und nun folgt eine Genealogie des platonisch korrekten Aristotelismus – Themistios, Porphyrios, Simplikios, Avicenna »und kürzlich Plethon« getan hätten.59 Pico setzt nach dieser Darstellung also die neuplatonische und zugleich christlich verträgliche Aristoteles-Kommentierung fort, deren letzter Repräsentant ausgerechnet Plethon gewesen sein soll, der Aristoteles in De differentiis so grundlegend angegriffen hatte. Obendrein war Ficino sich sehr wohl bewußt, daß Plethons Schrift De fato, ein Teil seiner Nomoi, häretisch war.60 Pico als zugleich neuplatonischer und aristotelischer Fortsetzer Plethons, das verlangt eine starke Narrativität, »Divinitus profecto videtur effectum, ut (…) Picus (…) antiquum illud de Plotino herois Cosmi votum mihi prorsus occultum, sed sibi coelitus inspriatum, idem et mihi mirabiliter inspriraverit.« (Botfield, {Anm. 56} 601). 59 »Cujus [sc. Aristotelis] mentem hodie pauci praeter sublimem Picum Complatonicum nostrum ea pietate, qua Theophrastus olim et Themistius, Porphyrius, Simplicius, Avicenna, et nuper Plethon interpretantur.« (Botfield, {Anm. 56} 602). 60 John Monfasani: Marsilio Ficino and the Plato-Aristotle Controversy, in: Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy, hrsg. von Michael Allen und Valery Rees, Leiden 2002, 179–202; dort (199) Edition von Ficinos Marginalien zu De fato aus Cod. Riccardianus 76; sowie (196–199) Stellen, an denen Ficino Plethon erwähnt. Zum Kodex s. Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Mostra di manoscritti, stampe e documenti, hrsg. von Sebastiano Gentile, Sandra Niccoli und Paolo Viti, Florenz 1984, n. 43, 55–57. 58
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denn zu dieser Zeit mußte Ficino schon De ente et uno kennen.61 Gleichzeitig mit der Dedikation der Plotin-Übersetzung begann Ficino nämlich seinen Kommentar zum Parmenides Platons. Über mehrere Kapitel liest er sich als ausführliche Replik auf Picos De ente et uno.62 Nachdem Ficino der Dialektik den Sinn gegeben hat, mittels der den Menschen möglichen »ideales species« die »divinae species« zu beleuchten, wobei der Dialektik die Denkformen, der Philosophie im eigentlichen Sinne die Ideen Gottes zugehören,63 und die Mehrdeutigkeit des Nicht-Seins ausgelegt hat (cap. 36), verteidigt er die Lesart, daß Platons Parmenides nicht nur eine »logische, sondern auch theologische« Schrift ist, zumal Platon sich für eine logische Übung ein einfacheres Beispiel als gerade das Eine und das Seiende ausgesucht hätte (cap. 37). Nach weiteren Überlegungen zu den Hypothesen Platons folgen sieben »discursus« über die Superiorität des Einen über dem Seienden und die übrigen Transzendentalien (cap. 41–47), die mit weiteren Argumenten zur Übernatur des Ersten abgeschlossen werden. Dieser ganze Exkurs schließt mit der berühmten Bosheit: »Hätte dieser Wunderknabe (mirandus ille iuvenis; d. h. Pico della Mirandola) diese Disputationen und Diskurse doch gründlich durchdacht, bevor er so selbstbewußt seinen Lehrer angriff und so selbstsicher gegen alle Platoniker Der Druck der Plotin-Ausgabe erschien am 7. Mai 1492, einen Monat nach Lorenzos Tod (8. April), dem das Werk schon am 12. November 1490 feierlich präsentiert worden war (Raymond Marcel: Marsile Ficin, Paris 1958, 504, 507 f.) ; Picos De ente et uno lag beim Druck also schon vor, und Ficino sah keinen Grund, die Widmung zu ändern. Das Exemplar für Lorenzo beschrieben in: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, {Anm. 60} n. 115, 147–149. 62 Allen (1986) und (1989). 63 Ficino, In Parmenidem, cap. 34 (Ficino, Opera II, 1153 f.). 61
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seine These verbreitete, daß der göttliche Parmenides nur ein Logiker sei und Platon gemeinsam mit Aristoteles mit dem Seienden das Eine selbst und das Gute gleichgestellt hätten.«64 Ficino insinuiert, daß Pico seine Parmenides-Interpretation gekannt haben muß, was beide Schriften, diesen Kommentar und De ente et uno, zumindest in unmittelbare sachliche und zeitliche Nähe rückt. Obwohl Ficino durch Picos Schrift persönlich beleidigt war, und obwohl er das Projekt der Parallelisierung von Seiend und Eines gemeinsam mit der Parallelisierung von Platon und Aristoteles für eine Dummheit hält, preist er ihn im Widmungsbrief an Lorenzo de’ Medici als einen rechtgläubigen Interpreten des Aristoteles in einer Linie von Themistios bis Plethon. Ein möglicher Interpretationsschlüssel ergibt sich vielleicht aus der daran anschließenden Verteidigung rationaler Theologie, die auch das Programm des Parmenides-Kommentars ist. Dem verbreiteten antichristlichen (averroistischen und alexandristischen) Aristotelismus sei mit keiner Predigt, sondern nur durch Wunder Gottes oder »durch eine Art philosophischer Religion, die von Philosophen gerne gehört wird«, beizukommen.65 Eine solche philosophische Religion hatte Plethon in seinen Nomoi propagiert. Zugleich konnte Ficino, wenn er von den Angriffen auf die neuplatonische Interpretation Ficino, In Parmenidem, cap. 47 (Ficino, Opera II, 1164): »Utinam ille mirandus iuvenis disputationes, discussionesque superiores diligenter consideravisset, antequam tam confidenter tangeret praeceptorem, ac tam secure contra Platonicorum omnium sententiam divulgasset, et divinum Parmenidem simpliciter esse logicum, et Platonem una cum Aristotele ipsum cum ente unum, et bonum adaequavisse.« 65 »(…) tam divulgatam impietatem (…) vel divinis miraculis ubique patentibus, vel saltem philosophica quadam religione philosophis eam libentius audituris, quandoque persuasura.« (Botfield, {Anm. 56} 602). 64
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Platons absah, in Picos Schriften Versuche zu einer philosophisch gewappneten Religion sehen, wenn er wollte. Da aber die Narration Ficinos einigen Fakten schlicht widerspricht: der Ablehnung des Aristotelismus durch Plethon und seinem expliziten Neuheidentum, dem Dissens über Picos Platonauslegung und über die Konkordanz Platons mit Aristoteles, kann man dieses Widmungsschreiben als eine Konstruktion lesen, mit der Ficino seine Aktivitäten in die Kultur der Medici und Plethon und Pico in sein Programm einbinden wollte. So kann man dieses Widmungsschreiben politisch als Versuch verstehen, den Gegner zum Komplizen zu machen, und philosophisch-religiös als Anzeige eines Unternehmens, die Inspiration Plethons christlich kompatibel zu machen. Plethon hatte angeregt, die christliche Theologie neuplatonisch aufzubessern, und diesem Hinweis war bereits Cusanus nachgegangen. Aber Ficino kennt die neopagane Gefahr, und so muß er zusammen mit Platon und Plotin auch Plethon christlich taufen. Schließlich war Ficino schon früher des Paganismus verdächtigt worden, weshalb ihm der Erzbischof von Florenz, S. Antonino, als Gegenmittel die Lektüre von Thomas von Aquin Summa contra gentiles empfohlen hatte.66 Es war sogar kritisiert worden, daß er, der übrigens seit 1473 Priester war, in der Kirche Vorlesungen über weltliche Themen, vermutlich Plotin, hielt.67 Andererseits mußte Pico – wie erwähnt – erleben, daß dreizehn seiner neunhundert Thesen für häretisch erklärt worden waren, weshalb er 1488 in Paris verhaftet worden und nur durch Intervention von Lorenzo de’ Medici freigekommen war.68 Während Pico Stausberg (1998) I, 97. 67 Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, {Anm. 60} 149, nach Paul Oskar Kristeller, Supplementum Ficinianum, Florenz 1937, II 234. 68 Übrigens fand Pico in Paulo Cortesi (1465–1510) einen 66
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mit einer Apologie reagierte, in der er die Möglichkeit von Häresie überhaupt – angesichts der Unzulänglichkeit menschlicher Rede von Gott – bestritt, sie vielmehr zum heuristischen Prinzip philosophischer Theologie machte,69 insistiert Ficino auf der Genealogie der Wahrheit, die von Zoroaster bis in das Christentum seiner Gegenwart reicht (prisca theologia), und auf der Notwendigkeit, die Wahrheit mit Hilfe der Neuplatoniker philosophisch nachvollziehbar zu machen. Das Risiko, mittels vor- und außerchristlicher Weisheit zur Wahrheit aufzusteigen, dieses Risiko teilte der junge Graf mit seinem älteren Kollegen in Florenz. Und es scheint dieses Risiko zu sein, das es Ficino geraten scheinen ließ, Pico für sich zu vereinnahmen. Für solche Vereinnahmung eignete sich Pico jedoch nicht, denn eine Schlüsselstelle, an der Ficino sich auf Plethon beruft, nämlich in seinem Kommentar zu DioVerteidiger, der – wiewohl in seinen frühen Jahren mit Florenz verbunden und ganz im Gegensatz zu Ficino – 1504 einen Sentenzenkommentar in humanistischer Sprache und unter Einbeziehung antiker und humanistischer Quellen verfaßte, um zu zeigen, daß man sehr wohl antikisieren kann, ohne mit der christlichen Dogmatik in Konflikt zu geraten: Paulus Cortesius: Sacrarum literarum, omniumque disciplinarum scientia (…), Basel (Henricpetri) 1540. Vgl. John F. D’Amico: Renaissance Humanism in Papal Rome, Baltimore 1983, Kap. 6. Das Prooemium in: Giovanni Farris: Eloquenza e teologia nel ‹Prooemium in librum sententiarum› di Paolo Cortesi, Savona 1972, 22–35. Auszüge auch in: Gian Carlo Garfagnini: Paolo Cortesi e i ‹Libri IV Sententiarum›, in: Medioevo e Rinascimento 11, ns. 8 (1997), 97–123. In seiner Enzyklopädie De cardinalatu, Castrum Cortesium 1510 (vgl. D’Amico, passim), erwähnt Cortesi wiederholt Pico als vorbildlich und bekämpft mehrfach die Astrologie, u. a. unter dem Titel: »Divinationem Chaldaicam esse fugiendam a Chardinalibus« (fol. XXIIII r ff.), indem er also Astrologie und zoroastrische Magie zusammenfaßt. 69 Blum (2004), 183 f.
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nysius Areopagita, gibt unausgesprochen Picos These recht, daß für Platoniker Eines und Seiendes konvergieren, schreibt diese These Plethon zu und distanziert ihn damit von Ficinos Programm. Gott sei, laut Dionysius, »überseiend, weil er die Seienden hervorbringt«, andernfalls »wäre der Begriff des Seienden für Gott und mit jedem beliebigen Seienden univok, was einige berühmte Metaphysiker gemeinsam mit dem Platoniker Plethon meinten.«70 Das Erstaunliche an dieser Stelle ist, daß Pico sich auf dieselbe Lehre des Areopagiten beruft, daß dieser Dionysius-Kommentar, 1491 begonnen, wiederum in direkter Nähe zu De ente et uno steht, und daß Plethon für Ficino hier auf der Seite der berühmten, aber sich irrenden Platonisten steht. Die einzige Stelle, an der Pico Gemistos Plethon erwähnt, findet sich im Commento sopra una canzona de amore, II 19, wenn er erläutert, daß in der Dichtung das Wasser für die ‹ungeformte Natur›, die Erste Materie, steht, die sich wiederum in der mens angelica als dem ersten Geschaffenen findet, so daß sich in der griechischen Mythologie Ozean und Engelsgeist entsprechen. Dies sei von Plethon, »dem anerkannten Platoniker«, damit dargestellt worden, daß er den Ersten Geist Neptun (Poseidon) nennt, weil er »alle Wasser«, nämlich die Geister der Engel und der Menschen leitet.71 Pico entschärft und vereinnahmt Plethons TheoloMonfasani, Marsilio Ficino, {Anm. 60} 198 f. (Ficino, Opera II, 1047): »Dicitur autem Deus ens, ut ita dixerim, superenter, quod videlicet entia procreat. (…) Alioquin (…) sic una sit entis ipsius univoca ratio entibus quibuscunque communis. Quod illustres metaphysici nonnulla una cum Platonico Plethone senserunt.« 71 Commento sopra una canzona de amore, II 19: »(…) questa natura informe prima si trova nello Angelo come in quello che è prima creatura. (…) Per questo da Giorgio Gemisto, approbatissimo platonico, è chiamata questa prima mente Nettuno, come quella che è dominatrice di tutte l’acque, cioè di tutte 70
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gie – wenn sie denn vom Autor der Nomoi als solche intendiert war –, indem er sie als hellenische Mythologie vom Typ Homers und Neptun als Metapher interpretiert. Für die Interpretation von De ente et uno bedeutet das: Pico sucht eine klare Abgrenzung von allen paganisierenden Platonismen, denen Ficino – aus welchen Gründen auch immer – zuneigt. V. Die Stellung Polizianos Welche Stellung hat in dieser Konfrontation Poliziano eingenommen? Der oben angeführte Widmungsbrief Ficinos zu seiner Plotinübersetzung schließt mit noch einer weiteren Vereinnahmung, die wieder zu Pico führt. Ficino kündigt seinem Leser Lorenzo an, daß die Ausgabe mit der Vita des Plotins von Porphyrios beginnt, und diesen Text habe Angelo Poliziano (»Dein Schüler«) als zugleich rhetorisch und philosophisch geschätzt.72 Daß Pico und Poliziano befreundet waren, geht nicht nur aus der Widmung von De ente et uno hervor. Gerade im Juni/Juli 1491 reisten sie gemeinsam auf Büchersuche nach Venedig, vermutlich auch mit diplomatischen Aufträgen von Lorenzo de’ Medici. Unter anderem begeisterte sich Poliziano für ein Manuskript des antiken Astronomen Manilius, das er bei Pier Leone da Spoleto in Padua gefunden hatte.73 Deshalb
l’altre mente angeliche e umane.« Vgl. Plethon, Traité des lois, {Anm. 39} I 5 (allgemeine Götterlehre), bes. 47: Alle sekundären und tertiären Götter haben an der Gottheit des Zeus teil und werden von Poseidon, dem ältesten und mächtigsten der Kinder des Zeus, angeführt. Im Vergleich mit Ficino, De amore, I 2 (Opera II, 1321 f.), scheint Pico die Hierarchie des Kosmos und die Vermittlerfunktion des Eros unterlaufen zu wollen. 72 Botfield, {Anm. 56} 603. 73 Vittore Branca: Poliziano e l’umanesimo della parola, Mai-
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ist vielleicht das Zitat aus Manilius im Vorwort an Angelo Poliziano eine augenzwinkernde Reminiszenz an jene Reise.74 In jedem Falle ist es eine verstärkende Anspielung auf die dort erwähnte Ethik-Vorlesung Polizianos, denn dieser zitiert dasselbe Diktum in seiner Eröffnungsrede dazu mit dem Titel Panepistemon.75 Die beiden Gelehrten warben in Padua Pier Leone, der dann Lorenzos Leibarzt wurde, und Picos Lehrer Nicoletto Vernia, der aber zu hohe Benefizien forderte, für Florenz bzw. die Universität in Pisa.76 Vernia war ein echter Aristoteliker, und in der Tat scheint Lorenzo Aristoteliker für das akademische Leben in Florenz und seiner Universität in Pisa favorisiert zu haben, und führender Kopf des Florentiner Aristotelismus war Poliziano.77 Er lehrte am Studio in Florenz von 1480 bis 1494, zunächst lateinische und griechische Klassiker, ab 1490 Aristoteles, beginnend mit Vorlesungen zur Ethik und zur Physik.78 Diese Vorlesungen sind nicht erhalten; was wir haben, ist die erwähnte land 1983, 134–156. Vgl. Maike Rotzoll: Pierleone da Spoleto. Vita e opere di un medico del Rinascimento, Florenz 2000, 31. 74 Dies gälte allerdings nur, wenn der vor der Reise verfaßte Text von Pico noch nachträglich – insbesondere das Widmungsvorwort – redigiert worden wäre. 75 Angelo Poliziano: Omnia opera, Venedig 1498 [Reprint: Rom ca. 1968], fol. [Y ix] r: »Nam quod eleganter Manilius inquit Astronomus. Ornari res ipsa negat contenta doceri.« Er sagt dies, nachdem er ähnlich wie Pico auf die Neuheit der Sache hinweist. 76 Branca {Anm. 73}, 139 f. 77 Hankins (1991), 460 f. Zu Spannungen zwischen Poliziano und Ficino s. Vittore Branca: Tra Ficino ‹Orfeo ispirato› e Poliziano ‹Ercole ironico›, in: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, studi e documenti, a cura di Gian Carlo Garfagnini, Florenz 1986, 459–475. 78 Paul F. Grendler: The Universities of the Italian Renaissance, Baltimore 2002, 238.
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Rede zur Eröffnung der Ethik-Vorlesung Panepistemon79 und eine akademische Eröffnungsrede zur Logik-Vorlesung unter dem Titel Lamia (Kinderschreck, Ammenmärchen, Blutsauger).80 Diese Gespenster sind die Menschen, in heutiger Sprache die öffentliche Meinung, die Poliziano in die Rolle des Philosophen drängen, wogegen er sich mit aller Ironie verwahrt, die nicht nur die Weisheit des Pythagoras trifft, sondern die Weisen überhaupt. Der spekulierende Philosoph kennt das Leben nicht, nicht die Politik und die Gesellschaft: »Er weiß nichts davon so sehr, daß er bisweilen nicht einmal weiß, daß er es nicht weiß.«81 Diese Verhöhnung des sokratischen Nichtwissens findet ihren Höhepunkt in einer abschließenden Fabel von einer Eule, die den anderen Vögeln mit ihrer Weisheit so imponierte, daß die übrigen Vögel fortan die Eule umschwärmen und – nachdem die alten Eulen wirklich weise waren – es nunmehr etliche Vögel mit Eulenfedern, -augen und -schnäbeln gibt, denen die Weisheit aber fehlt.82 Dies der florentinischen Obwohl Polizianos Schrift vermutlich der erste Aufriß einer Enzyklopädie ist, die im Titel die Vorsilbe »pan-« führt, und obwohl sie vor allem auch die niederen Disziplinen einordnet, ist sie bisher nur unter musikhistorischen Gesichtspunkten untersucht worden: Fiorella Brancacci: L’enciclopedia umanistica e la musica. Il Panepistemon di Angelo Poliziano, in: Rinascimento 33 (1993) 93–109. 80 Angelo Poliziano: Lamia. Praelectio in priora Aristotelis Analitica, ed. Ari Wesseling, Leiden 1986. In den Opera finden sich auch eine Dialectica und eine Praelectio de Dialectica (fol. [aa viii] v – bb ii r). 81 Lamia, {Anm. 80} 13: »adeoque interdum nescit ea ut etiam nescire se nesciat.« Zur Ficino-Kritik in diesem Werk s. Jill Kraye: Ficino in the Firing Line: A Renaissance Neoplatonist and His Critics, in: Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy, {Anm. 60} 376–397; 380 f. 82 Lamia, {Anm. 80} 19: »Nam veteres illae noctuae revera sapientes erant; nunc multae noctuae sunt quae noctuarum qui79
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Gesellschaft vorgetragen kann sich auf die Erneuerer der Alten Weisheit und speziell auf Ficino und seinen Kreis von Complatonici bezogen haben. Poliziano hatte sich selbst mit Platon befaßt und Ende der 1470er Jahre begonnen, den Charmides zu übersetzen. In seiner Widmung an Lorenzo de’ Medici, die voraussetzt, daß Ficinos Übersetzung noch nicht vorliegt, greift er selbsternannte platonische Philosophen an: Philosophie zu betreiben sei »etwas viel größeres, als was solche Leute leichthin bieten, unternehmen und verkünden können, die sich nicht schämen, sich den Namen eines Philosophen, und gar eines Platonikers anzumaßen.«83 Obwohl Poliziano einige Gemeinplätze der ficinischen Platon-Verehrung aufnimmt und ebenso die Genealogie der prisci theologi (Homer, Orpheus, Hesiod, Pythagoras, Platon), muß diese Kritik der Pseudoplatoniker wundern, sie kann sich nur gegen zeitgenössische Autoren richten. Später jedenfalls versteht Poliziano sich als Aristoteliker. In einem Brief an Ficino stellt er einen Bezug zwischen Picos Kampf »gegen die Feinde der Kirche« in seinem Genesis-Kommentar Heptaplus (fertiggestellt 1489) und seiner Position zwischen ihm und Ficino her: »Er trat zwischen nunmehr meinem Aristoteles und dem schon immer Deinen Platon als Vermittler ein.« Auch wenn er »eine grundlegende Übereinstimmung in der Lebensführung und den wissenschaftlichen Ansichten« zwischen ‹seinem› Pico und Ficino feststellt, so findet er doch die Sonderstellung Picos erwähnenswert, um sodann erfreut festzustellen, daß dem plumas habent et oculos et rostrum, sed sapientiam non habent.« 83 Poliziano, Opera, fol. [t vi] v: »maiusque multo, quam quantum facile prestare homines possint, suscipere, ac profiteri eos, qui se philosophi nomine, maximeque Platonici censere non erubescant.« Die Übersetzung wird besprochen in: Hankins (21991), 449–453; die Widmung dort abgedruckt 623–626.
