Aufklärung, Band 30: Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant. Quellengeschichtliche, systematische und wirkungsgeschichtliche Beiträge 9783787336159, 9783787336142


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Aufklärung, Band 30: Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant. Quellengeschichtliche, systematische und wirkungsgeschichtliche Beiträge
 9783787336159, 9783787336142

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Meiner

Aufklärung THEMA : Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant Dieter Hüning: Christian Wolffs Konzeption der Verbindlichkeit. Eine Antizipation der Ethik Kants? Luc Langlois: Der Begriff der Verbindlichkeit bei Baumgarten und sein Einfluss auf Kants Moralphilosophie Christel Fricke: Die Quadratur des Kreises – Kants Moralphilosophie und ihr crusianisches Erbe Antonino Falduto: Praktische Verbindlichkeit und göttliche Weltordnung in Fichtes Versuch einer Critik aller Offenbarung Martin Brecher: Ein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr? Das kantische Vernunftrecht und die ,eheliche Pflicht‘ Heiner F. Klemme: Radikal human. Kants erweiterter Pflichtbegriff von 1797 Achim Vesper: Kant über moralischen Wert und Gesinnung Manfred Baum: „Pflicht! du erhabener, großer Name“. Betrachtungen zu Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant Martin Bondeli: Karl Leonhard Reinholds Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts Gabriel Rivero: Von der Abhängigkeit zur Notwendigkeit. Kants Perspektivwechsel in der Auffassung der Verbindlichkeit zwischen 1784 und 1797 Daniel C. Henrich: Zur Rezeption von Kants Begriff der Verbindlichkeit in der modernen Moralphilosophie KURZBIOGR APHIE

Oliver Bach: Robert Sanderson (1587 – 1663) DISKUSSION

Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel: Natural Law 1625–1850. An International Research Network

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Redaktion: Udo Roth

Band 30 · Jg. 2018

Thema: Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant. Quellengeschichtliche, systematische und wirkungsgeschichtliche Beitr!ge k Herausgegeben von Gabriel Rivero

FELIX MEINER VERLAG

ISSN 0178 – 7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Udo Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München. # Felix Meiner Verlag 2018. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Printed in Germany. www.meiner.de/aufklaerung

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Gabriel Rivero: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Dieter Hüning: Christian Wolffs Konzeption der Verbindlichkeit. Eine Antizipation der Ethik Kants? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Luc Langlois: Der Begriff der Verbindlichkeit bei Baumgarten und sein Einfluss auf Kants Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Christel Fricke: Die Quadratur des Kreises – Kants Moralphilosophie und ihr crusianisches Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Antonino Falduto: Praktische Verbindlichkeit und göttliche Weltordnung in Fichtes Versuch einer Critik aller Offenbarung . . . . . . . . . . . 73 Martin Brecher: Ein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr? Das kantische Vernunftrecht und die ,eheliche Pflicht" . . . . . . . . . . . . . . 93 Heiner F. Klemme: Radikal human. Kants erweiterter Pflichtbegriff von 1797 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Achim Vesper: Kant über moralischen Wert und Gesinnung . . . . . . . . . . . . 141 Manfred Baum: „Pflicht! du erhabener, großer Name.“ Betrachtungen zu Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Martin Bondeli: Karl Leonhard Reinholds Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Gabriel Rivero: Von der Abhängigkeit zur Notwendigkeit. Kants Perspektivwechsel in der Auffassung der Verbindlichkeit zwischen 1784 und 1797 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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Inhalt

Daniel C. Henrich: Zur Rezeption von Kants Begriff der Verbindlichkeit in der modernen Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

KURZBIOGRAPHIE

Oliver Bach: Robert Sanderson (1587 – 1663) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

DISKUSSION

Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel: Natural Law 1625–1850. An International Research Network . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Gabriel Rivero Einleitung

Mit seinen Werken Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft und Metaphysik der Sitten hat Kant im Hinblick auf die praktische Philosophie zweifelsohne Epoche gemacht. Die Originalität und Radikalität von Kants Neubegründung der praktischen Philosophie wurde in der Kant-Forschung erkannt, ausführlich dokumentiert und eingehend erörtert.1 Dem kantischen Ansatz ließe sich im gleichen Maße Radikalität wie revolutionäre Erneuerung zuschreiben, wenn man die beiden titelgebenden Begriffe des vorliegenden Bandes in den Blick nimmt. Denn mit seinem Verbindlichkeits- und Pflichtbegriff unterzieht Kant die seinerzeit vorherrschenden Konzeptionen einer scharfen Kritik und eröffnet somit den Weg für eine originäre und wirkungsgeschichtlich durchschlagende philosophische Position, die bis zum heutigen Tag Einfluss auf die Ethikund Rechtsdebatten ausübt. Obwohl Kants Denken nicht zuletzt aufgrund seiner Konzeption der Begriffe Verbindlichkeit und Pflicht als epochemachend zu bezeichnen ist, zeigt sich jedoch, dass eingehende Studien zu diesem Thema noch immer ein Desiderat in der Kant-Forschung geblieben sind. Dies trifft besonders auf den Begriff der Verbindlichkeit zu, deren Relevanz in der Forschungsliteratur erstaunlicherweise kaum Echo fand.2 Einer der Gründe dafür könnte wohl darin liegen, dass die herBereits in der frühen Kant-Forschung sind kanonische Studien entstanden. Um nur einige Beispiele zu nennen, siehe u. a. Paul Menzer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760 bis 1785, in: Kant-Studien 2 (1899), 290–322; Paul Menzer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760 bis 1785. Zweiter Abschnitt, in: Kant-Studien 3 (1899), 41–104; Paul A. Schilpp, Kant!s Pre-Critical Ethics, Bristol 1998 (11938); Herbert James Paton, The Categorial Imperativ. A Study in Kant!s Moral Philosophy, New York u. a. 1946; Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim 1961 (Monographien zur philosophischen Forschung 23); Dieter Henrich, Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: Kant-Studien 54 (1963), 404–431. 2 Es sind an dieser Stelle selbstverständlich einige Ausnahmen hervorzuheben. Einige Interpreten haben in den letzten Jahrzehnten auf die beträchtliche historische Relevanz der Verbindlichkeit hingewiesen und sich folglich den Autoren der philosophischen Tradition des 17., 18. und 19. Jahrhunderts zugewandt; zu diesen beachtenswerten Arbeiten zählen die Schriften Gerald 1

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ausragende Bedeutsamkeit der Verbindlichkeit im Schatten anderer Begriffe von Kants praktischer Philosophie steht – etwa der Begriffe Autonomie, Achtung, Imperativ oder Wille, deren offenkundige Wichtigkeit die Kant-Forschung detailliert und pointiert nachgewiesen hat.3 Das hier angesprochene Ungleichgewicht in der rezeptionsgeschichtlichen Bedeutsamkeit grundlegender Konzepte von Kants praktischer Philosophie kann in gewisser Weise Kant selbst zugerechnet werden. Denn bei näherem Hinsehen erweist sich, dass anders als in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie der Begriff der Verbindlichkeit in der Grundlegung sowie in der zweiten Kritik wortstatistisch gesehen keineswegs dominierend ist.4 Es sind in diesem Sinne lediglich vier bedeutende Stellen in der Grundlegung zu finden, an welchen sich Kant der Exposition des Verbindlichkeitsbegriffs widmet; in der zweiten Kritik sind es nur sieHartungs zur Geschichte der Verbindlichkeit, Dieter Hünings zu Wolff, Clemens Schwaigers zu Baumgarten und Kant sowie Karl-Heinz Iltings zu Hegel. Siehe Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau, München 2 1999; Dieter Hüning, Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-FranÅois Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs, Tübingen 2004, 143–167; Clemens Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten. Ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Karl-Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien, Stuttgart 1983. 3 Bezeichnend für diese Tendenz in der Kant-Forschung sind z. B. die Kommentare zu der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft, in denen der Begriff der Verbindlichkeit entweder nahezu keine Erwähnung findet oder seine zentrale Rolle nicht eingehend genug diskutiert wird. Siehe dazu beispielsweise Lewis White Beck, A Commentary on Kant!s Critique of Practical Reason, Chicago, London 1960; Robert Paul Wolff, The Autonomy of Reason. A Commentary on Kant!s Groundwork of the Metaphysic of Morals, Gloucester, Mass. 1986; Giovanni Sala, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, Darmstadt 2004; Christoph Horn, Corinna Mieth, Nico Scarano, Kommentar, in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 2007, 105–343; Dieter Schönecker, Allen Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, Paderborn u. a. 42011. Ausnahmen davon sind die jeweiligen Kommentare von Allison und Klemme. Siehe Henry Allison, Kant!s Groundwork for the Metaphysics of Morals. A Commentary, Oxford 2011, 44–52; Heiner F. Klemme, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017. Pointiert hebt Klemme in diesem Sinne hervor: „Die Grundlegung ist das Resultat einer mehrere Jahrzehnte umfassenden Beschäftigung Kants mit dem Problem der moralischen Verbindlichkeit“ (ebd., 12). 4 Siehe dazu Gabriel Rivero, Le concept d!obligation comme concept premier de la philosophie pratique. Sur le d*veloppement de la raison pratique kantienne, in: Sophie Grapotte, Margit Ruffing (Hg.), Kant: La raison pratique. Concepts et h*ritages. Actes du 11e Congr)s international de la Soci*t* d!$tudes Kantiennes de Langue FranÅaise, Paris 2015, 215–223. Dominant ist die Rolle der Verbindlichkeit z. B. in der Vorlesung Kaehler. In seiner „Einleitung“ zu dieser Vorlesung geht Manfred Kühn dennoch nicht auf den Begriff ein, was als ein deutliches Zeichen dafür angesehen werden kann, dass der Relevanz der Verbindlichkeit in der Forschungsliteratur bislang ungebührlich wenig Beachtung geschenkt wurde. Vgl. dazu Manfred Kühn, „Einleitung“, in: V-Mo/Kaehler(Stark), VII–XXXV.

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ben Stellen, an welchen der Begriff Erwähnung findet.5 Aufgrund dieses kargen Ertrags liegt der Schluss nahe – was sich in der Forschungsliteratur größtenteils deutlich widerspiegelt –, dass sich für die Interpretation von Kants praktischer Philosophie andere Begriffe besser eignen als derjenige der Verbindlichkeit. Will man den soeben dargelegten Befund noch etwas zuspitzen, lässt sich die These aufstellen, dass eine beinahe einseitige Fokussierung auf den Begriff der Autonomie für die Kant-Forschung kennzeichnend sei; sie fungiert seit jeher als Dreh- und Angelpunkt der Kant-Interpretation. Im Unterschied zu dieser gängigen Auffassung kann man allerdings auch mit gutem Grund davon ausgehen, dass der Verbindlichkeitsbegriff den Ausgangspunkt konstituiere, aus welchem sich Kants praktische Philosophie letztlich am besten erklären und rekonstruieren lässt. Es ist u. a. das Verdienst Heiner F. Klemmes, einen solchen Ansatz entwickelt zu haben, indem er die Verbindlichkeit als den wichtigsten Schlüsselbegriff für das Verständnis und die Interpretation von Kants praktischer Philosophie herausgearbeitet hat. Es lässt sich demnach der Anspruch erheben, dass sich die kantische Position am deutlichsten von der Verbindlichkeit her entschlüsseln lässt und somit Kants Kritik, Erneuerung und Wirkung im Bereich der praktischen Philosophie – sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch systematisch – von hier aus betrachtet in ein ganz neues Licht gesetzt werden kann.6 Auf diese Weise rückt das Thema Verbindlichkeit zu Recht ins Zentrum der Diskussion um Kants Denken, welches der Ansicht Klemmes nach gar als eine „Ethik der Verbindlichkeit“7 gedeutet werden kann. Das bereits Gesagte deutet also darauf hin, dass dem bisherigen Versäumnis, die zentrale Rolle der Verbindlichkeit herauszustellen, sowohl entwicklungsgeschichtlich, systematisch als auch rezeptionsgeschichtlich nachzugehen ist. Im Zuge einer näheren Betrachtung des Verbindlichkeitsbegriffes sind insbesondere die historischen Hintergründe von Kants Philosophie neu zu beleuchten, sodass zum einen Autoren wie Baumgarten, Wolff, Crusius, Mendelssohn, Eberhard, Hutcheson u. a. ein prägenderer Einfluss auf das kantische Denken zugeschrieben

GMS, AA 04: 389, 391, 424, 439; KpV, AA 05: 32 f., 35, 38, 81, 125, 481. Siehe dazu Heiner F. Klemme, How is Moral Obligation possible? Kant!s Principle of Autonomy in Context, in: Stefano Bacin, Oliver Sensen (Hg.), The Emergence of Autonomy in Kant!s Moral Philosophy, Cambridge 2018, 10–28, hier 13 f.: „If we want to understand the originality of Kant!s doctrine of the categorical imperative and of his principle of autonomy, it will be helpful to concern ourselves with the debates of the time that revolved around the concept of obligation.“ 7 Heiner F. Klemme, Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung (und seine Kritik an Christian Garves Antithetik von Freiheit und Notwendigkeit), in: Heiko Puls (Hg.), Deduktion oder Faktum? Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes im dritten Abschnitt der „Grundlegung“, Berlin, Boston 2014, 59–101, hier 63. 5

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werden kann als bisher angenommen.8 Zum anderen erweist sich, dass die Verbindlichkeit als ein hervorragender entwicklungsgeschichtlicher Leitfaden fungiert, um den philosophischen Werdegang Kants von der Preisschrift bis zur Metaphysik der Sitten rekonstruieren zu können. Ebensolche interpretatorische Relevanz kommt der systematischen Erforschung dieses Begriffes zu, insofern die Auseinandersetzung mit der Verbindlichkeit u. a. die Möglichkeit eröffnet, den wenig beachteten Unterschied zwischen Pflicht und Verbindlichkeit ins Auge zu fassen oder das Verhältnis zwischen Verbindlichkeit und anderen wichtigen Begriffen wie Autonomie, Achtung und kategorischem Imperativ näher zu erörtern. Rezeptionsgeschichtlich zeigt sich außerdem, dass die Verbindlichkeit, obgleich sie im Laufe des 19. Jahrhunderts weitestgehend aus dem Zentrum der philosophischen Diskussion verschwunden war, bei der unmittelbaren Rezeption durch die „Kantianer“ sowie Reinhold und Fichte noch eine wichtige Rolle spielte; eine Rolle gleichwohl, die für die heutige Debatte wieder prägend geworden ist. Der vorliegende Band verfolgt in diesem Sinne die Absicht, zur neuerlichen Diskussion um den Verbindlichkeits- und den damit eng verbundenen Pflichtbegriff beizutragen. Dabei wird keineswegs beansprucht, ein derartig komplexes Thema erschöpfend zu behandeln; vielmehr ist es die Intention des Herausgebers, zum einen auf die Vielfältigkeit und Relevanz des Themas aufmerksam zu machen und zum anderen die Breite des Themenspektrums zu umreißen, indem ganz unterschiedlichen Fragestellungen und Ansätzen Raum gegeben wird. Diesem Zweck gemäß gehen die in diesem Band vorliegenden Beiträge auf drei verschiedene Themenkomplexe ein, welche die Quellen, die systematische Funktion und die historische Wirkung der Begriffe Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant berücksichtigen. Auf quellen- und entwicklungsgeschichtliche Fragen gehen die Beiträge von Dieter Hüning, Christel Fricke, Luc Langlois und Gabriel Rivero ein. Folglich thematisieren diese Beiträge historische Quellen, die möglicherweise von Relevanz für Kants Denken waren, und liefern eine Bewertung derselben. Auf diese Weise erläutert Dieter Hüning die wichtigsten Merkmale des wolffschen Verbindlichkeitsbegriffes, der sich grundsätzlich in Abgrenzung zu dem voluntaristischen Standpunkt Pufendorfs entwickelte. Hünings Beitrag zeigt, wie diese anti-voluntaristische Ansicht Wolffs eine prägende Wirkung auf Kants eigene Auffassung der Verbindlichkeit hatte, die grundsätzlich auf Wolffs Verständnis vom Gesetz Siehe dazu Schwaiger, Baumgarten (wie Anm. 2); Jeffrey Edward, Natural Law and Obligation in Hutcheson and Kant, in: Ana Marta Gonz'lez (Hg.), Contemporary Perspectives on Natural Law. Natural Law as a Limiting Concept, London, New York 2016, 87–104; Heiner F. Klemme, Der Grund der Verbindlichkeit. Mendelssohn und Kant über Evidenz in der Moralphilosophie (1762/64), in: Kant-Studien 109 (2018), 286–308. 8

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und dem an sich obligatorischen Charakter desselben zurückgeht. Einer ebenfalls zentralen Figur jener Zeit wendet sich Christel Frickes Beitrag zu: Christian August Crusius. Fricke vertritt die These, dass Kants Idee der unbedingten Gültigkeit der Verbindlichkeit und des kategorischen Imperativs auf Crusius! Auffassung vom Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen zurückgehe. Damit wird eine Brücke geschlagen zwischen Kants Moralphilosophie und der moralischen Theologie, insofern die Tradition der moralischen Theologie die Idee der absoluten Autorität bzw. Geltung der Gesetze in den Vordergrund der Legitimation der Moralität stellte. Luc Langlois seinerseits widmet sich einer ähnlichen Problematik. Er behandelt die Einflüsse von Crusius und Baumgarten sowie die teilweise zustimmende, teilweise kritische Haltung Kants den beiden Autoren gegenüber. Langlois ist der Auffassung, sowohl der eine als auch der andere Autor habe Kant beeinflusst; was aber die Terminologie und Klassifizierung der Verbindlichkeit betrifft, sei Baumgarten der prägendere Autor für Kant gewesen. Eine ähnliche entwicklungsgeschichtliche Perspektive nimmt der Beitrag von Gabriel Rivero ein, der sich auf die Verschiedenheit der Verbindlichkeitsdefinitionen zwischen der Grundlegung und der „Einleitung“ in die Metaphysik der Sitten konzentriert. Als Ergebnis dieses Vergleichs stellt sich heraus, dass Kant 1797 eine Erweiterung des Verbindlichkeitsbegriffes vollzieht, deren Hauptmerkmal in der Verwendung einer Modalitäts- statt einer Relationskategorie besteht. Mit einer eher systematischen Perspektive gehen die Beiträge von Manfred Baum, Achim Vesper, Martin Brecher und Heiner F. Klemme auf spezifische Fragen ein, die das Verhältnis zwischen Pflicht, Verbindlichkeit, Autonomie, Tugendpflicht, Rechtspflicht, Gewissen u. a. in den Blick nehmen. In diesem Sinne lässt Manfred Baums Beitrag Kants Auseinandersetzung mit Pflicht und Verbindlichkeit von der Preisschrift bis zur Metaphysik der Sitten Revue passieren und stellt die verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit den Begriffen Pflicht und Verbindlichkeit eingehend dar. Die Pointe seiner Ausführungen besteht in dem Nachweis, dass zwei Formen der Autonomie sowie auch der Anwendung der Probe einer Maxime zu unterscheiden sind. Achim Vesper widmet sich der Frage nach dem moralischen Wert einer Handlung. Im Zentrum seiner Darlegung steht eine Änderung der kantischen Konzeption, die in der Religionsschrift vollzogen wird. Vesper zeigt in diesem Sinne, dass die Religionsschrift im Vergleich zur Auffassung der Grundlegung eine Korrektur einführt, die darin besteht, nunmehr auch die moralische Gesinnung als Kriterium des moralischen Werts einer Handlung zu betrachten. Mit einer spezifischen Anwendung von Kants Pflichtkonzeption befasst sich Martin Brecher. Brechers Aufsatz legt in dieser Hinsicht den Fokus auf Kants Verständnis der ehelichen Pflichten und thematisiert die umstrittene Frage nach dem Verhältnis von Zwang und Sexualität in Kants Rechtslehre. Heiner F. Klemmes Beitrag konzentriert sich auf Kants Auffassung von Pflicht und Verbindlichkeit in der Tugendlehre. Klemmes Darlegung zeigt, wie

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Kant 1797 im Vergleich zur Grundlegung einen erweiterten Begriff der Pflicht einführt, aus welchem sich eine Unterscheidung zwischen essentialistischer und volitiver Auffassung von Verbindlichkeit ziehen lässt. Diese Erweiterung des Pflichtbegriffes deutet Klemme zugleich als einen neuen Beitrag Kants zu seiner eigenen Konzeption der (Un-)Mündigkeit und des Aufklärungsbegriffes. Was die Wirkung von Kants Verständnis von Pflicht und Verbindlichkeit angeht, gehen die Beiträge von Martin Bondeli, Antonino Falduto und Daniel Henrich auf verschiedene Kant-Rezipienten ein und befassen sich jeweils mit der unmittelbaren Rezeption durch Karl Leonhard Reinhold und Johann Gottlieb Fichte beziehungsweise mit den jüngeren Debatten des 20. Jahrhunderts. Martin Bondeli befasst sich in diesem Sinne mit Reinholds Konzeption der Aufklärung und des Naturrechts. Aus seinen Ausführungen geht hervor, dass Reinhold Kants Position teils zustimmend, teils kritisch aufnimmt und im Hinblick auf die Verbindlichkeit die Forderung aufstellt, die Form der Gesetzlichkeit in kantischer Ausprägung sei um einen anderen Begriff der Willensfreiheit und des moralischen Gefühls der Uneigennützigkeit zu ergänzen. Antonino Faldutos Aufsatz befasst sich mit der Frage nach der Verbindlichkeit bei Fichte. Bemerkenswert bei Faldutos Vorgehen ist die Auswahl des Diskussionsmaterials. Anstatt sich, wie es bei einer solchen Frage auf den ersten Blick naheliegend wäre, auf die Grundlage des Naturrechts von 1796/97 zu konzentrieren, geht Falduto einen Schritt zurück und fokussiert auf die Thematik der Offenbarungsschrift von 1792/93. Somit erörtert er eine bisher wenig beachtete Beziehung zwischen Verbindlichkeit und Religion in der frühen Phase von Fichtes Denken, anhand derer gezeigt wird, wie sinnlich-eudämonistische und vernünftige Aspekte der Verbindlichkeit in der fichteschen Auffassung miteinander im Einklang stehen. Auf die Frage nach der Verbindlichkeit in der gegenwärtigen philosophischen Debatte geht der Beitrag von Daniel Henrich ein. Henrich liefert einen umfangreichen Überblick über die Verbindlichkeitsproblematik im 20. Jahrhundert, der sich von Elizabeth Anscombe über Philippa Foot und Ernst Tugendhat bis zu den neueren Ansätzen von Peter Stemmer, John McDowell und Christine Korsgaard erstreckt. Damit zeichnet Henrich nach, wie sich neo-aristotelische Ansätze einer kritischen Kant-Rezeption bedienen und wie diese späterhin vornehmlich in Korsgaards Ansatz revidiert wird. Der vorliegende Band wäre ohne die Mitarbeit und Hilfe mehrerer Personen nicht möglich gewesen. Mein erster Dank gilt den Verfassern der Beiträge, die meiner Einladung zur Publikation freundlicherweise gefolgt sind. Für die freundliche Zusammenarbeit mit der Redaktion der Aufklärung danke ich Udo Roth, für die Aufnahme des Themas und der Beiträge danke ich den Herausgebern Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Heiner F. Klemme, der mich vor einigen Jahren auf die Relevanz des Themas Verbindlichkeit in Kants praktischer Philosophie auf-

Einleitung

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merksam machte, sowie Lothar Kreimendahl, der mich zur Herausgabe des Bandes motivierte und dessen Publikation in der Aufklärung freundlicherweise veranlasste.

Siglenverzeichnis

Soweit nicht anders vermerkt, werden Kants Werke, Briefe, Reflexionen sowie die Vorlesungsnachschriften zitiert nach Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird mit den Seitenzahlen der ersten (= A) oder zweiten (= B) Auflage zitiert. AA Anth BDG GMS KpV KU MS RL TL NEV Prol Refl RezHufeland RezSchulz RGV TP UD VARL VATL V-Anth/Collins

Akademie Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA 02) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) Kritik der Urteilskraft (AA 05) Metaphysik der Sitten (06) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA 06) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (AA 06) Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766 (AA 02) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) Reflexion (AA 14 – 19) Recension von Gottlieb Hufeland!s Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (AA 08) Recension von Schulz!s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (AA 08) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grund-sätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 02) Vorarbeit zur Rechtslehre (AA 23) Vorarbeit zur Tugendlehre (AA 23 Vorlesungen Wintersemester 1772/73 Collins (AA 25)

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V-Anth/Mensch

Siglenverzeichnis

Vorlesungen Wintersemester 1781/1782 Menschenkunde, Petersburg (AA 25) V-Mo/Kaehler(Stark) Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie (hg. von Werner Stark, Berlin, New York 2004) V-MS/Vigil Vorlesungen Wintersemester 1793/94 Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA 27) V-NR/Feyerabend Naturrecht Feyerabend (Winter 1784) (AA 27) V-PP/Herder Praktische Philosophie Herder (1763/64 bzw. 1764/65) (AA 27) VUB Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (AA 08) WA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 08) ZeF Zum ewigen Frieden (AA 08)

Dieter H"ning Christian Wolffs Konzeption der Verbindlichkeit. Eine Antizipation der Ethik Kants?*

I. Einleitende Bemerkung Die Debatte um den Begriff und den Geltungsgrund der Verbindlichkeit moralischer Normen gehört zu den wesentlichen Problemen der neuzeitlichen Moralphilosophie. Am (vorläufigen) Ende dieser Debatten im 18. Jahrhundert steht die praktische Philosophie Immanuel Kants. Das Revolutionäre der Ethik Kants besteht darin, ein „oberstes Princip der Moralität“1 anzugeben, 1. das sich durch die Abstraktion „von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört“,2 auszeichnet, 2. das in keinem Zusammenhang mit der Glückseligkeit steht und deshalb – was das Problem der Motivation zum moralischen Handeln angeht – eine neuartige Theorie moralischer Motivation initiiert, 3. dessen Verbindlichkeit „absolute Nothwendigkeit bei sich“3 führt, 4. dessen Gesetzgebung ausschließlich auf dem Prinzip der Autonomie der praktischen Vernunft beruht, und das 5. als rein formales Prinzip „in Ansehung aller Pflichten überhaupt“ eine neue „Formel“ der Moralität aufstellt.4

Dieser Beitrag knüpft an frühere Überlegungen zur Konzeption der Verbindlichkeit in der neuzeitlichen Naturrechtslehre an, vgl. Dieter Hüning, Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff, in: Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert, hg. von Simon Bunke, Katerina Mihaylova und Daniela Ringkamp, Tübingen 2015, 37–57. 1 GMS, AA 04: 392. 2 Ebd., 389. 3 Ebd. 4 KpV, AA 05: 8. *

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Dieter Hüning

Durch all diese Bestimmungen seiner Moralphilosophie stellt Kant sich dem vorherrschenden moralphilosophischen Diskurs seiner Zeitgenossen entgegen, der seinerseits im großen Maße durch die Moralphilosophie Christian Wolffs geprägt war. Kants Bruch mit der vorherrschenden Moralphilosophie wolffscher Prägung im Hinblick auf den Geltungs- und Motivationsgrund moralischer Normen stellt allerdings nur die eine Seite der Medaille dar. Denn es kann keinen Zweifel daran geben, dass Kants eigene Moralphilosophie sowohl terminologisch als auch was die Sachprobleme angeht, insbesondere durch die Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Wolffs und seiner Schule geprägt ist, sodass neben der systematischen Distanz auch Übernahmen und Anknüpfungen an diese Tradition zu konstatieren sind. Mein Beitrag will – um das Verhältnis Kants zur wolffianischen Moralphilosophie zu charakterisieren – eine Übersicht über die Prinzipien der Ethik Christian Wolffs geben, um auf diese Weise deutlich zu machen, in welcher Weise Kant an diese anknüpfen konnte. Allerdings ist mit diesen Überlegungen zum Verhältnis von Wolff und Kant in keiner Weise die Absicht verbunden, Kant zu einem Wolffianer zu machen. „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“5 – so heißt es in definitorischer Kürze in Kants Einleitung in die Metaphysik der Sitten. Bezeichnenderweise findet sich diese Definition im vierten Abschnitt der „Einleitung“, der „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ betitelt ist. Der Untertitel dieses Abschnitts in der Metaphysik der Sitten lautet „Philosophia practica universalis“ und macht die Herkunft dieses Begriffs aus der wolffischen Schulphilosophie deutlich.6 Der Begriff der VerbindRL, AA 06: 222; vgl. auch KpV, AA 05: 32: Die Verbindlichkeit bedeutet eine „Nöthigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives Gesetz, zu einer Handlung […], die darum Pflicht heißt“; V-MS/Vigil, AA 27: 508: „Die Verbindlichkeit ist eine moralische, mithin nach Gesetzen der Freiheit erfolgte Nöthigung, gleich einer Nöthigung unser Willkür als freie Willkür.“ 6 Dies soll selbstverständlich keineswegs heißen, dass Kants praktische Philosophie ein Spätprodukt des Wolffianismus ist. In der „Vorrede“ der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hat Kant sich ausführlich über sein (kritisches) Verhältnis zu Wolffs Philosophia practica universalis geäußert: „Man denke doch ja nicht, daß man das, was hier gefordert wird [nämlich die Entwicklung einer ,reinen", von allem Empirischen befreiten Moralphilosophie, D.H.], schon an der Propädeutik des berühmten Wolff vor seiner Moralphilosophie, nämlich der von ihm so genannten allgemeinen praktischen Weltweisheit, habe, und hier also nicht eben ein ganz neues Feld einzuschlagen sei. Eben darum, weil sie eine allgemeine praktische Weltweisheit sein sollte, hat sie keinen Willen von irgend einer besondern Art, etwa einen solchen, der ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Principien a priori bestimmt werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte, sondern das Wollen überhaupt in Betrachtung gezogen mit allen Handlungen und Bedingungen, die ihm in dieser allgemeinen Bedeutung zukommen, und dadurch unterscheidet sie sich von einer Metaphysik der Sitten, eben so wie die allgemeine Logik von der Transscendentalphilosophie, von denen die erstere die Handlungen und Regeln des Denkens überhaupt, diese aber bloß die besondern Handlungen und Regeln des reinen Denkens, d.i. desjenigen, wodurch Gegenstände völlig a priori erkannt werden, 5

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lichkeit bzw. der obligatio, der bekanntlich schon im Römischen Schuldrecht zu finden war, gehörte zu den zentralen Kategorien der rechts- bzw. moralphilosophischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts.7 Kants Metaphysik der Sitten und die dort entwickelte Theorie der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes stellt in der Geschichte des Obligationsbegriffs gewissermaßen den Höhe- und Endpunkt einer Entwicklung dar, die Samuel Pufendorfs Naturrechtslehre begonnen hatte. Nach Kant verlieren die Philosophen wie die Juristen offenbar das Interesse an den verbindlichkeitstheoretischen Debatten: Hegels Rechtsphilosophie, in welcher die Begriffe der „Verpflichtung“ bzw. der „Pflicht“ im Moralitätskapitel behandelt werden,8 ist für diese Tendenz das beste Beispiel.

II. Wolffs Begründung der obligatio naturalis Wirft man einen Blick auf Wolffs Grundlegung der praktischen Philosophie, so fällt auf, dass diese in vielen Punkten mit der Naturrechtslehre Pufendorfs im Widerspruch steht. Dieser Widerspruch manifestiert sich vor allem in Wolffs Revision zweier Grundbegriffe der praktischen Philosophie bzw. der Naturrechtslehre – d. h. in der Revision des Begriffs des Gesetzes und desjenigen der Verbindlichkeit. Was die Definition des Gesetzes betrifft, so kritisiert Wolff die pufendorfsche Definition, nach welcher das Gesetz als der verbindliche Befehl eines übergeordneten Befehlshabers zu betrachten sei, weil hierdurch sowohl der Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als auch derjenige der inneren moralischen Qualität der vorträgt“ (GMS, AA 04: 390). Darüber hinaus ist Kant der Auffassung, dass Wolff und seine Anhänger durch den systematischen Bezug auf den empirischen Willen des Menschen und die Frage seiner psychologischen Determination, die entscheidende Grundlegungsfrage der Metaphysik der Sitten verfehlt: „Denn die Verfasser jener Wissenschaft [der allgemeinen praktischen Weltweisheit, D.H.] bleiben ihrer Idee von derselben auch hierin treu; sie unterscheiden nicht die Bewegungsgründe, die als solche völlig a priori bloß durch Vernunft vorgestellt werden und eigentlich moralisch sind, von den empirischen, die der Verstand bloß durch Vergleichung der Erfahrungen zu allgemeinen Begriffen erhebt, sondern betrachten sie, ohne auf den Unterschied ihrer Quellen zu achten, nur nach der größeren oder kleineren Summe derselben (indem sie alle als gleichartig angesehen werden) und machen sich dadurch ihren Begriff von Verbindlichkeit, der freilich nichts weniger als moralisch, aber doch so beschaffen ist, als es in einer Philosophie, die über den Ursprung aller möglichen praktischen Begriffe, ob sie auch a priori oder bloß a posteriori stattfinden, gar nicht urtheilt, nur verlangt werden kann“ (ebd., 391). 7 Zur Geschichte des Verbindlichkeitsbegriffs vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, Berlin 1966 sowie die richtungsweisende Studie von Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau, München 21999 sowie der in Anm. * genannte Sammelband von Bunke, Mihaylova und Ringkamp. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bänden, red. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt am Main 1970, §§ 133 ff.

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guten bzw. bösen Handlungen aufgehoben würde.9 Mit seiner eigenen Definition des Gesetzes – „Lex dicitur regula, juxta quam actiones nostras determinare obligamur“10 – eliminiert die wolffsche Definition in charakteristischer Weise den Bezug auf das Moment des fremden, befehlsgebenden Willen und verknüpft mit dem Begriff des Gesetzes ausschließlich denjenigen der moralischen Nötigung.11 Auch im Hinblick auf den Begriff der Verbindlichkeit versteht Wolff seine Lehre als eigentlichen Gegenentwurf zu Pufendorf, auf den die irreführenden und deshalb abzulehnenden Annahmen, dass das natürliche Gesetz nur auf Grund des göttlichen Willensentschlusses verbindlich ist, dass der moralische Wert einer Handlung davon abhängt, dass Gott sie befohlen bzw. verboten hat, und schließlich die These, dass jede Verbindlichkeit nur als eine äußere, von einem anderen auferlegte Nötigung gedacht werden kann zurückgingen.12 Eine besondere Pointe gewinnt Wolffs Polemik durch den Vorwurf, dass Pufendorfs moralpositivistische Position selber dem Atheismus Vorschub leiste.13 Gerade Pufendorfs Leugnung der notwendigen Verknüpfung zwischen der Natur und dem Wesen des Menschen und der Dinge mit der natürlichen Verbindlichkeit einerseits und durch die systematische Verbindung des Begriffs der Verbindlichkeit mit dem Willen Gottes andererseits mache es den Atheisten leicht, mit dem Glauben an Gott auch alle natürliche Verbindlichkeit aufzuheben.14 Christian Wolff, Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 10, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1971 (Frankfurt am Main, Leipzig 1738), § 131 nota: „Vulgo definiunt legem per jussum superioris promulgatum ipsumque obligantem; sed hæc non est definitio legis in genere. Hæc definitio illorum est, qui obligationem naturalem tollunt, bonitatem ac malitiam intrinsecam actionum negantes & antecedenter ad voluntatem Dei tanquam superioris actiones in universum omnes pro indifferentibus habentes. Cum igitur intrinsecam actionum malitiam atque bonitatem in anterioribus stabiliverismus, probatam & philosophis antiquis, & Theologis; legem quoque in genere definimus, quemadmodum fert diversa obligatio ad actiones quasdam committendas, quasdam vero omittendas.“ 10 Ebd., § 131. 11 Vgl. Hartung, Naturrechtsdebatte (wie Anm. 7), 133, der hierin zu Recht die Besonderheit des wolffschen Obligationsbegriffs sieht. 12 Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), §§ 63 nota, 245; Christian Wolff, Philosophia moralis sive Ethica III, Gesammelte Werke, II. Abt. Bd. 14, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1970 (Halle 1751), § 91; Christian Wolff, Theologia naturalis methodo scientifica pertracta, Gesammelte Schriften, II. Abt., Bd. 7.2, hg. von Jean $cole, Hildesheim, New York 1978 (Frankfurt am Main, Leipzig 1739), §§ 974 f.; Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica / Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, übers., eingel. und hg. von Michael Albrecht, Hamburg 1985, 250 Anm. 190; Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 9, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, Zürich, New York 1996 (Frankfurt am Main 21733) § 137. 13 Diesen Punkt hebt auch Hartung, Naturrechtsdebatte (wie Anm. 7), 131 mit Recht hervor. 14 Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 245: „Lex naturæ subsistit etiam in hypothesi impossibili athei; hoc est, ex eo, quod atheus ponit non dari Deum, minime sequitur, non 9

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Für die weitere Entwicklung der moralphilosophischen Debatten im 18. Jahrhundert richtungsweisend ist der Umstand, dass sich mit Wolffs praktischer Philosophie der systematische Ort verändert, an welchem der Begriff der Verbindlichkeit abgehandelt wird: Während bei Pufendorf und seinen Nachfolgern die Frage nach dem Begriff der Verbindlichkeit ein Problem darstellt, das der Naturrechtslehre zugehörig ist, zieht Wolff die Abhandlung dieses Begriffs in die Philosophia practica universalis, also in diejenige Wissenschaft, welche das normative Fundament sowohl für die Naturrechtslehre als auch für die Ethik im engeren Sinne liefert. Aber insbesondere in einer anderen Hinsicht stellt Wolffs praktische Philosophie gegenüber den bisher vorgestellten Konzeptionen der Verbindlichkeit einen systematischen Fortschritt dar, insofern in ihr der Schwachpunkt von Pufendorfs voluntaristischen Begründung der Verbindlichkeit problematisiert wird: Dieser Schwachpunkt liegt darin, dass – ich zitiere hier eine Formulierung von Julius Ebbinghaus – „das Prinzip des göttlichen Willens selber schlechthin jenseits alles dessen liegt, was den Charakter einer für den Menschen denkbaren Gesetzlichkeit haben könnte.“15 Für den einer solchen willkürlichen Gesetzgebung unterworfenen Menschen bedeutet diese voluntaristische Begründung der Verbindlichkeit nicht nur, dass er sich von der göttlichen Gesetzgebung und damit von den Gründen, warum Gott dieses oder jenes geboten bzw. verboten hat, überhaupt keinen Begriff machen kann, sondern auch, dass der Gedanke der Unterwerfung unter eine solche willkürliche Gesetzgebung unmittelbar die Möglichkeit der Moralität des Willens aufhebt. Denn wenn behauptet wird, dass die Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze nur darauf beruhe, dass Gott dies befohlen habe, so folgt daraus, dass diese Befolgung so gut wie die Unterwerfung unter den Willen Gottes eigentlich jedes möglichen moralischen Grundes entbehrt, weil es keinen immanenten, im natürlichen Gesetz oder in den von ihm auferlegten Pflichten selbst liegenden Grund der Befolgung gibt. Der Grund, warum die Menschen die natürlichen Gesetze als Gottes Gebote befolgen, kann dann nur in derjenigen Eigenschaft liegen, „die ich auch unabhängig von den Bestimmungen seidari legem naturæ. Etenim lex naturae ponitur posita hominis rerumque natura atque essentia (§ 136) & ejus obligatio rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura habet (§ 143). Quamobrem etsi atheus neget dari Deum (§ 411. part II, Theol. nat.); non tamen ideo negare potest, hanc esse hominis rerumque essentiam, quam independenter a cogitatione Dei cognoscimus. Admittere igitur tenetur legem naturae, stante hypothesi impia, consequenter Lex naturae subsistit etiam in hypothesi impossibili athei. Nimirum non valet consequentia, si atheus ita argumentetur: Non datur Deus. Ergo non datur lex naturae, seu nulla datur obligatio ad actiones alias committendas, alios vero omittendas, nisi quae a lege humana venit. […] Non nego, dari atheos, qui negant legis naturalis existentiam; sed ratio, cur negant, non desumitur ab impia eorum hypothesi, si rem curatius spectes“. 15 Julius Ebbinghaus, Über die Idee der Toleranz. Eine staatsrechtliche und religionsphilosophische Untersuchung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht, hg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1986, 311.

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nes Willens denken kann, nämlich in seiner Allmacht“,16 sodass sich trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Pufendorfs Verbindlichkeitsbegriff als maskiertes Gewaltverhältnis erweist. Angesichts dieser Problematik hat Wolff einen neuartigen Begriff der obligatio naturalis entwickelt, dessen Einführung er selbst als seine eigentliche Leistung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie betrachtet hat: Ich habe einen allgemeinen Begriff von der Verbindlichkeit gegeben, dergleichen man bisher nicht gehabt, und, da er wie alle wahre und deutliche Begriffe fruchtbar ist, daß sich daraus alles herleiten lässet, was von der Verbindlichkeit erkandt werden mag, daraus erwiesen, daß in der Natur des Menschen und der Beschaffenheit der freyen Handlungen eine Verbindlichkeit gegründet sey, welche ich die natürliche nenne, und die auch derjenige erkennen muß, welcher entweder GOTT nicht erkennet, was er für ein Wesen ist, oder wohl gar leugnet, daß ein GOTT sey. Ob ich nun aber gleich mit Grotio und unsern Theologis behauptet, daß auch in hypothesi impossibili athei, oder, bey der unmöglichen Bedingung, daß kein GOtt seyn solle, ein Gesetze der Natur eingeräumet werden müsse, um diejenigen ihrer Thorheit zu überzeugen, welchen die Atheisterey deswegen anstehet, weil sie alsdenn ihrer Meynung nach leben möchten, wie sie wolten; so bin ich doch weiter auf gestiegen und habe gezeiget, daß der Urheber dieser natürlichen Verbindlichkeit GOTT sey und daß er über dieses den Menschen noch auf andere Weise verbindet seine Handlungen dergestalt zu dirigiren, damit sie zu seiner, ja des gantzen menschlichen Geschlechts und der gantzen Welt Vollkommenheit gereichen. In soweit uns nun GOtt verbindet, haben wir ihn als den Gesetzgeber des natürlichen Rechts anzusehen. Weil ich aber gefunden, daß die Menschen das Gesetze als eine Last ansehen und ihnen einbilden, als wenn GOtt aus einer blossen Herrschsucht ihre Freyheit eingeschräncket hätte; so habe ich gewiesen, wie sich GOtt als einen Vater bey dem Gesetze der Natur aufführet, indem er uns ein Gesetze vorgeschrieben, welche das Mitte ist, wodurch wir unsere Glückseligkeit auf Erden erreichen können.17

Durch diesen Begriff habe er – so erklärt Wolff an anderer Stelle – „erwiesen, daß die Handlungen der Menschen an sich nothwendig gut oder böse sind, keines Weges aber erst durch den Befehl oder das Verboth eines Oberen gut oder böse werden.“18 Die moralische Qualität des Handelns wird mit Bezug auf den Vollkommenheitsbegriff bestimmt: „Was unsern so wohl innerlichen, als äusserlichen Zustand vollkommen machet, das ist gut (§ 422 Met.); hingegen was beyden un-

Julius Ebbinghaus, Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Interpretation und Kritik, hg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1990, 398 f. 17 Wolff, Ausführliche Nachricht (wie Anm. 12), § 137. 18 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Deutsche Ethik), Gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 4, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, New York 1976 (Frankfurt am Main, Leipzig 41733), Vorrede zur zweiten Auflage. – Dass diese Konzeption der ,moralitas objectiva" bzw. der ,bonitas ac malitia intrinseca actionum" (Wolff, Philosophia practica universalis [wie Anm. 9], §§ 55 ff.) auf die Scholastik zurückgeht, hat Wolff selbst betont, vgl. Wolff, Ausführliche Nachricht (wie Anm. 12), § 137. 16

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vollkommener machet, ist böse (§ 426 Met.).“19 Diese ontologische Verankerung der Konzeption der natürlichen Verbindlichkeit dient dazu, den Unterschied von guten und bösen Handlungen „als unabhängig von der menschlichen Konvention und unabhängig von einer besonderen göttlichen Autorität aufzuzeigen“,20 letztlich also dazu, die Autonomie der praktischen Philosophie zu gewährleisten. Die moralische Notwendigkeit, welche die Verbindlichkeit des Gesetzes darstellt, beruht nicht auf der Beziehung dieses Gesetzes auf den göttlichen Willen, sondern hängt von den jeweils vorliegenden psychologischen Bedingungen des Willensentschlusses, d. h. von dem Vorliegen der entsprechenden Motive ab.21 In diesem Zusammenhang unterscheidet Wolff zwischen der obligatio activa und der obligatio passiva. Während jene aus dem Willen des Verpflichtenden durch die Verknüpfung zwischen einem Motiv und einer Handlung hervorgeht,22 bezeichnet die obligatio passiva die Notwendigkeit der durch den Akt des Verpflichtens (actus obligatorius)23 zur Pflicht gemachten Handlung. Die aktive Verbindlichkeit ,verbindet" zu einer Handlung dadurch, dass sie diese mit einem bestimmten Motiv verknüpft.24 Demgegenüber drückt die obligatio passiva die – durch die obligatio activa entstandene – moralische Notwendigkeit aus, ,eine Handlung so und nicht anders zu bestimmen".25 Was nun den Ursprung der obligatio naturalis angeht, so liegt er nicht in der impositio, d. h. in der Auferlegung Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), § 3; Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 55; Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 19, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim, New York 1980 (Halle 1754), §§ 13–15. – Wolff hat den Begriff der Vollkommenheit deshalb in seiner Philosophia moralis sive ethica, methodo scientifica pertracta V (Gesammelte Werke, II. Abt. Bd. 16, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1973 [Halle 1753]) auch als „fons philosophiæ meæ practicæ“ (Præfatio) bezeichnet; vgl. hierzu Klaus-Gert Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 173 ff. 20 Christian Schröer, Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant, Stuttgart u. a. 1988, 144. 21 Vgl. Hartung, Naturrechtsdebatte (wie Anm. 7), 129. 22 Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 118: „Connexio autem motivi cum actione, sive positiva, sive privativa obligatio activa appelatur.“ 23 Ebd., § 121: „Actus obligatorius dicitur, quo obligatio inducitur passiva“. 24 Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 35: „Die Verbindlichkeit […] ist die Verbindung eines Bewegungsgrundes mit einer Handlung“. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), § 8: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anderes als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpfen.“ 25 Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 118: „Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva“; Christian Wolff, Jus naturae I, Gesammelte Schriften, II. Abt., Bd. 17, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim, Zürich, New York 2003 (Frankfurt am Main, Leipzig 1740), § 57 nota: „Obligatio autem necessitas moralis actionem sic & non aliter determinandi“. 19

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durch einen übergeordneten Befehlshaber, sondern in der teleologisch gedachten, auf Verwirklichung der Vollkommenheit abzielenden Natur als solcher. Wolff bestimmt deshalb die obligatio naturalis auch als diejenige Verbindlichkeit, „die im Wesen des Menschen und der Dinge ihren hinreichenden Grund hat“, sodass mit der Natur des Menschen und der Dinge auch die natürliche Verbindlichkeit gegeben ist.26 Weil folglich alle Moralität unmittelbar in der Natur des Menschen verankert ist, tut ein vernünftiger Mensch Gutes und unterlässt das Böse nicht „in Ansehung der Belohnung und aus Furcht der Straffe“, sondern weil er sich selbst das Gesetz des Handelns gibt, ohne außer der Erkenntnis in die moralische Qualität einer Handlung eines weiteren Motiv zu bedürfen.27 Moralität ist also für Wolff die Ausrichtung des eigenen Willens in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz: „Weil wir durch die Vernunfft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz [als das natürliche], sondern vermittels seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz“.28 Man versteht deshalb auch, warum Wolff so vehement auf die voluntaristische Begründung der Verbindlichkeit durch Pufendorf u. a. reagierte: Die Hypostasierung des göttlichen Willens bzw. die Ablösung des Begriffs der Verbindlichkeit von der rationalen Natur des Menschen beraubt diesem Begriff das sichere, weil ontologische Fundament. Dagegen beruhen die willentlichen Entscheidungen der Menschen nach Wolffs intellektualistischer Auffassung nicht auf Furcht vor Strafe, sondern darauf, dass der Wille selbst durch die Erkenntnis des Guten und Bösen, das mit bestimmten Handlungen der Menschen notwendig verknüpft ist, bestimmt wird. Der Wille der Menschen ist so beschaffen, dass die Erkenntnis des Guten, das mit einer Handlung verknüpft ist, einen „Bewegungs-Grund des Willens […], daß wir sie wollen“, darstellt, so wie umgekehrt die Erkenntnis des Bösen „ein Bewegungs-Grund des nicht Wollens, oder des Abscheues für einem Dinge“ ist.29 In dieser Hinsicht ist die Verbindlichkeit mit der Motivierung Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 129. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), § 38. 28 Ebd., § 24. Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), § 268: „Homo ratione valens & utens sibimetipsi lex est“. – Schröer, Naturbegriff und Moralbegründung (wie Anm. 20), 213: „Der Schlüssel zum Kern der Wolffischen Moralbegründung liegt somit in der These, der vernünftige Mensch sei kraft seiner Vernunft sich selbst das Gesetz und brauche darüber hinaus keine weiteren Gesetze“; siehe auch Clara Joesten, Wolffs Grundlegung der praktischen Philosophie, Leipzig 1931, 27 ff. 29 Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), §§ 6 f. In seinen Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, Gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 3, hg. von Charles A. Corr, Hildesheim, New York 1983 [Frankfurt am Main 41740], § 155 [ad § 492 der Deutschen Metaphysik]) verweist Wolff darauf, dass er unter dem Willen „im engeren Verstande“ wie die Scholastiker die „vernünfftige Begierde“ (appetitus rationalis) versteht. – Zu den systematischen Problemen, die mit dieser intellektualistischen Sicht der Willensfreiheit 26

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des Willens durch die Vorstellung des Guten bzw. Bösen, das mit einer Handlung verknüpft ist, identisch. Diese Psychologisierung des Obligationsbegriffs, die das Ziel verfolgt, „die rein positivistische Auffassung der Verbindlichkeit“, wie sie Wolff bei Pufendorf vorfand, zu bekämpfen“, stellt in der Tat – wie Clemens Schwaiger hervorgehoben hat – eine ,tiefgreifende Neuerung" in der neuzeitlichen Obligationstheorie dar.30 Manche Interpreten sind in Bezug auf Wolffs ethische Gesetzgebung der Auffassung, dass es sich hierbei schon um ein Konzept der Autonomie, d. h. der Selbstgesetzgebung dergestalt handelt, dass der moralische Mensch keine anderen Gesetze anerkennt als diejenigen, die er sich selber gibt.31 In der Tat sind die Fortschritte des wolffschen Moralitätsbegriffs nicht zu übersehen: Zum einen beruht dieser Begriff auf dem Prinzip der Autonomie der Moralphilosophie, d. h. ihrer Unabhängigkeit von theologischen Voraussetzungen,32 zum anderen aber eliminiert der wolffsche Begriff der Sittlichkeit jeglichen Bezug auf einen fremden gesetzgebenden Willen unübersehbar. Aber weder die Autonomie der Moralphilosophie noch Wolffs Konzept der Moralität als innere Willensbestimmung des Menschen reichen hin, um aus seiner Moralphilosophie eine Ethik der Autonomie – jedenfalls im kantischen Sinne – zu machen. Das Prinzip der wolffschen Ethik ist das Prinzip der Selbstbindung, durch die sich der Mensch kraft eigener Vernunft unter das natürliche Gesetz stellt. Zwar ist es auch bei Wolff die Willensbestimmung durch eigene Vernunft, die das Wesen der Moralität ausmacht. Aber wozu diese Vernunft den Willen bestimmt, ist keineswegs die Übereinstimmung der Handlungsmaximen mit der „eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens“,33 sondern nur die Übereinstimmung der Maximen mit einem Gesetz, das dem Willen selbst als universale Norm vorausliegt.34 Wolffs Moralphilosophie beverbunden sind, vgl. Hans M. Wolff, Die Anschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, Bern 1949, 109 ff. 30 Clemens Schwaiger, Ein ,missing link" auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics 8 (2000), 251 f. 31 Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan 1961 (Monographien zur philosophischen Forschung 23), 40. 32 In diesem Sinne spricht Clara Joesten, Wolffs Grundlegung (wie Anm. 28), 26 ff. von der „Autonomie der Moral“ bei Wolff. Dass die Aufstellung einer autonomen Moral (im Sinne der Bekämpfung anderer, z. B. theonomer Moralprinzipien) von Kants Setzung des Prinzips der Autonomie des Willens als alleinigem Prinzip der Sittlichkeit zu unterscheiden ist, hat mit Nachdruck Klaus Reich betont, siehe Klaus Reich, Kant und Rousseau, in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), 86 f. 33 GMS, AA 04: 431. 34 Zu dieser für das Verständnis des Unterschieds zwischen Wolffs und Kants praktischer Philosophie entscheidenden Differenz zwischen Selbstbindung und Autonomie vgl. Georg Geismann, Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch für Recht und Ethik /

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ruht also nicht auf dem Prinzip der Selbstgesetzgebung, durch die der Mensch qua praktischer Vernunft sein Wollen und Handeln auf die Bedingungen der möglichen Übereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetz einschränkt, sondern auf der von dem Prinzip der Autonomie zu unterscheidenden Prinzip der Selbstbindung an ein dem Willen systematisch vorhergehendes Gesetz, dessen Geltungsgrund nicht die praktische Vernunft, sondern die teleologische Verfasstheit von Welt und Natur ist.35 Allerdings ist Wolffs Versuch, den Gedanken der Selbstbindung bzw. der Selbstverpflichtung des Individuums durch sich selbst in der praktischen Philosophie zu etablieren, mit einer Reihe von Problemen behaftet. Ich nenne hier nur Wolffs letztlich unbefriedigende Verhältnisbestimmung von praktischer Philosophie und Moraltheologie. Während die rein rationale Begründung der Normen im Rahmen der Philosophia practica universalis die Verpflichtungskraft des Naturrechts allein aus dem „Wesen des Menschen und der Dinge“ ableitet, betrachtet die Theologia naturalis die natürlichen Gesetze als Ausfluss des göttlichen Willens. Obwohl Wolff behauptet, dass der Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes nicht im Willen Gottes liegt, sondern „ihren hinreichenden Grund in dem Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge“36 habe, hat er zugleich daran festgehalten, dass man die Normen des natürlichen Rechts auch als Gebote Gottes und somit Gott als den Autor und den Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes betrachten könne.37 Der Grund für den Rückgang auf Gott als Urheber und Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes liegt in Wolffs Überzeugung, dass die Menschen und die Welt im Ganzen sich nicht selbst begründen, sondern als kontingente Erscheinungen auf Gott als ihre notwendige Ursache verweisen.38 Dementsprechend erklärt er in der Deutschen Metaphysik: „Wenn Gott nicht wäre, so wären keine Menschen und auch kein Recht der Natur“.39 Beide Weisen der BeAnnual Review of Law and Ethics 8 (2000), 441 f. Zum Verhältnis von Wolffs Vollkommenheitsprinzip und Kants Begriff der Autonomie siehe auch Schröer, Naturbegriff und Moralbegründung (wie Anm. 20), 196–206. 35 Vgl. Wolfgang Röd, Die deutsche Philosophie im Zeitalter der Aufklärung. I: Christian Wolff, in: ders. (Hg,), Geschichte der Philosophie, Bd. 8: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau, München 1984, 252. 36 Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 38; vgl. hierzu B*n*dict Winiger, Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs. Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs, Berlin 1992, 179. 37 Wolff, Philosophia practica universalis I (wie Anm. 9), §§ 273 ff.; Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 41. 38 Anton Bissinger, Zur metaphysischen Begründung der Wolffschen Ethik, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1983, 153. 39 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), Gesammelte Schriften, I. Abt., Bd. 2, hg. von

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gründung der Verbindlichkeit – die philosophische und die moraltheologische – stehen nach Wolffs Verständnis nicht in einer begründungstheoretischen Konkurrenz, sondern sie unterscheiden sich nur durch ihre jeweiligen Gesichtspunkte. Klammert man die ontologische Problematik der Kontingenz der Welt allerdings aus, dann behält die praktische Philosophie den Charakter einer autonomen Wissenschaft. Dies wiederum bedeutet, dass der Rückgriff auf Gott als Urheber der Welt im Hinblick auf die Frage nach der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes systematisch überflüssig ist.40 Darüber hinaus bricht sich der verbindlichkeitstheoretische Intellektualismus Wolffs an seiner pessimistischen Einschätzung der moralischen Möglichkeiten der menschlichen Natur in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Weil der vergesellschaftete Durchschnittsmensch sich im Zustand der Sklaverei der Sinne befindet41 und deshalb den Forderungen der Vernunft nicht zugänglich ist, wird de facto in Wolffs Politik und Staatsrechtslehre die autonome Geltung der Verbindlichkeit, nach welcher der Weise die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit der Handlungen durch seine eigene Vernunft erkennt und diese Einsicht zum Bestimmungsgrund seines Willens, d. h. zum Gesetz seines Freiheitsgebrauchs macht, ohne durch die Furcht vor Strafe dazu motiviert zu werden, zum bloß idealen, aber faktisch illusionären Fluchtpunkt der praktischen Philosophie. Theorie und Praxis der Moralphilosophie fallen bei Wolff als ideale Selbstgesetzgebung des Weisen auf der einen und als faktische Zwangsgesetzgebung für die Toren auf der anderen Seite auseinander.42 Denn obwohl die Rechtspflichten der Menschen Charles A. Corr, Hildesheim, Zürich, New York 1983 (Halle 111751), § 364 Anm. Vgl. Anton Bissinger, Zur Wolffischen Ethik (wie Anm. 38), 154. 40 Wolff, Theologia naturalis (wie Anm. 12), § 975 Anm.: „Obligationem hic deducimus ex voluntate Numinis tanquam Domini nostri, cum hic tantummodo agatur de obligatione divina, non autem de naturali, quam illi contradistinctam explicabimus in Philosophia practica universali. Absit itaque ut quis sibi persuadet, nos in eorum abiisse sententiam, qui negata actionum intrinseca honestate ac turpitudine nullam in homine obligationem quoad directionem actionum liberarum agnoscunt, quam quæ est a superiore.“ 41 Wolff, Deutsche Metaphysik (wie Anm. 39), § 491; Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), §§ 180 ff. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants (wie Anm. 31), 41 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass bei Wolff „die Erfahrung der tatsächlichen sittlichen Beschaffenheit des Menschen den Sieg über die Konsequenzen der metaphysischen Theorie davongetragen“ hat. Ähnlich Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und 18. Jahrhunderts, München 1977 (Münchener Studien zur Politik 27), 219: „Wolff, der in seiner Metaphysik von dem Bemühen ausgegangen war, die Idee des intellektuellen und sittlichen Unvermögens der Menschen zu widerlegen, gerät in der Politik unter dem Druck der praktischen Verhältnisse zur Leugnung der Erkenntnisfähigkeit der Vernunft, die die Leugnung der spontanen menschlichen Fähigkeit zur Vollkommenheit einschließt.“ 42 Zu diesem Unterschied zwischen Selbst- und Zwangsgesetzgebung, mit der Wolff auf ein altes, schon im Schlusskapitel der Nikomachischen Ethik zu findendes Motiv zurückgreift, vgl.

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insgesamt auf einer natürlichen Verbindlichkeit beruhen, ist die natürliche Verbindlichkeit als solche in praxi „nicht hinlänglich“, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten: [S]o muß daher noch eine neue Verbindlichkeit im gemeinen Wesen dazu kommen, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig gefunden wird. Es kan aber diese Verbindlichkeit auf zweyerley Weise bewerckstelliget werden, theils wenn man auf die Ubertretung dessen, was man geordnet, Straffen setztet, oder auch mit desselben Erfüllung Belohnungen verknüpffet, theils wenn man sie mit äusserlichem Zwange (welcher die Hülffe genennet wird) bedrohet, woferne sie nicht gutwillig sich bequemen wollen. Nemlich so wohl die Furcht für der Straffe und Hoffnung der Belohnung, als auch die Furcht vor der Hülffe ist ein Bewegungs-Grund zu thun, was befohlen wird (§ 496 Met.) und solchergestalt werden wir dadurch solches zu thun verbunden (§ 8 Mor.).43 Wolff, Oratio / Rede (wie Anm. 12), 37: „Wer sich mit einer verworrenen Erkenntnis der Dinge zufriedengibt und durch kein anderes Streben als durch jenes, das die Philosophen das sinnliche nennen, und durch die daraus entstandene Gemütsbewegungen zu Handlungen angetrieben wird, der eignet sich eine bloße Gewohnheit an, richtig zu handeln, die hauptsächlich durch die Furcht vor einem Herren aufrecht erhalten werden muß, damit sie nicht dann, wenn sich die Gelegenheit bietet, durch das Gegenteil aufgehoben wird. Und in diesem Zustand unterscheidet sich der Mensch nicht von den Tieren, denen die Natur zwar den Gebrauch der Vernunft nicht gewährt hat, die Empfindung aber und das Streben, das daraus entsteht, nicht verweigert hat. Wie man unvernünftige Tiere an bestimmte Handlungen zu gewöhnen pflegt, so gewöhnen sich die Menschen in diesem Zustand an Handlungen, die nach unserer Willkür zu vollbringen sind. […] Wer aber seinen Geist zur deutlichen Erkenntnis der Dinge erhebt und durch dasjenige Streben, das die Philosophen das vernünftige nennen, zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim Guten zu bleiben, keinen Herren, da er ja den inneren Unterschied zwischen Gut und Böse erkennt und ihn, wenn es nötig ist, anderen zureichend erklären kann.“ 43 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes (Deutsche Politik), Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 5, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, New York 1975 (Frankfurt am Main, Leipzig 41736), § 341. – Zum Problem der Unzulänglichkeit der bloß natürlichen Verbindlichkeit und zur Notwendigkeit positiver Gesetze vgl. auch ebd., § 401: „Von den bürgerlichen Gesetzen: Nothwendigkeit der bürgerlichen Gesetze. Es sind zwar alle Handlungen der Menschen durch das natürliche Gesetze determiniret, ob sie gut oder böse sind und ist eben dieses Gesetze das allervollständigste, so daß es nichts übrig lässet, welches erst durch andere Gesetze dörffte determiniret werden, ob es gut oder böse sey (Moral § 27). Und dennoch sollte man meinen, man könne mit dem natürlichen Gesetz allein auskommen und habe kein anderes weiter von nöthen. Allein es finden sich doch allerhand Ursachen, warumb man im gemeinen Wesen auch noch andere Gesetze gebrauchen muß, welche man die bürgerlichen zu nennen pfleget, weil sie im bürgerlichen Leben nöthig sind. Nemlich anfangs ist schon oben (§ 341) angemercket worden, daß die natürliche Verbindlichkeit nicht hinlänglich ist die Menschen zur Erfüllung des Gesetzes der Natur zu bringen und man dannenhero im gemeinen Wesen noch eine neue Verbindlichkeit einführen müßte, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig gefunden wird. Die Natur verbindet uns durch dasjenige, was aus unseren Handlungen veränderliches für uns und unseren Zustand erfolget (Moral § 9). Da nun dieses durch die Vernunft beurtheilet werden muß (Moral § 23), nicht aber jedermann den Grad der Vernunft besitzet, welcher zu dieser Beurtheilung

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Diese Zwangsgesetzgebung nimmt die Menschen nicht, wie sie sein sollen, sondern so, wie sie sind,44 nämlich in der Regel unvernünftig und deshalb nur durch die Zwangsandrohung des positiven Rechts bestimmbar. Während die natürliche Verbindlichkeit für den vernünftigen Menschen ein zureichendes Motiv des gerechten Handelns bildet,45 bedarf der Unvernünftige, wenn er in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz leben soll, einer anderen Handlungsmotivation: Bei dem unvernünftigen Menschen sind die Belohnungen und Straffen Bewegungs-Gründe die guten Handlungen zu vollbringen, und die bösen zu unterlassen (§ 36). Und dannenhero vollbringet ein Unvernünftiger das Gute, und unterlässet das Böse aus Furcht für der Straffe, und in Ansehung der Belohnung: worinnen sie den Kindern gleich sind, die durch Straffen und Belohnungen zum guten angetrieben und von dem Bösen abgehalten werden, weil sie aus Mangel der Vernunft der natürlichen Verbindlichkeit keinen Platz einräumen. Ja Kinder und sie

erfordert wird, absonderlich wo es sich nicht deutlich zeiget, daß etwas aus diesen, oder jenen Handlungen entsprungen, absonderlich da die Natur öffters nach langen Zeiten sich erst zeiget, was durch eine Handlung angestifftet worden; so kan auch nicht jedermann durch die natürliche Verbindlichkeit zu Beobachtung seiner Pflichten gebracht werden. Wenn man nun im gemeinen Wesen durch eine besondere Art die Unterthanen zu dem verbindet, was das Gesetze der Natur erfordert; so wird das natürliche Gesetze zu einem bürgerlichen Gesetze (Moral §§ 17 f.). Unterweilen geschiehet es, daß das Gesetze der Natur sich nicht genau beobachten lässet, weil es dadurch zu vielem Streite und Uneinigkeit würde Anlaß geben, nachdem man im gemeinen Wesen verbunden ist einem jeden, dem Unrecht geschiehet, Recht zu verschaffen (Politik, §§ 330, 400). Derowegen ist nöthig an stat des natürlichen Gesetzes ein anderes zu geben, dabey zwar unterweilen einiges Unrecht erduldet, jedoch aber dadurch zugleich mehrerem Unheile vorgebeuget wird. […] Und also haben wir bürgerliche Gesetze nöthig, die in einigen Fällen von den natürlichen abweichen. Man findet ferner, daß unterweilen die natürlichen Gesetze einerley Handlung nach den gar verschiedenen Fällen, die sich dabey ereignen können, auf gantz verschiedene Weise determiniren. Wenn nun wiederumb im gemeinen Wesen daher viele unvermeidliche Weitläuffigkeiten aus vorhin angegebenen Ursachen entstehen: so muß man sie entweder überhaupt auf einerley Art determiniren, oder doch auf wenigere Fälle bringen. Und solchergestalt bekommen wir abermahl bürgerliche Gesetze, die von dem natürlichen unterweilen abweichen“. 44 Christian Wolff, Jus naturæ VIII, Gesammelte Schriften, II. Abt., Bd. 24, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim 1968 (Halle, Magdeburg 1748), § 1 nota: „Enimvero non supponendi sut homines, quales esse debent, sed quales sunt.“ 45 Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), § 38: „Da ein vernünftiger Mensch ihm selbst ein Gesetz ist und ausser der natürlichen Verbindlichkeit keine andere brauchet (§ 24); so sind auch weder Belohnungen, noch Straffen bey ihm Bewegungs-Gründe zu guten Handlungen, und zu Vermeidung der bösen (§ 36). Und vollbringet dannenhero ein Vernünftiger das Gute, weil es gut ist, und unterlässet das Böse, weil es böse ist: in welchem Falle er GOtt ähnlich wird, als der keinen Oberen hat, der ihn verbinden kan das Gute zu thun, und das Böse zu lassen (Met. § 947); sondern bloß jenes thut, dieses unterlässet durch die Vollkommenheit seiner Natur (Met. § 981).“ – Zu den mit der Einführung der Zwangsgesetzgebung in Wolffs natürliche Moral entstehenden systematischen Problemen vgl. die bereits zitierte Studie von Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht (wie Anm. 41), 214 ff.