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Ficino auf Picos Line in der Ablehnung der Astrologie eingeschwenkt sei; es sei übrigens eines Philosophen würdig, seine Ansicht zu korrigieren.84 Offenbar bezieht er sich auf einen apologetischen Brief Ficinos, in dem dieser im September 1494 seine astrologischen Interessen teils als medizinisches Handwerkszeug in seinem Buch De vita, teils als »moralische Allegorien« herunterspielt, um Picos Disputationes adversus astrologos preisen zu können.85 Ficino bleibt also in einer Defensivposition, weil seine außerchristlichen Bezüge ihn als Weisen und als Philosophen als fragwürdig erscheinen lassen. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Infragestellung des ficinianischen Platonismus bekommt Polizianos Dankbrief für die Widmung von De ente et uno durch Pico noch einmal einen parteiergreifenden Sinn. Poliziano charakterisiert die Schrift so: in ihr »führst Du die Poliziano, Opera, fol. o ii r: »Quanta me voluptate, quantoque putas affici gaudio, Marsili Ficine, cum de Picumque meum, sic esse concordes video, nonmodo ut idem velitis in vita, sed et idem sentiatis in studiis. (…) Etenim Picus ipse Mirandola, sacras omneis literas enarrat, adversus ecclesiae septem hostes directa fronte decertat, inter Aristotelem iam meum, Platonemque sempre tuum, caduceator incedit. (…) Nam quod ad astrologos attinet, de quibus epistolam mihi pulcherrimam scripsisti, laetor summopere, quod a Pico nostro, tu quoque vel nunc primum, vel olim iam steteris.« 85 Poliziano, Opera, fol. n ii r/v: »Etsi enim arbitror certam his [sc. astrologorum regulae] rationem nullam inesse, tamen ut studiosissimus humanae medicinae curator, remedia non solum certa, sed etiam multis probabilia sector (…). Praeterea in libro de sole, non tam astronomica doceo, quam per haec morales allegorias affecto, anagogiasque ad divina perquiro.« Vgl. Ficino Opera I, 958, und dazu Apologia, in qua de medicina, astrologia (…) agitur, von 1489, a.a.O., 572–574. Vgl. Kraye: Ficino in the Firing Line, {Anm. 81} 381 f. und Carol V. Kaske: Ficino’s Shifting Attitude towards Astrology, in: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone, {Anm. 77} 371–381. 84
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Bäche, die durch das Lyceum und die Akademie laufen, auf die wahre Quelle zurück und verbindest auch mit der Philosophie, die mehr eine als zwiefältig ist, unsere Theologie.«86 Einerseits behauptet er damit, daß jeder der beiden Ströme, Aristoteles und Platon, einseitig sei, andererseits, daß die von Pico angestrebte Konkordanz in einer Einheit liege, und schließlich, daß das philosophische Verständnis von christlicher Theologie nur durch eine Philosophie möglich sei, die selbst von Polarisierung frei ist.
VI. Platonismus und Christentum Pico hat in De ente et uno das Kernproblem gesucht, das die Platon-Aristoteles-Debatte beenden kann, und hat es in der Interpretation von Transzendenz gefunden. Dabei versteht er die Indienstnahme christlicher und außerchristlicher Quellen nicht als religionspolitische Vereinnahmung, sondern als Suche nach einer hermeneutisch vorausgesetzten Harmonie oder Konkordanz. Diese Konkordanz ist nicht wie bei Ficino ein Einwerben mit den Mitteln philosophischer Theologie, sondern sie hat ihren Sitz im Leben, wie die Schlußworte von De ente et uno zeigen, weil die Konkordanz der Philosophen mit der Konkordanz der Transzendentalien parallel läuft (worüber sich Ficino im ParmenidesKommentar lustig macht) und diese wiederum spirituell für das Seelenheil des Menschen entscheidend ist: Wenn das Seiende, und das sind wir, nicht eins, wahr und gut sein oder werden kann, ist es gar nicht. Poliziano, Opera, fol. q [i] r: »dedicato commentario de Uno et Ente (…) in quo rivos per Lyceum decurrentes, et Academiam revocas ad verum caput, et cum philosophia magis una, quam gemina nostram quoque Theologiam copulas.« Vgl. Viti (1994), 119–121. 86
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Die Konkordanz, die Pico anstrebt, ist ein Projekt der Synthese nicht nur aus Platonismus und Aristotelismus, sondern zusätzlich auch aus vorsokratischer, hellenistischer, christlicher Philosophie und Mystik unter Einschluß der Theologie der Kirchenväter wie auch der Kabbala, ein Projekt, mit dem er einen inklusiven Wahrheitsbegriff begründen will. ‹Una veritas in veritatum pluralitate›. Dabei hat man deutlich zwischen Intention und Konsequenzen der methodischen Synoptik Picos zu unterscheiden. Picos Synopse setzt auf den Nachweis eines Vereinbarkeitskriteriums, das es erlaubt, Parmenides, Platon, Aristoteles, Dionysius Areopagita und andere als Vertreter und Verfechter ein und derselben Wahrheit zu lesen. In polemischer Wendung gegen die »Platoniker« – der Text läßt zu, darunter sowohl Mitglieder der alten, als auch der neuen Akademie zu erkennen – versucht er diese zur Anerkennung des von ihnen zum positionellen Gegner stilisierten Aristoteles zu bewegen. Der Text wechselt dabei ständig die Argumentationsebenen – teilweise philosophisch exegetisch, teilweise pastoral appellativ. So geht es ihm nicht nur um den Nachweis der Einigkeit zwischen Platon und Aristoteles in den Grundfragen der Ontologie, sondern ebenso sehr darum aufzuweisen, daß nicht nur Platon – was unter seinen Adressaten unstrittig war –, sondern auch Aristoteles ein »gläubiger« Autor war (»Ubi discors a Platone est Aristoteles? Ubi prophanus?«).87 Wenn also mit den als »Platoniker« bezeichneten Gegnern Picos auch die Mitglieder der Akademie Ficinos gemeint sind, stellt sich die Frage, ob er sich gegen Ficinos Konzeption einer platonisch begründeten »pia philosophia« richtet, oder ob er ein solches Projekt selbst vertritt, durch die Platoniker der Akademie aber unzulänglich durchgeführt sieht. Warum ist er an einer Rehabilitierung 87
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des Aristotelismus gegenüber der Dominanz des Platonismus von Plethon bis Ficino interessiert? Und warum knüpft er diese Rehabilitierung an das Gelingen des Nachweises der Identität von Einheit und Sein? Offenbar neigt Ficinos »pia philosophia« in Picos Augen zu einer gewissen Einseitigkeit. Diese besteht darin, daß das Christentum – gemeint sind damit vor allem der trinitarische Monotheismus, die Offenbarungstheologie und die Aufstiegsmystik – unmittelbar mit Botschaften platonischer Dialoge zur Deckung gebracht werden soll. Pico dürfte nicht erkannt haben, was wir heute sehen, daß Ficino damit eher das Christentum platonisierte als daß er Platon christianisierte. Im übrigen liegt es keineswegs in Picos Intention, die Konvergenz zwischen Platon und Christentum zu bestreiten, vielmehr kritisiert er – de facto – die von Ficino implizit vertretene Exklusivität der Einigkeit zwischen Platonismus und Christentum. Gegen Ficino erweist er einen Radius des ‹logos spermatikos› der biblischen Wahrheit, der wesentlich weiter reichen sollte als derjenige des christlichen Platonismus. Der Text zeigt: Es geht nicht nur um Einigkeit zwischen Platon und Aristoteles, sondern um fundamentale positionelle Konvergenzen zwischen Parmenides, Platon, Aristoteles, Simplikios, Dionysius Areopagita, Jamblichus, Augustinus und Thomas. Dieser für Pico allenthalben charakteristische Zugang erklärt allerdings immer noch nicht, wodurch sein energisches Interesse an der synthetischen Megalomanie am Ende gesteuert wird. Verteidigt Pico die ungespaltene Einheit der Wahrheit angesichts der Vielfalt ihrer positionellen Artikulationen in der Geschichte oder verteidigt Pico die Kompetenz der einen Wahrheit, sich in kulturell und historisch unterschiedlichen Äusserungsformen verifizieren zu lassen? Dies ist eine Frage, die sich generell an die explizit christlichen Vertreter der damaligen Humani-
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sten richtet, und deren Relevanz anhand von Picos Text in besonders repräsentativer Weise zutage tritt. Im ersteren Fall hätten wir Picos Position als (latenten) sowohl ontologischen als auch weltanschaulichen Monismus zu deuten, im letzteren Fall als (latenten) Pluralismus. Letzteres wiederum entspräche demjenigen Bild des Humanismus, das sich über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart mehr oder weniger kontinuierlich vererbt hat, ersteres hingegen würde zu dem Schluß führen, daß sich in der Position Picos der Humanismus gegen sich selbst richtet, das heißt als eine radikal religiös-apologetische Haltung gegen die zunehmende Tendenz einer mit philosophischen Mitteln herbeigeführten Paganisierung der christlichen Religion. Eine solche Haltung würde nicht einer bestimmten Tragik entbehren, da Pico sich genuin humanistischer Methoden der Aneignung antiker Quellen bedient. Seine emphatische Verteidigung der »Gläubigkeit« des Aristoteles oder auch sein Versuch, die philosophische Beweisführung der Identität von unum und ens durch biblische Sätze wie »ich bin, der ich bin« zu legitimieren, spricht prima vista für einen argumentativ mediatisierten christlichen Imperialismus, der sich schließlich auf die gesamte Welt des Geistes in seinen unterschiedlichen Überlieferungsformen und literarischen Manifestationen bezieht. Andererseits ist generell festzustellen, daß sich eine Position – oftmals mehr nolens als volens – schnell verändern kann, wenn man ihren Wahrheitsanspruch durch inklusivistische Argumentationen anstatt durch exklusivistische Apologetik aufrecht zu erhalten sucht. Pico – eine ambivalente Figur im renaissancehumanistischen Platonismus – will die inklusive Kompetenz des christlichen Monotheismus mit den Argumenten der vereinheitlicht platonisch-aristotelischen Ontologie erweisen und unterläuft – bona fide – die bereits faktisch entstandene Separierung des Humanismus vom Christentum.
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Die Antwort auf die Frage, warum die Beweisführung Picos sich auf die Identität von ens und unum konzentriert, würde deshalb zu kurz ausfallen, würde man es bei einem Hinweis auf die orthodoxe Bedeutung der traditionellen Konvertibilitätsthese belassen. Pico war kein Scholastiker im humanistischen Gewande. De ente et uno hält eine verborgene Antwort auf die Frage bereit, warum die These von der ens-unum-Identität geeignet ist, Aristoteles und Platon jenseits der Kontroverse ihrer Epigonen und Adepten zu vereinen und mittels dieser Synthese auch den Rest der griechischen Ontologie zur Grundlage einer christlichen Ontotheologie zu machen: Die Antwort liegt in der Abwehr eines Aristotelismus, der sich dadurch gegen Platon kehrt, daß er – anders als Augustin und die »Platoniker« – Sein und Einheit aporetisch aufeinander bezieht und sie keinesfalls schlüssig ineinander aufgehen läßt. Entgegen dieser Aristoteles-Auslegung macht Pico Aristoteles zum Platoniker – nicht Platon zum Aristoteliker. Er unterläuft – ausdrücklich und bewußt – den Platon-Kritiker Aristo« programmatisch gegen teles, der das » die eidetische Homogenität des Seins bei Platon ausspielt. In der Konsequenz transformiert Pico überdies den platonistischen Dualismus zwischen unum und ens, wie er sich aus Resp. 509 zu ergeben scheint, in denjenigen zwischen unum/ens und pluralitas. Das mit dem unum identifizierte Sein ist ens commune, nicht aber dasjenige Sein, das jedem Seienden auf verschiedene Weise zukommt, und von dem Aristoteles in den Substanzbüchern der Metaphysik handelt. Er liest darüber hinaus die aristotelische Theologie gleichsam als Summe und nicht – wie es bei Aristoteles schon auf Grund der Textlage nahe liegt – als experimentelle Antwort auf die Frage, was folgen würde, wenn der Naturkosmos, statt ‹seiend› zu bleiben, auch ‹nicht sein› könnte, wie es von allen Dingen im Bereich des sublunaren Naturkosmos sonst gilt. Die Dogmatisierung der theolo-
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gischen Komponente der aristotelischen Ousiologie führt genePico zu der Überzeugung, Aristoteles habe die rell als »ens separatum« verstanden. Damit platonisiert er « (1028 a 34) und übergeht den aristotelischen » von Aristoteles als die aristotelische Pointe, daß die ) gedacht ist, Essenz eines konkreten Seienden ( nicht aber als Idee im platonischen Sinn. Historisch gesehen nimmt Pico eine gewaltsame Harmonisierung zwischen Aristoteles und Platon auf Kosten der aristotelischen Platonkritik vor, sachlich gesehen neutralisiert er den Konflikt zwischen dem platonischen Idealismus und dem aristotelischen Realismus. Auch diese Richtung der Beweisführung verdeutlicht, daß Picos Position sich nicht gegen die Platon-Nähe seiner Gegner richtet, sondern nur gegen einen bestimmten exklusivistischen Platonismus. Gelänge ihm der Beweis der Vereinbarkeit der Positionen Platons und Aristoteles’, dann hätte er damit den ontologischen Vorrang der Einheit vor der Vielfalt festgeschrieben. Pico dient durchaus dem Interesse Ficinos an der Privilegierung des Platonismus auf dem Feld der konkurrierenden Philosophien, aber er argumentiert gegen Ficinos Intention, der zufolge darüber hinaus zu zeigen wäre, daß der aristotelische Empirismus bei Platon offene Türen einrennt: Ficinos Platon ist keiner des einseitigen Aufstiegs zu einem »esse transcendens«, sondern in konsequenter »Dialektik« eben« des Aristoteles. Ficino so absteigend zum » verteidigt einen dialektischen Platon, Pico einen undialektischen.88
Vgl. Enno Rudolph: Die Krise des Platonismus in der Renaissance-Philosophie, in: Ders. (Hrsg.): Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, Darmstadt 1996, 108–122. 88
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VII. Zur Wirkungsgeschichte Picos De ente et uno zirkulierte in sehr begrenzter Weise nach seiner Entstehung 1491 zunächst handschriftlich im Umkreis des Medici-Hofes. Eine erste explizite Reaktion auf den Text erfolgte in vier Briefen mit Einwänden, die Antonio Cittadini da Faenza, ein Aristoteliker, der mit dem Medici-Zirkel freundschaftlich verbunden war,89 noch im selben Jahr an Pico richtete. Pico antwortete jeweils ausführlich, zunächst recht offen und höflich, in den späteren Briefen, nachdem Cittadini stur auf seinen Argumenten beharrte, aber zunehmend ironisch.90 Den vierten Brief beantwortete er nicht mehr. Pico war im Sommer 1491 zusammen mit Poliziano auf einer Reise nach Padua, und auf dieser Reise, mit dem Philologen-Freund die aristotelische Metaphysik studierend, schrieb er einen Teil seiner Antworten.91 Ganz anders als Cittadinis Reaktion aus scholastischer Warte fiel diejenige Ficinos aus. Wir können sie, wie wir gesehen haben, in seinem Parmenides-Kommentar erkennen, der zwischen 1492 und 1494 geschrieben wurde und 1496 erschien.92 Zu diesem Zeitpunkt war Pico allerdings schon tot. Erst in diesem Jahr erschien auch De ente et uno im Druck, in Band I der in Bologna verlegten Opera.
Cittadini hatte beispielsweise 1489 Ficino bei der Abfassung von De vita coelitus comparanda mit kritischen Kommentaren geholfen. Vgl. Ficino: Opera I, fol. 909. 90 Vgl. die Edition von Toussaint (1995), 217–331; deutsche Zusammenfassungen finden sich bei Reinhardt (1989), 67–73. 91 Vgl. Touissant (1995), 47. 92 Vgl. Allen (1986). Allen betont, daß der Antwortcharakter von Ficinos Schrift kaum wahrgenommen wurde, denn »Pico’s name was buried at the end of the 49th chapter and even Ficino’s most perceptive readers could have been forgiven for missing it.« (455) 89
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Schon zu einem denkbar frühen Zeitpunkt wurde die Kunde von Picos Werk nach Frankreich getragen. Jacques Lefevre d’Etaples hatte Pico im Winter 1490/1 in Florenz besucht, als dieser mitten in der Arbeit an seiner Concordia war. Tief beeinflußt von Picos Ideen hat Lefevre in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in Paris durch seine Editionen und seine Schüler wie Bovelles und Clichtove für eine Synthese aus Aristoteles, Platon und dem Christentum gewirkt. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, daß er sowohl Cusanus als auch die aristotelischen Werke herausgegeben hat.93 Während in Florenz Ficinos Schüler Francesco da Diacceto sich im Anschluß an Pico an einem nie abgeschlossenen Concilium inter Platonem et Aristotelem versuchte, das aber die Schraube in Richtung von Ficinos Platon zurückdrehen sollte,94 war in Frankreich in den Vgl. Augustine Renaudet: Humanisme et préreforme à Paris, Paris 21953. 94 Vgl. die Rekonstruktionen dieses Projektes in Sylvain Mattons Edition von Diacceto: De pulchro, Pisa 1986; weiter Paul Oskar Kristeller: Francesco da Diacceto and Florentine Platonism in the Sixteenth Century, in: Miscellanea Guiseppe Mercati, IV, Vatikanstadt 1946, 260–304. Ebenfalls in einer mehr platonischen Weise als Pico wollte noch zur Jahrhundertmitte Gabriele Buratelli aus Ancona das Konkordanz-Problem lösen. Buratelli war Augustinereremit wie Agostino Steuco, der in seinem De perenni philosophia manche Elemente von Ficinos Lehre historisiert und mit biblischer Geschichte verbunden hatte. Buratellis Praecipuarum controversiarum Aristotelis et Platonis conciliatio erschien postum 1573 in Venedig. In diesem Werk wird die conciliatio auf der Basis von Plotins Denken angestrebt, geht also in eine ganz andere Richtung als Picos Versöhnung. Vgl. etwa Buratelli zum Vorrang des Einen vor dem Seienden, 68v-69r: »Quod vero unum praecedit ipsum ens origine, ac natura, non modo PLA[TON] declaravit, sed etiam Plotinus quem, iudicio meo, in academicorum scola [sic] negare piaculum est. Verum, ut melius verba eius capiamus prius brevibus eius verborum sen93
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präreformatorischen Humanistenkreisen das intellektuelle Klima vorhanden, Picos Konkordismus weiterzuführen. In Lyon schrieb der Arzt Symphorien Champier eine stark von Pico geprägte Symphonia Platonis et Aristotelis.95 Für Charles Lohr markiert Picos De ente et uno eine Wasserscheide in der Renaissancephilosophie. Vor der Schrift, so Lohrs These, stand die Metaphysik im Zeichen des Einen. Nach Pico aber kann man von einer Metaphysik des Seienden als Grundcharakteristik der Philosophie des 16. Jahrhunderts sprechen.96 Grund dafür sei Picos Neuetablierung eines christlichen Aristotelismus im Anschluß von Thomas von Aquin gegen die Tradition, die von Anselm über Lull bis zu Ficino reiche. Das ist natürlich eine stark pointierte These, die den Platonismus des 16. Jahrhunderts herunter-
tentiam exponemus, postea Deus, cui proprie unitas congruit ad genus minus coarctari potest, cum natura infinitus immensusque sit, id vero quod primo entis nomen, ac rationem sortitus est (ut saepenumero dictum est) verbum illud ideis plenum, ubi primus numerus invenitur, a quo entia omnia emerserunt. Ob id sicut numerus praecedit entia, sic unitas praecedit ens. Nam nisi numerus entia praecessisset, temere, ac fortuitu entia emersissent. Unde sicuti ea, quae per aliud ad per se ens reducenda sunt, sic per aliud unum ad per se unum. Et sicuti per se unum praecedit per se ens, quia per se ens finitum quoddam, ac terminatum est, sic per se ens antecedit per aliud ens.« Vgl. Plotin, Enn. VI,6 [34],10, 1–15. Zu Buratelli vgl. Maria Muccillo: Plotino nel tardo rinascimento: Annibale Rosselli nel quadro della filosofia neoplatonizzante del XVI secolo, in: Archivio storico per la Calabria e la Lucania 61 (1994), 37–137, bes. 43–63; auch in: Dies.: Platonismo, Ermetismo e »prisca teologia«. Ricerche di storiografia filosofica rinascimentale, Florenz 1996, 200–220. 95 Vgl. Brian P. Copenhaver: Symphorien Champier and the Reception of the Occultist Tradition in Renaissance France, Den Haag 1978. 96 Charles Lohr: Metaphysics, in: Schmitt (1988), 537–638, bes. 582–584.