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sind mit einander dem unvernünftigen Viehe gleich, welche bloß durch Schläge dazu gebracht werden, wozu sie sonst nicht zu bringen sind.46

Weil die Mehrheit der Menschen zu einer rationalen moralischen Selbstbestimmung nicht fähig ist, bildet die Religion, genauer die Vorstellung des Jüngsten Gerichts bzw. der göttlichen Strafe, in Wolffs Augen ein geeignetes politisches Mittel zur Durchsetzung normkonformen Verhaltens. Wolffs Skepsis gegenüber der Rationalität des Durchschnittsbürgers treibt ihn dazu, die Durchsetzung religiöser Überzeugungen für eine Aufgabe zu halten, derer sich der Staat zur Sicherung der öffentlichen Ordnung in verstärktem Maße widmen muss. Aus der staatlichen Aufgabe, die Wohlfahrt der Gesellschaft47 zu befördern, leitet Wolff dementsprechend auch die aus der Sorge um Frömmigkeit und Religiosität48 erwachsenden religionspolitischen und kirchenrechtlichen Maßnahmen der Staatsgewalt ab. Z. B. folgt aus der sittlichkeitsstiftenden Wirkung des Gottesdienstes die Pflicht der einzelnen Bürger zur Teilnahme am Gottesdienst,49 während andererseits der Herrscher verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass Gott verehrt wird, dass die kirchlichen Feiertage eingehalten werden und alle Untertanen an diesen Tagen am Gottesdienst teilnehmen50 sowie die Verbreitung aller religionsfeindlichen Auffassungen zu unterdrücken, weil sowohl diejenigen, die Gottes Existenz leugnen, als auch diejenigen, die leugnen, dass er sich um die menschlichen Dinge kümmert, die obligatio divina und insoweit auch das natürliche Gesetz aufheben.51 Der Grund für die Unterdrückung der Ausbreitung religionsfeindlicher Ansichten liegt also darin, dass diese geeignet sind, die übrigen Bürger im Glauben und in der Erfüllung des natürlichen Gesetzes zu beeinträchtigen. Die Frage, wieweit Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 18), § 39. Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 837. 48 Christian Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 44), §§ 457 f.; Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 43), § 366; Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 1024. 49 Dem Einwand, der Zwang zur Teilnahme am Gottesdienst produziere nur Heuchelei, begegnet Wolff folgendermaßen: „[S]o weiß doch ein jeder, daß im bürgerlichen Leben die Heucheley besser ist, als öffentlich gottlose seyn, weil dadurch das Aergernis gehoben und der Werth der Religion erhalten wird“ (Wolff, Deutsche Politik [wie Anm. 43], § 421). 50 Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 44), § 471. 51 Ebd., § 472; Wolff, Grundsätze (wie Anm. 19), § 1024: „Damit aber die Unterthanen von GOtt und seinem Willen, von der Tugend und Lastern und von dem Gottesdienste belehret, zur Tugend ermuntert, und von den Lastern zurück gezogen werden mögen, so lieget einem Oberherrn auch die Sorge für den äusserlichen Gottesdienst ob (§ 179), daß nämlich Kirchen, in welchen man des Gottesdienstes wegen Zusammenkünfte hält, aufgebauet, Feststage, welche dem Gottesdienst gewidmet, bestimmet, und öffentliche Lehrer so über den Gottesdienst gesetzt sind, und dasjenige lehren, was in gottesdienstlichen Zusammenkünften zu lehren ist, bestellet werden. Demnach erhellet gantz leicht, daß man es nicht dulden müsse, daß der Gottesdienst oder die Religion, welches eine gewisse Art GOtt zu dienen ist, in Verachtung komme und allerley der Religion und guten Sitten zuwider lauffende Meinungen ausgestreuet werden.“ 46

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das staatliche Ermessen in Rücksicht auf den Moralzwang und die Unterdrückung abweichender Ansichten geht, hält Wolff nicht für ein Problem der Bestimmung der rechtlichen Grenzen der Staatsgewalt, sondern für ein Problem der prudentia civilis.52 Wie im Strafrecht im Allgemeinen53 zeigt sich auch hier, dass Wolff über keinerlei Kriterium verfügt, die Grenzen des legitimen Rechtszwangs zu bestimmen. Noch verschärft wird dieses Problem durch Wolffs Auffassung, dass die Sorge um die Tugendhaftigkeit der Bürger eine der zentralen Wohlfahrtsaufgaben des Herrschers darstellt. Auf der Grundlage der naturrechtlichen Forderung der Verwirklichung des bonum commune bzw. allgemeiner Glückseligkeit durch allseitige Vervollkommnung der Individuen gelangt Wolff zu einer moralteleologischen Staatszweckbestimmung, in welcher der Staat als oberster Tugendwächter bzw. als „Agent der Vervollkommnung“54 erscheint und die Realisierung des status civilis und der Rechte der Bürger zugleich der Förderung der Moral dient: Das bonum commune auf der einen und die Beförderung der individuellen Moral durch die Rechtsordnung auf der anderen Seite sind die korrespondierenden Prinzipien der wolffschen Staatszwecklehre: Da die Beförderung der gemeinen Wohlfahrt auf der Beobachtung des Gesetzes der Natur beruht, so muß derjenige, der den Willen haben soll sie zu befördern, eine Fertigkeit haben, seinen Handlungen dem Gesetze der Natur gemäß einzurichten und also tugendhaft seyn.55

Die bei Hobbes, Pufendorf und Thomasius sich abzeichnende Differenzierung von Recht und Moral, von legitimem Zwang und individueller Vervollkommnung wird bei Wolff wieder rückgängig gemacht zugunsten einer „durchgehenden Moralisierung der Rechtsverhältnisse“.56 Für Wolff gilt, was Diethelm Klippel für die Staatszwecklehre des älteren Naturrechts insgesamt festgestellt hat, dass nämlich „der unbegrenzte und schwankende Wohlfahrtsbegriff als Staatszweck […] zu einer Ausdehnung der Eingriffsmöglichkeit des absolutistischen Staates“ führt.57 Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 44), § 471 Anm. Vgl. zum Problem der Unbegrenztheit der staatlichen Strafgewalt bei Wolff meine Rezension des Neudrucks des strafrechtlichen Systems des Wolff-Schülers Engelhard Regner, Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechts aus den Grundsätzen der Weltweisheit, und besonderst des Rechtes der Natur hergeleitet, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), 595–597. 54 Vgl. hierzu Lutterbeck, Staat und Gesellschaft (wie Anm. 19), 192 ff. 55 Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 43), § 242. 56 Hartung, Naturrechtsdebatte (wie Anm. 7), 146; vgl. hierzu auch Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit: Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien, Köln, Graz 1979, 141. 57 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 23), 51. 52

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Zwar ist auch Wolff der Auffassung, dass die Staatsgewalt nicht unmittelbar auf die moralische Innerlichkeit der Bürger einwirken kann, aber sie kann durch ihre Politik „günstige Voraussetzungen und Bedingungen für ein moralisches Verhalten“58 der Staatsbürger schaffen und erhalten.59 III. Ausblick auf Kant Welches sind die Ergebnisse unserer Analyse des wolffschen Verbindlichkeitsbegriffs im Hinblick auf die Ethik Kants? Ich möchte an dieser Stelle nur zwei Aspekte des Einflusses, den Wolffs Moralphilosophie auf Kants Ethik gehabt hat, hervorheben: die Emanzipation der Moralbegründung von theologischen bzw. theonomen Voraussetzungen und den Aspekt der Selbstverpflichtung. 1. Was den ersten Aspekt angeht, so bildet die Loslösung der Geltung der naturrechtlichen Verbindlichkeit von der Existenz eines göttlichen gesetzgebenden Willens für Wolff eine moralphilosophisch akzeptable Option. Zwar ist diese Ablösung nicht vollständig, weil die theonomiefreie Konzeption der Verbindlichkeit nur eine theoretische Möglichkeit der Begründung der Moralität darstellt. Denn Wolff verfolgte mit seiner Moralphilosophie nicht die Absicht, die theologische Fundierung des Naturrechts60 als solche zu bestreiten. Die These von einer religionsunabhängigen Begründung der Moral und die Diskussion um die mögliche Moralität der Atheisten bedeutete insbesondere keine radikale Ersetzung des im Wesen Gottes fundierten Naturrechts durch eine säkulare Begründungsvariante. Im Zentrum der Bemühungen von Wolff und seinen Nachfolgern (Heinrich Köhler, Gottlieb Alexander Baumgarten und Georg Friedrich Meier) stand vielmehr das Interesse, eine angemessene Antwort auf die atheistische Herausforderung zu geben, indem sie die atheistische Gefahr gewissermaßen entschärften: Den Atheisten und diversen Religionskritiker sollte durch den Nachweis einer theologiefreien Begründung moralischer Normen die Möglichkeit versperrt werden, aus ihren religionsfeindlichen Ansichten zugleich destruktive Konsequenzen im Hinblick auf moralische Werte zu ziehen.61 Diese Gefahr bildete offenbar das SchreckgeGertlieb Gmach, Staat und Kirche bei Christian Wolff, Diss. jur. München 1975, 106. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 44), § 456: „Curæ esse debet Rectori civitatis, ut subditi sint virtute dediti, & ne a virtutis tramite ad vitia deflectant, & qui deflectunt a vitiis revocentur & in viam rectam reductantur.“ 60 Allerdings nicht in der Offenbarungsreligion, sondern im Rahmen der sogenannten natürlichen Theologie. 61 Vgl. hierzu Dieter Hüning, Das Naturrecht der Atheisten. Zur Debatte um die Begründung eines säkularen Naturrechts in der deutschen Aufklärungsphilosophie, in: Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie, Tübingen 2016, 409–424. Solche ,nilistischen" Konsequenzen 58

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spenst der Moralphilosophen, obwohl sie selbst überwiegend die Tugendhaftigkeit der Atheisten vom Schlage Spinozas62 betonen und erst nach der Entwicklung des Naturrechts für Atheisten mit La Mettrie ein bekennender Atheist auftreten wird, der den Atheismus in eine nihilistische Kritik moralischer Werte ausmünzt.63 Für Kant ist – wie schon für Wolff – die Geltung des Sittengesetzes von der Voraussetzung der Existenz Gottes unabhängig, denn – so heißt es in der Kritik der Urteilskraft – der moralische Beweis vom Dasein Gottes will nicht sagen: es ist eben so nothwendig das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen […]. Gesetzt also: ein Mensch überredete sich, theils durch die Schwäche aller so sehr gepriesenen speculativen Argumente, theils durch manche in der Natur und Sittenwelt ihm vorkommenden Unregelmäßigkeiten bewogen, von dem Satze: es ist kein Gott; so würde er doch in seinen eigenen Augen ein Nichtswürdiger sein, wenn er darum die Gesetze der Pflicht für bloß eingebildet, ungültig, unverbindlich halten und ungescheut zu übertreten beschließen wollte.64

hatte z. B. La Mettrie (in seinem Discours sur le bonheur) mit seiner programmatischen Forderung der Beseitigung der Schuldgefühle gezogen, vgl. hierzu Catia Goretzki, Die Beseitigung des Schuldgefühls. Der Skandal um den Kerngedanken der materialistischen Ethik Julien Offray de La Mettries, in: Holger Glinka, Kevin Liggieri, Christoph Manfred Müller (Hg.), Denker und Polemik, Würzburg 2013, S. 81–103. Aber La Mettries explizite Stellungnahme erschien nur als Bestätigung der gängigen Vorstellung, dass Immoralität eine notwendige Konsequenz des Atheismus sei. 62 Wenn Spinoza bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Atheist betrachtet wurde, ist dies ein Hinweis auf den oftmals unspezifischen Gebrauch, der vom Begriff ,Atheist" bzw. ,Atheismus" gemacht wurde, insofern unter ihn diverse heterodoxe Auffassungen in Sachen Unglauben subsumiert wurden. - Zur Rolle des tugendhaften Atheisten in den Debatten der deutschen Aufklärungsphilosophie vgl. Michael Czelinski-Uesbeck, Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland, Würzburg 2007 sowie die Kontroverse zwischen Winfried Schröder und Michael Czelinski-Uesbeck: Winfried Schröder, Zwei ,tugendhafte Atheisten". Zum Verhältnis von Moral und Religion bei Pierre Bayle, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 16 (2004), 5–20 und Michael Czelinski-Uesbeck, (K)Ein Tugendhafter Atheist. Eine Replik auf Winfried Schröders Artikel „Zwei ,tugendhafte Atheisten". Zum Verhältnis von Moral und Religion bei Pierre Bayle“, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 17 (2005), 237–251. 63 Zwar bildet die Leugnung Gottes einen gravierenden Irrtum des Verstandes und dementsprechend ist es nach Auffassung der Wolffianer auch wünschenswert, die Ausbreitung atheistischer Lehren strafrechtlich zu sanktionieren. Aber das bloße Haben einer atheistischen Überzeugung ist juridisch irrelevant, jedenfalls solange der Atheismus bloß theoretisch bleibt, also nicht auf den Willen übergreift. 64 KU, AA 05: 450 f.

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Aber Kant geht über Wolff hinaus, indem er die Möglichkeit einer theonom begründeten Moralphilosophie überhaupt bestreitet.65 Mit Kants Ethik sind endgültig alle Versuche einer theonomen Moralbegründung obsolet geworden. Dies deutet sich schon in einer Bemerkung an, die sich in Kants Handexemplar von Baumgartens Initia philosophiae practicae von 1760 findet. Bekanntlich hat Kant seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie Baumgartens Kompendium zugrunde gelegt. Dort, wo Baumgarten vom „ius naturae athei“ spricht, findet sich der für Kants Ethik charakteristische Kommentar: „Der Wille Gottes enthält wohl die größesten motiva obligationis, aber nicht den Grund der form moralischer Gesetze“, von dem Grund der Verbindlichkeit selbst ganz zu schweigen.66 Der Glaube an Gott wird hier von Kant reduziert auf seine motivationale Funktion, er ist – wie schon Köhler, Baumgarten und Meier hervorgehoben hatten – ein Mittel der „Verstärkung“ der Motivation zur Befolgung der moralischen Gesetze, aber er ist – und hierin unterscheidet sich Kant deutlich von den genannten Wolffianern – der Grund der Verbindlichkeit der moralischen Gesetze selbst. Gott ist in dieser Hinsicht für Kant vielmehr systematisch völlig überflüssig und jeder Versuch, ihm eine moralphilosophische Grundlegungsfunktion zuzuweisen, führt zu Heteronomie. Das Argument der formalen Autonomie der Moralbegründung, d. h. die Unabhängigkeit der Erkenntnis und Befolgung moralischer Gesetze vom Glauben, wird bei Kant nunmehr im Unterschied zu der Vorgehensweise bei den Wolffianern gegen die theologische Moralfundierung gewendet. In der Vorlesung zur Moralphilosophie (Nachschrift Kaehler) stellt Kant die Frage, ob das principium der Diiudication der Moral ein theologisches sey […]. Wenn das wäre, so müsten alle Völker erst Gott erkennen, ehe sie den Begrif von den Pflichten hätten; also müste folgen, daß alle Völker, die keinen rechten Begriff von Gott hätten, auch keine Pflichten hätten, welches aber falsch ist. Völker erkannten ihre Pflichten richtig, sie sahen ein die Häßlichkeit der Lügen ohne den rechten Begrif von Gott zu haben. […] Folglich müssen die Pflichten aus einem anderen Quell entlehnt seyn.67

Allerdings spielt Gott auch in der kantischen Ethik eine gewisse (allerdings im hohen Maße problematische) Rolle. Diese Rolle betrifft selbstverständlich nicht die moralphilosophische Fundierung der ethischen Prinzipien. Kant spricht vielmehr dem Glauben, der aber ein moralisch intendierter „Vernunftglaube“ sein muss, eine wichtige motivationale Funktion zu, insofern Kant der Auffassung ist, V-Mo/Kaehler(Stark), 60 f. Dort erklärt Kant, das Moralprinzip müsse als „unmittelbares principium der Sittlichkeit […] ein pur reines intellectuelles principium der reinen Vernunfft“ sein, „so fern der Grund der Sittlichkeit durch den Verstand unmttelbar erkannt wird“. Aber dieses Prinzip muss dem Willen des Menschen zugleich immanent sein: „[E]s kann nicht heissen, du sollst nicht lügen, weil es verbothen ist. Demnach kann das principium der Moralität auch kein externum folglich auch kein Theologicum seyn“. 66 Refl. 6500, AA 19: 35. 67 V-Mo/Kaehler(Stark), 50. 65

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„daß der Mensch ohne die Voraussetzung der Existenz Gottes sein moralisches Verhalten nicht vor seinem eignen Bedürfnis nach Glückseligkeit rechtfertigen könne“.68 Dass also überhaupt auf die Vorstellung Gottes als des moralischen Welturhebers zurückgegriffen werden muss, hängt mit einem spezifischen „Mangel“ der Moralphilosophie zusammen: Das moralische Gesetz für sich verheißt […] keine Glückseligkeit; denn diese ist nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt mit der Befolgung desselben nicht nothwendig verbunden. Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel […] durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen, als eines Reiches Gottes, in welchem Natur und Sitten in eine jede von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht.69

An die Stelle der unbezweifelten Annahme der Notwendigkeit des Glaubens an Gott als einer Bedingung der Möglichkeit der Moralität tritt die als zureichend erachtete Annahme, dass der Glaube der Sache nach eine Art wünschenswerte „Verstärkung“ der Verpflichtungskraft des moralischen Gesetzes darstellt. In der Kritik der Urteilskraft wird Kant diesen Aspekt der motivationstheoretischen Notwendigkeit des Glaubens gegen Spinoza geltend machen: Es sei zwar möglich, dass ein rechtschaffener Mann wie z. B. Spinoza, „der sich für überredet hält: es sei kein Gott und […] auch kein künftiges Leben“, moralisch handelt. Aber er hat ein Problem, wenn es darum geht, „seine eigene innere Zweckbestimmung durch das moralische Gesetz, welches er thätig verehrt“, zu beurteilen. Denn er kann keine Hoffnung auf einen moralischen Welturheber annehmen, der letzten Endes die Vereinigung von Glückseligkeit und Moralität zu gewährleisten vermag. Vielmehr muss er annehmen, dass sowohl die rechtschaffenen Menschen, die sich um Tugend bemüht haben, ebenso wie die Bösen gleichermaßen „in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie“70 zurückgeworfen werden. 2. Was den zweiten Aspekt betrifft, so kann für Kant wie schon für Wolff Moralität nur darin bestehen, dass der Tugendhafte das Gute selbst will und nicht bloß deshalb, weil ein anderer ihm dies befiehlt. Die bloße Konformität seines Willens mit einem vorgegebenen Gesetz aufgrund des Befehls eines anderen stiftet bestenfalls Legalität. Aber wie gezeigt, verbleibt das Prinzip von Wolffs Ethik in der Sphäre der Heteronomie, weil das moralische Gesetz, an welches sich der Wille selbst bindet, kein von der praktischen Vernunft selbst gegebenes Gesetz, sondern ein diesem Willen vorausgesetztes ist. Die Revolutionierung der MoralphiSo die Formulierung von Julius Ebbinghaus, in: John Locke, Ein Brief über Toleranz, hg. von dems., Hamburg 1966, 128. 69 KpV, AA 05: 128. 70 KU, AA 05: 452. 68

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losophie durch die Begründung ethischer Normen auf das Prinzip der Autonomie blieb Immanuel Kant vorbehalten. Christian Wolffs praktische Philosophie stellt eine wichtige Etappe innerhalb der Entwicklung der Ethik im 18. Jahrhundert dar. Dies gilt insbesondere für den Begriff der Ethik, der aus Wolffs Auseinandersetzung mit Pufendorfs Moralvoluntarismus hervorgegangen ist. Anders als Pufendorf spielt für Wolff die Figur des Gesetzgebers des moralischen Gesetzes keine Rolle. Das moralische Gesetz gilt nicht, weil es von Gott befohlen ist, sondern weil es unseren Zustand vollkommen macht. Diese Konzeption führt bei Wolff zugleich zu einer veränderten Auffassung der Moralität: Diese besteht nicht in dem Gehorsam gegen den göttlichen Willen, sondern in der freiwilligen Unterwerfung unter das moralische Gesetz. Allerdings ist dieses Gesetz nicht von der praktischen Vernunft selbst gegeben, sondern es wird vom moralischen Gesetz vorgefunden. Insofern ist Wolffs Ethik eine Ethik freier Selbstbindung, nicht eine Ethik, die auf dem Prinzip der Autonomie beruht. Christian Wolff!s ethics represents a major point in the development of moral philosophy in the eighteenth century, especially regarding the concept of obligation. Contrary to the voluntarist approach of Samuel Pufendorf, God plays no main role in Wolff!s concept of obligation. Our obligation to follow the moral law did not depend on God!s will, but on its quality to perfect our condition. But for Wolff, the moral law is not a rule of pure practical reason but is based on our self-binding to the moral law. Apl. Prof. Dr. Dieter Hüning, Kant-Forschungsstelle, Universität Trier, Universitätsring 15, 54296 Trier, E-Mail: [email protected]

Luc Langlois Der Begriff der Verbindlichkeit bei Baumgarten und sein Einfluss auf Kants Moralphilosophie

Als Kant zum ersten Mal die allgemeinen Grundzüge seiner Moralphilosophie in der Preisschrift von 1762/64 darstellte, gingen daraus vier Hauptthemen seines Vorhabens hervor. Auf den drei dicht beschriebenen Seiten, die er in der Preisschrift der praktischen Philosophie widmet,1 stellt sich erstens heraus, dass Kant die Verbindlichkeit als den zentralen Begriff der Moralphilosophie betrachtet, obwohl die Klage zum Ausdruck gebracht wird, „wie wenig selbst [dieser] erste Begriff […] noch bekannt ist, und wie entfernt man als davon sein müsse, in der praktischen Weltweisheit die zur Evidenz nöthige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundsätze zu liefern.“2 Zweitens unterscheidet Kant die praktischen Bereiche der Glückseligkeit und der moralischen Verbindlichkeit; der erste betrifft die Handlungen, die zu vollziehen sind, um glücklich zu sein, während der zweite diejenigen Handlungen umfasst, die zu vollziehen sind, insofern sie einem notwendigen Zweck unterworfen sind.3 Auf der Grundlage dieser Schritte wird drittens das Sollen als das Resultat einer doppelten Notwendigkeit konzipiert: die Notwendigkeit der Mittel (necessitas problematica) mit Hinblick auf einen beliebigen Zweck (den Zweck der Glückseligkeit), und die Notwendigkeit der Zwecke (necessitas legalis), wodurch „die Handlung als unmittelbar Siehe UD, AA 02: 298–300. Ebd., 298. 3 Ebd.: „Wer einem andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseeligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdann nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Theile zerfällen will, d.i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will. Da nun der Gebrauch der Mittel keine andere Nothwendigkeit hat, als diejenige, so dem Zwecke zukommt, so sind so lange alle Handlungen, die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt, zufällig und können keine Verbindlichkeiten heißen, so lange sie nicht einem an sich nothwendigen Zwecke untergeordnet werden.“ 1

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nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks“4 geboten wird. Viertens distanziert sich Kant in der Behandlung der Moralphilosophie deutlich von dem logisch-deduktiven Verfahren Christian Wolffs, der die moralischen Wahrheiten als eine bloße Anwendung der theoretischen Wahrheit konzipierte. Weit davon entfernt sich auf die logische Wahrheit reduzieren zu lassen, setzt die Moral der Ansicht Kants nach ein anderes Vermögen als das der Erkenntnis voraus, nämlich das Vermögen, „das Gute zu empfinden“, das er als ein „Gefühl“ charakterisiert.5 Es gibt demgemäß ein formales Prinzip der Verbindlichkeit, welches eine allgemeine Regel zur Sprache bringen, das konkrete Handeln aber gleichwohl nicht leiten kann, sowie materiale Prinzipien des Gefühls, aufgrund derer der Wille direkt erfährt, was das Gute ist und wie zu handeln ist.6 Wenn man von der Tatsache ausgeht, dass der Begriff der Verbindlichkeit im Zentrum des kantischen Denkens steht, drängt sich die Frage auf, wer Kant auf diesen Weg geführt haben mag, zumal die kantische Denkentwicklung im Hinblick auf die praktische Philosophie in der Preisschrift noch in den Kinderschuhen steckte. Genauer gesagt drängt sich die Frage auf, ob es Crusius war oder Baumgarten, der den kantischen Begriff der Verbindlichkeit inspiriert hat. Auf diese Weise formuliert lässt die Frage zwei andere mögliche Inspirationsquellen jedoch gänzlich außer Acht: Wolff und Hutcheson. Das ist allerdings erklärungsbedürftig. Dass Kant sich bereits in der Preisschrift von der praktischen Philosophie Wolffs distanzierte, ist nicht zu bezweifeln, denn Kant teilt weder Wolffs eudämonistische Perspektive,7 die darauf hinausläuft, die moralische Verbindlichkeit bloß als ein Mittel für die menschliche Vollkommenheit, d. h. für die GlückseligEbd., 298 f. Vgl. ebd., 299. 6 Ebd.: „Und nun kann ich mit wenigem anzeigen, daß, nachdem ich über diesen Gegenstand lange nachgedacht habe, ich bin überzeugt worden, daß die Regel: Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist, der erste formale Grund aller Verbindlichkeit zu handeln sei, so wie der Satz: Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird, es in Ansehung der Pflicht zu unterlassen ist. Und gleichwie aus den ersten formalen Grundsätzen unserer Urtheile vom Wahrem nichts fließt, wo nicht materiale erste Gründe gegeben sind, so fließt allein aus diesen zwei Regeln des Guten keine besonders bestimmte Verbindlichkeit, wo nicht unerweisliche materiale Grundsätze der praktischen Erkenntniß damit verbunden sind. Man hat es nämlich in unsern Tagen allerest einzusehen angefangen: daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniß, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und daß beide ja nicht mit einander müssen verwechselt werden. Gleichwie es nun unzergliederliche Begriffe des Wahren, d.i. desjenigen, was in den Gegenständen der Erkenntniß, für sich, betrachtet angetroffen wird, giebt, also giebt es auch ein unauflösliches Gefühl des Guten“. 7 In diesem Sinne schreibt Wolff in der Philosophia moralis: „Finis ethicae est felicitas hominis“. Christian Wolff, Philosophia moralis sive ethica, methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 12, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1970 (Halle 1750), § 8. 4

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keit, zu machen, noch die soeben erwähnte Idee, dass sich die moralischen Wahrheiten deduktiv beweisen lassen. Aufgrund eines Zusammenspiels mehrerer Einflüsse, die schwer aufzuklären sind, scheint Kant hingegen überzeugt zu sein, dass der Verbindlichkeit eine intrinsische, aber noch undeutlich definierte Notwendigkeit eigen ist, aufgrund derer sie sich von den bloßen Vorschriften einer Moralität der Klugheit unterscheiden lässt. Kants Enthusiasmus für die Moral-Sense-Philosophie führt ihn darüber hinaus zu der Auffassung, dass die moralischen Prinzipien ihre eigene Evidenz haben, die Kant ab 1770 allmählich mit der Vernunft identifiziert, die selbst praktisch ist und sich daher von der theoretischen unterscheidet. Nichtsdestotrotz könnte man die Auffassung vertreten, dass Kant in der Preisschrift von Wolff eben das formale Prinzip der Verbindlichkeit übernimmt, nämlich „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist […] Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“.8 Dass Wolff Kant hierbei beeinflussen konnte, ist selbstverständlich möglich, nun möchte ich aber den Vorschlag unterbreiten, dass Kant an dieser Stelle eher von Baumgarten inspiriert wird. Dass dem so ist, lässt sich aus zwei Gründen zeigen. Erstens nimmt der moralische Begriff der Vollkommenheit in der Preisschrift eine andere Bedeutung an als diejenige, die Wolff ihm zuschreibt. Kants diesbezügliche Auffassung bringt eine im eigentlichen Sinne moralische Bedeutung der Vollkommenheit zur Sprache, in welcher die Beeinflussung durch Baumgartens Initia philosophiae practicae primae (1760) zu spüren ist – darauf komme ich später zu sprechen. Zweitens räumt Wolff dem Begriff der Verbindlichkeit in seinen Schriften einen weniger bedeutenden Platz ein als Baumgarten, der in den Initia die Verbindlichkeit zum zentralen Thema der praktischen Philosophie macht.9 Aus diesen Gründen ist es also unwahrscheinlich, dass das deontologische Motiv in Kants praktischem Denken bei Wolff Inspiration finden konnte. Das gilt umso mehr für Hutcheson, den Autor, dem Kant in der Preisschrift und in der Nachricht sein Lob erteilt. Bei näherem Hinsehen lässt sich zu der Einsicht kommen, dass UD, AA 02: 299. In den fast 1.400 Seiten seiner Philosophia practica universalis widmet Wolff dem Begriff der Verbindlichkeit nur noch ein Kapitel („Pars I, Caput II, De obligatione ac lege naturali“). Siehe dazu Christian Wolff, Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 10, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1971 (Frankfurt am Main, Leipzig 1738), §§ 115–270. Damit will ich aber nicht behaupten, Wolff habe keinen direkten Einfluss auf Kants praktische Philosophie gehabt. Im Gegensatz ist es eher die Auseinandersetzung mit Wolffs Begriff der Vollkommenheit, die Kant die Möglichkeit eröffnet, seine eigene Position über die eudämonistische Teleologie Wolffs hinaus zu formulieren. Siehe dazu Luc Langlois, Wolff et les d*buts de la philosophie morale de Kant: l!h*ritage oubli*, in: Sophie Grapotte, Tinca PruneaBretonnet (Hg.), Kant et Wolff. H*ritages et ruptures, Paris 2011, 173–185. Dieser Aufsatz hat allerdings den Mangel, nicht genügend auf die entscheidende Rolle von Baumgartens Verbindlichkeitsauffassung hingewiesen zu haben. 8

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Kant sich niemals gänzlich als Anhänger der Konzeptionen der Moral-Sense-Philosophie bekannte. Der Titel des § 2 der Preisschrift („Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig“) ist in diesem Sinne ein deutliches Indiz dafür. In Bezug auf die entscheidende Frage nach den Prinzipien der praktischen Philosophie fügt Kant im Einklang damit in einer späteren Textpassage der Preisschrift hinzu: „Hutcheson und andere haben unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon [nur] einen Anfang […] geliefert.“10 Daraufhin schließt er, dass „die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist“.11 Letzten Endes ist in der Nachricht ebenfalls zu lesen, dass Shaftesburys, Hutchesons und Humes Versuche über die Moral trotz all ihrer Verdienste unvollkommen seien, und noch „diejenige Präcision und Ergänzung erhalten [sollten], die ihnen mangelt.“12 Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass Kants Begriff der Verbindlichkeit von Hutcheson beeinflusst sein konnte, der übrigens – wie alle anderen angelsächsischen Philosophen – dem moralischen Gefühl eine größere Relevanz als der Verbindlichkeit zuschreibt.13 Was übernimmt also Kant von Hutcheson, das dazu führte, ihn als einen der einflussreichsten Autoren für die kantische Denkentwicklung anzusehen?14 Das ist zweifelsohne die auf der Entdeckung des moralischen Gefühls gründende Auffassung, dass das moralisch Gute einen absoluten Wert enthält, der uns nur durch die unmittelbare Bestätigung des Gefühls bewusst bzw. bekannt ist. Gewiss ist die Moral im Zusammenhang mit der Nötigung zu betrachten, wie es aus dem Begriff der Verbindlichkeit deutlich wird, jedoch steht sie grundsätzlich auch in Verbindung mit den Begriffen der Übereinstimmung, der Zustimmung und der freien Einwilligung. Aus dem moralischen Handeln geht auf diese Weise ein Gefühl der Lust hervor, das unmittelbar und ohne Beweis den Begriff der Vollkommenheit evoziert. Diese Unbedingtheit des GuUD, AA 02: 300. Ebd. 12 NEV, AA 02: 311. 13 Siehe dazu Henning Jensen, Motivation and the Moral Sense in Francis Hutcheson!s Ethical Theory, Den Haag 1971, 89: „Hutcheson is much preoccupied with the concepts of moral good, moral evil, virtue and vice, devoting very little space to the concept of obligation“ (zitiert nach Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 45). Schwaiger weist zudem darauf hin, dass der Philosoph Henry Home, ein Zeitgenosse Hutchesons, in seinen Essays on the Principles of Morality and Natural Religion von 1751 beklagt, dass die Moral-Sense-Philosophie den Begriffen Pflicht und Verbindlichkeit nahezu keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Vgl. ebd. 14 Siehe dazu Dieter Henrich, Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49 (1957/58), 49–69 sowie auch ders., Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: Kant-Studien 54 (1963), 404–431. 10

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ten, die sich für Hutcheson im moralischen Gefühl empfinden lässt, wird von Kant späterhin mit der praktischen Vernunft verknüpft, die einzige Quelle des absoluten und unbedingten Wertes. Es liegt aber nahe, dass in der Preisschrift dieser Beitrag von Hutcheson in keinem direkten Zusammenhang mit der Frage nach der Verbindlichkeit steht. Wenn dem so ist, dann gilt es, sich wieder dem möglichen Einfluss von Crusius und Baumgarten zuzuwenden. Wenn Kant in der Preisschrift zu erklären versucht, dass die moralische Verbindlichkeit mit den Handlungen in Zusammenhang steht, in welchen der Zweck notwendig ist, zieht er zwei charakteristische Fälle dafür in Betracht: „Ich soll z. E. die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handlen“.15 Man kann zweifellos davon ausgehen, dass Kant sich an dieser Stelle jeweils auf Baumgarten und Crusius bezieht. In der Tat dreht sich ein Teil der Debatte in der einschlägigen Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte um die Frage, welcher dieser beiden Autoren im Hinblick auf die Verbindlichkeitsauffassung – und a fortiori auf den Begriff des kategorischen Imperativs – Einfluss auf Kants Denkentwicklung ausübte.16 Von hier aus lautet die zu stellende Frage wie folgt: Hat Crusius oder Baumgarten Kants Konzeption der Verbindlichkeit inspiriert? Meine Antwort dazu mag vielleicht enttäuschend sein, denn sie lautet: gewiss der eine und der andere, wohl aber nicht der eine mehr als der andere. Denn es ist naheliegend, dass Kants Denken über das Zusammenspiel verflochtener Einflüsse – unter welchen nach der Preisschrift auch der Einfluss von Rousseau entscheidend wird – bald an Autonomie gewinnt. Ausgehend vom Verbindlichkeitsbegriff wird Kants praktisches Denken auf den

UD, AA 02: 298. Außer den bereits hier zitierten Aufsätzen von Dieter Henrich ist das Werk von Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim 1961 (Monographien zur philosophischen Forschung 23) seit geraumer Zeit der Referenztext für die Frage nach der Genese und Entwicklung der Moralphilosophie Kants. Allerdings werden seine Ergebnisse, vor allem diejenigen, denen zufolge Crusius als die grundlegende Inspirationsquelle der Unterscheidung zwischen necessitas problematica und necessitas legalis sowie des Begriffs der moralischen Verbindlichkeit angesehen wird, heutzutage in Frage gestellt. In dieser Hinsicht sind die Texte von Clemens Schwaiger diejenigen, die am meisten dazu beigetragen haben, die maßgebliche Relevanz von Baumgarten für Kants Moralphilosophie nachzuweisen. Die Wichtigkeit von Baumgarten sieht Schwaiger bereits in der Preisschrift und deshalb ist der der Moralphilosophie gewidmete Abschnitt dieser Schrift der Ansicht Schwaigers nach eine „Auseinandersetzung mit Baumgarten“, obwohl er im Text nicht genannt wird. Vgl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative (wie Anm. 13), 43; siehe auch Clemens Schwaiger, The Theory of Obligation in Wolff, Baumgarten and the Early Kant, in: Karl Ameriks, Otfried Höffe (Hg.), Kant!s Moral and Legal Philosophy, Cambridge 2009, 58–73 und seine hervorragende Studie zu Baumgarten: Clemens Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. 15

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unbedingten Charakter der moralischen Pflicht fokussieren, womit die Entdeckung des kategorischen Imperativs angebahnt wird. Die in der Anweisung dargestellte Grundidee Crusius! hinsichtlich der Moral besteht darin, dass die moralische Verbindlichkeit ihren Ursprung im bloßen Willen Gottes hat, der aufgrund der Tatsache seiner unendlichen Vollkommenheit die ratio essendi vel fiendi ist. Nichts kann über dieser Vollkommenheit stehen, die ebenso Ausdruck der absoluten Freiheit Gottes ist; und nichts anderes kann ihr vorausgehen, selbst das Prinzip des Widerspruchs nicht. Das moralische Gesetz stammt also aus dem unmittelbaren Bewusstsein unserer Abhängigkeit von Gott, insofern wir endliche, von Gott wesentlich und nicht bloß graduell verschiedene Wesen sind, wie dies Wolff und Leibniz annehmen. Demzufolge ist eine Handlung als gut zu bezeichnen, wenn sie dem universellen Willen Gottes gemäß ist, den der Mensch im Übrigen durch die Vernunft, jedoch eher auf intuitive als auf deduktive Weise, erkennen kann. Insofern das moralische Gesetz nichts anderes als das Gesetz Gottes ist, ist der moralische Wille des Menschen die Instanz der freien Einwilligung zum Gehorsam gegen das göttliche Gesetz, denn Gott ist kein tyrannischer Schöpfer und lässt jedermann die Wahl, seinem Gesetz gemäß zu handeln. Im Anschluss an diese Überlegungen betont Crusius die Unabhängigkeit des Willens von der theoretischen Vernunft, und es ist in der Tat so, dass seine Moralphilosophie demgemäß mit der Thelematologie beginnt, d. h. mit einer Wissenschaft des Willens, die sich durchwegs von der Theorie des Erkenntnisvermögens und der psychologischen Konzeption des Willens wolffscher Natur unterscheidet.17 Die Relevanz der Anweisung in der philosophischen Diskussion jener Epoche ist unbezweifelbar. Als anerkannter Gegner der leibniz-wolffschen Philosophie stand Crusius in den Jahren 1750 bis 1760 im Zentrum der philosophischen Debatten und wurde von Max Wundt in seiner Schrift Kant als Metaphysiker sogar als die philosophische Hauptfigur der Zeit nach Wolff bis zur Publikation der ersten Schriften Kants bezeichnet.18 Es besteht kein Zweifel daran, dass Kant in seiner Denkentwicklung unter dem Einfluss Crusius! gestanden hat. Einige Grundideen von Crusius! Moralphilosophie zeigen sich zwar noch nicht in der Preisschrift, werden allerdings in späteren Schriften Kants deutlich, so z. B. der Vorrang der Frage nach dem Willen gegenüber dem Intellektualismus wolffscher Natur, der bereits die kantische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ankündigt, oder die Fokussierung des moralischen Lebens auf die Erfahrung des Bewusstseins unserer Unterwerfung unter das Gesetz, das zugleich für eine freie Entscheidung des Gehorsams appelliert. Bekanntlich konzipiert Siehe dazu Lukas Sosoe, Introduction, in: Christian August Crusius. Instruction pour une vie raisonnable, übers. von Lukas Sosoe, Paris 2007, 11 ff. 18 Vgl. dazu Max Wundt, Kant als Metaphysiker, Hildesheim, Zürich, New York 1929, 61. 17

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Kant später die Autonomie des Willens – das wahre Epizentrum seiner Moralphilosophie, oder sogar seiner ganzen Philosophie – als die „Erfahrung“ der freien Unterwerfung des Willens unter das eigene Gesetz, woran allein sich seine Freiheit erkennen lässt. In der theozentrischen und heteronomen Form, die Crusius ihm gibt, ist dieser freie Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber selbstverständlich mit der Idee einer praktischen Vernunft nicht gleichzusetzen, aber es kündigt sich dabei ihre grundlegende Struktur an; diese Grundstruktur besteht in den Begriffspaaren Einwilligung-Unterwerfung, Freiheit-Nötigung und kennzeichnet einen freien Willen, der sich selber das Gesetz gibt und zugleich die Wahl hat, einem solchen Gesetz zu gehorchen. Nichtsdestoweniger scheint der offensichtlichere Einfluss von Crusius in der Preisschrift wohl eher die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit der Zwecke (necessitas legalis) und Notwendigkeit der Mittel (necessitas problematica) zu betreffen.19 In § 160 der Anweisung definiert er in der Tat die Verbindlichkeit und die moralische Notwendigkeit auf der Grundlage der Handlungen, die einen Zweck an sich bilden.20 In § 162 trifft er zudem die Unterscheidung zwischen gesetzlicher Verbindlichkeit (Verbindlichkeit der Tugend) und Verbindlichkeit der Klugheit. Die erste bezieht sich auf Zwecke, die an sich einen Wert haben; die zweite ihrerseits auf beliebige Zwecke, die von uns bevorzugt werden (die Glückseligkeit an erster Stelle).21 Auf der Grundlage dieser Unterscheidung weist CruGegen diese gängige Interpretation schlägt Schwaiger eine andere Hypothese vor, mittels derer Crusius’ Einfluss abgemildert wird. Dadurch, dass die lateinische Terminologie (necessitas legalis – necessitas problematica), die Kant übernimmt, in der Anweisung keine Erwähnung findet, lässt sich darauf schließen, dass sie aus anderen Quellen stammt. Schwaiger ruft in diesem Sinne in Erinnerung, dass die Unterscheidung zwischen Ethik und Klugheit allgemein geläufig war, und überprüft entsprechend andere mögliche Quellen der kantischen Unterscheidung: Müller, Burlamaqui, $lie de Joncourt, Fordyce und letztlich Baumgarten. Dieser Ansatz ist sicherlich beachtenswert, meiner Ansicht nach erbringt er aber kein stichhaltiges Argument, wodurch der Einfluss von Crusius auf Kants Verwendung dieser Terminologie widerlegt werden könnte. Siehe Schwaiger, Kategorische und andere Imperative (wie Anm. 13), 52–60. 20 „Eine moralische Nothwendigkeit ist ein solches Verhältniß eines Thuns oder Lassens gegen gewisse Endzwecke, daraus ein vernünftiger Geist verstehen kan, daß es gethan oder gelassen werden soll. Derjenige Zustand, in welchem eine moralische Nothwendigkeit zu etwas vorhanden ist, wird die Verbindlichkeit in weitem Verstande genennet.“ Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 1, hg. von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1969 (Leipzig 11744), § 160. 21 „[D]er Grund der moralischen Nothwendigkeit liegt in einem Gesetze und in unserer Schuldigkeit, dasselbige zu erfüllen; so will ich dergleichen Pflicht eine Pflicht der Tugend nennen.“ Was die Pflichten der Klugheit betrifft, werden sie mit den von uns verfolgten Zwecken identifiziert, aber sie werden unserem Streben nach Glückseligkeit gemäß definiert. Demzufolge unterscheidet Crusius das Gebiet der Moralität von dem der Glückseligkeit. Das ist, was Schneewind übereilt dazu 19

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sius darauf hin, dass, obgleich die wahre Glückseligkeit und die Vollkommenheit ein und dieselbe Sache sind,22 der Zweck der Moralität nicht die eigene Zufriedenheit, sondern der Gehorsam – um seiner selbst willen – gegen das göttliche Gesetze sei,23 obwohl es auch, aber nur indirekt, Bedingung unserer Glückseligkeit ist. In dieser Hinsicht bekräftigt Crusius die Idee, dass die Verbindlichkeit unabhängig von den Strafen und Belohnungen an sich selbst einen Wert hat.24 Es liegt nahe, dass diese Unterscheidung zwischen necessitas legalis und necessitas problematica für die kantische Moralphilosophie prägend wird, und sie führt Kant in der Tat dazu, sich mit dem Begriff der Verbindlichkeit näher zu befassen, indem er, wie schon eingangs behauptet, die Behandlung der Verbindlichkeit bei seinen Vorgängern als unbefriedigend beurteilt. Dies ist also der Kontext, in dem die Rolle Alexander Gottlieb Baumgartens analysiert werden muss. Seit ihrer Publikation im Jahre 1760 sind die Initia dasjenige Handbuch, das Kant mehr als 30 Jahre lang zur Grundlage seiner Vorlesungen in Moralphilosophie machte. Kant wird in diesem Sinne nicht müde, Baumgarten zu loben, und für ihn ist seit jeher klar gewesen, dass Baumgarten mehr als der bloße Popularisator der wolffschen Philosophie war.25 Der erste Aspekt, auf den Kant aufmerksam macht, ist, dass Baumgarten – viel präziser als Wolff – nicht die Glückseligkeit, sondern die Verbindlichkeit als den ersten Begriff der Moralität darstellt: „[Philosophia] practica est sciencia obligationum hominis sine fide cognoscendarum.“26 Man kann also annehmen, dass der Ansicht Kants nach Baumgarten der Philosoph ist, der die herausragende Relevanz des Begriffs der Verbindlichkeit am besten erfasst habe; besser als Crusius sogar, bei dem der Begriff der Verbindlichkeit zwar präsent, wohl aber nicht maßgeblich ist. Wichtiger führt, zu behauptet, „Kant derived his distinction between categorical and hypothetical imperatives from Crusius.“ Siehe Jerome B. Schneewind, Kant and Natural Law Ethics, in: Ethics 104 (1993), 64. 22 Vgl. Crusius, Anweisung (wie Anm. 20), § 157. 23 Vgl. ebd., §§ 175 f. 24 „Man hüte sich ferner vor dem Irrthume, als ob die göttlichen Strafen und Belohnungen deswegen nöthig wären, damit das Gesetz dadurch eine Verbindlichkeit bekomme, indem eben die Furcht der erstern und Hoffnung der letztern die Menschen zum Gehorsam antreiben, und der Endzweck der Gehorsams seyn müßte. Denn dadurch würde alle wahre gesetzliche Verbindlichkeit, § 162, 173, und auch aller wahrer Gehorsam, § 165, aufgehoben.“ Crusius, Anweisung (wie Anm. 20), § 194. 25 In der Praktischen Philosophie Herder erwähnt Kant Baumgartens Kompendium und betrachtet es als „das Sachreichste, und vielleicht sein bestes Buch“. V-PP/Herder, AA 27: 16. Es ist ja möglich, dass Kant sich damit auf die Ethica philosophica von 1740 bezog; wahrscheinlicher ist jedoch, dass dabei die Initia gemeint sind. 26 Alexander Gottlieb Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, Halle 1760, § 1. Ich verweise ebenfalls auf meine Übersetzung ins Französische: Alexander Gottlieb Baumgarten, Principes de la philosophie pratique premi)re, übers. und eingel. von Luc Langlois, in Zusammenarbeit mit Mathieu Robitaille und $milie Jade-Poliquin, Paris 2014.

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ist allerdings, dass Baumgarten der erste ist, der im Hinblick auf die Verbindlichkeit eine spezifische Terminologie entwickelt – vor allem in den §§ 10–59 der Initia –, von denen Kant Gebrauch macht, ohne jedoch zu versäumen, die Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze herauszustellen. Indem Kant in der Preisschrift die Vollkommenheit als erstes, formales Prinzip der Verbindlichkeit darstellt, wird ersichtlich, dass er sie anders als Wolff auffasst, bei dem die Vollkommenheit eine ontologische Bedeutung hat. Insofern Wolff sie als consensus in varietate27 definiert, d. h. als Übereinstimmung des Mannigfaltigen, wird die Vollkommenheit als Prinzip der Realität und als Zweck der Natur interpretiert; die Vollkommenheit ist eine Eigenschaft der Sache selbst. In Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763 setzt die Vollkommenheit hingegen „allemal eine Beziehung auf ein Wesen [voraus], welches Erkenntniß und Begierde hat.“28 Was dieses Verständnis der Vollkommenheit angeht, das einen eigentlich moralischen Charakter annimmt, ist Baumgarten Kant vorausgegangen. Es ist zwar richtig, dass in Baumgartens Metaphysica die Vollkommenheit ihre ontologische Bedeutung beibehält, aber bereits in der Ethica wird sie von Baumgarten als ein Imperativ im weiteren Sinne verstanden; auf diese Weise erweitert sich der Begriff der Vollkommenheit, die von hier aus nicht nur als die eigene Vollkommenheit, sondern auch als Mittel der Vollkommenheit anderer angesehen wird:29 Die Pflicht der Vollkommenheit ist dann auch eine Pflicht zum Handeln für das Wohl und die Glückseligkeit anderer. Aus diesem Grund rückt die ontologische Bedeutung der Vollkommenheit auf eine zweite Ebene und gewinnt entsprechend eine moralische Dimension. Allerdings ist der springende Punkt in den Initia die Milderung der eudämonistischen Ziele der Moralität und die entsprechende Akzentverschiebung hin zum deontologischen Charakter derselben. Während bei Wolff die Verbindlichkeit nichts anderes als eine Notwendigkeit der Handlung ist, die uns die Vernunft für die Erreichung unserer Glückseligkeit zu erkennen gibt und zugleich ein Motiv für die Handlung bildet, geht die Verbindlichkeit für Baumgarten aus einer necessitatio30 (Nötigung) hervor. Mit dem von ihm gebildeten Begriff der necessitatio intendiert Baumgarten herauszustellen, dass die Verbindlichkeit von Beginn Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 2.1, hg. von Charles A. Corr, Hildesheim, Zürich, New York 2003 (Halle 31751), § 152. 28 BDG, AA 02: 90. 29 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Ethica philosophica, Halle 31763 (11740), § 10: „Perfice te […] vel ut finem, quorum tu ipse es ratio perfectionis determinans, vel ut medium, quae te cum aliis consentire faciunt ad rationem perfectionis determinantem extra te posita.“ Siehe dazu auch Baumgarten, Initia (wie Anm. 26), § 43. 30 „Necessitatio moralis est OBLIGATIO.“ Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 4 1757 (11739), § 723. 27

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an eine Aufgabe der Nötigung des Willens selbst ist. Sie besteht darin, etwas Zufälliges notwendig zu machen, d. h. unserer Handlung den Charakter eines Gesetzes zu geben.31 In dieser Hinsicht schreibt Baumgarten, dass die moralischen Gesetze als „verbindliche Sätze“ definiert werden können.32 Diesbezüglich ist bemerkenswert, dass der ganze Inhalt der Initia durch den Begriff der Verbindlichkeit organisiert und dabei in zwei Teile gegliedert wird: die obligatio (§§ 1–59) und die obligantia (§§ 60–205). Die Pointe und der grundlegende Beitrag von Baumgartens Abhandlung besteht darin, den Verbindlichkeitsbegriff von dem im engeren Sinne juridischen Verständnis des römischen Rechts, wonach nur ein vinculum juris ein verbindliches Verhältnis zustande bringt, zu erweitern. Indem er, offensichtlich inspiriert von dem Dekalog und dem Deuteronomium, die Verbindlichkeit in einem weiteren Sinn versteht, bleibt Baumgarten seiner pietistischen Bildung treu und zeigt sich zudem als ausgezeichneter Kenner der biblischen Schriften. Er entwickelt vor allem die Idee, dass es Verbindlichkeiten gibt, die über den juridischen oder religiösen Kontext hinausgehend als rational gelten. Sie betreffen die freie Bestimmung unseres Willens, sein rationelles Vermögen, sich als verpflichtet anzuerkennen, sei es gegen sich selbst, sei es gegen andere (andere Menschen oder Gott). Wenn Baumgarten in § 1 der Initia die praktische Philosophie als „sciencia obligationum hominis sine fide cognoscendarum“ definiert, offenbart er den Pietisten gegenüber seine Zustimmung zum Rationalismus von Leibniz und Wolff. Dasselbe geschieht, wenn er gegenüber den verbissenen Positionen der pietistischen Haupttheologen der Epoche (wie Lange, Francke u. a.), die den mutmaßlichen Atheismus und Determinismus der wolffschen Philosophie denunzierten, zeigt, dass der Glaube und die Vernunft im Hinblick auf die Moral (so wie auf alle anderen Bereiche der Erkenntnis) durchaus in Einklang zu bringen sind. Auf diese Weise wendet Baumgarten in einer Textpassage – unverhohlen gegen Crusius gerichtet – ein, dass das göttliche, positive Recht, wodurch Gott seinen Willen und seine Gebote äußert, mit dem Naturrecht identisch sei. Dieses Recht könne von jedermann, sogar von dem „theoretischen Atheist“ (eine immer wieder auftauchende Figur in den Initia33) erkannt werden, denn „sed quoniam dei voluntas, s. arbitrium liberEbd., § 701: „Necessitatio (coactio), est mutatio alicuius ex contingenti in necessarium.“ Baumgarten, Initia (wie Anm. 26), § 60: „Hinc normae (leges) morales definiri possunt per propositiones obligatorias.“ Diesbezüglich siehe auch Refl 6474, AA 19: 19: „Der Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlund ist praeceptum: Geboth; ein allgemeiner Grund der Verbindlichkeit zu einer Art Handlungen ist lex: Gesetz.“ 33 Dieser Figur des ,theoretischen Atheisten" wird ein wichtiger Platz in Baumgartens Darstellung eingeräumt. Er bezweckt damit zu zeigen, dass es im Hinblick auf die Moral eine Übereinkunft zwischen dem Gläubigen und dem Atheisten geben kann, weil sowohl der eine als auch der andere ein vernünftiges Wesen ist und beide den gleichen Zugang zu den moralischen Wahrheiten haben – obwohl der Gläubige dem Atheisten gegenüber einen Vorteil genießt: Sein moralisches Leben ist 31

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rimum, M. § 898, summam scientiam perfectissime sequitur, M. § 893, omnes eius leges positivae habent simul rationem sufficientem in natura actionis et agentis, s. simul naturales sunt, § 63.“34 Was diesen Punkt betrifft – und das gilt für viele andere Fälle ebenfalls –, wird Kant die Position von Baumgarten übernehmen und radikalisieren: Die Verbindlichkeit ist – gegen die Annahme Crusius! – nicht moralisch, weil Gott sie gewollt hat, sondern Gott wollte sie vielmehr, weil sie moralisch ist.35 Es ist diese Position als pietistischer Aufklärer, anhand derer sich die deontologische Orientierung der Moralphilosophie Baumgartens am besten erörtern lässt. Beeinflusst durch die religiöse Sprache, die rationalistisch umformuliert wird, verfolgt das Denken Baumgartens die selbstgestellte Aufgabe, den Begriff der Verbindlichkeit zu exponieren. Dafür unterscheidet er verschiedene Arten der Verbindlichkeit. Mehrere dieser Unterscheidungen werden in Kants Schriften ein Echo finden: die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Verbindlichkeit (§ 10), zwischen natürlicher und positiver Verbindlichkeit (§ 29), zwischen positiver und negativer Verbindlichkeit bzw. Begehungs- und Unterlassungspflichten (§ 31), zwischen universeller und partikularer Verbindlichkeit (§ 49), zwischen innerer und äußerer Verbindlichkeit (§ 56), zwischen innerer und äußerer Pflicht (§ 92) und vollkommener und unvollkommener Pflicht (ebd.). Von all diesen Begriffspaaren ist dasjenige der aktiven und passiven Verbindlichkeit – und vor allem seine Entsprechung in unvollkommener (bzw. innerer) und vollkommener (bzw. äußerer) Pflicht –, welche auf Kant einen besonderen Einfluss ausübte. Gleich zu Beginn der Reflexionen zur Moralphilosophie, in denen Kant Baumgartens Abhandlung kommentiert, greift er in diesem Sinne auf sie zurück, und zwar in der Reflexion 6457 (datiert von Adickes auf 1764–1766), in welcher die unvollkommene Verbindlichkeit mit der Ethik und die vollkommene Verbindlichkeit mit dem Naturrecht verknüpft werden. Obwohl die Trennung zwischen Ethik und Recht bereits in der thomasianischen Schule geläufig war, reicher und ergiebiger, weil es an den Willen Gottes gebunden ist. Siehe dazu Baumgarten, Initia (wie Anm. 26), §§ 35–38 u. § 71. 34 Ebd., § 69. 35 In Bezug auf diesen Punkt radikalisiert Kant die Position Baumgartens, denn in § 100 der Initia betrachtet Letzterer Gott als Gesetzgeber sowie als Autor der Verbindlichkeiten: „[D]eus est auctor obligationum, adeoque et legum naturalium“. Das ist so, weil Gott den zureichenden Grund in sich trägt. Für Kant hingegen impliziert die praktische Notwendigkeit der moralischen Verbindlichkeiten, dass sie keinen Autor haben und keinem Willen entstammen; sie allein qualifizieren jedoch die Moralität des Willens. Gott ist zwar der Gesetzgeber der moralischen Verbindlichkeiten, insofern sein heiliger Wille bestimmt, was am Gesetz einen Wert an sich hat, aber er ist im strikten Sinne nicht der Autor des Gesetzes, weil sein Wille oder sein Dekret diesem Gesetz nicht vorausgeht. Siehe dazu Refl 6513, AA 19: 48: „Sancit legem, non creat obligationem, sed imponit.“ Vgl. auch dazu GMS, AA 02: 433 f., wo Gott als Oberhaupt des Reichs der Zwecke und nicht als dessen Autor präsentiert wird.

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ist es die Präzisierung durch Baumgartens Begriffspaare (i) aktive/passive Verbindlichkeit und (ii) unvollkommene/vollkommene Pflicht, die für Kants Terminologie bestimmend sein wird. Die aktive Verbindlichkeit äußert ein Motiv, das mich moralisch nötigt, ohne dass ich äußerlich gezwungen werden kann (wie z. B. Almosen an die Arme zu geben); die passive Verbindlichkeit ihrerseits ist das Resultat einer Schuld bzw. einer schuldigen Pflicht, die ich mir gegenüber einem anderen aufgeladen habe und die mich passiv an ihn bindet, derart, dass ich äußerlich genötigt bzw. gezwungen werden kann, diese Pflicht zu erfüllen. Aber über dieses Kriterium des äußerlich-rechtlichen Zwangs hinausgehend wird von Kant, im Anschluss an Baumgarten, die Unterscheidung zwischen der Tugend und dem Recht in einem engen moralischen Sinne verstanden, wodurch der Weg für die Unterscheidung zwischen weiteren und engeren Pflichten bereitet wird. Auf diese Weise wird die Terminologie bzw. die Semantik der Verbindlichkeit, die von Baumgarten in den Initia etabliert wurde, Kants Moralphilosophie von der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bis zur späteren Tugendlehre beeinflussen,36 sodass dabei das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit und Pflichten der Form nach konzipiert wird – das heißt, gemäß der Form, wodurch sie formuliert werden. Es ergibt sich daraus die folgende Gliederung: (i) Enge Pflichten: Das sind die Rechtspflichten (oder Pflichten der Gerechtigkeit), die negativen Pflichten – d. h. sie unterbinden es, gegen die Gerechtigkeit und die menschliche Würde zu handeln – und die vollkommenen Pflichten: Diese Pflichten fungieren als grundlegende und unentbehrliche Bedingungen der Moralität; das Minimum der Moralität. (ii) Weite Pflichten: Diese sind die Tugendpflichten (oder Pflichten der Gutheit), die positiven Pflichten (bejahende Pflichten nach der Terminologie Baumgartens) und die unvollkommenen Pflichten: Inwiefern sie zu vollziehen sind, ist unbestimmt; sie beziehen sich auf die moralische Vervollkommnung und auf das Maximum der Moralität. Während diese Charakterisierung der Verbindlichkeiten der Form nach naheliegender Weise auf die Terminologie der Initia zurückgreift, ist die prägende Wirkung Baumgartens in Bezug auf die Unterscheidung der Verbindlichkeiten der Materie nach, d. h. den Gegenständen nach, auf die sie sich beziehen, weniger deutlich.37 Die Unterscheidung zwischen Recht und Ethik in Baumgartens Auffassung der Verbindlichkeit legt die Vermutung nahe, dass wir zugleich Pflichten Vgl. dazu GMS, AA 04: 421 und MS, AA 06: 390 f. Es ist an dieser Stelle zu präzisieren, dass die Unterscheidung zwischen Form und Materie in den Initia keine Erwähnung findet. Sie verweist nur auf die Begrifflichkeiten der Metaphysik der Sitten (siehe dazu MS, AA 06: 398) und dient sozusagen als ein retrospektiver Test, um die Dimension des Einflusses der Initia auf die Auffassung der Verbindlichkeit bei Kant ermessen zu können. 36

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gegen uns selbst und Pflichten gegen andere haben, aber Baumgarten äußert sich zu diesem Thema lakonisch. Die entscheidende Frage, die Kant sich im Anschluss an Baumgarten stellen wird, bezieht sich auf die Existenz der engeren Verbindlichkeiten gegen uns selbst, d. h. der Pflichten, die unbedingt, ohne Beachtung der Strafe und der Belohnung, gelten und absolute Gebote (Imperative) konstituieren. Diese durchaus entscheidende Frage ist eng mit der Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs verbunden, weil – um die Worte von Victor Delbos in Erinnerung zu rufen – „s’ il n’ y avait pas de devoirs envers nous, il n’ y aurait pas de devoirs du tout.“38 Die Formeln der Vollkommenheit, die in den Initia zu finden sind, können schlechthin als Pflichten gegen sich selbst interpretiert werden.39 Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob sie diesen Pflichtcharakter, der gegen sich selbst sowie auch als Zweck an sich gilt, tatsächlich haben. Die Abschnitte 5 und 6 des II. Kapitels („Obligantia“) der Initia, die der Frage nach Strafe und Belohnung nachgehen, legen die Vermutung nahe, dass das nicht der Fall ist. In der Reflexion 6463, datiert von Adickes auf 1760–1764, schreibt Kant: „2. Necessitatio objectiva est vel categorica vel conditionalis. 3. Obligatio est vel primitiva vel derivativa; prior non habet causas impulsivas.“40 Dies ist das erste Mal, dass Kant das Konzept einer objektiven und kategorischen Notwendigkeit erwähnt. Was er darunter versteht, ist nicht eindeutig; allerdings scheint die zentrale Idee zu sein, dass die „kategorische“ Verbindlichkeit ursprünglich ist; sie ist zudem durch keine causae impulsivae veranlasst, d. h. durch keine elateres bzw. subjektiven Stimuli. Deshalb hat die Verbindlichkeit einen Wert an sich selbst und nicht als Mittel.41 Nun aber sind alle Verbindlichkeiten Victor Delbos, La philosophie pratique de Kant, Paris 1969 (Paris 11905), 582: „N!est-il pas singulier que nous ayons des devoirs envers nous-mÞmes ? Puisque c!est envers nous que nous sommes oblig*s et que par cons*quent c!est nous-mÞmes qui nous obligeons, ne pouvons-nous pas nous d*lier & notre gr* de notre obligation? Qu!on y prenne garde toutefois. Comme il n!y a pas de devoirs, mÞme envers les autres, o( nous ne nous obligions nous-mÞmes en vertu d!une loi *man*e de notre raison, s!il n!y avait pas de devoirs envers nous, il n!y aurait pas de devoirs du tout. Pour r*soudre la difficult*, il suffit d!invoquer la distinction de l!Þtre sensible et de l!Þtre intelligible en nous; l!obligation envers nous-mÞmes, c!est l!obligation envers l!Þtre intelligible, envers l!humanit* dans notre personne.“ 39 Die Formeln sind die folgenden: „fac bonum, adeoque omitte malum“ (§ 39), „committe melius et optimum, omitte minus bona“ (§ 40), „committe, s. fac minus mala, dum impediunt maiora“ (ebd.), „quaere perfectionoem, […] quaere perfectionem quantum potes“ (§ 43), „fac, quod factu tibi optimum est“ (§ 44), „Vive convenienter naturae, quantum potes“ (§ 46), „Ama optimum, quantum potes“ (§ 48). 40 Refl, AA 19: 13. 41 Es bleibt die Fragen offen, was uns zu einer solchen Verbindlichkeit motiviert. Zeitweilig wird es die unmittelbare Evidenz des moralischen Gefühls sein; später wird das Vermögen der praktischen Vernunft selbst zu dem, was den Beweggrund des moralischen Handelns enthält. 38

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in den Initia mit den causae impulsivae verbunden, welche bald undeutlicher, bald stärker sein können, sodass die Verbindlichkeit bei Baumgarten auf ein Kalkül, d. h. auf eine Berechnung von Impulsen, angewiesen ist: „Obligatio tam activa, quam passiva, potest definiri per connexionem vel activam vel passivam causarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione.“42 Diese Erwägung der causae impulsivae gehört der mathematischen Erkenntnis, präziser gesagt, der Mathematik der intensiven Größen (mathesis intensorum) an, der Baumgarten in seiner Metaphysica mehrere Paragraphen (§§ 165–190) widmet. Was ist aber der Zweck dieses rationalen Kalküls? Damit wird uns aufzuzeigen beabsichtigt, dass die stärkeren Impulse, die im Einklang mit der freien Bestimmung unserer Willkür stehen, dem Besten für uns, d. h. der größten Nützlichkeit, und somit auch der größten Vollkommenheit unserer Existenz entsprechen.43 Das ist in Kürze, was die Abschnitte der Initia über Strafe und Belohnung erörtern. In der Praktischen Philosophie Herder aus den frühen 1760er Jahren, also etwa der Zeit, in der auch die Preisschrift entsteht, stellt Kant deutlich dar, worin sich seine Konzeption der Verbindlichkeit von der Baumgartens unterscheidet. Trotz dessen Verdienstes, die Frage nach der Verbindlichkeit ins Zentrum der praktischen Philosophie gestellt zu haben, ist es Baumgarten der Ansicht Kants nach nicht gelungen, den intrinsischen Wert der moralischen Pflicht zu erklären; stattdessen bleibt seine Erklärung, im Anschluss an die Aufklärung seiner Zeit, an das Kriterium der maximalen Nützlichkeit, Glückseligkeit oder Belohnung gebunden.44 Sein abgemilderter Eudämonismus führt Baumgarten zwar dazu, die Vollziehung der Tugend von der Suche nach weltlicher Glückseligkeit abzukoppeln, sie wird aber an die Hoffnung auf die Glückseligkeit im Jenseits gebunden – was gewiss seinem pietistischen Bekenntnis zuzurechnen ist. Was endlich die letzte Rechtfertigung der moralischen Pflicht ist, ist die Erwartung von proportionierten Belohnungen, für die Gott der einzige Garant ist. In diesem Sinne erweist sich Baumgartens Begriff der Verbindlichkeit als weniger rigoros und präziser als der von Crusius, der die Verbindlichkeit im Zusammenhang mit der freien und unbedingten Unterwerfung unter das Gebot Gottes betrachtet. Dadurch, dass bei Baumgarten die moralisch richtige Bestimmung der Willkür gute Folgen hat, ist das Streben nach Belohnungen die Ursache des Impulses, der Baumgarten, Initia (wie Anm. 26), § 15. Ebd., § 17: „Hinc quo plures, quo maiores, adeoque quo verius, quo clarius, quo certius, quo ardientus cognitae, vincunt elateres ad oppositum, quo pluribus, quo maioribus liberis determinationibus, quo artius connectuntur, hoc maior, hoc fortior erit obligatio, causarumque impulsivarum vis et efficacia obligandi.“ 44 V-PP/Herder, AA 27: 14: „Des Autors Ethik blandiens ist, da er stets den weiten Begrif der Verbindlichkeit falsch voraus setzt, dem er blos Beweggründe des Nutzens zuschreibt, im uneigentlichen Verstand Ethik: da der nur eine sittlich gute Handlung ausübt, der sie aus Grundsätzen thut nicht als Mittel, sondern als Zweck“. 42 43

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uns gemäß dieser freien Bestimmung handeln und nicht ihr Gegenteil realisieren lässt.45 Je größer, dauerhafter und wahrer die Belohnungen sind, die mit der moralisch richtigen Bestimmung der Willkür verknüpft sind, desto größer ist die Verbindlichkeit, die Handlung zu vollziehen. Aus diesem Grund lassen sich der Ansicht Baumgartens nach alle Formeln der Verbindlichkeit auf das folgende Gesetz der Natur zurückzuführen: „Lex naturae est: Committe, quod plurima maxima praemia spondet, omitte huius oppositum“46 und seine umgekehrte Formulierung: „Lex naturae est: Omitte, quod plurimas maximas poenas minatur, et eius oppositum committe.“47 Von daher lässt sich einsehen, dass Baumgarten letzten Endes dem perfektionistischen und konsequentialistischen Modell der klassischen Aufklärung treu bleibt. Selbst wenn Baumgarten, aufgrund religiöser Motive, dem moralischen Handeln einen Wert zukommen lässt, der zwar nicht direkt mit dem Streben nach weltlicher Glückseligkeit, wohl aber mit dem Anspruch auf göttliche Belohnungen im Jenseits verbunden ist, bleibt die moralische Verbindlichkeit bei ihm durch eine eudämonistische Zweckmäßigkeit definiert. Ebenso wie das moralisch Gute gute Konsequenzen hat und das Anrecht auf Belohnungen herstellt, so gehen auch aus dem moralisch Bösen böse Folgen und Strafen hervor. Der Zusammenhang von ,Das Gute–gute Konsequenzen–Belohnung" einerseits und der Zusammenhang von ,Das Böse–böse Konsequenzen–Strafe" andererseits sind die zwei Schemata, die die Ausführungen über Belohnungen und Strafen in den Initia strukturieren. Aus dem bisher Gesagten lässt sich schließen, dass die Frage, ob Crusius oder Baumgarten Kants Konzept der Verbindlichkeit inspiriert haben, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Das einzige, was wir gewiss feststellen können, ist, dass diese zwei Hauptfiguren das kantische Denken grundsätzlich in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema der Verbindlichkeit beeinflusst haben. Aber wir stellen auch fest, dass Kants Denken schon früh einem eigenen Weg folgte, der diesen beiden Quellen zuwiderlief. Während die Idee der unbedingten Verbindlichkeit von Crusius und die deontologische Terminologie der Verbindlichkeit von Baumgarten inspiriert sind, wird Kant eine Frage ins Zentrum rücken, die keiner seiner Vorgänger sich stellte: Wie ist eine Verbindlichkeit möglich, die jenseits von Belohnungen und Strafen gelte und aus einem internen Gesetz des Willens hervorgehe? Mit anderen Worten: Wie verläuft der Weg, der von der Verbindlichkeit zum kategorischen Imperativ führt? Aus dem Französischen von Gabriel Rivero

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Vgl. Baumgarten, Initia (wie Anm. 26), § 110. Ebd., § 111. Ebd., § 120.

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In diesem Aufsatz thematisiere ich die Frage, ob Crusius oder Baumgarten Kants Begriff der moralischen Verbindlichkeit, so wie er in der Preisschrift von 1762 erscheint, inspiriert haben. Ich zeige, dass, während mehrere Elemente von Crusius! Denken eine entscheidende Rolle in der Entwicklung von Kants Moralphilosophie spielen, es eigentlich Baumgarten ist, der eine Terminologie und Klassifikation der Verbindlichkeit entwickelt, die in den Schriften Kants (bis hin zur Metaphysik der Sitten) ein Echo finden werden. Allerdings weise ich auch darauf hin, was das Denken dieser beiden Autoren unterscheidet, indem gezeigt wird, dass Baumgarten eine Erklärung der unbedingten Natur der moralischen Verbindlichkeit letztlich verfehlt; eben das betrachtet Kant als den Mangel der Moralphilosophie seiner Zeit. In this article, I ask the question of who, from Crusius or Baumgarten, inspired Kant!s concept of moral obligation as it appears in the Preisschrift of 1762. I argue that while several elements of Crusius! thought will play a determining role in the maturing of Kant!s moral philosophy, it is Baumgarten who will first develop a language and a classification of obligations that will be echoed in Kant!s writings (up to the Metaphysics of Morals). But I also insist on what distinguishes the thought of these two authors by showing that Baumgarten finally failed to explain the unconditional nature of moral obligation, what Kant considers to be the insufficiency of the moral philosophies of his time. Prof. Dr. Luc Langlois, Facult* de Philosophie, Universit* Laval, Pavillon F*lix-Antoine-Savard 2325, rue des Biblioth)ques, Qu*bec QC G1 V 0 A6, E-Mail: [email protected]

Christel Fricke Die Quadratur des Kreises – Kants Moralphilosophie und ihr crusianisches Erbe

I. Einleitung Kants kritische Moralphilosophie – so wie wir sie vor allem in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft finden – trägt die Spuren von Einflüssen aus vielen verschiedenen philosophischen und theologischen Traditionen. In diesem Beitrag geht es insbesondere um den Einfluss von Christian August Crusius auf Kants moralphilosophisches Denken. Darauf, dass es einen solchen Einfluss gab, haben Philosophiehistoriker längst hingewiesen.1 Kant besaß sowohl Crusius! Anweisung vernünftig zu leben als auch zwei weitere Bücher von Crusius, nämlich dessen Anleitung über natürliche Begebenheiten ordentlich und vorsichtig nachzudenken sowie dessen Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzt werden. Siehe Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, 47. Die ausführlichste Darstellung der Entwicklung von Kants moralphilosophischem Denken und den Einflüssen, die er dabei erfahren und mehr oder weniger kritisch rezipiert hat, ist diejenige von Schneewind, siehe Jerome B. Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998. Was den Einfluss von Crusius insbesondere auf Kants moralphilosophisches Denken betrifft, so beruft sich Schneewind auf Josef Schmucker, nennt aber auch weitere Studien zum Thema (ebd., 483 f. Anm. 3). Im Unterschied zu Schmucker schreibt Schneewind Crusius keinen besonders prägenden Einfluss zu, vgl. ebd., 445–449 und Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim 1961 (Monographien zur philosophischen Forschung 23), 81–87. Schmucker datiert diesen Einfluss auf die Jahre 1762/63, in denen Kant die so genannte „Preisschrift“ verfasste, die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (UD, AA 02: 273–301). Marquard datiert den Einfluss schon früher, konzentriert sich aber ausschließlich auf Kants logische und metaphysische Studien, vgl. Anton Marquard, Kant und Crusius. Ein Beitrag zum richtigen Verständnis der crusianischen Philosophie, Kiel 1885. Zu diesem Einfluss siehe auch Giorgio Tonelli, Da Leibniz a Kant: saggi sul pensiero del Settecento, hg. von Claudio Cesa, Napoli 1988; John Hare, God!s Call. Moral Realism, God!s Commands, and Human Autonomy, Grand Rapids u. a. 2001, 97–110 und Mika Ojakangas, The Voice of Conscience. A Political Genealogy of Western Political Experience, New York u. a. 2013. Findlay konzentriert sich auf den Einfluss von Crusius auf Kants theoretische Philosophie, siehe John Niemeyer Findlay, Kant and the Transcendental Object: A Hermeneutic Study, Oxford 1981, 57–67. Das gilt auch für Alois Riehl, Der philosophi1

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Ich werde jedoch nicht nur die Gründe darlegen, die Kant veranlasst haben, sich von Crusius! voluntaristischer Variante der theologischen Moral abzuwenden. Vielmehr werde ich auch und vor allem versuchen nachzuweisen, dass Kant sich, trotz aller Kritik am Voluntarismus, in vielen Punkten an die Tradition der Moraltheologie im Allgemeinen angeschlossen und dabei auch einige zentrale Elemente der crusianischen Moraltheorie übernommen hat. Dies mag all diejenigen, die es vorziehen, den theologischen Elementen in Kants moralphilosophischem Denken keine wichtige Rolle zuzuschreiben, überraschen. Aber wer übersieht, wie sehr Kant sich in seinem moralphilosophischen Denken an die Tradition der Moraltheologie angeschlossen hat, wird es schwer haben, einen Zugang zu diesem Denken zu finden. Kants Moraltheorie gewinnt auch für heutige Leserinnen und Leser an Transparenz, wenn sie als – nicht nur kritische – Auseinandersetzung mit dem crusianischen Voluntarismus gelesen wird. Im Folgenden werde ich zunächst etwas über Kants Verständnis der Aufgabe eines Moralphilosophen sagen. Keine der zu seiner Zeit vorliegenden Moraltheorien schien ihm dieser Aufgabe gerecht zu werden. Im Anschluss werde ich einige Elemente der crusianischen theologischen Moral darlegen, um dann der Frage nachzugehen, welche Elemente dieser Theorie Kant übernommen und welche er zurückgewiesen hat und welche Gründe er für diese Zurückweisung hatte.

II. Kants Verständnis der Aufgabe eines Moralphilosophen In seiner Moralphilosophie übernimmt Kant eine zentrale These aus der Tradition der moralischen Theologie: Die Autorität der moralischen Gesetze ist absolut; diese Gesetze gelten für alle vernünftigen Wesen zu aller Zeit. Die moralische Pflicht, diesen Gesetzen zu folgen, ist notwendig in dem Sinne, dass die moralischen Gesetze keine Ausnahmen zulassen, und sie ist objektiv, weil die Autorität dieser Gesetze unabhängig von Motiven ist, die ihren Ursprung in der Selbstliebe eines Menschen haben. Die moralische Theologie betrachtet Gott als die transzendente Quelle der moralischen Gesetzgebung. Sie hat daher keine Schwierigkeit zu erklären, dass und warum die Pflicht, moralisch zu handeln, notwendig und objektiv ist. Denn Gott hat die Macht, diesen Gesetzen absolute Autorität zu verleihen.2 sche Kritizismus. Geschichte und System, Bd. 3, Leipzig 21926. In seiner Studie zu Kants moralischer Religion erwähnt Wood Crusius nicht, siehe Allen Wood, Kant!s Moral Religion, Ithaca, London 1970. 2 Dieses Erklärungspotential ist ein wesentlicher Grund dafür, dass theologisch begründete Theorien der Moral auch heute noch ihre Anhänger haben. Siehe z. B. C. Stephen Evans, God and Moral Obligation, Oxford 2013.

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Ob Kant an die Existenz eines persönlichen Gottes glaubte, ist umstritten. Diejenigen, die ihn näher kannten, hatten nicht diesen Eindruck.3 Ausdrücklich sagt Kant nur, dass die Existenz Gottes unerkennbar sei.4 Sein Einwand gegen die moralische Theologie in ihren verschiedenen Varianten ist jedoch nicht, dass diese sich auf eine transzendente Quelle der moralischen Gesetzgebung bezieht, deren Existenz ungewiss ist. Sein Einwand ist vielmehr, dass die moralische Theologie auch dann, wenn Gott existiert und die moralischen Gesetze erlassen hat, apriorische moralische Erkenntnis unmöglich macht. Und a priori muss die moralische Erkenntnis sein, weil die absolute Autorität der moralischen Gesetze und die Notwendigkeit und Objektivität der moralischen Pflicht entweder a priori oder gar nicht erkennbar sind. Die Absolutheit dieser Autorität und die Apriorität ihrer Erkenntnis sind, metaphorisch gesprochen, zwei Seiten einer Medaille. Gegenstände empirischer Erkenntnis sind kontingent, und ihre Erkenntnis kann ihrer Natur nach nicht über jeden Zweifel erhaben sein. Kant betrachtet es als seine vorrangige Aufgabe, die Möglichkeit apriorischer moralischer Erkenntnis nachzuweisen. Dazu muss er zwei Fragen beantworten: (1) Sind moralische Gesetze für Menschen a priori erkennbar? Dies ist die Frage nach der Erkenntnis dessen, was zu tun moralische Gesetze gebieten. (2) Können Menschen den Grund der absoluten Autorität der moralischen Gesetze a priori erkennen?5 Dies ist die Frage danach, ob die moralischen Gesetze wirklich sind, bzw. danach, ob es einen wirklichen Grund ihrer absoluten Autorität gibt. Mit anderen Worten: Kant will eine Moraltheorie entwickeln, die einerseits die Errungenschaft der moralischen Theologie verteidigt, nämlich die absolute Autorität der moralischen Gesetze, die andererseits aber die Möglichkeit apriorischer moralischer Erkenntnis zu erklären vermag. Um diese Absicht zu verwirklichen, musste er eine nicht-transzendente Quelle der moralischen Gesetzgebung ausfindig machen, eine Quelle allerdings, die diesen Gesetzen die absolute Autorität verleiht, wie sie für die von Gott erlassenen Gesetze charakteristisch ist. Auf den ersten Blick mag die Lösung dieser Aufgabe wie die Quadratur des Kreises erscheinen. Wie kann die Quelle der moralischen Gesetzgebung den moralischen Gesetzen absolute Autorität verschaffen, ohne transzendent zu sein? Wie sich im Siehe zu Kants christlichem Glauben Manfred Kuehn, Kant. A Biography, Cambridge 2001, 13. Offenbar hielt Kant den Glauben an einen persönlichen Gott für eine private Angelegenheit, die jede/r für sich selbst entscheiden sollte. 4 Der Satz, dass Gott existiert, hat für Kant den Status eines Postulats. Siehe KpV, AA 05: 124 ff.; siehe auch KrV A 583 / B 611 ff. 5 Dass diese beiden Fragen unterschieden werden müssen, wird in Analysen von Kants moralphilosophischem Projekt bisweilen übersehen. Siehe z. B. Susan Neiman, die nur die zweite Frage nennt (Susan Neiman, The Unity of Reason. Rereading Kant, Oxford 1994, 105, 130), und Adrian Moore, der nur die erste dieser Fragen erwähnt (Adrian Moore, Noble in Reason, Infinite in Faculty: Themes and Variations in Kant!s Moral and Religeous Philosophy, London 2003, 149). 3

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Einzelne erweisen wird, hat Kant die erste Frage nach der Möglichkeit apriorischer moralischer Erkenntnis beantwortet. Jedoch sehe ich keinen Anlass, denjenigen zu widersprechen, die der Auffassung sind, dass er an der Beantwortung der zweiten Frage gescheitert ist. Traditionell wurde die Lehre von Gott als dem moralischen Gesetzgeber in zwei Varianten vertreten, entsprechend den beiden Elementen der berühmten Frage des Euthyphron. Der voluntaristischen Variante zufolge ist das moralische Gesetz gut, weil es seinen Ursprung im göttlichen Willen hat. Der intellektualistischen Variante zufolge ist es gut, weil Gott in seiner Allwissenheit erkennt, was das Gute sei, und in seiner unendlichen Güte das will, was er als das Beste erkannt hat. Kant schließt sich der Kritik am Voluntarismus, die traditionell von der Seite der Intellektualisten vorgebracht wurde, an: Ein Gesetz, dessen Inhalt durch einen willkürlichen Akt göttlichen Wollens bestimmt wird, kann nur kontingent sein. Aber es ging ihm nicht allein darum, die Nicht-Kontingenz des moralischen Gesetztes zu verteidigen. Weil er auch die Möglichkeit apriorischer moralischer Erkenntnis verteidigen wollte, war die intellektualistische Variante der Lehre von Gott als dem alleinigen moralischen Gesetzgeber für ihn ebenso unannehmbar wie die voluntaristische. Die Lösung all dieser Schwierigkeiten suchte und fand Kant in der These, dass moralische Gesetzgebung eine Sache der Vernunft sei. Nicht nur Gott ist ein Vernunftwesen, sondern auch Menschen sind vernunftbegabt – wenn auch nicht rein vernünftig. Wenn die moralische Gesetzgebung eine Sache der Vernunft ist, dann kann sie auch von Menschen vollzogen werden. Dabei müssen diese nicht bestreiten, dass die moralische Gesetzgebung auch eine göttliche Dimension hat. Mit seiner Theorie der moralischen Erkenntnis aus reiner Vernunft gibt Kant einen neuen Rahmen für die Beantwortung der Frage nach dem Inhalt und Ursprung der moralischen Pflicht vor. Diese soll nicht aus der göttlichen moralischen Gesetzgebung abgeleitet, sondern zum Grund für die moralische Bestimmung des Willens werden. In der Kritik der praktischen Vernunft gibt Kant eine Übersicht über verschiedene Arten von Moraltheorien.6 Er unterscheidet diese Theorien nach den Quellen, aus denen sie die moralischen Pflichten ableiten, d. h. nach den „praktischen materialen Bestimmungsgründen im Prinzip der Sittlichkeit“. Diese sind entweder ,subjektiv" oder ,objektiv" und entweder ,innerlich" oder ,äußerlich". Diejenigen Theorien, die einen subjektiven Bestimmungsgrund angeben, sind Kant zufolge schon allein deshalb abzulehnen, weil sie die Objektivität der moralischen Verpflichtung bestreiten. Aber auch die vorliegenden Theorien, die einen objektiven Bestimmungsgrund der moralischen Pflicht angeben, finden seine Billigung nicht. Unter diesen nennt er zum einen die theologischen Moraltheorien im Allgemeinen und diejenige von Christian August Crusius im Besonderen. Diesen 6

Siehe KpV, AA 05: 40.

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Theorien zufolge ist der Bestimmungsgrund der moralischen Pflicht ,äußerlich", das heißt, er wird von einer den Menschen äußerlichen Instanz an diese herangetragen; er entspringt nicht der menschlichen Vernunft und ist daher kein möglicher Gegenstand apriorischer Erkenntnis. Zum anderen nennt Kant in dieser Rubrik die Theorien, die einerseits von den Stoikern und andererseits von Christian Wolff entwickelt wurden. Zwar verstehen diese Theorien den objektiven Bestimmungsgrund der moralischen Pflicht als ,innerlich". Aber statt diesen Bestimmungsgrund in der Vernunft zu verankern, sehen sie die menschliche ,Vollkommenheit" als Bestimmungsgrund der moralischen Pflicht an. Den Begriff der Vollkommenheit hält Kant aber für unbrauchbar, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob und wie Menschen das moralische Gesetz und ihre moralische Verpflichtung a priori erkennen können. Für diese Behauptung gibt er zwei Gründe an, die er allerdings nicht explizit voneinander unterscheidet. Entweder, so Kant, ist dieser Begriff leer und unbestimmt und damit ohne jedes Begründungspotential. Oder aber dem Begriff wird ein bestimmter moralischer Inhalt zugeschrieben; aber dann „drehen“ sich die Begründungen der Moral aus diesem Begriff „im Cirkel“.7 Kant räumt ein, dass Theorien, die den Bestimmungsgrund der moralischen Pflicht als objektiv und innerlich verstehen, den theologischen Moraltheorien vorzuziehen sind.8 Aber dies hindert ihn nicht daran, sich bei der Entwicklung seiner eigenen Moraltheorie von der theologischen Moral im Allgemeinen und von Crusius’ voluntaristischer Variante dieser Moraltheorie im Besonderen inspirieren zu lassen, und das, obwohl auch Crusius dem Begriff der menschlichen Vollkommenheit eine zentrale Rolle einräumt. Zwar erlaubt eine theologische Moral keine Beantwortung der Frage, wie Menschen das moralische Gesetz und ihre moralische Pflicht a priori erkennen können, die kantischen Ansprüchen an apriorische Erkenntnis genügt, d. h. die mehr als eine Begriffsanalyse ist. Aber sie kann die Notwendigkeit und Objektivität der moralischen Pflicht erklären. Diese Erklärung erfolgt in Form einer Analyse des Begriffs Gottes als eines vollkommenen Wesens. III. Christian August Crusius’ moralische Theologie Die Schrift von Crusius, auf die ich mich hier in erster Linie beziehe, ist die Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden. Sie erschien 1744 in Leipzig. Schon in der „Vorrede“ vertritt Crusius die voluntaristische These, dass die moralischen 7 8

Vgl. GMS, AA 04: 443. Ebd.

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Gesetze ihren Ursprung im göttlichen Willen und in dessen Weltschöpfung haben. Daher gilt, dass „die moralischen Wahrheiten allesammt eben so alt, als die Welt [sind].“9 Die moralischen Gesetze sind metaphysisch real, sie sind der Natur eingeschrieben und gelten notwendig (siehe § 40, S. 45 f.) und objektiv (siehe § 416, S. 504). Damit ist ihre Geltung der der Naturgesetze vergleichbar.10 Crusius spricht von der moralischen Gesetzgebung auch als von einem Ursprung eines „Recht[s] der Natur“ (§ 375, S. 460). Die Verpflichtung, den moralischen Gesetzen zu folgen, ist notwendig (siehe § 160, S. 199 f. u. § 183, S. 228 f.). Dieser Aspekt ist ein zentrales Motiv für Crusius, die moralische Theologie gegen empiristische Versuche in Stellung zu bringen, die Motivation eines Menschen, moralisch zu handeln, aus dem natürlichen Glücksstreben zu erklären: Ich weiß wohl, daß einige in den Gedancken stehen, das Recht der Natur brauche nicht auf den Willen Gottes, sondern nur auf die gesellige Natur der Menschen und auf ihre Vollkommenheit und Glückseligkeit gebauet zu werden. […] Allein wenn man dieses thun will; so muß man die Verbindlichkeit der Regeln des Rechts der Natur bloß darauf gründen, daß sie die einzigen oder besten Mittel unserer eigenen Wohlfahrt, und des beständigen Wachstums unserer Vollkommenheit wären. Nun ist dieses zwar wahr, sie sind die einzigen Mittel der allgemeinen Wohlfahrt des menschlichen Geschlechtes […] Allein deswegen muß man Gott und die Verbindlichkeit seines Willens nicht etwa aus dem Rechte der Natur herauslassen. Man darf ja nur die Verbindlichkeit, welche uns auch die blosse Klugheit selbst zu den Regeln des natürlichen Rechts auferlegt, iedesmahl mit anmercken. Wolte man aber dieselbe für die einzige Verbindlichkeit dazu ausgeben; so hören die Regeln gar auf, wahre Gesetze zu sein. (§ 372, S. 455)

Ihre metaphysische Realität haben die moralischen Gesetze in der menschlichen Natur. Menschen sind von Gott erschaffen und verpflichtet, den moralischen Gesetzen zu folgen. In dem Maß, in dem sie dies tun, verwirklichen sie den ihnen als Vernunftwesen vorgegebenen Zweck und befördern damit ihre Vollkommenheit. Menschen sind nur deshalb moralisch verpflichtet, weil sie „Vernunft und freien Willen“ haben (§ 230, S. 281). Die Vernunft ist die „Kraft, Wahrheit mit Bewußtseyn zu erkennen“ (§ 147, S. 179), der Wille dagegen „die Kraft eines Geistes

Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 1, hg. von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1969 (Leipzig 11744), 3. 10 Dass die moralischen Gesetze als von Gott erlassene Gesetze eine notwendige Geltung haben, die der der Naturgesetze vergleichbar ist, folgt zwar aus Crusius’ Ausgangsthese, wird von diesem aber nicht ausdrücklich betont. Schmucker zufolge war es Christian Wolff, der auf die Vergleichbarkeit der Geltung der moralischen Gesetze mit der der Naturgesetze verwiesen hat, vgl. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants (wie Anm. 1), 44. 9

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nach seinen Vorstellungen zu handeln“ (§ 2, S. 4).11 Der menschliche Wille ist frei (siehe §§ 22–24, S. 23–27). Die Freiheit ist eine „natürliche Kraft“ des Willens (§ 37, S. 43), die Kraft nämlich, „welche […] unter unseren vielen Begierden eine wehlen kann, nach welcher sie handeln oder mit welcher sie ihre Thätigkeit verknüpffen will“ (§ 43, S. 54). Sie ermöglicht es einem Menschen, „sich zu einer Handlung selbst zu determiniren“ (§ 39, S. 45) und als eine erste Ursache zu wirken (siehe § 41, S. 48–51 u. § 199, S. 242). Crusius übersieht, dass die Selbstbestimmung eines Menschen zu einer Handlung und dessen Möglichkeit, als erste Ursache zu wirken, von einer bloßen Freiheit der Wahl zwischen ,Begierden" zu unterscheiden ist. Auf die Notwendigkeit dieser Unterscheidung hinzuweisen bleibt Kant vorbehalten. Crusius macht es sich ausdrücklich zur Aufgabe zu zeigen, „daß es auch dergleichen Freyheit des Willens in der That gebe“ (§ 38, S. 44). Dazu beruft er sich zum einen auf „Erfahrung“ (§ 43, S. 54), zum anderen aber auf Gott als den vollkommenen Weltenschöpfer, der Menschen gar nicht anders als begabt mit einem freien Willen hätte erschaffen können (siehe §§ 46–53, S. 57–66). Nur weil Menschen frei sind, können wir ihnen ihre Taten zurechnen (siehe § 38, S. 44). Die Freiheit der Menschen ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, sie durch Gesetze zum Handeln gemäß diesen Gesetzen zu verpflichten, d. h. sie macht uns „tüchtig […], einem Gesetze und Verbindlichkeit unterworffen zu seyn, und von der Einrichtung unserer Handlungen Rechenschaft zu geben“ (§ 38, S. 44). Die Freiheit ist das Vermögen eines „vernünftige Geistes“, dessen Wollen „nach Ideen“ wirkt (§ 45, S. 56). Weil sie vernünftig sind, wollen Menschen das Gute, und sie wählen die beste unter den sich ihnen bietenden Handlungsalternativen. Aber es gibt verschiedene Arten des Guten bzw. verschiedene Kriterien, die die Auswahl des Besten leiten können: Das „physicalisch Gute“ ist gut, weil wir es wollen, es ist ein Gegenstand der Begierde. Es ist vom „moralisch Gute[n]“ zu unterscheiden (§ 26, S. 31 f.). Aufgabe der Anweisung vernünftig zu leben ist es zu erklären, was das moralisch Gute sei. Diese Anweisung ist eine „Wissenschaft“, „welche aus der Vernunft sowohl die göttlichen Gesetze, als die übrigen allgemeinen Regeln zu Erlangung guter Endzwecke zeiget, und hiermit den Weg, zu der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit, so gut als möglich, zu gelangen, erkläret“ (§ 159, S. 199). An einer Stelle definiert Crusius das „Moralisch[e]“ als dasjenige, „was seine Wirkung vermittelst eines freyen Willens hervorbringet“ (§ 161, S. 200). Diese Definition ist aber nicht konsistent mit dem, was Crusius zuvor über die Freiheit als Freiheit der Wahl gesagt hat. Denn Menschen können sich auch gegen das moCrusius unterscheidet auch zwischen Vernunft und Verstand; diese Erkenntnisvermögen unterscheiden sich in ihrer Vollkommenheit. Die Vernunft ist die Vollkommenheit des Verstandes (siehe Crusius, Anweisung [wie Anm. 9], § 230, S. 281). 11

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ralische Gute entscheiden. Crusius fügt allerdings korrigierend hinzu, dass „der moralische[…] Zustand[…] eines Geistes“ derjenige Zustand sei, in dem er „mit dem göttlichen Gesetze“ übereinstimmt (§ 161, S. 200). Diesen Zustand nennt Crusius auch „Tugend“ (ebd.). Das heißt, dass schon Crusius einen engen Zusammenhang zwischen einem freien Wollen, einem moralischen Wollen und einem von moralischen Gesetzen bestimmten Wollen herstellt, wenn er diesen Zusammenhang auch nicht ganz konsistent analysiert. Denn die Freiheit der Wahl ist nicht unweigerlich auch die Freiheit dazu, das moralisch Beste zu wählen; es ist ebenso eine Freiheit zum Bösen (siehe § 52, S. 64). Der Begriff der ,Pflicht" ist in der crusianischen Moraltheorie zentral. Er definiert diesen Begriff wie folgt: Eine Pflicht im weiteren Verstande ist ein Thun oder Lassen, dazu eine moralische Nothwendigkeit vorhanden ist. Eine moralische Nothwendigkeit ist ein solches Verhältniß eines Thuns oder Lassens gegen gewisse Endzwecke, daraus ein vernünftiger Geist verstehen kann, daß es gethan oder gelassen werden soll. […] Demnach handelt die Moral von den Pflichten und Verbindlichkeiten. (§ 160, S. 199 f.)

Während die Autorität der von Gott erlassenen moralischen Gesetze notwendig ist, wie die der Naturgesetze, steht die Verwirklichung der entsprechenden gesetzlichen Ordnung in der Welt noch aus. Sie ist den Menschen aufgetragen. Da diese die Freiheit haben, gegen die göttlichen Gesetze zu verstoßen, herrscht in der wirklichen Welt noch moralisch Unordnung: „Die wahre Unordnung findet sich nur in demjenigen Zustande der Welt, welcher den freien Thaten der Geschöpfe unterworfen ist“ (§ 209, S. 253). Der Endzweck eines Menschen ist, aus Vernunft und Freiheit den von Gott erlassenen moralischen Gesetzen gemäß zu handeln. Menschen sind von Natur aus dazu motiviert, sich um die Erkenntnis dieses Endzwecks zu bemühen und diesen in ihrem Handeln zu verwirklichen. Crusius identifiziert zwei ,Triebe", die einen Menschen motivieren, nach moralischer Erkenntnis zu streben und entsprechend zu handeln, nämlich den ,Vollkommenheitstrieb" und den ,Gewissenstrieb". Der ,Vollkommenheitstrieb" ist im Unterschied zu allen Trieben, die Menschen mit nicht vernünftigen Tieren gemein haben, ein „Verlangen, unseren Zustand in seiner gehörigen Vollkommenheit zu sehen und immer vollkommener zu machen“ (§ 111, S. 133). Der ,Gewissenstrieb" ist der „Grundtrieb, ein göttliches moralisches Gesetz zu erkennen“ und seine eigenen Handlungen entsprechend zu beurteilen (§ 132, S. 158). Er lässt uns bei Verstößen gegen die Moralgesetze Reue empfinden (ebd.). Ausführlicher definiert Crusius den Gewissenstrieb als denjenigen Trieb, „welcher uns antreibet, dasjenige, was der göttlichen und menschlichen Vollkommenheit wesentlich gemäß ist, aus Gehorsam gegen Gottes Willen um unserer Dependenz willen von ihm zu beobachten, und wiedrigenfalls seinen Zorn und Straffe zu fürchten“ (§ 137, S. 167). Offensichtlich sind die Funktionen

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beider Triebe ähnlich. Der Gewissenstrieb kann als die psychische Wirklichkeit des zugrundeliegenden Vollkommenheitstriebs angesehen werden. Außerdem schreibt Crusius den Menschen auch eine „gewisse Neigung zum moralisch Bösen“ zu (§ 250, S. 302). Wer diesem Trieb zum Bösen nachgibt, missbraucht seinen freien Willen (siehe § 52, S. 63 ff.). Crusius versteht die Natur der Pflicht des Menschen, moralisch zu handeln, nach dem Modell einer Rechtspflicht. Einer Rechtspflicht unterliegen z. B. die Bürgerinnen und Bürger eines Staates; sie sind verpflichtet, sich den Gesetzen dieses Staates zu unterwerfen, und dürfen ihre Gesetzestreue nicht von subjektiven oder kontingenten Bedingungen abhängig machen. Ein Staat bestraft seine Bürgerinnen und Bürger, wenn sie gegen die staatlich verhängten Gesetze verstoßen. Aber das heißt nicht, dass ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger mit der Androhung von Strafen zur Gesetzestreue zwingt. Denn hätte das Motiv eines Staatsbürgers zur Gesetzestreue seinen Ursprung nur in dessen Interesse, die angedrohte Strafe zu vermeiden, so würde er die Gesetze nicht als Ausdruck des Willens eines befugten Gesetzgebers anerkennen. Ebenso wenig würde er seinen eigenen Status als den eines dem Gesetzgeber Untergebenen anerkennen. Ohne eine Rechtspflicht wäre es jedem Bürger und jeder Bürgerin freigestellt, gegen die Gesetze zu verstoßen und dafür einen Preis zu bezahlen. Jemand, den die angedrohte Strafe nicht schreckt, oder der die Strafe in Kauf zu nehmen bereit ist, wenn er dafür den Nutzen haben kann, den das gesetzwidrige Handeln verspricht, könnte, wenn auch nicht ohne Nachteil, den Gesetzen zuwider handeln. Strafen wären für eine solche Person nichts anderes als Unkosten, der Preis, den es für einen Nutzen zu entrichten gilt. Die Aufgabe des Gesetzgebers würde darauf reduziert, bestimmte Arten von Handlungen als kostenpflichtig zu identifizieren. Das aber wäre mit der Rechtspflicht, d. h. der Notwendigkeit der Pflicht, dem Gesetz zu folgen, unvereinbar (siehe auch § 176, S. 218 ff.).12 Anders gesagt, in der Anerkennung einer Rechtspflicht liegt die Anerkennung des gesetzgebenden Willens als einer verpflichtenden Autorität und die Bereitschaft, sich diesem Willen bedingungslos zu unterwerfen. Auch Gott kann und wird, so Crusius, diejenigen bestrafen, die den von ihm erlassenen moralischen Gesetzen zuwider handeln (§ 133, S. 159). Dennoch darf die Motivation, den moralischen Gesetzen zu folgen, nicht auf die Furcht vor göttlicher Strafe reduziert werden. Denn Crusius versteht die moralische Pflicht als eine Pflicht, die Gott als ,Oberherr" den Menschen als seinen Untertanen auferlegt. Statt von einer Rechtspflicht spricht Crusius von der „gesetzlichen Verbindlichkeit“ (§ 133, S. 161) der göttlichen Gesetze und der „Schuldigkeit“ Zum Begriff der ,Rechtspflicht" der Bürgerinnen und Bürger eines Staates, deren Autorität nicht auf das Motiv der Strafvermeidung reduziert werden kann, siehe Felix Solmo, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917, 438. 12

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der Menschen, Gottes gesetzgebenden Willen als absolute Autorität und ihre eigene Pflicht zum absoluten Gehorsam anzuerkennen: Der Gewissenstrieb ist also bloß ein Trieb, gewisse Schuldigkeiten, das ist, solche allgemeine Verbindlichkeiten zu erkennen, die man zu beobachten hat, wenn man auch den daher rührenden Nutzen oder Schaden nicht in Erwegung ziehen will, deren Übertretung hingegen Gott straffen will, und auch, wenn sein Gesetz nicht vergeblich sein will, straffen muß. […] Die Schuldigkeit [ist] von allem innerlichen oder äusserlichen Zwang unterschieden. Denn wozu man gezwungen wird, dazu hat man deswegen noch keine Schuldigkeit. (§ 133, S. 159 f.) [E]in Gesetz [ist] ein allgemeiner Wille eines independenten Oberherrn, worinnen bestimmt wird, was Leute, welche von ihm dependiren, aus Gehorsam gegen seinen Befehl thun oder lassen sollen, in der Absicht ihrer Dependenz von ihm gemäß zu handeln. (§ 165, S. 207 f.)13

Aus der moralischen Verpflichtung eines Menschen, den göttlichen Moralgesetzen zu folgen, leitet Crusius einen Imperativ ab, den man auch – im Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ – einen ,moraltheologischen Imperativ" nennen könnte: „[T]hue, was der Vollkommenheit Gottes und deinem Verhältnisse gegen ihn, und ferner was der wesentlichen Vollkommenheit der menschlichen Natur gemäß ist, und unterlasse das Gegentheil“ (§ 137, S. 167).14 Wenn ein Mensch seinen freien Willen durch die göttlichen Gesetze leiten lässt und moralisch handelt, so heißt das nicht, dass er sein natürliches Bedürfnis nach Glück vernachlässigen muss. Im Gegenteil, Vollkommenheit und Glückseligkeit sind „von gantz einerley Sache“ (§ 157, S. 196). Mit der moralischen Verpflichtung will Gott den Menschen keineswegs jeder Aussicht auf Glück berauben. Ganz im Gegenteil: Wer moralisch handelt, handelt im Hinblick auf seine oder ihre Vollkommenheit und befördert damit das eigene Glück. Die „göttlichen Gesetze“ sind die „wahren Mittel unserer Glückseligkeit und Vollkommenheit“ (§ 159, S. 198). Die Unterscheidung zwischen Glücksstreben und moralischer Motivation ist eine Folge der Auffassung der moralischen Pflichten als Rechtspflichten. Crusius nennt die moralischen Pflichten auch „Tugendpflichten“ – ohne allerdings die kantische Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten zu antizipieren. Die „Tugendpflichten“ unterscheidet Crusius von der „Pflicht der Klugheit“ (§ 163, S. 202 ff.). Es bleibt die für Kants Abwendung von der theologischen Moral zentrale Frage danach zu stellen, wie Menschen Crusius zufolge erkennen können, welche moralischen Gesetze Gott ihnen vorgeschrieben hat. Um die „Wircklichkeit göttlicher Gesetze“ zu erkennen, bedarf es, so Crusius, „dreyerley“: „1) daß man erkenSiehe auch Crusius, Anweisung (wie Anm. 9), § 133, S. 159 ff. u. § 194, S. 237 f. Ähnliche Formulierungen eines moraltheologischen Imperativs finden sich ebd., § 137, S. 167 u. § 371, S. 454. 13 14

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ne, daß ein independenter Gott sey, 2) daß die Menschen von ihm dependiren, 3) daß er etwas von ihnen in Absicht auf diese Dependenz und um derselben willen gethan oder gelassen wissen wolle, und diesen Willen in der Natur kund gethan habe“ (§ 168, S. 210 f.). In seiner Anweisung vernünftig zu leben setzt Crusius die Wahrheit der ersten beiden Thesen voraus. Dass auch die dritte These wahr ist, will er sowohl a priori als auch a posteriori beweisen. Der Beweis a priori erfolgt „aus der Vernunft“ (§ 168, S. 211). Dieser „Erweis aus der Vernunft“ ist nichts anderes als die Analyse des Begriffs Gottes als eines vollkommenen Wesens, das die Welt und die Menschen in ihr erschaffen und die moralischen Gesetze erlassen und die Menschen dadurch verpflichtet hat, diesen Gesetzen zu folgen. Der Beweis a posteriori ist moralpsychologischer Natur, er greift auf den Gewissenstrieb zurück. In unserem Gewissen erfahren wir, so Crusius, nicht nur, dass wir verpflichtet sind, den moralischen Gesetzen gemäß zu handeln, sondern wir erkennen auch „den Inhalt derselben“ (§ 169, S. 212). Dabei spielt das Gefühl der moralischen Schuld eine wichtige Rolle, das schon Kinder empfinden, „sobald sich der Verstand in ihnen hervorthut“ (ebd.).

IV. Immanuel Kants Theorie einer vernunftgegründeten Moral Aus der Lehre von der moralischen Gesetzgebung durch Gott übernimmt Kant Lehren, die für seine eigene Theorie von zentraler Bedeutung sind, allen voran die Lehre von der Notwendigkeit und Objektivität der moralischen Verpflichtung, d. h. die Konzeption der moralischen Pflicht als universaler Rechtspflicht und die daraus folgende Unterscheidung zwischen einer genuin moralischen Handlungsmotivation und einer Motivation, die aus der Selbstliebe und dem Glücksstreben erwächst. So heißt es an einer viel zitierten Stelle der Grundlegung: „Pflicht ist Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“15 Dieses Gesetz ist ein „objectives Prinzip“, und „[d]ie Vorstellung eines objectiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ“.16 Wenn ein solches Gebot aus einem Gesetz erwächst, dessen Autorität notwendig und objektiv ist, ist seine Befolgung eine Rechtspflicht im oben angegebenen Sinn, und der entsprechende Imperativ seiner Natur nach ,kategorisch": Er stellt „eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-nothwendig vor“.17 Die Verpflichtung, dieses Gesetz zu befolgen, gilt für 15 16 17

GMS, AA 04: 400. Ebd., 413. Ebd., 414.

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alle vernünftigen Handlungssubjekte unabhängig von ihren Begierden, die darauf zielen, ihre Glückseligkeit – oder das, was sie sich darunter vorstellen – zu befördern. Individuelles Glücksstreben wird von Vorstellungen des Guten angeleitet, die aus Erfahrungen der Annehmlichkeit stammen, und diese Erfahrungen teilen nicht alle Menschen unweigerlich.18 Alle aus dem Glücksstreben erwachsenden Handlungsgründe sind daher, so Kant, nur subjektiv. Aus demselben Grund sind moralische Pflichten und Klugheitspflichten zu unterscheiden.19 Welche Klugheitspflichten eine Person hat, hängt davon ab, welche Zwecke sie verfolgt, und diesen Zwecken können nicht nur objektive, sondern auch subjektive Bestimmungen des Willens dieser Person zugrunde liegen. Kant folgt insbesondere Crusius darin, moralisches Handeln, das aus Anerkennung der Autorität des moralischen Gesetzes geschieht, nicht aber um des zu erwartenden Nutzens willen, als dasjenige Handeln zu verstehen, mit dem ein Mensch sein Glück befördert. Allerdings teilt er Crusius’ Optimismus nicht, was die Aussichten auf die Verwirklichung eines glücklichen Lebens durch moralisches Handeln in der Lebenswelt betrifft.20 Menschen befördern, wenn sie moralisch handeln, nur ihre Würdigkeit, glücklich zu sein: Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein.21

Im Unterschied zu der Rechtspflicht, der die Bürgerinnen und Bürger eines bestimmten Staates unterliegen, soll das moralische Gesetz universal, also für alle Menschen gelten, unabhängig davon, welchen Staates Bürger sie sind. Das bedeutet, dass dieses Gesetz unabhängig von einer politischen Institution gelten muss. Es stellt sich damit die Frage nach dem Gesetzgeber, der dieses Gesetz mit absoluter Autorität versehen hat. In seiner Beantwortung dieser Frage muss sich Kant nicht nur von Crusius’ voluntaristischer Auffassung göttlicher Gesetzgebung, sondern von der gesamten Tradition der Moraltheologie abwenden, weil diese eine apriorische Erkenntnis der Moralgesetze und ihrer Autorität, die kantischen Ansprüchen genügt, unmöglich sein lässt. Zwar schreibt schon Crusius der Vernunft eine zentrale Rolle zu, wenn es um die Bestimmung des freien Willens eines Menschen zu moralischem Handeln geht: Die Vernunft erkennt – a priori, durch die Analyse des Begriffs Gottes –, dass das moralisch Gute das ist, was Gott den Menschen zu tun gesetzlich vorgeSiehe ebd., 393–396 und KpV, AA 05: 21–26 u. 59. Wie vor ihm Crusius, hält auch Kant den Begriff des Guten für mehrdeutig. 19 Siehe GMS, AA 04: 397. 20 Siehe dazu Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants (wie Anm. 1), 82 f. 21 KpV, AA 05: 139. 18

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schrieben hat, und sie bestimmt den freien Willen dazu, den göttlichen Gesetzen zu folgen. Kant bestreitet, dass Begriffsanalysen Erkenntnisstatus haben, denn Erkenntnisse sind synthetisch, und nicht, wie Begriffsanalysen, analytisch. Allerdings folgt er Crusius, wenn er zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, d. h. zwischen Vernunft und Willen, unterscheidet. Auch in seinen Definitionen dieser Vermögen lässt sich ein Echo crusianischer Definitionen hören: Die Vernunft ist „das Vermögen der Prinzipien“, und damit u. a. auch das des logischen und mathematischen Schließens, im Unterschied zum Verstand als dem „Vermögen der Regeln“.22 Und der Wille ist das Vermögen, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben […], d.i. seine Causalität zu bestimmen“,23 bzw. das Vermögen, „nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Principien zu handeln“.24 Auf der Grundlage dieser Definitionen ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Grundgedanken von Kants Kritik der praktischen Vernunft, wie er ihn schon in der Grundlegung formuliert: „Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.“25 Die Kausalität eines durch die Vernunft bestimmten Willens ist ihrer Natur nach eine erste Ursache, und Kant nennt diese Kausalität „Freiheit“.26 Kant folgt Crusius also insofern, als auch er die These vertritt, dass die Vernunft den freien Willen zum moralischen Handeln bestimmt, dass das freie Wollen den Status einer ersten Ursache hat und dass moralisches Handeln ein Handeln nach moralischen Gesetzen ist. Allerdings konzipiert Kant die Willensbestimmung durch die Vernunft ganz anders als Crusius. Für Kant besteht die Aufgabe der Vernunft nicht darin, aus dem Begriff der menschlichen Vollkommenheit abzuleiten, was das moralisch Gute sei, und den Willen dazu zu bestimmen, dieses Gute zu verwirklichen. Vielmehr kehrt er die Reihenfolge der Erkenntnis des Guten und der vernünftigen Willensbestimmung um. Der durch die Vernunft bestimmte Wille ist der gute Wille, und gut sind diejenigen Handlungen, die ein solcher Wille will: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich gut.“27 Was heißt es aber Kant zufolge, dass die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien den freien Willen bestimmt? Welche Gesetze schreibt die Vernunft diesem 22 23 24 25 26 27

KrV A 299 / B 356. KpV, AA 05: 15. GMS, AA 04: 412. Ebd. KpV, AA 05: 15. GMS, AA 04: 394; siehe auch KpV, AA 05: 59 f. u. Anm.

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Willen vor? Diese Frage stellt sich umso dringender, als die Vernunft kein Vermögen der Erkenntnis des moralisch Guten ist. Kants Antwort auf diese Frage ist in seinem kategorischen Imperativ formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“28 Der Gedankengang, der Kant zu dieser Formulierung des kategorischen Imperativs führt, lässt sich wie folgt rekonstruieren. Ein vernünftig bestimmter Wille ist ein Wille, der nach „praktischen Grundsätzen“29 handelt. Praktische Grundsätze sind allgemeine Handlungsanweisungen, wie sie sich jede Person im Laufe ihres Lebens zu eigen macht. Sie haben eine Form wie z. B. diese: In allen Situationen, in denen ich die Wahl zwischen den Handlungsalternativen A, B und C habe, wähle ich B. Der Schritt von den Handlungsalternativen zu der Wahl einer bestimmten Handlungsalternative wird nicht unweigerlich von moralischen Prinzipien bestimmt. Vielmehr können sich in einer solchen Wahl die mittel- und langfristigen Zwecke, die sich eine Person gesetzt hat, manifestieren, und in solchen Fällen folgt die Wahl einem Prinzip der Klugheit. Wer z. B. eine Prüfung bestehen will, deren Termin nahe ist, wird sich auf diese Prüfung vorbereiten statt in Urlaub zu fahren oder sich zu einer zeitraubenden Arbeit zu verpflichten. Eine solche Wahl kann aber auch ganz persönliche Präferenzen einer Person zum Ausdruck bringen. Wer gern in die Oper geht, wird einen Opernbesuch einem Wochenende in den Bergen oder am Schreibtisch vorziehen. Zwar sind die Zwecke und persönlichen Präferenzen einer Person nicht unveränderlich. Aber eine vernünftige Person wird nicht bei jeder Entscheidung immer wieder neue Zwecke verfolgen oder neue Präferenzen zum Ausdruck bringen. Denn es gehört zu den charakteristischen Merkmalen einer solchen Person, aus Erfahrung zu lernen. Und die Zwecke und Präferenzen einer Person sind eine Folge der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hat. Es ist daher plausibel, wenn Kant behauptet, dass vernünftige Personen sich von praktischen Grundsätzen leiten lassen. Kant unterscheidet zwischen zwei Arten von praktischen Grundsätzen, solchen, die „subjectiv oder Maximen“ sind, und „objectiven“ praktischen Grundsätzen oder „praktischen Gesetzen“.30 Die praktischen Grundsätze, wie sie im ersten Schritt erläutert wurden, sind Beispiele für Maximen, sie sind subjektiv, weil sie die persönlichen Präferenzen, Zwecke und Lebenserfahrungen einer Person zum Ausdruck bringen.31 Was sind im Unterschied zu Maximen praktische Gesetze? Ebd., 30. Ebd., 19. 30 Ebd., 19. 31 Zum Begriff der ,Maxime" siehe auch Wood, Kant!s Moral Religion (wie Anm. 1), 46–49 und Christel Fricke, Maximen, in: Valerio Rhoden u. a. (Hg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin 2008, 125–135. 28 29

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Die Antwort auf diese Frage ist für Kants Verständnis moralischer Gesetzgebung durch die Vernunft zentral: Praktische Gesetze sind nur diejenigen praktischen Grundsätze, die zu den Gesetzen einer moralisch perfekten, idealen Welt gehören könnten. Von einer solchen Welt spricht Kant auch als von einem „Reich der Sitten“,32 einer „intelligiblen Welt“33 oder einem „Reich der Zwecke“.34 Unter einem solchen Reich stellt er sich eine Art moralisches Paradies vor, in dem alle Menschen immer und ausnahmslos moralisch handeln. Die moralischen Gesetze, an die sie sich dabei halten, haben für sie nicht nur einen präskriptiven, sondern auch einen deskriptiven Charakter. Das heißt, in dieser Welt gelten die moralischen Gesetze absolut, sie erlauben keine Ausnahme. Da diese Welt moralisch ideal ist, verstößt niemand in dieser Welt gegen diese Gesetze. In der moralisch idealen Welt haben die moralischen Gesetze einen Status, der dem der Naturgesetze in der wirklichen Welt vergleichbar ist. Denn in der wirklichen Welt gibt es nichts, was gegen die Naturgesetze verstößt: Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d.i. das Dasein der Dinge heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden solle.35

Menschen können, weil sie nicht allwissend sind, nicht erkennen, welche bestimmten Gesetze in der moralisch idealen Welt gelten. Aber ihre Vernunft als Vermögen des mathematischen und logischen Denkens erlaubt ihnen, eine gegebene Maxime daraufhin zu prüfen, ob sie ein mögliches Gesetz in einer moralisch idealen Welt sein könnte.36 Dies zu tun schreibt ihnen der kategorische Imperativ vor. Denn von einer Maxime, die in der idealen moralischen Welt ein Gesetz sein könnte, gilt, dass sie „als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten“ könne. Und wer sich in seinem Wollen und Handeln von Maximen leiten lässt, die in der idealen moralischen Welt Gesetze sein könnten, handelt in einer Weise, die moralisch erlaubt ist.

KpV, AA 05: 82, 145. Ebd., 49. 34 GMS, AA 04: 433 ff., 438. 35 Ebd., 421. 36 Diese Prüfung ist, genauer gesagt, die Prüfung einer Maxime auf ihre Verallgemeinerbarkeit. Kant zufolge ist eine solche Prüfung mit formalen Mitteln durchzuführen. Es geht darum, hypothetisch anzunehmen, dass eine bestimmte Maxime in einer Welt Gesetzesstatus hat (einen Status analog dem eines Naturgesetzes), und dann zu fragen, ob diese Annahme entweder direkt zu Widersprüchen im Wollen der Bürgerinnen und Bürger dieser Welt führt, oder aber dazu, dass keiner der Bürgerinnen und Bürger dieser Welt jemals gemäß dieser Maxime handelt und sie daher jede deskriptive Funktion verliert. 32 33

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Kant spricht sowohl von „moralischen Gesetzen“37 als auch von dem einen „moralischen Gesetz“.38 Dem kategorischen Imperativ liegt ein moralisches Gesetz zugrunde; es eine Art Meta-Gesetz, dass nicht, wie z. B. die 10 Gebote, bestimmte Arten von konkreten Handlungen vorschreibt oder verbietet. Dieses Meta-Gesetz schreibt vor, inhaltlich bestimmte praktische Prinzipien, d. h. Maximen darauf zu prüfen, ob sie verallgemeinerbar sind. Alle Maximen, die sich als verallgemeinerbar erwiesen haben, sind mögliche moralische Gesetze in dem Sinne, dass sie zu den Gesetzen gehören könnten, die die Handlungen von Personen in einer idealen moralischen Welt beschreiben. Ein solches Meta-Gesetz bedarf keines eigenen Urhebers, es ist ein Gesetz, das die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien dem Willen vorschreibt.39 Kant macht sich in seiner Ableitung des kategorischen Imperativs zunutze, dass der Begriff eines ,Gesetzes" zweideutig ist. Gesetze sind zum einen Handlungsvorschriften, die Befehlsbefugte ihren Untergebenen machen, und zum anderen die metaphysischen Grundprinzipien einer Welt, die Prinzipien, die in einer Welt real sind. Schon in der Lehre von Gott als dem Weltenschöpfer und Gesetzgeber nicht nur der Naturgesetze, sondern auch der moralischen Gesetze, die auch der crusianischen Moralphilosophie zugrunde liegt, kommen beide Bedeutungen des Gesetzesbegriffs zusammen. Denn die moralischen Gesetze, die Gott zusammen mit den Naturgesetzen erschafft, sind Teil der von Gott gewollten Ordnung in der Welt und daher metaphysisch real. Sie sind aber auch Handlungsvorschriften oder Imperative für Menschen, denn diese befolgen die moralischen Gesetze nicht unweigerlich, sie sind lediglich dazu verpflichtet. Ihre absolute Autorität erhalten die von Gott erlassenen moralischen Gesetze durch dessen Akt der Weltschöpfung und ursprünglichen Gesetzgebung; die moralische Verpflichtung, diesen Gesetzen gemäß zu handeln, ist notwendig und objektiv. Der Dualismus von Welten, der wirklichen Welt, die voller moralischer Unordnung ist, und der Welt, in der moralische Ordnung herrscht, ist in der crusianischen Lehre von Gott als dem Weltenschöpfer schon angelegt, in seiner Tragweite aber noch nicht reflektiert. Ähnlich wie Crusius denkt Kant: Nur wenn die moralischen Gesetze metaphysisch real sind, haben sie absolute Autorität und können der moralischen Pflicht Notwendigkeit und Objektivität verleihen. Dieser Pflicht unterliegen Menschen, weil sie Vernunft und einen Willen haben. Für Menschen sind die moralischen GMS, AA 04: 412. Ebd., 389. 39 Das bedeutet nicht, dass Kant mit seiner Moralphilosophie direkt an die intellektualistische Tradition der moralischen Theologie anknüpft, die den Ursprung der moralischen Gesetzte nicht im göttlichen Willen, sondern in der göttlichen Vernunft lokalisiert. Denn Gott ist allwissend. Seine Weise der moralischen Erkenntnis kann für Menschen kein Modell sein. Dass Kant das moralische Gesetz als ein Meta-Gesetz formuliert, erfolgt in Anpassung an die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, die im Vergleich mit den göttlichen sehr begrenzt sind. 37 38

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Gesetze Handlungsvorschriften oder Imperative, weil sie im Unterschied zu reinen Vernunftwesen keinen heiligen Willen haben und auch gegen die moralischen Gesetze verstoßen können. Die Aufgabe der moralischen Gesetzgebung ist, so Kant, eine Aufgabe der Vernunft: Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist; die der Sitten, nur auf das, was da sein soll.40

Die theoretische Vernunft schreibt der erkennbaren Natur die Naturgesetze vor,41 und nach dem Modell der theoretischen Gesetzgebung schreibt die praktische Vernunft den Menschen als freien Handlungssubjekten vor, nur nach Maximen zu handeln, die in der moralisch idealen Welt Gesetze sein könnten. Das heißt, die gesetzgebende praktische Vernunft bestimmt den freien Willen zur Befolgung des moralischen Gesetzes dazu, auf die Verwirklichung der moralisch idealen Welt hinzuwirken. Da Kant, wie oben zitiert, die praktische Vernunft mit dem freien Willen identifiziert, ist die moralische Gesetzgebung durch die praktische Vernunft ein Akt der Selbstgesetzgebung des freien Willens: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und um eben deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“42 Der selbstgesetzgebende Wille ist der autonome Wille, und dieser Wille ist nicht nur frei von der Bestimmung durch Begierden, er ist auch frei in dem Sinne, dass er das moralische Gesetz als das einzige Prinzip seiner (Selbst-)Bestimmung anerkennt. Der Gedanke, dass die Freiheit oder Autonomie des Willens in nichts anderem besteht als in der bedingungslosen Befolgung des moralischen Gesetzes, ist aus der Tradition der Moraltheologie, und auch aus der theologischen Moral von Crusius, vertraut.43 Kant entwickelt sein Konzept eines autonomen Willens aus dieser Tradition heraus. Aber er versteht die moralische Gesetzgebung nicht als einen Willensakt Gottes, sondern als einen Akt der Selbstbestimmung des freien Willens als reine praktische Vernunft. Die Schwierigkeit, mit der uns Kant in seiner Moralphilosophie konfrontiert, ist daher nicht die, die Freiheit einer Person mit ihrer KrV A 840 / B 868. In den Prolegomena sagt Kant: „[D]er Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“ (Prol, AA 04: 320 [Hvhg. im Original]). 42 GMS, AA 04: 431. 43 Zu Kants begrifflicher Unterscheidung zwischen einer ,Moraltheologie" und einer ,theologischen Moral" siehe Patrick Kain, Self-legislation in Kant!s Moral Philosophy, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 86 (2004), 257–306, hier 267. Den Begriff der ,theologischen Moral" verwendet Kant insbesondere für voluntaristische Versionen göttlicher Moralgesetzgebung. 40

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absoluten moralischen Verpflichtung zusammen zu denken; denn dieser Gedanke ist aus der Tradition der theologischen Moral vertraut.44 Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, Autonomie als Selbstgesetzgebung und Selbstverpflichtung zu denken; denn da die Befolgung des moralischen Gesetzes ihrer Art nach eine absolute Rechtspflicht ist und da Rechtspflichten von einer Autorität erlassen und von Untergebenen anerkannt werden, so folgt aus dem kantischen Konzept eines autonomen Willens, dass Menschen als moralische Handlungssubjekte sowohl die Rolle des Gesetzgebers als auch die Rolle der durch diesen verpflichteten Untergebenen übernehmen müssen.45 Die These, dass Menschen kraft ihrer Vernunft und ihres freien Willens moralische Gesetzgeber sein können, ist für Kants moralphilosophisches Projekt zentral. Denn Gesetze, die Menschen kraft ihrer Vernunft selbst erlassen, sind mögliche Gegenstände apriorischer Erkenntnis: „[D]enn nur soviel sieht man selbständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann.“46 Mit anderen Worten: Praktische Gesetze, die wir selbst erlassen haben, sind für uns nicht äußere, sondern innere Bestimmungsgründe des Willens; Kant spricht auch von „apriorischen“ Bestimmungsgründen des Willens.47 Die Erkenntnis dieser Bestimmungsgründe ist nicht a posteriori, sondern a priori. Kant kann also die erste der eingangs genannten Fragen, die Frage nach der apriorischen Erkenntnis dessen, was zu tun das moralische Gesetz gebietet, beantworten. Damit allein kann er aber nicht erklären, warum die Autorität dieses Gesetzes absolut und die Pflicht, es zu befolgen, notwendig und objektiv ist. Dies ist die Frage, ob Menschen den Grund der absoluten Autorität der Pflicht a priori erkennen können. Die Erkenntnis a priori des moralischen Gesetzes und Arthur Schopenhauer und viele andere nach ihm, jüngst z. B. Robert Stern, sehen das Hauptproblem der kantischen Moraltheorie darin, die behauptete Autonomie einer Person mit ihrer absoluten moralischen Verpflichtung zusammen zu denken. Siehe Robert Stern, Kantian Ethics: Value, Agency, and Obligation, Oxford 2015, 18. Das von mir als ,Quadratur des Kreises" bezeichnete Problem ist mit diesem Problem jedoch nicht identisch. Im Gegenteil, in der hier vorgeschlagenen Lesart der kantischen Moralphilosophie ist die Lehre von der moralischen Verpflichtung autonomer Personen kein Problem, sondern Teil der Lösung des von mir identifizierten Problems. Allerdings ist Kants Autonomielehre hier nicht das zentrale Thema. Hier stimme ich mit Hare überein, siehe Hare, God!s Call (wie Anm. 1), 93. Ähnlich argumentiert schon Riehl, Der philosophische Kritizismus (wie Anm. 1), 227–268. Auch Schneewind sieht den Grund von Kants Kritik an der Lehre von der göttlichen moralischen Gesetzgebung darin, dass diese Lehre den Menschen zum Diener Gottes macht, was nicht mit der Lehre von der Autonomie des moralischen Handlungssubjekts zu vereinbaren ist. Siehe zur Kritik an Schneewind auch Hare, God!s Call (wie Anm. 1), 93 und Kain, Self-legislation (wie Anm. 43), 269 f. 45 Es ist dieser Gedanke der Selbstverpflichtung, der Elizabeth Anscombe veranlasst hat, Kants Moraltheorie als absurd zu beurteilen, siehe Elisabeth Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33 (1958), 1–19. 46 KU, AA 05: 383. 47 KpV, AA 05: 63. 44

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die Lokalisierung seines Ursprungs in der Vernunft garantieren nicht auch die Erkenntnis der notwendigen und objektiven Autorität dieses Gesetzes. Diese Autorität hat das Gesetz nur dann, wenn es metaphysisch real ist, also in einer bestimmten Welt gilt, ähnlich der Geltung der Naturgesetze in der Erfahrungswelt. Wie kann Kant der Pflicht, moralisch zu handeln, Notwendigkeit und Objektivität zuschreiben, obwohl Menschen nicht in einer moralisch idealen Welt leben, sondern in einer Welt, in der dieses Gesetz für Menschen nur ein Imperativ ist? Hängt die Verwirklichung dieses Gesetzes nicht vielmehr davon ab, dass Menschen ihren moralischen Pflichten gemäß handeln? Und wenn das so ist, wie kann dann diese Pflicht notwendig und objektiv sein? Kant versucht, diese Fragen im Rahmen seiner Metaphysik der Freiheit zu beantworten. Die ideale moralische Welt ist eine Welt der Freiheit, und wenn Menschen dem kategorischen Imperativ gemäß wollen und handeln, handeln sie frei. Sie machen sich zu Bürgerinnen und Bürgern der intelligiblen Welt der Freiheit: Gleichwohl sind wir uns durch unsere Vernunft eines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen unterworfen sind. Also muß dieses die Idee einer nicht empirisch-gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objective Realität geben, weil wir sie als Object unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen.48

Die Freiheit ihres Handelns ist, ähnlich wie von Crusius vorgedacht, zum einen eine Freiheit ihres Willens von einer Bestimmung durch Neigungen und lediglich subjektive praktische Grundsätze, zum anderen aber auch die Freiheit des Willens, der sich – statt von Neigungen – von der praktischen Vernunft und damit vom Sittengesetz bestimmen lässt. Rein von der Vernunft bzw. dem moralischen Imperativ ist der Wille dann bestimmt, wenn er sich von einer Maxime leiten lässt, nicht, weil diese einen bestimmten Inhalt hat, sondern weil sie „die Form“ des Gesetzes hat, und das heißt, weil sie Gesetz in einer idealen moralischen Welt sein könnte: Da […] der freie Wille […] bestimmbar sein muß: so muß ein freier Wille, unabhängig von der Materie des Gesetzes, dennoch einen Bestimmungsgrund in dem Gesetze antreffen. Es ist aber außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzgebende Form, sofern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann.49

Ob eine Maxime diese Form hat, das heißt, ob sie als Gesetz in der idealen moralischen Welt fungieren könnte, das a priori zu erkennen ist eine Sache der Ver48 49

Ebd., 44. Ebd., 29.

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nunft.50 Die Frage nach der Realität der moralischen Gesetze wird von Kant in die Frage nach der Realität der Freiheit bzw. des freien Willens übersetzt: „[E]in freier Wille [ist] ein Wille unter sittlichen Gesetzen.“51 Dass die Freiheit des Willens und mit dieser die moralischen Gesetze real, genauer gesagt wirklich sind, das versucht Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung zu beweisen.52 Auch das Anliegen, einen solchen Beweis zu führen, hat ein crusianisches Echo: Schon Crusius wollte zeigen, „daß es auch dergleichen Freyheit des Willens in der That gebe“.53 Die argumentative Struktur dieses dritten Abschnitts ist in der Kant-Forschung umstritten. Kant selbst scheint an dem Erfolg dieses Begründungsversuchs erhebliche Zweifel gehabt zu haben. Denn in der Kritik der praktischen Vernunft fehlt ein entsprechender Beweisversuch. An seine Stelle tritt seine Lehre vom ,Faktum" der Vernunft: Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist in moralischen Gesetzen a priori gleichsam durch ein Factum gegeben; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, welche unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht.54

Dieses Faktum der Vernunft, die Realität der Freiheit des Willens und seiner Bestimmung durch das Sittengesetz, ist uns, so Kant, im Gefühl der „Achtung für das moralische Gesetz“ bewusst.55 Diese Achtung ist aber nichts anderes als eine psychische Manifestation der Freiheit des Willens und der Wirklichkeit der moralischen Gesetze und kann einen Beweis der Wirklichkeit dieses Willens bzw. dieser Gesetze nicht ersetzen. Es ist naheliegend, die Funktion dieser Achtung mit der Funktion zu vergleichen, die Crusius dem Gewissenstrieb zugeschrieben hatte.56 Das heißt aber, dass Kant die ,Quadratur des Kreises" nicht gelungen ist. Zwar kann er die Quelle der moralischen Gesetzgebung in der Vernunft lokalisieren. Da Menschen das Gute nicht, wie Gott, intuitiv erkennen können, reduziert er diese Siehe oben, Anm. 39. GMS, AA 04: 447. 52 Die Rede vom moralischen Gesetz sowohl im Singular als auch im Plural bedarf einer Erklärung: Das moralische Gesetz, wie es dem kategorischen Imperativ zugrunde liegt, ist eine Art MetaGesetz, denn es schreibt vor, wie bestimmte praktische Prinzipien oder Maximen darauf geprüft werden können, ob sie Gesetze in der idealen moralischen Welt sein könnten. Von diesem MetaGesetz kann nur im Singular die Rede sein. Aber da eine Pluralität von Maximen Gesetze in der moralisch idealen Welt sein kann, kann von moralischen Gesetzen auch im Plural gesprochen werden. Alle moralischen Gesetze haben eine bestimmte Form, aber sie können ihrem Inhalt nach verschieden sein. 53 Crusius, Anweisung (wie Anm. 9), § 38, S. 44; siehe oben, Abschnitt II. 54 KpV, AA 05: 55. 55 Ebd., 73. 56 Der Begriff des Gewissens spielt in Kants Moralphilosophie keine zentrale Rolle. Für Kant gehört dieser Begriff in den Bereich der Moralpsychologie. Siehe dazu Jens Timmermann, Kant on Conscience, Duty, and Moral Error, in: International Philosophical Quarterly 46/3 (2006), 293–308. 50 51

Die Quadratur des Kreises

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Gesetzgebung auf die Vorgabe einer ,Form" und die Pflicht, eine gegebenen Maxime darauf zu prüfen, ob sie diese Form habe. Maximen sind nicht Gegenstand apriorischer Erkenntnis; aber die Frage, ob eine gegebenen Maxime die Form eines Gesetzes in der idealen moralischen Welt haben könne, lässt sich mit rein vernünftigen, nämlich mathematischen und logischen Mitteln, und damit a priori beantworten. Auf die Frage nach der Wirklichkeit der moralischen Gesetze, aus der allein sich die Notwendigkeit und Objektivität der moralischen Pflicht erklären ließe, bleibt Kant eine Antwort schuldig. Die Quadratur des Kreises kann nicht gelingen. Die These von der moralischen Gesetzgebung in der Form einer Bestimmung des Willens durch reine Vernunft ist kompatibel mit der Annahme von Gott als dem moralischen Gesetzgeber. Allerdings darf die moralische Gesetzgebung durch Gott nicht voluntaristisch, als ein spontaner Akt des göttlichen Willens verstanden werden; sie muss intellektualistisch verstanden werden, d. h. als Akt eines gesetzgebenden Willens, der von einer vernünftigen Erkenntnis des Guten angeleitet wird.57 Kant weist die Lehre des moraltheologischen Intellektualismus nur zurück, weil diese in Gott den alleinigen moralischen Gesetzgeber sieht. Aber er entwickelt eine abgewandelte Version dieser Lehre, der zufolge die moralische Gesetzgebung eine Sache der Vernunft ist, eine gemeinsame Aufgabe aller vernunftbegabten Wesen, und zu diesen gehören reine Vernunftwesen wie Gott ebenso wie Menschen. Weil es Kant nicht gelingt, eine apriorische Begründung der These zu entwickeln, dass das von der Vernunft erlassenen moralische Gesetz in einer Welt real ist, müssen wir uns damit begnügen, auf die Notwendigkeit und Objektivität dieses Gesetzes und der durch es begründeten moralischen Pflicht zu vertrauen. Wir müssen, so Kant, darauf vertrauen, dass es eine moralisch ideale Welt gibt, und darauf, dass es Gott als den Schöpfer dieser Welt gibt: Nun ist ein Wesen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig ist, eine Intelligenz (vernünftiges Wesen), und die Causalität eines solchen Wesens nach dieser Vorstellung der Gesetze ein Wille desselben. Also ist die oberste Ursache der Natur, sofern sie vom höchsten Gute vorausgesetzt werden muss [d. h. der Natur als einer Welt der Freiheit], ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d.i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.58

So liest auch Patrick Kain Kant; er verweist zur weiteren Begründung dieser Lesart auf die kantische These, dass es für das moralische Gesetz zwar einen Gesetzgeber, aber keinen Autor gebe. Siehe MS, AA 06: 227 und Kain, Self-legislation (wie Anm. 43). 58 KpV, AA 05: 125. 57

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Immerhin ist die Idee einer solchen besten Welt, der intelligiblen Welt der Freiheit, ohne Widerspruch denkbar.59 Dieses Resultat der kantischen Bemühungen, die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis des moralischen Gesetzes und seiner absoluten Autorität aus reiner Vernunft zu begründen, mag säkular gesinnten modernen Leserinnen und Leser etwas dürftig erscheinen. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Frage, ob es einen Gott gibt, der die Natur erschaffen und moralische Gesetze erlassen hat, nicht, und daher auch nicht negativ beantwortet werden kann, verliert dieses Bedenken jedoch an Gewicht. Schließlich hat Kant nachgewiesen, dass dieser Glaube nicht unvernünftig ist. In seiner Moralphilosophie übernimmt Kant eine zentrale These aus der Tradition der moralischen Theologie: Die Autorität der moralischen Gesetze ist absolut; diese Gesetze gelten für alle vernünftigen Wesen zu aller Zeit. Sein Einwand gegen die voluntaristischen und intellektualistischen moralischen Theologien ist jedoch, dass sie die Möglichkeit apriorischer moralischer Erkenntnis ausschließen. Kant hat versucht zu zeigen, dass eine solche Erkenntnis möglich ist, ohne die zentrale These der moralischen Theologie aufzugeben. Dabei hat er sich insbesondere von der voluntaristischen Moraltheologie des Christian August Crusius inspirieren lassen. A key claim of Kant!s moral philosophy is the claim that moral laws have absolute authority; they are authoritative for all people at all times. Kant inherits this claim from the tradition of moral theology. However, he objects to the idea, upheld by both the voluntarist and the intellectualist versions of moral theology, that the origin of moral laws is transcendent. If moral laws are of transcendent origin, neither their content nor their authority are possible objects of priori knowledge. Kant tries to argue in favour of the possibility of synthetic a priori moral knowledge, including in particular knowledge of the absolute authority of moral laws. He found a major source of inspiration in Christian August Crusius! voluntaristic moral theology. Prof. Dr. Christel Fricke, University of Oslo, Department of Philosophy, Classics, History of Art and Ideas, Blindernveien 31, Georg Morgenstiernes hus, 0313 Oslo, E-Mail: [email protected]

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Siehe ebd., 42 f.

Antonino Falduto Praktische Verbindlichkeit und göttliche Weltordnung in Fichtes Versuch einer Critik aller Offenbarung*

Dass Fichte Kants Philosophie durch die Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft kennengelernt hat, ist unumstritten keine Neuheit in der philosophischen Forschung.1 In meinem Aufsatz werde ich trotzdem versuchen, einen Aspekt dieser Nähe zwischen Kants Kritik der praktischen Vernunft und der frühen Entwicklung der philosophischen Gedanken Fichtes aus einer neuen Perspektive zu erläutern, indem ich den Verbindlichkeitsbegriff im Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792/93) in Betracht ziehe. Denn das Problem des höchsten Guts, das Kant am klarsten in der zweiten Kritik formuliert – mit seiner Referenz auf die Existenz Gottes für eine mögliche Erklärung seiner Höchstes-Gut-Lehre – wird von Fichte nicht namentlich genannt, muss aber trotzdem als Folie benutzt werden, um die Verbindung zwischen moralischer Verbindlichkeit und göttlicher Weltordnung in der Offenbarungsschrift zu rekonstruieren. Bei der Frage, welche Rolle der Begriff der Verbindlichkeit in den moralphilosophischen Gedanken eines Autors spielt, scheint es sinnvoll zu sein, die Antwort in seinen der Moralphilosophie gewidmeten Büchern zu suchen. Im Fall Fichtes sucht man ihn im 1798 erschienenen System der Sittenlehre nach den Die Abfassung dieses Beitrages wurde durch ein Feodor-Lynen-Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützt. Für Hinweise und Kritik danke ich vor allem Heiner F. Klemme, Gabriel Rivero, Anke Breunig und den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sektion „Geschichte der Philosophie: Klassische Deutsche Philosophie“ des XXIV. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie in Berlin (insbesondere dem Sektionsleiter, Tobias Rosefeldt). Für die sprachliche Verbesserung des Textes bin ich Sandra Vlasta dankbar. 1 Wie man bekanntlich dem Brief vom August/September 1790 entnehmen kann, den Fichte an Friedrich August Weißhuhn schreibt: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u. s. w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher“. Johann Gottlieb Fichte, Briefe 1775–1793, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III,1, hg. von Reinhard Lauth, Hans Jacob und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, 167. *

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Principien der Wissenschaftslehre vergeblich. Eine erste Antwort auf die Frage wäre also die, dass für Fichte Verbindlichkeit gar keine oder zumindest eine eher sekundäre Rolle in der Moralphilosophie spielt. Das ist aber eine voreilige Antwort, wenn man Fichtes frühere Texte zur praktischen Philosophie betrachtet. Ein Beispiel dafür sind die ersten Seiten der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre von 1796 oder sogar einige Seiten der noch früher erschienenen Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution von 1793. In der Grundlage des Naturrechts von 1796 ist die Rolle des Verbindlichkeitsbegriffs für die Moralphilosophie sogar so maßgebend, dass Fichte ihn gleich zu Beginn, im zweiten Absatz der „Einleitung“, noch im Kontext der Präsentation seiner theoretischen Idee des Ichs darlegt, um damit den Unterschied zwischen Moral und Recht zu verdeutlichen.2 Was ist zwischen der Veröffentlichung der frühen Schriften und 1798, also dem Jahr der Publikation des Systems der Sittenlehre, passiert? Was ist mit dem Verbindlichkeitsbegriff passiert? Wenn man sich der Forschungsliteratur zur praktischen Philosophie Fichtes zuwendet, wird man auch nicht richtig fündig. Dem Begriff der moralischen Verbindlichkeit wird in der Fichte-Forschung fast keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet.3 Daher ist es im Folgenden mein Ziel, erste Schritte zu unternehmen, um diese Forschungslücke zu schließen. Ich beschäftige mich mit einer der frühesten Schriften Fichtes, die für die Interpretation seiner praktischen Philosophie sehr oft vernachlässigt wird: Ich konzentriere mich ausschließlich auf den Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792/93), womit ich beabsichtige, die reJohann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Fichtes Werke, Bd. 3, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 11: „Ich muss mich nothwendig in Gesellschaft mit den Menschen denken, mit denen die Natur mich vereinigt hat; aber ich kann dies nicht, ohne meine Freiheit durch die ihrige beschränkt zu denken; nach diesem nothwendigen Denken muss ich nun auch handeln, außerdem steht mein Handeln mit meinem Denken, und ich sonach mit mir selbst im Widersprüche; ich bin im Gewissen, durch mein Wissen, wie es sein soll, verbunden, meine Freiheit zu beschränken. Von dieser moralischen Verbindlichkeit ist nun in der Rechtslehre nicht die Rede; jeder ist nur verbunden durch den willkürlichen Entschluss, mit anderen in Gesellschaft zu leben; und wenn jemand seine Willkür gar nicht beschränken will, so kann man ihm auf dem Gebiete des Naturrechts weiter nichts entgegenstellen, als das, dass er so dann aus aller menschlichen Gesellschaft sich entfernen müsse“. 3 Auch wenn das Thema der Verbindlichkeit im Rahmen des Naturrechts kein spezifisches Thema der Fichte-Forschung geworden ist, findet man trotzdem einige Nebenbemerkungen zu diesem philosophischen Gegenstand, die die Normativität in Verbindung mit dem Intersubjektivitätsprinzip in der praktischen Philosophie Fichtes behandeln. Es sei hier auf die wenigen Studien verwiesen, die den Normativitätsbegriff bei Fichte untersuchen: Axel Honneth, Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität (Zweiter Lehrsatz: § 3), in: Jean-Christophe Merle (Hg.), Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 63–80; Ludwig Siep, Praktische Philosophie im deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1992; Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg im Breisgau, München 1979. 2

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ligiöse Dimension des Verbindlichkeitsbegriffs darzustellen und zu zeigen, wie Fichte durch diesen Begriff verschiedene Bereiche seiner schon in nuce skizzierten ,idealistischen" Abwendung von der Transzendentalphilosophie Kants erhellt.4 Meine These lautet, dass in dieser Schrift der Begriff der moralischen Verbindlichkeit nur im Rahmen der von ihm vorgeschlagenen theo-teleologischen Erklärung der Sinnenwelt verstanden wird, weil Fichte hier moralische Verbindlichkeit nur in Verbindung mit dem Religionsbegriff zur Sprache bringt. Um meine These zu erläutern, weise ich auf die Rolle der moralischen Verbindlichkeit im Rahmen der fichteschen Deduktion einer eudämonistischen Moraltheorie hin und präsentiere die Auswirkungen der Doppelnatur (zugleich vernünftig und sinnlich) moralischer Verbindlichkeit im Kontext einer theo-teleologischen Darstellung der Sinnenwelt. Die Analyse des fichteschen Textes wird somit verschiedene Überlegungen eröffnen, und zwar: moralphilosophischer, naturphilosophischer und teo-theologischer Natur. Was Fichtes Gedankenentwicklung bezüglich der verbindlichen Kraft des Moralgesetzes betrifft, muss man beachten, dass ihm die religiösen Fragestellungen schon vor der Jenaer Zeit sehr präsent sind und sie erst am Ende seiner Zeit in Jena und mitten im Atheismusstreit wieder zentral werden.5 Zu betonen ist insbesondere der Parallelismus, der sich ergibt, wenn man bedenkt, dass sich Fichte genau in diesen Jahren mit dem Verbindlichkeitsbegriff beschäftigt. Der Verbindlichkeitsbegriff wird erst in den letzten von Fichte in Jena publizierten Schriften wieder eine höchst relevante Rolle spielen, und zwar insbesondere in der Appellation

Die Bedeutung der vorliegenden Analyse werde ich durch einen kurzen Blick in die Forschungsliteratur belegen, in der die Offenbarungsschrift selten in Bezug auf ihre Relevanz für die praktische Philosophie Fichtes analysiert wird. Zur Religionsphilosophie Fichtes und insbesondere zur Offenbarungsschrift vgl. u. a. Emanuel Hirsch, Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914; Wolfgang Ritzel, Fichtes Religionsphilosophie, Stuttgart 1956; Reiner Preul, Reflexion und Gefühl. Die Theologie Fichtes in seiner vorkantischen Zeit, Berlin 1969; Michael Kessler, Kritik aller Offenbarung: Untersuchungen zu einem Forschungsprogramm Johann Gottlieb Fichtes und zur Entstehung und Wirkung seines Versuchs von 1792, Mainz 1986; Klaus Hammacher (Hg.), Religionsphilosophie, Amsterdam 1995 (Fichte-Studien: Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie 8); Emilio Brito, La th*ologie de Fichte, Paris 2007; Marco M. Olivetti, Zum Religions- und Offenbarungsverständnis beim jungen Fichte und bei Kant, in: Helmut Girndt, Hartmut Traub (Hg.), Praktische und angewandte Philosophie, Amsterdam, New York 2003 (Fichte-Studien: Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie 23), 191–201. 5 Zum Atheismusstreit und der Rolle der Religion beim späten Fichte siehe Johann Gottlieb Fichte, Die philosophischen Schriften zum Atheismusstreit. Mit Forbergs Aufsatze: Entwickelung des Begriffs der Religion, neu hg. und eingel. von Fritz Medicus, Leipzig 1910. Vgl. außerdem u. a. Christoph Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen: Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800 – 1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; Björn Pecina, Fichtes Gott: vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2007. 4

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an das Publicum von 1799, wieder mit dem Ziel verbunden, Religion und Moral sehr nah zu bringen.6 Meinen Aufsatz leite ich zunächst mit einigen Vorüberlegungen zur genannten Fragestellung ein und präsentiere einige moralphilosophische Vorbegriffe für das Verständnis des Religionsbegriffes und der Rolle der moralischen Verbindlichkeit für die Religion. Ich werde zweitens den Begriff moralischer Verbindlichkeit mit drei Begriffen in Verbindung setzen, und zwar mit Eudämonismus, Vernünftigkeit und Teleologie. Dabei behandle ich die eudämonistische Tragweite der moralischen Verbindlichkeit, betone das Verhältnis zwischen Vernünftigkeit und moralischer Verbindlichkeit und erkläre die Auswirkungen moralischer Verbindlichkeit in der von Gott erschaffenen Sinnenwelt. In meinem Aufsatz bin ich bestrebt, die Relevanz Fichtes in der Entstehung eines neuen Paradigmas des Begriffs von praktischer Verbindlichkeit zu erläutern, das der normativen Diskussion durch die Bestrebung einer Anthropologisierung der praktischen Philosophie eine neue Dimension gibt. Im Rahmen meiner Analyse beabsichtige ich außerdem zu zeigen, dass der kantische Begriff praktischer Verbindlichkeit bei Fichte in seiner philosophischen Entwicklung immer weniger präsent ist.7 Damit wird meine Analyse des Begriffs von Verbindlichkeit und des damit verbundenen Pflichtbegriffs bei Fichte auch dazu dienen, einen Beitrag zur Klärung der Frage zu leisten, wieso der Verbindlichkeitsbegriff ein immer schwächeres Interesse in der praktisch-philosophischen Debatte nach Kant weckt. Ich befürworte die These, dass diese Entwicklung mit der Konkretisierung, auch innerhalb der moralphilosophischen Diskussion, der gesellschaftlichen Interessen und der gemeinschaftlichen Identitäten der philosophischen Forschung zu tun hat: Pflichten werden nicht mehr nur ausschließlich subjektabhängig definiert, sondern auch und immer stärker sozialbedingt ausgedrückt.8 Diese Entwicklung fängt bei Fichte mit der Zuordnung der Pflichten zu den Ständen an und wird dann unter anderem bei Hegel und später bei Marx vollzogen und vervollständigt.