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spielt und Pico mehr in seiner Bedeutung für die Neuscholastik als für die unkonventionellen platonisierenden Denker hervorhebt. Lohr verweist unter anderem auf das Laterankonzil von 1513, das die metaphysische Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der menschlichen Seele leugnete, und die Pomponazzi-Affäre 1516–19, in der sich Thomisten wie Javelli und Cajetan ebenfalls gegen die Beweisbarkeit ausgesprochen haben. In der Tat muß man zugeben, daß die »zweite Scholastik«, die nach dieser Affäre ihren Anfang nahm, als Philosophie des ens inquantum ens aus den Konsequenzen dieser Entwicklungen gebildet hat. Diego Mas, einer dieser Scholastiker, zitiert 1587 De ente et uno als ein Gründungsdokument der Wissenschaft vom Seienden.97 Allerdings darf nicht vergessen werden, daß sich Pico selbst in seinen Antworten auf Cittadini gegen eine rein scholastische Position deutlich abgesetzt hatte. Picos eigene Synthese war daher vielfältig ausdeutbar und wurde auch vielfältig rezipiert. So hat sich nicht zuletzt der nichtscholastische, latent heterodoxe Aristotelismus Picos Konkordanz-Philosophie angeeignet. Tiberio Russeliano Sesto, ein Student aus Kalabrien, Schüler erst von Agostino Nifo und dann von Pomponazzi, hatte sich über die Porphyrius-Ausgabe von Lefevre d’Etaples für die concordia-Idee begeistert,98 und als dann Picos verbotene und rar gewordene Conclusiones und seine Apologia 1518 im Vorfeld der von Gianfrancesco Pico veranstalteten Ausgabe der Opera in der Emilia Romagna wieder zirkulierten, ermunterte Picos Beispiel den Studenten, ebenfalls Thesen zur Diskussion zu stellen und Diego Mas: Disputatio metaphysica de ente et eius proprietatibus, hier zitiert nach der Ausgabe Köln 1616, II f.; vgl. Touissaint (1995), 51. 98 Libri logicorum in officina Henrici Stephani secunda recognitione, Paris 1511. 97
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eine Apologie zu schreiben.99 Tiberio baute vor allem auf Picos als häretisch indizierten Thesen auf und bereicherte sie noch mit provokanten astrologischen Positionen wie der von Christi Determinierung durch seine Nativität und der natürlichen Erklärbarkeit der Phänomene der Religion. Der Concordia-Gedanke bekam in diesem Kontext eine extreme Tendenz zum astrologischen Naturalismus.100 Auch Tiberios Lehrer Pomponazzi selbst war vertraut mit der Concordia-Theorie. Er beschäftigte sich mit den scheinbaren Unterschieden zwischen Platon und Aristoteles hinsichtlich Platons Anerkennung der Existenz von Engeln und Dämonen. Das Themistius-Diktum von einer Differenz nur in Worten, das er zitiert101, stellt sich Vgl. Paola Zambelli: Una reincarnazione di Pico ai tempi di Pomponazzi, Mailand 1994. 100 Tiberio Ruselliano Sesto: Apologeticus, ediert in Zambelli: Una reincarnazione, {Anm. 99} 111: »Accademici et peripatetici sileant amabo, cum inter eos consilium et concordiam polliciti sumus, ne iurgiosa amplecti videantur domata; cum plures ante nos idem quoque prestare polliciti fuerint, quod si praestitissent, multa rudiorum interpretum deliramenta eliminarentur. Inter Graecos Simplicium et Philoponum, inter Latinos Boetium et Picum Mirandolanum legimus, Aristotelis et Platonis concordiam pollicentes, eandemque utriusque philosophiam esse asserentes. Nos quoque cum Platonicam, Aristotelicamque doctrinam omnem non semel evolverimus, academicos ac peripatheticos, omnes tum Graecos tum Latinos tum Arabes relegerimus, idem asserere nec veremur, nec contra Platonem Aristotelem insurrexisse, sed contra eiusdem dogmata male interpretantem cum Philopono asserimus. Astrorum scientiae tum Graeci, tum Latini, tum Arabes sectatores ne irascantur, cum in multis eorum tutati fuerimus domata, in quibus tamen a philosophantibus devios vidimus, nec citasse absonum iudicavimus, quandoquidem illos aut sortilegos aut incantatores nominare non dubitamus.« 101 Pietro Pomponazzi: De naturalium effectuum admirandorum causis seu de incantationibus, Basel 1556, 202. 99
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für ihn aber in einer höchst komplexen und wissenssoziologisch reflektierten Weise dar, denn er glaubt, daß Platon sich in seinen Metaphern und Thesen lediglich den unkultivierten Leuten akkommodiert habe, und auch Aristoteles aus Furcht vor Repression durch die Religionsvertreter sich nicht offen geäußert habe, obwohl seine Philosophie eine Leugnung von Dämonen impliziere. Pomponazzi entwirft hier eine Art negative Lesart der ConcordiaThese, kaum weniger implikationsreich als diejenige Tiberios.102 Als Pomponazzis sehr viel orthodoxerer Schüler Gasparo Contarini, Kirchenmann in hohen Funktionen und Diplomat, 1527 während einer Reise nach Spanien gebeten wurde, sich über die Prinzipien der Philosophie zu äußern, da war auch für ihn Pico maßgeblich, und diesmal war es unmittelbar der Pico von De ente et uno, der zitiert wurde. Contarini stimmt völlig mit der These der Koextensionalität von Einem und Seienden überein. »Wir behaupten, daß das Eine wie das Seiende dieselbe Natur bezeichnen, aber daß das Eine in seiner Bedeutung den Begriff der Ungeteiltheit hinzufügt; doch im Hinblick auf den Gegenstand ist es kein Unterschied, zu sein und etwas Ungeteiltes zu sein. Wir verfolgen aber das, was vom Gegenstand her ist, nicht als ein Ganzes und nicht in einem völlig einheitlichen geistigen Zugriff, sondern bemühen uns um es notwendigerweise in mehreren Begriffen.»103
Vgl. Paola Zambelli: Pietro Pomponazzi’s De immortalitate and his clandestine De incantationibus: Aristotelianism, eclecticism or libertinism?, in: Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 6 (2001), 87–115, bes. 111 ff. 103 Gasparis Contareni Primae Philosophiae compendium, in: Gasparis Contareni Cardinalis Opera, Parisiis (Nivellius) 1571, 91–176. Liber secundus, 107 f.: »Unius autem naturam Platonici adeo extulere, ut non solum [S. 108] aequalem enti 102
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In der Naturphilosophie, die Contarini später darauf aufbaut, nimmt der aristotelisch-platonische Konkordismus eine avicennistische Gestalt an: das göttliche Eine wirkt in die Natur über Formgebung und Vereinigungskraft hinein und hat in der Wärme sein spezielles Instrument. Doch im Gegensatz zu Tendenzen im italienischen Aristotelismus des 15. Jahrhunderts, solche Einwirkungen über spirituelle Entitäten zu erklären, hat Contarini aus Pico und Pomponazzi gelernt, die Abkunft vom Einen rein ontologisch zu verstehen und die Vorgänge der Natur auf die manifeste Kausalität der Elemente zu beschränken.104 Typisch für die Situation der Pico-Nachfolge nach 1550 ist das Ambiente in Venedig und in Pisa. Pisa fühlte sich posuerint, verumetiam ente superiorem. Nam et materiam primam, et primum omnium principium unum esse confessi sunt; neutrum tamen eorum concessere esse ens. (…) dicimus unum eandem cum ente naturam significare, verum addere secundum rationem conceptum indivisionis: neque secundum rem aliud est esse et aliud esse indivisum: sed id, quod re est, idem non assequimur totum, neque perfecte unico conceptu mentis, verum pluribus nitamur conceptibus opus est; (…) Platonici vero, cum non dissentirent a Parmenide hac in parte, posuerunt ipsi quoque ens dici secundum unam rationem de entibus. quamobrem (sic) ea, quae illius rationis expertia sunt, asseruerunt esse non entia; quibus tamen competit esse unum.« 109: »De primo vero rerum omnium principio dicimus, quod quemadmodum est unum, non tanquam habens unitatem (…) sed sicuti simplicissima unitas longe superexcellens unitates, quas nos intelligimus: ita etiam non est ens quasi habens esse, sic ut esse in ipso sit contractum ad aliquam naturam; quemadmodum in caeteris rebus, quoniam est ipsum esse per se subsistens, eminenter ens dictum, modoque excepto ab omnibus aliis, quae sunt atque dicuntur entia.« Der liber tertius beginnt a.a.O., 121: »Tractatui de uno atque ente ea speculatio proxima esse iure videri potest, quae fuit de vero ac bono: nam omnes res, que quoquo pacto sunt, utriusque eorum sunt etiam participes.« 104 Vgl. Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung.
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als die florentinische Universität in gewisser Weise dem Erbe des Platonismus am Medici-Hof verpflichtet, auf der anderen Seite hatte man dort wie an anderen Universitäten ein aristotelisches Curriculum zu lehren. So entstanden Mischformen – manchmal recht äußerlich wie bei Girolamo Borro, der im Haupttext seines Buches über die Gezeiten des Meeres orthodox aristotelisch äußert, im Vorwort aber Hermes Trismegistos beschwört,105 aber auch engere Verschmelzungen wie bei Andrea Cesalpino106 oder bei Sebastiano Paparella. Paparella hat von Autoren wie Contarini gelernt, wie man den Avicennismus und seine Nachfolgeformation, die aus Ficino und Fernel gebildete Naturphilosophie, mit Pico und Pomponazzi naturalisieren (oder ontologisieren) konnte. Das sieht man beispielsweise in seiner Transformation von Ficino in De efficentia primi motoris in naturalium rerum omnium factura liber.107 Dort ist die ontologische Stufung deus – angelus – anima – corpus – qualitas in ein mehr aristotelisches primi mobilis motor –
Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, Tübingen 1998, 89 f. 105 Vgl. Charles B. Schmitt: Girolamo Borro’s ‹Multae sunt nostrorum ignorationum causae› (Ms. Vat. Ross. 1009), in: Edward P. Mahoney (Hrsg.): Philosophy and Humanism. Renaissance Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller, Leiden 1976, 462–472. Zum folgenden auch Martin Mulsow: Reaktionärer Hermetismus vor 1600? Zum Kontext der venezianischen Debatte über die Datierung von Hermes Trismegistos, in: Ders. (Hrsg.): Das Ende des Hermetismus, {Anm. 51} 161–185. 106 Andrea Cesalpino: Peripateticarum quaestionum libri V, Venedig 1571. Das Buch ist stark von neuplatonischen Aristoteleskommentatoren inspiriert. 107 Sebastiano Paparella: De efficentia primi motoris in naturalium rerum omnium factura liber. Florenz 1562. Dazu Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, {Anm. 104} 218 f. und 316 f.
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planetarum motores – generatrix facultas – connatum viventis calidum – formator spiritus übersetzt worden. Noch 1589 erscheint in Pisa ein Konkordanzversuch, diesmal im Zeichen der verschärften Lage der Gegenreformation und aus der Feder von Francesco de’ Vieri: Vere conclusioni di Platone conformi alla Dottrina Cristiana et quella d’Aristoteles.108 Nicht unähnlich ist die Lage im Veneto. Zwar ist dort die Landesuniversität Padua immer noch streng aristotelisch ausgerichtet, doch in Venedig selbst blüht unter den Patriziern der Platonismus und die okkulte Philosophie. So kommt es, daß der Paduaner primo loco-Philosoph Francesco Piccolomini109, der im regulären Unterricht Aristoteles zu kommentieren hatte, inoffiziell der Patron einer Reihe seiner Schüler war, die sich in Venedig zur Accademia degli Animosi zusammengeschlossen hatten.110 Dort pflegten sie – etwa Stefano Tiepolo, Luigi Lollino, Girolamo Fracchetta und Nicolò Contarini – eine Art platonischaristotelischen Synkretismus, der christlich abgesichert war. Fracchetta ging so weit, daß er 1588 in Anlehnung an Picos Conclusiones seine Philosophie in 800 Thesen for-
Zu de’ Vieri vgl. Charles B. Schmitt: L’introduction de la philosophie platonicienne dans l’enseignement des Universités à la Renaissance, in: Platon et Aristote à la Renaissance, {Anm. 31} 93–104; Paolo Pissavino: L’altro sole di Francesco de’ Vieri, in: Atti del convegno internazionale di studi du Bernardino Telesio, Cosenza 1990, 207–220. 109 Vgl. Sandra Plastina: Concordia discors: Aristotelismus und Platonismus in der Philosophie des Francesco Piccolomini, in: Mulsow (Hrsg.): Das Ende des Hermetismus, {Anm. 51}, 213–234. 110 Vgl. Sandra Olivieri Secchi: Laici ed ecclesiastici fra sogno e ragione in un’ accademia padovana del’ 500: gli Animosi, in: Archivio veneto, anno 130, V. serie, 1988, 5–30. 108
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mulierte: De universo assertiones octingentae.111 Der Gestus, »über alles« zu handeln, war modisch geworden, wohl nicht zufällig in einem Ambiente, in dem man das Ideal des Heroischen pflegte. Entsprechend haben sowohl Piccolomini wie auch Patrizi das Schlüsselwort »de universis« in ihren Titeln.112 Hintergrund der Blüte der Konkordanz-Literatur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist aber nicht nur der Kompromißcharakter von lokalen Besonderheiten, sondern auch die zunehmende Einebnung der traditionellen Kompetenzaufteilung von Platonikern und Aristotelikern. Platon war bisher meist für die »höheren« Themen der Theologie, des Staates und der Moral als respektabel angesehen, Aristoteles für die irdischen der Naturphilosophie. In den 1560er und 1570er Jahren nun brach der Platonismus mit der Entstehung der neuen Naturphilosophie mehr und mehr auch in die traditionelle Domäne des Aristotelismus ein. Das motivierte »Platoniker« – oder besser gesagt innovative Denker –, die Semantik der Konkordanz für sich zu nutzen. De’ Vieris Traktat ist ein Beispiel dafür, auch Paolo Benis konkordistische Timaios-Interpretation,113 vor allem aber die Philosophie Francesco Patrizis. Patrizi, der wichtigste Manipulator der Diskurse in dieser Zeit, be-
Girolamo Fracchetta: De universo assertiones octingentae, Rom 1583. Zu Fraccetta vgl. A. Enzo Baldini: Puntugli spagnoleschi e intrighi politici nella Roma di Clemente VIII: Girolamo Fracchetta e la sua relazione del 1603 sui cardinali, Mailand 1981. 112 Vgl. Francesco Piccolomini: Universa philosophia de moribus, Venedig 1583; Francesco Patrizi: Nova de universis philosophia, Ferrara 1591; zum Ideal des Heroischen allg. vgl. George Weise: L’ideale eroico del rinascimento, Neapel 1965. 113 Paolo Beni: In Timaeum Platonis, sive in naturalem atque divinam Platonis et Aristotelis Philos. Decades tres, Rom 1594. 111
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diente sich geradezu mimikryhaft der Rede von der »concordia Aristotelis et Platonis«, um aristotelische Lehren als eigentlich von Platon stammend zu erweisen und damit dem Platonismus neue akademisch legitime Forschungsfelder zu schaffen.114 Solche Strategien konnten sich mit der Mode der PicoNachahmung verbinden. Denn Fracchetta war in Venedig mit seiner Thesen-Proklamation kein Einzelfall. Das zeigt sich im Blick auf die zweitausend Thesen, die der TelesioSchüler Antonio Persio 1575 in Venedig präsentiert hat – offenbar just gegenüber Animosi und Animosi-nahen Philosophen wie Nicolò Contarini oder Alessandro Maranta.115 Persio bringt nicht so sehr Platon mit Aristoteles in Verbindung, sondern eklektisch ausgewählte Positionen aus beiden mit Telesios neuer Lehre. Das war neuer Wein in den alten Schläuchen des Konkordismus. Die Pico-Imitation – bei Tiberio noch in 400 Thesen – konnte auch leicht zu epigonalen Überbietungsgesten führen. So hat Jacobo Mazzoni 1576 fünftauseneinhundertsiebenundneunzig Thesen veröffentlicht.116 Dieses Buch
Vgl. Cesare Vasoli: De Pierre de la Ramée à Francois Patrizi. Thémes et raison de la polémique autour d’Aristote, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 70 (1986), 87–98, bes. 97 f: »La tradition et la technique des ‹concordistes› sont donc utilisées par Patrizi très habilement, afin de suggerer la totale dépendance des doctrines aristotéliciennes, qui sont le résultat d’un remanierment des philosophies précendentes, mais désormais privées de leurs profondes raisons sapientielles.« Vgl. Francesco Patrizi: Discussiones peripateticae, Basel 1581. Vgl. auch Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt/M. 2005 115 Antonio Persio: Liber novarum positionum, Venedig 1575; dazu Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, {Anm. 104} 322 ff und 331 ff. 116 Iacobi Mazonii Caesenatis De triplici Hominum vita, Ac114
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sollte in der Art von Picos römischem Philosophenkongreß einer viertägigen öffentlichen Disputation in Bologna zugrunde liegen. Mazzoni war von der neuplatonischkabbalistischen Philosophie Francesco Giorgios beeinflußt, wollte aber auch aristotelische und zahlreiche andere Ansichten zusammenstellen, die ihm in der »varietas rerum« begegneten. 1597, inzwischen Professor in Pisa geworden, versuchte er das Konkordanzunternehmen nochmals, diesmal aber bedächtiger und mit einem klaren Bekenntnis zur Eklektik.117 Eklektik wählt Thesen aus, die ihr richtiva nempe, Contemplativa, et Religiosa, Methodi tres, quaestionibus quinque millibus, centum, et nongintaseptem distinctae. In quibus omnes Platonis, et Aristotelis, multae vero aliorum Graecorum, Arabum, et Latinorum in universo scientiarum orbe discordiae componuntur. Quae omnia publice disputanda Romae proposuit Anno salutis M. D. LXXVI. Ad Philippum boncompagnum S. R. E. Cardinalem amplissimum. Approbante Sancto Inquisitionis Officio. Caesenae Bartholomaeus Rauerius excudebat. 1576. Vgl. Frederic Purnell, Jr.: Jacobo Mazzoni and His Comparison of Plato and Aristotle, Ph.D. thesis, Columbia University, New York 1971. Auf fol. **v heißt es: »Porro existit longissimo in opere mira rerum omnium varietas, quae ubique suas habuit salebras (Unebenheiten, Schlaglöcher), sua item cacumina, per quos non sine lapsus periculo facerem iter. Neque vero ibi ullam inveni stratam viam, ubi diversitas, atque adeo adversitas Platonis, et Aristotleis, Plotini, et Procli, Porphyrii, et Iamblici Alexandri, et Simplicii, Averrois, et Avicennae, D. Thomae, Scotique non modo fuit indicanda: sed et tollenda, et componenda.« 117 Jacobo Mazzoni: In universam Platonis et Aristotelis philosophiam praeludia, sive de comparatione Platonis et Aristotelis, Venedig 1597. Vgl. fol. 1 v, § d: »Narrat Suidas, Potamonem Alexandrinum, quod qualibet secta, ea quae sibi probarentur, eligeret, eius sectae fuisse Principem, quae deinde ob hunc, ut ita dixerim, desultorium morem, electrix fuit appellata. Inscriptio itaque nostra [d.h. der Buchtitel] triplicem sensum habere potest, quorum est prior, ut polliceamur [fol. 2 r] ubique
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tig erscheinen, aber sie verbindet sie nicht mehr zu einer philosophischen Synthese. Seit der Jahrhundertmitte wird dieses Verfahren mehr und mehr geübt, bei Mazzoni wie bei Persio, bei Fox-Morcillo wie bei Paolo Beni. Die PicoNachfolge geht zunehmend in ein pragmatisches Arrangement der unterschiedlichen Wissensbestände über, die man kritisch verwaltet, ohne bereits einen neuen Großentwurf bieten zu können. Indessen hatte sich in Frankreich schon seit einiger Zeit eine neue Situation ergeben. Hier waren, nicht zuletzt im Gefolge von Lefevre, zunächst zahlreiche platonisierende, hermetische und kabbalistische Entwürfe erschienen.118 Dann trat Petrus Ramus am Collège royal auf. Ramus forderte eine einheitliche Methode für die Wissenschaft, wie sie durch eine Zusammenführung von Rhetorik und Logik im Sinne einer radikalen Vereinfachung erreicht werden könne.119 Jacques Charpentier, sein Gegner, fühlte sich Platonismum Aristotelismo miscere, idest vtriusque philosophi in quovis dogmate unanimem consensum demonstrare. (…) et inter neotericos Picus Mirandula pollicitus est se hanc concordiam copiosissimo opere pervincere. Quod idem, et Franciscus Diacettus, et Symphorianus Camperius promiserunt. Promisit, atque untcunque potuit, prastitit (sic) Gabriel Buratellus in libro, quem in utriusque philosophiae symphoniam edidit. Et nos etiam in nostro aetatis flore, calore quodam iuvenili, audaciores, ac par esset, in nostris thesibus utriusque philosophi concordiam disputandum proposuimus. (…) discrepant in aliquibus, atque illorum dissiduum tale, ut ex eo, quasi ex discordia quadam Empedoclea, universus pene philosophicae veritatis orbis oriatur.« Vgl. auch Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1994, 128 ff. 118 Vgl. François Secret: Les kabbalistes chrétiens de la Renaissance, Paris 1964; Copenhaver: Champier, {Anm. 95}. 119 Vgl. Neil W. Gilbert: Renaissance Concepts of Method, New York 1960.
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durch diesen Redukionsvorschlag so provoziert, daß er zu einem großangelegten Gegenentwurf ausholte. Er verband diesen Gegenentwurf mit einer kommentierten Edition von Alkinoos’ (bzw. Albinos’) Didaskalikos aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.120 Charpentier nannte das Editionswerk in seiner endgültigen Gestalt von 1573 programmatisch Platonis cum Aristotele in universa philosophia comparatio.121
Zum Didaskalikos, der seit Freudenthals Arbeit von 1879 Albinos zugeschrieben wurde, vgl. Reginald E. Whitt: Albinus and the History of Middle Platonism (1937), Cambridge 1971; die Zuschreibung an Albinos wurde revidiert von John Whittaker; vgl. dessen Arbeit: Parisinus graecus 1962 and the Writings of Albinos, in: Phoenix 28 (1974), 320–354 und 450–456; John M. Dillon: The Handbook of Platonism. Alcinous. Translation with Commentary, Oxford 1993. 121 Jacques Charpentier: Platonis cum Aristotele in universa philosophia comparatio, Paris 1573. Sylvain Matton: Le face à face Charpentier – La Ramée. A propos d’Aristote, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 70 (1986), 67–86, 84 f., stellt Bezüge zur »philosophia perennis« von Agostino Steuco her: »Comme l’indique le titre meme de l’un de ses libelles, ce que refuse avant tout Charpentier, c’est en effet la proclamation ramusienne d’une méthode unique, méthode que ni Aristote ni Galien n’auraient su découvrir. Certes Charpentier, à la suite de Gouvéa et de Périon, repousse cette thèse en arguant que les méthodes de l’invention et de l’explication, de l’analyse et de synthèse, ne sauraient se confondre, et qu’il existe meme plusieurs sortes d’analyses. Mais, bien qu’il ne le dise pas formellement, on peut supposer qu’il rejetait l’unicité de la méthode parce qu’elle aurait entravé la conciliation de Platon et d’Aristote: dire que la méthode est unique, c’est dire qu’il ne peut y avoir plusieurs manières de philosopher. En affirmant une pluralité de méthodes, Charpentier défendait donc aussi bien Platon qu’Aristote ou Galien. Ce sont d’ailleurs des textes de Platon qu’il oppose à La Ramée. De plus, en se ramenant à une dialectique descendante, qui vu de général au particulier, du tout aux parties, la métho120
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Indem er auf den Mittelplatonismus und die ‹Zweite Sophistik› zurückgeht, in der Platon und Aristoteles verbunden worden waren, etabliert er einen Typ von Konkordanz, der die Konsequenzen aus Picos (und Alkinoos’) eristischer Interpretation des Parmenides zieht und eine eher aristotelisch dominierte Vereinigung der Lehren aufzeigt. Charpentier konnte damit gegen Ramus einen in sich komplexen und methodenbewußten Konkordismus etablieren, mit dem sich Aristoteles gegen die Angriffe der Neuerer verteidigen ließ.122 Die von Ramus aufgeworfene Problematik verschob den Akzent der Concordia-Bemühungen aber deutlich auf die Methodenlehre. Die hier anschließenden Entwürfe münden schon bald in die entstehende Universalwissenschaft.123
de unique de La Ramée a pu apparaitre à Charpentier comme incompatible avec la fin dernière de la philosophie et de la connaissance en géneral: la contemplation des Intelligibles, qui réclame, elle, une dialectique ascendente. En cela Charpentier se sépare complètement de l’utilitarisme de La Ramée, pour qui les sciences ‹sont controlées par l’usage, prennent leur source dans l’usage et ont leur but dans l’usage›.« 122 Vgl. Matton: Le face à face, {Anm. 121}. 123 Vgl. Cornelius Gemma: De arte cyclognomica, doctrinam ordinum universam, unaque philosophiam Hippoctratis Platonis Galeni et Aristotelis in unius communissimae et circularis methodi speciem referentes, quae per animorum triplices orbes ad sphaerae caelestis similitudinem fabricatos, non medicinae tantum arcana pandit mysteria, sed et inveniendis constituendis artibus ac scientiis caeteris viam compendiosam patefacit, Antwerpen 1569. Dazu Martin Mulsow: Arcana naturae. Verborgene Ursachen und universelle Methode von Fernel bis Gemma und Bodin, erscheint in: Thomas Leinkauf (Hrsg.): Der Begriff der Natur in der Renaissance (Tübingen; im Druck). – In den spanischen Niederlanden propagierte auch der Spanier Sebastian Fox-Morcillo die Konkordanz: De naturae philosophia seu de Platonis et Aristotelis consensione, Paris 1560.
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In Deutschland kamen die Einflüsse aus Italien und aus Frankreich zusammen. Die Ausstrahlung der von Piccolomini und den Venezianern ausgehenden Kompromißformeln vereinigte sich hier mit den antiramistischen Strategien Charpentiers. An der Universität Altdorf war es Philipp Scherb, der sie zusammenführte.124 Er sah die italienischen Debatten der Aristotelesphilologen wie Ottaviano Ferrari, die um die Aufteilung der esoterischen und exoterischen Werkteile des Stagiriten stritten,125 als mögliche Unterstützung seines Kampfes gegen eine »Verflachung« der Philosophie, die die »Franzosenkrankheit«126 des Ramismus mit sich brachte. Denn in den Augen der deutschen Aristoteliker um Scherb war nun deutlich, daß Dialektik nur als etwas Vorläufiges und Pädagogisches angesehen werden könne, noch nicht als die eigentliche Philosophie selbst. Die sei erst mit der Metaphysik gegeben. Insofern vertraten Scherb und seine Schüler einen ‹esoterischen› antiramistischen Aristotelismus, der offen gegenüber Brücken zum Platonismus war. Dieser Aristotelismus wurde von Rudolph Goclenius in Marburg weitergeführt, Philipp Scherb: Dissertatio pro philosophia peripatetica adversus Ramistas, Altdorf 1590. Zur Aristotelesrezeption in Altdorf vgl. Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650, Berlin 21993, 150 ff; Martin Mulsow: Die wahre peripatetische Philosophie in Deutschland. Melchior Goldast, Philipp Scherb und die akroamatische Tradition der Alten, in: Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.): Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1996, 49–77. 125 Ottaviano Ferrari: De sermonibus exotericis liber ad Bartholomaeum Capram, Venedig 1575. 126 Melchior Goldast: De cryptica veterum Philosophorum disciplina epistola ad Rudolphum Goclenium Philosophum Marpurgensem, in: Clavis philosophiae peripateticae aristotelicae, Frankfurt 1606, 3 f. 124
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unter anderem mit Editionen von Piccolominis Büchern.127 Picos De ente et uno allerdings war für diese universitären Dispute nicht einzusetzen. Im 17. Jahrhundert war die Zeit der Concordia-Moden und Pico-Nachahmungen vorbei. Zu sehr hatte sich gezeigt, daß das Genre der Concordia Aristotelis et Platonis für die unterschiedlichsten Zwecke benutzt werden konnte, und daß echte Konkordanzbestrebungen, auch wenn sie im Titel noch angekündigt wurden, längst durch pragmatische Eklektik ersetzt worden waren. Zwar gab es abseits des mainstreams noch letzte große Synthesen wie die von Tommaso Campanella, die durchaus den Geist Picos atmeten, weil sie platonische Einflüsse mit einer thomistischen Philosophie des Seienden verbanden, doch blieben sie vereinzelt. Als Jacques Gaffarel 1651 seine Untersuchung über die kabbalistischen Quellen von Pico vorlegte, war dieser längst eine historische Figur geworden.128
Zu Goclenius vgl. Gideon Stiening: Deus vult aliquas esse certas noticias: Philipp Melanchthon, Rudolph Goclenius und das Theorem der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer (Hrsg.): Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627), Marburg 1999, 757–788. 128 Jacques Gaffarel: Codicum cabalisticorum manuscriptorum, quibus est usus, Ioannes Picus Comes Mirandulanus index, Paris 1651. 127
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ms. Hamilton 438 der Staatsbibliothek Berlin (ca. 1491–1494), fo 1r–29v. Inkunabel aus Bologna (1496): Commentationes Joannis Pici Mirandulae in hoc volumine contentae: quibus anteponitur vita per Joannem Franciscum illustris principis Galeotti Pici filium conscripta. Heptaplus de opere sex dierum geneseos. Apologia tredecim quaestionum. Tractatus de ente et uno cum obiectionibus quibusdam et responsionibus. Oratio quaedam elegantissima. Epistolae plures. Deprecatoria ad Deum elegiaco carmine. Testimonia eius vitae et doctrinae. Exibunt prope dies disputationes adversus astrologos aliaque complura tum ad sacra aeloquia tum ad philosophiam pertinentia. Diligenter impressit Benedictus Hectoris Bononiensis. Bononiae, Anno salutis MCCCCLXXXXVI die vero XX Martii. [De ente et uno: 98r–104v] [Hain 12992; Inc. Brit. Mus. VI, p. 843; I.G. I IV, n° 7731] Ausgabe aus Venedig (1498): Omnia opera. Impressit Venetiis Bernardinus Venetus anno salutis 1498. [Hain 12993] Ausgabe aus Reggio Emilia (1506): Omnia opera. Impressit dominus Ludovicus de Mazalis Civis Regiensis MDVI XV novembris. Ausgabe aus Venedig (1519): Omnia opera. Impressum Venetiis per Gulielmum de Fontaneto de Monferrato. Anno Domini MDXIX. Die XXII Martii.
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V. 1557
Ba. 1572
F
G
T
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Ausgabe aus Venedig (1557): Omnia quae extant opera, nuper clariss. virorum ingenio, ac labore illustrata, et innumeris erroribus expurgata … nuper addite fuerunt conclusiones, quas ipse, dum viveret, maxima omnium laude tueri conatus est. Venetiis apud Hieronymum Scotum, 1557. Ausgabe aus Basel (1572): Opera omnia. Heptaplus. Conclusiones. Apologia. De Ente et Uno. De hominis dignitate. Ad christianae vitae institutionem regulae. In psalmum XV comm. De Christi regno et vanitate huius mundi. Epistol. liber. De Astrologia disp. lib. XII. Elegiae aliquot. In Platonis convivium libri III italice. Basileae per Heinricum Petrum, 1572. Reprint hrsg. v. Cesare Vasoli, Hildesheim 1969. Reprint hrsg. v. Eugenio Garin, Torino 1971. Ausgabe von A. J. Festugière (1932): Joannes Picus Mirandulanus, De ente et uno, hrsg. u. franz. übers. v. A. J. Festugière, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age VII, 1932, 208–250 [= A. J. Festugière, Studia Mirandulana, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen-Age VII, 1932, 143–207; 208–250]. Ausgabe von E. Garin (1942): G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Heptaplus. De Ente et Uno, e scritti vari a cura di Eugenio Garin, Firenze 1942. [De ente et uno: 386–440] Ausgabe von S. Toussaint (1995): Stéphane Toussaint, L’esprit du quattrocento. Pic de la Mirandole: De l’être et de l’un & Ré-
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>…< […] 98r …G …T om.
Siglen
ponses à Antonio Cittadini, Edition bilingue précédée de Humanisme et Vérité par Stéphane Toussaint, Paris 1995. [De ente et uno: 134– 188] Ergänzung Korrektur oder Streichung Tilgung Seitenzahlen nach B. 1496 Seitenzahlen nach G Seitenzahlen nach T (omisit; omiserunt) Auslassung
Z U R T E X T G E S TA LT U N G
Der lateinische Text dieser Ausgabe basiert auf der Edition von Stéphane Toussaint (1995), die dem ms. Hamilton 438 der Staatsbibliothek Berlin folgt; die Textgliederung richtet sich aber (mit Ausnahmen in den Kapiteln 4, 5, 8 und 10) nach der Ausgabe von Eugenio Garin. Es wurden die Seitenzahlen der Inkunabel aus Bologna (98r etc.) und der Ausgaben von Garin (G) und Toussaint (T) ergänzt. Toussaints Kursivierungen und die Fußnoten, die nur orthographische Varianten nennen, wurden bis auf wenige Ausnahmen nicht übernommen; seine textkritischen Anmerkungen wurden ins Deutsche übertragen. Die folgende Liste der Unterschiede zwischen der vorliegenden Ausgabe und Toussaints Text nennt außer abweichenden Lesarten einzelner Wörter oder Junkturen auch solche Änderungen in der Interpunktion, die den Sinn des entsprechenden Satzes ändern. Unübliche Zusammen- oder Getrenntschreibungen wurden der besseren Lesbarkeit wegen aufgelöst. vorliegende Ausgabe
Toussaint-Ausgabe
134, 28 T
nondum
non dum
136, 19 T
136, 19 T
qua et opposita qua opposita (Pico, Disputationes adversus astrologos, Bononiae 1496, fol. LL) censeri duo, illa, censeri duo illa,
138, 9 T
inveniri
invenire
138, 12 T
Cuius (sc. dialogi)
Cui
138, 18 T
exsequatur
exequatur
138, 19 T
unumne
unum ne
LXXXVIII
Zur Textgestaltung vorliegende Ausgabe
Toussaint-Ausgabe
140, 4 T
quid (cf. 140, 3–4)
qui
140, 23 T
nos ipsos
non ipsos
142, 20 T
item probat
item, probat
144, 12 T
e medio
emedio
144, 17 T
intellexit
intellexi
144, 17–18 T
permultis
per multis
148, 14 T
eidem rei
eidemrei
148, 24 T
perfectiori
perfectioni
150, 28 T
Aristotelem
Aritotelem
150, 31–32 T 152, 12–13 T
accidens, tum… genera. Dubium possit, possumus
accidens. Tum… genera dubium possit. Possumus
152, 15 T
Primae Philosophiae
primae philosophiae
154, 12 T
a se
se
156, 12 T
quae…ascribitur
quae…ascribit
158, 2 T
cognitio, itemque
cognitio. Itemque
158, 9 T
cognitione
cognitione>m
ae< sunt Socrates ad ideas divertisset multaque super his a Parmenide sciscitaretur7, respondet Parmenides placere sibi impetum illum, propen | sionemque animi ad res altissimas definiendas 8 : »caeterum collige, inquit, teipsum diligentiusque te, dum juvenis es, in ea facul1 om.: favere sententiae (G) vere potius (Ba. 1572) 2 Platonem nullibi unum esse ente superius, sed potius aequalia inuisse (V. 1519; V. 1557) 3 invenire (G) inveniri (Ba. 1572; F) 4 Cui (T; G) 5 exequatur (T) 6 unum ne (H) 7 sciscitarentur (G) sciscitaretur (Ba. 1572; F) 8 diffiniendas (G)
Über das Seiende und das Eine
7
zweites kapitel Wo hat Platon vom Einen und Seienden gesprochen? Sein Wortlaut spricht eher für die These, daß das Eine und das Seiende gleich sind, als für diejenigen, die das Eine für höher als das Seiende halten. Soweit deren Argumente. Aber bevor wir sie widerlegen, mag es angebracht sein, zu zitieren, was bei Platon zur Frage ausdrückliches zu finden ist. Ich finde, Platon spricht an zwei Stellen vom Seienden und Einen, nämlich im Parmenides und im Sophistes.9 Die Platoniker behaupten,10 beide Male werde von Platon das Eine über das Seiende gestellt. Ich will zum Parmenides sofort feststellen, daß in dem gesamten Dialog weder irgend etwas strikt behauptet noch – wenn überhaupt etwas behauptet wird – verbindliches zu finden ist, wonach wir Platon solch eine Lehre zuschreiben müssen. Es zählt gewiß nicht zu den dogmatischen Büchern, weil es im ganzen nichts als eine dialektische Übung ist.11 Es liegt ihm so fern, unserer These wörtlich zu widersprechen, daß es kaum willkürlichere und gewaltsamere Aussagen gibt als die von denen vorgebrachten, die den Platonischen Parmenides anders interpretieren wollten. Aber lassen wir alle Interpreten beiseite. Schauen wir uns die Abfolge des Dialogs an, womit er beginnt, worauf er hinaus will, was er verspricht und was er ausführt. Es verhält sich doch so: Wenn Sokrates von der Diskussion, ob alles eines oder ob, was ist, vieles ist, auf die Ideen abweicht und viele Fragen hierüber von Parmenides aufgeworfen werden, antwortet Parmenides, ihm gefalle sein Eifer und sein seelisches | Streben nach der Unterscheidung der höchsten Dinge, und sagt: »Konzentriere Dich und übe Dich noch mehr, solange Du jung bist, in der Fähigkeit, die vielen unnütz erscheint und deshalb für Geschwätz und Rederei gilt, weil Dir sonst die Wahrheit ent-
8
140,1 T
394 G
99r
De ente et uno
tate exerce, quae inutilis multis videtur. Unde ab illis nugacitas sive garrulitas nuncupata; alioquin veritas te fugiet.« Confessum autem apud omnes, quod et sequentia manifestant per haec verba ab illo dialecticam significari. Post quae cum ita Parmenidem Socrates interroget: »quis exercitationis hujus modus est, Parmenides?«, respondet ille primo eum esse | quem a Zenone audierat; tum particularius de hac re docens admonet ut perspicaci sollertia circumspiciat non solum quid consequatur si res aliqua sit, sed et quid consequatur si non sit; tum videat quid consequatur rem illam quam esse aut non esse ponimus, ut se respicit ut alia; quid item alia ut se ut illam respiciunt. Et cum plura ille in hanc sententiam, tum Socrates ita: »Arduum opus affers nec te omnino intelligo. Sed cur ipse aliquid non ponis atque id1 isto quem probas modo pertractas? Quo mihi dilucidior hujus rei fiat intellectus.« Respondet Parmenides hoc sibi seni esse laboriosum. Denique Zeno faciendum hoc dicit esse Parmenidi quando in paucorum conventu est; alioquin parum decore ait hujusmodi quaedam in celebritate multorum tractari a sene; quoniam quotusquisque noverit tractationem hujusmodi et evagationem ad veritatem adipiscendam esse necessariam. Faciunt vel haec verba Zenonis plenam fidem ejus quod diximus. Quod Parmenides tractaturus est, tale est si credimus Zenoni, ut non sit palam in multorum consessu a sene tractandum. At si, ut illi volunt, de divinis ordinibus, de primo rerum omnium principio agit, quae tractatio seni congruentior aut erubescenda minus? Sed citra omnem est controversiam, nisi nos ipsos velimus2 | fallere, id circa quod versaturus erat Parmenides dialecticum esse negotium, neque aliud ab eo Socrates postulaverat. Id autem juvenilis potius quam | senilis officii Zeno judicaverat. Quibus etiam testimoniis si non credimus, ipsum percurramus dialogum, videbimusque nusquam aliquid affirmari, sed ubique solum 1 om.: atque isto (Ba. 1572; G)
2 vellemus (G) velimus (Ba. 1572)
Über das Seiende und das Eine
9
geht.« Bekanntlich – und das folgende belegt es – ist mit diesen Worten die Dialektik gemeint. Als Sokrates danach Parmenides fragt: »Welche Übungsmethode ist das, Parmenides?«, antwortet dieser zunächst, es sei die, die er von Zenon gehört habe,12 sodann ermahnt er ihn mit genauer Belehrung, mit scharfsichtiger Genauigkeit darauf zu achten, sowohl was folgt, wenn irgend etwas ist, als auch was folgt, wenn irgend etwas nicht ist; dann solle er sehen, was auf eine Sache folgt, von der wir annehmen, sie sei oder sei nicht, auf sie selbst bezogen bzw. auf anderes, ferner was auf anderes folgt, auf es oder auf die Sache bezogen. Und als er diesen Satz weiter erläutert, sagt Sokrates: »Eine harte Arbeit bietest Du an, und ich verstehe Dich nicht ganz. Aber warum nimmst Du nicht irgend etwas an und handelst es nach der empfohlenen Methode ab, damit mir die Einsicht darin klarer wird?« Parmenides antwortet, das sei schwer für sein Alter. Schließlich meinte Zenon, Parmenides solle es tun, da er im kleinen Kreise ist, sonst sei es wenig anständig, wenn dergleichen von einem Greis in großer Öffentlichkeit behandelt werde, da ja kaum einer wisse, daß solch eine Abhandlung und Ausführlichkeit zur Erlangung der Wahrheit nötig sei. Diese Worte Zenons belegen unsere These. Denn was Parmenides abhandeln soll, ist nach Zenon so, daß es nicht von einem alten Mann vor einer zahlreichen Versammlung behandelt werden kann. Aber wenn er ihrer Ansicht nach von der göttlichen Hierarchie nach dem ersten Prinzip aller Dinge handelt, welches Thema wäre für einen Alten angemessener und weniger peinlich? Unbestreitbar, wenn wir uns nicht | täuschen wollen, war das, worum es Parmenides gehen sollte, eine dialektische Aufgabe, und nichts anderes hatte Sokrates verlangt. Das aber hatte Zenon eher für eine Aufgabe für junge Leute als für alte erachtet. Wenn wir diesen Belegen nicht trauen wollen, gehen wir den Dialog durch, und wir werden sehen, daß nirgendwo irgend
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396 G
De ente et uno
queri hoc si sit, quid consequetur, quid item si non sit. Occasionem autem suae sententiae de ente et uno hinc Academici | aucupati sunt, quod prima positione hoc se problemate exercet ut videat, si omnia sint unum, quidnam consequatur; respondetque futurum ut illud unum quod esse ponimus sit impartibile, sit infinitum, nusquam sit et cum id genus multa enumeret, affert et hoc inter alia futurum scilicet ut illud unum non sit ens. Attende autem etiam si haec dialectica non sit exercitatio sed de ente unoque dogma tradatur, quantum haec differant1 asserere scilicet unum super ens esse et hoc asserere futurum ut si omnia sint unum, illud unum ens non sit. Et de Parmenide satis. Enimvero in Sophiste in hanc sententiam potius loquitur esse unum et ens aequalia, quam esse unum ente superius. Hoc enim ubi explicet non invenio; illud multifariam significat, ut per haec verba: »Num2 ita considerans confiteris necessarium esse eum qui aliquid dicit unum aliquid dicere« et mox »eum vero qui non aliquid dicit necesse est neque unum quid, id est nihil dicere.« Haec ille. Equalia ergo apud eum immo eadem sunt non unum et nihil, aequalia item unum et aliquid. Post haec item probat dici non posse non ens3 esse unum, atque ita colligit: ens non enti non accidit, ergo unum non accidit | non enti. Loquitur autem de uno quod supra dixerat aequale esse ei4 quod est aliquid. Videtur igitur pro confesso habere unum esse ens. Sed esto, demus Platonem hoc affirmasse quod certe nusquam affirmavit. Age examinemus in quem sensum dici vere potuerit, ipsius primum aristotelicae sententiae in hunc modum fundamenta jacientes5.
1 different (G) differant (Ba. 1572; F) 2 Nam (G) 3 om.: non posse non esse unum (G) non posse non ens esse unum (Ba. 1572; F) 4 om.: esse quod (G) esse ei quod (Ba. 1572; F) 5 jacentes (G) jacientes (Ba. 1572; F)
Über das Seiende und das Eine
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etwas festgestellt, sondern überall nur gefragt wird, wenn dies sei, was dann folge, und was, wenn es nicht sei.13 Die Akademiker haben aber für ihre These über das Seiende und das Eine hier den Anlaß gefunden, weil Parmenides in der ersten Hypothese an diesem Problem übt, um zu sehen, was folgt, wenn alles eins sei; und er antwortet, es kommt heraus, daß jenes eine, das wir annehmen, unteilbar sei, unendlich, nirgendwo, und indem er noch mehr davon aufzählt, fügt er unter anderem das hinzu, daß herauskommt, das Eine sei nicht seiend.14 Beachte aber, wenn dies keine dialektische Übung ist, sondern eine These über das Seiende und das Eine aufstellt,15 wie verschieden es ist, zu behaupten, das Eine sei über dem Seienden, oder zu behaupten, es komme, wenn alles eins ist, heraus, dieses Eine sei nicht Seiendes.16 Genug zum Parmenides. Im Sophistes dagegen wird offenbar eher für die These argumentiert, das Eine und das Seiende seien gleich, als, das Eine stehe über dem Seienden, zu sprechen. Wo er das letzte darlegt, finde ich nicht, das erstere zeigt er vielfach, etwa mit den Worten: »Wirst Du nicht, wenn Du es bedenkst, zugeben, daß notwendigerweise wer etwas sagt, ein etwas sagt«, und dann: »und daß wer nicht etwas sagt, notwendigerweise nicht-irgendeines, das heißt nichts sagt.«17 Soweit Platon. Bei ihm sind nicht-eines und nichts gleich, ja sogar identisch, und eines und etwas sind gleich. Danach beweist er zudem, man könne nicht sagen, das Nicht-seiende sei eins, und schließt daraus: »‹Seiend› kommt dem nicht seienden nicht zu, also kommt ‹eines› dem nicht seienden nicht zu.«18 | Er spricht von dem Einen, das er zuvor als dem gleich bezeichnete, das etwas ist. Offensichtlich hält er erklärtermaßen das Eine für seiend. Sei’s drum, lassen wir Platon behauptet haben, was er nirgendwo behauptet hat. So laßt uns prüfen, in welchem Sinne es wirklich gesagt werden konnte, indem wir auf diese Weise zuerst die Grundlagen der aristotelischen These schaffen.19
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De ente et uno
caput tertium In quo declarat quomodo accipiatur ens ab Aristotele, cum ipsum uni equale atque omnia ambiens facit.1
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Dictio haec, ens, de qua ambigitur unine equalis sit2, dupplicem accipi in modum potest. Primus est ut cum ens dicimus omne id intelligamus quod est extra nihil; quo modo usus est Aristoteles cum uni ens equale fecit. Nec dictionem absque ratione sic usurpavit. Nam ut vere dicitur, sentire quidem ut pauci, loqui autem ut plures debemus; sentimus enim et opinamur nobis, loquimur aliis, id est multitudini, atque ideo loquimur ut intelligamur. Vulgus autem et quicumque e medio3 ita ens accipiunt ut omne id dicatur ens cui non deest esse et quod dici nihil vere non potest. Sed et qui habiti sapientissimi apud hos ipsos qui contra sentiunt, dictione hac ita usos invenimus. Parmenides enim pithagoreus cum dixit unum esse id quod est, Deum intellexit, si Simplicio credimus aliisque permultis 4 qui tueri Parmenidem volunt adversus eos qui illum calumniantur, quasi omnia dixerit esse unum. Una | enim voce respondent numquam creditum a Parmenide non esse in rebus divisionem, multitudinem, pluralitatem, quam ipse alibi in suis poematis5 aperte confitetur. Sed cum dixit unum est quod est indicatum6 ab eo illud cui vere entis appellatio congruit et quod vere est esse unum tantum: quod unum Deus est. Quare si Parmenidi credimus ejusque | defensoribus etiam platonicis, unum supra ens esse non potest nisi sit supra Deum tantumque abest ut Deum
1 Parmenidis, Dionysii Simpliciique testimonio ens unum invicem et aequari probatur (V. 1519; V. 1557) 2 Dico hoc ens, de quo ambigitur uni ne aequale sit (V. 1557) 3 emedio (H) 4 per multis (H) 5 poematibus (G) poematis (F) 6 judicatum (G)
Über das Seiende und das Eine
13
drittes kapitel Erklärung, in welchem Sinne »seiend« von Aristoteles gebraucht wird, wenn er es dem »Einen« gleich und alles umfassend nennt. Dieses Wort »seiend«, von dem streitig ist, ob es »eins« gleich ist, läßt sich doppelt auffassen. Erstens, wenn wir »seiend« sagen, verstehen wir alles, was außerhalb von nichts ist.20 In diesem Sinne gebrauchte Aristoteles es, wenn er »seiend« gleich »eines« nahm.21 Er übernahm das Wort auch nicht ohne Grund so. Denn wie das Sprichwort richtig sagt, denken muß man wie wenige, reden aber wie die meisten. Wir denken und vermuten aber für uns, wir sprechen für andere, für die Mehrheit, und zwar um verstanden zu werden. Das Volk und jeder beliebige versteht »seiend«, als bezeichnete es alles, dem das Sein nicht mangelt, und das wirklich nicht nichts genannt werden kann. Aber auch die, die selbst bei denen, die das Gegenteil annehmen, für die Weisesten gelten, auch sie – stellen wir fest – benutzen dieses Wort so. Denn Parmenides als Pythagoreer22 meinte Gott, wenn er sagte, das Eine sei das, was ist, wenn wir Simplikios23 und den vielen anderen glauben, die Parmenides gegen die in Schutz nehmen wollen, die ihn verleumden, er hätte gesagt, alles sei eins.24 Einstimmig | antworten sie, Parmenides habe nie geglaubt, es gäbe keine Teilung, Vielfalt, Vielheit in den Dingen, die er an anderer Stelle in seinem Lehrgedicht25 offen zugibt, daß vielmehr, wenn er sagte, eines ist, was ist, dasjenige von ihm bezeichnet wurde, zu dem wirklich »seiend« paßt, und das wirklich das alleinige eine Sein ist; dieses Eine ist Gott. Deshalb kann, wenn wir Parmenides und seinen, zumal platonischen, Verteidigern glauben, das Eine nicht über dem Seienden sein, sonst wäre es über Gott, und es ist ganz ausgeschlossen, daß Parmenides bestreitet, daß Gott
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De ente et uno
esse ens neget Parmenides, ut soli Deo veram entis appellationem concedat; | atque ita prime rationis platonicorum solutio nobis obiter occurrit. Sed et Dionysius Areopagita, quem qui contra nos disputant fautorem sue sententie faciunt, non negabit vere a Deo apud Mosen1 dici »ego sum qui sum«, quod grece ita legimus œ «, id est »ego sum ens«. Quin ipsimet cum di»™ cunt2 nihil sive non ens opponi enti sicut multitudo opponitur uni, concedent necessario illud quod non est ens, esse nihil sive non ens, sicut quod non est unum est multum sive multitudo. Quare si eamdem servant legem locutionis, fateantur oportet Deum aut nihil esse, quod aures ipsae formidant, aut esse ens. Hoc modo ens cum accipitur, illud primum axioma et universale proloquium statuimus, de re qualibet necessario dici aut esse eam aut non esse, de nulla autem utrumque simul aut dici aut cogitari posse. Cum ergo extra omnia nihil sit praeter ipsum nihil, si hoc modo acceptum ens solum nihil a se excludit, omnia ambiat proculdubio necesse est. Quare plura eo ambire unum non potest nisi ipsum ambiat nihil, quod Plato negat in Sophiste cum dicit non ens sive nihil unum dici non posse. Sed3 neque ambit pauciora ut ipsi volunt. Equalia ergo 4 ens et unum.