Johann Gottlieb Fichte, Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus, Fichtes Werke, Bd. 5, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 191–238. Zum Atheismusstreit Fichtes vgl. u. a. Heinrich Rickert, Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine Säkularbetrachtung, Berlin 11899. Für die Texte des Atheismusstreits Fichtes vgl. nach wie vor Hans Lindau (Hg.), Die Schriften zu J. G. Fichtes Atheismus-Streit, München 1912. 7 Diese Schwächung der Rolle der Verbindlichkeit spiegelt sich in der ganzen Diskussion des Deutschen Idealismus und bei den Frühromantikern wider. Vgl. dazu Manfred Frank, „Unendliche Annäherung“: Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997; Walter Jaeschke, Andreas Arndt, Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel – Die Philosophie der Neuzeit 3.2, München 2013 (Geschichte der Philosophie 9/2). 8 Siehe Luca Fonnesu, Metamorphosen der Freiheit in Fichtes Sittenlehre, in: Fichte-Studien: Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie 16 (1999), 255–271. 6

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I. Vorüberlegungen und Kontextualisierung der Fragestellung In der Geschichte der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant ist Freiheit der unangefochtene Leitbegriff der Philosophie und steht im Zentrum vieler philosophischer Abhandlungen und Diskussionen: „Wohl keine Epoche der Philosophie stellt den Freiheitsgedanken so sehr in den Mittelpunkt wie die Klassische Deutsche Philosophie“.9 Die Schriften Kants prägen diese Periode. Die Idee, die am wirksamsten bleibt, ist diejenige der Unterscheidung zwischen Gesetzen der Natur einerseits und dem Gesetz der Freiheit andererseits. Die Philosophen, die sich auf Kants Werk beziehen, sind nicht nur der Überzeugung, dass der Kritik der Vernunft ein System der Vernunft folgen muss. Sie beabsichtigen auch die Trennung zu überwinden, die aus der Differenzierung von zwei Wirksamkeitsbereichen zweier unterschiedlicher Gesetze entsteht: Einerseits der Bereich, der unter den Naturgesetzen steht, andererseits der Bereich, der unter dem Gesetz der Freiheit steht. In der Formulierung Hölderlins: Ich will „das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstand zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung“.10 Diese Philosophen sind also auf der Suche nach der Möglichkeit der Aufnahme der Freiheit in ein System, das durch Rekurs auf Vernunft als vollständige Wissenschaft charakterisiert ist und in dem infolgedessen eine lückenlose Notwendigkeit herrscht. Von diesem Standpunkt aus werde ich die Gedanken Fichtes zum konkreten menschlichen Handeln betrachten. Ich beabsichtige, die Entwicklung der philosophischen Gedanken Fichtes mit Bezug auf die genannte Dualität zwischen Freiheit und Notwendigkeit und auf die Überwindung dieser Dualität darzustellen.11 Die Rekonstruktion des fichteschen Versuchs einer Überwindung der Dichotomie zwischen Notwendigkeit und Freiheit basiert auf der Analyse eines weiteren Begriffes, der eine Notwendigkeit definiert, die mit der Naturnotwendigkeit nicht gleichzustellen ist. Diese Notwendigkeit weist auf die tatsächliche Freiheit in der konkreten Vollziehung einer menschlichen Handlung hin, ist nicht die Notwendigkeit einer Handlung des Menschen als Sinnenwesen unter den Naturgesetzen, sondern mit der Verpflichtung des Menschen als Vernunftwesen dem Sittengesetz gegenüber als einem Gesetz der reinen praktischen Vernunft verbunden. Jaeschke, Arndt, Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel (wie Anm. 7), 17. Friedrich Hölderlin an Immanuel Niethammer am 24. Februar 1796, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt, Frankfurt am Main 1994, 225. 11 Für eine Einführung in diese Themen vgl. u. a. Joachim Widmann, Johann Gottlieb Fichte: Einführung in seine Philosophie, Berlin, New York 1982 und Carla De Pascale, Etica e diritto: La filosofia pratica di Fichte e le sue ascendenze kantiane, Bologna 1995. 9

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Das ist es, was schon bei Kant das Wesen der Autonomie (und damit der positiven Eigenschaft der Freiheit)12 ausmacht: Das Moralgesetz als ein für Menschen verbindliches Vernunftgesetz. Nach Kant heißt Autonomie bei Menschen verbindliche Selbstgesetzgebung, so dass im Fall moralischer Handlungen der menschliche Wille „nicht lediglich dem Gesetze unterworfen“ wird.13 Aus der Perspektive des Wollens und des darauffolgenden Handelns steht der Mensch unter keinem fremdbestimmten Gesetz. Das Sittengesetz ist kein besonderes Gesetz der Natur, das die menschlichen sowie alle anderen Ereignisse bestimmt. Der Wille des wollenden und handelnden Menschen wird „so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß“.14 In diesem Sinne sind positive Freiheit und Selbstgesetzgebung „beides Autonomie“.15 Die Menschen sind autonom, indem sie aus dem Gesetz handeln, das sie sich als Vernunftwesen geben, und das sie als Sinnenwesen zugleich verbindet. Nach Kant kann das Moralgesetz möglich sein, ist tatsächlich möglich und wird sogar wirksam, indem es eine Verbindlichkeit ausdrückt und im Menschen ein Gefühl der Achtung bewirkt, das als subjektive Triebfeder der menschlichen Handlungen fungieren kann.16 Moralität ist „das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens“ und sie wird aufgrund der Verbindlichkeit des Gesetzes erklärt, d. h. aufgrund der „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie“.17 Kant erklärt das Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit und Naturnotwendigkeit in der Handlung durch den Autonomiebegriff und den damit verbundenen Begriff der praktischen Verbindlichkeit. In moralischen Fällen geht es nicht mehr bloß um die Notwendigkeit der Kausalgesetze der Natur, sondern es geht um die Notwendigkeit des Moralgesetzes, die die reine praktische Vernunft als moralische Verbindlichkeit für sinnliche Wesen ausdrückt. Vgl. KpV, AA 05: 33 und MS, AA 06: 226. GMS, AA 04: 431. 14 Ebd. 15 Ebd, 450. Zum Autonomiebegriff bei Kant vgl. u. a. Maximilian Forschner, Gesetz und Freiheit: Zum Problem der Autonomie bei Immanuel Kant, München 1974; Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983; Oliver Sensen (Hg.), Kant on Moral Autonomy, Cambridge 2013. 16 Die Vernunft selbst, die dieses Gefühl bewirkt, bleibt aber die objektive Motivation der moralischen Handlung. Zu diesem Thema und zum Wirken des Gesetzes als Gefühl siehe u. a. Antonino Falduto, The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant!s Philosophy, Berlin, Boston 2014. 17 GMS, AA 04: 439. Zum Verbindlichkeitsbegriff bei Kant vgl. Heiner F. Klemme, Freiheit, Recht und Selbsterhaltung. Zur philosophischen Bedeutung von Kants Begriff der Verbindlichkeit, in: Markus Rothhaar, Martin Hähnel (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, Berlin, Boston 2015, 95–116. 12 13

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Die moralische Notwendigkeit wird der Naturnotwendigkeit durch die Verbindlichkeit des Moralgesetzes gegenübergestellt, sowie die menschliche Autonomie in der Handlung der Heteronomie der naturbedingten, durch sinnliche Triebe und unkontrollierte Neigungen verursachten menschlichen Reaktion gegenübergestellt wird. Wenn wir diese Gegenüberstellungen in die Sprache der ersten Leser Kants übersetzen wollen, können wir am besten über die Entgegenstellungen von Freiheit einerseits und System andererseits, bzw. von Moral einerseits und Naturwissenschaft andererseits sprechen. Diese Dualismen sind diejenigen, die es in der der Veröffentlichung der Werke Kants nachfolgenden philosophischen Diskussion zu überwinden gilt. Aus dieser Perspektive und mit dem Ziel, sie zu überwinden, beschäftigt sich Fichte mit der Frage: Geschieht menschliches Handeln notwendig oder mit Freiheit? Eine erste Antwort findet der Leser am Anfang der Grundlage des Naturrechts von 1796: „Jenes innere Handeln des vernünftigen Wesens geschieht entweder nothwendig, oder mit Freiheit“.18 Im Folgenden beabsichtige ich aber, eine der ersten Stadien von Fichtes Neudefinition und Transformation des Verbindlichkeitsbegriffes zu behandeln und konzentriere mich deshalb auf den Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792/93). II. Moralphilosophische Vorbegriffe für das Verständnis des Religionsbegriffes und der Rolle der moralischen Verbindlichkeit für die Religion selbst Kaum eine Schrift hat Fichtes philosophischen Werdegang und sein Leben so stark beeinflusst wie der Versuch einer Critik aller Offenbarung, zunächst in Königsberg bei Hartung 1792 anonym erschienen und dann 1793 in einer zweiten, erweiterten und verbesserten Auflage mit dem Namen des Autors 1793 noch einmal veröffentlicht.19 In dieser Schrift, die Fichte bekanntlich in der akademischen Welt der Philosophie über Nacht berühmt machte, versucht Fichte, den Begriff der Offenbarung zu analysieren und damit die Idee Gottes oder einer Gottheit einer Kritik zu unterziehen. Zwei wichtige Thesen Fichtes in diesem Werk sind folgende: Die These, welche eine unbestreitbare Nähe zwischen Religion und praktiFichte, Grundlage des Naturrechts (wie Anm. 2), 2. Vgl. Hans-Jürgen Verweyen, Einleitung, in: Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung, hg. von dems., Hamburg 1998, VII–LXXII, insbesondere XVIIf.: Der Verleger „hatte aus ,Versehen" – oder kühler Berechnung? – das Werk zunächst ohne Namen des Verfassers und ohne das Vorwort Fichtes herausgebracht. Die eng an Kant angelehnte Ausdrucksweise und Gedankenführung konnten so in der Tat zu dem Trugschluß führen, Kant selbst […] habe hier seine vierte Kritik vorgelegt.“ Das war die Behauptung von Hufeland, Reinhold und Baggesen, sodass Kant in der Allgemeinen Literatur-Zeitung den Irrtum aufklären musste und damit Fichte Aufmerksamkeit schenkte. 18 19

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scher Philosophie feststellt; und die These, welche den Offenbarungsbegriff zentral für die Erklärung des ganzen Systems der Philosophie macht. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Offenbarungsschrift schreibt Fichte, dass die Kritik des Offenbarungsbegriffs selber als ein „Nebengebäude“ der praktischen Philosophie zu denken ist.20 Die Offenbarungskritik ist eng mit der Kritik der Begriffe der Moral verbunden. Obwohl einerseits der Theologie, oder, noch deutlicher ausgedrückt, der Religion, und andererseits der Moralphilosophie zwei selbstständige Untersuchungen gewidmet werden, erscheint Fichte eine separate Behandlung dieser Bereiche nicht als sinnvoll. Fichte vertritt sogar die Ansicht, dass die Religion und ihre Kritik innerhalb eines philosophischen Systems behandelt werden müssen. Mithin ergibt die Analyse des Offenbarungsbegriffs nur im Rahmen der Analyse der Reflexionsideen Sinn.21 Was Fichte damit meint, wird nicht nur in den verschiedenen Versionen der Wissenschaftslehre, sondern auch in der Grundlage des Naturrechts von 1796 und im System der Sittenlehre von 1798 deutlich. Wenn die Religion von der Moralphilosophie abhängig ist, aber sowohl Moralphilosophie als auch theoretische Philosophie in der Reflexion des Ichs, d. h. in der Erklärung und Entstehung des Selbstbewusstseins, ihre Grundlegung finden, dann ist auch die Begründung der Religion und des Offenbarungsbegriffes mit dem Akt der Reflexion des Ichs zu verbinden. Es stellt sich die Frage, wie Begriffe wie Gott und Ich verbunden sind, und inwiefern sie gemeinsam (oder das Ich allein) das philosophische Projekt Fichtes begründen können. Zu zeigen, wie das Ich und die Reflexion die theoretische Philosophie, die praktische Philosophie und die Religion mit der Idee Gottes vereinbaren können, ist noch keine offensichtliche Aufgabe der Offenbarungsschrift, sondern eher eine, die in der Philosophie Fichtes nach dem Atheismusstreit dringender wird. Dennoch finden wir einen ersten Versuch der Darstellung der Antwort auf die Frage, wie Fichte die Begriffe von Ich und Gott verbinden und sie an den Anfang der Philosophie stellen will in seiner Analyse des Willens in der Offenbarungsschrift.22 Fichte entwirft in § 2 dieser Schrift eine „Theorie des Willens“ als „Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“, bevor er in § 3 mit seiner „Deduc-

Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung, Fichtes Werke, Bd. 5, hg. von Emmanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 13. 21 Vgl. ebd.: „So fest auch meines Erachtens noch die Kritik der Offenbarung auf dem Boden der praktischen Philosophie als ein einzelnes Nebengebäude steht; so kommt sie doch erst durch eine kritische Untersuchung der ganzen Familie, wozu jener Begriff gehört, und welche ich die der Reflexionsideen nennen möchte, mit dem ganzen Gebäude in Verbindung, und wird erst dadurch unzertrennlich mit ihm vereinigt“. 22 Vgl. dazu Widmann, Fichte (wie Anm. 11), 229 f. 20

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tion der Religion überhaupt“ zum eigentlichen Thema der Schrift kommt.23 Fichte betont, dass nur Gott die gesetzmäßige, moralische Angemessenheit eines Willens bewirken kann, der sowohl sinnlich als auch durch reine Spontaneität bestimmbar ist. Das erreicht Gott durch eine coincidentia rationis dei et hominis und durch die Hervorrufung des Gefühls der Achtung im Menschen. Man kann die Schritte der Argumentation Fichtes wie folgt rekonstruieren. Fichte spricht erstens von einer „Tatsache des Bewusstseyns“, die unter anderem sichert, „dass der Mensch einen Willen“ hat.24 Außerdem geht er davon aus, dass im Menschen nicht nur ein bloß sinnlicher Trieb, sondern auch das von einer „absoluten Spontaneität“ hervorgerufene Gefühl der Achtung „den Willen, als empirisches Vermögen, bestimm[en]“ kann.25 Damit präsentiert er die Achtung gleichsam als den „Punkt, in welchem die vernünftige und die sinnliche Natur endlicher Wesen innig zusammenfliessen“.26 Mit den letzten Worten gibt Fichte schon in der Offenbarungsschrift eine anfängliche Antwort auf die Fragen: (a) Wie kann die vernünftige Natur mit der sinnlichen Natur im Menschen notwendig verbunden sein? (b) Wie kann man den (nach Fichte nur vermeintlichen) Dualismus zwischen Vernunftwelt und Sinnenwelt überwinden? Eine erste Antwort ist in dem Gefühl der Achtung zu finden, in dem „die vernünftige und die sinnliche Natur endlicher Wesen innig zusammenfliessen“.27 Dennoch gibt Fichte die vollständige Antwort auf diese Fragen erst in der Sittenlehre, und zwar durch eine Theorie der menschlichen Triebe, die die Kluft zwischen Natur und Freiheit überbrücken soll.28 Man kann die Theorie der Triebe in der Sittenlehre, und somit auch die Lösung Fichtes zur Überwindung des Dualismus zwischen Natur und Freiheit, wie folgt zusammenfassen: Fichte vereinigt den Trieb des Menschen als Naturwesen und seine Tendenz als reiner Geist in ein und demselben Urtrieb, der das Wesen des Menschen konstituiert. Der Mensch Vgl. Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung (wie Anm. 20), 16–39: „Theorie des Willens, als Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“. Siehe dazu Hansjürgen Verweyen, Recht und Sittlichkeit in J. G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg im Breisgau, München 1975, insbesondere 54–61. 24 Vgl. Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung (wie Anm. 20), 23 f. 25 Vgl. ebd., 26 f. 26 Ebd., 26. 27 Ebd. 28 Siehe insbesondere Johann Gottlieb Fichte, System der Sittenlehre nach dem Principien der Wissenschaftslehre, Fichtes Werke, Bd. 4, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 107–122, § 8, „Deduction einer Bestimmtheit der Objecte ohne unser Zuthun“ (insbesondere die Punkte IV.–VII. dieser Deduktion) und § 9, „Folgerung aus dem vorhergehenden“ (insbesondere die Punkte III.–V. und die Anmerkung dieser Folgerung). Zur Trieblehre Fichtes vgl. u. a. Fonnesu, Metamorphosen der Freiheit (wie Anm. 8). 23

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wird somit als „Subjekt-Objekt“ dargestellt und sein wahres Wesen besteht nur „in der Identität und Unzertrennlichkeit beider“.29 Ein Trieb also, der rein vernünftig und zugleich sinnlich-natürlich ist, erklärt die Möglichkeit der Wirkung des Vernünftigen im Sinnlichen. Diese Lösung für die Überwindung des Dualismus zwischen Freiheit des vernünftigen Wesens und Notwendigkeit der natürlichen Welt entwirft Fichte in der Offenbarungsschrift noch nicht. Er schreibt aber im Text von 1792: „Kein Wollen [ist] ohne Selbstbewusstseyn (der Freiheit) möglich“, also „nur durch Beziehung auf das Ich, folglich nur in der Form der Selbstachtung“.30 Das Selbstbewusstsein des Individuums und seine Freiheit sind die vernünftigen Elemente; die Achtung vor der vernünftigen Natur des Individuums ist das sinnliche Element. Beide Elemente werden als untrennbar dargestellt. Bereits in der Offenbarungsschrift präsentiert Fichte die Reflexion des Menschen und die bewusstgewordene Möglichkeit der Selbstbestimmung des Wollens in Form eines Gefühls, und damit in Form von etwas Sinnlichem. Fichte stellt aber noch nicht die Gleichheit eines physischen Triebs und einer rein vernünftigen Tendenz fest. In der Offenbarungsschrift beschäftigt er sich ausschließlich mit den Problemstellungen der kantischen Moralphilosophie.31 In der Erklärung der Verbindung von Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Spontaneität, Willen und Gefühl der Achtung findet man nur in nuce die Elemente der späteren Handlungstheorie. Eine mögliche Erklärung der Verbindung zwischen Theologie, Recht und Moral ist trotzdem in § 3 der Offenbarungsschrift zu finden. An dieser Stelle ist von Verbindlichkeit als moralphilosophischem Element die Rede. Ich wende mich nun der Analyse dieses Verbindlichkeitsbegriffs zu. III. Moralische Verbindlichkeit und Eudämonismus In § 3 der Offenbarungsschrift kommt zunächst das Problem der Wirksamkeit eines verbindenden Gesetzes zutage: Woher stammt die verbindende Kraft des Sittengesetzes? Inwiefern hat moralische Verbindlichkeit einen Bezug zur Wirklichkeit? Wie kann das Moralgesetz in der notwendig strukturierten Naturwelt wirksam sein, die die Menschen nicht nur als Vernunftwesen, sondern auch zugleich

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Vgl. Fichte, Sittenlehre (wie Anm. 28), 130, Anm. Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung (wie Anm. 20), 27. Vgl. ebd., 31 ff., 37.

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als Sinnenwesen bewohnen und wo sie dementsprechend unter den physischen Gesetzen dieser Sinnenwelt stehen?32 Fichtes Antwort auf diese Frage besteht darin, die Herrschaft des Sittengesetzes in Gott zu suchen, um den Dualismus zwischen Naturnotwendigkeit und Menschenfreiheit zu überwinden. Gott ist das Element, in dem sich „moralische Nothwendigkeit und absolute physische Freiheit […] vereinigen“.33 Fichtes Argument besteht aus zwei Schritten. Im ersten Schritt beabsichtigt Fichte, göttliche und menschliche Vernunft gleichzusetzen. Im zweiten Schritt beabsichtigt er, die motivierende Kraft der Religion durch die Darstellung Gottes als Richter menschlicher Handlungen zu präsentieren. Fangen wir mit dem ersten Punkt an. Nach Fichte ist Gott sowohl Vernunft, d. h. das Vernünftige außerhalb der Menschen, dem das Vernünftige in den Menschen entspricht und ihnen ein Sittengesetz abnötigt, und zugleich ist Gott auch die Ursache der physischen Welt, die von ihm bestimmt wird, ohne dass er seinerseits bestimmt wird. Im Gottesbegriff findet man die bindende Kraft des Moralgesetzes als eines Vernunftgesetzes, das selbstgegeben ist und aus der menschlichen Vernunft stammt. Denn der Wille Gottes und seine Vernunft sind ein und dasselbe Prinzip, aus dem das Gesetz entspringt. Aber die Menschen haben auch an der Vernunft teil. In diesem Sinne schreibt Fichte, dass „es völlig gleich auch für die Moralität unserer Handlungen [ist], ob wir uns zu etwas verbunden erachten, darum, weil es unsere Vernunft befiehlt, oder darum, weil es Gott befiehlt“.34 Das Vernünftige im Menschen ist das Gesetzgebende im Menschen. Aber das Vernünftige ist Gott an sich. Mit dieser Argumentation versucht Fichte sowohl die moralische Autonomie des Menschen als auch seine Abhängigkeit von Gott zu retten. Somit wird es auch möglich, einerseits die Selbstgesetzgebung des Menschen und seine Autonomie, andererseits den Gehorsam gegenüber Gott zu begründen. Das geschieht dank der Gleichsetzung der menschlichen mit der göttlichen Vernunft. Diese apriorische, vernunftorientierte Begründung moralischer Verbindlichkeit ist aber nur der erste Schritt der Argumentation Fichtes. Denn er ist in der Offenbarungsschrift viel stärker an einer Erklärung der religiösen Natur für den Verbindlichkeitsbegriff interessiert. Der Religion wird eine moralische verbindende Vgl. ebd., 39 f.: „[D]er Trieb [hat], ob er gleich hierdurch gesetzliche Rechte, als moralisches Vermögen, bekommt, so wenig eine gesetzgebende Macht, als physisches Vermögen; dass er vielmehr selbst von empirischen Naturgesetzen abhängig ist, und seine Befriedigung lediglich von ihnen leidend erwarten muss. […] denn wenn auch das Gesetz dem Triebe ein Recht giebt, seine Befriedigung zu fordern, so ist ihm, der nicht bloss ein Recht sucht, sondern die Behauptung in seinem Rechte, das er selbst nicht behaupten kann, damit noch keine Genüge geschehen“. 33 Ebd., 40. 34 Ebd., 52. 32

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Kraft zugesprochen: „Theologie ist blosse Wissenschaft, todte Kenntniss ohne praktischen Einfluss; Religion aber soll der Wortbedeutung nach (religio) etwas seyn, das uns verbindet, und zwar stärker verbindet, als wir es ohne dasselbe waren“.35 Worin besteht die Verbindlichkeit der Religion? Inwiefern ist religiöse Verbindlichkeit mit moralischer Verbindlichkeit verwandt? Nach Fichte wird in der Religion eine Nötigung ausgedrückt: Gott bestimmt das menschliche Leben aufgrund der Betrachtung der menschlichen Entschließungen.36 Gott ist also nicht nur das Vernünftige und das Schöpferische, sondern auch der Richter der menschlichen Handlungen. Fichte verbindet die heilige Ehrfurcht vor Gott „mit der Begierde der nur von ihm zu erwartenden Glückseligkeit“, und diese zwei miteinander verbundenen Faktoren bestimmen „nicht unser oberes Begehrungsvermögen, das Recht überhaupt zu wollen […], sondern unseren empirisch-bestimmbaren Willen, dasselbe wirklich in uns anhaltend und fortgesetzt hervorzubringen“.37 Die moralische Verbindlichkeit liegt in der vernünftigen Natur des Menschen, das Richtige durch die Vernunft rationell, a priori zu wollen und zu entwerfen, aber die Verbindlichkeit liegt zugleich auch in der sinnlichen Natur des Menschen, sein unteres sinnliches Begehrungsvermögen nach dem Richtigen bestimmen zu wollen. Die Bedeutung der Religion besteht in einer weiteren, vielleicht sogar stärkeren Motivation zur Moralität, die zugleich sinnlicher und vernünftiger Natur ist, sodass ein vernünftiges Sollen einer realen Verwirklichung im Menschen entspricht.38 Die moralische Verbindlichkeit, d. h. die Verbindlichkeit zur Tugend, ist auch und insbesondere aufgrund der sinnlichen Natur des Menschen wirksam. Die religiöse Verbindlichkeit wird moralisch relevant, weil das menschliche Leben von der göttlichen Beurteilung der menschlichen Entscheidungen abhängt. Deswegen gehorchen die Menschen dem Sittengesetz nicht nur, weil es dem Vernünftigen an sich entspricht, und somit ein Gebot des höchst Menschlichen gegen Ebd., 43 (Hvhg. im Original). Ebd., 50. 37 Ebd., 50 f. 38 Die Religion ist (a) „auf die Idee von Gott“ als dem „Bestimmer der Natur nach moralischen Zwecken“ und (b) „in uns auf die Begierde der Glückseligkeit“ begründet, „welche aber gar nicht etwa unsere Verbindlichkeit zur Tugend, sondern nur unsere Begierde, dieser Verbindlichkeit Genüge zu thun, vermehrt und verstärkert“ (ebd., 51). Gott ist das Übernatürliche in uns (durch das Bewusstsein des Moralgesetzes) und das Übernatürliche außer uns (durch die Offenbarung in der Sinnenwelt). Nach dieser These von Fichte entstehen aber nicht nur Pflichten für die Menschen, sondern auch eine Verbindlichkeit, die auch für Gott bindend ist: „Gott selbst untersteht […] der moralischen Förderung, sich im Interesse der Moralität zu offenbaren, und ein Gott, der dies unterließe, wäre ein unmoralischer Gott“ (Jaeschke, Arndt, Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel [wie Anm. 7], 59). 35

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die bloße Sinnlichkeit und das Animalische in ihm ist, sondern zugleich auch als Gebot Gottes, der (a) Richter der menschlichen Handlungen ist, (b) die menschlichen Schicksale beeinflusst und (c) die Menschen bezüglich ihrer tierischen Natur glücklich machen kann. Die konkrete Verbindlichkeit der Moral und ihre tatsächliche Wirksamkeit im Menschen werden durch die Religion zusätzlich verstärkt und gestützt, weil Gott als diejenige Instanz verstanden wird, die die Natur moralisch-zweckmäßig gestaltet. Gott kann die menschlichen Schicksale so bestimmen, dass die Menschen nur glücklich werden können, wenn sie die moralische Zweckmäßigkeit Gottes in der Natur befördern. Damit eröffnet Fichte eine moralisch-teleologische Dimension der Natur, eine göttliche Weltordnung, und eine eudämonistische Dimension der menschlichen Bestrebungen, die Religion und Moral miteinander verbindet.39 Die Verbindlichkeit des Gesetzes wird sowohl durch die Vernünftigkeit, und damit auch durch Gott als das Vernünftige an sich, als auch durch das Verlangen nach Glückseligkeit gesichert. Beide Verbindlichkeiten stützen sich reziprok und sind keine miteinander konkurrierenden Erklärungsmodelle, sondern ein und dieselbe Stärke des Sittengesetzes. Fraglich ist, ob diese konkrete Verbindlichkeit, die heteronom begründet ist, und zwar in der Verfolgung der Glückseligkeit im menschlichen Leben, wirklich die gleiche autonom begründete Verbindlichkeit ist, die ausschließlich aus der göttlichen und zugleich menschlichen Vernunft stammt. Nach Jaeschke und Arndt schließt diese heteronom fundierte Verbindlichkeit die autonom fundierte Verbindlichkeit aus.40 Das wird aber aus dem Argumentationsgang Fichtes nicht ersichtlich. Die heteronome Grundlage, d. h. das Streben nach Glückseligkeit des sinnlichen Wesens, und die autonome Grundlage, d. h. der bindende Charakter der Vernünftigkeit für (nicht nur sinnliche, sondern auch zugleich) vernünftige Wesen, decken sich vollkommen. Das Gesetz ist sowohl aufgrund seiner Grundlegung in der Vernünftigkeit (und damit auch in Gott als dem Vernünftigen an sich) als auch aufgrund seiner Rolle für die Erreichung und Erhaltung der GlückVgl. dazu Verweyen, der bemerkt: „Nicht nur das lange Schweigen Fichtes über Religion wird von hierher verständlich. Im Wesentlichen liegt hier auch schon die radikale Trennung von Recht und Moral beschlossen, wie sie Fichte in den Jahren 1796 bis 1798 durchführt. […] Das ursprüngliche Motiv für die radikale Trennung beider Bereiche scheint […] das Bestreben gewesen zu sein, den Eudämonismus auch in seiner bestmöglichen Ordnung säuberlich von dem Bereich wirklicher Freiheit abzugrenzen“ (Verweyen, Recht und Sittlichkeit [wie Anm. 23], 61). 40 Vgl. Jaeschke, Arndt, Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel (wie Anm. 7), 59 f.: „Wenn Religion erst einmal ,als Mittel einer stärkern Bestimmung durchs Moralgesetz" in Anspruch genommen und die geoffenbarte Religion sogar eingesetzt wird, um Moralgefühl allererst zu begründen (GA I/i, 58 sq.), dann läßt sich die Heteronomie nicht mehr bannen“. Daraus schließen Jaeschke und Arndt, dass die Offenbarung nicht lediglich „Verstärkung“ sein kann, sondern: „[S]ie muß auf Ersetzung der moralischen Triebfedern abzielen, und dies im vermeintlichen Interesse der Beförderung der Moralität“ (ebd., 62). 39

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seligkeit (durch die bewirkte Verfolgung und Realisierung der moralisch-teleologischen Pläne Gottes für diese Welt) verbindlich. Beide Verbindlichkeiten stützen sich reziprok und sind keine miteinander konkurrierenden Erklärungsmodelle, sondern ein und dieselbe Stärke des Sittengesetzes, entweder aus der göttlichen Perspektive oder aus der weltlichen Perspektive betrachtet, im Menschen vereinigt. Die Antwort ist also im Gottesbegriff zu finden, durch den sowohl die teleologische Struktur der Welt als auch die Vernünftigkeit an sich begründet wird. In der Offenbarungsschrift ist Gott nach Fichte Vernunft, der auch die menschliche Vernunft entspricht, Schöpfer der moralischen Welt und Richter über die menschlichen Schicksale.

IV. Moralische Verbindlichkeit und Vernünftigkeit Worin besteht der von Fichte in der Offenbarungsschrift analysierte rein vernünftige Aspekt des Verbindlichkeitsbegriffs? Was hat dieser Aspekt mit Gott zu tun? Während ich im vorhergehenden Abschnitt auf den doppelschichtigen Aspekt von Verbindlichkeit hingewiesen habe, analysiere ich in diesem Abschnitt den Begriff von Verbindlichkeit, der durch Vernunftkonformität und Streben nach Vernünftigkeit Grund der Wirksamkeit wird. In der Offenbarungsschrift Fichtes gibt es eine Verbindlichkeit, dem Willen Gottes bloß der Form nach zu gehorchen. Der Mensch erkennt das Gesetz der Vernunft in sich selbst als Gesetz Gottes. Die Vernunft an sich verpflichtet auch die Menschen, ihrem Gesetz als menschliche Selbstgesetzgebung und zugleich auch als Gottesgesetzgebung zu gehorchen. Die Vernunft verpflichtet ohne Rückweisung an einen Gesetzgeber über sie, so dass sie selbst verwirrt und schlechterdings vernichtet wird, und aufhört Vernunft zu seyn, wenn man annimmt, dass noch etwas anderes ihr gebiete, als sie sich selbst. Stellt sie uns nun den Willen Gottes als völlig gleichlautend mit ihrem Gesetze dar, so verbindet sie uns freilich mittelbar, auch diesem zu gehorchen.41

Die Form der Verbindlichkeit ist von der Vernünftigkeit abhängig, weil sich der Mensch eines Willens nur als eines einem vernünftigen Wesen gehörigen Willens bewusst wird. In diesem Fall gründet sich Verbindlichkeit auf nichts anderem als auf der Übereinstimmung des Willens mit dem eigenen Gesetz der Vernunft. Man kann diese Übereinstimmung entweder auf die menschliche oder auf die göttliche Vernunft übertragen (was nur möglich ist, insofern man eine künstliche, erklärungstheoretische Unterscheidung zwischen den beiden unternimmt). Das ist für Fichte gar nicht problematisch, denn Vernunft bleibt Vernunft, sei sie mensch41

Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung (wie Anm. 20), 52.

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lich oder göttlich. Der Gehorsam ist einem Gott gegenüber ein anderer Ausdruck des Gehorsams der menschlichen Vernunft gegenüber: Es ist „kein Gehorsam gegen Gott möglich, ohne aus Gehorsam gegen die Vernunft“.42 Der Gesetzgeber ist Garant für die Wirksamkeit der Verbindlichkeit eines Gesetzes. Dennoch beabsichtigt Fichte nicht, eine heteronome Verbindlichkeit zu präsentieren, die von einem aktuellen Gesetzgeber, sei es Gott oder Mensch, abhängt. Er setzt vielmehr eine autonome Grundlegung der Wirksamkeit der Verbindlichkeit voraus, nach der der autonome Garant der Wirksamkeit des Gesetzes nicht nur Gott, sondern zugleich auch der Mensch ist. Der Mensch ist in diesem Fall – um eine kantische Darstellung zu benutzen – sowohl der Verbindende als auch der Verbundene.43 Gott ist sowohl direkte als auch indirekte Quelle der Verbindlichkeit. Der Wille Gottes und seine Vernunft sind ein und dasselbe Prinzip, aus dem das Gesetz stammt. Hier wird eine coincidentia rationis et voluntatis dei präsentiert. Aber die Menschen haben auch an Vernunft teil. In diesem Sinne ist „es völlig gleich auch für die Moralität unserer Handlungen […], ob wir uns zu etwas verbunden erachten, darum, weil es unsere Vernunft befiehlt, oder darum, weil es Gott befiehlt“.44 Gott ist das Vernünftige, und damit findet eine Gleichsetzung GottMensch statt. Um das genaue Vorgehen zu erklären, muss man eine künstliche Unterscheidung zwischen Gottes Erkennen und Gottes Wollen vornehmen. Gottes Erkennen macht das Gesetz aus. Gottes Wollen macht die Verbindlichkeit des Gesetzes aus. Erkennen und Wollen sind ein und dasselbe bei Gott, d. h. dem Vernünftigen. Im Menschen wird aber dieses Vernünftige als zwei verschiedene Aspekte, nämlich das Gesetz einerseits und die Verbindlichkeit des Gesetzes andererseits, wahrgenommen. Das Vernünftige des Sittengesetzes gebietet den Menschen, moralisch zu handeln, und nötigt sie zugleich, moralisch zu handeln. Das Vernünftige ist aber kein rein menschlicher, sondern auch zugleich ein göttlicher Aspekt. Ebd. Vgl. MS, AA 06: 417: „§ 1. Der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst enthält (dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch. Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff. Denn in dem Begriffe der Pflicht ist der einer passiven Nöthigung enthalten (ich werde verbunden). Darin aber, daß es eine Pflicht gegen mich selbst ist, stelle ich mich als verbindend, mithin in einer activen Nöthigung vor (Ich, eben dasselbe Subject, bin der Verbindende); und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht (ich soll mich selbst verbinden), würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein (passive Obligation, die doch zugleich in demselben Sinne des Verhältnisses eine active wäre), mithin einen Widerspruch enthalten. – Man kann diesen Widerspruch auch dadurch ins Licht stellen: daß man zeigt, der Verbindende (auctor obligationis) könne den Verbundenen (subiectum obligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit (terminus obligationis) lossprechen; mithin (wenn beide ein und dasselbe Subject sind) er sei an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch enthält“. 44 Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung (wie Anm. 20), 52. 42 43

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Mit dieser Argumentation versucht Fichte, sowohl die Autonomie des Menschen in der Moral als auch seine Abhängigkeit von Gott zu retten. Man fragt sich aber, inwiefern die menschliche Vernunft und die göttliche Vernunft Ähnlichkeiten vorzuweisen vermögen. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden besteht in der Trennung zwischen Wollen und Erkennen beim Menschen, die bei Gott nicht stattfindet. Die Gleichsetzung der Akte des Wollens und Erkennens bei Gott ist ein notwendiges Element für die Erklärung der Gleichsetzung von einerseits „heteronomer“, göttlicher, und andererseits „autonomer“, menschlicher Verbindlichkeit. Das Vernünftige ist die Selbsterkenntnis der Gottheit und ihr Wollen. Das Vernünftige ist aber bei Menschen nur ein Teil ihrer Selbsterkenntnis und ihres Wollens. Deshalb steht das Wollen bei Gott nicht unter einer Nötigung, während dies bei den Menschen der Fall ist. Die Gleichsetzung von Vernunft und Wille bei Gott ist unter anderem bekanntlich von Leibniz in der Theodic!e vorgeschlagen worden und wird später unter anderem von Christian Wolff herausgearbeitet.45 Dieselbe Gleichsetzung wird nach Fichte noch von Schelling in der Freiheitsschrift verteidigt, als letztem Philosophen, der noch an einem Projekt der Theodizee festhalten will und neue philosophische Argumente dazu liefern kann.46 Bei Fichte in der Offenbarungsschrift wird diese Ungleichheit zwischen Menschen und Gott im Rahmen der Theodizee unterstrichen, so dass die Wichtigkeit des Verbindlichkeitsbegriffs in Bezug auf das Materiale der menschlichen Handlung herausgearbeitet wird. Nicht nur aufseiten des oberen Begehrungsvermögens (d. h. des Vernünftigen an sich), sondern auch aufseiten des unteren Begehrungsvermögens (d. h. des sinnlich affizierten Begehrungsvermögens) sind die Menschen an eine moralische Handlung gebunden. Es stellt sich die Frage, welche Erklärung für die Freiheit des Willens durch diese Darstellung der vollständigen, zugleich formalen (vernunftabhängigen) und konkreten (glückseligkeitsabhängigen) Verbindlichkeit des Sittengesetzes möglich wird, die diese vernünftig-autonome und doch eudämonistisch erweiterVgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Th*odic*e sur la bont* de dieu, la libert* de l!homme et l!origine du mal, Amsterdam 1710, Premi)re partie, § 7; Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Deutsche Ethik), Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 4, hg. von Hands Werner Arndt, Hildelsheim, New York 1976 (Frankfurt am Main, Leipzig 41733). 46 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 7, hg. von Karl Friederich August Schelling, Stuttgart 1860, 331–416. Vgl. zum Thema der Korrespondenz von Wille und Verstand bei Schelling auch die Überlegungen von Volker Gerhardt, Selbständigkeit und Selbstbestimmung. Zur Konzeption der Freiheit bei Kant und Schelling, in: Hans-Martin Pawlowski, Stefan Smid, Rainer Specht (Hg.), Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 59–105. 45

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te Perspektive ermöglicht. Nicht die freie Handlung, sondern die Wirksamkeit der Bindung an Gott – zugleich der Glückseligkeit und der Vernünftigkeit wegen – werden geklärt. Die Menschen haben nicht nur eine vernünftige Begründung für die Befolgung des Sittengesetzes, sondern auch sinnliche Gründe dafür, dem Sittengesetz zu folgen, weil Gott ihre Schicksale glücklich machen wird, wenn ihre Entscheidungen moralisch sind. Man fragt sich allerdings, wieso sich die Menschen auch anders entscheiden, nämlich für unmoralische Handlungen. Eine mögliche Interpretation könnte darin bestehen, dass die Menschen die Entschlüsse Gottes und seinen moralisch-zweckmäßigen Plan für die Welt nicht vollständig erkennen können. Im Fall einer unmoralischen Handlung würde also bloß eine Verkennung der moralisch-teleologischen Pläne Gottes stattfinden. Nach einer Lösung & la Christian Wolff könnte man Fichte so interpretieren, dass sich die Menschen vervollkommnen sollen, damit sie moralisch handeln, und diese Vervollkommnung würde darin bestehen, danach zu streben, ihre Erkenntnisse immer präziser und wahrheitsgemäßer zu machen.47 Doch besteht menschliche Freiheit nach Fichte ausschließlich darin? Und wenn das der Fall wäre, hätte Fichtes Verbindlichkeitsbegriff in der Offenbarungsschrift eine Neuheit gegenüber der vorkantischen Tradition vorzuzeigen? Die zweifache Form der Verbindlichkeit, vernunft- und zugleich glückseligkeitsorientiert, rückt vielleicht viel näher an Wolff, als Fichte eingestehen würde.48

Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Ethica philosophica, Halle 31763 (11740), § 10: „Perfice te. Ergo perfice te in statu naturali, quantum potes, i. e. fac in eodem, quae te perficiunt, velut finem, quorum tu ipse es ratio perfectionis determinans, vel ut medium, quae te cum aliis consentire faciunt as rationem perfectionis determinantem extra te positam“. 48 Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 45), „Vorrede zu der andern Auflage“: „Verständige und vernünfftige Menschen brauchen keine weitere Verbindlichkeit als die natürliche: aber unverständige und unvernünfftige haben eine andere nöthig und die muß die knechtische Furcht für der Gewalt und Macht eines Oberen zurücke halten, daß sie nicht thun, was sie gerne wollten. Wenn man demnach den Menschen lencken will; so kan man es auf zweyerley Weise angreiffen. Entweder man lencket ihn durch Zwang, wie das Viehe, oder durch Hülffe der Vernunfft, wie eine vernünfftige Creatur. Mit dem ersten habe ich in der Moral nichts zu thun: denn dadurch bringet man niemanden zur Tugend, sondern bloß zu einer äußerlichen Gewohnheit im Guten, oder auch zu einem verstellten Wesen, dabey keine Wahrheit ist. Allein das andere ist mein Werck, als der ich mir angelegen seyn lasse die Tugend unter den Menschen in bessere Aufnahme zu bringen“. Vgl. dazu: Heiner F. Klemme, Gewissen und Verbindlichkeit. Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith, in: Sasˇa Josifovic´, Arthur Kok (Hg.), Der innere Gerichtshof der Vernunft, Leiden, Boston 2016, 63–83; Dieter Hüning, Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen empirischer Psychologie und Moralphilosophie, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-FranÅois Goubet (Hg.), Christian Wolffs Psychologie. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004, 145–169. Zu Nähe und Distanz zwischen Wolff und Pufendorf und für die Rolle Pufendorfs überhaupt im 18. Jahrhundert siehe außerdem Dieter Hüning, Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und 47

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V. Moralische Verbindlichkeit und Teleologie Ein letzter Aspekt, auf den ich die Aufmerksamkeit kurz lenken möchte, ist die teleologische Konstitution der Welt, die die moralische Verbindlichkeit eröffnet. Dieser Aspekt ist eng mit der Verbindlichkeit verbunden, dem Willen Gottes nicht nur der Form, sondern auch der Materie nach zu gehorchen, weil Gott die Menschen glücklich machen wird, wenn sie seinem Gesetz in Bezug auf seine Zwecke für die Welt gehorchen. Ziel der göttlichen Planung der Welt ist die eudämonistische Begründung der Wirksamkeit des Sittengesetzes. Wie Fichte schon klar gemacht hat, ist die formale Verbindlichkeit des Gottes- bzw. Sittengesetzes für die reale Wirksamkeit des Gesetzes selbst nicht ausreichend, weil die Gesetze Gottes als Gesetze der praktischen Vernunft nur formaliter verbinden.49 In diesem Fall sind die Gebote Gottes eben keine wirksamen Gebote, sondern bloße Erlaubnisse, „und sollten wir a posteriori finden, dass diese Vorstellung uns stärker bestimme, so kann die Klugheit anrathen, uns derselben zu bedienen, aber Pflicht kann der Gebrauch dieser Vorstellung nie seyn“.50 An dieser Stelle kommt die Bedeutung der moralischen Verbindlichkeit in Verbindung mit der Religion hinzu. Die eudämonistische Interpretation der Wirksamkeit ergibt nur dann Sinn, wenn die Menschen an Gott glauben, und wenn Gott diese Welt so erschaffen hat, dass es für Menschen sinnvoll (d. h. klug, angemessen, nicht nur moralvernünftig oder bloß vernunftgemäß) ist, moralisch zu handeln. Auch wenn Fichte davon überzeugt ist, dass Verbindlichkeit nur aus einer moralischen Perspektive Sinn ergibt und die Rede einer religiösen Verbindlichkeit unerheblich ist, ist praktische Verbindlichkeit also doch mit der Religion Christian Wolff, in: Eva Graul, Gerhard Wolff (Hg.), Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, Berlin 2002, 525–544. 49 Fichte schreibt, dass es sich noch gar nicht einsehen lässt, „wozu uns die letztere Vorstellung dienen soll, da ihre Wirksamkeit die Wirksamkeit der ersteren schon voraussetzt, da das Gemüth schon bestimmt seyn muss, der Vernunft gehorchen zu wollen, ehe der Wille, Gott zu gehorchen, möglich ist; da es mithin scheint, dass die letztere Vorstellung uns weder allgemeiner noch stärker bestimmen könne, als diejenige, von der sie abhängt, und durch die sie erst möglich wird.“ Und er geht in seiner Argumentation noch weiter: „Gesetzt aber, es liesse sich zeigen, dass Sie unter gewissen Bedingungen wirklich unsere Willensbestimmung erweitere, so ist vorher doch noch auszumachen, ob eine Verbindlichkeit sich ihrer überhaupt zu bedienen stattfinde: und da folgt denn unmittelbar aus dem obigen, dass, obgleich die Vernunft uns verbindet, dem Willen Gottes seinem Inhalte nach (voluntati ejus materialiter spectatae) zu gehorchen, weil dieser mit dem Vernunftgesetze völlig gleichlautend ist, sie doch unmittelbar keinen Gehorsam fordert, als den für ihr Gesetz, aus keinem anderen Grunde, als weil es ihr Gesetz ist; dass sie folglich, da nur unmittelbare praktische Gesetze der Vernunft verbindend sind, zu keinem Gehorsam gegen den Willen Gottes, als solchen (voluntatem ejus formaliter spectatam), verbinde“ (Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung [wie Anm. 20], 52 f.). 50 Ebd., 53.

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sehr stark, sogar untrennbar verbunden. In Sachen Religion ist Fichte davon überzeugt, dass die Menschen weder daran gebunden sind, an der Existenz Gottes festzuhalten, noch die Untersterblichkeit der Seele annehmen müssen.51 Dennoch gründet sich die Idee von Gott „als Gesetzgeber durchs Moralgesetz in uns“ auf eine „Entäusserung des unserigen, auf Uebertragung eines Subjectiven in ein Wesen ausser uns, und diese Entäusserung ist das eigentliche Princip der Religion“.52 Die Macht Gottes ist nicht nur die formale, vernünftige Voraussetzung der Verbindlichkeit. Die menschlichen Handlungen sind der moral-teleologischen Planung der sinnlichen Welt vonseiten Gottes konform. Damit eröffnet die praktische Verbindlichkeit eine dritte Perspektive, nämlich die moralisch-teleologische Perspektive. Der Glaube an eine moralische Weltregierung Gottes ist mit der teleologischen Planung unserer Sinnenwelt verbunden. Diese teleologische Planung der Welt verbindet die Menschen, moralisch zu handeln und den göttlichen Entwurf der Welt zu respektieren. VI. Zusammenfassende Bemerkungen In diesem Aufsatz war es mein Ziel, die verschiedenen Aspekte der moralischen Verbindlichkeit in der Offenbarungsschrift von Fichte zu zeigen, nämlich (a) die rein formelle Verbindlichkeit vernünftiger Natur und (b) die materielle Verbindlichkeit eudämonistischer Natur, die nur in einer teleologischen Erklärung der menschlichen Welt durch den Rekurs auf den Gottesbegriff Sinn ergeben. Somit lautet meine These, dass bei Fichte in diesem Werk die moralische Verbindlichkeit nur im Kontext einer religiösen Darstellung der Welt in ihrer Vollständigkeit zu erklären ist. Ich habe versucht, die doppelte Bedeutung des Begriffs von Verbindlichkeit in ihrer (a) rein rationalen und (b) sinnlich eudämonistischen Dimension zu präsentieren, und diese formale und materiale moralische Verbindlichkeit mit der teleologischen Planung der Welt und dem Begriff der Religion in Verbindung zu setzen. Fichtes doppelte Verbindlichkeit – so lautet mein abschließender Interpretationsvorschlag – hat mit der Doppelnatur des Menschen zu tun, der nach dem kantischen Modell ein sinnliches und immer zugleich vernünftiges Wesen ist. Die raVgl. ebd.: „Zur Anerkennung Gottes, als moralischen Gesetzgebers, findet keine Verbindlichkeit statt; umso weniger, da, so nothwendig es auch ist, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit unserer Seele anzunehmen, weil ohne diese Annahme die geforderte Causalität des Moralgesetzes in uns gar nicht möglich ist, und diese Nothwendigkeit ebenso allgemein gilt, als das Moralgesetz selbst, wir doch nicht einmal sagen können, wir seyen verbunden diese Sätze anzunehmen, weil Verbindlichkeit nur vom Praktischen gilt“. 52 Ebd., 55. 51

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tionale Ethik weist nach Fichte auf eine rein vernunftbegründete Verbindlichkeit hin, die vom vernünftigen Wesen benötigt wird; die eudämonistische Ethik weist zusätzlich auf eine sinnlichkeitsbegründete Verbindlichkeit hin, die die Glückseligkeit vorrangig werden lässt und von einem Gott und einer Religion Gebrauch macht, um ihre Wirksamkeit zu sichern. Denn das menschliche Streben nach Glückseligkeit ist auf Gottes Planung begründet, so dass der Mensch, der sich sinnlich nach dem Glück orientiert, zugleich das theo-teleologische System der Schöpfung verfolgt. Der Mensch aber, als Abbild Gottes, ist zugleich auch mit Vernünftigkeit begabt und somit Urheber eines Vernunftgesetzes, und ist infolgedessen an den Imperativ einer rationalen Ethik gebunden. Ich hoffe schließlich, mit meinen Überlegungen gezeigt zu haben, dass die Darstellungen Fichtes in der Offenbarungsschrift viel näher an die vorkantische Philosophie gerückt werden können. In diesem Aufsatz wird die von Johann Gottlieb Fichte im Versuch einer Critik aller Offenbarung (1792/93) vorgeschlagene Verbindung zwischen Religion und Moralphilosophie erläutert. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Bedeutung moralischer Verbindlichkeit in der Offenbarungsschrift analysiert: Sowohl der rein vernünftige Aspekt als auch der sinnlich-eudämonistische Aspekt des Begriffs von moralischer Verbindlichkeit werden erhellt. In diesem Zusammenhang wird die These verteidigt, dass die Bedeutung des Begriffs von der moralischen Verbindlichkeit in Fichtes Offenbarungsschrift nur in Bezug auf seine naturphilosophischen Vorstellungen und im Rahmen der von ihm vorgeschlagenen theo-teleologischen Erklärungen der Sinnenwelt verstanden werden kann. In this paper, I analyse the relation between religion and moral philosophy in Johann Gottlieb Fichte!s Attempt at a Critique of All Revelation (1792/93). In order to do this, I deal with the concept of moral obligation. In doing so, I will shed light on both the pure rational and the sensible, eudemonistic aspects of moral obligation. I will argue that the importance of moral obligation in Fichte!s Attempt at a Critique of All Revelation can be properly understood only in the context of his theo-teleological explanation of the sensuous world. Dr. Antonino Falduto, Department of Philosophy, University of St Andrews, Edgecliffe, The Scores, KY16 9AR St. Andrews, Großbritannien / Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Emil-Abderhalden-Str. 26/27, 06108 Halle, E-Mail: [email protected]

Martin Brecher Ein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr? Das kantische Vernunftrecht und die ,eheliche Pflicht"

In den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre argumentiert Kant dafür, dass die monogame und lebenslange Ehe die einzige von der reinen praktischen Vernunft lizenzierte Form sexueller Beziehungen ist. Allein die Ehe besetzt im Spektrum möglicher Geschlechtsgemeinschaften die Stelle der „Geschlechtsgemeinschaft […] nach dem Gesetz“:1 „[W]enn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen, so müssen sie sich nothwendig verehlichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft nothwendig“.2 Kant konzipiert die Ehe dabei nicht als ein gewöhnliches Vertragsverhältnis, sondern als ein wechselseitiges Besitzverhältnis der Ehegatten: Die kantische Ehe ist „die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“.3 Beim Eheschluss wird „die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben“ und umgekehrt.4 Nur im Rahmen dieses wechselseitigen Personenbesitzes „auf dingliche Art“ ist Geschlechtsverkehr moralisch erlaubt.5 In der Literatur wird Kants Eherecht vielfach so gedeutet, dass es den Partnern nicht nur die moralische Möglichkeit gebe, miteinander zu schlafen, sondern darüber hinaus auch einen rechtlichen Anspruch auf Sex begründe.6 Der regelmäßige Geschlechtsverkehr gehöre zu den „Vertragspflichten“ der kantischen Ehepartner7 und sei entsprechend „morally required“.8 Kants Konzeption der wechselseiRL, AA 06: 277. Ebd., 278. 3 Ebd., 277; Hvhg. M.B. 4 Ebd., 278. 5 Ebd., 278, 359 f. 6 Vgl. Hariolf Oberer, Nachwort, in: Adam Horn, Immanuel Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung. Eine Rechtfertigung seines Eherechts, Nachdruck der Ausgabe Düsseldorf 1936, hg. von Martin Kleinschnieder, Würzburg 1991, 67 – 74, hier 73. 7 Thomas Heinrichs, Die Ehe als Ort gleichberechtigter Lust. Ein neuer Ansatz zur Beurteilung des Kantschen Ehekonzepts, in: Kant-Studien 86/1 (1995), 41–53, hier 48. 1 2

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tigen Erwerbung beim Eheschluss wird dabei oft so verstanden, dass die Partner einander ein Zugriffs- oder Verfügungsrecht über ihren Körper einräumen würden.9 Rechte aber sind Kant zufolge „Vermögen Andere zu verpflichten“10 und enthalten die „Befugniß zu zwingen“:11 Wer ein Recht gegen jemand anderen hat, der kann die Erfüllung der diesem Recht korrespondierenden Verpflichtung notfalls mit Gewalt durchsetzen.12 Sollten die Ehepartner ein Recht am bzw. auf den Körper des anderen haben, so würde das nicht nur bedeuten, dass sie einander ihre Körper nicht vorenthalten dürften, ohne das Recht des anderen zu verletzen;13 es würde vielmehr auch bedeuten, dass die Ehepartner das Recht hätten, vom Körper des anderen auch gegen dessen Willen Gebrauch zu machen. Erzwungener Geschlechtsverkehr wäre dann keine Rechtsverletzung, sondern rechtmäßig.14 Da Kant das Herrschaftsrecht des Ehemannes in der Ehe- und Hausgemeinschaft affirmiert,15 wird von manchen Autoren schließlich die These vertreten, Kants Ehekonzeption laufe auf ein Verfügungsrecht des Mannes über die Frau und ihren Körper hinaus.16 Brook J. Sadler, Marriage: A Matter of Right or of Virtue? Kant and the Contemporary Debate, in: Journal of Social Philosophy 44/3 (2013), 213 – 232, hier 220. 9 So Thomas Mertens, Sexual Desire and the Importance of Marriage in Kant!s Philosophy of Law, in: Ratio Juris 27/3 (2014), 330 – 343, hier 338 f.; Alan Soble, The Philosophy of Sex and Love. An Introduction, St. Paul 1998, 54; Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700 – 1914, Köln, Weimar, Wien 2003, 228 Anm. 960. 10 RL, AA 06: 237. 11 Ebd., 231. 12 Ebd., 231 f. 13 So Horn, Eheauffassung (wie Anm. 6), 21. 14 So Mertens, Sexual Desire (wie Anm. 9), 338 f.; Soble, Sex and Love (wie Anm. 9), 54; Norbert Campagna, Die rechtliche Regulierung der Prostitution bei Kant und Fichte: Ein Vergleich, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 325 – 350, hier 342 Anm. 70, sowie bereits Tiedemann in seiner Rezension der zweiten Auflage der Rechtslehre: „Seiner Theorie gemäß muß der Verf. behaupten, daß jeder Theil in der Ehe befugt ist, den andern zur Leistung der ehelichen Pflicht zu zwingen, so oft es ihm gelüstet, diese Leistung zu verlangen; und daß es zu jeder einzelnen Leistung gar keine Einwilligung des andern bedarf, ja daß dieser gar nicht befugt ist, je eine abschlägige Antwort zu ertheilen“. Dietrich Tiedemann, [Rez. von] Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, von Immanuel Kant. Zweyte mit einem Anhange erläuternder Bemerkungen und Zusätze vermehrte Auflage, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 49/1 (1800), 93 – 99, hier 96. 15 RL, AA 06: 279. 16 So Carole Pateman, The Sexual Contract, Cambridge 1988, 168; Heidemarie Bennent-Vahle, Die Differenz ist ausgeschlossen. Aktuelle Überlegungen zur Geschlechteranthropologie Kants, in: Ursula Konnertz (Hg.), Grenzen der Moral, Tübingen 1991, 31 – 59, hier 34; Kory Schaff, Kant, Political Liberalism, and the Ethics of Same-Sex Relations, in: Journal of Social Philosophy 32/3 (2001), 446 – 462, hier 450. Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung Allen W. Wood, Kantian Ethics, Cambridge 2008, 237 und Mertens, Sexual Desire (wie Anm. 9), 338 f. – Andere Interpreten sehen demgegenüber eine Gleichheit zwischen Mann und Frau in diesem Punkt: Heinrichs, Die Ehe (wie 8

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Im Naturrecht der deutschen Aufklärung ist die Ansicht weitverbreitet, dass Ehepartner einander zum Geschlechtsverkehr verbunden seien und die Erfüllung dieser Pflicht erzwingen könnten: So argumentiert Wolff dafür, dass Ehepartner aufgrund der Zweckausrichtung der Sexualität auf die Fortpflanzung eine Pflicht zum „Gebrauch ihres Leibes zu Erzeugung der Kinder“ haben und einander „das Recht zu diesem Gebrauch auf ihren Leib ein[räumen]“.17 In der wechselseitigen Verbindlichkeit zum Geschlechtsverkehr besteht spezifisch „die eheliche Pflicht (debitum conjugale)“, deren Versagung nach Wolff einen Scheidungsgrund darstellt.18 Georg Friedrich Meier argumentiert ausgehend von der These, dass nicht die Fortpflanzung, sondern die „Befriedigung [des] natürlichen Triebes zum Beyschlafe“ der wesentliche Zweck der Ehe sei, dafür, dass die Ehegatten einander rechtlich („äusserlich“) „zum Beyschlaf verbunden“ seien. Entsprechend haben die Ehepartner Meier zufolge „das Recht, von dem andern den Beyschlaf zu erwarten, so ofte er möglich ist“, und sind „berechtigt, proportionierte Zwangsmittel zu brauchen, im Falle der andere nicht freywillig diese eheliche Pflicht erfüllen will“.19 Schließlich sehen auch Theorien, die ohne eine wesentliche Zweckbestimmung der naturrechtlichen Ehe operieren, wechselseitige „Zwangsrechte“ zur Erfüllung bestimmter Leistungen vor, welche von den Ehepartnern „durch den Vertrag festgesetzt werden“.20 Anm. 7), 48 f.; Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe (wie Anm. 9), 636; Ursula Pia Jauch, Friedrichs Tafelrunde & Kants Tischgesellschaft. Ein Versuch über Preußen zwischen Eros, Philosophie und Propaganda, Berlin 2014, 277. 17 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 19, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim, New York 1980 (Halle 1754), § 858; Hvhg. getilgt; vgl. ebd., §§ 854 – 856. 18 Ebd., § 871. – Eine solche Begründung der ehelichen Pflicht wird bspw. auch im Zedler artikuliert. Siehe den Artikel Ehestand, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Halle, Leipzig 1732 – 1750, Bd. 8, 360 – 401, hier 369. Für ein Beispiel im jüngeren Naturrecht vgl. Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, Frankfurt am Main, Leipzig 1792, §§ 152, 158. Auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 statuiert eine Pflicht zum Geschlechtsverkehr: „Eheleute dürfen einander die eheliche Pflicht anhaltend nicht versagen“ (II 1, § 178), sofern keine gesundheitlichen Gründe gegen die Erfüllung sprechen (§ 179) oder die Ehefrau ein Kind stillt (§ 180). Die Versagung der ehelichen Pflicht stellt wie auch das Unvermögen zum Geschlechtsverkehr einen Scheidungsgrund dar (II 1, §§ 694 – 697). Vgl. Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe (wie Anm. 9), 648 – 651. 19 Georg Friedrich Meier, Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen. Anderer Theil: Lehre von den natürlichen ehelichen Rechten und Pflichten der Menschen, Halle 1773, § 57. Entgegenstehende Gründe sind Meier zufolge Krankheiten, Unvermögen usw., vgl. ebd., §§ 58 – 60. Siehe zur Identifikation von naturrechtlichen und äußerlichen Pflichten Georg Friedrich Meier, Recht der Natur, Halle 1767, § 1. 20 Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts, Jena 1790, § 303 Anm. 1.

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Eine explizite Aussage, ob Kants Eherecht eine Pflicht bzw. ein Zwangsrecht zum Geschlechtsverkehr impliziert, findet sich in der Rechtslehre nicht. Allerdings sagt Kant dort, dass der Ehevertrag „nur durch eheliche Beiwohnung (copula carnalis) vollzogen“ werde und umgekehrt z. B. eine geheime Absprache beim Eheschluss, nicht miteinander schlafen zu wollen, zur Ungültigkeit des Ehevertrags führe.21 In den Vorarbeiten zum Anhang der Rechtslehre ist die Rede davon, dass in der Ehe „ein Theil […] von dem anderen fleischliche Beywohnung fordern“ könne.22 In der Tugendlehre wirft Kant die Frage auf, ob es ein Erlaubnisgesetz gebe, dass Sex auch dann gestatten würde, wenn die Partnerin „keinen Anreiz dazu bei sich findet“,23 während es in der Anthropologie heißt, dass ein Ehemann seiner Frau keine „billigen Ansprüche“ schuldig bleiben dürfe.24 Und schließlich ist in der Metaphysik der Sitten Vigilantius die Rede davon, dass „der Geschlechtstrieb“ nicht nur „Neigung der Menschen“ ist, sondern „auch unter dem Namen der Liebe Pflicht werden kann“.25 Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass ein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr kein wesentlicher Teil des kantischen Eherechts ist. Das kantische Vernunftrecht sieht – anders als Bertolt Brecht dies in Verse fasst – nicht vor, im Fall der Beischlafsverweigerung gegen den „säumig[en]“ Partner den „Gerichtsvollzieher“ einzuschalten, um die „hinterzogen[en]“ „Organe in Beschlag zu nehmen“.26 In Abschnitt I werde ich zeigen, dass der rechtliche Besitz des Ehepartners ,gleich als Sache" lediglich ein (negatives) Ausschlussrecht ist, dass die spezifische Funktion hat, die Ehepartner exklusiv aneinander zu binden. Die Exklusivität der Beziehung ist für Kant eine wesentliche Voraussetzung dafür, die besondere moralische Problematik des sexuellen Handelns zu entschärfen. Das eheliche Besitzrecht gibt den Partnern jedoch weder die Befugnis, den Körper des anderen nach Belieben zu gebrauchen, noch begründet es Ansprüche auf Leistungen. In Abschnitt II werde ich dafür argumentieren, dass der Gebrauch, den die Partner innerhalb der Beziehung voneinander machen, in den Bereich der persönlich-rechtlichen Komponente der Ehe fällt und die Partner in diesem Rahmen Kant zufolge die Möglichkeit haben, einander einen Anspruch auf GeschlechtsRL, AA 06: 279. Auf diese Stelle stützen sich Horn, Eheauffassung (wie Anm. 6), 21 und Sadler, Marriage (wie Anm. 8), 220. 22 VARL, AA 20: 464; vgl. auch ebd., 458. 23 TL, AA 06: 426. Auf diese Stelle berufen sich Alan Soble, Kant and Sexual Perversion, in: The Monist 86/1 (2003), 55 – 89, hier 68 und Mertens, Sexual Desire (wie Anm. 9), 338 f. 24 Anth, AA 07: 309. Auf diese Stelle rekurriert Heinrichs, Die Ehe (wie Anm. 7), 48. 25 V-MS/Vigil, AA 27: 638. 26 Bertolt Brecht, Über Kants Definition der Ehe in der ,Metaphysik der Sitten", in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts, hg. von Werner Hecht u. a., Bd. 11: Gedichte 1: Sammlungen 1918 – 1938, bearb. von Jan Knopf und Gabriele Knopf, Berlin, Weimar 1988, 270. 21

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verkehr einzuräumen. Ein solcher Anspruch ist jedoch nicht notwendigerweise Bestandteil des kantischen Ehevertrags und die besondere Problematik der Sexualität setzt der Durchsetzbarkeit eines solchen Anspruchs zudem sehr enge Grenzen. In Abschnitt III werde ich der verbreiteten Behauptung entgegentreten, dass Kant in einer kasuistischen Frage zu § 7 der Tugendlehre von einer Zwangsbefugnis zum Geschlechtsverkehr ausgeht. In Abschnitt IV mache ich schließlich den Vorschlag, dass die ethische Liebespflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit auch die Forderung enthält, dass Ehepartner wechselseitig ihre sexuellen Bedürfnisse berücksichtigen. Nur in Gestalt dieser weiten, nicht erzwingbaren und durch viele Faktoren eingeschränkten ethischen Verpflichtung lässt sich bei Kant davon sprechen, dass Ehepartner einander zur Leistung der ,ehelichen Pflicht" verbunden sind.

I. Das eheliche Besitzrecht als körperliches Zugriffsrecht? Für Kant hängen rechtliche Struktur und Gültigkeit der Ehe nicht von materialen Zwecken ab. Unmittelbar im Anschluss an seine Definition der Ehe als „wechselseitigen Besitz [der] Geschlechtseigenschaften“ grenzt Kant seine Konzeption auf der einen Seite ab von der in der naturrechtlichen Tradition vorherrschenden Charakterisierung der Ehe als Fortpflanzungsgemeinschaft und weist auf der anderen Seite ebenso ihre Bestimmung aus der „Voraussetzung der Lust zum wechselseitigen Gebrauch [der] Geschlechtseigenschaften“ zurück.27 Anders als etwa bei Wolff und Meier sind dem Eherecht bei Kant keine materialen Zwecke eingeschrieben, deren Verfolgung für die Ehepartner verpflichtend wäre und somit eine Verbindlichkeit zum Geschlechtsverkehr begründen würde. Die Ehe ist für Kant kein gewöhnliches Vertragsverhältnis, sondern wird von ihm – ebenso wie das Elternrecht und das Hausherrenrecht – als ein „auf dingliche Art persönliche[s] Recht“ konzipiert.28 Diesen Rechtstyp gewinnt Kant aus einer „Verbindung“ der beiden traditionellen Rechtsformen des Sachen- bzw. dinglichen Rechts und des persönlichen Rechts:29 „Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person“.30 Im Unterschied zu gewöhnlichen Vertragsverhältnissen, die in Form persönlicher Rechte bestehen, kommt hier ein Besitzrecht „auf dingliche Art“ an der anderen Person hinzu. 27 28 29 30

RL, AA 06: 277 f. Ebd., 276. Ebd., 358. RL, AA 06: 276.

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Ein persönliches Recht ist Kant zufolge ein Recht „gegen eine bestimmte physische Person, und zwar auf ihre Causalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten“.31 Persönliche Rechte sind Leistungsansprüche bestimmten Personen gegenüber. Ein dingliches Recht ist demgegenüber „ein Recht des Privatgebrauchs“ eines Gegenstandes,32 einer körperlichen Sache im Fall des Sachenrechts oder einer Person im Falle des auf dingliche Art persönlichen Rechts. Im Unterschied zu persönlichen Rechten richten sich dingliche Rechte nicht gegen bestimmte einzelne Personen, sondern gegen alle anderen Akteure. Im Fall des Sachenrechts formuliert Kant dies so, dass es sich „gegen diejenige moralische Person“ richtet, „welche nichts anders als die Idee der a priori vereinigten Willkür aller ist“.33 Dem dinglichen Recht, das ich an meinem Fahrrad habe, korrespondiert auf der Seite aller anderen Akteure die Verbindlichkeit, mich nicht „in dessen Gebrauch […] zu stören“;34 das bedeutet, sie müssen sich des Gebrauchs meines Fahrrads enthalten.35 In der kleinen Schrift Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks charakterisiert Kant den spezifischen Unterschied der beiden Rechtstypen dahingehend, dass ein dingliches Recht ein „verneinende[s] Recht“ ist (nämlich „jedermann zu widerstehen, der mich im beliebigen Gebrauch derselben hindern wollte“), während ein persönliches Recht ein „bejahendes Recht“ ist (gegenüber einer bestimmten Person, „daß sie etwas leisten oder mir worin zu Diensten sein solle“).36 Das Recht an einer Person auf dingliche Art begründet entsprechend ein ausschließliches Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Person, auf die sich das Recht bezieht. Das eheliche Besitzrecht hat die Funktion, die Ehepartner exklusiv aneinander zu binden. Diese Bindung zeichnet die Ehe aus und ist entscheidend dafür, dass Sex innerhalb der Ehe moralisch zulässig ist. Im Hintergrund steht Kants Auffassung, dass der menschlichen Sexualität eine Verdinglichungsproblematik eignet: Sex ist Kant zufolge eine besondere Art von Gebrauch, den Akteure voneinander machen: Beim Sex zielt man Kant zufolge von Natur aus darauf ab, den anderen „gleich als Sache zu genießen, d.i. unmittelbares Vergnügen an der bloß thierischen Gemeinschaft mit demselben zu empfinden“.37 Das Verlangen nach sinnlicher Befriedigung zeichnet den Geschlechtsgebrauch wesentlich und natürlicherweise aus: „[D]er natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuß“.38 Nun kann man 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., 274. Ebd., 261. Ebd., 274. Ebd., 249. Ebd., 261. VUB, AA 08: 83. RL, AA 06: 359. Ebd., 278.