1 Mosem (G) Mosen (Ba. 1572)
2 dicant (G)
3 Si (G)
4 ergo et ens (G)
Über das Seiende und das Eine
15
seiend ist, gesteht er doch Gott allein den wahren Namen »seiend« zu. Und so finden wir die Lösung des ersten Arguments der Platoniker.26 Aber auch Dionysius Areopagita,27 den unsere Gegner zu ihren Gunsten anführen, kann nicht wirklich bestreiten, daß Gott bei Moses sagt: »Ich bin der ich bin«, was œ «, also: »Ich bin der Seigriechisch heißt: »™ ende«28. Zudem geben sie selbst notwendig zu, wenn sie sagen, »nichts« oder »nicht seiend« sei der Gegensatz zu »seiend«29 wie die Vielheit der Gegensatz zum Einen, daß das, was nicht seiend ist, nichts ist oder Nicht-seiendes, so wie das, was nicht eines ist, viel oder Vielheit ist. Deshalb müssen sie bekennen, sofern sie dieselbe Sprachregel einhalten, daß Gott entweder nichts ist, was man sich scheut zu hören, oder seiend. Wenn »seiend« in diesem Sinne aufgefaßt wird, stellen wir das erste Axiom30 und den universellen Grundsatz fest, daß man von jeder Sache sagen muß, sie ist oder ist nicht, und von keiner beides zugleich sagen oder denken kann. Da also außerhalb von allem nichts als das Nichts ist, muß »seiend«, sofern es in diesem Sinne aufgefaßt nur das Nichts von sich ausschließt, zweifellos alles umfassen.31 Deshalb kann das Eine auch nicht mehr als das umfassen, es sei denn, es umfaßte auch das Nichts, was Platon im Sophistes ablehnt, wo er sagt, nicht seiendes bzw. nichts kann nicht »eins« genannt werden. Aber es umfaßt auch nicht weniger (wie sie meinen); also sind Seiendes und Eines gleich. |
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De ente et uno
caput quartum In quo declarat quomodo ente dici aliquid superius possit1.
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Explicavimus alterum ex his modis quibus accipi ens posse dicebamus, quo qui utuntur quemadmodum recte uti possunt verissime affirmant nihil esse ente communius. Restat alterum explicemus juxta quem erit manifestum posse nihilominus et vere dici, esse aliquid quod supra entis eminentiam collocetur. Nominum alia concreta, alia abstracta; concreta: calidum, lucens, candidum, homo; abstracta: calor, lux, candor, humanitas. Est autem haec vis illorum et diversitas, ut quod abstractum dicitur, id notet quod a se tale est, non ab alio; concretum ex adverso id significet quod non a se, sed alterius beneficio tale est. Sic lucens luce lucet, candidum candore candidum est et homo humanitate est homo. Quoniam vero nihil se ipsum participat neque eadem conditio eidem rei2 et a se3 et alterius participatione inesse potest, sequitur ut quod abstractum dicitur, a concreto denominari non possit. Quare non congrue dicitur: candor candidus est, nigredo nigra est. Immo ridiculus erit qui talia enunciet. Non quia candor niger sit aut calor frigidus, sed quia tantum et ille a 4 nigredine et hic abest a frigiditate, ut quaecumque candida sint illo candida sint et quaecumque calent hujus participatione caleant. Quaedam ergo negamus rei cuipiam inesse aut quia illa non habet, ut cum dicimus nigrum non esse album, aut quia excellentiori nota et perfectiori ratione habet, quam nos habere eam ex
1 quomodo ente dici aliquid superius posse declaratur (V. 1519; V. 1557) 2 eidemrei (H) 3 om.: rei et alterius (G) rei et a se alterius (Ba. 1572) 4 om.: ille nigredine (G) ille a nigredine (Ba. 1572)
Über das Seiende und das Eine
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viertes kapitel Wie kann man sagen, etwas sei höher als das Seiende? Die eine Weise, in der man »seiend« auffassen kann, haben wir besprochen; in ihr behauptet zu Recht jeder, der es verwendet, wenn er es denn richtig zu gebrauchen versteht, daß es nichts gemeinsameres als das Seiende gibt. Die andere Weise bleibt noch zu erklären, nach der es offenkundig wird, daß man nichtsdestoweniger auch wahr sagen kann, es gäbe etwas, das über dem Rang des Seienden anzusetzen ist. Wörter sind entweder konkret oder abstrakt.32 Konkret sind warm, leuchtend, glänzend, Mensch. Abstrakt sind Wärme, Licht, Glanz, Menschheit. Ihre Wirkung und Verschiedenheit liegt darin, daß was abstrakt gesagt wird, etwas bezeichnet, das von sich aus so ist und nicht von etwas anderem; ein konkretes Wort dagegen bezeichnet etwas, das nicht von sich aus, sondern dank eines anderen so ist.33 So leuchtet das Leuchtende durch Licht, Glänzendes glänzt durch Glanz, und der Mensch ist dank Menschheit ein Mensch.34 Da nun nichts an sich selbst teilhat35 und derselbe Zustand derselben Sache nicht aus sich heraus und zugleich dank Teilhabe an etwas anderem zu eigen sein kann,36 folgt, daß ein sogenanntes Abstraktes nicht von einem Konkreten her benannt werden kann. Deshalb stimmt es nicht, wenn man sagt, der Glanz ist glänzend, die Schwärze ist schwarz. Wer das formulieren würde, würde sich lächerlich machen, und zwar nicht etwa, weil der Glanz schwarz oder die Wärme kalt wäre, sondern weil Glanz und Schwärze bzw. Wärme und Kälte soweit auseinanderstehen, daß alles Glänzende vom Glanz her glänzt und alles Warme durch Teilhabe an der Wärme warm ist. Einer Sache sprechen wir also einige Eigenschaften ab, entweder weil sie sie nicht hat, z. B. wenn wir sagen, etwas
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De ente et uno
tali locutione significamus; ut cum negamus albe | dinem esse albam, non quia nigra sit, sed quoniam non solum ideo non est nigra quia est alba (quod idem est dictu: quia habet albedinem) sed quia ipsa albedo est. Veniamus ad nostra. Ens concreti nominis faciem habet. Idem enim dictu1 ens et id quod est. Cujus | abstractum videtur haec dictio, esse, ut ens dicatur quod ipsum esse participat, sicut lucens dicitur quod lucem participat et videns cui inest ipsum videre. Ad hanc ergo exactam entis significantiam si respiciamus illud esse negabimus ens, non solum quod non est, et quod est nihil, sed illud quod adeo est ut sit ipsum esse, quod a se et ex se est et cujus participatione omnia sunt. Sicut non id solum negabimus esse calidum quod est expers caloris sed quod ipse calor est. Tale autem | est Deus qui est totius esse plenitudo, qui solus a se est et a quo solo nullo intercedente medio ad esse omnia processerunt. Hac igitur ratione vere dicemus Deum non est ens, sed super ens, et ente aliquid esse superius, hoc est Deum ipsum cui quoniam unius datur appellatio, consequens inde ut unum supra ens esse fateamur. Vocamus autem tunc Deum unum non tam enuntiantes quid sit quam quomodo sit omnia quae est et quomodo ab ipso alia sint. »Unum enim«, inquit Dionysius, »dicitur Deus quia unice est omnia.« Rursus: »unum dicitur quia ita principium omnium est quae sunt, sicut omnium numerorum principium unitas est.« Quapropter si (ut volunt Academici) Plato in prima positione Parmenidis affirmat unum esse ente
1 dictu est ens (G) dictu ens (Ba. 1572)
Über das Seiende und das Eine
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schwarzes sei nicht weiß, oder weil sie es doch in einem hervorragenderen Sinne und einem vollkommeneren Begriff hat, als wir mit einem solchen Ausdruck das ‹Haben› der Eigenschaft bezeichnen, so wie wir verneinen, Weiß | sei weiß, nicht weil es schwarz wäre, vielmehr weil es ja nicht allein darum nicht schwarz ist, weil es weiß wäre (also weil es Weiß an sich hat), sondern weil es selbst das Weiß ist. Kommen wir zu unserem Thema. »Seiend« ist auf den ersten Blick ein konkretes Wort. »Seiend« und »das was ist« besagt nämlich dasselbe. Das Abstraktum dazu ist anscheinend »Sein«,37 so daß seiend heißt, was am Sein selbst teilhat,38 so wie leuchtend heißt, was am Licht teilhat, und sehend, dem das Sehen selbst eigen ist. Wenn wir auf diese genaue Bezeichnung des Seienden achten, dann müssen wir negieren, dasjenige sei seiend, nicht nur was nicht ist und was nichts ist, sondern auch das, was so sehr ist, daß es das Sein selbst ist, welches von und aus sich ist, und dank Teilhabe an dem alles ist, so wie wir nicht nur verneinen, es sei warm, dem Wärme fehlt, sondern was die Wärme selbst ist. So aber ist Gott, der die Fülle des Seins ist, der allein von sich ist, und von dem allein ohne Vermittlung alles ins Sein hervorgegangen ist. In diesem Sinne sagen wir richtig, Gott sei nicht seiend, sondern über dem Seienden und etwas Höheres als das Seiende. Das bedeutet folglich, wir sagen, Gott selbst, insofern ihm der Name »Einer« gegeben wird, ist der Eine über dem Seienden.39 Allerdings nennen wir dann Gott einen nicht als Aussage, was er ist, sondern vielmehr, in welcher Weise er alles ist, was ist, und auf welche Weise das andere von ihm ist. »Eins heißt nämlich Gott«, nach Dionysius, »weil einzig er alles ist«; und »eins heißt er, weil er das Prinzip von allem, was ist, so ist, wie die Einheit das Prinzip aller Zahlen ist«40. Deshalb ist dieses Eine nichts anderes als Gott, wenn Platon nach Ansicht der Platoniker in der ersten Hy-
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De ente et uno
superius, non erit illud unum aliud quam Deus, quod et ipsi fatentur communi consensu asseverantes de primo rerum omnium principio ibi a Platone tractari. | At, dicet quispiam, hac saltem ex parte discors erit Aristoteles a Platone, quod Aristoteles numquam ita ens accipit ut sit sub uno Deumque non comprehendat, quod Plato facit. Hoc qui dicunt Aristotelem non legerunt. Facit enim et ipse hoc et longe clarius quam Plato. Nam sexto prime philosophie libro ait dividi ens in ens1 per se et ens per accidens, tum2 ens per se in decem genera. Dubium nullum apud bonos interpretes sub hoc ente | Deum non contineri, qui neque est ens per accidens neque sub ullo decem generum continetur in quae dividitur ens per se. Vulgata item apud Peripateticos est illa divisio quod dicitur ens dividi in substantiam et accidens. Quod cum fit3 ita accipimus ens ut Deus supra ens sit et non sit sub ente quemadmodum docet Thomas primo libro Commentariorum in theologicas sententias. Adiciam et hoc injuria gloriari quosdam Platonicos qui mysterium habeant Aristoteli ignotum, cum dicunt duas esse proprias Dei appellationes, unum scilicet et bonum, atque ita bonum et unum ante ens esse. Sicut enim ostendimus non latere Peripateticos quo modo supra ens Deus intelligi possit, possumus et hoc ostendere duo in primis haec nomina boni scilicet et unius Deo Aristotelem dedisse. Nam duodecimo libro Primae Philosophiae postquam de toto ente separatisque mentibus disputavit, quaerit postremo, quasi post omnia ad Dei solius proprietates investigandas conversus, an preter bonum quod quasi in exercitu in entium uni-
1 om.: dividi ens per se (G) dividi ens in ens per se (Ba. 1572; F) 2 cum (G) 3 sit (G)
Über das Seiende und das Eine
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pothese des Parmenides sagt, das Eine sei höher als das Seiende, und das geben sie auch selbst zu, indem sie in Übereinstimmung mit allen beobachten, daß Platon dort vom ersten Prinzip aller Dinge handelt.41 | Aber man könnte einwenden, wenigstens in diesem Punkte unterscheidet sich Aristoteles von Platon, weil Aristoteles niemals das Seiende so auffaßt, daß es unter dem Einen steht und Gott nicht einschließt, was Platon tut. Wer das sagt, hat Aristoteles nicht gelesen. Er tut es nämlich auch und weit klarer als Platon. Denn im sechsten Buch der Metaphysik sagt er, das Seiende teilt sich in Seiendes an sich und Seiendes per accidens.42 Das Seiende an sich in zehn Kategorien enthält ohne jeden Zweifel bei den guten Kommentatoren unter diesem Seienden Gott nicht, der weder seiend per accidens ist, noch in einer der zehn Kategorien enthalten ist, in die das Seiende an sich aufgeteilt wird. Jene Einteilung des Seienden ist zudem unter den Peripatetikern verbreitet, nach der es heißt, das Seiende wird in Substanz und Akzidenz geteilt: Wenn dem so ist, fassen wir »seiend« so auf, daß Gott über dem Seienden ist und nicht unter das Seiende fällt,43 entsprechend der Lehre des Thomas im Ersten Buch des Sentenzenkommentars.44 Ich füge hinzu, daß einige Platoniker zu Unrecht sich rühmen, sie besäßen ein Geheimnis, das Aristoteles unbekannt ist, indem sie sagen, es gäbe zwei eigentümliche Benennungen Gottes, nämlich als das Eine und als das Gute, und somit sei das Gute und das Eine vor dem Seienden. Genauso wie wir gezeigt haben, daß den Peripatetikern nicht verborgen war, inwiefern Gott als über dem Seienden verstanden werden könnte, können wir auch zeigen, daß Aristoteles als einer der ersten diese zwei Namen, das Gute und das Eine, Gott gegeben hat. Denn er fragt im Zwölften Buch der Metaphysik,45 nachdem er vom Seienden im Ganzen und von den abgetrennten Geistern gehandelt hat, zuletzt (so als wende er sich nach allem der Er-
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406 G
De ente et uno
versitate est, sit bonum aliquod separatum quasi in duce hujus exercitus, idque esse determinat, quod bonum Deus est. De quo consequenter eodem capite unitatem probat, in ejus testimonium, post validas rationes, illud etiam | Homeri: » ˆ ˆ « Ubi ergo falsus? Ubi discors a Platone est Aristoteles? Ubi prophanus? Ubi de Deo minus quam deceat honorifice sentiens?
caput quintum In quo declarat qua ratione multa Deo ascribant1 Peripatetici quae de eo negant Platonici docetque quonam pacto per quattuor gradus ad caliginem ascendamus quam Deus inhabitat. 154,1 T
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Solvamus nunc rationes Platonicorum quibus non eo modo cui et nos concordamus, sed absolute adversus Aristotelem unum contendunt esse ente superius. Et quamquam satis ex superioribus soluta sit prima ratio qua dicebatur Deus unum, non tamen ens, fuerit tamen operae pretium digredi latius ut ostendamus cur non solum a diversis utpote Platonicis et Peripateticis, sed ab eodem saepe auctore multa de Deo et vere affirmentur et vere negentur. Deus omnia est et eminentissime atque perfectissime est omnia. Quod non erit nisi ita in | se claudat omnium perfectiones ut quicquid ad imperfectionem spectat in rebus a se reiciat. Possumus autem quicquid imperfecti rationem habet in his quae sunt, duplici capite definire. Alterum est, cum
1 adscribant (G)
Über das Seiende und das Eine
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forschung der Eigenschaften Gottes allein zu), ob es außer dem Guten, das wie in einem Heer in der Allgemeinheit des Seienden ist, auch ein abgetrenntes Gutes wie in einem Führer dieses Heeres gibt; und er stellt fest, daß es das gibt, daß das Gute Gott ist, dessen Einheit er folglich in demselben Kapitel beweist, und er zitiert nach überzeugenden Argumenten zum Beleg | den Satz von Homer: »Nur einer sei Führer, nur einer König.«46 Wo also irrt, wo widerstreitet Aristoteles dem Platon? Wo ist er ungläubig? Wo denkt er über Gott weniger ehrfurchtsvoll als nötig?
fünftes kapitel Wieso schreiben die Peripatetiker vieles Gott zu, was die Platoniker ablehnen, und wie steigt man über die vier Stufen47 zu dem dichten Gewölk48 auf, wo Gott wohnt? Widerlegen wir nun die Argumente der Platoniker, mit denen sie, nicht in dem Sinne, daß wir zustimmen, sondern gegen Aristoteles behaupten, das Eine sei absolut höher als das Seiende.49 Wenn auch aus dem zuvor gesagten das erste Argument, wonach Gott eins aber nicht seiend ist, genug widerlegt ist, so mag es sich doch lohnen, weiter auszuholen, um zu zeigen, warum nicht nur von verschiedenen Autoren, etwa den Platonikern und den Aristotelikern, sondern oft von denselben Autoren Gott vieles mit Recht sowohl zugeschrieben als auch abgesprochen wird. Gott ist alles und in ganz hervorragender und vollkommener Weise alles. Er wäre das nicht, würde er nicht in sich die Vollkommenheiten aller Dinge so einschließen, daß er alles, was in den Dingen Unvollkommenheit ausmacht, ausschließt. Alles, was – bei dem was existiert – das Merkmal ‹unvollkommen› trägt, können wir in zwei Ty-
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De ente et uno
quid in re est quod in genere illius rei minus perfectum est, alterum cum perfectum suo quidem in genere est, sed ideo non simpliciter perfectum, quoniam unius tantum generis perfectionem habet, et multa sunt extra ipsum genera suis perfectionibus honestata quae in illo non1 includuntur. Exemplum pri | mi: cognitio sensualis non ideo solum imperfecta est quia cognitio tantum est et non est appetitio, sed quia et imperfecta cognitio est, tum quia organo eget bruto et corporali, tum quia extrema solum attingit rerum, ad intima, idest ad substantiam, non pervadit. Cognitio item humana quae rationalis dicitur, imperfecta cognitio est, quia vaga, incerta, mobilis, laboriosa. Adde intellectualem cognitionem mentium divinarum, quas theologi vocant angelos, et ipsa etiam imperfecta cognitio est, vel ob id saltem quod extra se querit quod intra se scilicet plene non possidet, hoc est veritatis lucem qua eget et qua perficitur. Accipe vitam. Vita ea quae est in plantis immo quae in omni corpore est, non | ideo solum imperfecta quia vita est tantum et non cognitio, sed quia non pura vita, potius autem vivificatio quaedam ab anima in corpus derivata, semper fluens, semper admixta morti, magis denique mors vocanda quam vita. Incipimus enim, si forte nescis, tunc mori cum primum incipimus vivere et mors cum vita protenditur tuncque primum desinimus mori cum a corpore mortis hujus per carnis mortem absolvimur2. 3 Eadem ratio in ceteris. Cum ergo Deum cognoscentem, Deum
1 om.: in illo includuntur (B. 1496; Ba. 1572) 2 absolvimus (Ba. 1572) 3 om.: absolvimur. Eadem (H) absolvimur. Sed…dilaberetur. Eadem (Ba. 1572; G)
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pen unterscheiden. Einmal, wenn etwas in einer Sache ist, was in der Gattung dieser Sache weniger vollkommen ist, zum anderen, wenn es in seiner Gattung zwar vollkommen ist, aber damit nicht schlechthin vollkommen, weil es nur die Vollkommenheit einer Gattung hat, und es außer ihm viele Gattungen mit ihrer je eigenen Vollkommenheit gibt, die in ihr nicht inbegriffen sind.50 Ein Beispiel für das erste: | Die sinnliche Erkenntnis51 ist nicht allein von daher unvollkommen, daß sie nur Erkenntnis und nicht auch Anverwandlung ist, sondern auch, weil sie unvollkommene Erkenntnis ist, einerseits indem sie ein tierisches und körperliches Organ braucht, andererseits da sie nur das ganz Äußere der Dinge berührt und an das Innerste, an die Substanz nicht herankommt. Menschliche, rationale Erkenntnis ist zudem unvollkommene Erkenntnis, weil sie ungefähr, unsicher, veränderlich und mühsam ist. Nimm hinzu, daß auch sogar die intellektuelle Erkenntnis der göttlichen Geister, theologisch Engel genannt, unvollkommene Erkenntnis ist, und zwar weil sie außer sich sucht, was sie in sich nämlich nicht gänzlich besitzt, nämlich das Licht der Wahrheit, das sie braucht und durch das sie vervollkommnet wird. Oder das Leben: das Leben in den Pflanzen, sogar in jedem Körper, ist nicht allein von daher unvollkommen, daß es nur Leben, und nicht Erkenntnis ist, sondern auch weil es nicht reines Leben ist, vielmehr doch eine in den Körper eingeführte Belebung durch die Seele, immer flüchtig, immer mit Tod vermischt, eher Tod zu nennen als Leben.52 Bekanntlich beginnen wir zu sterben, sobald wir zu leben anfangen,53 der Tod zieht sich mit dem Leben hin, bis wir aufhören zu sterben, sobald wir vom Todeskörper durch den Tod des Fleisches erlöst werden. Doch auch das Leben der Engel ist nicht vollkommen, wenn der lebendigmachende göttliche Lichtstrahl es nicht beständig hegen würde, zerfiele es gänzlich ins Nichts. Das gilt für alles. Wenn man also Gott als er-
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De ente et uno
viventem facis, illud primum attende ut vita et cognitio quae illi ascribitur his omnibus detrimentis libera intelligatur. Sed non hoc satis. Restat enim altera imperfectio cujus exemplum hoc. Concipe vitam perfectissimam, quae scilicet tota sit vita et pura vita nihil habens mortale, nihil mortis admixtum, quae nullo egeat extra se per quod duret stabilis et permaneat. Concipe item cognitionem qua et omnia et simul perfectissime co | gnoscantur; adice et hoc cognoscentem scilicet in se omnia haec cognoscere, ut non extra se querat veritatem quam cognoscat sed ipse ipsa sit veritas. Adhuc horum utrumque quamquam suo in genere perfectissimum et tale ut extra Deum esse non possit, sic tamen acceptum et ab invicem distinctum Deo indignum est. Deus enim omnimoda et infinita perfectio est, sed non ideo tantum omnimoda et infinita quia omnes particulares perfectiones atque infinitas tales in se comprehendat. Tunc enim neque ipse esset simplicissimus neque infinita essent quae in eo sunt, sed esset infinitum unum ex multis infinitis numero, finitis autem perfectione collectum; quod aut dicere aut cogitare de Deo prophanum est. At vero si vita quae | perfectissima quidem vita est, sed vita est tantum et non est cognitio, itemque si appetitio sive voluntas quae perfectissima quidem voluntas, sed voluntas tantum et non vita neque cognitio est, similiaque alia in Deo collocentur, manifeste futurum est ut divina vita finitae sit perfectionis, quoniam eam habet perfectionem quae vitae est, non habet eam quae cognitionis, quae appetentiae. Tollamus
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kennenden, als lebenden versteht,54 muß man zuerst darauf achten, daß das ihm zuzuschreibende Leben und Erkennen als von all diesen Einschränkungen frei erkannt wird.55 Das genügt aber noch nicht. Es bleibt noch die zweite Unvollkommenheit, dafür ein Beispiel: Stelle Dir ein ganz vollkommenes Leben vor, das ganz und rein Leben ist und nichts Sterbliches, nichts vom Tod beigemischt hat und nichts außer sich braucht, wodurch es beständig dauert und bleibt. Stelle Dir ferner eine Erkenntnis vor, durch die alles und zugleich ganz vollkommen erkannt wird. | Füge hinzu, daß der Erkennende das alles in sich erkennt, so daß er die Wahrheit nicht außer sich sucht, damit er sie erkennt, sondern daß er selbst die Wahrheit ist. Also, obwohl beide in ihrer Art ganz vollkommen sind und so, daß sie außerhalb von Gott nicht sein können, sind sie jeweils so, wie sie konzipiert und voneinander verschieden sind, Gottes nicht würdig. Denn Gott ist die allseitige und unendliche Vollkommenheit, aber nicht bloß deshalb allseitig und unendlich, weil er alle besonderen als solche unendlichen Vollkommenheiten einschließt, dann wäre er selbst nicht ganz einfach, noch wäre das, was in ihm ist, unendlich, sondern er wäre ein unendliches aus zahlenmäßig unendlich vielen, an Vollkommenheit aber endlichen, zusammengestelltes Eines; das aber von Gott zu sagen oder zu denken, wäre gottlos. Wenn man nun aber das Leben, das zwar vollkommenstes Leben, aber doch nur Leben ist und nicht Erkenntnis, ebenso wenn man das Streben oder den Willen, der zwar vollkommenster Wille, aber bloß Wille und nicht Leben noch Erkenntnis ist, – wenn man dies und dergleichen in Gott annimmt, dann kommt offensichtlich heraus, daß das göttliche Leben von endlicher Vollkommenheit ist, insofern es die dem Leben eigene Vollkommenheit hat, nicht aber die der Erkenntnis noch des Strebens. Heben wir also vom Leben nicht nur, was
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ergo a vita, non id solum quod eam imperfectam vitam facit, sed quod facit eam vitam tantum, et a cognitione1 similiter aliisque nominibus quibus Deum appellamus; tuncque2 quod | ex omnibus remanebit necessario tale erit quale Deum intelligi volumus, unum scilicet, perfectissimum, infinitum, simplicissimum. Et quoniam vita ens quoddam est, sapientia item ens quoddam, pariterque [et] 3 justitia particulare ens quia scilicet justitia non sapientia 4, utique si particularitatis et terminationis5 conditionem his adimas, quod supererit non hoc aut illud ens erit sed ipsum ens, sed simpliciter ens, sed universale ens non praedicationis universalitate sed perfectionis. Similiter sapientia bonum quoddam est, quia hoc scilicet bonum quod est sapientia, et non est illud bonum quod est justitia. »Tolle«, ut inquit Augusti | nus, »hoc«, »tolle illud« idest particularem hanc tolle limitationem per quam sapientia ita est bonum quod est sapientia, quod non est bonum quod est justitia. Pariterque justitia sic habet justitie bonitatem ut non habeat eam quae est sapientiae. »Tuncque 6 in aenigmate« faciem Dei videbis, idest omne bonum, ipsum bonum, simpliciter bonum, omnis boni bonum.7 Ita vita sicut ens quoddam est, ita est unum quoddam. Est enim perfectio una pariterque sapientia perfectio una est. Abice particularitatem, remanet | non hoc aut illud unum, sed ipsum unum et simpliciter unum. Cum ergo Deus ille sit qui ut a principio dicebamus ablata omnium imperfectione omnia est, certe cum a rebus omnibus et quae sub suo genere imperfectionem et sui generis particularitatem abdicaveris, id quod remanet Deus est. Deus ergo ipsum ens, ipsum unum, ipsum bonum similiter et ipsum verum.
1 et cognitionem wurde korrigiert zu a cognitione (H) 2 tumque (G) 3 pariterque justitia (G) 4 om.: pariterque justitia, utique (Ba. 1572; G) 5 terminationum (G) 6 Tumque (G) 7 omne bonum ipsum, bonum simpliciter, bonum omnis boni bonum (T; G)
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es zu einem unvollkommenen Leben macht, auf, sondern auch, was es zu bloßem Leben macht, und heben wir das dementsprechende von der Erkenntnis und den anderen Namen, mit denen wir Gott nennen, auf, was von allem übrig bleibt, das wird dann notwendig von der Art sein, wie wir Gott erkennen wollen, nämlich als eines, vollkommenstes, unendliches, einfachstes. Und weil Leben ein Seiendes ist, ebenso Weisheit, desgleichen Gerechtigkeit ein besonderes Seiendes, weil Gerechtigkeit ja nicht Weisheit ist, bleibt nicht dieses oder jenes Seiende übrig, wenn man überall den Zustand der Besonderheit und Begrenzung aufhebt, sondern das Seiende selbst, das Seiende einfachhin, das allgemeine Seiende mit der Allgemeinheit nicht der Zuschreibung, sondern der Vollkommenheit. Ähnlich ist die Weisheit ein gewisses Gut, weil es dasjenige Gute ist, das Weisheit ist, und nicht das, das Gerechtigkeit ist. Augustinus sagt56, | »nimm dies weg, nimm das weg«, also hebe die besondere Begrenzung auf, dank derer die Weisheit das Gute als Weisheit ist, welches nicht das Gute als Gerechtigkeit ist (entsprechend hat die Gerechtigkeit das Gute der Gerechtigkeit, so daß sie nicht das der Weisheit hat), dann siehst Du das Antlitz Gottes in einem Gleichnis, nämlich das ganze Gute, das Gute selbst, das schlechthin Gute, »das Gute alles Guten«57. So auch das Leben: so wie es ein Seiendes ist, so ist es auch ein Eines.58 Denn es ist eine Vollkommenheit, und gleicherweise ist die Weisheit eine Vollkommenheit. Lege die Besonderheit ab, und es bleibt nicht dies oder das eine, sondern das Eine selbst und einfachhin Eine. Wenn also Gott wie anfangs gesagt unter Aufhebung jeder Unvollkommenheit alles ist, dann ist das, was bleibt, wenn man von allen Dingen die Unvollkommenheit der zugehörigen Gattung und die Besonderheit der Gattung ausgeschaltet hat, ganz gewiß Gott. Also ist Gott das Seiende selbst, das Eine selbst, entsprechend das Gute selbst und das Wahre selbst.59
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De ente et uno
Duos jam gradus promovimus ad caliginem ascendentes quam Deus inhabitat, a divinis nominibus omnem purgantes maculam quae ex rerum est significatarum imperfectione. Adhuc duo supersunt gradus quorum alter nominum arguit deficientiam, alter nostrae intelligentiae accusat infirmitatem. Haec enim nomina, ens, verum, unum, bonum, concretum quid dicunt et quasi participatum. Quare rursus dicimus Deum super ens, super verum, super unum, super bonum esse quia scilicet ipsum esse est, ipsa veritas, ipsa unitas, ipsa bonitas. Verum adhuc in luce sumus; Deus autem posuit tenebras latibulum suum; ad Deum ergo nondum perventum est. Donec enim quod de Deo dicimus et intelligimus et comprehendimus in luce versari dicimur et tanto minora 1 Deo et loquimur et sentimus quanto infinita sua divinitate capacitas nostrae intel | ligentiae minor est. Ad quartum igitur gradum conscendentes intremus ignorantiae lucem et divini splendoris caligine exoculati clamemus cum Propheta »Defeci in atriis tuis, domine«, hoc unum de Deo postremo dicentes esse ipsum inintelligibiliter2 et ineffabiliter super id omne quod nos de Deo perfectissimum vel loqui possumus vel concipere, tunc super ipsam etiam quam conceperamus unitatem, bonitatem, veritatem superque ipsum esse Deum eminentissime collocantes. Huc respiciens Dionysius Ariopagita post ea omnia quae in Symbolica Theologia, in | Theologicis institutionibus et quae De Divinis Nominibus et De Mystica scripserat Theologia, postremo in calce ejusdem libri quasi qui jam in caligine esset et, ut poterat, de Deo sanctissime loqueretur sic post quaedam alia ad idem attinentia exclamavit: »Neque veritas est neque regnum neque sapientia neque unum neque unitas
1 om.: minora Deo (H) minora de Deo (Ba. 1572; G) 2 intelligibiliter (B. 1496; Ba. 1572)
Über das Seiende und das Eine
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Zwei Stufen auf dem Weg zu dem dichten Gewölk, in dem Gott wohnt, haben wir schon erreicht, indem wir jeden Makel aus der Unvollkommenheit der bezeichneten Dinge von dem göttlichen Namen abgewaschen haben. Bleiben noch zwei Stufen, von denen die eine die Schwäche von Namen anzeigt, die andere die Schwäche unserer Erkenntnis bloßlegt. Namen wie »seiend«, »wahr«, »eins«, »gut« bezeichnen etwas konkretes und irgendwie anteiliges, weshalb wir umgekehrt sagen, Gott sei überseiend, überwahr, übereins, übergut, da er ja das Sein selbst ist, die Wahrheit selbst, die Einheit selbst, die Güte selbst. Aber bis hier sind wir im Licht. Jedoch Gott »machte dichtes Gewölk zu seinem Zelt«.60 So sind wir noch nicht bei Gott angelangt. Denn solange wir verstehen und begreifen, was wir über Gott sagen, solange verweilen wir noch im Licht; und um soviel kleiner die Kapazität | unseres Verständnisses im Verhältnis zu seiner unendlichen Göttlichkeit ist, um so viel geringeres sagen und denken wir von Gott. Steigen wir also zum vierten Grad auf, treten wir in das Licht der Unwissenheit und rufen wir, vom Dunkel (caligo) des göttlichen Glanzes geblendet, mit dem Propheten: »Ich bin schwach geworden in Deinen Vorhöfen, Herr«61; sagen wir schließlich über Gott nur dies eine, daß er selbst unerkennbar und unaussprechlich über all dem ist, was wir als vollkommenstes über ihn sagen oder konzipieren können, und setzen wir Gott somit auch in ganz hervorragendem Sinne über die Einheit, Güte, Wahrheit, wie wir sie aufgefaßt hatten, und über das Sein selbst. Im Hinblick darauf rief Dionysius Areopagita nach allem, was er in seiner Symbolischen Theologie, den Theologischen Institutionen sowie in Die göttlichen Namen und Die mystische Theologie geschrieben hatte, am Ende des letzten Buches – als wäre er schon in Umnachtung (caligine)62 und spräche schon so heiligmäßig wie möglich von Gott – unter anderem aus: »Er ist weder Wahrheit noch Reich, noch Weisheit, noch Eines, noch
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neque deitas aut bonitas neque spiritus est quantum scire ipsi possumus, neque filii neque patris est denominatio, neque aliud aliquid ex his quae nobis aut alteri cuiquam1 in mundo sunt cognita, | neque aliquid eorum quae non sunt, neque eorum quae sunt est, neque ea quae sunt illam sciunt, sicut ipsa est, neque scit ipsa quae sunt sicuti sunt, neque sermo ipsius est, neque nomen neque scientia neque tenebre neque lux est; neque error neque veritas neque est ipsius ulla omnino positio neque ablatio.« Haec vir ille divinus ad verbum. Recolligamus quae diximus videbimusque in primo nos gradu discere Deum non esse corpus, ut Epicurei, neque formam corporis, ut illi volunt qui Deum asserunt animam esse caeli vel universi, quod et Egyptii, ut scribit Plutar |chus existimarunt et Varro Theologus Romanus, unde utrisque magnum fomentum idololatriae2 ut alibi declarabimus. Sed et quidam sunt ex Peripateticis adeo stolidi ut hanc et veram et Aristotelis sententiam esse confirment. Vide quantum a vera hi Dei cognitione deficiunt in carcere quasi in calce quiescentes et tunc se ad Dei fastigia credentes pervenisse cum humi adhuc jacentes pedem versus eum nondum moverunt. Sic enim nec perfecta Deus vita neque ens perfectum neque perfectus etiam esset intellectus. Sed profanam hanc opinionem quinta decade nostrae Concordiae late incessimus. Discimus in secundo gradu quod pauciores recte assequuntur et in quo falli possumus magis, si a vero intellectu paululum deviaverimus, Deum scilicet | nec esse vitam nec intellectum neque intelligibile, sed melius aliquid atque prestantius omnibus his. Nomina enim haec omnia particularem dicunt perfectionem qualis nulla in Deo est. Quod re-
1 cuique (G)
2 idolatriae (Ba. 1572; G)
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Einheit, noch Gottheit oder Güte, noch Geist, soweit wir wissen können; es gilt weder die Bezeichnung Sohn, noch Vater, noch irgend etwas anderes von dem, was wir oder andere in der Welt kennen; er ist auch weder etwas von dem, was es nicht gibt, noch was es gibt; auch was es gibt, kennt sie nicht, wie sie selbst ist, noch weiß sie selbst, was ist, so wie es ist; es gibt dafür weder Rede noch Namen, noch Wissenschaft; es ist weder Dunkel noch Licht, weder Irrtum, noch Wahrheit; es gibt von ihm weder Feststellung noch Tilgung;«63 das sagt dieser heilige Mann wörtlich. Vergegenwärtigen wir uns, was schon gesagt wurde, und stellen wir fest, daß wir auf der ersten Stufe lernen, Gott ist nicht Körper (wie beim Epikureer) noch Form eines Körpers, wie die annehmen, die behaupten, Gott sei die Seele des Himmels oder Universums (das glaubten laut Plutarch64 auch die Ägypter | und der römische Theologe Varro65, woraus bei beiden die Idolatrie gefördert wird, darüber an anderer Stelle). Doch es gibt auch Peripatetiker, die so dumm sind, daß sie diese These für wahr und aristotelisch halten. Sieh nur, wie weit sie von der wahren Erkenntnis Gottes entfernt sind; sie sitzen sozusagen an der Startlinie fest und glauben sich schon am Ziel Gottes angekommen, während sie am Boden sitzen und noch keinen Fuß zu ihm hinbewegt haben. So wäre Gott weder das vollkommene Leben noch das vollkommene Seiende, noch auch vollkommene Einsicht. Aber diese profane Meinung habe ich in der fünften Dekade meiner Übereinstimmung zwischen Aristoteles und Platon ausführlich attackiert. Auf der zweiten Stufe lernen wir, was wenige Menschen richtig erreichen und wo wir eher irren können, wenn wir nur ein bißchen vom wahren Verständnis abweichen, daß nämlich Gott weder Leben noch Intellekt66 noch das Erkennbare ist, sondern etwas besseres und hervorragenderes als all dies. Diese Namen besagen nämlich alle eine besondere Vollkommenheit, wie keine in Gott ist. Im Hinblick
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spicientes et Dionysius et deinde Platonici in Deo et vitam et intellectum et sapientiam atque his similia esse negant. Sed quoniam totam horum perfectionem quae in his multa et divisa est Deus ipse unica sua1 perfectione, quae est sua infinitas, sua deitas quae ipse est, in se unit et colligit non sicut unum ex illis multis sed unum ante illa multa, et principium illorum et causa2, ideo quidam alii, et praesertim Peripatetici quos quantum licet fere in omnibus imitantur Parisienses theologi, haec omnia in Deo esse concedunt. Quod dicentes atque credentes non solum recte dicimus et credimus sed3 et cum his concorditer qui illa negant, si illud nobis semper Aurelii Augustini fuerit ante oculos, sapientiam Dei non plus esse sapientam quam justitiam et justitiam Dei non plus esse justitiam quam sapientiam vitamque pariter non potius in eo esse vitam quam cognitionem nec cognitio | nem magis cognitionem quam vitam. Omnia enim haec in Deo sunt unum non per confusionem aut commixtionem4 aut quasi distinctorum mutuam penetrationem, sed per simplicem summam ineffabilem fontalem unitatem, in qua omnis actus, omnis forma, omnis perfectio, 5 in6 penitissimis divinae infinitatis tesauris ita super7 omnia et extra omnia eminenter8 est conclusa, ut sit tamen non solum omnibus intima, sed magis unum cum omnibus quam ipsa sint secum. Deficiunt profecto verba et minus omnino dicitur etiam quam concipitur. Sed vide, mi Angele, quae nos insania teneat. Amare Deum dum sumus in | corpore plus possumus quam vel eloqui vel cognoscere. Amando plus nobis proficimus, minus laboramus, illi magis obsequimur. Malumus tamen semper querendo per cognitionem numquam invenire quod querimus, quam aman1 sua unica (G) 2 om.: multa, ideo (Ba. 1572; G) 3 om.: credimus et (G) credimus sed et (F) 4 commistionem (G) 5 om.: perfectio in penitissimis (H) perfectio sicut…duce (Ba. 1572; G) 6 om.: duce penitissimis (G) 7 supra (G) 8 excellenter (G)
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darauf verneinen Dionysius und schließlich die Platoniker in Gott die Existenz von Leben, Intellekt, Weisheit und derartigem. Da aber Gott deren ganze Vollkommenheit, die in ihnen vielfach und geteilt ist, selbst in seiner einzigartigen Vollkommenheit, die seine Unendlichkeit ist, seine Göttlichkeit, die er selbst ist, in sich vereinigt und zusammenfaßt, nicht etwa als eines aus vielen, sondern als das eine vor jenem vielen und als deren Prinzip und Ursache, daher geben doch einige, und vor allem Peripatetiker, die soweit zulässig die Pariser Theologen67 in fast allem nachahmen, zu, daß es dies alles in Gott gibt. Indem wir das sagen und annehmen, haben wir nicht nur recht, sondern sind auch mit denen einig, die das alles ablehnen, solange wir immer vor Augen halten, was Augustinus gesagt hat, die Weisheit Gottes sei nicht mehr Weisheit als Gerechtigkeit,68 und die Gerechtigkeit Gottes sei nicht mehr Gerechtigkeit als Weisheit, und entsprechend sei das Leben bei ihm nicht eher das Leben als Erkenntnis, noch sei die Erkenntnis | mehr Erkenntnis als Leben.69 Denn all das ist in Gott eines nicht durch Vermengung, Vermischung oder wechselseitige Durchdringung von Verschiedenem, sondern durch eine einfache, höchste, unaussprechliche, ursprüngliche Einheit, in der jeder Akt, jede Form, jede Vollkommenheit in den innersten Schatzkammern der göttlichen Unendlichkeit so über und außer allem außerordentlich eingeschlossen ist, daß es doch nicht nur allen ganz innerlich ist, sondern mehr geeint ist mit allen als diese mit sich selbst. Die Wörter versagen völlig, und man sagt überhaupt weniger, als man versteht. Aber sieh, lieber Angelo, welcher Wahnsinn uns befällt. Wir können Gott mehr lieben als über ihn sprechen und wissen, solange wir im Körper sind. Indem wir lieben, nutzen wir uns mehr, haben wir weniger Mühe und gehorchen wir ihm mehr. Dennoch wollen wir vorzugsweise immer mittels Erkenntnis fragen70 und nie finden, was wir suchen,
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do possidere id quod1 non amando frustra et inveniretur. Sed redeamus ad nostra. Evidenter tibi jam patet quonam pacto, cum aliquando Deus2 et mens et intellectus et vita et sapientia nuncupetur, rursus aliquando super hec omnia collocetur, utrumque tamen et vere et consone comprobetur, nec propterea Platonem ab Aristotele dissentire quod ille in VI de Republica Deum quem ibi vocat ideam | boni super intellectus3 et intelligibilia statuat, dantem illis quidem ut intelligant, his autem ut intelligantur, hic autem scilicet Aristoteles sepe Deum et intellectum et intelligentem et intelligibile vocet4. Nam et Dionysius Areopagita5 cum idem dicat quod Plato, non tamen negabit et cum Aristotele Deum se ipsum et alia non ignorare. Quare si se intelligit et intellectus et intelligibilis est, cognoscit enim et cognoscitur necessario qui se | ipsum cognoscit. Et tamen si quasi particulares, ut dixi, has perfectiones accipiamus aut, cum intellectum dicimus, naturam significemus quae ad intelligibile quasi ad aliud extra se tendat, nihil minus quam Platonici Aristoteles etiam Deum et intellectum et intelligibile esse constantissime sit negaturus. In tertio gradu plus aliquod6 nobis dum tenebris propinquabamus illuxit, ut non solum non imperfectum et quasi mancum aliquod7 ens Deum impia cogitatione fingamus quale esset8 si vel corpus vel corporis anima vel constitutum ex eis animal diceretur; neque item particulare aliquod genus quamquam | perfectissimum quasi humana sapientes eum faciamus, ut si vel vitam dicamus vel mentem vel rationem; sed etiam eo quod universalia indicant nomina quae omnia ambiunt, uno scilicet vero, ente et bono melius esse cognoscamus.