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Kant zufolge aufgrund der „unzertrennlichen Einheit der Glieder an einer Person“39 keinen Teil seines Körpers von jemand anderem gebrauchen lassen, ohne damit zugleich sich selbst als ganze Person gebrauchen zu lassen. Gibt man sich einer anderen Person einfach so zum sexuellen Genuss hin, macht man sich Kant zufolge „zur Sache“, d. h. zu einem bloßen Mittel für die Lustbefriedigung des anderen, und verletzt damit die Menschheit in der eigenen Person.40 Die Ehe als „wechselseitige Dahingebung seiner Person selbst in den Besitz der anderen“ ist Kant zufolge die Voraussetzung dafür, „um durch körperlichen Gebrauch, den ein Theil vom anderen macht, sich nicht zu entmenschen“.41 Nur im Rahmen einer exklusiven und dauerhaften Bindung können sich die Sexualpartner einander zum Genuss „hingeben, ohne daß beide Theile ihre Persönlichkeit aufgeben“.42 Die feste und rechtlich garantierte Bindung ist Voraussetzung dafür, dass die Partner keine bloßen Lustobjekte füreinander sind, die sich nach dem Gebrauch beliebig entsorgen ließen, „so wie man eine Zitrone wegwirft, wenn man den Safft aus ihr gezogen hat“.43 Wäre die Ehe eine bloß persönlich-rechtliche Verbindung, d. h. lediglich eine vertragliche Übereinkunft, die den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsvermögen regelte, so würde ihr Kant zufolge die Exklusivität fehlen. Ein persönliches Recht auf Geschlechtsverkehr würde im kantischen Theorierahmen lediglich ein bejahendes Recht sein, dass der andere mir mit seinem Körper – und, aufgrund der personalen Einheit, mit seiner ganzen Person – „zu Diensten“ ist.44 Ein solches bejahendes Recht schließt aber nicht aus, dass mein Sexualpartner ebenso anderen Personen sexuell „zu Diensten“ ist: Wäre „das [R]echt auf die Geschlechtseigenschaften des andern“ bloß ein „ius personale ad operam praestandam“, so könnten, „wenn mir alle opera geleistet werden, diese einem andern auch […] geleistet werden“.45 Ist die Bedingung der Exklusivität der Beziehung nicht erfüllt – etwa bei „einseitiger freyheit“ oder „theilnehmung anderer“46 –, so bedeutet das für Kant, dass ich mich dem anderen als bloßes Mittel zu seinem Genuss überlasse und mich damit zur Sache mache. Nur durch ein dingliches Recht an den Geschlechtseigenschaften der anderen Person, durch ihren Besitz „als eine[] SaEbd., 279; vgl. ebd., 278: eine Person ist „eine absolute Einheit“. Ebd., 278. 41 Ebd., 359; vgl. ebd., 278. 42 Ebd., 359. 43 V-Mo/Kaehler(Stark), 239. Im Anhang der Rechtslehre spricht Kant entsprechend davon, dass Sex außerhalb der Ehe „dem Grundsatz […] nach“ mit dem Gebrauch einer „verbrauchbare[n] Sache (res fungibilis)“ gleichzusetzen sei, vgl. RL, AA 06: 359 f. 44 VUB, AA 08: 83. 45 Refl. 7584, AA 19: 462. 46 Refl. 7863, AA 19: 539. 39 40

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che“47 kann der Sex mit Dritten rechtlich ausgeschlossen und damit, so Kants Idee, die Verdinglichungsgefahr entschärft werden.48 Ein dingliches Besitzrecht an einem Gegenstand gibt mir die Befugnis, „auf die Inhabung [des] Gegenstandes zu dringen, der meiner Gewalt entwischt oder entrissen ist“.49 Das eheliche Besitzrecht erlaubt den Partnern, die Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft auch faktisch sicherzustellen: „[W]enn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Anderen Besitz gegeben hat“, so ist der andere dazu berechtigt, „es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen“.50 In diesem Sinne erlaubt das eheliche Besitzrecht den Ehepartnern, miteinander „als Sachen zu verfahren“,51 um sexuelle Interaktionen zwischen dem Partner und anderen Personen zu unterbinden.52 Nur durch die rechtliche Möglichkeit, die Ausschließlichkeit der Beziehung auch faktisch durchzusetzen, kann die Verdinglichungsgefahr abgewendet werden. Entsprechend liegt der Grund des ehelichen Besitzrechts und der in ihm enthaltenen Ausschlussbefugnis in der „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d.i. gegen die Menschheit in seiner eigenen Person“.53 Das eheliche Besitzrecht hat seiner normativen Grundlage gemäß lediglich eine negative Funktion und diese besteht zudem nur im Hinblick auf das Verhältnis des Ehepartners zu Dritten. Das eheliche Besitzrecht gibt den Partnern keine Befugnis, sich des Körpers des anderen zum Geschlechtsgebrauch gegen dessen Willen zu bedienen. Die besitzrechtliche Komponente der kantischen Ehe impliziert als solche somit kein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr in Form eines körperlichen Zugriffsrechts.54 Ebenso wenig impliziert das negative AusschlussRL, AA 06: 276. Kants Vorstellung der Verdinglichungsproblematik und seine Konzeption der vernunftrechtlichen Ehe sind im Detail Gegenstand meiner in Vorbereitung befindlichen Dissertation Würde der Menschheit und Zweck der Natur. Eine Rekonstruktion von Kants Eherecht und Sexualethik. 49 RL, AA 06: 359. 50 Ebd., 278. 51 Ebd., 358. 52 Vgl. VARL, AA 23: 298. 53 RL, AA 06: 280; vgl. ebd., 276. 54 Soble deutet die besitzrechtliche Ehe als eine Verschmelzung der Ehepartner zu einer personalen Einheit, aufgrund derer gar kein Gebrauch der einen Person durch die andere mehr vorliege, zugleich aber auch die Möglichkeit gegeben sei, beliebig auf den Körper des anderen zuzugreifen, ohne damit eine Rechtsverletzung zu begehen: „For this reason, Kantian union […] seems to make rape in marriage – a kind of use, a violation of the principle of respect – logically impossible“; Soble, Sex and Love (wie Anm. 9), 54. – Auf der Basis einer solchen Verschmelzungsinterpretation der kantischen Ehe argumentiert Beever dafür, dass es in Kants Eherecht kein erzwingbares Recht auf Sex geben könne, da es keine andere Person mehr gäbe, gegenüber der man seinen Anspruch rechtlich durchsetzen könnte, vgl. Allan Beever, Kant on the Law of Marriage, in: Kantian Review 18/3 (2013), 339 – 362, hier 354. – Kant konzipiert die Ehe jedoch als ein Rechtsverhältnis zwischen individuellen Personen: In der Ehe besitzt ein Partner den anderen und umgekehrt; auch in 47 48

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recht eine positive Pflicht des anderen, mir zu Diensten zu sein. In der kleinen Schrift über den Büchernachdruck stellt Kant das in Bezug auf Sacheigentum heraus: „ein bejahendes Recht auf eine Person, von ihr zu fordern, daß sie etwas leisten oder mir worin zu Diensten sein solle, kann aus dem bloßen Eigenthum keiner Sache fließen“.55 Aufgrund der rechtsstrukturellen Parallelen zwischen dem Sachenrecht und dem auf dingliche Art persönlichen Recht trifft dieser Punkt ebenso auf das dingliche Personenbesitzrecht zu: Das eheliche Besitzrecht begründet also auch keinen persönlich-rechtlichen Anspruch auf Leistung der ,ehelichen Pflicht". Die diesem Recht auf Seiten des Ehepartners korrespondierende Verbindlichkeit ist die Pflicht zur ehelichen Treue.56

II. Die Grenzen des Personengebrauchs und die Möglichkeit eines persönlich-rechtlichen Anspruchs auf Sex Die besitzrechtliche Komponente des auf dingliche Art persönlichen Rechts hat die spezifische Funktion, die Exklusivität der Beziehung sicherzustellen, und enthält in diesem Sinne eine Ausschlussbefugnis in Bezug auf Dritte, aber kein Zwangsrecht auf den Geschlechtsgebrauch. Man könnte jedoch die Frage aufwerfen, ob das eheliche Besitzrecht nicht über diesen moralisch notwendigen Nukleus hinaus die Befugnis enthalte, über den Körper des anderen zu bestimmen: Das eheliche Besitzrecht entspringe zwar allein aus der moralischen Notwendigkeit der Ausschließlichkeit der Beziehung heraus, umfasse dann aber in seiner Gestalt als Besitzrecht an der Person des anderen auch ein Verfügungsrecht über den Körper. Als textlichen Anknüpfungspunkt hierfür könnte man Kants Behauptung ansehen, der zufolge es sich beim auf dingliche Art persönlichen Recht um ein Recht „des Nießbrauchs (ius utendi fruendi)“ handle, „unmittelbar von dieser Person gleich als von einer Sache […] als Mittel zu meinem Zweck Gebrauch zu machen“:57 Wie bei einer Sache, die einem zum Nießbrauch überlassen ist, so die Überlegung, könne der Besitzer einer Person diese nach seinem Willen gebrauchen.58 der Ehe ist der Geschlechtsverkehr ein Gebrauch, den eine Person vom Körper der anderen macht, usw. Die kantischen Ehepartner haben gegeneinander Rechte wie Pflichten und können einander entsprechend auch lädieren. 55 VUB, AA 08: 83. 56 Die eheliche Treue ist die „Urpflicht“ der Ehepartner, vgl. V-MS/Vigil, AA 27: 640; vgl. VMo/Kaehler(Stark), 247. 57 RL, AA 06: 359. 58 Auf diese Überlegung stützt beispielsweise Tiedemann seine eingangs zitierte Kritik: Tiedemann, Rechtslehre (wie Anm. 14), 96.

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Genau besehen hat Kants Verwendung des Nießbrauchskonzepts jedoch die entgegengesetzte Stoßrichtung. Mit dem Begriff des Nießbrauchs grenzt Kant das auf dingliche Art persönliche Recht an dieser Stelle vom Eigentumsrecht an Sachen ab: „Das Seine bedeutet […] hier nicht das des Eigenthums an der Person eines anderen […], sondern nur das Seine des Nießbrauchs“.59 „Eigentum (dominium)“ ist Kant zufolge ein „Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemanden ist“; dem Eigentümer kommen „alle Rechte in dieser Sache“ zu, d. h. er kann über den Gegenstand „nach Belieben verfügen“.60 Nur Sachen sind mögliche Eigentumsgegenstände – denn Sachen gegenüber besteht keinerlei Verbindlichkeit, die ihren Gebrauch einschränken würde –, nicht jedoch Personen: Als praktische Subjekte dürfen sie nicht zum Objekt beliebigen Handelns gemacht werden. Ihre Persönlichkeit schließt eine beliebige Disposition über sie aus, sowohl von Seiten anderer als auch von Seiten der Person selbst: „[E]in Mensch [kann] sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigenthümer von sich selbst (sui dominus) (über sich nach Belieben disponiren zu können), geschweige denn von anderen Menschen sein […], weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist.“61 Darauf rekurriert Kant im Anhang der Rechtslehre bei der Abgrenzung des auf dingliche Art persönlichen Rechts vom Eigentum: „Eigenthümer kann ein Mensch nicht einmal von sich selbst, viel weniger von einer anderen Person sein“.62 Der Nießbrauch einer Person ist daher an die Bedingung gebunden, „ohne Abbruch an ihrer Persönlichkeit“ zu erfolgen.63 Der Nießbrauch von Sachen ist – im Unterschied zum beliebigen Gebrauch, den man von seinem Eigentum machen kann – dahingehend restringiert, dass ihnen durch den Gebrauch „an ihrem Wesen nichts abgehe, sondern sie unvermindert bleiben“.64 Die Bedingung des Persönlichkeitserhalts stellt die Übertragung dieses Nießbrauchsmerkmals auf den Fall des Personengebrauchs dar. Kant betont immer wieder, dass das auf dingliche Art persönliche Recht zwar ein dingliches Besitzrecht enthält, der Gebrauch jedoch, den man von der anderen Person macht, nur ein Gebrauch von ihr „als einer Person“ ist.65 Der Besitz einer Person auf dingliche Art betrifft nur die äußere Form des Verhältnisses; der Materie nach – d. h. was den Gebrauch bzw. die zu erbrinRL, AA 06: 359; Hvhg. M.B. Ebd., 270. 61 Ebd. 62 Ebd., 359. 63 Ebd. 64 Art. „Nießbrauch“ in: Universal-Lexicon (wie Anm. 18), Bd. 24, 853 – 861, hier 854. Vgl. auch den Art. „Nießbrauch“ in: Johann Georg Krünitz (Begr.), Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft, 242 Bde., Berlin 1773 – 1858, Bd. 102 (1806), 593 – 606, hier 593 f. 65 RL, AA 06: 276. 59 60

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gende Leistung betrifft – ist das Verhältnis der Personen „auf die Bedingungen des persönlichen Rechts (der Verpflichtung) eingeschränkt“.66 Sollte es im Rahmen des kantischen Eherechts eine Pflicht zum Geschlechtsverkehr geben, kann dieser Pflicht nur ein persönliches Recht korrespondieren. Da Kant in den Vorarbeiten zum Anhang der Rechtslehre schreibt, dass die Ehepartner voneinander die „fleischliche Beywohnung fordern“ können,67 erachtet er entsprechende persönlich-rechtliche Ansprüche als legitim und rechtlich möglich. Für die Vermutung, dass ein Anspruch auf Leistung der ehelichen Pflicht nicht nur möglicher, sondern notwendiger Bestandteil der Ehe sei, scheint auf den ersten Blick zu sprechen, dass der Ehevertrag Kant zufolge „nur durch eheliche Beiwohnung (copula carnalis) vollzogen“ wird und eine Ehe ohne Vollzug nicht rechtsgültig ist: Ein Vertrag zweier Personen beiderlei Geschlechts mit dem geheimen Einverständniß entweder sich der fleischlichen Gemeinschaft zu enthalten, oder mit dem Bewußtsein eines oder beider Theile, dazu unvermögend zu sein, ist ein simulirter Vertrag und stiftet keine Ehe; kann auch durch jeden von beiden nach Belieben aufgelöset werden.68

Die Vollzugsbedingung besagt jedoch nicht, dass die Partner im Rahmen ihrer Ehe die Pflicht hätten, miteinander zu schlafen (und die Ehe andernfalls gar auflösen könnten). Kant geht es vielmehr um die Gründung der Ehe und zwar spezifisch um die Stiftung des wechselseitigen Besitzverhältnisses der Ehepartner. Kants Punkt besteht darin, dass die Ehepartner „durch den bloßen ehelichen Vertrag ohne nachfolgende Beiwohnung“ keine Besitzrechte aneinander erwerben: Der wechselseitige Besitz erhält „nur durch den gleichfalls wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenthümlichkeiten seine Wirklichkeit“.69 Die Vollzugsbedingung ist kein Hinweis darauf, dass die ,eheliche Pflicht" notwendiger Bestandteil der Ehe ist, sondern stellt im Gegenteil noch einmal heraus, dass die besitzrechtliche Komponente den Kern der Ehe bildet. Der wechselseitige Besitz der Ehepartner ist Wesensmerkmal der Ehe. Er ist Voraussetzung dafür, dass sich die Partner beim Geschlechtsverkehr nicht zur Sache machen. Wo dieser Besitz nicht vorliegt, besteht keine Ehe. Im Unterschied dazu scheint ein persönliches Recht auf Geschlechtsverkehr zwar ein möglicher, aber nicht notwendiger Bestandteil des Ehevertrags zu sein. In der Rechtslehre spricht Kant dann bezeichnenderweise davon, dass „die Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum Genuß des andern […] unter der Bedingung der Ehe zulässig“ ist.70 Die Ehe ist die (ceteris paribus) hinreichende Bedingung für legi66 67 68 69 70

VARL, AA 20: 457; vgl. RL, AA 06: 283, 360; ebenso VARL, AA 20: 458 f. Ebd., 464; vgl. auch ebd., 458. RL, AA 06: 279. Ebd., 280. Ebd., 278; Hvhg. M.B.

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timen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, nicht jedoch für jedweden Geschlechtsgebrauch. Durch die exklusive eheliche Bindung sind die Ehepartner keine beliebigen Lustobjekte mehr neben anderen; aber die Bindung schließt nicht aus, dass ihr Umgang miteinander innerhalb der Beziehung in bestimmten Fällen ihrer Persönlichkeit widerstreitet. Aufgrund der besonderen Problematik, die der menschlichen Sexualität in Kants Augen zukommt, ist die Vermutung naheliegend, dass der Umgang der Ehepartner miteinander besonderen Anforderungen genügen muss und Forderungen nach Leistung der ,ehelichen Pflicht" nur sehr eingeschränkt durchgesetzt werden könnten. In einer Notiz in seinem Handexemplar von Achenwalls Naturrechts-Lehrbuch weist Kant darauf hin, dass der wechselseitige Gebrauch „der Gesundheit und Gemächlichkeit des andern“ nicht widerstreiten dürfe, „worüber der andere theil nur urtheilen kann“.71 Das beinhaltet bereits, dass die Partner sich aus eigener Entscheidung einander entziehen und Begehrlichkeiten des anderen abwehren können. Rechtsverhältnisse, in denen man einem anderen die beliebige Verfügung über seine eigene Person einräumt, hält Kant generell für unzulässig und ungültig, wie er im Hinblick auf das Verhältnis von Hausherr und Dienerschaft immer wieder betont: [Man] kan die personlichkeit nicht verlieren und ein Hausthier werden, welches blos durch den Willen des Eigenthümers bestimmt wird. Ein pactum, worin einer sich versprechen läßt, was dem andern beliebig seyn wird, ist null und nichtig. Eben so, wo der Herr sich so viel Dienste versprechen läßt, als ihm selbst zu fodern gefallen wird.72

Ebenso kann auch der Ehevertrag nicht so beschaffen sein, dass die Partner einander nach Belieben gebrauchen können; die Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung eines Anspruchs auf Geschlechtsverkehr zur einseitigen Lustbefriedigung erscheint vor diesem Hintergrund schwer legitimierbar zu sein. Die von Kant behauptete Möglichkeit von Ansprüchen auf Leistung der ehelichen Pflicht steht in einer gewissen Spannung zu seiner Auffassung von einer problematischen Beschaffenheit der menschlichen Sexualität. Die Spannung lässt sich entschärfen, wenn man auch für die Ehe annimmt, was Kant zumindest für den bloßen „pactum concubinatus“ behauptet: „daß eine streng verpflichtende Verbindung zur Erfüllung der versprochenen fleischlichen Vermischung nicht zugegeben werden kann“.73

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Refl. 7580, AA 19: 460. Refl. 7925, AA 19: 556; vgl. RL, AA 06: 283. V-MS/Vigil, AA 27: 638.

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III. Der Fall, dass die Partnerin „keinen Anreiz dazu bei sich findet“ (TL § 7, AA 06: 426) In diesem Abschnitt werde ich die im Einleitungsteil des Aufsatzes genannte Passage in § 7 der Tugendlehre erörtern, in der Kant die Frage aufwirft, ob Sex auch dann erlaubt sei, wenn die Ehefrau „keinen Anreiz dazu bei sich findet“.74 Ist diese Formulierung nur ein Euphemismus Kants dafür, dass die Partnerin keinen Sex will? Geht es in dem Beispiel also um den Fall, dass der Geschlechtsverkehr vom Ehemann erzwungen wird? Manche Interpreten vertreten diese Ansicht und sehen in diesem Beispiel einen Hinweis darauf, dass Kant ein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr annehmen würde.75 Sollte Kant hier in der Tat von der ethischen Zulässigkeit (die Frage wird im Rahmen der Tugendlehre aufgeworfen) des erzwungenen Beischlafs ausgehen, würde dies zugleich dessen rechtliche Zulässigkeit implizieren, denn für Kant kann nur das auch ethisch erlaubt sein, was rechtlich gestattet ist. Allerdings gibt es gute Gründe dafür, dass dieses Beispiel gar nichts mit Pflicht und Zwang zum Geschlechtsverkehr zu tun hat, zudem spricht einiges dafür, dass Kant den Geschlechtsverkehr in diesem Fall für ethisch unerlaubt erachtet. Um die Stelle angemessen interpretieren zu können, müssen wir den Kontext des Beispiels beachten. Im Haupttext von TL § 7 argumentiert Kant dafür, dass der „unnatürliche[]“, „zweckwidrige“ Geschlechtsgebrauch unzulässig sei, weil „der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgiebt, indem er sich blos zum Mittel der Befriedigung thierischer Triebe braucht“:76 „Der Zweck der Natur ist in der Beiwohnung der Geschlechter die Fortpflanzung, d.i. die Erhaltung der Art; jenem Zwecke darf also wenigstens nicht zuwider gehandelt werden“.77 Diese Unterlassungspflicht ist dabei eine vollkommene Pflicht.78 TL, AA 06: 426. So Mertens, Sexual Desire (wie Anm. 9), 338 f. und Soble, Kant and Sexual Perversion (wie Anm. 23), 68. – Anders bewertet die Stelle Elizabeth Brake, Justice and Virtue in Kant!s Account of Marriage, in: Kantian Review 9 (2005), 58 – 94, hier 90 Anm. 10: Sie moniert zwar, dass Kant hier „remarkably quiet on the subject of rape within marriage“ sei. Hinsichtlich eines ehelichen Zwangsrechts zum Geschlechtsverkehr hält sie die Stelle jedoch für nicht sehr belastbar: Es sei „unfair to attribute to him the absurd view that marriage right is a sufficient condition for just sex simply because he does not discuss the possibility of rights-violating married sex“. 76 TL, AA 06: 425. 77 Ebd., 426. 78 Vgl. ebd., 421. Im Haupttext von TL § 7 geht es Kant spezifisch um die Selbstbefriedigung („wohllüstige[] Selbstschändung“, ebd., 424; Hvhg. getilgt). In der Rechtslehre thematisiert Kant daneben gleichgeschlechtlichen Sex sowie Sex mit Tieren und behauptet, dass beide „unnatürliche Laster (crimina carnis contra naturam)“ seien, die „als Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person durch gar keine Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung gerettet 74

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Vor diesem Hintergrund diskutiert Kant im Abschnitt „Casuistische Fragen“ die Frage, ob es erlaubt sei, ohne auf den Fortpflanzungszweck „Rücksicht zu nehmen, sich (selbst wenn es in der Ehe geschähe) jenes Gebrauchs anzumaßen“:79 Dürfen Ehepartner auch dann miteinander schlafen, wenn die Zeugung von Nachkommen aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist? Als Beispiele dafür, wann ein solcher Geschlechtsgebrauch vorliegt, nennt Kant die „Zeit der Schwangerschaft“ sowie den Fall „der Sterilität des Weibes (Alters oder Krankheit wegen)“.80 In diese Reihe stellt Kant nun auch den Geschlechtsgebrauch, bei dem die Partnerin „keinen Anreiz dazu bei sich findet“.81 Unter „Anreitz (stimulus)“ versteht Kant allgemein eine „Triebfeder der Sinnlichkeit“.82 „Anreize“ bzw. „stimul[i]“ verbinden ein „pathologisch-bedingtes“ Lust- oder Unlustgefühl mit der Vorstellung eines Gegenstandes, genauer mit der Vorstellung der „Verknüpfung des Subjects mit der Existenz desselben“.83 Ist mit dieser Vorstellung ein sinnliches „Wohlgefallen“ verknüpft, so werden wir zum Begehren dieses Gegenstandes angereizt; dies ist der Fall der Lust am Angenehmen.84 Umgekehrt werden wir durch ein „Mißvergnügen“ zur Verabscheuung des Gegenstandes angeregt (etwa durch Ekel).85 Für die kasuistische Frage ist der Fall des fehlenden Anreizes deshalb relevant, weil Kant der Überzeugung ist, dass eine „natürliche Zeugung […] ohne Sinnenlust beider Theile nicht geschehen“ könne.86 In der Tat war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selbst bei Medizinern die Ansicht weitverbreitet, dass die Frau zur Empfängnis einen Orgasmus haben müsse.87 Wie aus der zitierten Paswerden können“ (RL, AA 06: 277). In allen Formen des ,unnatürlichen" Geschlechtsgebrauchs macht sich die handelnde Person Kant zufolge also zum bloßen Mittel tierischer Lustbefriedigung und verletzt damit ihre Würde als Vernunftwesen. 79 TL, AA 06: 426. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 VATL, AA 23: 383. 83 KU, AA 05: 209. 84 Ebd. 85 Anth, AA 07: 245; vgl. ebd., 157. 86 RGV, AA 06: 80 Anm. 87 Vgl. Robert Jütte, Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003, 110. Beispielsweise heißt es bei Albrecht von Haller, dass die Empfängnis „bey der zukünftigen Mutter mit einem Gefühl von Wollust“ einhergehen müsse und „nicht ohne eine gewisse Empfindung einer inneren Bewegungen in der Trompete, und einer bevorstehenden Ohnmacht“ eintreten könne, vgl. Albrecht von Haller, Erster Umriß der Geschäfte des körperlichen Lebens, für die Vorlesungen eingerichtet, hg. und übers. von Samuel Thomas von Sömmerring und Philipp Friedrich Theodor Meckel, Berlin 1770, 483. Das medizinische Wissen über den weiblichen Eisprung und die Voraussetzungen einer Empfängnis erfuhr erst im Laufe des 19. Jahrhunderts eine schrittweise Verbesserung; vgl. Lynn Abrams, The Making of Modern Woman. Europe 1789 – 1918, London u. a. 2002, 107.

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sage in der Religion erhellt, teilt Kant diese Sichtweise oder zumindest eine Spielart dieser Sichtweise. Da das Thema unserer Passage fortpflanzungsuntauglicher Sex ist, geht es Kant im Beispiel des mangelnden Anreizes also darum, dass es der Partnerin an dem spezifisch „sinnlichen Antrieb[]“ der „Fleischeslust“88 mindestens in dem Maße fehlt, dass eine Empfängnis nicht zu erwarten ist.89 Dabei liegt die Vermutung nahe, dass Kant hier (analog zum Fall der Sterilität) an einen anhaltenden oder gar permanenten Mangel sexueller Appetenz gedacht haben mag und weniger an situative Unlust.90 In jedem Fall impliziert das Beispiel so verstanden gar nicht, dass der Geschlechtsverkehr durch den Mann erzwungen wird. Wie wir in Abschnitt I gesehen haben, sieht Kant das Verlangen nach „unmittelbare[m] Vergnügen“ als natürlichen Bestimmungsgrund des Geschlechtsgebrauchs an.91 Neben dem Fall, in dem „die Personen wechselseitig ihre Neigungen befriedigen“, sieht Kant aber auch die Möglichkeit, dass „eine Person aus Interesse sich als ein Gegenstand der Befriedigung der GeschlechterNeigung des andern gebrauchen läßt“ bzw. „aus Interesse die Neigung des andern befriedigt“.92 Im Unterschied zum genussbasierten Geschlechtsgebrauch macht in diesem Fall „ein Mensch von den Geschlechtsorganen eines Andern“ nicht „unmittelbar zu seiner Belustigung“ Gebrauch, sondern „zu anderen Zwecken“ bzw. im Hinblick auf „beabsichtigte Folgen“.93 Der paradigmatische Fall des Geschlechtsgebrauchs aus Interesse ist dabei die Prostitution: „sich für Geld dem andern zur Befriedigung seiner Neigung Preis zu geben und seine Person zu vermiethen“.94 Aber auch andere Bestimmungsgründe sind dieser Konzeption zufolge möglich.95 Ein Ehepartner kann sich TL, AA 06: 424. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass das Beispiel des mangelnden Anreizes ohne Kenntnis des Hintergrundes in der Literatur im Vergleich zu den anderen Fällen als „strikingly different“ angesehen wird: Mark Timmons, The Perfect Duty to Oneself as an Animal Being (TL 6: 421 – 428), in: Andreas Trampota, Oliver Sensen, Jens Timmermann (Hg.), Kant!s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin, Boston 2013, 221 – 243, hier 240 Anm. 27; vgl. Soble, Kant and Sexual Perversion (wie Anm. 23), 66. 90 Tieftrunk gibt das Beispiel so wieder, dass die Ehepartnerin „gefühllos“ sei, und spricht auch von „Unempfindlichkeit“, vgl. Johann Heinrich Tieftrunk, Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre vom Herrn Prof. Imm. Kant, Halle 1798, 255, 257. – Zu stark erscheint hingegen Banhams Deutung als „aversion to intercourse“, vgl. Gary Banham, Kant!s Practical Philosophy. From Critique to Doctrine, Basingstoke, New York 2003, 209. 91 RL, AA 06: 359, 278; VARL, AA 20: 464, 462. 92 V-Mo/Kaehler(Stark), 242; Hvhg. M.B. 93 VARL, AA 20: 464, 462. 94 V-Mo/Kaehler(Stark), 242. 95 In der Metaphysik der Sitten Vigilantius spricht Kant von „Gunst (favorem)“ als der Form der Liebe aus Neigung, bei der man „die Absicht hat, dem andern gegen uns eine Verbindlichkeit aufzuerlegen,“ und die „mithin mit einem Interesse verbunden ist“ (V-MS/Vigil, AA 27: 670). 88

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also dem anderen zu dessen Genuss hingeben, auch wenn er selbst im oben genannten Sinne „keinen Anreiz dazu bei sich findet“, ohne dass dabei Zwang involviert wäre. Daneben erscheint es nicht einmal zwingend zu sein, „keinen Anreiz dazu“ auf den Geschlechtsverkehr zu beziehen; die Passage lässt auch die Lesart zu, das „dazu“ auf den Zweck der Fortpflanzung zu beziehen bzw. darauf, „auf diesen Rücksicht zu nehmen“.96 In diesem Fall wäre das Beispiel so zu deuten, dass die Akteure (oder auch nur die Partnerin) empfängnisverhütende Maßnahmen welcher Art auch immer ergreifen, weil die Partnerin keinen Anreiz hat, Kinder zu zeugen.97 Im 18. Jahrhundert galten vermeintlich empfängnisverhütende Stellungen oder der coitus interruptus als zur Vermeidung einer Schwangerschaft taugliche Mittel, und es gibt in neuzeitlichen Quellen Belege dafür, dass „Frauen durchaus aus eigenem Antrieb zu den unterschiedlichsten empfängnisverhütenden Maßnahmen griffen“.98 Deutet man das Beispiel in diese Richtung, spielt der Aspekt eines möglichen Zwangs gar keine Rolle. Eine zeitgenössische Deutung der Stelle in diesem Sinne findet sich bei dem österreichischen Kantianer Gottfried Immanuel Wenzel. Im Anschluss an eine fast wörtliche Wiedergabe unserer kasuistischen Frage verteidigt Wenzel die moralische Relevanz des Fortpflanzungszwecks und artikuliert dabei die Ansicht, dass die Partner keine verhütenden Maßnahmen ergreifen dürften: „Die Fortpflanzung des Geschlechts darf kein Ehegatte absichtlich oder wissentlich, also weder Empfängniß, noch Zeugung hindern“.99 Wie immer man den Fall des mangelnden Anreizes genau deutet: Hält Kant Sex in diesem Fall sowie bei Unfruchtbarkeit oder während einer Schwangerschaft überhaupt für zulässig?100 Die zu klärende Frage besteht Kant zufolge darin, ob die Partner in diesen Fällen „der Pflicht gegen sich selbst […] eben so wie bei der unnatürlichen Wohllust zuwider“ handeln würden oder ob es „hier ein Erlaubnißgesetz“ gebe, das „etwas an sich zwar Unerlaubtes doch zur Verhütung AA 06: 426. In ihrer Übersetzung der Metaphysik der Sitten gibt Mary Gregor die Stelle mit „if she feels no desire for intercourse“ wieder und hat damit das Verständnis vieler Interpreten vorgezeichnet; Immanuel Kant, Metaphysics of Morals, hg. und übers. von Mary Gregor, Cambridge 1991, 222. 97 Kant weist wiederholt auf die Belastungen und Risiken von Schwangerschaft und Geburt hin, vgl. RL, AA 06: 359; V-MS/Vigil, AA 27: 638; VARL, AA 20: 464 f. 98 Jütte, Lust ohne Last (wie Anm. 87), 108, vgl. 118, 160. 99 Gottfried Immanuel Wenzel, Neues vollständiges philosophisches Real-Lexicon, 2 Bde. (mehr nicht erschienen), Linz 1807/08, Art. „Ehe“, Bd. 1, 616; vgl. auch Art. „Geschlechtstrieb“, Bd. 2, 326. 100 Vgl. zum Folgenden Martin Brecher, Ehelicher Geschlechtsgebrauch und Fortpflanzungszweck in § 7 der Tugendlehre, in: Violetta Waibel, Margit Ruffing (Hg.), Natur und Freiheit. Akten des 12. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin, Boston (im Erscheinen). 96

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einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht“.101 Die Interpreten, die das Beispiel des mangelnden Anreizes als Beleg für ein Zwangsrecht auf Sex anführen, vertreten die Ansicht, Kant erachte Sex in diesem Fall (ebenso wie in den anderen genannten Fällen) als erlaubt.102 Dagegen spricht jedoch, dass Kant (i) den fortpflanzungsuntauglichen Geschlechtsverkehr für pflichtwidrig erachtet, seine Unterlassung also geboten ist und dass nach Kant (ii) die Geltung moralischer Pflichten nicht von unseren Neigungen abhängt. (i) Im Haupttext von TL § 7 behauptet Kant, dass nicht nur ein „unnatürliche[r]“ Geschlechtsgebrauch die Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst darstellt, sondern „selbst auch [der] blos unzweckmäßige[] Gebrauch[] seiner Geschlechtseigenschaften“.103 Der „Vernunftbeweis“, den Kant liefert und dem zufolge diese Formen des sexuellen Handelns auf eine Selbstinstrumentalisierung hinauslaufen, bezieht sich explizit sowohl auf ,zweckwidrigen" als auch ,unzweckmäßigen" Sex.104 Wie die Beispiele des Geschlechtsverkehrs während der Schwangerschaft und bei Unfruchtbarkeit zeigen, geht es Kant in unserer kasuistischen Frage um diesen unzweckmäßigen Geschlechtsgebrauch, d. h. einen solchen, der zwar nicht zweckwidrig, aber eben auch nicht zweckdienlich ist. Es geht gemäß dem ,Vernunftbeweis" im Hauptteil von TL § 7 also hier um „etwas an sich […] Unerlaubtes“.105 (ii) Kant ist der Ansicht, dass moralische Verbindlichkeit nicht von subjektiven Faktoren abhängt: Nicht das „dem Menschen beigelegte[] Vermögen dem Gesetz Gnüge zu leisten“ ist Maßstab unserer Pflicht; im Gegenteil muss „das sittliche Vermögen […] nach dem Gesetz geschätzt werden, welches kategorisch gebietet“.106 Wie das Galgenbeispiel aus der Kritik der praktischen Vernunft zeigt, meint Kant, dass wir nicht nur eine „wollüstige[] Neigung“ unterdrücken können, um unser Leben zu erhalten, sondern sogar die Liebe zum Leben überwinden können, um den Forderungen des Sittengesetzes Genüge zu tun.107 Es erscheint folglich unplausibel, dass Kant in unserer Passage ein „gleichsam nachsichtlich[es]“ Erlaubnisgesetzes zur Duldung des in seinen Augen an sich ethisch unerlaubten unzweckmäßigen Geschlechtsgebrauchs annehmen würde. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Kant hier eine restriktive Position vertritt und folglich Sex im Falle des fehlenden Anreizes der Partnerin zumindest als TL, AA 06: 426. Als mögliche Fälle einer solchen „größeren Übertretung“ der Pflicht könnte Kant hier den Ehebruch oder die Selbstbefriedigung meinen. 102 Das ist die insgesamt herrschende Meinung zu der kasuistischen Frage. Vgl. Brecher, Ehelicher Geschlechtsgebrauch (wie Anm. 100). 103 TL, AA 06: 425; Hvhg. M.B. 104 Ebd. 105 Ebd., 426. 106 Ebd., 404; vgl. ebd., 380. 107 KpV, AA 05: 30; vgl. auch ebd., 36 f. 101

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ethisch verboten ansieht. Alles in allem ist die Stelle, anders als in der Literatur behauptet wird, folglich kein belastbarer Hinweis für die These, dass Kant eine erzwingbare Pflicht zum Geschlechtsverkehr annähme. Sollte meine Deutung der Passage richtig sein, so ist aus kantischer Sicht das Erzwingen der ehelichen Pflicht zumindest aus ethischer Sicht unzulässig.108 IV. Sex und die Liebespflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern Kants vernunftrechtliche Ehekonzeption begründet als solche keine Pflicht zum Geschlechtsverkehr und ebenso wenig das Recht, auf den Körper des Partners zur eigenen Lustbefriedigung zuzugreifen. Allerdings räumt Kant die Möglichkeit ein, dass die Ehepartner einander im Rahmen einer vertraglichen Abmachung einen regelmäßigen Geschlechtsverkehr versprechen. Die Restriktionen, denen der Umgang der Partner innerhalb der Beziehung, insbesondere mit Blick auf die besondere Problematik des sexuellen Handelns, unterliegt, sprechen allerdings dafür, dass sich die Erfüllung derartiger Zusagen innerhalb von Kants Theorierahmen zwar fordern, aber nicht mit physischem Zwang durchsetzen lässt. Im Folgenden möchte ich nun den Vorschlag entwickeln, dass die ethische Liebespflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit auch die Anforderung umfasst, dass Ehepartner wechselseitig ihre sexuellen Bedürfnisse berücksichtigen. Kant zufolge gibt es zwei Zwecke, die die praktische Vernunft im Rahmen ihrer ethischen Gesetzgebung jeweils als „objectiv nothwendigen Zweck, d.i. für den Menschen als Pflicht,“ vorstellt.109 Diese Zwecke sind eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit.110 Der Zweck der fremden Glückseligkeit begründet die „Liebespflichten gegen andere Menschen“.111 Die Liebe als Tugendpflicht grenzt Kant zum einen vom Gefühl der Liebe ab (i) und stellt zum anderen klar, dass die Liebespflichten uns keine spezifischen Handlungen vorschreiben (ii). (i) In der Rede von Liebespflichten ist Liebe „als praktisch“ zu verstehen und nicht „als Gefühl (ästhetisch)“. Dieses Gefühl wäre die „Liebe des Wohlgefallens“, als „Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen“– wobei Vollkommenheit hier im Sinne ihres Wohllebens verstanden werden muss.112 Ein Gebot zur Die Passage hat freilich eine Reihe weiterer Fallstricke, die zu erörtern den gegebenen Rahmen sprengen würde. Die kasuistischen Fragen in der Tugendlehre werden bekanntlich sowohl einzeln als auch im Ganzen höchst kontrovers diskutiert. 109 TL, AA 06: 380. 110 Ebd., 385. 111 Ebd., 448; Hvhg. getilgt. 112 Ebd., 449 f. 108

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Liebe im ästhetischen Sinne kann es laut Kant nicht geben, denn wir können nicht verpflichtet werden, Gefühle zu haben:113 „zur Lust woran genöthigt werden zu müssen, ist ein Widerspruch“.114 Wir können nur zu Handlungen oder zur Annahme bestimmter Zwecke verpflichtet sein. (ii) Die Beförderung der fremden Glückseligkeit ist Kant zufolge eine Tugendpflicht; als solche spezifiziert sie unmittelbar keine auszuführenden Handlungen und verlangt daher von uns keine bestimmten Wohltaten. Während das Recht „Gesetze für die Handlungen“ aufstellt, gebietet die Ethik unmittelbar keine Handlungen; sie gibt uns vielmehr bestimmte Zwecke vor und stellt damit Gesetze auf, die „die Maximen der Handlungen“ betreffen.115 Die reine praktische Vernunft schreibt uns die Glückseligkeit anderer Akteure als Zweck, d. h. „als Gegenstand [unserer] freien Willkür“ vor; das heißt, sie gibt uns eine „Materie“ unseres Wollens „an die Hand“.116 Durch die Setzung eines Zweckes wird unsere Willkür zu Handlungen bestimmt, „diesen Gegenstand hervorzubringen“.117 Den vernunftgebotenen Zweck der Glückseligkeit anderer anzunehmen, bedeutet folglich, das eigene Handeln so zu gestalten, dass man auf die Glückseligkeit anderer, d. h. auf ihre fortdauernde Zufriedenheit mit ihrem Zustand, hinwirkt:118 Wir sind verpflichtet, eine „Maxime des Wohlwollens“ anzunehmen, „welche das Wohlthun zur Folge hat“.119 Diese Maxime des Wohlwollens bezeichnet Kant auch als „praktische Menschenliebe“.120 Die Liebespflicht, zum Wohl anderer Akteure beizutragen, verlangt vom Handelnden, sich deren Zwecke zu eigen zu machen, sie also in die eigene Maxime

Ebd., 449. Ebd., 402; vgl. V-MS/Vigil, AA 27: 671. Die Behauptung, dass Gefühle kein direkter Gegenstand von moralischen Geboten sind, bedeutet jedoch nicht, dass wir keine Pflichten in Bezug auf unsere Gefühle haben. Kant geht durchaus davon aus, dass wir unser Gefühlsleben beeinflussen und bestimmte emotionale Reaktionen habitualisieren können. Vgl. Christoph Horn, The Concept of Love in Kant!s Virtue Ethics, in: Monika Betzler (Hg.), Kant!s Ethics of Virtue, Berlin, New York 2008, 147 – 173, hier 160. Die Tugend verlangt nicht nur, „von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen“, sondern darüber hinaus die „Herrschaft über sich selbst“ in dem positiven Sinne, „alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen“, vgl. TL, AA 06: 408. 115 Ebd., 388; Hvhg. getilgt. Das stellt Kant auch bei der Erläuterung der Glückseligkeit anderer als Zweck, der zugleich Pflicht ist, noch einmal heraus: „Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen“ (ebd., 393). 116 Ebd., 380. 117 Ebd., 381. 118 Ebd., 387. 119 Ebd., 449. 120 Ebd., 450. 113 114

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aufzunehmen.121 Welche konkreten Ziele (bzw. deren Realisierung) die anderen zu ihrer Glückseligkeit zählen, bleibt ihnen überlassen. Wichtig ist für die Liebespflicht nicht ein bestimmter Inhalt, sondern der Umstand, dass ein anderes Vernunftwesen, das zugleich über Sinnlichkeit und damit über Neigungen und Bedürfnisse verfügt, sich etwas als Zweck gesetzt hat. Den Status eines anderen Vernunftwesens als Zweck an sich selbst ernst zu nehmen, bedeutet, auch seine Zwecksetzungen ernst zu nehmen: „Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung“ – nämlich die Vorstellung der Menschheit und damit eines jeden Vernunftwesens als Zweck an sich selbst – „bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein“.122 Entsprechend haben also auch Ehepartner die Pflicht, sich die zur Glückseligkeit zählenden Zwecke des jeweils anderen zu eigen zu machen und zu befördern. Die persönliche Nähe ist dabei ein verbindlichkeitsrelevanter Faktor. Zwar gilt das Gebot der Wohltätigkeit grundsätzlich im Hinblick auf alle Menschen. Die Vernunft verlangt, „daß du auch jedem Anderen wohl willst“,123 unabhängig davon, ob wir eine positive emotionale Einstellung zu ihm haben oder nicht: „Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander, man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht“.124 Doch Kant ist der Ansicht, dass es Unterschiede im Grad der Verbindlichkeit geben kann, wir also „zum größeren Wohlwollen gegen Einen als gegen den Anderen verbunden“ sein können.125 Der Grad der Verbindlichkeit hängt dabei von der persönlichen Nähe der anderen Person ab: Wir sind Personen, die uns nahestehen, in höherem Maße zur Beförderung ihres Wohlergehens verbunden als Menschen, die uns fernstehen, denn „im Wünschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Thun kann der Grad nach Verschiedenheit der Geliebten (deren Einer mich näher angeht als der Andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr verschieden sein“.126 Der Liebespflicht korrespondiert gemäß Kants Pflichtensystematik „der Zweck der Menschen“ (RL, AA 06: 239). In der Metaphysik der Sitten Vigilantius heißt es entsprechend, wir seien verpflichtet, „zum Zweck der Menschen zu wirken“ (V-MS/Vigil, AA 27: 669). 122 GMS, AA 04: 430; vgl. TL, AA 06: 395. Allerdings sind wir lediglich dazu verpflichtet, uns die „erlaubten“ Zwecke anderer zu eigen zu machen (TL, AA 06: 388), d. h. „so fern diese nur nicht unsittlich sind“ (ebd., 450). 123 Ebd., 451; Hvhg. M.B. 124 Ebd., 450. 125 Ebd., 451. 126 Ebd., 452. Vgl. Dieter Schönecker, Duties to Others from Love, in: Andreas Trampota, Oliver Sensen, Jens Timmermann (Hg.), Kant!s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin, Boston 2013, 309 – 341, hier 337. – Siehe zur Möglichkeit des Partialismus bei Kant auch Marcia Baron, Virtue Ethics, Kantian Ethics, and the ,One Thought Too Many" Objection, in: Monika Betzler (Hg.), Kant!s Ethics of Virtue (wie Anm. 114), 245 – 277. Als eine spezifische Art von 121

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In der „allgemeinen“, d. h. auf alle Menschen als solche gerichteten „Menschenliebe“ ist das Wohlwollen „dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber das kleinste“.127 Das bedeutet, dass die Zwecke der zur Menge aller Menschen gehörenden Personen ein eher geringes Gewicht für meine Handlungsorientierung haben, während im Unterschied dazu die Zwecke von Personen, „die mich näher angeh[en]“, ein größeres Gewicht besitzen und sich mein Handeln entsprechend stärker an diesen Zwecken orientieren wird (bzw. orientieren soll).128 Ehepartner sind einander demnach in größerem Maße zur Beförderung ihrer Glückseligkeit verbunden als zur Benefizienz gegenüber Fremden, mithin besitzen die Zwecke des Partners als solche ein größeres Gewicht in der eigenen Deliberation als die Zwecke Fremder. Der Geschlechtsgebrauch erzeugt „ein physisches pathologisches Wohlgefallen“.129 Das beim Sex generierte Vergnügen stellt in Kants Augen „in der That die größte Sinnenlust“ dar.130 Die Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse ist also ein wesentlicher Faktor unseres sinnlichen Wohlergehens, mithin dafür, dass wir mit unserem Zustand zufrieden sind. Sich die glücksrelevanten Zwecke des Ehepartners zu eigen zu machen, schließt also auch die Berücksichtigung des sexuellen Bedürfnisses des Partners mit ein. So müssen wir meines Erachtens die Behauptung in Vigilantius deuten, dass „der Geschlechtstrieb sowohl Neigung der Menschen [ist], als er auch unter dem Namen der Liebe Pflicht werden kann“.131 Das pflichtentheoretische Fundament für diese Behauptung liefert Kant an einer späteren Stelle der Vorlesung. Wie in Grundlegung und Tugendlehre, so wird auch in Vigilantius praktische Liebe, die „auf Grundsätze gebaut“ ist und „wozu uns die Moral verbindet“, unterschieden von der neigungsbasierten „pathologische[n] Liebe, die ihren Bestimmungsgrund nur in der Wirkung der Naturtriebe hat“.132 Dabei dient Kant die Liebe von Ehe- und Sexualpartnern zur Illustration des Verhältnisses der beiden Arten von Liebe:

Pflichten diskutiert Kant Pflichten gegenüber Freunden: TL §§ 46 f., AA 06: 469 – 473. Baron, vermutet, „that if he had a section in the Tugendlehre on familial relationships, as he does on friendship, he would recognize special duties to family, as well“ (ebd., 252 Anm. 13). Tatsächlich erwähnt Kant in der Einleitung zur Tugendlehre immerhin die Elternliebe, deren „Pflichtmaxime“ diejenige der „allgemeine[n] Nächstenliebe“ einschränkt, vgl. TL, AA 06: 390. 127 Ebd., 451. 128 Vgl. Katja Maria Vogt, Duties to Others: Demands and Limits, in: Monika Betzler (Hg.), Kant!s Ethics of Virtue (wie Anm. 114), 219 – 243, hier 242. Vogt weist dabei auf Parallelen zu der von der Stoa beeinflussten ciceronischen Pflichtenlehre hin (ebd.). 129 V-MS/Vigil, AA 27: 670. 130 TL, AA 06: 426. 131 V-MS/Vigil, AA 27: 638; Hvhg. M.B. 132 Ebd., 671; vgl. ebd., 667.

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Die Liebe aus Neigung kann zwar den Anfang beym Menschen machen, z.E. die Liebe des weiblichen Geschlechts und männlichen fängt gewöhnlich von der pathologischen Liebe an, und so schätzt auch die Frau, die von der physischen Liebe ihres Mannes überzeugt ist, ihn höher und glaubt sich im Besitz derselben sicherer, als wenn sie bey ihm nur die Liebe aus Pflicht erwarten darf: nur diese Liebesneigung muß ihn nicht bestimmen, sondern seine Achtung133 muß auf Pflicht-Grundsatz gebauet seyn. Dieser erlischt nicht, wenn die instinctmäßigen Anreizungen, z.E. Schönheit, Vermögen, verloren gehen.134

Kant stellt hier heraus, dass auch in einem normalerweise neigungsbasierten Verhältnis wie in der Ehe praktische Liebe aus Pflicht verlangt ist. Eheleute sind einander auch bei Wegfall ihrer psychologischen Zuneigung zu wechselseitiger Liebe verpflichtet, d. h. zur „Beförderung der Glückseligkeit“ des anderen.135 Gleichwohl räumt Kant der sinnlichen, „pathologischen“ Liebe eine Bedeutung ein: Sie ist zwar insofern defizient, als sie nicht konstant ist, sondern als Neigung auf „Anreizungen“ basiert, d. h. darauf, dass uns etwas am Gegenstand anzieht. Sie kann jedoch Ausgangspunkt von praktischer, d. h. pflichtbasierter Liebe sein, und beide Arten der Liebe können miteinander einhergehen. Es ist also nicht so, als sollte die gefühlsbasierte Zuneigung der Eheleute der Pflicht Platz machen. Vielmehr scheint Kant zufolge die „auf Pflicht-Grundsatz“ gebaute Liebe, die mit Neigung einhergeht, sogar der Idealfall zu sein: Die moralisch entscheidende Grundsatzbasiertheit einer solchen Liebe wird hier dadurch ergänzt, dass sich der andere durch die gefühlsbasierte Zuneigung der Liebe des Akteurs sicherer fühlt. In der Tugendlehre stellt Kant an verschiedenen Stellen sogar die Behauptung auf, dass durch wiederholtes wohltätiges Handeln aus Grundsatz eine entsprechende emotionale Disposition kultiviert werden kann.136 Die Berücksichtigung der sexuellen Bedürfnisse des Ehepartners scheint Kant zufolge also Teil der Liebespflicht zu sein, die Glückseligkeit des anderen zu befördern. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die Ehepartner dazu genötigt wären, sich bzw. ihre Geschlechtsvermögen in beliebiger Weise vom Partner gebrauchen zu lassen oder gegen ihren eigenen Willen das sexuelle Verlangen des anderen zu befriedigen. Insbesondere lässt sich Kant nicht so lesen, dass die Ehefrau ihr Wohl den Gelüsten des Mannes aufopfern müsste. Auch wenn wir in weit höOder „Liebe“? In der Vorlesung ist ansonsten wie in der Tugendlehre von Achtung im Sinne von „schuldige[r] Achtung“ (ebd., 672) die Rede, um die es in der zitierten Passage offenbar nicht geht. 134 Ebd., 671. 135 Ebd. Diesen Punkt artikuliert Kant bereits in der Vorlesung der 1770er Jahre: „Man kann zE seiner Frau wohlthun aus Liebe, wo aber schon die Neigung weggefallen ist, so soll man es thun aus Verbindlichkeit“ (V-Mo/Kaehler[Stark], 279 f.). Vgl. auch Naturrecht Feyerabend: „Heirathet ein Mann eine schöne Frau; so wird er sie aus Neigung lieben. Wird sie aber durch die Jahre verrunzelt, und er liebt sie noch; so thut ers aus Pflicht“ (V-NR/Feyerabend, AA 27: 1326). 136 TL, AA 06: 402. 133

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herem Grade dazu verbunden sind, uns die Glückseligkeit und damit die sinnlichen Bedürfnisse des Ehepartners zum Zweck zu machen – im Vergleich zu den Zwecken anderer, uns ferner stehender Menschen –, so ist diese Pflicht insgesamt immer noch vergleichsweise schwach: (a) Die Pflicht, sich die zur Glückseligkeit gehörenden Zwecke des anderen zu eigen zu machen, ist als Tugendpflicht nur verdienstlich und dem anderen nicht geschuldet. Insofern Tugendpflichten eine Zwecksetzung verlangen, schreiben sie keine bestimmten zu begehenden äußeren Handlungen vor. Entsprechend kann der andere von mir auch keine bestimmten Handlungen verlangen oder diese gar erzwingen. Höchstens können die Ehepartner einander diese Pflicht „zu Gemüthe führen“137 und dem anderen ihre glücksrelevanten Bedürfnisse kundtun – wobei Kant selbst darauf insistiert, „daß selbst die erlaubte (an sich freilich blos thierische) körperliche Gemeinschaft beider Geschlechter in der Ehe im gesitteten Umgange viel Feinheit veranlaßt und erfordert“.138 (b) Die pflichtbasierte Aufnahme des Zwecks der Glückseligkeit anderer in die eigene Maxime verlangt von uns, die Verfolgung unserer eigenen neigungsbasierten Zwecke einzuschränken. „Wohlthun“, das „aus Pflicht“ erfolgt, führt Kant zufolge durchaus zur „Aufopferung und Kränkung mancher Concupiscenz“.139 Doch verlangt die Liebespflicht nicht, das eigene Wohlergehen dem Glücksbedürfnis des anderen gänzlich unterzuordnen: „Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte“.140 Daneben steht es uns Kant zufolge auch frei, die Glücksauffassung des anderen in Frage zu stellen und diejenigen untergeordneten Zwecke nicht in unsere Maxime aufzunehmen, deren Realisierung unserer Meinung nach nicht wirklich zum Wohlergehen des anderen beitragen würde.141 Entsprechend sind auch die Ehepartner in keiner Weise darauf verpflichtet, den sexuellen Bedürfnissen des anderen unbedingt Genüge zu leisten; vielmehr können dies nach ihrem eigenen Urteil tun oder unterlassen. (c) Wenn Kants Konzeption der Liebespflichten die Verbindlichkeit einschließt, auf die sexuellen Bedürfnisse des Partners als Teil seiner sinnlichen Zufriedenheit Rücksicht zu nehmen, so bedeutet dies, dass die Partner nicht nur verpflichtet sind, dem entsprechenden Verlangen des anderen im positiven Sinne Gehör zu schenken, sondern umgekehrt auch die ,negativen" Aspekte ihrer sexuellen Bedürfnisse zu respektieren. Die Abwesenheit von sexuellem Verlangen und Ab137 138 139 140 141

RL, AA 06: 232. TL, AA 06: 425. Ebd., 393. Ebd. Ebd., 388.

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neigungen müssen ebenso berücksichtigt werden wie das positive Verlangen nach sexueller Lustbefriedigung. Auch in diesem Sinne verlangt das Verhältnis von Sexualpartnern „im gesitteten Umgange viel Feinheit“.142 (d) Wichtig ist in unserem Zusammenhang schließlich, dass natürlich beide Ehepartner sich das Wohlergehen des anderen zum Zweck machen müssen. Vor dem Hintergrund der anderen genannten Punkte hat diese Reziprozität zur Folge, dass die Eheleute ihre Bedürfnisse sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht wechselseitig berücksichtigen müssen. Die einseitige Befriedigung eines Partners auf Kosten des Wohlergehens und der Zufriedenheit des anderen hat auch – und gerade – im Rahmen der Liebespflichten keinen Platz.

V. Fazit Kants Konzeption der Ehe als ein auf dingliche Art persönliches Recht, in dessen Rahmen sich die Ehepartner ,gleich als Sache" besitzen, wird immer wieder so verstanden, als hätten die Ehepartner ein Zugriffsrecht auf den Körper des anderen und könnten einander zum Sex zwingen. Das Hauptziel meines Beitrags bestand darin zu zeigen, dass aus Kants besitzrechtlicher Konzeption der Ehe weder ein körperliches Zugriffsrecht noch ein erzwingbarer Anspruch auf Sex folgt: Die ,eheliche Pflicht" ist im Unterschied zu vielen naturrechtlichen Ehekonzeptionen kein wesentlicher Bestandteil der kantischen Ehe. Das wechselseitige Besitzrecht, das den Kern der kantischen Ehe ausmacht, hat lediglich die außenbezogene, negative Funktion, die Exklusivität der Beziehung sicherzustellen, um die Verdinglichungsgefahr abwehren zu können. Kants Eherecht bietet jedoch die Möglichkeit, dass die Partner einander beim Eheschluss bestimmte Leistungen vertraglich zusichern. Derartige Verpflichtungen und die ihnen korrespondierenden Ansprüche sind jedoch nicht notwendigerweise Teil des Vertrags. Zudem ist der Gebrauch, den die Partner innerhalb der Beziehung voneinander machen können, auf die Übereinstimmung mit ihrer Persönlichkeit restringiert. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Sexualität scheinen der Durchsetzbarkeit eines solchen Anspruchs entsprechend enge Grenzen gesetzt zu sein. Den Partner zu zwingen, die eigene tierische Geschlechtsneigung zu befriedigen, scheint auf einen beliebigen Gebrauch des Partners hinauszulaufen, zu welchem man sich Kant zufolge nicht rechtsgültig verbinden kann. Einige Interpreten meinen, dass Kant in einer kasuistischen Frage zu § 7 der Tugendlehre von einer Zwangsbefugnis zum Geschlechtsverkehr ausginge, weil es (wenigstens ausnahmsweise) erlaubt sei, auch dann mit der Gattin zu 142

Ebd., 425.

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schlafen, „wenn diese[] keinen Anreiz dazu bei sich findet“.143 Eine sorgfältige Lektüre der Passage hat uns zu zwei Ergebnissen gebracht: Zum einen konzipiert Kant den Beispielsfall gar nicht so, dass der Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Partnerin erfolgen würde. Es geht Kant an dieser Stelle vermutlich schlicht um den ethischen Status des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs in Fällen mangelnder sexueller Appetenz oder (je nachdem, worauf man den Anreiz bezieht) in Fällen des Einsatzes von Verhütung. Zum anderen spricht Vieles dafür, dass Kant seine kasuistische Frage, ob ,unzweckmäßiger", d. h. fortpflanzungsuntauglicher Geschlechtsverkehr eine Pflichtverletzung darstelle oder durch ein Erlaubnisgesetz gestattet sei, nur im Sinne der Pflichtverletzung beantworten könnte (Abschnitt III). Die reine praktische Vernunft schreibt uns im Zuge ihrer ethischen Gesetzgebung vor, die Glückseligkeit anderer zu befördern, indem wir deren (natürlich nur moralisch legitimen) Zwecke zu unseren eigenen machen. Dabei sind sich nahestehende Personen – wie Ehegatten – einander in höherem Maße zur Unterstützung verbunden. Da unser Streben nach Glückseligkeit auch die Befriedigung unserer sinnlichen Bedürfnisse mit einschließt, verlangt die Liebespflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit, so mein Vorschlag in Abschnitt IV, dass sich Ehepartner auch die sexuellen Bedürfnisse des anderen zum Zweck machen. Diese besondere Forderung der allgemeinen Liebespflicht ziehen sich Akteure automatisch zu, wenn sie heiraten. Die ethische Liebespflicht ist also derjenige Ort in Kants Sexualmoral, an dem die ,eheliche Pflicht" notwendigerweise einen Platz einnimmt. Da es sich bei Liebespflichten um unvollkommene, weite und bloß ethische Pflichten handelt, ist den Akteuren für ihre Umsetzung ein weiter Spielraum gelassen. Ehepartner können sich des Bestehens dieser ethischen Verpflichtung zwar gemahnen, ihre Erfüllung jedoch nicht erzwingen. Der Beitrag geht der Frage nach, ob Kants Eherecht eine Verpflichtung zum Geschlechtsverkehr und ein ihr korrespondierendes Zwangsrecht beinhaltet. Ich argumentiere dafür, dass eine solche ,eheliche Pflicht" kein wesentlicher Bestandteil des kantischen Eherechts ist. Insbesondere impliziert das wechselseitige Besitzrecht ,auf dingliche Art", das den Kern des kantischen Eherechts ausmacht, kein Zwangsrecht auf Geschlechtsverkehr, sondern stellt lediglich ein Ausschlussrecht in Bezug auf Dritte dar. Das kantische Recht gibt Ehepartnern allerdings die Möglichkeit, einander bestimmte Leistungen vertraglich zu versprechen; solche Verpflichtungen sind jedoch kein wesentlicher Gehalt des kantischen Ehevertrags und die Möglichkeiten, ihre Erfüllung durchzusetzen, sind durch den normativen Kerngehalt des Eherechts stark limitiert. Insofern Ehepartner einander in Form der ethischen Liebespflicht zur Beförderung ihrer Glückseligkeit verbunden sind, scheinen sie auch zur Berücksichtigung ihrer sexuellen Bedürfnisse verbunden zu sein; nur in dieser depotenzierten und nicht erzwingbaren Form kann die ,eheliche Pflicht" einen Platz in Kants Sexualmoral für sich beanspruchen. 143

Ebd., 426.

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In this paper I address the question of whether Kant!s marriage right imposes on the spouses, on the one hand, a duty to have intercourse and, on the other, a corresponding right of coercion. I argue that the "marriage debt! is no essential part of Kant!s concept of legal marriage. Most importantly, the spouses! reciprocal right of possession of each other, which is the core of Kantian marriage, does not involve a coercible right to intercourse, but is merely a negative right to prevent sex between one!s partner and other persons. In addition, while spouses can in principle contract for rights to bodily services, such claims are not required by Kantian marriage and the enforcement of such claims is subject to severe restrictions. Finally, I suggest that the ethical duty of love to further the happiness of others requires that husband and wife also consult and consider each other!s sexual needs; only in this weak sense can the "marriage debt! be regarded as an essential part of the obligations of married people. Martin Brecher M.A., M.Litt., Universität Mannheim, Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik, 68131 Mannheim, E-Mail: [email protected]

Heiner F. Klemme Radikal human. Kants erweiterter Pflichtbegriff von 1797*

I. Einleitung Kant hat, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, seine 1785 in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten1 entwickelte Konzeption der Verbindlichkeit in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, die 1797 als zweiter Teil der Metaphysik der Sitten erscheinen, signifikant erweitert. Begründet er die durch den kategorischen Imperativ ausgedrückte Verbindlichkeit 1785 nur im Sinne ihres (von mir so genannten) essentialistischen Verständnisses, erweitert er dieses 1797 durch eine volitive Konzeption moralischer Verbindlichkeit (und Pflicht): Wir sind nicht nur verpflichtet, dem Moralgesetz aus Achtung Folge zu leisten und bloß nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. Wir sind darüber hinaus verpflichtet, uns durch einen „Akt der Freiheit“2 bestimmte Zwecke (eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit) zu setzen und gemäß einer Maxime zu handeln, die aus diesen Zwecksetzungen folgt. Kant nennt sie Zwecke, die zugleich Pflichten3 sind. Mit dieser neuen Zwecksetzungslehre leistet er einen späten Beitrag zu seinem Verständnis der (Un-)Mündigkeit, so wie er sie in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) skizzierte. Ich werde zunächst (Abschnitt II) auf einige Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Positionen von 1785 und 1797 in entwicklungsgeschichtlicher PerspekGefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer KL 916/ 13 – 1. – Für Hinweise und Verbesserungsvorschläge danke ich den beiden Mitarbeitern an diesem Projekt Gabriel Rivero und Daniel Stader sowie Antonino Falduto. 1 Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zitiere ich nach der Ausgabe von Bernd Kraft und Dieter Schönecker (Hamburg 1999), die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten nach der Ausgabe von Bernd Ludwig (Hamburg 1999). 2 MS, AA 06: 285. 3 Siehe ebd., 384. *

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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tive aufmerksam machen und die Unterscheidung zwischen der essentialistischen und der volitiven Konzeption der Verbindlichkeit einführen, bevor ich mich im Detail (Abschnitt III) mit der Position der Tugendlehre beschäftige. Abschließend (Abschnitt IV) werde ich Kants Konzeption radikaler Humanität aus philosophischer Perspektive und ihren Zusammenhang mit dem Aufklärungsbegriff erläutern. II. Autonomie und Verbindlichkeit In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erhebt Kant den Anspruch, das moralische Selbstverständnis der Menschen mit seiner Lehre vom kategorischen Imperativ begrifflich geklärt zu haben.4 Auf die politischen Implikationen dieses Selbstverständnisses hatte bereits Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift Du Contrat Social (1762) hingewiesen: Die Bürger eines Gemeinwesens folgen den Gesetzen bloß deshalb, weil sie sich diese Gesetze selbst gegeben haben. Während Rousseaus volont! g!n!rale keine Differenz zwischen aktiver Gesetzgebung und passiver Unterwerfung vorsieht, tritt sie in Kants moralphilosophischer Deutung der Selbstgesetzgebung von 1785 in den Vordergrund: Obwohl wir uns die (moralischen) Gesetze selbst geben (autonom sind), sollen (und müssen) wir uns diesen Gesetzen auch „unterwerfen“.5 Reine Vernunftwesen folgen dem eine Notwendigkeit ausdrückenden Vernunftgesetz mit Notwendigkeit; Menschen jedoch werden zu seiner Befolgung rational (moralisch) genötigt. Nötigung impliziert die Freiheit, auch anders handeln zu können. Wir können, wenn wir wollen, unsere Pflicht erfüllen; wir können aber auch pflichtwidrig handeln. Unsere im Begriff der „moralischen Nötigung“ zum Ausdruck gebrachte Verbindlichkeit widerspricht dem Begriff der Autonomie nicht; sie ist vielmehr ein Zeichen davon, dass wir als Wesen, die keinen „schlechterdings guten Willen“ haben, vom „Prinzip der Autonomie“6 abhängig sind. Von diesem Prinzip abhängig zu sein bedeutet, dass nur ein Wille, der sich dieses Prinzip zur Maxime macht, Zur Grundlegung siehe Heiner F. Klemme, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017 sowie ders., How is Moral Obligation Possible? Kant!s Principle of Autonomy in Historical Context, in: Stefano Bacin, Oliver Sensen (Hg.), The Emergence of Autonomy in Kant!s Moral Philosophy, Cambridge 2018, 10–28. 5 Zum Begriff der Unterwerfung siehe GMS, AA 04: 449 („Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle anderen mit Vernunft begabten Wesen?“) und ebd., 454 („und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen“). 6 Das Zitat lautet vollständig: „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung) ist Verbindlichkeit. […] Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“ (ebd., 439). 4

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sich als ein vernünftiger Wille bestimmt hat.7 „Aus Verbindlichkeit“ zu handeln besagt nicht, „aus Gehorsamkeit“8 gegenüber einem Gesetz zu handeln, dessen Autor ein von uns verschiedener Gesetzgeber ist. Wer „aus Verbindlichkeit“ handelt, erfüllt seine Pflichten „aus Achtung fürs Gesetz“,9 dessen Ursprung die reine Vernunft ist. In seiner eigentümlichen Verknüpfung von Autonomie und Verbindlichkeit (Verpflichtung) gründet sich die Erfolgsgeschichte der Lehre vom kategorischen Imperativ. Kants Philosophie der Freiheit beschäftigt sich mit den normativen und faktischen Bedingungen unseres (inneren und äußeren) Freiheitsgebrauchs. Die reine Vernunft gebietet uns, in der Welt nach Prinzipien zu handeln, unter denen wir uns als zugleich vernünftige und freie Subjekte erhalten, darstellen und perfektionieren können.10 Die Verpflichtung, uns über die Bedingungen, unter denen dies geschehen kann, aufzuklären, schließt die Verbindlichkeit ein, unsere Unmündigkeit zu überwinden. „Nimmt man an“, führt Kant in seiner Anthropologievorlesung von 1781/82 aus, „daß man die Menschen in der Unmündigkeit erhalten muß, so faßt man dabei boshafte Grund-sätze.“11 Dass Kant die Unmündigkeit in seinem Aufklärungsaufsatz von 1784 als ein „Unvermögen“ beschreiben kann, welches der Mensch „selbst verschuldet“ hat,12 verdankt sich seiner Ansicht, dass Menschen als vernünftige Subjekte Personen sind und (als Gesunde und Erwachsene) ihre Freiheit13 gebrauchen können. Weil wir mündig sein können, wenn wir es denn wollen, resultiert unsere Unmündigkeit aus einem Unterlassungsakt. Wir haben versäumt zu tun, was zu tun notwendig ist, um mündig zu Zum Begriff der Abhängigkeit siehe auch Kants Ausführungen zu den Begriffen der Neigung, des Bedürfnisses und des Interesses in der Grundlegung: „Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und diese beweist also jederzeit ein Bedürfnis. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse“ (ebd., 413 Anm.). 8 Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Leipzig 31767 (11744), § 133. 9 GMS, AA 04: 400. 10 Kant spricht von dem „Grundsatz“ oder der „Maxime der gesunden Vernunft […]. Dieser Grundsatz ist die Selbsterhaltung der gesunden Vernunft“ (V-Anth/Mensch, AA 25: 1049). – Zum erweiterten Kontext dieser Thematik siehe Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, vor allem 145 ff. 11 V-Anth/Mensch, AA 25: 1047. 12 WA, AA 08: 35. 13 Die verschiedenen Bedeutungen von Freiheit bei Kant können im Rahmen dieses Beitrags natürlich nur angedeutet werden. Zu der in der Literatur häufig diskutierten (und in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ – MS, AA 06: 218 f. – von Kant explizit diskutierten) Problematik der „libertas indifferentiae“ siehe Heiner F. Klemme, Kants Erörterung der „libertas indifferentiae“ in der Metaphysik der Sitten und ihre philosophische Bedeutung, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 9 (2011), 22–50. 7

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sein. Dass die Unmündigkeit überwunden werden soll, ist eine Forderung unserer reinen Vernunft. Wir sind zur Aufklärung verpflichtet. „[…] aller vermeintliche Schaden, der aus der Aufklärung entstehen könnte, sind Grillen.“14 Wir dürfen, so der Radikalaufklärer Kant, „nichts annehmen, was den freien Gebrauch der Vernunft unmöglich machen würde.“15 Die Verbindlichkeit, nach freiheitsermöglichenden Gesetzen zu handeln, hat ihren Ursprung in unserer vernünftigen Natur. Wir verpflichten uns selbst, weil wir ein „unmittelbares Interesse“16 an unserer Vernunft nehmen. Diese (weil auf den Freiheitsbegriff bezogene) moralische Verbindlichkeit äußert sich in einem doppelten Freiheitsanspruch: Wir wollen, dass uns nur solche Handlungen zugerechnet werden, deren Autoren wir sind.17 Und wir verlangen nach Begründungen für Einschränkungen, die den äußeren Gebrauch unserer Freiheit betreffen. Begründungsbedürftig ist grundsätzlich die Einschränkung der Freiheit, nicht aber ihr Gebrauch.18 Dass wir diese Ansprüche erheben, ist Kants Verständnis nach ein normatives Faktum und funktionaler Ausdruck unserer praktischen Rationalität. Dass wir diese Ansprüche zu erheben gerechtfertigt sind, kann allerdings nur indirekt und zwar im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft (1781) geV-Anth/Mensch, AA 25: 1048. Ebd., 1050. 16 „Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch wird, d.i. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. Ein unmittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdann an der Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein genugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches Interesse ist allein rein“ (GMS, AA 04: 459 f. Anm.). 17 „Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjektiv-bestimmenden Ursachen […]. Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört“ (ebd., 457). Vgl. dazu Klemme, Grundlegung (wie Anm. 4), 212–216. 18 In seinen Vorlesungen über Anthropologie führt Kant im Rahmen seiner dort erläuterten Rede von den „formalen Neigungen“ aus, dass andere Personen niemals einen Grund haben können, uns nach ihrer Fasson glücklich zu machen. Nichts stößt uns mehr ab als ein Mensch, dessen inhaltliche Vorstellungen vom guten Leben ein Hindernis unserer Selbstbestimmung darstellen. Formale Neigungen unterscheiden sich von den „materiellen Neigungen“ (V-Anth/Mensch, AA 25: 1148) des Wohllebens, der Gemächlichkeit und Geschäftigkeit, die immer auf einen bestimmten Zweck gerichtet sind. Unter den „formalen Neigungen“, die man als Neigungen zweiter Stufe bezeichnen könnte, ist die der Freiheit besonders bemerkenswert: „Freyheit bedeutet die Befreyung von Hindernißen, nach unserer Neigung zu leben. Der Mensch, der behindert wird, nach seiner Neigung zu leben, ist nicht frey; […]. Diese Hindernisse also nach unserer Neigung zu leben, legen uns immer die Menschen: daher ist unsere Neigung der Freyheit, blos auf Menschen gerichtet. Dabey ists uns gantz gleichgültig, was wir für Absichten haben, und kein Übel ist uns so verhaßt, als wenn wir befürchten, daß ein anderer uns hindern wird, nach unserer Neigung glücklich zu leben. Die Neigung zur Freyheit ist unter allen Neigungen die gröste“ (ebd., 1142 f.). 14

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zeigt werden. Die Kritik führt den Nachweis, dass die Unmöglichkeit der (transzendentalen, praktischen) Freiheit unmöglich bewiesen werden kann.19 Der Determinismus (oder Fatalismus) bricht, woran Kant 1783 auch in seiner Rezension von Schulz! Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen erinnert,20 unter seiner Beweislast in sich zusammen. Wer auf der Grundlage der Idee der Freiheit und des mit ihr verknüpften Begriffs der Autonomie normative Ansprüche erhebt, ist in seinem Tun gerechtfertigt. Kant hat seine auf die Maximierung21 unseres Vernunftgebrauchs zielende, Autonomie und Verbindlichkeit, Aufklärung und Mündigkeit verknüpfende Philosophie der Freiheit bis zum Ende seiner philosophischen Tätigkeit bearbeitet und zu ergänzen versucht. Dies wird nicht zuletzt durch die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre deutlich. In den §§ 1–3 der „Einleitung“ in den ersten Teil der „Ethischen Elementarlehre“ der Tugendlehre erörtert er die Frage, ob der „Begriff einer Pflicht gegen sich selbst […] (dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch“22 enthält. Seine Ausführungen zur Bedeutung dieses Begriffs machen deutlich, dass Kant diesen Begriff in einer gegenüber seinen früheren Schriften erweiterten Bedeutung verwendet.23 Diese erweiterte Bedeutung soll im Folgenden (auch im abgrenzenden Vergleich mit alternativen Positionen seiner Zeit) vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Verbindlichkeit und (reiner) praktischer Vernunft expliziert werden. Es wird sich zeigen, dass Pflicht zum einen eine gewöhnliche Handlung bedeutet, zu deren Vollzug wir verbunden sind. (Dies entspricht der Definition in der Grundlegung.24) Pflicht kann sich zum anderen aber auch auf einen Zweck beziehen, dessen Befolgung die reine Vernunft selbst gebietet. In diesem Falle handelt es sich nicht etwa deshalb um eine Pflicht, weil es sich hierbei um eine gewöhnliche Handlung handeln würde. Vielmehr bezieht sich Kant auf einen Zweck, der (in Gestalt einer ihm entsprechenden Maxime) vom Menschen durch einen „Akt der Freiheit“25 ausdrücklich gewollt werden muss. Während der erstgenannte Siehe KrV A 776 f. / B 804 f. sowie Heiner F. Klemme, The antithetic between freedom and natural necessity. Garve!s problem and Kant!s solution, in: Corey Dyck, Falk Wunderlich (Hg.), Kant and his German Contemporaries, Cambridge 2018, 250–264. 20 Siehe RezSchulz, AA 08: 9–14. 21 Zum Konzept der Freiheitsmaximierung bei Kant siehe auch Paul Guyer, Kant!s Groundwork for the Metaphysics of Morals, London, New York 2007, 18–21 u. 110 sowie ders., Mendelssohn, Kant, and Religious Liberty, in: Kant-Studien 109 (2018), 309–328, bes. 322–328. 22 MS, AA 06: 417. 23 Zu einer detailgenauen Interpretation dieser Paragraphen siehe Jens Timmermann, Duties to Oneself as Such (TL 6: 417–420), in: Andreas Trampota, Oliver Sensen, Jens Timmermann (Hg.), Kant!s „Tugendlehre“, Berlin, Boston 2013, 207–219. 24 Siehe oben, Anm. 6. 25 MS, AA 06: 385. In der Grundlegung verweist Kant zwar darauf, dass jede Maxime neben einer Form auch eine Materie (einen Zweck) hat, und „daß das vernünftige Wesen als Zweck an sich 19

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Pflichtbegriff auf einer (wie ich sie nennen möchte) essentialistischen Verbindlichkeit beruht, erweitert sich der zweite zu einer volitiven Verbindlichkeit. Zwar hatte Kant bereits in der Grundlegung ausgeführt, dass jede Maxime einen Zweck (eine Materie) enthält, und „daß das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen“ muss.26 Dies entspricht jedoch der essentialistischen, nicht der erweiterten volitiven Konzeption der Verbindlichkeit, der gemäß die reine Vernunft uns zur Setzung bestimmter Zwecke verpflichtet. Weil das „vernünftige Wesen“ seiner „Natur“ (d. h. seinem Wesen) nach als „Zweck an sich selbst“ existiert, stellt dieser Zweck die einschränkende Bedingung aller meiner (aus meiner Sinnlichkeit stammenden) Zwecksetzungen dar.27 Dass ich einen „Akt der Freiheit“ vollziehen soll, um mir einen neuen Zweck zu setzen (der gewissermaßen in Konkurrenz zu den Zwecken steht, die wir uns als vernünftige Naturwesen setzen), davon ist in der Grundlegung nicht die Rede. Tatsächlich stellt Kant 1785 ausdrücklich die bloß negative Funktion des „Zwecks an sich selbst“ heraus: Da „in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens durchaus von allem zu bewirkender Zwecke abstrahiert werden muß (als der jeden Fall nur relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen, d.i. dem niemals zuwider ge-

selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse“ (GMS, AA 04: 436). Der „materiale Zweck“ (ebd., 428), der durch unser Wollen bewirkt werden soll, ist jedoch der „relative Zweck“. Sein Wert hängt von unserer subjektiven Wertschätzung ab. Dass wir auch den Zweck an sich selbst in der Welt bewirken (befördern), wenn wir die subjektiven Zwecke der Anderen befördern, davon ist 1785 nicht die Rede. An einer anderen Stelle stellt Kant in der Grundlegung heraus, dass wir zur Beförderung der „relativen Zwecke“ anderer Subjekte verpflichtet sind. Er begründet diese Pflicht wie folgt: „Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch soviel möglich meine Zwecke sein“ (ebd., 430). Verglichen mit der Position der Tugendlehre fehlt auch hier der entscheidende Gedanke: Dass die reine Vernunft uns verpflichtet, uns durch einen „Akt der Freiheit“ die Glückseligkeit des anderen zum Zweck zu machen. – Zum Begriff des Zwecks siehe auch Werner Euler, Die Tugendlehre im System der praktischen Philosophie Kants, in: Werner Euler, Burkhard Tuschling (Hg.), Kants „Metaphysik der Sitten“ in der Diskussion. Ein Arbeitsgespräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2009, Berlin 2013, 221–299, hier 247 ff. 26 GMS, AA 04: 436. In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ bestimmt Kant die Pflicht als die „Materie der Verbindlichkeit“: „Pflicht ist diejenige Handlung zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können“ (MS, AA 06: 222). 27 Kant leitet aus einem Sein ein Sollen ab. Da dieses Sein aber unser Wollen als reines Vernunftwesen betrifft, droht kein (naturalistischer) Fehlschluss.

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handelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß.“28 Die volitive Verbindlichkeit (und der mit ihr verknüpfte Begriff der Tugendpflicht) der Tugendlehre stellt eine Erweiterung der Konzeption der essentialistischen Verbindlichkeit dar. Da das „vernünftige Wesen“ als Zweck an sich selbst existiert, sind wir verbunden, uns in einem „Akt der Freiheit“ die Beförderung dieses Zwecks in dieser Welt zu bewirken. Die Wertschätzung des Menschen als eines Selbstzwecks schließt die auf der reinen Vernunft selbst gründende Verbindlichkeit ein, alle (moralisch erlaubten) Zwecke der Menschen bloß deshalb nach Möglichkeit zu befördern, weil sie von Menschen faktisch gewollt werden. Das Faktum individueller Zwecksetzung begründet eine (wenn auch weite) Verpflichtung. Ich nenne dies Kants Konzeption radikaler Humanität. Die Menschheit in meiner eigenen Person dient nicht nur als negatives Kriterium bei der Wahl von Maximen, deren Zweck die Befolgung der eigenen Glückseligkeit ist. Ich soll vielmehr die subjektiven Zwecke der Menschen bloß deshalb befördern, weil sie die Zwecke von Wesen sind, die als Zwecke an sich selbst existieren. III. Pflicht gegen sich selbst und Verbindlichkeit in der Tugendlehre In der „Einleitung“ in die „ethische Elementarlehre“ wendet sich Kant einer Frage zu, die in das Zentrum seiner Ethik weist: Wie ist der Begriff der Pflicht gegen sich selbst möglich, wenn „das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird“?29 Die Bedeutung dieser Frage liegt auf der Hand: Gäbe es keine Pflicht gegen sich selbst, dann könnte es nach Kant auch keine Pflicht gegen andere geben, „weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin.“30 Würde Kant davon ausgehen, dass uns Gott das moralische Gesetz gibt, wäre die Möglichkeit der Pflicht gegen sich selbst leicht erklärt: Es gibt Pflichten gegenüber sich selbst, weil Gott dies so gewollt hat.

GMS, AA 04: 437. MS, AA 06: 417. 30 Ebd., 418. Aus diesen Formulierungen wird bereits deutlich, dass die Rede von der Pflicht gegen sich selbst nicht im Sinne ähnlich lautender Formulierungen der Grundlegung zu verstehen ist (z. B. GMS, AA 04: 42 ff.). In den §§ 1–3 der Tugendlehre thematisiert Kant das grundsätzliche Problem, wie ich mich selbst verpflichten kann. Sie wird zwar auch in der Grundlegung im Rahmen seiner Ausführungen zur Möglichkeit eines kategorischen Imperativs angesprochen (vgl. ebd., 453–455), aber eben nicht in Gestalt einer drohenden Antinomie. 28 29

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Doch für Kant ist diese Auffassung nicht akzeptabel. Würde Verpflichtender und Verpflichteter zwei verschiedene Personen sein, wäre der Verpflichtete nicht der Grund (oder die Ursache) seiner eigenen Verpflichtung. Er wäre nicht autonom. Zwar spricht bereits Christian Wolff davon, dass der Mensch „vermittelst seiner Vernunfft“ sich selbst „ein Gesetze“ sei.31 Doch Kant vermag auch Wolffs Position nicht zu überzeugen. Zum einen geht Wolff davon aus, dass die (vernünftige) Natur die Quelle (obligatio activa) unserer natürlichen Verbindlichkeit (obligatio passiva) ist. Die Natur „verbindet uns die an sich guten Handlungen zu vollbringen und die an sich bösen zu unterlassen“.32 Qua seiner Vernunft ist der Mensch nach Wolff sich zwar selbst ein Gesetz; aber er ist auf das Studium der vernünftigen Natur angewiesen, um vernünftig zu werden. Wolff vertritt eine naturalistische Konzeption (wie wir sie nennen können) materialer Rationalität. Vernünftig zu sein bedeutet, die vernünftigen Handlungszwecke in der Natur zu erkennen. In keinem Fall ist es nach Wolff möglich, aus dem Begriff der Vernunft als solcher (wie Kant dies versucht) das moralische Gesetz abzuleiten. Wolff definiert die Vernunft als die „Einsicht in den Zusammenhang der Dinge“,33 nicht (wie Kant im Falle der reinen praktischen Vernunft) als Quelle reiner und somit formaler Begriffe der Freiheit. Dementsprechend wäre Kants Gedanke, dass der Mensch ein „mit innerer Freiheit begabtes Wesen“ ist,34 für Wolff nicht nachvollziehbar. Wolff kennt zwar spezielle Pflichten gegenüber sich selbst. Aber dass alle Verbindlichkeit auf der einer Selbstbeziehung im Wollen des Menschen beruht, so wie Kant dies in der Tugendlehre ausführt, wäre für ihn abwegig. Demnach stellt sich für Kant ein Problem, welches seine (beispielsweise von Wolffs Philosophie inspirierten) Zeitgenossen nicht haben, gerade weil Kant in der reinen Vernunft die Quelle der Verbindlichkeit und des Gesetzes sieht.35 Seine Lösung des Problems muss zwei Anforderungen erfüllen: Erstens darf die Pflicht gegenüber sich selbst nicht willkürlich gestiftet oder aufgehoben werden können. Würden sie auf der menschlichen Willkür beruhen, wäre sie nicht notwendig. Sie könnten nicht in einem Gesetz ausgedrückt werden. So wie sich der Mensch verpflichtet, könnte er sich auch entpflichten. Während Wolff den Begriff der freien Willkür (eine voluntaristische Position) durch Verweis auf den eine natürliche Christian Wolff, Vernünfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Deutsche Ethik), Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 4, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, New York 1976 (Frankfurt am Main, Leipzig 41733), § 24. 32 Ebd., § 12. 33 Ebd., § 23. 34 MS, AA 06: 418. 35 Den zwischen Verbindlichkeit und Gesetz bestehenden begrifflichen Zusammenhang, so wie ihn auch Kant anerkennt, hat Ludwig Julius Höpfner pointiert beschrieben: „Ein Satz, welcher eine Verbindlichkeit ausdrückt, heißt ein Gesetz“ (Ludwig Julius Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen und Gesellschaften und der Völker, Gießen 11780, 41788, § 6). 31

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Verbindlichkeit stiftenden ewigen und unveränderlichen Zusammenhang der Dinge zurückweist, muss Kant auf die Vernunft selbst als Quelle des moralischen Gesetzes (und damit von Verbindlichkeit und Pflicht) vertrauen. Mit anderen Worten: Ist das verpflichtende Subjekt die reine Vernunft, dann folgt die Notwendigkeit der Pflicht aus eben dieser Vernunft. Zweitens muss der Mensch selbst die „Ursache“36 der Verbindlichkeit sein, der er unterworfen ist. Verbindlichkeit muss zugleich in Begriffen der Urheberschaft (Autorschaft) und der Selbstbeziehung erläutert werden, nicht in Begriffen eines zwischen mir und einer anderen Person (dem äußeren Gesetzgeber) oder der Natur (der Schöpfung Gottes) bestehenden Zusammenhangs. Warum ist das so? Wäre der Mensch nicht die „Ursache“ (oder der ,Grund") dieser Verbindlichkeit, würde es schon deshalb etwas geben, was einen höheren Wert als er selbst hätte, weil es die Ursache von Verbindlichkeit und Gesetz ist. Stellt der Mensch (als Vernunftwesen) allerdings einen Zweck an sich selbst dar, dann muss er sich auch als Ursache der Verbindlichkeit verstehen. Wenn der Mensch „Ursache“ der Verbindlichkeit ist, muss er sich zugleich als dieser Verbindlichkeit unterworfen begreifen. Würde er nur ein anderes Subjekt verbinden, bedeutete dies, dass der Mensch bloß ein reines Vernunftwesen ist (was er nach Kant nicht ist). Ist der Mensch aber auch die Ursache seiner eigenen Verbindlichkeit, dann muss er sich zugleich aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten: Einerseits aus der Perspektive eines „vernünftigen Naturwesens (homo phaenomenon)“, welches sich durch die Bildung von Maximen regelhaft in seinem Handeln orientiert. Und andererseits als ein „mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon)“,37 das Ursache der Verpflichtung ist. Kants Lösung der Möglichkeit der Selbstverpflichtung setzt somit seine Lehre vom transzendentalen Idealismus voraus.38 Selbstverpflichtung ist möglich, weil das „verpflichtende sowohl als MS, AA 06: 418. Siehe auch GMS, AA 04: 450 („woher das moralische Gesetz verbinde“). MS, AA 06: 418. 38 In seiner Interpretation der Grundlegung macht Henry E. Allison von einem Perspektivenbegriff des transzendentalen Idealismus Gebrauch, der m. E. der Position Kants nicht gerecht wird. Seiner (gegen Karl Ameriks und Dieter Schönecker positionierten) Ansicht nach vermag das ,ontologische" Verständnis der intelligiblen Welt bei Kant nicht die „normative superiority“ (Kant!s Groundwork for the Metayphysics of Morals. A Commentary, Oxford 2011, 351) der Gesetze der intelligiblen Welt zu erklären. Um Kant zu ,retten", müsse man Kants transzendentalen Idealismus daher im Sinne von Sellars! Unterscheidung zwischen dem Raum der Gründe (intelligible Welt) und der Ursachen (sensible Welt) verstehen. Wie immer es um die systematische Tragfähigkeit von Kants Position beschaffen sein mag, scheint Kant selbst doch eine von Allison recht verschiedene Auffassung zu vertreten: Unsere praktischen normativen Ansprüche können nur unter der Annahme gerechtfertigt werden, dass unser „eigentliches Selbst“ (MS, AA 04: 457) nicht den Bedingungen der raum-zeitlich bestimmten Welt unterliegt. Demnach geht der performative Sinn praktischer Aussagen bei Kant Hand in Hand mit einer metaphysischen, nicht mit einer bloß logischen Unterscheidung zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Freiheit. 36 37

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das verpflichtende Subjekt […] immer nur der Mensch“ ist,39 der sich zugleich aus zwei verschiedenen Perspektiven oder Standpunkten betrachten kann. Wie wir bereits gesehen haben, besteht ein wesentlicher Aspekt von Kants Auffassung der Verpflichtung darin, dass er sie durch den Begriff der Nötigung erläutert.40 Wenn er die im Begriff der Verbindlichkeit zum Ausdruck gebrachte normative Selbstbeziehung als Nötigung beschreibt, will er seinen dualistischen Ansatz zwischen verpflichtenden und verpflichteten Subjekt nicht überwinden; er erklärt ihn vielmehr als im Prinzip unüberwindbar. Nötigung ist ein konstitutives Element der Verbindlichkeit. Sie ist Ausdruck einer Hierarchie zwischen reiner Vernunft und sinnlich bedingter Willkür. Somit behauptet Kant im Unterschied zu Wolff nicht nur einen fundamentalen Unterschied zwischen Vernunft und Wollen; er behauptet auch, dass es einen signifikanten Unterschied, eine grundsätzliche Differenz zwischen Vernunftnatur und Sinnlichkeit gibt. Wenn der Begriff der Nötigung konstitutiv für den Begriff der Verbindlichkeit ist, widerspricht er dann nicht dem Begriff der Freiheit? Offenbar dann und nur dann nicht, wenn der Mensch als Vernunftwesen „Ursache“ dieser Verbindlichkeit ist. Die im Moralgesetz zum Ausdruck gebrachte Verbindlichkeit ist eine Nötigung zur Freiheit: Der Mensch ist nach dem kategorischen Imperativ verbunden, nur nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. Diese Gesetzgebung ist eine Gesetzgebung aus Freiheit: Wir können dies die essentialistische Konzeption der Verbindlichkeit nennen: Weil das Moralgesetz das Gesetz eines zugleich reinen und freien Vernunftwesen ist, ist der Mensch durch dieses Gesetz im Gebrauche seiner (Willkür-)Freiheit gebunden.41 Diese Verbindlichkeit wird durch den kategorischen Imperativ ausgedrückt. Der Grund der Verbindlichkeit besteht im Wesen der Vernunftnatur des Menschen. Die Vernunft gibt das Gesetz der Freiheit, von dem die Verbindlichkeit ausgeht.42 Die Verbindlichkeit gründet sich nicht auf einen Willensakt sei es des reinen Vernunftwesens (im Menschen) oder des Menschen. MS, AA 06: 418 f. Vgl. VATL, AA 23: 390–394. Zum Begriff der Nötigung siehe auch den Beitrag von Gabriel Rivero („Von der Abhängigkeit zur Notwendigkeit. Kants Perspektivwechsel in der Auffassung der Verbindlichkeit zwischen 1784 und 1797“) in diesem Band. 41 Kant führt in der Grundlegung aus, dass „vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“ (GMS, AA 04: 428). Guyer vertritt die Ansicht, dass Kant „Natur“ hier im Sinne einer naturalistischen Interpretation des Begriffs der Humanität versteht (vgl. Guyer, Kant!s Groundwork [wie Anm. 21], 107). Dies scheint mir jedoch ein Missverständnis zu sein. „Natur“ bedeutet an dieser Stelle „Wesen“, und das Wesen der Person kann nicht durch empirische Prädikate beschrieben werden. 42 In der Grundlegung bezieht Kant diesen Gedanken prinzipiell auf das zwischen Verstandesund Sinnenwelt bestehende Verhältnis: „Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, 39

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Ich habe in den bisherigen Ausführungen ohne nähere Erläuterungen Gebrauch von den Begriffen „Verpflichtung“ und „Pflicht“ gemacht. Tatsächlich scheint Kants Verwendungsweise dieser beiden Begriffe in der Tugendlehre nicht einheitlich zu sein. Warum spricht er in der Überschrift des § 1 der „Einleitung“ in die „Ethische Elementarlehre“ vom „Begriff einer Pflicht gegen sich selbst“ und nicht von „Verbindlichkeit“ oder „Verpflichtung“, auf die er im Fließtext des § 1 mehrfach in verschiedenen Wortformen zurückgreift? In § 2 behauptet Kant, dass es ohne „Pflichten des Menschen gegen sich selbst […] überhaupt gar keine, auch keine äußeren Pflichten geben“ würde.43 Wäre es nicht korrekter, an dieser Stelle von Verbindlichkeit oder Verpflichtung zu sprechen? Schließlich wird die Verbindlichkeit durch den kategorischen Imperativ zum Ausdruck gebracht, und ohne den kategorischen Imperativ, der auf einer Beziehung zwischen dem „eigentlichen Selbst“44 des Menschen und des Menschen als Naturwesens beruht, kann es gar keine Pflichten geben. Um zu verstehen, warum Kant den Begriff der Pflicht wählt, muss zunächst geklärt werden, was er speziell in der Metaphysik der Sitten unter Verbindlichkeit und Pflicht versteht. Wenden wir uns kurz dem Abschnitt über die „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten. (Philosophia practica universalis)“ in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ zu. Dort definiert Kant die Verbindlichkeit (obligatio) als „Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“45 Unter Pflicht versteht Kant dagegen „diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.“46 Unter Rückgriff auf Kants Unterscheidung zwischen der Form und der Materie einer Handlung, können wir sagen, dass die Verbindlichkeit die Form der Handlung ausdrückt. Die Form der Handlung besteht in ihrer Notwendigkeit, die durch den kategorischen Imperativ ausmithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren d.i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen“ (GMS, AA 04: 453 f.). In einer Vorarbeit zur Tugendlehre schreibt Kant: „Die moralisch practische Vernunft in uns das ist die Menschheit (homo noumenon) die uns Gesetze giebt“ (VATL, AA 23: 398). 43 MS, AA 06: 417. „Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur sofern ich zugleich mich selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin“ (ebd., 417 f.). 44 Ebd., 457. 45 Ebd., 222. 46 Ebd.

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gedrückt wird.47 Die Verbindlichkeit als die Form einer jeden Handlung, die die reine Vernunft von uns verlangt, wird durch den kategorischen Imperativ ausgesagt: „Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.“48 Mit dieser Definition eröffnet Kant das Feld für seine Unterscheidung zwischen der juridischen (äußeren) und der ethischen (inneren) Gesetzgebung, zwischen äußerem Zwang (Recht) und innerem Zwang (Tugend). Der kategorische Imperativ fordert uns auf, uns durch unsere Maximen (Grundsätze) als „allgemein gesetzgebend zu denken“. Aber er lässt uns nicht unmittelbar erkennen, worin unsere Pflichten bestehen. Dies kann erst gelingen, wenn zwischen der äußeren und inneren Gesetzgebung unterschieden wird. Inwiefern stellt nun die Pflicht „die Materie der Verbindlichkeit“ dar? Insofern, als sie eine Handlung bezeichnet, zu deren Vollzug wir verbunden sind. Da die Materie der Handlung in ihrem Zweck besteht, stellt die Pflicht eine durch ihren konkreten Zweckbezug charakterisierte Handlung dar.49 Kehren wir zum Gedankengang der Tugendlehre zurück. In den §§ 1–3 behauptet Kant, dass ich mich selbst verpflichte. Doch diese Aussage scheint mit einer anderen Aussage zu konfligieren. In dieser bedeutet Kant, dass die „eigene praktische Vernunft“ das Gesetz gibt, „kraft dessen ich mich für verbunden achte“50. Dass ich mich für verbunden achte, ist demnach nicht etwas, was aus einem besonderen Aktus hervorgehen würde, den ich vollziehe und durch den ich mich selbst verpflichte. Ich bewirke aus Freiheit nicht etwas, was es zuvor noch nicht gegeben hat. Vielmehr bin ich immer schon durch die reine Vernunft verbunden, meinen Willen in bestimmter Weise zu gebrauchen. Dass ich mich „für verbunden achte“ ist ein Widerfahrnis, nicht etwas, was ich aus eigenem Entschluss vollziehen oder nicht vollziehen könnte. Ich bin (im Bewusstsein des kategorischen Imperativs) immer auch ein ,leidender" Beobachter der Wirkung der reinen Vernunft auf mich als wollendem Menschen. Verbindlichkeit ist ein selbstbewirktes Widerfahrnis. Nur unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus kann ich davon sprechen, dass ich mich selbst verbinde. Ohne Metaphysik keine Verbindlichkeit. Die reine Vernunft (die ich selbst bin) gibt mir (als Menschen) das Gesetz. Mit anderen Worten: Es wäre durchaus mit Kants Konzeption der Autonomie vereinbar, mich durch meine eigene Vernunftnatur verbunden zu fühlen (oder zu achEbd., 222 f. Ebd., 225. 49 Obwohl die äußere Gesetzgebung es jedem Handelnden einerseits frei stellt, um welches Zweckes willen er dem äußeren Gesetz Folge leistet, fordert ihn die reine Vernunft doch auf, die Rechtsbefolgung generell als eine ethische Pflicht zu betrachten. Ohne ihren Bezug auf den kategorischen Imperativ (vgl. vor allem ebd., 239), würde das Privat- und Öffentliche Recht seine spezifisch moralische Normativität verlieren. 50 Ebd., 417. 47 48

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ten), ohne dass diese Verbindlichkeit einen besonderen Willensakt verlangen würde, durch den ich mir selbst einen bestimmten Zweck setze. Ich hatte dies die essentialistische Konzeption der Verbindlichkeit genannt. Diese essentialistische Konzeption der Verbindlichkeit jedenfalls scheint, wie bereits ausgeführt, der Stand der Dinge in der Grundlegung zu sein. Wenn Kant in der Tugendlehre nicht nur von „Nötigung“ sondern auch von einem „freien Selbstzwang“ spricht, zieht er eine Analogie zum „äußeren Zwang“51 in der Rechtslehre. Aber „Nötigung“ und „freier Selbstzwang“ sind keine bedeutungsgleichen Ausdrücke. Kant thematisiert in den §§ 1–3 der Tugendlehre auch das Problem der Verbindlichkeit. Aber er vermischt dieses Problem mit einer Thematik, die sich ihm unter dem Begriff „Tugendpflicht“ zum ersten Mal in der Tugendlehre stellt. Mit der „Tugendpflicht“ ändert sich das Bedeutungsgefüge der Begriffe „Verbindlichkeit“ („Verpflichtung“) und „Pflicht“ auf eine Weise, wie sie selbst nach dem Sachstand der Einleitung in die Metaphysik der Sitten nicht erwartet werden konnte. Wenden wir uns der Einleitung zur Tugendlehre etwas näher zu. In ihr bezieht Kant den Begriff des „freien Selbstzwanges“ nicht (wie den Begriff der Nötigung) prinzipiell auf die Beziehung, in der die zugleich reine und praktische Vernunft zum Willen des Menschen steht. Es geht nicht darum, den normativen Effekt, den das Gesetz auf den Menschen hat, durch einen mit dem Begriff der Nötigung bedeutungsgleichen Begriff zu erläutern. Vielmehr geht es darum, den menschlichen Willen als auf einen Zweck bezogen zu denken, den sich zu setzen der Mensch verpflichtet ist. Nur weil der Mensch unter dem moralischen Gesetz steht, kann er sich als verpflichtet denken. Und weil er sich als verpflichtet denken kann, vermag er den Begriff eines Zwecks zu denken, den zu verfolgen er verpflichtet ist. Was ist das für ein Zweck? Es ist ein Zweck, den uns die reine praktische Vernunft zu befolgen verpflichtet: Wir sind verpflichtet, uns selbst dadurch zusätzlich zu der bereits bestehenden (allgemeinen) Verpflichtung (handle nur nach Maximen einer allgemeinen Gesetzgebung) durch das Setzen eines Zweckes zu verpflichten, den uns die reine praktische Vernunft selbst gibt. Ich soll ,aus Freiheit" einen Zweck setzen, den ich als bloßes Vernunftwesen mir nicht setzen würde. Es ist ein Akt des „freien Selbstzwangs“, d. h. ich nötige mich selbst. Finde ich mich bei der essentialistischen Verbindlichkeit als verpflichtet vor, muss ich bei der volitiven Verbindlichkeit meinen Willen gebrauchen. Sicherlich mutet der Gedanke eines über die bereits durch die allgemeine Verbindlichkeit, die der kategorische Imperativ zum Ausdruck bringt, hinausgehen„Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden, daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwang allein beruht“ (ebd., 383). 51

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den „freien Selbstzwanges“ seltsam an. Wie könnte ich verpflichtet sein, mich selbst zu verpflichten? Doch in dieser Frage steckt auch schon die Antwort: Als Mensch nehme ich mich als durch die reine Vernunft verpflichtet wahr (eine Verpflichtung, die durch den kategorischen Imperativ ausgedrückt wird), einen Akt zu vollziehen, durch den meine im kategorischen Imperativ ausgedrückte allgemeine Verbindlichkeit durch meine Handlungen wirksam werden können.52 Ich muss mich nötigen zu tun, was zu tun notwendig ist, um meine Pflicht zu erfüllen. Ich muss mir einen Zweck setzen. Was bedeutet das? Ein „Zweck“, definiert Kant, ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck. Und da niemand einen Zweck haben kann, ohne den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben.53

Darin also besteht der entscheidende Unterschied zwischen der essentialistischen und der volitiven Verbindlichkeit: Um mich als verpflichtet zu denken, nach dem Moralgesetz zu handeln, bedarf es meinerseits keines „Aktes der Freiheit“. Ich bin verpflichtet, weil ich eine Vernunftnatur (homo noumenon) habe. Aber nach einem bestimmten Zweck zu handeln, setzt diesen „Akt der Freiheit“ sehr wohl voraus. Es gibt keine Handlung, deren Zweck mir einfach so gegeben wird. Vielmehr kann mir eine Handlung nur deshalb zugerechnet werden, weil ich den Zweck will, ihn mir als Objekt meines Wollens setze. Besondere Bedeutung kommt diesem Gedanken nur für den Begriff der Tugendpflicht zu: Wenn die reine Vernunft praktisch ist (woran wir aufgrund unseres Bewusstseins des kategorischen Imperativs in praktischer Hinsicht gar nicht zweifeln können), dann bedürfen wir neben dem Gesetz auch eines Zweckes, der aus „der reinen praktischen Vernunft“ folgt.54 Gäbe es diesen Zweck (oder diese Zwecke) nicht, würde der kategorische Imperativ Handlungen von uns verlangen, deren Zwecke nicht geboten wären. Alle Zwecke würden aus unserer Sinnlichkeit folgen, nicht aus reiner Vernunft. „Denn gäbe es keine dergleichen [i. e. Zwecke, H.K.], so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gel-

Kant greift also gewissermaßen auf Wolffs Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Verbindlichkeit zurück, deutet sie aber im Rahmen seiner Idee, dass der Mensch nur denjenigen Gesetzen unterworfen ist, die er sich selbst gibt, völlig neu. 53 MS, AA 06: 385. 54 Ebd. 52

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ten, und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich, welche alle Sittenlehre aufhebt.“55 Die Verpflichtung, sich selbst zu einer Handlung zu verpflichten, erläutert Kant durch die Differenz zwischen Autonomie und Autokratie. Für endliche, heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können) gibt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben, d.i. ein, wenngleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden.56

Dass die Autonomie auch eine Autokratie ist, stellt für einen Leser, der mit Kants bisherigen moralphilosophischen Schriften vertraut ist, in der Tat eine Neuerung dar. Autokratie bedeutet Selbstherrschaft, und diese Selbstherrschaft wird dadurch ausgeübt, dass man sich eine Willensstärke bei der Befolgung derjenigen Zwecke verschafft, die Kant „Tugendpflichten“ nennt.57 Zwar ist die Autokratie nicht das „principium der Moral“.58 Das Prinzip der Moral ist die Autonomie. Aber ohne Autokratie würden wir oft genug den Versuchungen des Lasters erliegen. Uns fehlte die für tugendhafte Praxis erforderliche Willensstärke. Als reine Vernunftwesen geben wir Menschen uns das Gesetz; aber als zugleich mit Neigungen begabte Menschen sind wir zum Erwerb einer Herrschaft über uns selbst verbunden, die uns subjektiv zu tun befähigt, was wir durch unsere reine Vernunft zu tun verbunden sind. Für uns gilt: Autokratie ohne Autonomie ist blind; Autonomie ohne Autokratie ist wirkungslos. Ebd. Ebd., 383. In einer Vorarbeit zur Tugendlehre heißt es: „Tugend ist die moralische Stärke (fortitudo moralis) in Befolgung seiner Pflicht. Sie setzt objective Nöthigung durchs Gesetz d.i. Pflicht voraus und ist darin von der Heiligkeit unterschieden. Sie ist aber sich dieser nöthigenden Ursache als in dem Willen des Subjects selber enthalten bewust und einer Autocratie (nicht blos Autonomie) des moralischen Gesetzes gegen alle entgegenstehende Antriebe der Sinnlichkeit (Neigungen)“ (VATL, AA 23: 396). 57 Zum Begriff der Autokratie in der Tugendlehre siehe Peter König, Autonomie und Autokratie. Über Kants Metaphysik der Sitten, Berlin, New York 1994, 192–198 u. 228–230. Zu den Spezifika von Kants Begriff der Tugend im Kontext der deutschen Schulphilosophie (Chr. Wolff, Georg Friedrich Meier, Johann Christoph Gottsched) siehe Heiner F. Klemme, Über den Begriff einer „Metaphysik der Tugend“. Die Vorrede zur „Tugendlehre“, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant, Tugendlehre (= Klassiker auslegen), Berlin, Boston (im Druck). 58 So eine Formulierung aus den Jahren 1776/78: „Das principium der moral ist autocratie der freyheit in Ansehnung aller Glückseeligkeit oder die Epigenesis der Glückseeligkeit nach allgemeinen Gesetzen der freyheit“ (Refl. 6867, AA 19: 186; vgl. Guyer 2007, Kant!s Groundwork [wie Anm. 21], 21). Siehe auch den Abschnitt „Von der Oberherrschafft über sich selbst“ in der studentischen Nachschrift von Kants Vorlesung über Moralphilosophie aus der Mitte der 1770er Jahre (Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. von Werner Stark, Berlin 2004, 202–215). 55 56

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Allerdings richtet sich die Tugendpflicht nicht einfach auf die Befolgung eines Zweckes. Als rationale Akteure handeln wir nach Regeln (Maximen). Sich einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, bedeutet, verpflichtet zu sein, sich eine entsprechende Maxime zu bilden. Demnach gibt es zwei verschiedene Arten von Maximen, weil es zwei verschiedene Arten von Zwecken gibt: Maximen, die Mittel zur Beförderung von Zwecken sind, die aus unserer Sinnlichkeit stammen (und durch die Anwendung des kategorischen Imperativ auf ihre Gesetzeskonformität überprüft werden). Und eine Maxime, die wir bilden sollen, weil es Zwecke gibt, die zugleich Pflichten darstellen.59 Tugendpflichten sind Pflichten, weil es sich um Handlungen in einem doppelten Wortsinne handelt. Zum einen stellen diese Pflichten Handlungen dar, weil ich einen „Akt der Freiheit“ vollziehen muss. Es ist meine Pflicht, mir bestimmte Gegenstände zum Zweck meines Wollens zu machen. Zum anderen stellen sie Handlungen dar, weil aus ihren Maximen Handlungen in Raum und Zeit folgen. Schließlich beziehen sich Tugendpflichten auf die Tugend des Menschen, weil die Vernunft selbst ihre ständige und dauernde Befolgung verlangt, d. h. eine entsprechende Willensstärke voraussetzen, gemäß dieser Maximen zu handeln. Anders formuliert: Sich einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, bedeutet konkret, sich einen Charakter zu verschaffen, der stark genug ist, angesichts gegenläufiger Neigungen seine Pflichten zu erfüllen.60 Es ist eine Pflicht, Pflichten langfristig und gehaltvoll vollziehen zu können. Dazu ist Tugend erforderlich. Nicht jede Tugend ist jedoch eine Tugendpflicht „Jenes [i. e. die Tugend, H.K.] kann bloß das Formale der Maximen betreffen, diese [i. e. die Tugendpflicht, H.K.] aber geht auf die Maxime derselben, nämlich auf einen Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird.“61 Es reicht nicht aus, tugendhaft zu sein, weil sich die Vernunft nicht nur auf das Förmliche unserer Maxime bezieht. Es reicht nicht aus, den Menschen nicht als bloßes Mittel zu seinen eigenen Zwecken zu gebrauchen, so wie Kant dies in der Selbstzweckformel der Grundlegung zum Ausdruck gebracht hat. Vielmehr ist es „an sich selbst des Menschen Pflicht“, „den Menschen „Der Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist, welcher der Ethik eigentümlich zugehört, ist es allein, der ein Gesetz für die Maximen der Handlungen begründet, indem der subjektive Zweck (den jedermann hat) dem objektiven (den jedermann dazu machen soll) untergeordnet wird. […] der Zweck, der zugleich Pflicht ist“, kann es zu „einem Gesetz machen […], eine solche Maxime zu haben, indessen daß für die Maxime selbst die bloße Möglichkeit, zu einer allgemeinen Gesetzgebung zusammenzustimmen schon genug ist“ (MS, AA 06: 389). 60 Siehe ebd., 380 u. 394. Kant unterscheidet zwei Zwecke, die zugleich Pflichten sind (Tugendpflichten): Die eigene Vervollkommnung und die fremde Glückseligkeit. Warum gerade diese beiden? Weil sie auf einem „freien Selbstzwang“ beruhen (also ungern vollzogen werden) und ihr Ziel auch erreichen können (was im Falle der fremden Vollkommenheit nicht möglich ist). 61 Ebd., 394 f. 59

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überhaupt sich zum Zwecke zu machen.“62 Kant nennt dies das „oberste Prinzip der Tugendlehre“: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“63 Zugleich weist er darauf hin, dass dieser „Grundsatz der Tugendlehre“ ein „kategorischer Imperativ“ ist, der „keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ erlaubt.64 Wie lautet diese Deduktion? Kant führt folgendes aus: Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Pflicht heißt.65

IV. Radikal human Kant erweitert in der Tugendlehre seinen Pflichtbegriff um eine Konzeption volitiver Verbindlichkeit. Dass wir uns bestimmte Zwecke setzen sollen, bezeichnet er als eine Pflicht, die sich von den gewöhnlichen Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber anderen dadurch unterscheidet, dass sie im Ergebnis zur Formulierung eines obersten Prinzips bzw. einer obersten Maxime führt. Aus einem rein negativen wird ein positives Handlungsprinzip, dass auf die Beförderung aller (moralisch erlaubten) subjektiven Handlungszwecke der Menschen zielt. Ohne Übertreibung können wir dies die Position der radikalen Humanität nennen. Was meine ich damit? Nach dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ darf ich den Menschen nicht nur nicht zum bloßen Mittel für meine subjektiven Zwecksetzungen gebrauchen. Vielmehr ist es meine Pflicht, mir „den Menschen überhaupt“66 zum Zweck zu machen. Das mag wie eine Formulierung aus der Grundlegung oder aus der Kritik der praktischen Vernunft (1787/88) klingen. Tatsächlich geht sie über deren Theoriestand aber weit hinaus. Dies wird deutlich, wenn wir uns nochmals der „Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ zuwenden. Die Kernaussage dieser Deduktion lautet: „Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie 62 63 64 65 66

Ebd., 395. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt“.67 Welcher Zweck „kann“ im Verhältnis der Menschen zu sich und anderen Zweck sein? Offenbar jeder, der nicht der reinen praktischen Vernunft und der allgemeinen Verbindlichkeit widerspricht, so wie sie durch den kategorischen Imperativ ausgedrückt wird. Warum sollte ich aber ein Interesse an der Beförderung dieser möglichen Zwecke nehmen, wenn sie von einem Menschen wirklich gewollt werden? Weil ich das Vermögen, nach Zwecken zu handeln, schätze. Daran nehme ich faktisch ein Interesse. Wer seine eigene Vernunft schätzt, muss auch die Zwecke schätzen, die sich ein Vernunftwesen selbst setzt. Demnach behauptet Kant nicht, dass ich meine eigene Humanität (die reine Vernunft) in mir schätzen muss, weil ich ansonsten meine subjektiven Zwecke nicht schätzen könnte. Kant formuliert (wie Christine Korsgaard meint) kein „transzendentales Argument“,68 welches die Bedingung nennt, unter der ich mich als eine meine partikulare Identität schätzendes Wesen begreifen kann. Ganz im Gegenteil schließt er von unserer Wertschätzung unserer praktischen Rationalität auf unsere Verpflichtung, alle subjektiven Zwecke, die sich Menschen setzen mögen, zu befördern. Diese Schätzung betrifft nicht nur die eigenen, sie umfasst auch die Zwecksetzungen anderer Personen. Wir nehmen vernünftigerweise ein Interesse an den subjektiven Zwecken der Menschen, weil wir sie als Vernunftwesen schätzen. Dass diese subjektiven Zwecke ihren Ursprung in unserer Sinnlichkeit haben, macht den spezifisch humanen Charakter von Kants „oberstem Prinzip der Tugendlehre“ aus. Mit diesem Prinzip verankert Kant unsere Pflicht, die Zwecke der Anderen zu befördern, in einem direkt auf die reine Vernunft selbst zurückgehenden Gebot. Unsere Wertschätzung soll der praktischen Vernunft der Menschen, nicht nur ihrer reinen praktischen Vernunft gelten. Wir sollen die Zwecke der Anderen befördern, obwohl sie uns inhaltlich betrachtet ganz fremd sein mögen. Wir achten die subjektiven Zwecksetzungen der Anderen, weil ihre Tätigkeit Ausdruck ihrer praktischen Rationalität ist. Aber diese Achtung bezieht sich – auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich zur Sprache bringt – auch auf unsere eigenen relativen (subjektiven) Zwecke: Wir achten unsere subjektiven Zwecke, unser Streben nach Erfüllung und Glück, auch und gerade deshalb, weil die reine Vernunft ein Interesse an unserer praktischen Rationalität nimmt. Dass Kant diesen Gedanken nicht expliziert, mag dem Umstand geschuldet sein, dass wir unser Glück immer schon als Natur- und Sinnenwesen schätzen. Doch das ist sicherlich nicht die ganze Wahrheit. Es bedeutet für uns in normativer Perspektive einen Unterschied, ob wir in moralischer Hinsicht bloß die Erlaubnis haben, unser Glück innerhalb der Grenzen des Moralgesetzes zu suchen. Oder ob wir unserem 67 68

Ebd. Christine M. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 125.

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Glücksstreben auch einen für die Moral selbst positiven Effekt abgewinnen können. Dass wir moralisch verpflichtet sind, die „relativen Zwecke“69 der Menschen, deren Wert einzig und allein von ihren besonderen Begehrungsvermögen abhängt, zu befördern, gibt auch unserem eigenen Streben nach Glückseligkeit zumindest einen (positiven) moralischen Beigeschmack. In der Beförderung der „relativen Zwecke“ bewirken wir eine Welt, in der Menschen als Zwecke an sich selbst existieren. Kants Philosophie der Freiheit ist radikal und – wie hier nur angedeutet werden konnte – umfassend human. Judith N. Shklar hat sich im Rahmen ihres Liberalismus der Frucht auf Kant als Kronzeugen bezogen: „Das vollendete Portrait eines mustergültigen Liberalen findet sich in Kants Tugendlehre, die uns detailliert die Gesinnung einer Person beschreibt, die andere Menschen ohne Herablassung, Arroganz, Demut oder Furcht respektiert. Er oder sie beleidigt andere nicht durch Lügen oder Grausamkeit, die den eigenen Charakter nicht weniger verderben als sie das eigene Opfer verletzen.“70 Gäbe es an ihrer Beschreibung etwas auszusetzen, dann beträfe es die Betonung der Unterlassung. Denn Kants moralische Person vermeidet nicht nur die Bewirkung von Furcht und Grausamkeit. Sie will anderen nicht nur nicht schaden. Diese Person ist vielmehr bereit, die subjektiven Zwecke der anderen bloß deshalb zu befördern, weil sie von ihnen gewollt werden. Diese Person hat eine feste „Denkungsart“ erworben, sie hat Tugend, d. h. „das Vermögen der Beherrschung seiner Neigungen als Hindernisse der practischen Vernunft; also der Herrschaft über sich selbst.“71 Kants Lehre von der Tugendpflicht entpuppt sich damit als später Beitrag zu einer Epochen-Debatte: Wir sind nicht nur verpflichtet, nicht nach Maximen zu handeln, die die Überprüfung durch den kategorischen Imperativ nicht standhalten. Wir sind auch dazu verpflichtet, die Unmündigkeit der Menschen in Theorie und Praxis zu überwinden. Die Freiheit ist „die wahre Majestät des Menschen“.72 Die „wahre Bestimmung“ der praktischen Vernunft liegt in der Hervorbringung eines „an sich selbst guten Willen“.73 Dafür müssen wir etwas tun. Wir müssen uns anstrengen. Wir müssen uns als moralische Subjekte erhalten und unsere Freiheitsspielräume erweitern, um die subjektiven Zwecke aller Menschen GMS, AA 04: 428. Judith N. Skhlar, Der Liberalismus der Furcht, Berlin 2013. 71 VATL, AA 23: 388. 72 V-Anth/Collins, AA 25: 30. In der (nicht sicher datierten) Reflexion 6856 führt Kant aus: „Die würde der Menschlichen Natur liegt blos in der freyheit; durch die könen wir allein irgend einiges Gutes würdig werden. Aber die würde eines Menschen (würdigkeit) beruht auf dem Gebrauch der freyheit, da er sich alles Guten würdig macht. Er macht sich aber dessen würdig, wenn er sich, soviel in seinem naturtalent liegt und als äußere Einstimung anderer freyheit erlaubt, auch theilhaftig macht“ (Refl 6856, AA 19: 181). 73 GMS, AA 04: 396. 69 70

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befördern zu können. Die reine Vernunft fordert in ihrer Unparteilichkeit die Beförderung aller Zwecke, die sich die praktische Vernunft im Rahmen des Moralgesetzes setzen mag. Mit Blick auf die Beförderung subjektiver Zwecke kennt die reine praktische Vernunft keine Differenz zwischen mir und dem Anderen.74 Bereits in seiner Anthropologievorlesung von 1781/82 verweist Kant auf die politischen und sozialen Implikationen seines Vernunft- und Freiheitsbegriffs. „Autorität und Zwang verengen die Begriffe, Freiheit erweitert sie. Kein Volk hat, bis auf die geringsten Menschen herab, so viel Verstand als das englische“.75 Weniger gut steht es dagegen um die Schweizer: Man erweitert seine Gesinnung, wenn man auch an das Weltbeste denkt. Der Patriotismus ist nur ein enger Begriff, und kein erweiterter; daher haben Einige, vorzüglich Schweitzer, mit Unrecht dagegen declarirt, daß man die cosmologische Gesinung annimmt, und immer auf das Weltbeste, und nicht so sehr auf das Beste des Landes, worin man lebt, sieht; sie haben den Patriotismus, wenn er auch mit dem Untergange anderer Menschen und Staaten verbunden wäre, sehr hoch gepriesen.76

Dass Kants Position radikaler Humanität in ihrer Bedeutung für seine Philosophie der Freiheit bisher nicht umfassend gewürdigt wurde, ist bedauerlich. Der kategorische Imperativ ist kein wirklichkeitsfremdes und über den ,eigentlichen" Interessen der Menschen stehendes Moralprinzip. Sein formaler Charakter öffnet vielmehr den Blick für die Kontingenz unserer subjektiven Zwecksetzungen. Er fordert Distanz gegenüber unseren eigenen Zwecksetzungen und Nähe zu den Zwecksetzungen der anderen Menschen. Obwohl sie als solche betrachtet keinen moralischen Wert haben, sind unsere subjektiven Zwecksetzungen nicht moralisch irrelevant. Sie sind Ausdruck unserer praktischen Freiheit, die wir ganz einfach deshalb über alles schätzen, weil wir an ihr ein in ihrer Vernunft selbst begründetes Interesse nehmen. Das durch die reine Vernunft selbst in uns bewirkte Interesse für sich verbindet uns, selbst zu denken, unsere Unmündigkeit zu überwinden und einen Zustand anzustreben, in dem wir uns gemeinsam als

Kants Lehre von den Tugendpflichten steht in einer Tradition des (wie man ihn nennen könnte) normativen Egalitarismus, wie er in der deutschen Frühaufklärung auch von Christian Wolff vertreten wurde. Wolffs Auffassung nach fallen die Pflichten gegenüber anderen Personen mit den Pflichten gegenüber uns selbst zusammen. Die Natur will nicht nur, dass wir uns selbst vervollkommnen. Sie fordert von uns auch, dass wir die Vervollkommnung anderer Personen – so viel an uns ist – befördern. Würden wir diese Pflichten gegenüber anderen nicht befolgen, würden wir auch unsere eigene Vollkommenheit nicht befördern können. „[S]o sind die Pflichten gegen andre mit den Pflichten gegen uns einerley. Was wir demnach uns schuldig sind, das sind wir auch anderen schuldig. […] es hat demnach der Mensch, so viel an ihm ist, auch darnach zu streben, daß er anderen eben dazu verhilft, wozu er gelanget ist“ (Wolff, Deutsche Ethik [wie Anm. 31], § 768). 75 V-Anth/Mensch, AA 25: 1042. 76 Ebd., 1040 f. 74

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freiheitsfähige Subjekte erhalten und darstellen können. Ohne Vernunftinteresse kein Aufklärungsinteresse. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre (1797) erweitert Kant seine erstmals in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) entwickelte essentialistische (formale) Konzeption der Verbindlichkeit um ein volitives (materiales) Element. Wir sind nicht nur verpflichtet, nach Maximen zu handeln, die sich als allgemeine Gesetze denken lassen; wir sind auch verpflichtet, uns bestimmte Zwecke zu setzen. Kants neue Zwecksetzungslehre ist nicht nur Ausdruck seines radikal humanen Standpunktes. Mit ihr leistet er auch einen späten Beitrag zu seinem Verständnis der (Un-)Mündigkeit, so wie er sie in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) skizzierte. In the Metaphysical First Principles of the Doctrine of Virtue (1797), Kant for the first time since the publication of his Groundwork for the Metaphysics of Morals (1785) enhances his essentialist (formal) conception of obligation with a volitional (material) element. We are not only obliged to act according to maxims that can be conceived as general laws; we are also obliged to set certain purposes. Kant!s new theory of setting purposes not only expresses his radical humane stance. He also provides a late contribution to his understanding of minority and majority that he outlines in his An answer to the question: What is enlightenment? (1784). Prof. Dr. Heiner F. Klemme, Philosophisches Seminar, Institut für Ethnologie und Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Emil-Abderhalden-Straße 26/27, 06108 Halle, E-Mail: [email protected]

Achim Vesper Kant über moralischen Wert und Gesinnung

Nach der berühmten Aussage Kants kommt einer pflichtmäßigen Handlung nur dann moralischer Wert zu, wenn sie allein aus Pflicht erfolgt. Ausgeführt wird die Lehre vom moralischen Wert einer Handlung vor allem im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785),1 während die Kritik der praktischen Vernunft (1788) den in der Grundlegung entwickelten Begriff im Wesentlichen übernimmt. Daher überrascht es wenig, dass sich die Interpreten von Kants Auffassung vom moralischen Wert in der Regel auf die Grundlegung stützen. Gleichwohl sollte nicht aus dem Blick geraten, dass Kant in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 (im Folgenden: Religion) die Diskussion über den moralischen Wert von Handlungen erneut aufnimmt. Zwar setzt sich Kant im ersten Stück von Religion vor allem mit dem moralischen Charakter der menschlichen Natur auseinander, seine Argumentation dafür, dass der Mensch radikal böse ist, stützt sich aber auch auf eine veränderte Auffassung des moralischen Werts von Handlungen. In diesem Beitrag soll dargestellt werden, inwieweit Kants Verständnis vom moralischen Wert von Handlungen in Religion eine Korrektur erfährt. Betrachtet man den Begriff des moralischen Werts unabhängig von Kant, so liegt seine Relevanz darin, dass er den Maßstab für die Angemessenheit von moralischen Reaktionen auf Handlungen bildet. Nach allgemeinem Verständnis verdient eine Handlung aufgrund ihres moralischen Werts Lob und Bewunderung und aufgrund ihrer moralischen Wertlosigkeit Tadel.2 Allerdings teilt Kant dieses Verständnis nicht vollständig, da er eine Handlung nicht schon deshalb für bewunderungswürdig hält, weil sie moralisch wertvoll ist: „[S]eine Pflicht […] thun, ist nichts mehr, als das thun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient.“3 Bewunderung darf der Einhaltung der Vgl. bes. GMS, AA 04: 397–399. Vgl. z. B. Nomy Arpaly, Moral Worth, in: The Journal of Philosophy 99/5 (2002), 223–245, hier 224: „The moral worth of an action is the extent to which the agent deserves moral praise or blame for performing the action“. 3 RGV, AA 06: 49. 1

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Pflicht nicht entgegengebracht und für tugendhafte Handlungen auch nicht gelehrt werden, da der Pflichtgehorsam sonst als „etwas Außerordentliches und Verdienstliches“4 erscheint.5 Aber auch wenn Kant der Meinung ist, dass die Erfüllung der Pflicht allein kein Lob verdient, so kommt er mit dem heutigen Verständnis in der Ansicht überein, dass eine Handlung ohne moralischen Wert tadelnswert ist. Auf den ersten Blick erscheint Kants Verständnis des moralischen Werts von Handlungen als klar: Da das Moralprinzip Pflichten auferlegt, können Handlungen vom Moralprinzip verboten und pflichtwidrig oder vom Moralprinzip geboten oder erlaubt und pflichtmäßig sein. Dabei ist eine Handlung nach Kant nicht schon deshalb moralisch wertvoll, weil sie der Pflicht gemäß ist und mit dem übereinstimmt, was das Moralprinzip verlangt. Für den moralischen Wert einer Handlung ist zusätzlich notwendig, dass sie auch deshalb beabsichtigt wird, weil sie vom Moralprinzip geboten ist. In diesem Fall wird eine Handlung aufgrund ihres Gebotenseins bzw. aus Pflicht ausgeführt. In anderen Worten reicht es nach Kant für den moralischen Wert einer Handlung nicht aus, das moralisch Richtige zu tun; stattdessen ist es ihm zufolge erforderlich, das moralisch Richtige aus dem richtigen Grund zu tun. Wir tun das moralisch Richtige aus dem richtigen Grund, wenn wir es genau deshalb tun, weil es das moralisch Richtige ist.6 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Kants Auffassung von moralischem Wert auf engeren Voraussetzungen seiner Moralphilosophie und Handlungstheorie beruht: Menschliches Handeln basiert nach Kant auf der Wahl von Maximen, wobei er unter einer Maxime „das subjektive Prinzip des Wollens“7 und den „Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt“,8 versteht. Maximen sind allgemeine Regeln, nach denen eine Handlung gewollt wird und die zur Ausführung der Handlung bewegen; daneben lassen sich aus der Anwendung des als Gesetz bestimmten Moralprinzips auf Maximen Handlungspflichten ableiten.9 Ebd. Für das gleiche Argument vgl. KpV, AA 05: 84 f. 6 In der gegenwärtigen Debatte wird jedoch in Frage gestellt, dass moralisch wertvolles Handeln auf Seiten des Akteurs den Glauben voraussetzt, das moralisch Richtige zu tun. Arpaly bezieht sich auf das Beispiel von Huckleberry Finn, der in ihrer Interpretation dem Sklaven Jim aus den richtigen moralischen Gründen zur Flucht verhilft – weil er ihn als gleichwertige menschliche Person wahrnimmt –, zugleich aber der Meinung ist, damit etwas moralisch Verbotenes zu tun (vgl. Arpaly, Moral Worth [wie Anm. 2], 228–231). 7 GMS, AA 04: 401 Anm. 8 Ebd., 421 Anm. 9 Zu Kants Maximenbegriff im Überblick vgl. Jens Timmermann, Kant!s Puzzling Ethics of Maxims, in: The Harvard Review of Philosophy 8/1 (2000), 39–52, Robert Gressis, Recent Work on Kantian Maxims I: Established Approaches, in: Philosophy Compass 5/3 (2010), 216–227 sowie ders., Recent Work on Kantian Maxims II: New Approaches, in: Philosophy Compass 5/3 (2010), 228–239. 4 5

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Dabei sind wir zur Unterlassung einer Handlung verpflichtet, wenn sie sich aus einer verbotenen Maxime ergibt, und zur Ausführung einer Handlung verpflichtet, wenn sich ihre Unterlassung aus einer verbotenen Maxime ergibt. Verboten wiederum sind Maximen, die nicht mit dem Moralgesetz verträglich sind, weil sie kein mögliches Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sind.10 Nun betrachtet Kant lediglich solche Handlungen als moralisch wertvoll, die auf einer guten Maxime beruhen, d. h. auf einer solchen, die aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem Moralgesetz gewählt wird. Demnach handeln wir genau dann nicht nur der Pflicht gemäß, sondern auch aus Pflicht, wenn wir einer Maxime nur deshalb folgen, weil sie durch das Moralgesetz bestimmt ist. Diese insbesondere in der Grundlegung prominente Auffassung vom moralischen Wert einer Handlung lässt sich folgendermaßen festhalten: Moralischer Wert von Handlungen (Grundlegung): Eine Handlung ist genau dann moralisch wertvoll, wenn sie auf einer Maxime beruht, die aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz gewählt wurde.

Wie zu zeigen sein wird, erfährt Kants Konzeption von moralischem Wert in Religion eine substantielle Veränderung. Während der moralische Wert einer Handlung laut Grundlegung auf der Maxime beruht, aus der die einzelne Handlung ausgeführt wird, basiert der moralische Wert einer Handlung laut Religion zusätzlich auf einer allgemeinen Einstellung des Akteurs. Eine moralisch wertvolle Handlung setzt laut Religion voraus, dass der Akteur die allgemeine Einstellung hat, nur solche Maximen zu wählen, die mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen. Diese allgemeine Einstellung bezeichnet Kant als moralische Gesinnung. Seine Auffassung laut Religion lässt sich wie folgt wiedergeben: Moralischer Wert von Handlungen (Religion): Eine Handlung ist genau dann moralisch wertvoll, wenn sie auf einer Maxime beruht, die deshalb gewählt wurde, weil sie mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt, und der Akteur die Gesinnung hat, nur solche Maximen zu wählen, die mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen.

Ausgezeichnet ist die Gesinnung dadurch, dass eine Person nur eine einzige besitzt, sie ihr dauerhaft zukommt, von ihr frei gewählt wird und den allgemeinen Rahmen für die Wahl ihrer Maximen bildet.11 Aufmerksamkeit verdient die Meinungsänderung, weil der Gegenstand der moralischen Bewertung von der Maxime, aus der eine einzelne Handlung vollzogen wird, auf die Gesinnung als charakterliche Eigenschaft erweitert wird. Im Folgenden bringe ich zunächst Kants Auffassung von moralischem Wert von Handlungen näher in Erinnerung, wie sie in Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft ausgeführt wird (I.). Danach arbeite ich die Revision der Konzep10 11

Vgl. GMS, AA 04: 402. Vgl. RGV, AA 06: 24 f.

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tion von moralischem Wert in Religion heraus (II.). In diesem Zusammenhang zeige ich auf, dass Kant über einen guten Grund dafür verfügt, den moralischen Wert einer Handlung auf die allgemeine Gesinnung des Akteurs zurückzuführen. Allerdings scheint die Auffassung, dass der moralische Wert einzelner Handlungen auch von der allgemeinen Gesinnung des Akteurs abhängt, mit einem neuen Problem verbunden. Der Diskussion dieses Problems widmet sich der abschließende Teil des Beitrags (III.). I. Moralischer Wert nach Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft Im ersten Abschnitt der Grundlegung bildet der moralische Wert von Handlungen ein wichtiges Thema, weil Kant anhand des moralischen Werts zur „Auffindung“12 des Moralprinzips gelangt; er schließt aus den Eigenschaften einer moralisch wertvollen Handlung auf den Inhalt des moralischen Gesetzes. Dem Schluss zufolge muss der Inhalt des Gesetzes in der bloßen Gesetzmäßigkeit bestehen, weil eine moralisch wertvolle Handlung aus keinem anderen Grund als der Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz vollzogen wird.13 Zwar besteht in der Forschung keine Einigkeit über die nähere Struktur des Schlusses,14 es ist aber deutlich, wovon die Überlegung ausgeht: Unbedingt gut ist, wie Kant zu Beginn der Grundlegung darlegt, nur ein Wille, der nicht auf die Erlangung äußerer oder innerer Güter gerichtet ist.15 In der Konsequenz kommt einer Handlung auch nicht deshalb moralischer Wert zu, weil durch sie bestimmte Güter herbeigeführt werden. Geht man nun mit der Handlungstheorie Kants davon aus, dass der Wille Handlungen immer nach Gesetzen verursacht,16 so stellt sich die Frage, nach welchem Gesetz der Wille eine Handlung verursacht, wenn es sich nicht um ein instrumentelles Gesetz für die Herbeiführung bestimmter Gegenstände handelt.17 In einer resümierenden Passage stellt Kant dementsprechend heraus, dass moralisch

GMS, AA 04: 392. Vgl. ebd., 402. 14 Der Schluss auf den kategorischen Imperativ aus der Struktur moralisch wertvollen Handelns wird oft als nicht vollständig plausibel betrachtet – z. B. bezeichnen Schönecker und Wood die Ableitung als „höchst problematisch“ (Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Ein einführender Kommentar, Paderborn 2004, 91). 15 Vgl. GMS, AA 04: 393 f. 16 Vgl. ebd., 446. 17 Ich folge hier Jens Timmermann, Acting from duty: inclination, reason and moral worth, in: ders. (Hg.), Kant!s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Critical Guide, Cambridge, New York 2009, 45–62, bes. 46, 54 f. 12 13

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wertvolle Handlungen nur nach einem Gesetz erfolgen können, das nicht vom instrumentellen Typ ist: Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier ist nun die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Princip dient.18

Kant geht hier von einer erschöpfenden Alternative aus: Ihm zufolge kann das Gesetz, um dessentwillen moralisch wertvoll gehandelt wird, nur in der allgemeinen Gesetzlichkeit bestehen, weil es kein durch das Ziel der Herbeiführung eines spezifischen Gegenstands bestimmtes Gesetz ist. Vergegenwärtigt man sich diese Argumentation, so wird auch deutlich, wieso es für Kant relevant ist, dass die Motivation zu moralisch wertvollen Handlungen in der Vernunft und nicht in der Neigung liegt. Ausgeschlossen wird ein durch Neigung bestimmter Wille, weil die Neigung lediglich ein pathologisches Interesse an der Hervorbringung von Gegenständen und kein praktisches Interesse an der Handlung selbst und ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit begründet.19 Kant liefert jedoch auch ein vom Schluss auf die Eigenschaften des moralischen Gesetzes inhaltlich unabhängiges Argument dafür, dass nur pflichtmäßigen Handlungen aus Pflicht und nicht solchen aus Neigung moralischer Wert zukommt. Hier ist es hilfreich, sich die teilweise kontroversen Beispiele für Handlungen mit oder ohne moralischen Wert im ersten Abschnitt der Grundlegung anzusehen.20 Der klassische Gegenstand der Auseinandersetzung betrifft die Frage, ob Kant zu Unrecht allen durch Neigung motivierten Handlungen gemeinsam den moralischen Wert abspricht. Man mag daran Anstoß nehmen, dass Kant die Handlungsmotive von Sympathie und Eigennutz auf eine Stufe stellt, indem er den Handlungen des Menschenfreundes und den Handlungen des nur aus Klugheit ehrlichen Kaufmanns gleichermaßen den moralischen Wert abspricht.21 Als GMS, AA 04: 402. Vgl. ebd., 413 f. Anm. So auch Timmermann: „One might say that, unlike duty, inclination is by nature ,consequentialist"“ (Timmermann, Acting from Duty [wie Anm. 17], 55). 20 GMS, AA 04: 397–399. 21 Vgl. ebd., 397 f. Gleichwohl sind beide Beispiele dadurch unterschieden, dass der Menschenfreund der Pflicht zur Wohltätigkeit aus unmittelbarer Neigung und der Kaufmann der Pflicht zur Ehrlichkeit nur aus mittelbarer Neigung nachkommt (vgl. ebd., 397). Während der mitleidige Menschenfreund aus einer Neigung handelt, die direkt auf die Wohltätigkeit zielt, handelt der durch 18 19

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wahrhaft skandalös haben einige seiner Leser aber vor allem Kants Aussage betrachtet, dass ein Wohltäter aus Neigung und ohne Pflichtbewusstsein nicht moralisch wertvoll handelt, wohingegen ein Misanthrop ohne Sympathie für andere Menschen, aber mit Pflichtbewusstsein moralisch wertvoll handelt.22 Ihm zufolge handelt der pflichtvergessene Menschenfreund anders als der pflichtbewusste Misanthrop aus einer Maxime ohne moralischen Gehalt, weil eine Maxime nur dann über moralischen Gehalt verfügt, wenn sie durch Vernunft aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz gewählt wird. Man kann dagegen anführen, dass wir es aber besonders wertschätzen, wenn ein Akteur aus Mitleid und nicht kaltherzig handelt.23 Allgemein besteht der kritische Einwand darin, dass Kant der besonderen Rolle von moralischen Emotionen nicht angemessen Rechnung trägt.24 Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass Kant über einen guten Grund dafür verfügt, pflichtmäßigen Handlungen aus Neigung den moralischen Wert abzusprechen. Wie Barbara Herman in ihrem einschlägigen Aufsatz On the Value of Selbstliebe motivierte Kaufmann aus einer Neigung, die nur indirekt durch eine Klugheitsüberlegung vermittelt auf ehrliches Handeln gerichtet ist. Kant hebt eigens hervor, dass der Unterschied zwischen einer bloß pflichtmäßigen Handlung und einer pflichtmäßigen Handlung aus Pflicht „weit schwerer […] zu bemerken“ ist, „wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat“ (ebd.). Damit gesteht Kant zu, dass ein moralisches Handeln aus unmittelbarer Neigung oft als positiv aufgefasst wird. 22 Vgl. ebd., 398 f. Auf diese Stelle zielt vermutlich eine bekannte Äußerung Schillers, mit der er Zweifel an Kants Verständnis von moralischem Wert artikuliert. Das Distichon Gewissensskrupel aus den zusammen mit Goethe verfassten Xenien tadelt die Vorstellung, dass jemand nicht als tugendhaft betrachtet werden kann, der einem Notleidendem aus Freundschaft hilft: „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin“ (Friedrich Schiller, Xenien von Schiller und Goethe, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, 257–318, hier 299). Es soll die Auffassung kritisiert werden, dass eine der Pflicht entsprechende Handlung ihren moralischen Wert verliert, wenn sie aus Neigung ausgeführt wird. Eine breiter ausgeführte Kritik an Kants Konzeption von moralischem Wert stellt Schiller in Über Anmut und Würde von 1793 vor (vgl. Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, 433–488, bes. 463–468). Von Schillers Kant-Kritik in Anmut und Würde angestoßen, kommt dabei eine kleine öffentliche Kontroverse zwischen Kant und Schiller in Gang, in der Schiller am Ende der Position Kants zustimmt und das Handeln aus Pflicht für den moralischen Wert als ausschlaggebend betrachtet. Ungeachtet dessen nimmt Schiller jedoch eine alternative Perspektive auf die notwendigen Faktoren für die moralische Entwicklung des Menschen ein. Vgl. Achim Vesper, Durch Schönheit zur Freiheit? Schillers Auseinandersetzung mit Kant, erscheint in: Gideon Stiening (Hg.): Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Berlin, Boston. 23 U. a. diesen Einwand diskutiert Marcia W. Baron, Kantian Ethics, in: dies., Philip Pettit, Michael Slote (Hg.), Three Methods of Ethics. A Debate, Malden, Mass., Oxford, 3–91. 24 Vgl. die Kant-Kritik in Bernard Williams, Morality and the Emotions, in: ders., Problems of the Self, Cambridge 1973, 207–229, bes. 225–229.