1 id quod >&iam< gestrichen in (H) 2 Deus alias (G) 3 intellectum (G) 4 vocat (G) 5 om.: Dionysius cum (G) 6 aliquid (G) 7 aliquid (G) 8 >&iam< gestrichen in (H)
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als liebend das besitzen, was man ohne zu lieben doch vergeblich finden würde. Aber zurück zum Thema. Dir leuchtet schon ganz klar ein, auf welche Weise Gott, sofern er auch Geist, Intellekt, Leben und Weisheit genannt wird, unter Umständen über dies alles gesetzt wird, wie das beides richtig und zusammenhängend bewiesen wird, auch weißt Du, daß Platon nicht deshalb von Aristoteles abweicht, weil er im sechsten Buch der Politeia Gott, den er die Idee des Guten nennt, über die Intellekte und das Erkennbare stellt,71 damit er dem einen das Erkennen, den anderen das Erkanntwerden verleiht, während Aristoteles dagegen Gott oft Intellekt, Erkennender und Erkennbares nennt. Denn auch Dionysius Areopagita bestreitet, wenn er dasselbe sagt wie Plato, mit Aristoteles nicht, daß Gott sich selbst und anderes erkennt. Wenn er sich erkennt, dann ist er deshalb Intellekt und erkennbar, denn | wer sich selbst erkennt, erkennt natürlich und wird erkannt. Und doch, wenn wir diese Vollkommenheiten als besondere (wie oben gesagt) annehmen, wobei wir mit Intellekt die Natur meinen, die sich auf das Erkennbare als etwas außerhalb von sich richtet, dann bestreitet Aristoteles nicht weniger als die Platoniker beständig, daß Gott sowohl Intellekt als auch erkennbar ist. Auf der dritten Stufe hat uns vor allem die Einsicht geleuchtet, während wir uns dem Dunkel näherten, daß wir uns Gott nicht nur als kein unvollkommenes und irgendwie mangelhaftes Seiendes vorstellen dürfen (ein unfrommer Gedanke), was er auch wäre, wenn er Körper, Körperseele oder ein Lebewesen aus beiden sein sollte; auch sollen wir mit menschlicher Weisheit keine besondere Gattung, und sei sie noch so vollkommen, aus ihm machen, etwa Leben, Geist oder Vernunft; vielmehr sollen wir erkennen, daß er besser ist als alles, was universelle Namen, die alles umfassen, bezeichnen, nämlich »eines«, »wahres«, »seiendes« und »gutes«.
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In quarto gradu non solum supra illa sed supra omne nomen quod formari, supra omnem notionem quae concipi a nobis possit ipsum esse sciebamus, tunc primum ipsum aliquo modo scientes cum eum omnino nesciebamus. Ex quibus colligi illud potest non solum esse Deum, ut dicit Anselmus, quo nihil majus cogitari potest, sed id esse quod infinite majus est omni eo quod potest excogitari, ut vere dixerit juxta hebraicam litteram Davit propheta: »tibi silentium laus.« Haec pro solutione primae rationis dixerimus; unde magna etiam aperitur fenestra legitimae1 intelligentiae librorum Dionisii qui De Mystica Theologia et De Divinis Nominibus inscribuntur in quibus illud cavendum ne aut minora faciamus quam sunt quae ille scripsit (sunt autem | maxima) aut dum parvum existimamus omne quod intelligimus, somnia nobis et inextricabilia commenta confingamus.
caput sextum In quo secundam solvit rationem Platonicorum de prima scilicet materia.
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Quod vero obiciunt de prima materia frivolum est. Illa enim quatenus ens est, eatenus una est. Quin immo si Platonis sectari verba ad unguem volunt, concedant opportet entis2 illam habere magis rationem quam unius3. Neque enim Plato vult eam esse prorsus nihil, alioquin | quomodo receptaculum formarum, quomodo nutrix, quomodo natura quedam et reliqua erit, quae eam esse4 in Thimeo ille confirmat? Non est igitur nihil, idest non omnino entis expers, si 1 unlesbar (H) 2 >unius< gestrichen, korrigiert zu entis (H) 3 >entis< gestrichen, korrigiert zu unius (H) unius illam habere minus rationem quam entis (Ba. 1572; G) 4 om.: eam in (G) eam esse in (Ba. 1572)
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Auf der vierten Stufe wußten wir, daß er nicht nur über alle dem, sondern über jedem Namen,72 der gebildet, über jedem Begriff, der von uns gefaßt werden kann, ist; somit wußten wir erstmals in gewisser Weise etwas von ihm, als wir überhaupt nichts von ihm wußten. Daraus können wir schließen, daß Gott nicht nur – wie Anselm sagt73 – das ist, größer als das nichts vorstellbar ist, sondern das ist, das unendlich größer als alles ist, was vorgestellt werden kann, wie zu Recht der Prophet David im hebräischen Text sagt: »Schweigen ist Dir Lob.«74 Soweit also zur Widerlegung des ersten Arguments. Nun ist das Fenster weit offen zu einer richtigen Interpretation der Bücher des Dionysius Mystische Theologie und Die Namen Gottes, bei denen man sich hüten muß, entweder was er geschrieben hat geringer zu schätzen als es ist (ist es doch vom | Höchsten), oder weil wir alles unterschätzen, was wir verstehen, Phantasien und unentwirrbare Zusätze auszudenken.
sechstes kapitel Widerlegung des zweiten Arguments der Platoniker, nämlich der Ersten Materie Was sie wegen der Ersten Materie einwerfen, ist ziemlich leichtfertig. Sie ist nämlich soweit eine, wie sie seiend ist. Ja, wenn sie schon Platon genau aufs Wort folgen wollten, müßten sie zugeben, daß sie weniger dem Begriff des Einen als des Seienden entspricht. Denn Platon wollte auch nicht, daß sie gar nichts ist, denn wie könnte sie die Formen aufnehmen, wie könnte sie Ernährerin, eine Natur oder dergleichen sein, was er in Timaios feststellt?75 Also ist sie nicht nichts, ganz ohne Seiendes, wenn wir Platon glauben,
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Platoni credimus, qui tamen eamdem in Philebo vocat non solum multitudinem quae, ut ipsi volunt, opponitur uni sicut nihilum opponitur enti, sed infinitum. Multitudo autem si sit finita non omnino fugit rationes1 unius, quoniam, qua finita est, una est; at infinita multitudo ita omnino unius naturam non habet sicut nec termini. Materia ergo prima, secundum Platonem, magis ens quam una. Quam qui contra disputant ut unum ente superius comprobarent, ens non esse et tamen unum esse dicebant. Iamblicus item platonicus, in eo libro quem facit De Secta Pythagorica materiam primam vocat dualitatem eo quod dualitas prima sit multitudo et reliquarum omnium | multitudinum radix. Materia ergo prima secundum eum | qui magnus adeo inter Platonicos est, ut divinus vocetur, non solum non una sed multitudo, sed radix omnis quae in rebus multitudinis est. Haec diximus sua illis objectantes. Caeterum neque unitatis expers omnino est illa, sicut neque esse; exactam autem unitatem ab eadem a qua et esse recipit forma. Pretereo quae de unitate ejus vel affirmativa vel negativa disputantur; quae omnia his notissima qui vel unam cum Aristotele deambulatiunculam fecerint.
1 rationem (G)
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der sie doch im Philebos nicht nur Vielheit nennt (was ihrer Meinung nach dem Einen entgegengesetzt ist wie Nichts dem Seienden), sondern Unendliches.76 Vielleicht – wenn sie begrenzt ist – entzieht sie sich nicht ganz dem Begriff des Einen, insofern sie – als begrenzte – eine ist. Aber unendliche Vielheit hat soweit nicht die Natur des Einen, als sie keine Grenze hat. Also ist die Erste Materie nach Platon eher seiend als eine. Die Gegner, die beweisen wollen, daß das Eine höher ist als das Seiende, meinten, die Erste Materie sei nicht seiend, wohl aber eines.77 Auch der Platoniker Iamblichos nennt die Erste Materie eine Zweiheit (in seiner Schrift Die Pythagoreische Schule) und als Zweiheit die erste Vielheit und somit Wurzel aller folgenden Vielheiten.78 Nach diesem so bedeutenden Platoniker, | daß er der Göttliche genannt wird, ist die Erste Materie also nicht nur nicht eine, sondern Wurzel jeder Vielheit in den Dingen. Damit haben wir ihnen ihre eigenen Argumente entgegengehalten. Übrigens ist die Erste Materie weder ganz ohne Einheit noch ohne Sein. Von derselben Form empfängt sie genaue Einheit, von der sie auch das Sein empfängt. Ich übergehe alles, was über ihre positive und negative Einheit zu sagen ist, weil das allen gut bekannt ist, die auch nur ein kleines Stück mit Aristoteles spazieren waren.
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caput septimum In quo tertiam solvit rationem Platonicorum de multitudine ostenditque dicentibus unum esse ente communius aliquid esse concedendum quod Plato negat.
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Falluntur autem plurimum in tertia ratione. Non enim eo modo opponitur multitudo uni, quo modo opponitur non ens enti. Haec enim contradictoriam habent oppositionem; illa aut1 privativam aut contrariam, de qua re late disputat Aristoteles2 decimo libro Primae Philosophiae. Sed videant3 quas ruinas incidant, qui vocantur Platonici et unum dicunt ente superius. Certum est quotiens duo ita se habent genera ut sub altero tamquam sub communiori alterum sit, fieri posse ut aliquid inferioris ambitum effugiat, quod tamen non effugiat superioris. Hoc enim est quare illud dicitur esse communius. Exemplum in promptu, quia animal communius est homine, potest fieri ut aliquid sit non homo sive non sit homo, quod tamen sit animal. Pari ergo ratione, si sit unum ente com | munius, fieri poterit ut aliquid sit non ens sive nihil, quod tamen sit unum atque ita de non ente unum predicabitur: quod expresse in Sophista confutat Plato.
1 >at< gestrichen, korrigiert zu aut (H) 2 disputant Aristotelici (B. 1496) disputant Aristoteles (V. 1557) disputat Aristoteles (G; F) 3 videant quas (B. 1496; Ba. 1572) videant in quas (G)
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siebtes kapitel Widerlegung des dritten Arguments der Platoniker wegen der Vielheit. Wer sagt, das Eine sei etwas gemeinsameres als das Seiende, muß behaupten, was Platon ablehnt. Am meisten irren sie sich mit dem dritten Argument. Denn die Vielheit ist dem Einen nicht in derselben Weise entgegengesetzt wie das Nichtseiende dem Seienden.79 Das letztere ist ein kontradiktorischer Gegensatz, das erstere entweder ein privativer oder ein konträrer Gegensatz; darüber gibt es breite Ausführungen des Aristoteles im zehnten Buch der Metaphysik.80 Aber sie sollen sehen, in welche Probleme die geraten, die sich Platoniker nennen und das Eine für höher halten als das Seiende. Sicher ist, daß immer wenn zwei Gattungen sich so verhalten, daß die eine unter der anderen als der allgemeineren steht, dann möglicherweise dem Umfang der unteren entgeht, was dennoch dem Umfang der oberen nicht entgeht. Das ist es, warum sie »allgemeiner« heißt. Ein einfaches Beispiel: Es kann sein, daß etwas Nicht-Mensch ist, d. h. nicht Mensch ist und trotzdem Lebewesen, weil Lebewesen allgemeiner ist als Mensch. Aus demselben Grund könnte es sich ergeben, wenn das Eine | allgemeiner ist als das Seiende, daß etwas Nicht-Seiendes oder Nichts ist, was dennoch Eines ist, so daß man einem Nicht-Seienden das Prädikat »eines« gibt, was Platon im Sophistes ausdrücklich ablehnt.81
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c a p u t o c t av u m In quo declarat quomodo quattuor haec ens scilicet, unum, verum et bonum in omnibus sint quae sunt post Deum.
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Verissima ergo sententia est quattuor esse quae omnia ambiunt, ens, unum, verum et bonum, si ita accipiantur ut illorum negationes sint: nihil, divisum, falsum et malum. Addita sunt his quattuor duo alia aliquid scilicet et res a posterioribus Avicennam secutis qui multis in locis philosophiam Aristotelis interpolavit, unde sunt illi cum | Averroe magna bella pugnata. Sed quantum ad hoc spectat, parva in re discordia. Dividunt enim hi quod sub uno intelligitur in unum et aliquid, quod a Platone non abhorret qui in Sophiste inter has communissimas dictiones enumerat aliquid et quod sub ente continetur partiuntur in ens et res. Sed de his alibi. Quattuor haec, ut ceptum prosequamur, aliter sunt in Deo aliter in his quae sunt post Deum: quandoquidem haec Deus habet a se, alia habent ab eo. Videamus primo quomodo insunt rebus creatis. Omnia quae sunt 1 Deum habent causam efficientem, exemplarem et finalem. Ab ipso enim, per ipsum et ad ipsum omnia. Si igitur res consideramus ut a Deo efficiente constituuntur sic entia dicuntur quia illo efficiente esse participant. Si ut exemplari suo, quam vocamus ideam secundum | quam illas condidit Deus 2, quadrant et respondent, verae dicuntur. Vera enim imago Herculis dicitur, quae vero Herculi conformatur. Si ut ad eum tamquam ad finem ultimum tendunt, bonae dicuntur. Si ut una quaeque res
1 om. (H) sunt post Deum (Ba. 1572; G) 2 om. (H; B. 1496; R. 1506; Ba. 1572) Deus ens, unum…secuti addiderunt, quadrant (V. 1557)
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achtes kapitel Inwiefern gibt es die vier Prädikate seiend, eins, wahr, gut in allem, was Gott nachgeordnet ist? Es ist völlig richtig, daß es vier Prädikate gibt, die alles umfassen, nämlich seiend, eins, wahr, gut, und zwar in dem Sinne, daß ihre Gegensätze lauten: nichts, geteilt, falsch, böse.82 Schüler des Avicenna haben später diesen vier noch zwei weitere angefügt, nämlich etwas und Ding; Avicenna83 hat die Philosophie an vielen Stellen ergänzt, weswegen er mit Averroes großen Streit ausgefochten hat, aber in der Sache gibt es wenig Meinungsverschiedenheit. Sie teilen das, was unter den Begriff des Einen fällt, in »eins« und »etwas«, was nicht von Platon abweicht, der im Sophistes unter die allgemeinsten Begriffe »etwas« zählt.84 Was unter »seiend« fällt, teilen sie in »seiend« und »Ding«.85 Doch darüber an anderer Stelle. Also diese vier – um fortzufahren – sind anders in Gott als in dem, was Gott nachgeordnet ist, insofern Gott sie aus sich, die anderen sie von ihm haben. Sehen wir zuerst, wie sie geschaffenen Dingen eigen sind.86 Alles nach Gott hat eine wirkende, exemplarische und finale Ursache. Denn sie alle sind von ihm, durch ihn und auf ihn hin. Wenn wir also die Dinge betrachten, wie sie von Gott als Bewirkendem geschaffen sind, dann heißen sie Seiende, weil sie von ihm als Wirkenden des Seins teilhaftig sind. Wenn wir sie betrachten, wie sie seinem Modell passen und entsprechen, das wir die Idee nennen, nach der | Gott sie schuf (seiend, eins, wahr, gut, etwas, Ding – die beiden letzten haben die Schüler Avicennas hinzugefügt), heißen sie wahr.87 Das wahre Bild des Herkules nennt man das, das dem Herkules nachgebildet ist. Wenn wir die Dinge betrachten, wie sie auf ihn als das letzte Ziel hingeordnet sind, heißen sie gut. Wenn aber jedes einzel-
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secundum se absolute accipitur, una cognominatur. Est autem hic ordo ut | primum unumquodque sub entis ratione concipiatur. Quoniam prius efficit agens unumquodque quam illud in se sit aliquid, alioquin non secundum totum quod est esset ab agente. Quo fit ut nihil sit post Deum quod concipientes 1 hoc de eo non intelligamus quod est ens ab alio; ens finitum 2 ens participatum. Succedit enti unum. Tertia est veritas quia postquam est aliquid in se, videndum est an sit tale quale est exemplar ad quod fuit formatum. Cui si | simile invenitur, reliquum ut in illud utpote3 affine atque cognatum per bonitatem se convertat. Equali autem haec esse ambitu quis non videat? Da aliquid esse, certe et unum est. Nam qui unum non dicit nihil dicit, ut ait Plato in Sophiste. Est enim illud quicquid est a se, indivisum et ab aliis divisum quae non sunt ipsum. Hoc autem intelligimus cum dicimus unum, sive, ut Platonis verbis loquamur »est idem sibi et ab aliis alterum.« Quod unicuique rei congruere in eodem dialogo ipse confirmat. Verum etiam necessario est4. Nam si est homo utique verus est homo, idemque dictu hoc non esse verum aurum et non esse aurum. Nam cum dicis »verum aurum non est«, hoc significas »videtur quidem aurum et est aliquid simile auro, sed non est aurum.« Propterea Aurelius Augustinus definiens in Soliloquiis quid sit verum ait »verum | est id quod est«, quod non ita accipi debet ut idem sit ens et verum, sunt licet re5 idem, ratione tamen et definitione6 diversa, quare unum per aliud definiri7 non debet; sed hoc exprimere voluit Augustinus: tunc dici rem veram cum est id quod vocatur et esse dicitur, ut tunc
1 >de eo< gestrichen (H) 2 om. (H; B. 1496, Ba. 1572) ens finitum est ens participatum (V. 1557; G) 3 ut pote (H) 4 est etiam necessario (G) 5 licet se idem (G) 6 diffinitione (G) 7 finiri (G)
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ne Ding an sich und absolut genommen wird, heißt es eins. Das aber ist die Ordnung,88 daß jedes zunächst unter dem Begriff des Seienden gefaßt wird, denn ein Wirkendes bewirkt jedes einzelne, bevor es in sich etwas ist, sonst wäre es nicht in allem, was es ist, vom Bewirkenden abhängig. Daher kommt es, daß es nach Gott nichts gibt, was wir nicht so begreifen, daß es von einem anderen abhängt: ein endliches ist ein teilhaftiges Seiendes. Dem Seienden folgt das Eine. Das Dritte ist die Wahrheit, denn nachdem es etwas in sich ist, ist zu sehen, ob es genau so ist wie das Modell, nach dem es geschaffen wurde: wenn es dann ihm ähnlich ist, bleibt nur, daß es sich auf jenes, weil es ihm nah und verwandt ist, durch Güte zuwendet. Wer sieht nicht, daß sie an Umfang gleich sind? Nimm irgend ein Seiendes, es ist gewiß auch eines.89 Denn wer eines nicht sagt, sagt nichts, so Platon im Sophistes.90 Denn alles, was für sich ist, ist ungeteilt und von den anderen, die nicht es selbst sind, getrennt; das aber verstehen wir, wenn wir eins sagen, oder mit Platons Worten: »Es ist sich selbst identisch und von anderen verschieden«91, und er stellt in demselben Dialog selbst fest, daß dies für jedes einzelne Ding gilt. Es muß auch notwendig wahr sein. Denn wenn es ein Mensch ist, ist es unbedingt auch ein wahrer Mensch. Es ist dasselbe zu sagen, dies sei kein wahres Gold, und es sei kein Gold. Denn wenn man sagt: »Das ist kein wahres Gold«, gibt man an: »Es sieht zwar aus wie Gold und ist etwas ähnliches wie Gold, aber es ist kein Gold.« Deshalb definiert Augustinus in den Soliloquia, was wahr ist, indem er sagt: »Wahr | ist das, was ist.«92 Das darf man nicht so verstehen, als sei seiend und wahr dasselbe, denn sie sind wohl der Sache nach identisch, dem Begriff und der Unterteilung nach verschieden, weshalb das eine nicht durch das andere definiert werden darf; vielmehr wollte Augustinus ausdrücken: Man sagt dann, eine Sache sei wahr, wenn sie das ist, als was sie bezeichnet wird, und was sie angeb-
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verum est aurum cum aurum est et non aliud est quam aurum. Hoc est ergo quod dixit: »verum est id quod est.« Quod quidam non advertentes, calumniam faciunt definitioni1. Similiter autem et bonum est, quia quicquid est quatenus est, bonum est. Et longe errat Olympiodorus, mea quidem sententia, sic se2 credens probare aliud esse bonum et ens, quoniam bonum simpliciter desideramus, non autem esse simpliciter, sed bene esse ideoque fieri posse ut si male sit nobis, non esse desideremus. Nam ut illud omittamus an quibus male et misere est, recto et naturali desiderio appetere possunt ut non sint, non advertit ille, sicut multiplex est esse, ita | multiplicem esse bonitatem. Est enim primo esse naturale rerum ut homini esse hominem, leoni esse leonem, lapidi esse lapidem, quod esse et naturalis bonitas individue sequitur. Sunt alia esse quae adventicia dici possunt ut homini esse sapientem, esse pulchrum, esse sanum. Quemadmodum autem sapientia et pulchritudo alia entia sunt ab humanitate, ita alia bona sunt. Aliud enim bonum humanitatis3 qua homo est homo, aliud bonum sapientiae4, qua non jam homo sed homo sapiens evadit, sicut et haec aliud et illa aliud ens et est et dicitur. Sicut ergo omnia appetunt bonum ita omnia appetunt esse. Et primo quidem eam appetunt bonitatem quae esse naturale consequitur, quoniam haec fundamentum est5 sequentium bonitatum quae ita 6 illi omnes adveniunt ut sine illa | stare non possint; quomodo enim erit felix qui omnino non erit? Verum non illa eis sufficit bonitas quam tunc adipiscuntur cum primum sunt, sed cupiunt accedere et reliquas quae il-
1 diffinitioni (G) 2 sic credens (G) 3 humanitas (G) 4 sapientia (T; G) 5 om.: fundamentum sequentium (Ba. 1572; G) 6 om.: quae illi (Ba. 1572; G)