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Acting from the Motive of Duty aufzeigt, besteht der Fehler von pflichtmäßigen, aber nicht aus Pflicht ausgeführten Handlungen darin, dass sie auf Maximen beruhen, die nur zufällig zu pflichtmäßigen Handlungen führen.25 Das Argument lautet, dass Maximen wie die des Eigennutzes oder Mitleids unter glücklichen Umständen zwar zu pflichtmäßigen, unter anderen Umständen aber zu pflichtwidrigen Handlungen führen. Würde der kluge Kaufmann etwa seinen Kunden nicht wieder begegnen – so ließe sich ihr Argument illustrieren –, dann würde ihn die Maxime des Eigennutzes dazu führen, gegen das Prinzip der Ehrlichkeit zu verstoßen.26 Und auch wenn der Philanthrop dem Prinzip der Wohltätigkeit nachkommt, so kann ihn sein Mitleid unter entsprechenden Umständen auch zu moralisch verbotenen Handlungen bewegen.27 Aus den Beispielen geht hervor, dass eine bloß pflichtmäßige Handlung keinen moralischen Wert besitzt, weil sie auf einer Maxime beruht, die unter anderen Umständen zu einer pflichtwidrigen Handlung führt. Ein aus Neigung handelnder Akteur kommt aber nicht allein deshalb nur unzuverlässig der Pflicht nach, weil ihn die Neigung unter anderen äußeren Umständen auch zu einer pflichtwidrigen Handlung führen kann. Unzuverlässig handelt ein durch Neigung motivierter Akteur in moralischer Hinsicht auch, weil sich seine Neigung ändern kann. In Kants Beispiel droht dem Menschenfreund die Bereitschaft zu pflichtmäßigen Handlungen dadurch verloren zu gehen, dass seine Sympathie für andere durch Gram erlischt.28 Anders aber als ein aus Neigung pflichtmäßig Handelnder kommt ein Akteur, der seine Maxime aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz wählt, der Pflicht zuverlässig nach. Einer pflichtmäßigen Handlung aus Pflicht kommt moralischer Wert zu, weil sie auf einer Maxime beruht, die unter beliebigen Handlungsumständen und daher verlässlich zu einer pflichtmäßigen Handlung führt. Diese Erklärung für den moralischen Wert von Handlungen führt auch zu einer Antwort auf die öfter diskutierte Frage, ob Kant überdeterminierte Handlungen zulassen kann, bei denen der Akteur sowohl durch die Pflicht als auch durch Herman schreibt: „The problem is that the dutiful actions are the product of a fortuitous alignment of motives and circumstances. People who act according to duty from such motives may nonetheless remain morally indifferent“ (Barbara Herman, On the Value of Acting from the Motive of Duty [1981], in: dies., The Practice of Moral Judgment, Cambridge, Mass., London 1993, 1–22, hier 6). 26 Entsprechend schreibt Herman: „[T]he moral fault with the profit motive is that it is unreliable. When it leads to dutiful actions, it does so for circumstantial reasons“ (ebd., 3). 27 Das Beispiel Hermans dafür, dass man aus Mitleid auch jemandem helfen kann, der keine Hilfe verdient, lautet: „Suppose I see someone struggling, late at night, with a heavy burden at the backdoor of the Museum of Fine Arts. Because of my sympathetic temper I feel the immediate inclination to help him out“ (ebd., 4). Aus dem Beispiel schließt sie: „[T]he class of actions that follows from the inclination to help others is not a subset of the class of right or dutiful actions“ (ebd., 5). 28 GMS, AA 04: 398. 25

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die Neigung zur Handlung motiviert ist.29 Der für die Diskussion wichtigste Fall besteht in überdeterminierten Handlungen, bei denen der Akteur sowohl über ein allein hinreichendes Handlungsmotiv in der Neigung als auch über ein allein hinreichendes Handlungsmotiv im Bewusstsein der Pflicht besitzt. Die Frage besteht darin, ob nach Kant moralisch wertvolle Handlungen möglich sind, bei denen neben dem Pflichtbewusstsein auch die Neigung ein ausreichendes Handlungsmotiv darstellt. Wie Herman klarstellt, lässt sich eine in dieser Weise überdeterminierte Handlung nicht mit Kants Konzeption von moralischem Wert vereinbaren, weil unter veränderten Handlungsumständen auch ein Konflikt zwischen den Neigungen und dem Pflichtbewusstsein auftreten kann.30 Ist ein Akteur sowohl allein durch seine Neigungen als auch allein durch sein Bewusstsein der Pflicht hinreichend motiviert, pflichtmäßig zu handeln, so kann er trotz hinreichender Motivation zu pflichtmäßigem Handeln durch sein Pflichtbewusstsein auch pflichtwidrig handeln, wenn sich seine Neigungen ändern. Daraus lässt sich die Konsequenz ziehen, dass das Pflichtbewusstsein nur dann verlässlich zu einer pflichtmäßigen Handlung führt, wenn die Pflicht einen andere Handlungsgründe ausschaltenden oder übertrumpfenden Handlungsgrund bildet.31 Demnach handelt ein Akteur moralisch wertvoll, wenn eine Handlung x geboten ist und er x allein deshalb tut, weil es geboten ist, x zu, auch wenn ihn seine Neigungen gleichermaßen dazu führen würden, x zu tun.32 Folgt man Hermans Erklärung, so ist die Verlässlichkeit, mit der eine Maxime zu einer moralisch rechtmäßigen Handlung führt, für Kants Konzeption von moralischem Wert ausschlaggebend. Lediglich wenn Maximen aus Achtung vor dem Die Diskussion geht zurück auf Richard Henson, What Kant Might Have Said: Moral Worth and the Overdetermination of Dutiful Action, in: Philosophical Review 88/1 (1979), 39–54. Henson ist der Meinung, dass es nach Kant durch Vernunft und Neigung als jeweils allein ausreichende Motive überdeterminierte Handlungen geben kann. Gemäß Hensons fitness-model kann ein Akteur in diesen Fällen aus Neigung handeln, ohne dass die Handlung ihren moralischen Wert verliert. 30 Vgl. Herman, On the Value of Acting from the Motive of Duty (wie Anm. 25), 6–13. 31 Nach Raz zeichnet es normative Erwägungen aus, dass sie ausschaltende Gründe (exclusionary reasons) liefern bzw. Erwägungen anderer Art ausschalten (Joseph Raz, Practical Reasons and Norms, Oxford, New York 1975, bes. 35–48). Ähnlich sind nach Kant moralische Erwägungen so zu begreifen, dass sie nicht-moralische Erwägungen beiseite stellen. Während Ansprüche der Selbstliebe untereinander abgewogen werden können, werden sie durch auf dem Moralprinzip basierende Überlegungen immer überboten. 32 Während Handlungen aufgrund ihres Geboten- oder Verbotenseins ausgeführt oder unterlassen werden können, kann man nicht sinnvoll sagen, dass eine Handlung aufgrund ihres Erlaubtseins ausgeführt wird. Wie Hermann hervorhebt, liegt der Grund darin, dass es keinen moralischen Unterschied macht, ob eine erlaubte Handlung erfolgt oder nicht. Ihr zufolge kann man in einem bestimmten Sinn jedoch auch eine erlaubte Handlung aus Pflicht ausführen: In diesem Fall soll die Pflicht die Rolle einer limiting condition übernehmen, die als Motiv zweiter Ordnung Motiven erster Ordnung eine Einschränkung auferlegt (vgl. Herman, On the Value of Acting from the Motive of Duty [wie Anm. 25], 13–17). 29

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Moralgesetz gewählt werden, entspricht die Handlung nicht nur zufällig dem moralischen Gesetz. Diese Interpretation wird von Aussagen Kants in der Grundlegung direkt unterstützt, die Hermann selbst nicht anführt. So schreibt Kant in der „Vorrede“, dass eine Metaphysik der Sitten unentbehrlich ist, weil keine sittliche Verbesserung eintreten kann, solange das oberste Prinzip der moralischen Beurteilung nicht durch eine Metaphysik der Sitten zur Deutlichkeit gebracht worden ist.33 Warum es ohne deutliches Bewusstsein des Moralprinzips keine sittliche Verbesserung geben kann, erläutert er wie folgt: Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmals aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird.34

Nach Kant muss das Moralgesetz eindeutig bestimmt werden, da wir sonst nur zufällig in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handeln. Dagegen entspricht eine Handlung zuverlässig dem moralischen Gesetz, wenn sie im Bewusstsein des moralischen Gesetzes und wegen ihrer Übereinstimmung mit ihm vollzogen wird. Diese Ansicht liefert auch eine Begründung für die vergleichbare Behauptung im zweiten Abschnitt, nach der eine Metaphysik der Sitten „nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntniß der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften“35 ist. Nach Kant bedarf es einer Metaphysik der Sitten, die das Moralprinzip identifiziert, weil nur eine aus dem Bewusstsein des Moralprinzips ausgeführte Handlung mit diesem verlässlich übereinstimmt.36 Vgl. GMS, AA 04: 389 f. Ebd., 390. 35 Ebd., 410. 36 Dagegen behauptet Timmermann, dass es Kant nicht um die Verlässlichkeit, sondern nur um die Nicht-Zufälligkeit moralischen Handelns geht (vgl. mit Blick auf das Kaufmann-Beispiel Timmermann, Acting from Duty [wie Anm. 17], bes. 47 f., ähnlich Arpaly, Moral Worth [wie Anm. 2], 225). Das liegt nach Timmermann daran, dass Handlungen mit moralischem Wert informativ für den Inhalt des Moralgesetzes sind, weil moralisch wertvolle Handlungen nicht-zufällig zu gesetzesmäßigen Handlungen führen. Entsprechend ist laut Timmermann Kants Interesse am Thema der moralischen Motivation dem an der Bestimmung des Moralgesetzes untergeordnet: „Kant is not as such concerned about moral motivation but about the subjective principle that determines motivation, and ultimately the objective principle to which it ought to conform“ (Timmermann, Acting from Duty [wie Anm. 17], 50). – Aus der „Vorrede“ (GMS, AA 04: 390) geht jedoch hervor, dass die mangelnde Verlässlichkeit moralischen Handelns das Ausgangsproblem für Kant darstellt. Ausgeschaltet wird die Unzuverlässigkeit dadurch, dass Akteure eine Maxime wählen, die nicht-zufällig zu moralischem Handeln führt. Da eine Maxime aber nur dann nicht-zufällig zu moralischem Handeln führt, wenn sie aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem Moralgesetz gewählt wird, muss 33

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Auch in der Kritik der praktischen Vernunft folgt Kant dieser Auffassung vom moralischen Wert und behauptet, dass eine Handlung nur dann sittlichen Wert hat, wenn der Wille unmittelbar durch das moralische Gesetz bestimmt wird: Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten.37

Neu gegenüber der Grundlegung sind die Begriffe von Legalität und Moralität. Dieser terminologischen Neuerung zufolge besitzt eine Handlung lediglich Legalität, wenn sie zwar dem moralischen Gesetz gemäß ist, aber der Wille durch ein Gefühl bestimmt ist, und Moralität, wenn die Handlung deshalb dem moralischen Gesetz gemäß ist, weil das Gesetz direkt den Willen bestimmt. Kant stellt klar, dass diese Unterscheidung der eines bloß pflichtmäßigen von einem pflichtmäßigen Handeln aus Pflicht entspricht: Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung objectiv Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber subjectiv Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe. Und darauf beruht der Unterschied zwischen dem Bewußtsein, pflichtmäßig und aus Pflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zu haben, davon das erstere (die Legalität) auch möglich ist, wenn Neigungen blos die Bestimmungsgründe des Willens gewesen wären, das zweite aber (die Moralität), der moralische Werth, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. blos um des Gesetzes willen, geschehe.38

Während eine jede pflichtmäßige Handlung über Legalität verfügt, besitzt nur eine pflichtmäßige Handlung aus Pflicht Moralität. Dabei trägt ein Handeln aus Neigung auch laut Kritik der praktischen Vernunft einen Mangel, weil Neigungen nicht zuverlässig zu moralischen Handlungen führen.39 Leitend ist jedoch nicht der Gedanke, dass dieselbe Neigung unter günstigen Umständen zu moralgemäßen Handlungen, aber unter anderen Umständen auch zu moralwidrigen führen kann. Stattdessen hebt Kant hervor, dass Neigungen „wechseln“,40 d. h. das Moralgesetz identifiziert werden. Hierin liegt die Begründung für das Projekt der Metaphysik der Sitten, die das allen Menschen auf undeutliche Weise bewusste (vgl. ebd., 403 f.) Moralgesetz zur Deutlichkeit bringen soll (vgl. ebd., 389 f.). Der Aufklärung des Moralprinzips durch die Philosophie kommt ein unverzichtbarer Nutzen zu, weil nur sie dem Moralprinzip „Eingang und Dauerhaftigkeit“ (ebd., 405) verschaffen kann. In dieser Perspektive gelangt Kant vom Problem der moralischen Motivation zur Bestimmung des Moralprinzips. 37 KpV, AA 05: 71. 38 Ebd., 81. 39 Ebd., 117 f. 40 Ebd., 118.

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Veränderungen unterliegen und deshalb unzuverlässige Motive für moralische Handlungen ausmachen. Im Überblick legt Kant dar, aufgrund welcher Eigenschaften eine Handlung moralisch wertvoll ist und warum diese Eigenschaften eine Handlung moralisch wertvoll machen: Eine Handlung ist genau dann moralisch wertvoll, wenn sie auf einer aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem Moralgesetz gewählten Maxime beruht. Der moralische Wert einer solchen Handlung basiert darauf, dass sie aus einer Maxime erfolgt, die zuverlässig zu moralischen Handlungen führt. Dagegen besitzen Handlungen aus Neigung keinen moralischen Wert, weil sie nur durch Zufall dem entsprechen, was die Pflicht verlangt.

II. Gesinnung in der Religionsschrift Auch wenn der Begriff des moralischen Werts in Religion nur gelegentlich vorkommt,41 so bildet er der Sache nach dennoch ein Thema des Buchs.42 Anders als in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft geht Kant nun davon aus, dass der moralische Wert einer einzelnen Handlung auch von einer allgemeinen moralischen Einstellung eines Akteurs abhängt, die er als gute Gesinnung bezeichnet. Eingeführt wird der Begriff der Gesinnung im ersten Stück des Buchs; dort widmet er sich der Frage, welchen moralischen Charakter die menschliche Gattung besitzt, und argumentiert dafür, dass der Mensch in den meisten Bedeutungen des Begriffs moralisch böse ist.43 Zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem moralischen Wert der menschlichen Gattung stellt Kant die Frage, was uns dazu berechtigt, einen einzelnen Menschen als böse zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang formuliert er eine Hypothese dafür, was uns erlaubt, von einem Menschen auszusagen, dass er böse ist: Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst) daß sie mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich Vgl. z. B. RGV, AA 06: 103 für die Behauptung, dass Gott nur durch moralisch wertvolle Handlungen gedient werden kann. 42 So auch Paul Guyer, Moral Worth and Moral Motivation. Kant!s Real View, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 13 (2018), Schwerpunkt: Begehren, hg. von Sally Sedgwick und Dina Emundts, 19–38. 43 Der Mensch ist nach Kant nicht in jeder Bedeutung des Begriffs böse, weil Menschen keine „teuflischen Wesen“ (RGV, AA 06: 35) sein können, die um des Bösen willen, d. h. mit dem Ziel handeln, gegen das moralische Gesetz zu verstoßen. Das größtmögliche menschliche Böse besteht stattdessen darin, sich Ausnahmen vom moralischen Gesetz zu erlauben (vgl. ebd., 37). 41

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selbst, mithin das Urtheil, daß der Thäter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen.44

Wie Kant deutlich macht, liegt ein Problem darin, dass wir einen Menschen nur aufgrund seiner Maximen als böse bezeichnen können, die Maximen einer Handlung aber für Beobachter und bis zu einem gewissen Grad auch für den Akteur selbst im Dunkeln liegen. Nach seiner Argumentation sind wir nur dann berechtigt, einen Menschen als böse zu bezeichnen, wenn wir aus einer einzelnen bewussten gesetzwidrigen Handlung – aus einer gesetzwidrigen Handlung, die dem Akteur nicht aufgrund von falschem Glauben in Bezug auf die Umstände seiner Handlung unterläuft – auf eine böse Maxime und aus einer bösen Maxime auf eine grundlegende böse Gesinnung schließen dürfen.45 Die Begründung für beide Schlüsse liefert Kant innerhalb der „Anmerkung“,46 die dem Beweis für den Rigorismus dient, d. h. mit der nachgewiesen werden soll, dass der Mensch entweder gut oder böse, aber nicht weder gut noch böse und auch nicht sowohl gut als auch böse ist. In diesem Rahmen liefert Kant Argumente dafür, dass (1) aus einer gesetzwidrigen Handlungen auf eine böse Maximen und (2) aus einer einzelnen bösen Maxime auf eine allgemeine böse Gesinnung geschlossen werden kann. Begründet werden beide Schlüsse wie folgt: (1) Der Schluss auf die böse Maxime Kant verteidigt den Schluss von einer gesetzwidrigen Handlungen auf eine böse Maxime im Zuge seiner Argumentation gegen den Indifferentisten, nach dem die menschliche Natur weder gut noch böse, sondern moralisch neutral ist. Zwei Bausteine seiner Argumentation stellen die Behauptungen dar, dass wir (a) immer aus Maximen handeln und (b) aus einer bösen Maxime handeln, wenn wir nicht aus einer guten handeln. Die erste Behauptung hat Allison als incorporation thesis bezeichnet, ihr zufolge beruhen alle Handlungen auf freigewählten Maximen:47 Ebd., 20. Damit geht die Rechtfertigung von Aussagen über die Bosheit eines Menschen von der empirischen Tatsache einer gesetzwidrigen Handlung aus. Anders als gelegentlich behauptet wird, intendiert Kant keine Apriori-Rechtfertigung des Bösen. Vgl. dagegen z. B. David Sussman, Perversity of the Heart, in: The Philosophical Review 114/2 (2005), 153–177. Laut Sussman begreift Kant das radikale Böse bzw. die Verkehrtheit des Herzens als eine notwendige Eigenschaft des menschlichen Willens. 46 RGV, AA 06: 22–25. 47 Vgl. Henry Allison, Kant!s Theory of Freedom, Cambridge, New York 1990, u. a. 39 f. 44 45

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[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen.48

Damit stellt Kant klar, dass Menschen nicht blind, sondern aus Maximen handeln, die sie sich selbst gegeben haben. Nach seiner Erklärung basiert menschliches Handeln auf Maximen, da Menschen nur dann zu einer Handlung motiviert sind, wenn sie das Handlungsmotiv in eine Maxime aufgenommen haben und dadurch bejahen.49 Der zweiten Behauptung zufolge handeln wir notwendig aus einer bösen Maxime, wenn wir nicht aus einer guten handeln. Dies soll sich daraus ergeben, dass das moralische Gesetz eine Triebfeder ausmacht, die nur dadurch außer Kraft gesetzt werden kann, dass eine dem moralischen Gesetz entgegengesetzte Triebfeder in die Maxime aufgenommen wird: Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urtheile der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung doch nicht bestimmt, so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben; und da dieses vermöge der Voraussetzung nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch diese (mithin auch die Abweichung vom moralischen Gesetze) in seine Maxime aufnimmt (in welchem Falle er ein böser Mensch ist): so ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut, noch böse).50

Demnach sind Akteure niemals moralisch indifferent, weil sie standardmäßig über eine Triebfeder durch das moralische Gesetz verfügen und die handlungsleitende Kraft des moralischen Gesetzes nur durch eine konträre Maxime aufheben können. Beide Behauptungen zusammen sind hinreichend dafür, dass wir von der gesetzwidrigen Tat auf eine böse Maxime schließen können: Insofern Handlungen immer auf Maximen beruhen und Maximen entweder gut oder böse sind, muss eine gesetzwidrige Handlung aus einer bösen Maxime erfolgen. Für einen Beobachter erschließt sich zwar nicht, ob eine Handlung aus einer guten oder bösen Maxime erfolgt, wenn ein Akteur in äußerer Übereinstimmung mit dem Gesetz handelt. Ein Beobachter ist aber berechtigt, aus einer gesetzwidrigen Handlung RGV, AA 06: 23. In der Literatur wird in der Regel die Meinung geteilt, dass Menschen laut Kant immer aus Maximen handeln. Vgl. z. B. Onora O!Neill, Constructions of Reason, Cambridge, London 1989, 151: „(mere reflex apart) we always act on some maxim“, außerdem Gressis, Recent Work on Kantian Maxims II (wie Anm. 9), bes. 235. Angegriffen wird diese Auffassung in: Sven Nyholm, Do we Always Act on Maxims?, in: Kantian Review 22/2 (2017), 233–255. 50 RGV, AA 06: 23. 48

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auf eine böse Maxime zu schließen, weil gesetzwidrige Handlungen nicht aus guten Maximen erfolgt sein können und es außer guten Maximen nur böse gibt. Daneben ist Kant der Meinung, dass sich der Akteur selbst einer bösen Maxime, aus der er gesetzwidrig handelt, notwendig bewusst ist. Das mag Leser nicht überraschen, nach deren Meinung sich aus der incorporation thesis ergibt, dass wir uns immer der Maxime bewusst sind, aus der wir handeln. Allerdings bestreitet Kant ausdrücklich, dass wir uns immer dessen bewusst sind, wenn wir aus einer bösen Maxime handeln.51 Der in Religion prominente Fall ist der des unlauteren Handelns, wobei der unlautere Akteur gesetzmäßig handelt und fälschlich glaubt, aus einer guten Maxime zu handeln, obgleich er tatsächlich aus einer ihm unbewussten bösen Maxime handelt.52 Einen moralischen Fehler begeht der unlautere Akteur dabei, weil er nicht ausreichend sorgfältig prüft, worin seine Handlungsmotive tatsächlich bestehen.53 Während sich der Akteur bei einer gesetzmäßigen Handlung über seine Maxime täuschen und sich fälschlich eine gute Maxime zuschreiben kann, besteht diese Möglichkeit des Irrtums bei einer gesetzwidrigen Handlung jedoch nicht. Kant ist hier von der Vorstellung geleitet, dass sich das Moralgesetz dem Akteur von selbst aufdrängt54 und er sich aktiv gegen es stellen muss, wenn er sich zu einer gesetzwidrigen Handlung entschließt. Im Resultat liegt für den Akteur selbst wie für den Beobachter eine Asymmetrie zwischen gesetzmäßigen und gesetzwidrigen Handlungen vor, weil sich beide darüber täuschen können, ob eine gesetzesmäßiger Handlung aus einer guten oder bösen Maxime erfolgt, nicht aber darüber, dass eine gesetzwidrige Handlung aus einer bösen Maxime erfolgt.55 Dass Maximen im Allgemeinen nach Kant auch unbewusst sein können, betonen u. a. Jens Timmermann, Sittengesetz und Freiheit: Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens, Berlin, New York 2003, bes. 154–159 und Schönecker, Wood, Kants ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (wie Anm. 14), 102 f. Auch wenn man sich einer Maxime immer bewusst werden kann, kann man aber auch über eine Maxime verfügen, ohne sich ihrer bewusst zu sein. 52 RGV, AA 06: 29 f. 53 Kant spricht mit Blick auf die Unlauterkeit (Selbsttäuschung) wie auf die Gebrechlichkeit (Willensschwäche) als den beiden unteren Stufen des Bösen von einer ,unvorsätzlichen Schuld" (vgl. ebd., 38), d. h. er betrachtet die Unvorsätzlichkeit nicht als Entschuldigungsgrund. Meines Erachtens wird der Akteur insbesondere im Fall der Unlauterkeit nach Kant nicht aus Vorsatz, aber aus Fahrlässigkeit schuldig. Nach Klemme dagegen besteht die Schuld, obgleich echtes subjektives Unvermögen vorliegt (vgl. Heiner F. Klemme, Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des Bösen. Kants Lehre vom radikalen Bösen zwischen Moral, Religion und Recht, in: ders. u. a. [Hg.], Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis, Würzburg 1999, 125–151, hier 136 f.). 54 RGV, AA 06: 36. 55 Horn stellt ebenfalls fest, dass eine solche Asymmetrie vorliegt: „Kant nimmt […] eine Asymmetrie zwischen moralkonformen (= gesetzmäßigen) und unmoralischen (= gesetzwidrigen) Handlungen an; nur die Motivation der Ersteren bleibt epistemisch opak, die der Letzteren läßt sich eindeutig als böse identifizieren“ (Christoph Horn, Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum 51

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(2) Der Schluss auf die böse Gesinnung Der Schluss von einer einzelnen bösen Maxime auf die böse Gesinnung wiederum setzt voraus, dass Akteure überhaupt eine Gesinnung als freigewählte einzige oberste Maxime besitzen. Kants Argumentation dafür, dass alle Akteure eine oberste Maxime für die Wahl handlungsbezogener Maximen besitzen, beruht auf der Prämisse, dass Handlungen nicht moralisch zugerechnet werden können, wenn es für die Annahme von Maximen keinen Grund in einer obersten Maxime gibt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass alle Handlungen auf Maximen beruhen und die Wahl einer Maxime selbst eine Handlung darstellt, die eine Maxime voraussetzt. Schließt man einen infiniten Regress von Handlungen und Maximen aus, so kann die Wahl einzelner Maximen am Ende nur entweder aus einem Naturtrieb oder aus der Wahl einer obersten Maxime resultieren.56 Da ein Akteur keine moralische Verantwortung trägt, wenn seine Handlungen letztlich durch einen Naturtrieb bestimmt sind, muss es nach Kant eine einzige oberste freigewählte Maxime geben.57 Innerhalb seiner Argumentation gegen den Synkretismus, nach dem der Mensch „in einigen Stücken sittlich gut, in anderen zugleich böse“ ist,58 wendet sich Kant einem weiteren Merkmal der Gesinnung zu. Da die oberste Maxime nicht nur einzig, sondern auch allgemein ist, ist es nicht möglich, dass ein Akteur aus guter Gesinnung, aber aus untergeordneten bösen Maximen handelt. Kant schließt ausdrücklich aus, dass wir uns in Teilen gegen das moralische Gesetz stellen und in anderen Teilen seine Geltung akzeptieren: Er kann aber auch nicht in einigen Stücken sittlich gut, in andern zugleich böse sein. Denn ist er in einem gut, so hat er das moralische Gesetz in seine Maxime aufgenommen; sollte er also in einem andern Stücke zugleich böse sein, so würde, weil das moralische Gesetz der Befolgung der Pflicht überhaupt nur ein einziges und allgemein ist, die auf dasselbe bezogene Maxime allgemein, zugleich aber nur eine besondere Maxime sein: welches sich widerspricht.59

Weil das moralische Gesetz allgemeine Gültigkeit beansprucht, verweigern wir ihm schon dadurch vollständig die Anerkennung, dass wir uns Ausnahmen von ihm erlauben. Menschen können keine „teuflischen Wesen“60 sein, die „gleichGuten und Hang zum Bösen, in: Otfried Höffe [Hg.], Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 2011, 43–-69, hier 46). 56 Vgl. RGV, AA 06: 25; zur Ablehnung des infiniten Regresses vgl. ebd., 21 Anm. 57 Für das Verhältnis von Gesinnung und moralischer Verantwortung vgl. Alison Hills: ,Gesinnung": Responsibility, Moral Worth, and Character, in: Gordon Michalson (Hg.), Kant!s Religion within the Boundaries of Mere Reason, Cambridge, New York 2014, 79 – 97, bes. 83–85. 58 RGV, AA 06: 25. 59 Ebd. 60 Ebd., 35.

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sam rebellischerweise“61 und „mit Aufkündigung des Gehorsams“62 gezielt um des Bösen willen dem moralischen Gesetz zuwiderhandeln. Der von Menschen begangene moralische Fehler liegt stattdessen darin, sich im Bewusstsein seiner Autorität Ausnahmen in der Befolgung des moralischen Gesetzes zu erlauben.63 Davon ausgehend erläutert Kant näher, worin der Inhalt der guten und der bösen Gesinnung besteht. Da der Mensch sowohl eine Triebfeder in der Sinnlichkeit als auch eine Triebfeder im moralischen Gesetz besitzt und „natürlicherweise“64 beide in seine Maxime aufnimmt, kann der Unterschied zwischen einer bösen und einer guten Maxime nur darin bestehen, in welche Rangordnung beide Triebfedern gebracht werden. In der Formulierung Kants bezieht sich die Wahl der Gesinnung damit auf die Form, in die die beiden Triebfedern als Materie der Maxime gebracht werden: Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.65

Demzufolge ist die gute Gesinnung dadurch ausgezeichnet, dass die Triebfeder des moralischen Gesetzes der Triebfeder der Selbstliebe übergeordnet ist und das Befolgen des moralischen Gesetzes die Bedingung für das Handeln nach Selbstliebe darstellt. Dagegen besteht die böse Gesinnung in einer „Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime“,66 mit der dem Motiv der Selbstliebe ein stärkeres Gewicht als dem des moralischen Gesetzes gegeben wird. Akteure mit böser Gesinnung befolgen das moralische Gesetz nur dann, wenn es nicht mit dem Ziel der Selbstliebe kollidiert. Damit hat Kant sein erklärtes Ziel erreicht und nachgewiesen, dass ein gesetzwidrig handelnder Akteur eine böse Gesinnung besitzt und deshalb als böser Mensch bezeichnet werden darf. Warum aber sollte sich aus seiner Argumenta61 62 63 64 65 66

Ebd., 36. Ebd. Ebd., 37. Ebd. Ebd., 36. Ebd.

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tion ergeben, dass ein Akteur nur dann eine moralisch wertvolle Handlung ausführen kann, wenn er auch über eine gute Gesinnung verfügt? Der Schlüssel liegt darin, dass Kant in Religion eine erweiterte Perspektive auf die Frage einnimmt, unter welchen Voraussetzungen Akteure verlässlich moralisch handeln. Nach seiner neuen Einschätzung handelt ein Akteur nur dann verlässlich moralisch, wenn er sich allgemein dafür entschieden hat, nur solche handlungsbezogene Maximen zu wählen, die mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen. Neu ist die Meinung Kants, dass wir nur dann nicht zufällig mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen, wenn wir nicht nur aus einzelnen guten Maximen, sondern auch aus einer allgemeinen guten Gesinnung handeln. Zur Transparenz bringt Kant diese Auffassung anhand der Unterscheidung des „Menschen von guten Sitten“ vom „sittlich guten Menschen“: Es ist aber zwischen einem Menschen von guten Sitten (bene moratus) und einem sittlich guten Menschen (moraliter bonus), was die Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz betrifft, kein Unterschied (wenigstens darf keiner sein); nur daß sie bei dem einen eben nicht immer, vielleicht nie das Gesetz, bei dem andern aber es jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder haben. Man kann von dem Ersteren sagen: er befolge das Gesetz dem Buchstaben nach (d.i. was die Handlung angeht, die das Gesetz gebietet); vom Zweiten aber: er beobachte es dem Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses für sich allein zur Triebfeder hinreichend sei). Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach). Denn wenn andre Triebfedern nöthig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinct, dergleichen das Mitleiden ist), so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, nach deren Güte aller moralische Werth der Person geschätzt werden muß, ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse.67

Unterschieden sind der Mensch von guten Sitten und der sittlich gute Mensch dadurch, dass der Mensch von guten Sitten nicht im Besitz der moralischen Gesinnung ist und die Triebfeder seiner Handlungen „nicht immer, vielleicht nie“68 im moralischen Gesetz liegt, während der sittlich gut Menschen über die moralische Gesinnung verfügt und das moralische Gesetz „jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder“69 hat. Kant räumt damit die Möglichkeit ein, dass der Mensch von guten Sitten in Einzelfällen auch aus guten Maximen handelt. Allerdings ist jemand, der in einzelnen Fällen aus einer guten Maxime handelt, seiner Kritik zufolge durch sein moralisches Überlegen nicht verlässlich an die Autorität des moralischen Gesetzes gebunden. Nach Kant handelt der Mensch von guten Sitten auch in den Fällen, in denen er vom moralischen Gesetz geleitet ist, nur zufällig 67 68 69

Ebd., 30. Ebd. Ebd.

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moralisch, weil sein Handeln in anderen Fällen von der Neigung bestimmt ist. Da er über keinen allgemeinen Grund dafür verfügt, aus guten Maximen zu handeln, kommt bei ihm die Übereinstimmung seiner Handlungen mit dem moralischen Gesetz nur zufällig zustande. Im Resultat besteht Kants Meinung darin, dass sich das moralkonforme Handeln eines Akteurs dem Zufall verdankt, wenn er nicht auch aus moralischer Gesinnung handelt.70 Insgesamt behält Kant die Ansicht bei, dass der moralische Wert einer Handlung auf der Wahl einer Maxime basiert, die den Akteur zuverlässig zu einer moralischen Handlung führt. Allerdings generalisiert Kant in Religion den für die Zuschreibung von moralischem Wert leitenden Aspekt der Verlässlichkeit. Verlässlich handelt ein Akteur nach der neuen Auffassung durch die Wahl einer Gesinnung, die ihn als Meta-Maxime nur solche Maximen ergreifen lässt, die ihn sicher zu moralischen Handlungen führen. Damit behauptet Kant, dass ein Akteur nur dann zuverlässig moralisch handelt, wenn er sich als Person auf die Geltung des Moralgesetzes festgelegt hat. In anderen Worten wird jemand nur dadurch zu einem verlässlichen moralischen Akteur, dass er die Bindung an das Moralgesetz in seinen Charakter aufgenommen hat. Tatsächlich erscheint es auch nicht als sinnvoll, einem Akteur, der nur episodisch aus der Orientierung am moralisch Richtigen handelt, moralisch wertvolles Handeln zuzuerkennen. Es leuchtet dagegen ein, dass ein Akteur nur dann verlässlich moralisch handelt, wenn eine positive Einstellung gegenüber dem moralischen Handeln eine stabile Charaktereigenschaft ausmacht. Entsprechend setzt moralisch wertvolles Handeln für Kant eine allgemeine Gesinnung voraus, die in der Festlegung auf den Vorrang der Moral vor der Selbstliebe besteht.71 Daraus ergibt sich, dass Kant in Religion den moralischen Wert von Handlungen und Personen nicht mehr als zwei voneinander unabhängige Größen betrachtet. Zwar kommt Kant auch in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft auf den moralischen Wert der Person zu sprechen. Auch dort hält es Kant für den moralischen Wert der Person für notwendig, dass sie über eine mit dem moralischen Gesetz übereinstimmende Gesinnung verfügt.72 Die beiden Auch Hills argumentiert dafür, dass die Gesinnung laut Religion eine notwendige Bedingung für moralischen Wert darstellt (vgl. Hills, ,Gesinnung" [wie Anm. 57], 89–91). Sie resümiert: „Morally worthy action needs a good maxim, based on a good metamaxim, and that is all“ (ebd., 91). 71 So auch Hills: „A morally worthy action is the result of a deep and wholehearted commitment to morality“ (ebd., 90). 72 Vgl. KpV, AA 05: 129. Nach einer weiteren Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft liegt „die erste Bedingung alles Wertes der Person“ (ebd., 73) in der „Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem [dem moralischen, A.V.] Gesetze übereinstimmt“ (ebd.). Außerdem ist laut Grundlegung für den moralischen Wert des Charakters notwendig, „daß er wohlthue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ (GMS, AA 04: 399). – Vom moralischen Wert, den sich eine Person durch die Wahl ihrer Gesinnung und ihre Handlungen erwirbt, ist der Wert unterschieden, der ihr aufgrund ihres Per70

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früheren Schriften schließen aber nicht die Möglichkeit aus, dass eine Person ohne moralische Gesinnung und moralischen Wert in einzelnen Fällen – dann und wann – moralisch wertvoll handelt. Demgegenüber geht Kant in Religion davon aus, dass der moralische Wert ihrer Handlungen vom moralischen Wert der Person abhängt, da nur solche Personen moralisch wertvoll zu handeln imstande sind, die über eine gute Gesinnung verfügen und danach streben, sie in ihren Handlungen zu manifestieren.73

III. Die Revolution in der Gesinnung Auch wenn Kant über einen guten Grund dafür verfügt, den moralischen Wert einer Handlung mit der guten Gesinnung des Akteurs zu verknüpfen, führt diese Auffassung zu einer Schwierigkeit. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Kant anspruchsvolle Bedingungen für moralisch wertvolles Handeln einführt, denen normale Akteure realistischer Weise nicht entsprechen. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass nach Kant eine jede gesetzwidrige Handlung unabhängig von ihrer Schwere ausschließt, dass der Akteur eine gute Gesinnung hat.74 Macht aber die Schwere und Häufigkeit gesetzwidriger Handlungen keinen Unterschied, so müssen wir realistisch betrachtet alle über eine böse Gesinnung verfügen und können in der Konsequenz alle noch nie moralisch wertvoll gehandelt haben. Wenigstens ist es sehr wahrscheinlich, dass wir noch nie moralisch wertvoll gehandelt haben, wenn schon eine einzige, vielleicht sogar unerhebliche gesetzwidrige Handlung zwingend gegen den Besitz einer guten Gesinnung spricht. – Aber hält es Kant tatsächlich für möglich oder geht sogar davon aus, dass wir noch nie moralisch gehandelt haben? Man kann nach weiterer Evidenz dafür suchen, dass Kant einer dieser beiden Meinungen anhängt. So ist laut Grundlegung zumindest für den kaltblütigen Beobachter zweifelhaft, „ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend angetroffen werde“.75 Auch im Gemeinspruch (1793) erklärt es Kant ausdrücklich für möglich, dass wir noch nie moralisch gehandelt haben: „Vielleicht mag nie ein Mensch seine erkannte und von ihm auch verehrte Pflicht ganz uneigennützig sonseins und damit als Zweck an sich selbst zukommt und der nicht erworben oder verloren werden kann (vgl. ebd., 428). 73 Auch Guyer führt Kants Konzeption von moralischem Wert auf die Wahl der Gesinnung als fundamentale Maxime zurück, er erkennt darin aber keine Revision früherer Aussagen; vgl. Guyer, Moral Worth and Moral Motivation (wie Anm. 42). 74 Auch Horn sieht Kant auf die Ansicht festgelegt, dass alle moralischen Verfehlungen gleich viel zählen, und erkennt darin eine „stark revisionäre Überzeugung“ (Horn, Die menschliche Gattungsnatur [wie Anm. 55], 67). 75 GMS, AA 04: 407.

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(ohne Beimischung anderer Triebfedern) ausgeübt haben; vielleicht wird auch nie einer bei der größten Bestrebung so weit gelangen.“76 Allerdings bezieht sich Kant hier nur auf das epistemische Problem, dass wir auch fälschlich glauben können, uneigennützig aus Pflicht zu handeln.77 Wie er hervorhebt, kann ein Akteur in der Selbstzuschreibung moralisch wertvoller Handlungen im Irrtum liegen, weil er keinen sicheren Zugang zu den Gründen hat, aus denen er handelt: Nämlich ich räume gern ein, daß kein Mensch sich mit Gewißheit bewußt werden könne, seine Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben: denn das gehört zur inneren Erfahrung, und es würde zu diesem Bewußtsein seines Seelenzustandes eine durchgängig klare Vorstellung aller sich dem Pflichtbegriffe durch Einbildungskraft, Gewohnheit und Neigung beigesellenden Nebenvorstellungen und Rücksichten gehören, die in keinem Falle gefordert werden kann; auch überhaupt kann das Nichtsein von Etwas (mithin auch nicht von einem ingeheim gedachten Vortheil) kein Gegenstand der Erfahrung sein.78

Nach Kant liegt es an der Besonderheit der inneren Erfahrung, dass wir uns nicht sicher darüber sein können, aus welchen Gründen wir gehandelt haben. Er hält es daher für möglich, dass wir uns aufgrund der Intransparenz unserer Handlungsmotive in jedem einzelnen Fall und deshalb in allen Fällen fälschlich moralisch wertvolle Handlungen zuschreiben können. Da wir nicht mit Sicherheit bestimmen können, ob wir aus einer guten Maxime handeln, ist es nach diesem Argument zumindest möglich, dass wir noch nie moralisch wertvoll gehandelt haben.79 In Religion gibt Kant weiterreichende Unterstützung für die These, dass wir wahrscheinlich noch nie moralisch wertvoll gehandelt haben. In der „Allgemeinen Anmerkung“ zum ersten Stück beschäftigt sich Kant in großen Teilen mit der Frage, wodurch moralischer Fortschritt des Einzelnen wie der Gattung zustande kommt und Tugend als „der zur Fertigkeit gewordene feste Vorsatz in Befolgung TP, AA 08: 285. Kant versucht aber zu vermeiden, dass die Unsicherheit über den moralischen Charakter unserer Handlungsgründe den moralischen Skeptizismus nach sich zieht: „Aber so viel er bei der sorgfältigsten Selbstprüfung in sich wahrnehmen kann, nicht allein keiner solchen mitwirkenden Motive, sondern vielmehr der Selbstverläugnung in Ansehung vieler der Idee der Pflicht entgegenstehenden, mithin der Maxime zu jener Reinigkeit hinzustreben sich bewußt zu werden: das vermag er; und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug“ (ebd.). 78 Ebd. 79 Daraus folgt nicht, dass alle unsere Handlungen moralisch lediglich Tadel verdienen. Das ist nicht der Fall, weil der moralische Wert für Kant nur eine Kategorie von moralischer Bewertung neben moralischem Verdienst und der Tugend ist. Den Begriff des moralischen Werts im Zusammenhang mit anderen Aspekten moralischer Bewertung bei Kant diskutieren Paul Guyer, Moral Worth, Virtue, and Merit, in: ders., Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge, New York 2000, 287–329 und Allen W. Wood, Moral Worth, Merit, and Acting from Duty, in: ders., The Free Development of Each. Studies on Freedom, Right, and Ethics in Classical German Philosophy, Oxford, New York 2014, 13–39. 76

77

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seiner Pflicht“80 erworben wird. Er behandelt dabei die Alternative, ob eine Änderung des äußeren Verhaltens der Änderung der Gesinnung oder eine Änderung der Gesinnung der Änderung des äußeren Verhaltens vorangehen muss. Strikt lehnt er jedoch die Vorstellung ab, nach der es für die moralische Entwicklung notwendig ist, dass sich der Mensch zunächst „durch allmählige Reformen seines Verhaltens“81 an gesetzmäßiges Handeln gewöhnt.82 Auch wenn diese Auffassung laut Kant allgemein verbreitet ist,83 so ist sie doch falsch und für die moralische Entwicklung sogar schädlich. Nach seiner Kritik führt die äußere Anpassung an gesetzmäßiges Handeln nicht zur Internalisierung des Moralgesetzes, sondern lediglich zur Unlauterkeit, bei der sich Akteure aufgrund ihres gesetzmäßigen Handelns Tugend zuschreiben, obgleich sie tatsächlich aus bösen Maximen handeln. Unlautere Akteure, die andere und sich selbst darüber täuschen, dass sie aus bösen Maximen handeln, begehen jedoch einen schwerwiegenden moralischen Fehler. Da sie nur dem Ziel der Glückseligkeit folgen, obzwar sie sich Tugend zuschreiben, werden sie auch gesetzwidrige Handlungen in Kauf nehmen, wenn sich dadurch größere Glückseligkeit erreichen lässt. Nach Kant lässt sich durch eine Verhaltensänderung keine Wende zur Moral vollziehen, weil eine Änderung des Verhaltens ohne Änderung der Gesinnung lediglich Unlauterkeit hervorruft und am Ende zu gesetzeswidrigem Handeln verleitet. Stattdessen setzt moralischer Fortschritt gemäß Kant voraus, dass jeder Mensch eine Konversion der Gesinnung vollzieht, mit der er den für die Gattung gegebenen Hang zum Bösen überwindet und die ursprüngliche Anlage zum Guten wiederherstellt: Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden.84

RGV, AA 06: 47. Ebd. 82 Wie Kant darstellt, besteht die Tugend in empirischer Hinsicht in einem beharrlichen gesetzesmäßigen Handeln ungeachtet der Handlungsmotive („die Triebfeder, deren die Willkür hiezu bedarf, mag man nehmen, woher man wolle“, ebd.). Zwar kann durch allmähliche Einübung auch nach Kant tatsächlich „eine Änderung der Sitten“ (ebd.) erreichen werden; die moralische Entwicklung wird durch eine Sittenänderung allein aber nicht befördert, da das Risiko der Unlauterkeit zu groß ist. 83 Vgl. ebd., 48. 84 Ebd., 47. 80

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Nach der Position Kants muss die moralische Entwicklung anstatt von einer Änderung des empirischen Charakters von einer Änderung des intelligiblen Charakters durch einen Gesinnungswechsel als Tat außerhalb der Zeitbedingung ausgehen.85 Ihm zufolge kann sich der Mensch in seinem empirischen Charakter durch „die allmähliche Reform […] für die Sinnesart“86 nur dann moralisch verbessern, wenn er sich zuvor in seinem intelligiblen Charakter die moralische Gesinnung durch die „Revolution der Denkungsart“87 angeeignet hat. Wenn auch indirekt, so präsentiert Kant damit einen positiven Grund dafür, dass wir wahrscheinlich noch nie moralisch gehandelt haben. Seiner Meinung nach ist die moralische Verbesserung des Menschen bislang nicht in Gang gekommen, weil die Menschen in ihrer Allgemeinheit ihre Gesinnung noch nicht umgewandelt haben. Ohne Annahme der moralischen Gesinnung bleibt aber auch eine notwendige Bedingung für moralisch wertvolles Handeln unerfüllt. In Kants Meinung, dass ohne moralische Gesinnung keine positive moralische Entwicklung herbeigeführt werden kann, spiegelt sich die These wider, dass moralisch wertvolles Handeln eine gute Gesinnung voraussetzt. Nach seiner Ansicht ist der moralische Fortschritt noch nicht eingetreten, weil die Menschen noch nicht begonnen haben, moralisch wertvoll zu handeln.

VI. Schluss Zusammengefasst nimmt Kant in Religion eine Korrektur an seinem Verständnis davon vor, worauf der moralische Wert von Handlungen basiert. Nach seiner neuen Vorstellung handelt ein Akteur, der seine handlungsbezogene Maxime aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem Moralgesetz wählt, noch nicht notwendig moralisch wertvoll. Stattdessen muss er unabhängig von allen untergeordneten guten Maximen auch über eine gute Gesinnung verfügen und sich auf den allgemeinen Vorrang des Moralgesetzes vor der Selbstliebe festlegen. Der Grund für diese Meinungsänderung besteht darin, dass ein Akteur nur dann moralisch verlässlich ist, wenn er sich die Treue gegenüber dem Moralgesetz zu eigen gemacht hat. Dass der Erwerb einer guten Gesinnung von Kant als zugleich besonders anspruchsvoll und besonders wichtig betrachtet wird, geht auch daraus hervor, dass er moralischen Fortschritt ohne sie für ausgeschlossen hält. Gemäß Kant beruht der moralische Wert einer Handlung auf der Maxime, aus der sie vollzogen wird. Wie er vor allem in der Grundlegung darlegt, kommt einer Handlung genau 85 86 87

Vgl. ebd., 31. Ebd., 47. Ebd.

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dann moralischer Wert zu, wenn sie aus einer Maxime erfolgt, die aufgrund ihrer Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz gewählt wird. Kants Verständnis vom moralischen Wert von Handlungen erfährt in Religion jedoch eine Korrektur. Nun bringt er die Meinung zum Ausdruck, dass ein Akteur nur dann moralisch wertvoll handelt, wenn er auch über eine moralische Gesinnung als charakterliche Eigenschaft verfügt. Nach seiner neuen Auffassung können nur solche Personen moralisch wertvoll handeln, die eine gute Gesinnung besitzen und diese in ihren Handlungen auszudrücken bestrebt sind. Allerdings hängt der Besitz einer guten Gesinnung nach Kant von anspruchsvollen Bedingungen ab, die normale Akteure realistischer Weise nicht erfüllen. Dies stimmt mit Kants Auffassung überein, dass moralischer Fortschritt aussteht, weil die erforderliche Konversion der Gesinnung noch nicht vollzogen wurde. According to Kant, the moral worth of an action depends on its maxim. As he explains, particularly in the Groundwork, moral worth accrues to an action when the action rests on a maxim selected for its accordance with the moral law. With respect to Religion, however, Kant modifies his understanding of the moral worth of actions. He now expresses the view that an agent acts morally worthy only if he possesses a moral Gesinnung as a character trait. According to this opinion, only such persons can act in a manner that has moral worth who own a good Gesinnung and seek to express it in their actions. But to be in possession of a good Gesinnung depends, according to Kant, on strict conditions that ordinary actors will not realistically be able to fulfil. This accords with Kant!s verdict that moral progress has not yet taken place because the conversion in Gesinnung that it would require is still outstanding. Dr. Achim Vesper, Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt am Main (im akademischen Jahr 2018/19 Visiting Fellow am Institute of Advanced Study, Princeton), Email: [email protected]

Manfred Baum „Pflicht! du erhabener, großer Name.“ Betrachtungen zu Pflicht und Verbindlichkeit bei Kant

I. Am Ende des Kapitels „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ in Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) steht die berühmte bzw. berüchtigte Apostrophe an die Pflicht, aus der das obige Zitat stammt.1 Der Terminus ,Pflicht" hat bei Kant mehrere Bedeutungen, die gelegentlich in irritierender Weise voneinander abweichen oder synonym mit den Bedeutungen anderer Termini verwendet werden. So heißt es z. B. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Pflicht sei „Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“2 oder „praktisch-unbedingte Nothwendigkeit der Handlung“3 bzw. „objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit“4 oder „die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz“,5 und insofern ist sie eine Art von „praktische[r] Nöthigung“.6 Auch ohne genauere Analyse ist aus diesen Beispielen und ihrem Kontext dreierlei ersichtlich: (1) dass die so verstandene Pflicht ein moralisches Gesetz voraussetzt, (2) dass die Relation zwischen Gesetz und Handlung, die Verbindlichkeit, mit dem Gefühl der Achtung begleitet wird und (3) dass die hier gemeinte Pflicht eine ethische Pflicht und keine Rechtspflicht ist. Von der so verstandenen Pflicht sagt Kant: „was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar.“7 Und Tittels Bemerkung, dass die Grundlegung „kein neues Princip der Moralität“ aufgestellt habe, bestätigt Kant: „Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diesen gleichsam zuerst er1 2 3 4 5 6 7

KpV, AA 05: 86. GMS, AA 04: 400. Ebd., 425. Ebd., 439. Ebd., 403. Ebd., 434. KpV, AA 05: 36.

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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finden? gleich als ob vor ihm die Welt zu dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre.“8 Dieses Prinzip der Moralität beziehungsweise dieser Grundsatz aller Sittlichkeit wird im Haupttext zu dieser Fußnote das „Princip der Pflicht“ genannt, mit dem die Grundlegung eine „vorläufige Bekanntschaft“9 vermittelt habe. Auch daraus ist ersichtlich, dass Kant in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft unter ,Pflicht" die ethische Pflicht versteht. Der Eindeutigkeit des Terminus steht zudem entgegen, dass auch nach heutigem Sprachgebrauch ,Pflichten" und ,Verbindlichkeiten" beziehungsweise ,Verpflichtungen" wie Synonyme verwendet werden können. Damit sind wir bei der zweiten Bedeutung des Terminus ,Pflicht", die seiner Verwendung bei Baumgarten entspricht: „Actio legi conformis est officium.“10 Das entspricht genau Wolffs Definition der Pflicht in seiner Deutschen Ethik: „Durch die Pflicht verstehen wir eine Handlung, die dem Gesetz gemäß ist.“11 Wolffs folgende Sätze machen verständlich, warum die Termini ,Pflicht" und ,Verbindlichkeit" nicht selten als Synonyme gebraucht werden: „Da nun kein Gesetze ohne Verbindlichkeit ist (§ 16); so sind die Pflichten Handlungen, die wir zu vollbringen verbunden sind. Und daher pflegen wir zu sagen: es ist meine Pflicht dieses zu thun, wenn wir andeuten wollen, daß wir es zu thun verbunden.“12 Allerdings sind diese Definitionen der Pflicht als einer besonderen Art von Handlungen (einschließlich der Unterlassungen), die durch Gesetz geboten sind, nicht leicht in Einklang zu bringen mit Kants „Princip der Pflicht“, in welchem keine Handlungen geboten werden, sondern nur eine gewisse Form unserer Maximen, also ein bestimmtes Wollen. Gewollt werden Handlungen, die der Realisierung von Zwecken dienen, aber nach Kant sind die moralischen Gesetze für äußere Handlungen, die Rechtsgesetze, ganz unabhängig von den ihnen zu Grunde liegenden Maximen des Willens verbindlich. Umgekehrt heißt das: „Die Ethik giebt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das thut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungen.“13 Dann aber ist Kants „Princip der Pflicht“ allenfalls mittelbar ein Gebot von Handlungen, und der Begriff der Pflicht muss so bestimmt werden, dass er auch das Wollen, d. h. die Zwecksetzung und die Maximenwahl, also das innere Handeln umfasst. In diesem Sinne sagt Kant vom moralischen Gesetz und der durch es gebotenen Handlung:

Ebd., 8 Anm. Ebd. 10 Alexander Gottlieb Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, Halle 1760, § 83. 11 Christian Wolff, Vernünfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Deutsche Ethik), Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 4, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, New York 1976 (Frankfurt am Main, Leipzig 41733), § 221. 12 Ebd. 13 MS, AA 06: 388. 8 9

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Das Gesetz, was diese Achtung fordert und auch einflößt, ist […] kein anderes als das moralische (denn kein anderes schließt alle Neigungen von der Unmittelbarkeit ihres Einflusses auf den Willen aus). Die Handlung, die nach diesem Gesetze mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung objectiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche um dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nöthigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen so ungerne, wie sie auch geschehen mögen, enthält.14

Das ist auch die Bedeutung von Pflicht, die in der Metaphysik der Sitten definiert wird: „Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.“15 So sind die vier Beispielspflichten aus der Grundlegung Handlungen, zu deren Unterlassung wir durch den „Grundsatz aller Sittlichkeit“ ethisch verbunden sind, das heißt durch die Unmöglichkeit, ihre jeweilige Maxime als allgemeines Gesetz zu wollen, obwohl mindestens eine dieser Handlungen, die die „schuldige Pflicht gegen andere“16 betrifft, nämlich das „lügenhafte Versprechen“17 auch rechtlich als verboten beurteilt werden muss, da eine solche Handlung mit dem allgemeinen Rechtsgesetz, das Kompatibilität „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze“18 gebietet, nicht vereinbar ist. Das gilt ebenso für die Maxime der Unterschlagung eines Depositums,19 die nicht als allgemeines praktisches Gesetz gewollt werden kann, während die Handlung selbst nach dem Rechtsgesetz des gesetzlich allgemeinen Freiheitsgebrauchs verboten und strafbar ist. Allerdings hat die Erkenntnis besonderer Pflichten aus dem „Princip der Pflicht“ auch innerhalb der Ethik ihre Probleme, die dadurch verschärft werden, dass Kant in den vier Beispielen der Grundlegung nur Unterlassungspflichten aus der allgemeinen und den besonderen Formeln des kategorischen Imperativs abgeleitet hat. Nach der Ableitung von vier Pflichten aus der Naturgesetzformel bezieht sich Kant auf die allgemeine Formel zurück: Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten, deren Ableitung aus dem einigen angegebenen Princip klar in die Augen fällt. Man muß wollen können, daß die Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben überhaupt.20

14 15 16 17 18 19 20

KpV, AA 05: 80. MS, AA 06: 222. GMS, AA 04: 429. Ebd. MS, AA 06: 231. KpV, AA 05: 27 f. GMS, AA 04: 423 f.

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Dieses Prinzip hat Kant dann „das Princip der Autonomie des Willens selbst“21 genannt und unter der Annahme der positiven Freiheit meines Willens als eines zur Verstandeswelt gehörigen Willens über das Verhältnis meiner Pflichten zu ihrem Prinzip behauptet: So werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der [Verstandeswelt], d.i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz [der Verstandeswelt] enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen.22

Ich sehe hier ab von den mit dieser „Deduction“ eines kategorischen Imperativs verbundenen Schwierigkeiten und verweise nur auf zwei weitere durch diesen Text gestellte Probleme: (1) Sind die dem Prinzip der Autonomie als Prinzip der Pflicht „gemäßen Handlungen“ für Kant „als Pflichten“ anzusehen? (2) Wie verhielte sich eine solche Behauptung zu dem von Kant vorher über das Verhältnis von Autonomieprinzip und menschlichen Handlungen Gesagten: „Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt, die nicht damit stimmt, ist unerlaubt“?23 Die Lesart, dass eine dem Prinzip der Autonomie, also dem allgemeinen Sittengesetz, gemäße Handlung eine Pflicht sei, entspricht ganz der oben zitierten Definition von Baumgarten: „Actio legi conformis est officium“, zumal dann, wenn wir voraussetzen, dass die „lex“, von der Baumgarten spricht, in den beiden „leges naturales“ zum Ausdruck kommt: „committe bonum“ und „omitte malum“.24 Denn das sind Gebote von Handlungen. Wenn wir aber das kantische Prinzip der Pflicht als den Imperativ ansehen, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, die zugleich als ein allgemeines Gesetz gewollt werden kann, so ist ersichtlich, dass hier weder eine bestimmte Handlung, noch ein bestimmtes Wollen, weder ein Zweck noch eine Maxime geboten werden, sondern nur die Gesetzestauglichkeit als Form von beliebigen Maximen als Selektionsregel unter allen möglichen Maximen. Wenn eine Maxime als allgemeines praktisches Gesetz für alle Vernunftwesen gewollt werden kann, dann ist sie auch geeignet, durch den Willen eines jeden Vernunftwesens selbst, für den eigenen Willen und den aller anderen vernünftigen Handelnden, als Gesetz gegeben zu werden. Das ist eine der Bedeutungen von Autonomie des Willens. „Moralität ist […] das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemei21 22 23 24

Ebd., 449. Ebd., 453. Ebd., 439. Baumgarten, Initia (wie Anm. 10), 83.

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nen Gesetzgebung durch die Maximen desselben.“25 Wenn aber eine Maxime diesen formalen Anforderungen genügt, dann sind sie selbst und die ihr entsprechender Handlung dem moralischen Gesetz der Maximen gemäß und also erlaubt, wenn das nicht der Fall ist, dann sind sie beide unerlaubt bzw. verboten, weil gesetzwidrig. Das Prinzip der Pflicht kann also so ausgedrückt werden: handele nur nach (gesetzestauglichen, d. h.) erlaubten Maximen, nämlich solchen, die du für alle vernünftig Handelnden als praktisches Gesetz ihres Willens geben könntest. Das ist die Pflicht, die es als Imperativ gebietet, nämlich eine besondere Art zu handeln, die durch ihre Maxime bestimmt ist. Darin allein besteht die ,Gemäßheit" der Handlungen, ihren Maximen nach, mit dem Prinzip der Autonomie, durch die nicht eine Handlung zur Pflicht gemacht wird, sondern nur die Form der Gesetzestauglichkeit für beliebige Handlungsmaximen, durch die sie sich dazu qualifizieren, durch dich selbst als Gesetzgeber dir selbst und allen anderen Vernunftwesen als mögliches Willensgesetz vorgeschrieben zu werden. In diesem (zweiten) Sinne von Autonomie kann Kant deshalb sagen, dass das Prinzip der Sittlichkeit ein kategorischer Imperativ sei, der „nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete.“26 Wie verhalten sich aber Handlungen, die Pflichten sind, zu (ihren Maximen nach) erlaubten Handlungen? Sie sind offenbar (ihren Maximen nach) eine Teilklasse der erlaubten Handlungen. Alle Handlungen sind entweder Begehungshandlungen (commissiones) oder Unterlassungshandlungen (omissiones), und das durch ein Gesetz begründete Gebot ist entsprechend ein Begehungs- oder ein Unterlassungsgebot, wobei letzteres dasselbe ist, wie das Verbot einer (Begehungs-)Handlung. Solche sittlichen Verbote sind durch einfache Anwendung des Prinzips der Pflicht zu erkennen: Ist die Maxime einer Handlung nicht geeignet als allgemeines Gesetz gewollt zu werden, so sind sie selbst und die ihr korrespondierende Handlung verboten, wie Kant es an den vier Pflichtarten im zweiten Abschnitt der Grundlegung vorgeführt hat, aber wenn die Maxime einer Begehungshandlung geeignet ist als allgemeines Willensgesetz gegeben zu werden, so ist sie insofern (samt der ihr entsprechenden Handlung) nur erlaubt, das Handeln nach ihr ist aber noch nicht als Pflicht erkannt. Dazu ist eine zweite Anwendung des Prinzips der Pflicht erforderlich, durch die die Maxime in ihrer sittlichen Notwendigkeit erkannt wird. Das ist dann der Fall, wenn die Maxime der gegenteiligen Handlung, d. h. der Unterlassung dieser Handlung, als unmöglich erkannt wird, sofern sie als allgemeines Gesetz gewollt wird. Kant gibt im zweiten Abschnitt der Grundlegung ein Beispiel. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Maxime der Beförderung fremder Glückseligkeit erlaubt ist, weil sie als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. „So soll ich zum Beispiel fremde Glückseligkeit zu befördern 25 26

GMS, AA 04: 439. Ebd., 440.

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suchen, […] bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeines Gesetz, begriffen werden kann.“27 Wenn also die Maxime, die Beförderung fremder Glückseligkeit zu unterlassen, nicht als allgemeines Gesetz des Willens aller Vernunftwesen gewollt werden kann, so ist die Maxime der Beförderung fremder Glückseligkeit als notwendig und die entsprechende Handlung als (Begehungs-)Pflicht erkannt, d. h. ich soll fremde Glückseligkeit zu befördern suchen. Also kann die Pflicht der Beförderung fremder Glückseligkeit als solche aus dem Prinzip der Autonomie (durch dessen zweifache Anwendung) a priori erkannt werden. Kehren wir zu Kants Apostrophe an die Pflicht zurück. Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegenwirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein selbst geben können?28

Wir finden, dass Kant hier in einem dritten Sinne von ,Pflicht" spricht, wenn er sagt, dass sie „bloß ein Gesetz aufstellt, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt“.29 Hier wird offenbar weder ein Gesetz vorausgesetzt noch ist von einer Handlung die Rede, die durch dieses Gesetz notwendig gemacht wird, sondern von einem Grund dieses Gesetzes selbst, durch den es „aufgestellt“ wird, also von einem Gesetzgeber, als den man, nach § 7 Anm., die „reine, an sich praktische Vernunft“30 vermuten wird. Von ihr ist allerdings zunächst nicht die Rede. Vielmehr wird nach dem „Ursprung“ der feierlich angeredeten Pflicht gefragt, als der „Wurzel deiner edlen Abkunft, welcher alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein geben können.“31 Als Ursprung und Wurzel der Pflicht wird also etwas im Menschen angenommen, das ihre Handlungen bestimmt, so dass diese Menschen durch ihr Handeln nicht nur beweisen, dass sie im Reiche der Natur einen besonderen Wert haben, sondern ihn sich selbst „geben“ können, indem sie das Gesetz der Pflicht befolgen, 27 28 29 30 31

Ebd., 441. KpV, AA 05: 86. Ebd. Ebd., 31. Ebd., 86.

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was allerdings „nicht immer“ der Fall ist. Denn wie jedes praktische Gesetz kann auch das Prinzip der Pflicht übertreten werden, da es ein Gesetz der Freiheit und nicht der Natur ist. Aber statt der reinen praktischen Vernunft als des wahrhaften oberen Begehrungsvermögens, im Kontrast zu dem, was Wolff und Baumgarten darunter verstanden haben, wird etwas anderes im Menschen genannt, von dem bisher nur flüchtig die Rede war, und das zunächst nur umschrieben wird: [E]s kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Theil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen als das moralische angemessen ist) unter sich hat.32

Die Pflicht wurzelt also in etwas im Menschen, das ihn zum Mitglied einer bloß intelligiblen „Ordnung der Dinge“ macht, also einer Verstandeswelt, die die Sinnenwelt und mit ihr das zeitliche Dasein der Menschen und die Gesamtheit ihrer jeweiligen Zwecksetzungen, die durch das moralische Gesetz normiert wird, in irgend einer Weise „unter sich hat“, weshalb sie den in ihre Ordnung eingebundenen empirisch erkennbaren Menschen „über sich selbst erhebt“. Dieses Etwas ist nichts anders als die Persönlichkeit, d.i. Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört.33

Der Mensch als Person, d. h. als der Rechte und Pflichten fähiges Subjekt in der erfahrbaren Welt, ist demnach seiner eigenen Persönlichkeit „unterworfen“, die dem Menschen zu einer Doppelexistenz verhilft, einerseits in der Natur, als dem Inbegriff aller Gegenstände möglicher Erfahrung, und andererseits in einer nur denkbaren „intelligiblen Welt“, die seit dem kaiserzeitlichen Platonismus in der Geschichte der europäischen Philosophie wiederholt eine Rolle spielte. Diese intelligible Welt ist bei Kant eine moralische Welt von Vernunftwesen, zu der der Mensch als Persönlichkeit, d. h. als im negativen und positiven Sinne frei handelndes Wesen, gehören muss. Denn die Freiheit als „Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur“ muss ihm zugeschrieben werden, sofern er durch seine Vernunft sein Handeln auch entgegen seinen natürlichen Neigungen bestimmen kann. Und da er unter „reinen praktischen Gesetzen“ handelt, die alle aus dem allgemeinen Gesetz der Pflicht abgeleitet werden können oder doch mit ihm vereinbar sein müssen, so kommt ihm auch das positive ,Vermögen" zu, nach 32 33

Ebd., 86 f. Ebd., 87.

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gesetzestauglichen Maximen zu handeln, die er nur deshalb annimmt und befolgt, weil das Gesetz der Pflicht als ein Gesetz für diese Maximen diese gesetzliche Allgemeinheit gebietet. Diese positive Freiheit darf er sich zuschreiben, weil er sich dessen bewusst ist, dass er so wollen und handeln soll, sie ist also dasselbe wie die Bestimmbarkeit seines Willens durch das Gesetz der Pflicht. Aus ihm, dessen er sich als eines Faktums bewusst ist, folgt die positive oder ,transzendentale" Freiheit als Kausalität seines Willens als eines Vermögens aus Pflicht zu wollen und zu handeln. Da aber die Freiheit des Willens nicht nur kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, sondern sogar der Möglichkeit der Erfahrung widerspricht, zu der die Notwendigkeit aller Ereignisse nach dem Gesetz der Naturkausalität als einer Bedingung a priori gehört, so ist ihre aus dem faktischen Bewusstsein des obersten Sittengesetzes gefolgerte Wirklichkeit nur in einer intelligiblen Welt denkbar. Zu ihr muss die Persönlichkeit des Menschen als gleichsam personifizierter freier Wille also gehören können, wenn Freiheit als Bestimmbarkeit seines Willens durch das Gesetz der Pflicht nicht eine Chimäre sein soll. Deshalb ist es nach Kant „nicht zu verwundern, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß.“34 Das so verstandene „eigene Wesen“ des Menschen, seine freie Persönlichkeit, ist also der Ursprung oder die Wurzel der „Pflicht“, d. h. der Grund der Möglichkeit (ratio essendi) des Gesetzes der Pflicht, das seinerseits der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) dieser Freiheit ist.35 Insofern kann Kant auch sagen, dass das Faktum des Bewusstseins dieses Gesetzes „mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens […] einerlei sei“.36 Aber es ist zur Klarstellung dessen, was hier „Erkenntnis“ genannt wird, wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Wirklichkeit der Willensfreiheit und damit der menschlichen Persönlichkeit nicht Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis ist, zu der eine Anschauung des Willens und der Art, wie er durch die Idee eines Gesetzes zum Wollen bestimmt wird, gehören würde, über die wir nicht verfügen. Also müssen wir den menschlichen Willen als positiv frei denken, weil das faktische Bewusstsein in gewisser Weise wollen und handeln zu sollen, das Vermögen so zu wollen und zu handeln impliziert, und zwar nach dem naturrechtlichen Grundsatz: impossibilium nulla est obligatio, dessen affirmative Variante lautet: du kannst, denn du sollst. Die Freiheit des menschlichen Willens als eines Vermögens besteht darin, durch die Vorstellung des Gesetzes der Pflicht zum inneren und äußeren Handeln (der Wahl, Annahme und Befolgung einer gesetzestauglichen Maxime) bestimmt werden zu können, das heißt durch die Vorstellung (Idee) 34 35 36

Ebd. Ebd., 4 Anm. Ebd., 42.

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von etwas, das nur als unabhängig von aller Zeit gedacht werden kann, zu einem Handeln in der Zeit, was nicht als ein Fall von Naturkausalität, sondern nur als Kausalität eines nicht zur Natur und der Abfolge ihrer zeitbedingten Ereignisse Gehörigen, eines reinen praktischen Gesetzes der Vernunft gedacht werden kann, ohne dass wir von der Möglichkeit einer solchen Kausalität, das heißt der Freiheit, irgend eine theoretische Erkenntnis haben könnten. Die theoretische Voraussetzung dieser kantischen Argumentation ist natürlich der transzendentale Idealismus mit seiner Lehre von der Idealität der Zeit und damit des bloßen Erscheinungscharakters aller inneren und äußeren Ereignisse in der Zeit. Davon kann hier nicht weiter die Rede sein. Kant ergreift an dieser Stelle die Gelegenheit, die relative Berechtigung „manche[r] Ausdrücke“ aufzuklären, „welche den Wert der Gegenstände nach moralischen Ideen bezeichnen“.37 Da ist zunächst der der religiösen Sprache entlehnte Ausdruck „heilig“. Wenn man sagt: „das moralische Gesetz ist heilig“, so bedeutet das nur es ist „unverletzlich“,38 darf also nach dem Urteil der Vernunft, deren Gesetz es ist, nicht übertreten werden, obwohl dies oft genug geschieht. „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.“39 Die Menschheit des Menschen ist dasselbe wie die Persönlichkeit der Person, die als „Wurzel“ der „Pflicht“ gedacht werden kann, d. h. des reinen praktischen Prinzips der Pflicht, das „heilig“ genannt werden kann. Wichtiger ist der zweite Ausdruck, der des Menschen als „Zweck an sich selbst“.40 Auch hier bedient sich Kant der religiösen Sprache, indem er von der Natur als der „Schöpfung“ und vom Menschen und jedem Vernunftwesen als einem „vernünftige[n] Geschöpf“ Gottes spricht. Von dem so vorgestellten Menschen lässt sich sagen, er sei „Zweck an sich selbst“. Der Sinn dieses Ausdrucks wird, wie zuvor der des Ausdrucks „heilig“, vermittelst des zweifachen Sinnes von ,Autonomie" aufgeklärt. „Er [der Mensch] ist nämlich das Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.“41 Hier wird von der Selbstgesetzgebung in dem Sinne gesprochen, dass die menschliche reine praktische Vernunft und damit der Mensch das Subjekt des moralischen Gesetzes ist, also er selbst der Gesetzgeber für sein eigenes inneres und äußeres Handeln und das aller übrigen handelnden Vernunftwesen ist, und es nicht von einem von ihm verschiedenen Gesetzgeber vorgeschrieben wird. Das bedeutet ,Autonomie" im ersten Sinne, wobei die „Autonomie der Freiheit“ impliziert, dass das Handeln

37 38 39 40 41

Ebd., 87. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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aller Vernunftwesen im negativen Sinne frei ist und nicht von natürlichen Begierden und Bedürfnissen determiniert wird. Eben um dieser [Autonomie] Willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des [anderen, des] leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist.42

Hier impliziert also die allen Vernunftwesen zugesprochene Autonomie eine Einschränkung der moralischen Möglichkeit, durch die je eigene Maxime Selbstgesetzgeber für alle Vernunftwesen sein zu können. Das kann man ,Autonomie" im zweiten Sinne nennen. Denn nur diejenigen Maximen können von mir als allgemeines Gesetz für die Willen aller übrigen Vernunftwesen und deren Maximen gewollt werden, die sie selbst als Regeln ihres eigenen Verhaltens annehmen und zugleich als Maximen für die Handlungen aller von ihnen verschiedenen Vernunftwesen wollen können. Nun ist klar, dass meine Maxime, andere Vernunftwesen „blos als Mittel“43 für meine eigenen Zwecke zu gebrauchen, für diese andern den Verzicht auf ein Handeln nach eigenen Zwecken und Maximen bedeuten würde, wenn meine Maxime, sie bloß als Mittel zu gebrauchen, durch mich als Gesetzgeber zu ihrer Maxime gemacht würde. Die andern Vernunftwesen können also unmöglich wollen, dass meine Maxime sie zu einem bloßen Mittel meines Freiheitsgebrauchs macht. Die im obersten Sittengesetz geforderte Reziprozität des Handelns nach einer Maxime, die als allgemeines Gesetz und damit als Maxime aller gewollt werden können muss, schließt es also gerade aus, dass meine Maxime, andere bloß als Mittel zu gebrauchen, die Maxime aller sein kann.44 Sie ist nicht einstimmig mit „der Autonomie des vernünftigen Wesens“ überhaupt, d. h. aller vernünftigen Wesen, da sie nicht „aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte“45 und auch nicht von ihm als allgemeines Gesetz gewollt werden könnte, dem es hinsichtlich des jeweils eigenen Wollens unterworfen wäre. Autonomie oder Selbstgesetzgebung durch meine Maxime bedeutet hier also eine einschränkende Bedingung für die moralische Möglichkeit von Maximen. Meine Maxime kann durch mich selbst als Gesetzgeber dann nicht zum allgemeinen Gesetz gemacht werden, wenn sie der Selbstgesetzgebung anderer vernünftiger Wesen widerstreitet. Dass der Mensch also als „Zweck an sich selbst“ gedacht werden müsse, der nicht als bloßes Mittel anderer gebraucht werden darf, folgt also hier aus dem Prinzip der Autonomie unmittelbar und wird Ebd. Ebd. 44 Ich übergehe hier die kantische Begründung für die Pflichten eines Vernunftwesens gegen sich selbst. 45 Ebd. 42 43

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nicht, wie im zweiten Abschnitt der Grundlegung46 und im Schöpfungsglauben der Religion dogmatisch vorausgesetzt. Die aus dem Prinzip der Autonomie folgende Einschränkung im Gebrauch vernünftiger Wesen gilt nach Kant auch für den „göttlichen Willen“,47 denn sie beruht „auf der Persönlichkeit derselben, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind“48 und nicht auf einem von Gott gegenüber vernunftlosen „Geschöpfe[n]“ verliehenen Privileg. In dieser „Achtung erweckenden […] Idee der Persönlichkeit“49 sieht Kant auch eine Bestätigung seiner Lehre von den Triebfedern des menschlichen Wollens und Handelns: So ist die echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt und subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch afficirten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt.50

Das reine moralische Gesetz ist ein Prinzip der Pflicht und zugleich Triebfeder für alle menschlichen Handlungen als Pflichten, aber es eröffnet zugleich die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis der Menschen in der „Erhabenheit [ihrer] eigenen übersinnlichen Existenz“, die durch das Bewusstsein der Nötigung durch dieses Gesetz verbürgt wird. II. In Kants Preisschrift Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (1762, veröffentlicht 1764) handelt der § 2 der „Vierten Betrachtung“ in einer sehr kurzen Abhandlung von der Verbindlichkeit. Gleich zu Beginn sagt Kant, seine Absicht sei dabei, nur zu „zeigen, wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist.“51 Offenbar geht der Autor davon aus, dass Verbindlichkeit in Sollenssätze ausgedrückt wird. „Man soll dieses oder jenes tun und das andere lassen; dies ist die Formel, unter welcher eine jede Verbindlichkeit ausgesprochen wird.“52 Eine solche Formel ist weder ein Befehl noch ein Gesetz, sie sagt nur aus, dass eine Handlung (einschließlich einer Unterlassung) als praktisch notwendig angesehen wird. „Nun drückt jedes Sollen eine Nothwendigkeit der Handlung aus und ist einer zwiefachen Bedeutung fähig. 46 47 48 49 50 51 52

GMS, AA 04: 428. KpV, AA 05: 87. Ebd. Ebd. Ebd., 88. UD, AA 02: 298. Ebd.