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lich ist; so wie etwas dann wahres Gold ist, wenn es Gold ist und nichts anderes. Das ist es also, was der Spruch sagt: »Wahr ist das, was ist.« Weil einige das nicht bemerken, schimpfen sie über die Definition.93 Ähnlich verhält es sich mit dem Guten. Denn alles, was ist, ist gut, insofern es ist. Meines Erachtens irrt sich Olympiodor94 sehr, wenn er glaubt, er würde beweisen, gut sei etwas anderes als seiend, weil wir das Gute einfachhin wünschen, nicht aber das Sein einfachhin, sondern das Gutsein, und daher komme es vor, daß wir, wenn wir etwas schlechtes haben, wünschen, es sei nicht. Denn wenn wir auch beiseite lassen, ob diejenigen, denen es schlecht geht, mit einem richtigen und natürlichen Wunsch wollen können, nicht zu sein, so merkt Olympiodor nicht, daß die Güte so vielfältig ist, wie das Sein vielfältig ist. Zunächst gibt es das natürliche Sein der Dinge, wie Menschsein für den Menschen, Löwesein für den Löwen, Steinsein für den Stein; auf dieses Sein folgt auch jeweils die natürliche Güte. Es gibt anderes Sein, das man »zusätzlich« nennen kann, wie weise sein, schön sein, gesund sein für den Menschen. Wie aber Weisheit oder Schönheit etwas anderes sind als Menschheit, so sind sie auch andere Güter. Ein Gut ist nämlich die Menschheit, durch die der Mensch Mensch ist, ein anderes Gut ist Weisheit, wodurch nicht gerade ein Mensch, sondern ein weiser Mensch hervorgeht, so wie dies und jenes verschiedenes sind und heißen. So wie alle Dinge Gutes anstreben, so streben alle Sein an, und zuerst streben sie die Güte an, die dem natürlichen Sein folgt, denn sie ist die Grundlage aller nachfolgenden Güten, die ihm alle so zukommen, daß sie ohne sie | nicht auskommen können. Wie soll auch jemand glücklich sein, der überhaupt nicht existiert? Aber die Güte, die sie sofort bekommen, wenn sie sind, genügt ihnen nicht, sondern sie streben auch zu den übrigen hin, damit sie die erste ab-
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lam primam absolvant et exornent. Sicut autem vere dicimus praeter primam ab eis bonitatem alias appeti bonitates, ita vere dicere possumus praeter primum esse desiderari ab eis alia esse, quia aliud esse1 est esse felicem aliud esse hominem; et si quis det fieri posse ut quis nolit esse si non sit felix, non sequetur, ut putat Olympiodorus, aliud esse bonum, aliud ens, sed aliud esse ens hominem, aliud felicitatem, pariterque aliam hominis bonitatem, aliam felicitatis | quarum alteram, idest primam, homo non vult nisi habeat et secundam. Omitto an eadem ratione aliquid bonum simpliciter dicatur et ens simpliciter, an quod ens dicitur simpliciter, bonum tale, et quod bonum simpliciter ens tale dicatur. Non enim hic omnia disputandi locus. Vere ergo dicebamus unum quodque quod est eatenus esse bonum | quatenus est. »Vidit enim Deus cuncta quae fecerat et erant valde bona.« Quid ni? A bono opifice sunt qui sui similitudinem omnibus imprimit quae sunt ab ipso. In entitate igitur rerum admirari2 potentiam efficientis possumus Dei; in veritate venerari artificis sapientiam, in bonitate redamare amantis liberalitatem; in unitate suspicere3 conditoris unificam4, ut sic dixerim, simplicitatem quae unumquodque sibi, tum omnia inter se invicem, tum ad se ipsum univit omnia, sic unumquodque ad suimet5, ad aliorum, ad Dei postremo vocans amorem. Examinemus et eorum opposita, an equali similiter ambitu sint. Falsum et nihil idem esse ostendunt, quae supra diximus. Malum et nihil si differre dicamus, reclamabunt
1 om.: aliud est esse (Ba. 1572; G) 4 unicam (G) 5 sui met (H)
2 admirare (G)
3 suscipere (G)
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lösen und ausschmücken. Wie wir richtig sagen, daß von den Dingen außer der ersten Güte andere Güten angestrebt werden, so können wir auch richtig sagen, daß außer dem Ersten Sein andere Sein gewünscht werden, weil Glücklichsein ein anderes Sein ist als Menschsein. Und wenn jemand einwendet, es sei unmöglich, daß jemand nicht sein will, wenn er nicht glücklich ist, dann folgt daraus nicht – wie Olympiodor meint –, Gutsein und Sein sei Verschiedenerlei, sondern, daß Seiendes als Mensch und als Glück Verschiedenerlei sind, und dementsprechend verschieden die Güte des Menschen und die des Glücks, von denen der Mensch die erstere nicht will, wenn er die zweite nicht hat.95 Ich übergehe die Frage, ob etwas in demselben Sinne einfachhin gut und einfachhin seiend heißen kann, ob was einfachhin seiend heißt, ein bestimmtes Gut ist, und was einfachhin gut heißt, ein bestimmtes Seiendes ist. Hier kann nicht alles diskutiert werden. Also sagten wir richtig, daß jedes einzelne, das ist, soweit es ist, auch gut ist. »Gott sah alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut.«96 Also? Von einem guten Schöpfer stammt es, der allem, was von ihm ist, die Ähnlichkeit mit sich einprägt. Im Wesen der Dinge können wir die Macht des bewirkenden Gottes bewundern, in der Wahrheit die Weisheit des Schöpfers verehren, in der Güte die Großzügigkeit des Liebenden wiederlieben, in der Einheit die sozusagen vereinende Einfachheit des Gründers vermuten, die jedes einzelne mit sich, dann alles untereinander, dann alles auf sich hin geeint hat, und dadurch jedes einzelne zur Liebe zu ihr, zum anderen und schließlich zu Gott ruft. Prüfen wir jetzt, ob die gegenteiligen Begriffe von gleichem Umfang sind. Was wir oben gesagt haben, belegt, daß Falsch und Nichts identisch sind. Wenn wir aber sagen, Böse und Nichts unterscheiden sich, protestieren die Phi-
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philosophi pariter et1 theologi. Quare et facere | malum nihil est facere dicique solet mali non esse causam efficientem sed deficientem. Unde illorum insania confutatur qui duo principia posuerunt, alterum bonorum, alterum malorum, quasi efficiens aliquod principium mali esset. Sed et2 dividere rem idem est quod destruere, nec ita possumus rei cuipiam suam et naturalem unitatem adimere ut nihil minus3 illius esse in sua integritate remaneat. Non enim totum est suae partes, sed illud unum quod dissultat ex partibus, ut docet Aristoteles octavo libro Primae Philosophiae. Quare si in partes dividas totum, partes remanent quidem, totum autem quod dividitur, ipsum non remanet sed desinit esse actu et potentia tantum est, sicut partes quae prius erant potentia 4 tunc esse actu incipiunt; quippe quae prius cum erant in toto, unitatem propriam actu non habebant quam tunc primum sortiuntur cum separate5 a toto ipso 6 per se subsistunt. |
caput nonum In quo declarat quomodo illa quattuor in Deo sint. Examinemus rursus qualiter haec sunt in Deo, cui non insunt7 respectu ad causam quam non habet; ipse enim omnium causa a nullo est. Duplici autem ratione in Deo possunt considerari, aut quatenus Deus in se est8, aut quatenus aliorum causa est; quae distinctio creatis rebus non convenit quantum ad presens negocium attinet quoniam Deus sic esse potest ut non sit causa, alia non sic esse possunt ut non sint ab eo. Igitur 1 pariterque (G) 2 om.: Sed dividere (G) 3 nihilominus (G) 4 potentiam (T) 5 separatae (G) 6 om.: a toto per (G) a toto ipso per (Ba. 1572) 7 in respectu (Ba. 1572; G) 8 om. in allen Ed., (G) & (F) konjizieren aut quatenus in se ipso absolute consistit
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losophen und die Theologen zugleich, weil schlecht | machen nichts machen ist, und man üblicherweise sagt, für das Böse gibt es keine wirkende, sondern eine mangelhafte Ursache. Von daher widerlegt man auch den Unsinn, zwei Prinzipien anzunehmen, eines für das Gute, das andere für das Schlechte, als gäbe es ein wirksames Prinzip des Bösen. Aber eine Sache teilen ist auch dasselbe wie sie zerstören, und wir können einer Sache ihre eigene und natürliche Einheit nicht so nehmen, daß dennoch ihr Sein in seiner Gänze bleibt. Denn das Ganze ist nicht seine Teile, sondern das Eine, das aus den Teilen zusammenkommt, wie Aristoteles im Achten Buch der Metaphysik lehrt.97 Deshalb bleiben die Teile, wenn man das Ganze in Teile teilt, das Ganze aber, das geteilt wird, bleibt nicht selbst, sondern hört auf wirklich zu sein und ist nur potentiell, so wie Teile, die zuvor potentiell waren, dann wirklich zu sein beginnen, so daß sie vorher, als sie im Ganzen waren, nicht wirklich eine eigene Einheit hatten, die sie dann zum ersten Mal bekommen, wenn sie vom Ganzen getrennt für sich bestehen.
neuntes kapitel Wie sind die vier Prädikate in Gott? Prüfen wir wiederum, in welcher Weise sie in Gott sind, wo sie nicht wegen einer Ursache sind, die er nicht hat, denn er ist als Ursache von allem von nichts abhängig. Sie können in einem doppelten Sinne in Gott betrachtet werden, entweder insofern Gott in sich ist, oder insofern er Ursache von anderen ist; diese Unterscheidung gilt nicht für geschaffene Dinge (soweit es das gegenwärtige Thema betrifft), da Gott so sein kann, daß er nicht Ursache ist, während die anderen Dinge nicht so sein können, daß sie nicht
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Deum primitus sic concipimus, ut sit universitas omnis actus plenitudo ipsius esse. | Quam intelligentiam ita subsequitur ut sit unus, ut neque oppositum concipi possit. Vide quantum aberrent qui plura prima1 principia fingunt, plures deos. Statim et verissimum est. Quid enim habet quod appareat esse et non sit, qui est ipsum esse? Consequens certe ut sit et ipsa veritas. Sed et ipsa bonitas erit. Boni enim tres conditiones, ut scribit Plato in Philebo, ut sit2 perfectum, sufficiens, expetendum. Erit autem hoc3 quod tale concipimus perfectum quia illi nihil deerit qui est omnia; erit sufficiens quia illud possidentibus nihil deerit in quo invenient omnia; | erit expetendum quia ab illo et in illo sunt omnia quae expeti aliqua ratione possunt. Deus ergo plenissima entitas, individua unitas, solidissima veritas, bea, idest quatissima bonitas. Haec ni fallor est illa ternitas per quam Pytagoras jurabat vocabatque principium semper fluentis naturae. Principium enim haec, quae unus sunt Deus, | omnium esse demonstravimus; sed et juramus per ea quae sancta, quae firma, quae divina sunt; quid illis autem4 aut firmius aut sanctius aut divinius? Quod si Deo, ut rerum causa est, appellationes has quattuor assignemus, ordo totus invertitur. Primo enim unus erit quia prius in se intelligitur quam intelligatur ut causa. Secundo erit bonus; tertio verus, quarto ens. Nam5 causa quae6 dicitur finis prior ea est quae est exemplaris, et exemplaris prior efficiente. Primum enim appetimus habere quo ab injuria tempestatum protegamur, tum ideam domus mente concipimus, postremo in materia illam extrinsecus efficiendo formamus. Quare si quemadmodum superiori capite definivimus, bonum ad causam finalem,
1 om.: plura principia (G) 2 om.: ut perfectum (G) 3 om.: autem quod (G) 4 om.: illis aut (G) 5 om. (H) Nam cum causa (Ba. 1572; G) 6 causa ea quae (H) causa quae (G)
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von ihm abhängen. Also verstehen wir Gott zunächst so, daß er die Allgemeinheit jeder Wirklichkeit, die Fülle des Seins selbst ist. | Dieses Verständnis hat zur Folge, daß er eines ist, und daß sich kein Gegenteil erfassen läßt. Man sieht, wie enorm die sich irren, die sich mehrere Prinzipien, mehrere Götter ausdenken. Unmittelbar ist er auch das Wahrste. Was hat denn, was zu sein scheint und nicht ist, der, der das Sein selbst ist? Folglich ist er gewiß auch die Wahrheit selbst. Aber er muß auch die Güte selbst sein. Das Gute hat nämlich nach Platons Philebos drei Zustände, vollkommen, hinreichend, wünschenswert.98 Es muß auch das, was wir so begreifen, vollkommen sein, weil dem nichts fehlt, der alles ist; es muß hinreichend sein, weil denen, die das besitzen, worin sie alles finden, nichts fehlt; es muß wünschenswert sein, weil von ihm und in ihm alles ist, was irgendwie wünschbar ist. Gott ist also das ganz volle Wesen, die unmittelbare Einheit, die sicherste Wahrheit, die glücklichste Güte. Das ist – wenn ich mich nicht irre – jene Vierheit, bei der Pythagoras schwor und die er das Prinzip der ewig fließenden Natur nannte.99 Denn wir haben bewiesen, daß sie, die als eines Gott sind, das Prinzip von allem sind. Aber wir schwören auch bei dem, was heilig, sicher, was göttlich ist: was aber ist sicherer, heiliger, göttlicher als diese vier? Denn wenn wir Gott als Ursache der Dinge diese vier Namen zuweisen, wird die ganze Reihenfolge umgekehrt: zuerst muß er Einer sein, weil er früher in sich denn als Ursache erkannt wird. Zweitens muß er gut sein, drittens wahr, viertens seiend. Weil nämlich die final genannte Ursache früher ist als die exemplarische, und die exemplarische früher als die wirksame (denn zuerst wollen wir etwas haben, um uns vor dem Wetter zu schützen, dann entwerfen wir im Geist ein Haus, schließlich bauen wir es aus Materie, wobei wir nach außen wirken), muß Gott – wenn (wie im vorigen Kapitel definiert)
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verum ad exemplarem, ens ad efficientem spectat, Deus, ut causa est, primo boni, tum veri, postremo entis | rationem habebit. Quae omnia breviter hic perstringimus feta alioquin quaestionum multarum atque magnarum.
caput decimum In quo totam disputationem ad vitae institutionem et morum emendationem convertit.
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Verum ne aliis potius quam nobis disputemus, illud curandum ne altissima perscrutantes in humili, idest indigna his conditione vivamus, quibus caelitus datum ut indagare caelestium etiam rationes possimus. Sed illud assidue meditandum hanc nostram mentem, cui divina etiam pervia sunt, ex mortali seminio esse non posse neque felicem alibi quam in divinorum possessione futuram; tantoque magis dum hic quasi advena perigrinatur, propinquare felicitati quanto post habita cura terrenorum | ad divina se magis erigit et accendit. Admonere autem in primis nos praesens disputatio videtur ut, si esse beati volumus, beatissimum omnium imitemur Deum, unitatem in nobis, veritatem bonitatemque possidentes. Unitatis pacem turbat ambitio et sibi herentem animum extra se rapit et in diversa quasi lacerum trahit atque discerpit. Veritatis splendorem et lucem in ceno, in caligine voluptatum quis non admittet? Bonitatem furacissima nobis furatur cupiditas, idest avaritia. Bonitatis enim peculiare hoc,
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das Gute zur Zweckursache, das Wahre zur exemplarischen und das Seiende zur Wirkursache gehört – als Ursache zuerst das Prädikat des Guten, dann des Wahren, schließlich des Seienden haben. | Das alles haben wir hier kurz abgehandelt, trotz zahlreicher wichtiger Fragen.
zehntes kapitel Die ganze Diskussion wird auf die Lebensführung und die sittliche Verbesserung bezogen. Um nicht von etwas zu reden, das uns eher fremd ist, als daß es uns etwas angeht, müssen wir dafür sorgen, daß wir nicht in niedrigen, d. h. unwürdigen Zuständen leben, während wir die höchsten Dinge erforschen, ist es uns doch vom Himmel gegeben, daß wir sogar himmlische Begriffe untersuchen können. Vielmehr ist darüber intensiv nachzudenken, daß unser Geist, dem sogar Göttliches zugänglich ist, nicht von sterblichem Samen stammen kann, noch jemals anders als im Besitz des Göttlichen glücklich sein wird, und sich um so mehr der Glückseligkeit nähert, während er hier als Gast pilgert, je mehr er sich unter Vernachlässigung irdischer Sorgen zu Göttlichem erhebt und entflammt. Die vorliegende Abhandlung scheint uns aber vor allem zu ermahnen, wenn wir glücklich sein wollen, Gott, den glückseligsten von allen, nachzuahmen, weil wir in uns die Einheit, Wahrheit und Güte besitzen. Den Frieden der Einheit stört der Ehrgeiz, er reißt die Seele, die sich mit sich selbst befaßt, aus sich heraus und zerreißt und zerstreut sie wie einen Fetzen. Den Glanz und das Licht der Wahrheit, wer verliert ihn nicht im Schlamm und Dunkel der Lüste? Die Güte raubt uns die räuberischste Gier, nämlich die Habgier. Es gehört zur Güte, daß sie
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De ente et uno
communicare aliis bona quae possides; quare cum quaereret Plato cur Deus condidit mundum respondens ipse sibi »bonus«, inquit, »erat.« Haec sunt illa tria superbia scilicet vitae, concupiscentia carnis et concupiscentia oculorum quae, ut scribit Johannes, ex | mundo sunt et non sunt ex Patre qui ipsa unitas, ipsa1 veritas, ipsa bonitas est. Fugiamus hinc ergo idest a mundo qui positus2 in maligno. Evolemus ad Patrem ubi pax unifica, ubi lux verissima, ubi voluptas optima. Sed quis dabit pennas ut illuc volemus? Amor eorum quae3 sursum sunt. Quis adimet? Libido rerum quae super4 terram. Quam5 si sectemur jacturam facimus et unitatis et veritatis et bonitatis. Neque enim | sumus unus si curvum sensum et spectantem caelestia rationem virtutis federe non devincimus, sed duo in nobis principes quasi per intervalla regnantes, dum nunc Deum per legem mentis, nunc Baal per legem sequimur carnis, et regnum nostrum in se divisum profecto desolatur. Quod si ita erimus unum ut, mancipata sensui ratione, sola imperet lex membrorum falsa erit haec unitas quia veri non erimus. Dicemur enim et apparebimus homines esse, idest animalia ratione viventia et | tamen erimus bruta quibus pro lege sensualis est appetentia. Prestigium faciemus his qui nos videbunt inter quos habitabimus. Non respondebit imago suo exemplari. Instar enim Dei sumus. Deus autem spiritus. Nos non spiritales jam, ut Pauli utar verbis, sed animales. Cum autem per veritatem ab exemplari non excidemus, restabit ut per bonitatem ad ipsum tendentes illi aliquando copulemur. Quod si tria haec, unum scilicet, verum et bonum perpetuo annexu ens
1 >bonitas< gestrichen (H) 2 om. (H) positus est in maligno (Ba. 1572; G) 3 qui (G) quae (F) 4 supra (G) 5 quae (G)
Über das Seiende und das Eine
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anderen das Gute, das sie besitzt, mitteilt. Als deshalb Platon fragte, warum Gott die Welt geschaffen hat, antwortet er sich selbst: »Weil er gut war.«100 Das sind die drei, nämlich Hochmut im Leben, Begierde des Fleisches und Begierde der Augen, die – nach Johannes101 – | aus der Welt sind und nicht vom Vater, der die Einheit, Wahrheit, Güte selbst ist. Fliehen wir also diese Welt, die in der Hand des Bösen ist, wenden wir uns zum Vater, wo der einende Friede, das ganz wahre Licht, die beste Lust ist. Doch wer gibt uns Flügel, dahin zu fliegen?102 Die Liebe zu den Dingen oben. Was kann sie uns nehmen? Die Lust an den Dingen auf der Erde: wenn wir ihr folgen, lassen wir Einheit, Wahrheit und Güte. Denn wir sind nicht eins, wenn wir unseren abgelenkten Sinn und unseren das Himmlische schauenden Verstand nicht mit einem Band der Tugend zusammenbinden, sondern von Fall zu Fall zwei Fürsten in uns herrschen lassen, indem wir mal Gott nach dem Gesetz der Vernunft, mal Baal nach dem Gesetz des Fleisches folgen, so daß unser Reich in sich gespalten und verwüstet wird. Wenn wir in der Weise geeint wären, daß die Vernunft der Sinnlichkeit dient, so daß nur das Gesetz der Glieder herrscht, dann ist diese Einheit falsch, weil wir nicht wahr wären. Wir hießen und sähen aus wie Menschen, also Lebewesen, die durch Vernunft leben, und doch wären wir Tiere, die das sinnliche Begehren zum Gesetz haben. Wir würden denen, die uns sehen und mit denen wir leben, etwas vormachen. Denn das Bild entspricht nicht dem Vorbild. Nach Gott sind wir geschaffen, Gott aber ist Geist, wir aber sind – mit Paulus’ Worten103 – nicht geistlich, sondern tierisch. Wenn wir aber dank der Wahrheit vom Vorbild nicht abweichen, bleibt uns noch, uns mit ihm einst, indem wir mit Güte zu ihm streben, zu vereinigen.104 Wenn die drei Prädikate eins, wahr und gut in einer andauernden Verbindung dem Seienden folgen, dann bleibt, daß wir – wenn wir das nicht sind – über-
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De ente et uno
consequuntur1, reliquum est ut, cum illa non sumus, etiam prorsus non simus2 etsi esse videamur et quamvis credamur vivere, moriamur tamen potius jugiter quam vivamus.
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