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Ich soll nämlich entweder etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als ein Zweck) will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun und wirklich machen.“53 Diese Unterscheidung zweier Arten von praktischer Notwendigkeit wird in Anlehnung an Crusius! Anweisung getroffen,54 ist aber nicht mit dessen Unterscheidung identisch. Voraussetzung der kantischen Unterscheidung ist offenbar die Verschiedenheit von Handlung und Zweck und die Annahme, dass eine Handlung als das Mittel zur Verwirklichung von Zwecken angesehen werden kann. Dann bedeutet Kants Unterscheidung zweier praktischer Notwendigkeiten meines Handelns, dass ich entweder eine Handlung vollziehen soll, wenn sie nur ein geeignetes Mittel zu Verwirklichung eines von mir beabsichtigten anderen Zwecks ist, oder ich soll eine Handlung vollziehen, durch die unmittelbar ein Zweck verwirklicht wird. „Das erstere könnte man die Nothwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Nothwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen.“55 Die zweite der lateinischen Bezeichnungen wird von Kant nicht erläutert, denn von einem Gesetz, durch das Handlungen oder Zwecke notwendig gemacht werden, ist hier nicht die Rede, sondern im Folgenden nur von „Lehren der Moral“ und von „Handlungen, die die Moral […] vorschreibt“.56 Für die gesuchte Bestimmung des Begriffs der Verbindlichkeit und damit für den Dissens mit Crusius entscheidend ist der nächste Satz: „Die erstere Art der Nothwendigkeit [d. h. die der Handlungen als Mittel] zeigt gar keine Verbindlichkeit an, sondern nur die Vorschrift als die Auflösung von einem Problem, welche Mittel diejenige sind, deren ich mich bedienen müsse, wie ich einen gewissen Zweck erreichen will.“57 Statt der crusianischen „Verbindlichkeit der Klugheit“58 steht hier eine „Vorschrift“, der alle Verbindlichkeit abgesprochen wird. Also sind nur die unmittelbar Verwirklichung eines Zwecks fordernden Sollenssätze Ausdruck einer Verbindlichkeit. Wer einem andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdann nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Teile zerfällen will, d.i. es sind gar nicht Verbind-

Ebd. Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 1, hg. von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1969 (Leipzig 11744), § 162. 55 UD, AA 02: 298. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Crusius, Anweisung (wie Anm. 54), § 162. 53 54

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lichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will.59

Dieser Vergleich der seit der Antike allgemein verbreiteten Glückseligkeitsmoral und ihrer Klugheitsregeln für die menschliche Lebensführung mit den „Anweisungen eines geschickten Verhaltens“ zur Erreichung beliebiger Zwecke hätte deren zeitgenössische Vertreter schockieren müssen. Offenbar ist schon 1762 für Kant die Beförderung menschlicher Glückseligkeit kein Zweck, zu dessen Realisierung eine Verbindlichkeit besteht, also kein für den Menschen notwendiger Zweck. Der auf ihn bezogene Sollenssatz (der hier noch nicht Imperativ genannt wird) gilt also nur für Handlungen, die ausgeübt werden sollen, „wenn [ein Mensch] seine Glückseligkeit befördern wollte“, was offenbar nicht als ein notwendiger Zweck anzusehen ist. Aber Kant ist hier noch weit entfernt davon, eine Verbindlichkeit von Handlungen unabhängig von ihrem Zweck anzunehmen. Vielmehr folgt für ihn die Notwendigkeit der Handlungen aus der Notwendigkeit ihrer Zwecke, und dasselbe gilt entsprechend für die Zufälligkeit von Handlungen und Zwecken. Da nun der Gebrauch der Mittel keine andere Nothwendigkeit hat, als diejenige, so dem Zwecke zukommt, so sind so lange alle Handlungen, die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt, zufällig und können keine Verbindlichkeiten heißen, solange sie nicht einem an sich notwendigen Zwecke untergeordnet werden.60

Kant fordert hier also von der Moral zwar die Nichtbedingtheit der Handlung durch „gewisse Zwecke“, d. h. durch zufällige Zwecke, um einer entsprechenden Sollensvorschrift Verbindlichkeit zusprechen zu können, aber die Handlung, die allein „als unmittelbar nothwendig […] geboten“61 sein kann, ist doch eine, durch die ein Zweck, aber ein „an sich nothwendiger Zweck“ verwirklicht werden kann. Dieselbe Nichtbedingtheit durch „gewisse Zwecke“ wird von Kant nun auch den beiden von Wolff und Crusius angegebenen notwendigen Zwecken des menschlichen Handelns zugeschrieben. „Ich soll z. E. die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handlen.“62 Wenn diese beiden Sätze eine Verbindlichkeit aussagen, weil der nach ihnen „an sich nothwendige Zweck“, dessen unmittelbare Verwirklichung sie gebieten, die Notwendigkeit dieser ihm jeweils untergeordneten Handlung zur Folge hat, so entsteht für die Begründung einer so verstandenen Verbindlichkeit ein anscheinend unauflösliches Problem. Zunächst die Ausgangslage: „[W]elchem auch von diesen beiden Sätzen die ganze praktische Weltweisheit untergeordnet würde, so muß dieser Satz, wenn er eine Regel und Grund der Verbindlichkeit sein soll, 59 60 61 62

UD, AA 02: 298. Ebd. Ebd. Ebd.

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die Handlung als unmittelbar nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebieten.“63 Die ganze praktische Philosophie Wolffs und Crusius! kann als ihrem jeweiligen obersten Grundsatz untergeordnet angesehen werden, d. h. bei Wolff dem Satz „Ich soll […] die gesammte größte Vollkommenheit befördern“ und bei Crusius dem Satz „[I]ch soll dem Willen Gottes gemäß handlen“,64 und diese beiden Sätze müssen nicht nur selbst eine Verbindlichkeit aussagen, sondern auch „Regel und Grund“ aller aus ihnen ableitbaren besonderen Verbindlichkeiten sein. Die Grundsätze haben ihre Verbindlichkeit nur, weil die in ihnen als verbindlich ausgesagten Handlungen unmittelbar einem „an sich nothwendigen Zweck untergeordnet“ werden, nämlich der „gesammten größten Vollkommenheit“ und der Gemäßheit zum „Willen Gottes“. Daraus folgt, dass es einen Beweis für die Gültigkeit solcher höchsten Pflichtprinzipien nicht geben kann. Kant fährt nämlich fort: Und hier finden wir, dass eine solche unmittelbare Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse. Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht [schon] ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist.65

Ein solches Sollen ist aber gerade nicht der Ausdruck einer Verbindlichkeit, denn die gebotene Handlung ist dann nicht unmittelbar notwendig, sondern nur ein notwendiges Mittel zu einem schon vorausgesetzten Zweck, so wie nach Aristoteles die durch eine gewisse Lebensführung bewirkte Gesundheit ein notwendiges Mittel zu (oder sogar einen Bestandteil von) dem vorausgesetzten Zweck der Glückseligkeit ist. Eine solche Begründung der Notwendigkeit einer Handlung ist also nicht erlaubt. „Dieses [ein Mittel] aber muß es [das, was man tun soll] nicht sein, weil es [das so erhaltene Ergebnis] alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde.“66 D. h., die einzig mögliche Art und Weise, Handlungen als notwendig zu erweisen, ist die, deren man sich im Falle der Verbindlichkeit gerade nicht bedienen darf, da sie nur zu „Anweisungen eines geschickten Verhaltens“67 führen kann. Also ist ein Beweis der Gültigkeit einer Regel der Verbindlichkeit (ebenso wie der Beweis der Möglichkeit eines „an sich“ notwendigen Zweckes) gar nicht möglich. Trotz dieses negativen Ergebnisses seiner Untersuchung, das den Begriff der Verbindlichkeit selbst fragwürdig macht, bekennt sich Kant im Folgenden zu Christian Wolffs Regel der Verbindlichkeit. Aber anstelle des als unmöglich er63 64 65 66 67

Ebd. Ebd. Ebd., 299. Ebd. Ebd., 298.

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kannten Beweises dieser Regel versichert er seinen Lesern nur, „daß, nachdem ich über diesen Gegenstand lange nachgedacht habe, ich […] überzeugt worden [bin]“, dass Wolffs Regel, die eigentlich aus zwei Regeln, eine für Handlungen und eine für Unterlassungen, besteht, „der erste formale Grund aller Verbindlichkeiten […] sei“.68 Kant teilt seinen Lesern nicht mit, worauf diese Überzeugung beruht. Aber nach dem, was er über die notwendige Unerweislichkeit einer „unmittelbaren obersten Regel der Verbindlichkeit“ gesagt hat, ist es klar, dass diese Verbindlichkeit nicht die der Handlungen zur Verwirklichung von Zwecken sein kann, auch dann nicht, wenn diese unmittelbar geboten sein sollten. Kants kritischer Begriff der Verbindlichkeit setzt diese Einsicht voraus. In der Grundlegung (1785) hat Kant sich schon in der „Vorrede“ von Wolffs (und Baumgartens) „Begriff von Verbindlichkeit, der freilich nichts weniger als moralisch ist“69 distanziert. Das ist zunächst nicht einleuchtend. Denn Wolff sagt z. B. in den Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts (1754): „Die sittliche Notwendigkeit zu handeln selbst ist die Verbindlichkeit (obligatio), die wir die leidende (obligationem passivam) nennen. Gemeiniglich nennt man sie schlechtweg die Verbindlichkeit (die Obligation), und giebt auf die thätige Verbindlichkeit nicht Achtung.“70 Und in der Philosophia practica universalis (1738) heißt es von eben dieser passiven oder eigentlichen Verbindlichkeit: „Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva.“71 So scheint für Wolf die Verbindlichkeit eine moralische oder sittliche Notwendigkeit zu bedeuten. Allerdings kennt Wolf auch eine natürliche Verbindlichkeit, die in seiner Moralphilosophie eine sehr bedeutende Rolle spielt. „Diese Verbindlichkeit aber sowohl die thätige, als leidende: welche selbst aus der Natur kömt, wird die natürliche (naturalis) genannt. Daß also die natürliche Verbindlichkeit diejenige ist, welche ihren hinreichenden Grund selbst in dem Wesen und der Natur des Menschen und der übrigen Dinge hat.“72 Die Verbindlichkeit, die „aus der Natur kömt“ bezeichnet nach Wolff einen genauen Sachverhalt: „Die Natur verbindet uns die an sich gute Handlungen zu vollbringen, und die an sich böse zu unterlassen.“73 Da gut und böse dasjenige ist, was uns und unsern Zustand vollkommener bzw. unvollEbd., 299. GMS, AA 04: 391. 70 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 19, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim, New York 1980 (Halle 1754), § 37. 71 Christian Wolff, Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 10, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1971 (Leipzig 1738), § 138. 72 Wolff, Grundsätze (wie Anm. 70), § 38. 73 Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 11), § 9. 68 69

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kommener macht und das an sich Gute und das an sich Böse dasjenige ist, „was aus den Handlungen der Menschen erfolget“,74 so muss man nach Wolff sagen, dass es die Natur ist, die uns verbindet, „dasjenige zu thun, was uns und unsern Zustand […] vollkommener machet, hingegen zu unterlassen, was uns und unsern Zustand […] unvollkommener machet“.75 Daraus ergibt sich eine Regel für unsere freien Handlungen und, da eine Regel, die uns verbindet, ein Gesetz ist, ein Gesetz der Natur, „darnach wir verbunden sind, unsere freye Handlungen einzurichten“.76 Es lautet entsprechend: „Thue, was dich und deinen Zustand vollkommener machet und unterlaß, was dich und deinen Zustand unvollkommener machet“77 und hat somit die Form eines kategorischen Imperativs. Dieses wolffsche Gesetz der Natur entspricht genau der formalen Regel aller Verbindlichkeit des Handelns und Unterlassens, die Kant in der Preisschrift78 akzeptiert hatte. Jetzt (1785) wird sie von Kant verworfen, denn die durch sie definierte Verbindlichkeit ist „nichts weniger als moralisch“.79 „Moralisch“ ist bei Wolff alles, was unsere freien Handlungen betrifft, also ist auch sein Gesetz der Natur (wie bei den Stoikern) ein moralisches Gesetz. Verbindlichkeit ist für Kant nur als moralische möglich und sie bedeutet bei ihm die (von vorausgesetzten Zwecken) unabhängige, d. h. unbedingte Notwendigkeit von Handlungen unter einem insofern „moralischen“ Gesetz. Dieser Begriff der Verbindlichkeit bei Kant bedeutet etwas ganz anderes als bei Wolff, trotz der scheinbaren Übereinstimmung im Definiens ,moralische Notwendigkeit". Denn auch diese Notwendigkeit ist bei Wolff eine natürliche, die die freien Handlungen der Menschen bestimmt. Sie folgt aus einer Regel der Natur, die wegen der in ihr enthaltenen Verbindlichkeit ein Gesetz ist. „Weil […] die Verbindlichkeit aber von der Natur kommet (§ 16); so ist das Gesetz der Natur durch die Natur festgestellet worden, und würde statt finden, wenn auch gleich der Mensch keinen Oberen hätte, der ihn dazu verbinden könnte: ja es würde statt finden, wenn auch kein Gott wäre.“80 Eine solche aus der Natur kommende und insofern natürliche, aber zugleich praktische bzw. moralische Notwendigkeit beruht nach Wolff auf Beweggründen oder Motiven. „Was […] den BewegungsGrund giebet, daß wir eine Handlung wollen, oder nicht wollen, dasselbe verbindet uns sie zu vollbringen, oder sie zu unterlassen.“81 Dieser Begriff der Verbindlichkeit ist offenbar ein psychologischer Begriff der Motivation des Willens. So 74 75 76 77 78 79 80 81

Ebd. Ebd., § 12. Ebd., § 16. Ebd., § 19. UD, AA 02: 299. GMS, AA 04: 391. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 11), § 20. Ebd., § 8.

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heißt es in Wolffs Psychologia empirica (1738), ein Motiv sei ein zureichender Grund der Handlung des Wollens und Nichtwollens,82 ohne den es weder die Handlungen des Wollens noch die des Nichtwollens in der Seele gibt.83 Inhaltlich bestimmt werden die Motive im § 890: „Motiva sunt repraesentationes boni ac mali distincta, nempe repraesentatio boni volutionis; repraesentatio mali nolitionis.“84 Ihrerseits ist die Vorstellung des Guten der zureichende Grund des Begehrens (appetitus) und die Vorstellung des Bösen der zureichende Grund einer Abneigung (aversationis in genere), das gilt auch für die deutliche Vorstellung des Guten und Bösen, das Motiv.85 Entscheidend ist der § 891: „Quam primum nobis distincte aliquid repraesentamus tamquam bonum, quoad nos, idem volumus.“86 Sobald wir uns etwas deutlich als für uns gut vorstellen, so wollen wir es. Das ist die Funktion des wolffisch verstandenen Motivs. Es begründet den Übergang vom deutlichen Vorstellen zum Wollen eines für uns Guten. Das ist auch ein Beleg für den sogenannten wolffischen Intellektualismus. Angewandt auf Wolffs praktische Philosophie ergibt sich für die Verbindlichkeit der schon zitierte Satz: „Was demnach den Bewegung-Grund giebet, daß wir eine Handlung wollen, oder nicht wollen, dasselbe verbindet uns sie zu vollbringen, oder zu unterlassen.“87 Wolff behauptet sodann, dass sich „aus diesem Begriffe alle Verbindlichkeit in allen vorkommenden Fällen erweisen lässet.“88 Von dem so verstandenen Begriff der Verbindlichkeit sagt Kant, dass er „nichts weniger als moralisch“ sei.89 Dieses Urteil gilt erst recht für den baumgartenschen Begriff der Verbindlichkeit: „Obligatio […] potest definiri per connexionem […] causarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione.“90 Hier werden die wolffischen „motiva“ durch „causae impulsivae“ ersetzt, die offenbar als stärker wirkende antreibende Ursachen gegenüber anderen angesehen werden, und, wenn sie mit einer Handlung verknüpft werden, sie zum „actus […] quo fit, ad quod obligati sumus“91 machen. Aber Kants Urteil beruht natürlich auf einer Auffassung von Moral als reiner praktischer Philosophie oder „Metaphysik der Sitten“, die Wolff und seiner Schule unbekannt war. Dennoch behauptet Kant: Vgl. Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 5, hg. von Jean $cole, Hildesheim 1968 (Frankfurt am Main, Leipzig 21738), § 887. 83 Ebd., § 889. 84 Ebd., § 890. 85 Ebd. 86 Ebd., § 891. 87 Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 11), § 8. 88 Ebd. 89 GMS, AA 04: 391. 90 Baumgarten, Initia (wie Anm. 10), § 15. 91 Ebd., § 22. 82

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Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch ist, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; […] daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft.92

Was Kant selbst bei seiner ersten Veröffentlichung gewiss nicht klar war, erscheint ihm nun als etwas, das jedermann eingestehen müsse. Aber der Begriff der Verbindlichkeit spielt in der Grundlegung erstaunlicherweise eine ganz untergeordnete Rolle, was auch daran liegen mag, dass er von einem bestimmten Begriff der „Pflicht“ nicht immer deutlich abgegrenzt wird. Nur an einer einzigen Stelle gegen Ende des Zweiten Abschnitts wird er verwendet, um den menschlichen Willen gegenüber einem „heiligen, schlechterdings guten Willen“ abzugrenzen. „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit.“93 Die hier angenommene „Abhängigkeit“ wird gegenübergestellt dem Verhältnis eines heiligen, schlechterdings guten, d. h. eines göttlichen Willens zu „den Gesetzen der Autonomie“, die hier im Plural auftreten, weil sie mit den als Gesetze gewollten und als Gesetze gebbaren Maximen des heiligen Willens identisch sind. Hier liegt offenbar der zweite Sinn von „Autonomie“ vor. Das Prinzip der Pflicht ist nicht nur ein durch meine eigene Vernunft mir gegebenes Gesetz, im Gegensatz zu einem Gesetz, das mir von einem andern Gesetzgeber auferlegt wird, sondern es gebietet auch, dass meine Maximen eine gesetzliche, d. h. gesetzestaugliche Form haben müssen, die sie geeignet macht, durch mich selbst als Gesetzgeber allen Vernunftwesen, einschließlich meiner selbst, als Gesetz auferlegt zu werden, so dass sie alle nach meinen unter dieser Bedingung ausgewählten Maximen handeln könnten. Dieser Gedanke wird nun auf den heiligen Willen angewandt. Seine Maximen stimmen „nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie“, d. h. mit seinen von ihm als Selbstgesetzgeber als Gesetze gebbaren Maximen für alle Vernunftwesen überein, da er gar keine andern Maximen haben kann, und nicht zwischen denen, die gesetzestauglich sind und denen, die es nicht sind, auswählen muss. Der heilige Wille ist also nicht vom „Princip der Autonomie“ abhängig, er wird nicht von ihm genötigt oder verpflichtet, sondern er hat automatisch, seiner eigenen übersinnlichen Natur nach, nur gesetzestaugliche, d. h. erlaubte Maximen. Der unheilige Wille des Menschen hingegen steht zum Prinzip der Autonomie (im zweiten Sinne) im Verhältnis der Abhängigkeit, d. h. der „moralischen Nöthigung“ durch dieses von seiner eigenen Vernunft ihm gegebene Gesetz (der Autonomie im ersten Sinne), für ihn ist es ein Prinzip der Pflicht, da seine Maximen nicht von selbst mit diesem Prinzip übereinstimmen. Verbindlichkeit ist also das Charakteristi92 93

GMS, AA 04: 389. Ebd., 439.

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kum des menschlichen und jedes unheiligen Willens hinsichtlich seines Verhältnisses zum Prinzip der Autonomie. „Diese [Verbindlichkeit als moralische Nötigung] kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden.“94 Entscheidend für Kants revolutionäre Neubestimmung des Begriffes der Verbindlichkeit ist die Einführung der „Autonomie“ in beiderlei Bedeutung. Nur ein Gesetz, das dem Menschen durch seine eigene reine Vernunft gegeben ist, kann für ihn Verbindlichkeit begründen, da jede Fremdgesetzgebung (Heteronomie) die Frage aufwirft, warum ich mich an ein von einem anderen Gesetzgeber gegebenes Gesetz halten soll, d. h. wodurch ich zur Befolgung eines solchen fremden Gesetzes verpflichtet sein kann, und wie es möglich werden soll, dass die Vorstellung dieses fremden Gesetzes meine ihm entgegenstehenden Neigungen überwiegt. Aber diese Autonomie bedeutet auch ein Auswahlkriterium für die Wahl und Annahme meiner Maximen. Da das Gesetz der Autonomie meines Willens aber ein reines Vernunftgebot enthält, darf es nicht durch vorausgesetzte menschliche Zwecke und Bedürfnisse bedingt sein, woraus folgt, dass es nur ein Gesetz für die Form meiner Maximen sein kann, nämlich diejenige, die sie tauglich macht, durch mich selbst allen Vernunftwesen auferlegt zu werden. Deshalb ist das Prinzip der Pflicht als kategorischer Imperativ auch ein Gesetz, das „gerade diese Autonomie gebiete[t]“.95 Darauf folgt eine Definition der ,Pflicht", die diese Gedanken zusammenfasst. „Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“96 Was eine Handlung zur Pflicht macht, ist ihre objektive Notwendigkeit nach einem Gesetz der reinen Vernunft, das für alle Vernunftwesen gilt und das einzig denkbare Gesetz eines reinen Willens ist. Aber für den menschlichen Willen besteht die subjektive Notwendigkeit, die Nötigung des unheiligen Subjekts, seine Verbindlichkeit, nur nach solchen Maximen zu wollen und zu handeln, die erstens erlaubt (weil gesetzestauglich) sind, während zweitens die Maxime ihrer Unterlassung nicht als allgemeines Gesetz für alle Vernunftwesen gewollt und von dem Subjekt selbst nicht als ein solches Gesetz gegeben werden kann. Eine Handlung, die diese beiden Bedingungen erfüllt und damit objektive praktische Notwendigkeit hat, obwohl sie nur auf subjektiver moralischer Nötigung, d. h. auf Verbindlichkeit beruht, ist eine menschliche Pflicht. Wenn man aber die objektive Notwendigkeit einer Handlung selbst „Pflicht“ nennt, so bedeutet dieser Terminus nicht eine Handlung, sondern ihren Pflichtcharakter, d. h. diejenige gesetzliche Notwendigkeit, die ihr durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft zukommt, auch unangesehen ihrer subjektiven Bedingtheit durch menschliche Verbindlichkeit zu ihr, d. h. ihrer Gebotenheit für uns. 94 95 96

Ebd. Ebd., 440. Ebd., 439.

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Genau dieselbe Einschätzung der Verbindlichkeit finden wir in der Kritik der praktischen Vernunft. Dort heißt es in einem Satz von enormer Länge: Das moralische Gesetz ist […] bei jenen [Wesen, die keinen heiligen Willen haben] ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältniß eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welcher eine Nöthigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum Pflicht heißt, weil eine pathologisch afficirte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus subjectiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objectiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller Zwang genannt werden kann, als moralischer Nöthigung bedarf.97

Dieser Text bedarf nach dem bisher Gesagten kaum eines Kommentars, da er nur zusammenfasst, was Kant unter ,Gesetz", ,Verbindlichkeit", und ,Pflicht" im Unterschied zu dem wolff-baumgartenschen Verständnis dieser Begriffe versteht, indem er diesen Begriffen eine Bedeutung verleiht, die sie niemals zuvor hatten. Neu ist hier die psychologische Konkretisierung der moralischen Nötigung, die vom moralischen Gesetz ausgeht. Sie bedeutet nun die Nötigung der freien Willkür zum Wollen der Pflicht (als einer Handlung), das aus einem inneren Antagonismus zwischen dem aus subjektiven Ursachen, den Begierden, entspringenden Wunsch dieser Willkür und der durch ihr Gesetz gebietenden praktischen Vernunft resultiert, indem die Vernunft diesem Wunsch „Widerstand“ entgegensetzt und einen siegreichen Zwang auf die Willkür ausübt, die Pflichthandlung zu wollen. Auch bei den Begriffen der moralischen Nötigung und des moralischen Zwangs handelt es sich um Begriffe Baumgartens, diesmal aus seiner Metaphysica: „Necessitatio moralis est obligatio. Obligatio ad actionem invitam est coactio moralis“,98 die Kant in neuer Bedeutung gebraucht. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft bedient sich Kant zur Klärung seines neuen Begriffs der Verbindlichkeit eines Vergleichs des menschlichen Willens mit dem göttlichen: In der allergenugsamsten Intelligenz wird die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objectiv Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff der Heiligkeit, der ihr um deswillen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch-einschränkenden Gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht weg.99

Gott wird hier als ein ens perfectissimum gedacht, das durch den Allbesitz von Realitäten im höchsten Grad und deren maximale Zusammenstimmung bestimmt 97 98 99

KpV, AA 05: 32. Baumgarten, Metaphysica, Halle 41757 (11739), § 723. KpV, AA 05: 32.

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ist, und dem deshalb Sibisuffizienz zukommt. Das gilt auch für seine Attribute, Verstand und Willen, die es zu einer „Intelligenz“ machen. Deren Willkür ist nur solcher Maximen fähig, die Gesetze für alle Vernunftwesen sein könnten. Diese Rede Kants steht nur scheinbar im Widerspruch zu seiner späteren Behauptung, dass der Begriff der Maxime „nur auf endliche Wesen angewandt werden“100 kann, weil er „eine Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus[setzt], da die subjective Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objectiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt. […] Auf den göttlichen Willen [kann er] also nicht angewandt werden.“101 Wir können uns also einen göttlichen Willen als einen solchen denken, der das objektive Prinzip der Pflicht selbst zur Maxime seines Handelns gemacht hat, darum keiner andern subjektiven Regel seines Handelns bedarf und also nach keiner vom Sittengesetz auch nur möglicherweise verschiedenen Maxime handelt. Das bedeutet zugleich: „für Menschen und alle erschaffene [!] vernünftige Wesen ist die moralische Nothwendigkeit Nöthigung, d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung als Pflicht […] vorzustellen.“102 Die Metaphysik der Sitten (1797) ist Kants endgültiges System moralischer Pflichten und liefert mit den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre erstmals eine ebenfalls systematische Darstellung der Rechtspflichten und der Rechte des Menschen, sofern sie aus der reinen praktischen Vernunft erkannt werden können. In den „Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten“, deren Untertitel „Philosophia practica universalis“ auf Wolffs gleichnamiges Buch von 1738 anspielt, findet sich eine Liste von Begriffen, die „der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Theilen“103 gemein sind, die sich also auch auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre beziehen. Hier werden auch der Grundbegriff der Verbindlichkeit und die zu ihm gehörigen Begriffe neu definiert und erläutert und zwar erstmals so, dass sie für Recht und Ethik gemeinsam gelten können, also für die Moral. Zunächst der Begriff der Verbindlichkeit: „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“104 Dabei definierten sich ,Verbindlichkeit" und ,kategorischer Imperativ" offenbar wechselseitig. Denn von dem letzteren wird gesagt: „[D]er[jenige] kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handele nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“105 Hier 100 101 102 103 104 105

Ebd., 79. Ebd. Ebd., 81. MS, AA 06: 222. Ebd. Ebd., 225.

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wird dem Menschen als Vernunftwesen wiederum keine Handlung, sei sie äußere oder die innere der Zwecksetzung, keine besondere Maxime und kein Zweck geboten, sondern nur eine Handlungsweise, genauer eine Form der Maxime der Handlung des Adressaten. Verbindlichkeit ist also die subjektive Notwendigkeit, die Nötigung des Menschen, der auch anderer Maximen fähig ist, nur solche Maximen alles äußeren und inneren Handelns zu wählen, anzunehmen und zu befolgen, „welche [jede] zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann“. Obwohl also dieser Imperativ die Maximen und damit das Wollen des Menschen betrifft, wird hier nicht gefordert, was der kategorische Imperativ nach der Grundlegung fordert: „[I]ch soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“,106 woraus sich als allgemeine Formel ergibt: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“.107 Der kategorische Imperativ der Metaphysik der Sitten betrifft also nicht speziell das Wollen des Menschen, sondern er gilt für das Wollen und das äußere Handeln des Menschen, das zwar als vernünftiges ein Handeln nach Maximen ist, wie es auch die inneren Handlungen der Zwecksetzung und der Maximenwahl sind, aber es geht in dieser neuen Formel der Philosophia practica universalis primär um das Handeln nach Maximen und erst in zweiter Linie um diese Maximen des Willens und sein Wollenkönnen der eigenen Maxime als allgemeines Gesetz, da es jetzt nicht mehr, wie in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft, speziell um ethische Gesetzgebung geht. Der kategorische Imperativ wird jetzt „der oberste Grundsatz der Sittenlehre“ bzw. „der Moral“ genannt,108 und er enthält zwei spezielle kategorische Imperative der Verbindlichkeit unter sich, von denen nur einer von Maximen spricht: „[H]andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“109 und „handle nach einer Maxime der Zwecke [d. h. der Zwecksetzung], die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“.110 Beide Imperative sind zwar aus dem obersten Grundsatz der Moral allein nicht ableitbar, setzen ihn aber als einschränkende Bedingung allen Handelns voraus. Was in diesem Pflichtprinzip als Grundsatz aller Moral für die Maximen von Handlungen überhaupt gefordert wird, hat Kant hier in seltener Ausführlichkeit dargestellt und sich dabei des Autonomieprinzips als eines Beurteilungsprinzips bedient:

106 107 108 109 110

GMS, AA 04: 402. Ebd., 421. MS, AA 06: 226. Ebd., 231. Ebd., 395.

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Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjectiven Grundsatze betrachten, ob aber dieser Grundsatz auch objectiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualificire.111

Hat die Maxime diese Qualifikation, so ist das Handeln nach ihr erlaubt. Hat zugleich die Maxime der Unterlassung dieses Handelns nicht diese Qualifikation, so ist deine Handlung als Pflicht erkannt. Aber natürlich ist das oberste Moralprinzip nicht nur ein Erkenntnisprinzip, durch das „die Handlung als Pflicht vorgestellt [wird], welches ein bloßes theoretisches Erkenntniß der möglichen Bestimmung der Willkür […] ist“.112 Die Verbindlichkeit, die das Moralgesetz dem Handelnden auferlegt, bedeutet zunächst, dass ein kategorischer Imperativ als „moralischpraktisches Gesetz“113 anzusehen ist. „Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Nothwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nöthigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder VerbotGesetz, nach dem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird.“114 Aber über die Vorstellung der Pflicht hinaus wird in einer moralischen Gesetzgebung für innere und äußere Handlungen „die Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjecte verbunden“,115 d. h. mit einer Triebfeder, so zu handeln, wie ist das Gesetz gebietet. Dadurch wird „die Pflicht zur Triebfeder“ gemacht und zwar unmittelbar oder mittelbar.116 Denn das geschieht in der Ethik und im Recht in sehr verschiedener Weise. Diejenige [Gesetzgebung], welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere [d. h. das Handeln aus Pflicht] nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist juridisch.117

Sie gilt nur für äußere Handlungen. Die von der „Idee der Pflicht“ unterschiedenen Triebfedern müssen nach Kant von „Abneigungen […] hergenommen“ werden,118 also etwa von der Furcht vor Strafe. Auch durch sie kann also mittelbar „die [äußere] Pflicht zur Triebfeder“ gemacht werden. Aber auch zu einer durch juridische Gesetzgebung gebotenen äußeren Handlung kann „die Idee der Pflicht“ selbst, die aus dem allgemeinen Rechtsgesetz folgt, also die Idee der Rechtspflicht, unmittelbare Triebfeder sein, sodass zu einer und derselben äu111 112 113 114 115 116 117 118

Ebd., 225. Ebd., 218. Ebd., 222 f. Ebd., 223. Ebd., 218. Ebd. Ebd., 219. Ebd.

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ßeren Handlung (einschließlich der Unterlassung) zwei verschiedene Gesetzgebungen und damit zwei Verbindlichkeiten bestehen können. Schließlich ergänzt Kant seine Grundlegungsschriften durch eine Unterscheidung, die aus der Tradition des Naturrechts stammt, und schon bei Su'rez119 ausführlich erörtert wird. Ein Gesetzgeber „ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes“.120 Das letztere ist nur bei willkürlich gegebenen positiven Gesetzen der Fall. Aber bei dem obersten Moralgesetz geht es um etwas anderes. „Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers […] (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden“.121 Aber diese religiöse Vorstellungsweise macht Gott weder zum Urheber seiner Verbindlichkeit noch zum willkürlichen „Urheber desselben“,122 da es nur als von unserer eigenen reinen praktischen Vernunft gegeben Verbindlichkeit für uns haben kann. Ein jedes von einem fremden Gesetzgeber gegebene positive Gesetz bedürfte noch eines anderen Gesetzes, das uns an seinen Willen bände.123 Der Aufsatz versucht, eine Klärung der verschiedenen Pflicht- und Verbindlichkeitsbegriffe bei Kant zu geben, indem er sie in ihren historischen und systematischen Kontext stellt. Dabei zeigt sich auch, dass man zwei Bedeutungen von „Autonomie“ unterscheiden und bei der Ableitung von Begehungspflichten eine zweifache Anwendung der „Probe“ auf die Qualität einer Maxime, als Gesetz gegeben werden zu können, vornehmen muss. Die revolutionäre Neuerung in Kants Begriff der Verbindlichkeit (und folglich dem der Triebfeder) wird durch seine scharfe Abgrenzung von den entsprechenden Konzeptionen Crusius!, Wolffs und Baumgartens herausgestellt. This article tries to give an account of Kant!s different conceptions of duty and obligation by contextualizing them into their historical and theoretical context. It will be shown that two meanings of „autonomy“ (Autonomie) must be distinguished. Furthermore, it will be shown that, in the deduction of the „committing duties“ (Begehungspflichten), a double application of the „proof“ (Probe) of the quality of a maxim to be given as a law has to be considered. The revolutionary novelty of Kant!s concept of obligation, and hence of his concept of „incentive“ (Triebfeder), is underlined through its clear distinction from the corresponding conceptions by Crusius, Wolff and Baumgarten. Prof. Dr. Manfred Baum, Bergische Universität Wuppertal, Philosophisches Seminar, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, E-Mail: [email protected]

119 120 121 122 123

Francisco Su'rez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore, Antwerpen 1630, II 6, 78–84. MS, AA 06: 227. Ebd. Ebd. Ebd., 224.

Martin Bondeli Karl Leonhard Reinholds Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts

Der im Geiste Kants wirkende Karl Leonhard Reinhold widmete sich seit Ende der 1780er Jahre der Aufgabe, das kantische System der Vernunftkritik ausgehend von einem ersten Grundsatz der Philosophie allgemein sowie diesem subsumierten ersten Grundsätzen der theoretischen und praktischen Philosophie zu rekonstruieren. Mit diesem unter dem Titel „Theorie des Vorstellungsvermögens“, „Elementarphilosophie“ oder auch schlicht „Philosophie überhaupt“ auftretenden Systemvorhaben war Reinhold der Überzeugung, ein genuin kantisches Systemprojekt zum Abschluss bringen zu können. Seiner Meinung nach waren Kant und andere aufgeklärte Köpfe zwar bereits zu richtungweisenden Einsichten, jedoch noch keineswegs zur nötigen Einigkeit und Klarheit über diese diversen ersten Grundsätze alles philosophischen Wissens und Handelns gelangt. Im Blick auf die Philosophie überhaupt stellte Reinhold einen die Vorstellungsrelation von Subjekt und Objekt ausdrückenden „Satz des Bewußtseyns“1 an die Spitze, im Blick auf die theoretische Philosophie einen den signifikanten Objektbezug des Vorstellens vergegenwärtigenden Satz der Erkenntnis. Eigens in Bezug auf die praktische Philosophie, bei welcher der Hauptakzent auf das Subjekt des Begehrens gelegt werden sollte, ging Reinhold davon aus, dass es mehrere erste Grundsätze, so namentlich Grundsätze zu Religion, Ästhetik, Moral und Recht, aufzustellen gelte. Dabei sollte allerdings auf die Grundsätze der Moral und des Naturrechts ein besonderes Augenmerk gerichtet werden. Reinhold war der Auffassung, dass Religion und Ästhetik im Banne der Moralität stehende Disziplinen sind. Dementsprechend galt es im Bereich der praktischen Vernunft den Grundsätzen der Moral und des Naturrechts den systematischen Primat einzuräumen. Und verständlicherweise sollte damit der Auseinandersetzung mit bisherigen prominenten Lehrstücken zu diesen beiden Grundsätzen ein entscheidendes Gewicht zukommen. Einer Kurzfassung zufolge: im Bewusstsein wird die Vorstellung vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen. 1

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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Was diese Auseinandersetzung und die damit einhergehende Intervention Reinholds angeht, wurde das philosophisch interessierte Publikum darüber erstmals in dem 1789 erschienenen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens in Kenntnis gesetzt. Reinhold sah sich zur Feststellung veranlasst, dass im Kreise der aufgeklärten Denker zwar weitgehend Konsens in der Absicht besteht, einen ersten Grundsatz der Moral zu statuieren, der das neuerlich unter anderem von Kant eingehend thematisierte „Sittengesetz“ zum Ausdruck bringt, dass jedoch „über das Wesen des Sittengesetzes, d. h. über den Grund der Verbindlichkeit desselben“,2 Uneinigkeit und Verwirrung vorherrschen und dass Einhelligkeit allenfalls in der irrigen Meinung besteht, dass dieser Grund „keineswegs unabhängig von Lust und Unlust gedacht werden“ kann.3 Vor diesem Hintergrund ging Reinhold dazu über, in Orientierung an einschlägigen Vorgaben Kants zum Charakter der Verbindlichkeit moralischer Urteile und daraus folgender Pflichten Stellung zu nehmen. In Ansehung des Naturrechts lautete die kritische Diagnose, dass die „Uneinigkeit der Philosophen“4 hier noch gravierender ist, zumal sich ein erheblicher Dissens allein schon in Bezug auf das Grundverständnis zum „Begriff von Recht überhaupt“ abzeichnet.5 Reinhold unternahm auch in diesem Bereich klärende Schritte, wobei er sich vorerst noch nicht in der Lage sah, einen ersten Grundsatz des Naturrechts auszuformulieren. In den frühen 1790er Jahren konkretisierte Reinhold seine moral- und rechtsphilosophischen Ansichten und machte die neuen Einsichten in dem 1792 herausgegebenen zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie bekannt. Reinhold, der von Anbeginn großen Wert auf das Verständnis von Willensfreiheit als Vermögen, sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, legte, vertrat jetzt resolut die Ansicht, dass das kantische Sittengesetz und dessen Grund der Verbindlichkeit nur ausgehend von einem „philosophisch bestimmten Begriffe von dem freyen Willen“6 ausreichend verstanden werden können. Mit dieser Wendung war der Fundus des ersten Grundsatzes der Moral streng genommen nicht mehr das Sittengesetz allein, sondern das Sittengesetz im Konnex mit dem Begriff der Willensfreiheit. Eine nicht weniger auffällige und folgenreiche Veränderung ergab sich beim Naturrecht. Reinhold unterwarf den Rechtsbegriff einer näheren Analyse und kam zu dem Schluss, dass nicht nur das Naturrecht, sondern auch die Moral ausgehend von einem Begriff des Rechts allgemein zu definieren sei. Moral Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag, Jena 1789, 99 (Karl Leonhard Reinhold, Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Bondeli, Basel 2007 ff., Bd. 1, 61). 3 Ebd., 100 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 61). 4 Ebd., 117 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 73). 5 Siehe ebd., 118 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 74). 6 Karl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, Leipzig 1792, 384 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 254). 2

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und Naturrecht wurden damit architektonisch vereinheitlicht und aus einem ersten gemeinsamen Grund entfaltet. Auf dieser Basis generierte Reinhold sodann einen Begriff des Rechts in engerer Bedeutung, bei dem er die Bestimmung von Recht als moralischer Erlaubnis in den Fokus rückte. Schließlich nahm er, aufbauend auf der Tatsache, dass das Recht seinem Wesen nach mit einer Befugnis des Zwingens verbunden ist, eigens den Begriff des Naturrechts unter die Lupe, erörterte die damit implizierten Verständnisse einer illegalen Zwangsausübung und eines legitimen Rechtszwanges und unterbreitete am Ende den Vorschlag, „der erste Grundsatz des Naturrechts“ solle lauten: „Du darfst denjenigen, der dich zu bloßen Befriedigung seines eigennützigen Triebes zwingt, durch Zwang abhalten.“7 Auf der Grundlage dieses Fazits hielt Reinhold ab dem Wintersemester 1794 und 1795 seine Vorlesung über Moral, Ethik und Naturrecht8 und erarbeitete Schritt für Schritt die Hauptteile seines gesamten grundsatzphilosophischen Systems der praktischen Philosophie. Während sowohl bei der Grundsatzreflexion im Bereich der Moral als auch bei der als Gattungsbegriff von Moral und Naturrecht eingeführten Vorstellung von Recht allgemein unverrückbar daran festgehalten wurde, dass der Begriff der Freiheit des Willens den Dreh- und Angelpunkt zu bilden hat, wurde unter dem Begriff des Rechts in engerer Bedeutung im Rahmen der Explikation des Erlaubnis- und Zwangsgedanken ungleich deutlicher als zuvor ein das Prinzip der Verträglichkeit freier Handlungen im Verhältnis von Personen betreffendes Verständnis von „Rechtsgesetz“ zur Geltung gebracht. Außerdem ging Reinhold dazu über, den Rechtsgedanken und die naturrechtlichen Bestimmungen zu Freiheit und Zwang auf staatsrechtliche und staatspolitische Stoffe zu beziehen und dabei für einen Primat des rechtlichen vor dem politischen und historischen Fundament des Staates zu votieren. Fichtes 1796 erschienene Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre und Kants ein Jahr danach vorliegende Rechtslehre aus der Metaphysik der Sitten waren hierbei für Reinhold wertvolle Anregungsquellen. Einige Thesen und Erörterungen aus seiner Vorlesung über Moral, Ethik und Naturrecht ließ Reinhold in seine 1798 veröffentlichten Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität9 einfließen und auf diese Weise einem größeren Publikum zuteilwerden. Reinholds Beiträge zur Thematik erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts stießen zu ihrer Zeit auf beachtliche Resonanz. Sie wurden von Kant, FichEbd., 217 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 158). Zu dieser Vorlesung existieren heute mehrere transkribierte Nachschriften, die in absehbarer Zeit im Rahmen der Edition der Gesammelten Schriften Reinholds herausgegeben werden sollen. 9 Karl Leonhard Reinhold, Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität aus dem Gesichtspunkte des gemeinen und gesunden Verstandes, zum Behuf der Beurtheilung der sittlichen, rechtlichen, politischen und religiösen Angelegenheiten, Erster Band, Lübeck, Leipzig 1798. 7

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te, Maimon und anderen philosophierenden Kollegen zur Kenntnis genommen, dabei teils zustimmend rezipiert, teils kritisch kommentiert. Sie sind demnach eine gewichtige Komponente im Moral- und Naturrechtsdiskurs bei Kant und im frühen Kantianismus. Aus heutiger Sicht darf man behaupten, dass sie nicht allein deswegen, sondern aus noch anderen Gründen Beachtung verdienen. Sie stehen für ein nach wie vor diskussionswürdiges Aufklärungsmodell wie auch für eine ungebrochen aufschlussreiche Reflexion zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft innerhalb des systematischen Moral- und Rechtsdenkens. Die Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts sollte Reinhold zufolge besagen, dass es mithilfe eines gezielten Nachdenkens über solche Grundsätze einen Konsens unter den aufgeklärten Gelehrten und reformwilligen Politikern zu stiften gelte. Und er verstand diesen grundsatzphilosophischen Zugang hiermit als unentbehrlichen und stark zu akzentuierenden organisatorischen Schritt zur Einleitung von kulturellen und sozialpolitischen Reformen in den damaligen deutschen Staaten. Wie Reinhold gleichzeitig einschärfte, sind erste Grundsätze der Moral und des Naturrechts aber nicht bloß Strategeme einer konsensorientierten Aufklärung, sondern selbstverständlich auch Sätze, welche den Verbindlichkeitssinn der moralisch-praktischen Vernunft des Menschen zum Ausdruck zu bringen vermögen. In diesem Sinne verfocht Reinhold seine Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts mit einem philosophisch-wissenschaftlichen Anspruch. Es sollte darum gehen, die moralisch-praktische Vernunft in der Eigenschaft einer ersten Quelle der Verbindlichkeit moralischer und juristischer Normen und der Artikulation davon abgeleiteter Pflichten und Befugnisse des Zwingens zu erörtern. Mit den folgenden Betrachtungen gehe ich ausführlicher auf die Aufklärungsund Systemfunktion von Reinholds Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts ein. In einem ersten Schritt beleuchte ich den Aufklärungskontext und mache auf einige meines Erachtens fruchtbare Seiten von Reinholds Aufklärungsstrategie aufmerksam. In einem zweiten Schritt wende ich mich dem Systemkontext der Grundsatzforderung zu und behandle im Kern die von Reinhold von Anbeginn aufgeworfene und etappenweise einer Antwort zugeführte Frage der Verbindlichkeit. Dabei richte ich ein besonderes Augenmerk auf Reinholds Fortentwicklung von Kants Moral- und Rechtsdenken und nehme zu den markanten Neuerungen Reinholds gegenüber den Vorgaben Kants Stellung. I. Der Aufklärungskontext Reinhold gehört zu den ersten, die sich im Laufe der 1780er Jahre zu der damals unter anderem im Teutschen Merkur und in der Berlinischen Monatsschrift behandelten Frage „Was ist Aufklärung?“ äußern. Seine früheste Beantwortung dieser

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Frage10 deutet auf eine Anlehnung an cartesianische und neuere ästhetische Ideale. Die Vorstellung von Aufklärung des Geistes resultiert im Appell, die menschliche Denkkraft zur Ausbildung klarer und deutlicher Begriffe zu motivieren und im menschlichen Gemüt die richtige Balance von Vernunft, Empfindung und Anschauung herzustellen. Mit der Zuwendung zur Philosophie Kants Mitte der 1780er Jahre macht Reinhold sich daraufhin über mehr als ein Jahrzehnt zum Anwalt eines kantischen Aufklärungsdenkens, dessen Vorzüge er in einer umgreifenden Vermittlungshaltung sieht. Reinhold setzt bewusst einen Kontrapunkt zu Mendelssohns Urteil über den „Alleszermalmer“11 Kant. Reinhold zufolge ist Kant nicht nur der unerbittliche Kritiker und Analyst, der mit der Verabschiedung der alten Metaphysik neue Fronten eröffnet und Zerwürfnisse provoziert, sondern auch und vor allem der Einheitsstifter und Friedensrichter, der sich den „endlosen Streitigkeiten“ der dogmatischen und skeptischen Vernunft entgegenstellt und mit seinem Standpunkt der kritischen Vernunft den „ewigen Frieden“12 im Gebiet der philosophierenden Vernunft in die Wege leitet. Bei zahlreichen Einteilungen und Gegenüberstellungen der prominenten philosophischen Systeme, Schulen, Parteien und metaphysischen Thesen verweist Reinhold auf das erfolgreiche Bestreben Kants, die wahrhaften Quellen bisheriger Missverständnisse, Fehldeutungen und Streitigkeiten aufzudecken. Das von Reinhold im Anschluss befürwortete Aufstellen erster Grundsätze erweist sich von daher als eine Verknüpfung der kantischen Aufklärungsstrategie des Vermittelns mit der cartesischen Aufklärungsidee der Klärung und Verdeutlichung von Begriffen. Reinhold ist überzeugt von der Vereinigungskraft klar und deutlich ausbuchstabierter Grundsätze, er glaubt, dass sich an diesem Punkt am ehesten ein Konsens unter den aufgeklärten Selbstdenkern einzustellen vermag. Wie eine erste Serie seiner Briefe über die Kantische Philosophie dokumentiert, ist für Reinhold zu Beginn seines kantischen Aufklärungsdenkens ein moraltheologischer Ansatz von essentieller Bedeutung.13 Reinhold erachtet die Anwendung des von Kant inaugurierten Sittengesetzes auf die Religion als Meilenstein in der neueren Aufklärung, soll es doch dadurch möglich geworden sein, die hauptsächlichen „vier Partheyen“, die sich im Laufe der Jahrhunderte zur Frage des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gebildet haben, nämlich den „dogmatischen Skepticismus“, „Supernaturalismus“, „Atheismus“ oder SpinoSiehe Karl Leonhard Reinhold, Gedanken über Aufklärung, in: Der Teutsche Merkur, 1784, Bd. 3, 3–22, 122–133, 232–245. 11 Siehe Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin 1785, Vorbericht. 12 KrV A 752 / B 780. 13 Dazu ausführlicher Martin Bondeli, The Conception of Enlightenment in Reinhold!s „Letters on the Kantian Philosophy“, in: George di Giovanni (Hg.), Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment, Dordrecht u. a. 2010, 43–51. 10

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zismus sowie „dogmatischen Theismus“, angemessen zu kritisieren14 und die Sache, die es in affirmativer Weise zu verfechten gilt, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Reinhold artikuliert seine moraltheologisch fundierte Aufklärungsvision damals auffällig in der Gestalt einer Geschichtsphilosophie, der zufolge die philosophierende Vernunft in ihrem letzten Stadium in ein kantisches Zeitalter der Menschheit eintritt. Darüber hinaus taucht in diesem Zusammenhang erstmals das Grundsatzpostulat auf. Reinhold zufolge hat Kant mit dem moralischen Erkenntnisgrund der Theologie einen „ersten Grundsatz“ vorgegeben, der sich für die gesamte neuere Ontologie und Metaphysik fruchtbar machen lässt. In diesem Sinne schreibt Reinhold 1787 resümierend: „Denn so wie der moralische Erkenntnißgrund als der einzige probehältige fest steht, erhalten die Notionen, welche von der Ontologie, Kosmologie und Physikotheologie zum Lehrgebäude der reinen Theologie geliefert werden, auf einmal Inhalt, Zusammenhang und durchgängige Bestimmung.“15 Nach 1789 zeigen sich radikalisierende Neuausrichtungen im Aufklärungsdenken des seit Ende 1787 erfolgreich an der Universität in Jena wirkenden Reinhold. Die revolutionären Ereignisse in Frankreich schlagen sich im philosophischen Diskurs dahingehend nieder, dass das kantische Aufklärungsdenken sich zugleich als ein Denken der Revolution und ihrer neuesten Tendenzen manifestiert. Reinhold macht keinen Hehl aus seinem Credo, dass eine Affinität von kantischer Philosophie und Politik der Französischen Revolution besteht. In der strategischen Ausrichtung des Grundsatzdenkens kommt es zu einer Zentrierung und Ausweitung. Die Idee eines ersten Grundsatzes wird nicht mehr vornehmlich mit der Moraltheologie, sondern mit dem menschlichen Vorstellungsvermögen als Fundament des gesamten theoretischen und praktischen Wissens verklammert. Hinzu kommt, dass der Wissensbereich, den es innerhalb der Sphäre der praktischen Philosophie in grundsatzphilosophischer Hinsicht zu bearbeiten gilt, nun vor allem der Komplex von Moral und Naturrecht ist. Die politische Brisanz dieses Unterfangens ist augenfällig, wird doch das Naturrecht in seinen neueren, auf Locke, Rousseau und Montesquieu zurückgehenden Quellen zur Matrix der juristisch-politischen Verfassung, die sich die französische Nationalversammlung im Jahre 1791 gibt. Mit dem Einbezug kantischer Reflexionen über Recht und Naturrecht soll dieser Prozess unterstützt, jedoch auch kritisiert und in bessere Bahnen gelenkt werden. Auch in der Phase seines radikalisierten Aufklärungsdenkens hält Reinhold an einer kantischen Vermittlungshaltung fest. Dabei versteht sich für ihn, dass die Forderungen der philosophierenden und politisierenden Vernunft, die sich mit Zu dieser Kritik siehe Karl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Erster Band, Leipzig 1790, 130–135 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, 86–89). 15 Siehe ebd., 171 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, 113). 14

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der von Frankreich ausgehenden neuen Geschichtsepoche Realität zu verschaffen beginnen, nicht zur Disposition stehen. So muss aus Vernunftgründen ohne Abstriche für die moderne Verfassung, welche die Gewaltenteilung im Staate sowie die natürlichen, unverlierbaren Rechte der Menschen garantiert, Partei ergriffen werden. In gewissen nebengeordneten Hinsichten hält Reinhold einen Vermittlungsstandpunkt hingegen für möglich und sinnvoll. So kann und soll seines Erachtens unter dem Primat des Naturrechts ein Kompromiss mit dem positiven Recht zustande kommen, zumal eine gesetzliche Verankerung bis anhin nur auf moralischer Ebene behaupteter Rechte des Menschen unumgänglich ist. Reinhold bringt klugerweise auch zum Ausdruck, dass die Position des neueren Naturrechts als solche nicht in allen Punkten unbestritten ist. Sie ist zu begrüßen, da sie den Menschenrechten zum Durchbruch verhilft, aber auch zu kritisieren, sofern sie die Interessen des dritten Standes verabsolutiert und einem allzu abstrakten Egalitarismus das Wort redet. Aufgrund dieser differenzierten Beurteilung des Naturrechts distanziert sich Reinhold seit 1790 von zwei Extremen in den damaligen politischen Debatten. Er wendet sich sowohl gegen dilettantische Wortführer der Revolution als auch – und dies zur Hauptsache – gegen Revolutionsgegner aus dem Lager des vorbürgerlichen Konservativismus. Namentlich zählt Reinhold zu diesem Lager den Hannoveraner Rechtsgelehrten August Wilhelm Rehberg, der sich seit 1790 als Gegner der kantischen Grundsatzphilosophie profiliert und zum harten Kritiker des egalitaristischen Rechtsdenkens der französischen Revolutionäre aufschwingt. Ausdrücklich attackiert er Rehbergs Kritik an den Menschenrechten und Geringschätzung der modernen Prinzipien der „Freyheit und Gleichheit der Menschen“.16 Aus dem Kontext geht hervor, dass Reinhold gleichfalls den Osnabrücker Juristen und Historiker Justus Möser kritisch im Visier hat. Möser argumentiert um 1790 und 1791 in der Berlinischen Monatsschrift aus der Optik eines konsequenten Rechtshistorismus und Rechtspositivismus vehement gegen die Einführung allgemeiner Menschenrechte. Seines Erachtens führt die Geschichte vor Augen, dass ein solches Ansinnen null und nichtig ist. Jeder bisherige Staat, so Möser, zeichnet sich durch einen „doppelten Sozialkontrakt“ aus,17 bestehend aus einem ersten Kontrakt, den primäre Eroberer eines Gebiets oder einer Sache unter sich eingehen, und einem zweiten Kontrakt, den Nachgeborene, spätere Ankömmlinge und damit Minderberechtigte mit den primären Eroberern schließen. Wenn nun in Frankreich seitens der Minderberechtigten sogenannte Zu dieser Kritik an Rehberg siehe Reinholds erstmals 1793 erschienenen Aufsatz Über die teutschen Beurtheilungen der französischen Revolution, in: Karl Leonhard Reinhold, Auswahl vermischter Schriften, Erster Theil, Jena 1796, 113–117 (Gesammelte Schriften, Bd. 5/1, 57–60). 17 Siehe Justus Möser, Wann und wie mag eine Nation ihre Konstitution verändern?, in: Berlinische Monatsschrift 1791, Bd. 2, 398. 16

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Menschenrechte und damit gleiche Rechte für alle in Kraft treten, ist dies nach Möser sowohl ein Verstoß gegen geltendes Recht als auch eine Erschleichung eines Allgemeininteresses seitens eines Sonderinteresses. Im Weiteren gibt Möser zu bedenken, dass erfahrungsgemäß jeder gesellschaftlichen Verbindung, sei diese zum Zwecke der Verteidigung oder des Handels eingegangen worden, eine „Aktie“ oder „Ware“ zugrunde liegt18 und dass demnach bei Rechtsverhältnissen von Besitzern, Eigentümern oder auch Bürgern, aber nicht von Menschen die Rede sein kann. „Mensch“ ist seines Erachtens keine juristische Kategorie, sondern eine biologische oder religiöse. In philosophischer Hinsicht gilt Mösers Angriff vor allem Rousseau, in der Sache aber ebenso sehr Kant. Reinhold, der häufig als moderater Aufklärer porträtiert wird, agiert hier sehr entschieden und schlägt sich strikter denn je auf die Seite Kants. Es verdient Erwähnung, dass Reinhold in der Folge seinen Kampf gegen retardierende positive Rechtsverständnisse und für eine aufgeklärte Form von Moral und Naturecht nicht nur auf publizistischer Ebene führt. Seit 1794 verurteilt der jüngst an die Universität in Kiel übergewechselte Reinhold auf naturrechtlicher Grundlage die damals in militärischen und studentischen Kreisen gängige Praxis des Duellierens als Form der Regelung kleinerer und größerer Streitigkeiten19 und trägt auf organisatorischer Ebene dazu bei, dass in dem zum dänischen Königreich gehörenden Kiel das Duellieren verboten und ein studentisches Ehrengericht, das Konflikte auf der Basis eines bürgerlichen Rechtsverständnisses regelt, etabliert wird.20 Hinzu kommt, dass Reinhold nach 1795 das Projekt eines „Moralischen Bundes des Einverstandenen“ in Angriff nimmt und auf diese Weise seine kantisch geprägten moralphilosophischen Ansichten in akademischen und politischen Kreisen zu verankern beginnt. Dabei kommt es zu diesem Vorhaben, blickt man die Reinholds Vorgeschichte, nicht von ungefähr. Reinhold war nicht nur akademischer Lehrer, sondern auch zeitlebens ein äußerst regsamer illuminatischer Freimauer. In diesen letzten Aktionsbereich, mit dem er sich seit dem offiziellen Verbot der Illuminaten in einer halböffentlichen Sphäre befindet, gliedert er nach 1790 seine kantische Vorstellung von Aufklärung ein.21 Die kanSiehe Justus Möser, Über das Recht der Menschheit als den Grund der neuen französischen Konstitution, in: Berlinische Monatsschrift 1790, Bd. 1, 499. 19 Siehe dazu Reinholds Rede Über die Duelle auf Universitäten, in: Reinhold, Auswahl vermischter Schriften, Erster Theil, 122–145 (Gesammelte Schriften, Band 5/1, 63–72). 20 Zu Reinholds Engagement beim studentischen Ehrengericht an der Universität Kiel siehe Alexander Scharff, Das Kieler studentische Ehrengericht 1793–1806, in: Olaf Klose, Ellen Redlefsen (Hg.), Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 41, Heide in Holstein 1972, 158–180. 21 Zu Reinholds illuminatischem Wirken allgemein und zur Zeit des „Moralischen Bundes“ im Besonderen siehe Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, Frankfurt am Main u. a. 1994. 18

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tische Moralphilosophie wird so eine Zeitlang zum ideellen Träger der illuminatischen Aufklärung. Man kann es für realitätsfern halten, wenn Reinhold sich den Fortschritt des aufgeklärten Denkens vom Gang der Entdeckung und von der Akzeptanz erster philosophischer Grundsätze erhofft, seien diese nun allgemeinster Art oder eigens auf Moral und Naturrecht bezogen. Reinhold hat sich denn auch von seinen Gegnern und selbst von manchen Gleichgesinnten den Vorwurf gefallen lassen müssen, sein Aufklärungsverständnis sei eine typische Intellektuellenphantasie und überdies Ausdruck einer bald verfehlten, bald diktatorischen, da von oben nach unten schreitenden Vermittlung aufgeklärten Wissens. Davon abgesehen sei es illusorisch zu erwarten, dass unter Gelehrten – selbst dann, wenn diese die gleichen Ziele verfolgten – eine Einigkeit über Grundsätze zustande komme. An dieser Stelle kann man zur Ehrenrettung Reinholds anführen, dass er in pragmatischer Hinsicht zwar wohl die Rolle einer Aufklärung, bei der es um die Gewinnung von Einigkeit über Prinzipielles geht, überschätzt, dass ihm aber durchaus bewusst ist, dass nur ein vielschichtiges, eine breite Palette von Vermittlungsleistungen einbeziehendes Aufklärungsdenken zum Erfolg führen kann. Reinhold hat deshalb unentwegt angemahnt, dass es einer Kultivierung der Vereinigung von Vernunft und Sinnlichkeit, Verstand und Herz bedarf. In Anbetracht der Grundsatzidee hat er betont, dass eine Kooperation von philosophierender Vernunft und Gemeinsinn der Menschen erforderlich, somit auch eine Form der Aufklärung von unten unumgänglich ist. In diesem Sinne wird von ihm auch bekräftigt, dass das in der Philosophie aufgestellte erste Prinzip der Moral einen Rückhalt im moralischen Gefühl und Gerechtigkeitssinn der Menschen haben muss. Nicht übersehen werden darf schließlich die Tatsache, dass Reinhold, da er Grundsätze mit dem Anspruch aufstellt, den Grund der Verbindlichkeit praktischer Urteile zu explizieren, für eine diesen Anspruch nicht unterschreitende normative Form des Aufklärens eintritt. Für Reinhold bedeutet Aufklärung, einem gemeinsamen Ziel der Menschen Akzeptanz zu verschaffen, das als vernunftgeleitet gelten kann und das somit nicht unabhängig von Standards der moralisch-rechtlichen Gültigkeit verfolgt wird. Die Sache der Aufklärung soll, einer Differenzierung Reinholds zufolge, „allgemeingeltend“ werden, muss dazu aber auch „allgemeingültig“ sein.22 Es ist somit auch ein Maßstab der Vernunft erforderlich, und zu diesem Zwecke sind der Rekurs auf Grundsätze und eine Einigung über diese Grundsätze in der Tat unentbehrliche Voraussetzungen. Ein Problem ist dabei zweifelsohne, dass Reinhold das Gelingen dieses Rekurses und dieser Einigung von einer philosophierenden Vernunft abhängig macht, der es wesentlich obliegt, den FortZu dieser Differenzierung, die Reinhold sowohl allgemein als auch eigens in Bezug auf die Grundsätze von Moral und Naturrecht erläutert hat, siehe: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 71–76 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 42–45). 22

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schritt in Form einer begrifflichen und semantischen Analyse von Ausdrücken und Sätzen zu bewerkstelligen. Dem Einwand, eine Einigung unter den gelehrten Köpfen auf Grundsätze und mittels Grundsätzen könne nicht erwartet werden, ist deshalb Rechnung zu tragen. Reinhold wäre hier, um dem Einwand entgegenzuwirken, gut beraten gewesen, gleichzeitig über den Grad der zu erzielenden Einigung sowie über ein Verfahren diskursiver Verständigung nachzudenken.

II. Der Systemkontext. Die Frage der Verbindlichkeit Reinhold geht mit Kant davon aus, dass Grundsätze zur Begründung anderer Sätze beitragen, selbst aber nicht durch höhere Sätze begründet werden können. Kandidaten für Grundsätze sollen von daher Sätze sein, die in sich gewiss sind, durch sich selbst einleuchten oder zumindest einen hohen Grad an Festigkeit und Evidenz aufweisen. Auch im Falle der ersten Grundsätze der Moral und des Naturrechts legt Reinhold dieses Anforderungsprofil zugrunde. Es soll von Tatsachen der praktischen Vernunft und dabei von Tatsachen, die möglichst weitgehend akzeptiert sind, ausgegangen werden. Zudem sollen diese Tatsachen als höchster Grund der Verbindlichkeit moralischer und juristischer Normen aufgefasst werden können. Wir wollen im Folgenden betrachten, wie Reinhold sein grundsatzphilosophisches Vorhaben, das er wie erwähnt bei Kant vorgebildet sieht und deshalb in der Absicht einer Fortentwicklung von Einsichten Kants konzipiert, im Falle der ersten Grundsätze der Moral und des Naturrechts im Einzelnen umreißt und konkretisiert. Da Reinhold seine Sicht der Dinge in manchen Teilen revidiert, werden wir im vorliegenden Falle erneut auf gewisse chronologische Bezüge achten müssen.

1. Der erste Grundsatz der Moral. Sittengesetz, Uneigennützigkeit und Freiheit des Willens Bei seinen Grundlegungsreflexionen zur Moral in dem 1789 publizierten Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens lässt Reinhold keinen Zweifel, dass mit dem kantischen Sittengesetz eine oberste moralische Richtschnur zur Diskussion steht, der generell der Rang eines ersten Grundsatzes zugebilligt werden darf. Das Problem ist nach Reinhold eine noch nicht ausreichende Sinnverständigung über den Begriff des Sittengesetzes. Wie Reinhold moniert, ist der mit dem Sittengesetz gemeinte Grund der Verbindlichkeit sehr unterschiedlich und kontrovers interpretiert worden. Dieser eklatanten Misshelligkeit will Reinhold entgegenwirken, indem er in enger Anlehnung an seinen philosophi-

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schen Lehrer aufzeigt, dass es eine Unabhängigkeit des Grundes der Verbindlichkeit von Lust und Unlust zu verfechten gilt. Es ist offensichtlich, dass Reinhold, der fraglos im Geiste von Kants Plädoyer für ein autonomes Vermögen sowie einen autonomen Geltungssinn der moralisch-praktischen Vernunft argumentiert und der mit Kant ebenso für einen autonomen oder freien Willen Partei ergreift, direkt an die aus der Kritik der praktischen Vernunft stammenden Erörterungen zum Sittengesetz als einem „formalen obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft“23 anschließt. Kant hat dort vornehmlich über die auf den Willen gerichteten „Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit“ gesprochen und den in eigener Sache zu verteidigenden formalen Bestimmungsgrund im Blick auf mögliche andere Lesarten von mehreren sogenannten heteronomen oder „materialen“ Bestimmungsgründen abgehoben.24 Zu den materialen Bestimmungsgründen werden in tabellarischer Form Standpunkte, Schulen oder Autoren der Moralphilosophie aufgeführt und kritisiert, welche den Geltungsgrund moralischer Urteile und davon abzuleitender Pflichten in Vorstellungen des Zweckhaften, Vollkommenen, des göttlichen Willens, des Guten in einem eudämonistischen Sinne, des sozial Nützlichen wie auch in das moralische Gefühl setzen. Im selben Atemzug hat Kant hier das Thema der „Verbindlichkeit“ angesprochen. Der Ausrichtung auf den formalen Bestimmungsgrund im Prinzip der Sittlichkeit entsprechend wird hervorgehoben, dass es eine Verbindlichkeit zu favorisieren gilt, deren Quelle „die bloße gesetzliche Form“, eine „Form der Allgemeinheit“ ist.25 Von moralischer Verbindlichkeit spricht Kant außerdem im Falle des unbedingten, kategorischen Gebietens, das sich als vorzügliche Modalität des Sittengesetzes behaupten lässt. Das Verhältnis des Willens zum Sittengesetz soll hier eine „Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit“ sein, „welche eine Nöthigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die dadurch Pflicht heißt.“26 Was Reinhold in diesem Anschlusskontext näher betrifft, macht er sich mit einer schematischen Unterscheidung „subjektiver“ und „objektiver“ sowie „innerlich“ und „äußerlich“ bestimmter Gründe der „moralischen Verbindlichkeit“ Kants Kritik an den materialen Bestimmungsgründen im Prinzip der Sittlichkeit zu eigen und vertieft in pädagogischer Absicht die Betrachtungen zu den Parteien, die das Sittengesetz auf materiale Gründe der Verbindlichkeit hin auslegen.27 In systematischer Hinsicht ist beachtenswert, dass Reinhold bei seinen ExplikatioKpV, AA 05: 39. Siehe ebd., 40 f. 25 Siehe ebd., 34. 26 Ebd., 32. 27 Siehe Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 102 – 117 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 63 – 73). 23

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nen zum formalen Bestimmungsgrund des Sittengesetzes von Anbeginn einen anderen Schwerpunkt setzt als Kant. Bei Kant ist die Ausformulierung des Sittengesetzes in der Form des kategorischen Imperativs gemäß der Verallgemeinerungsformel und damit in der Funktion eines Verallgemeinerungsverfahrens in Bezug auf Maximen unseres Wollens und Handelns von zentraler Bedeutung. Es geht darum, Maximen des Wollens und Handelns zu wählen, die als allgemein, d. h. als Gesetz gelten können. Reinhold seinerseits lässt zwar keinen Zweifel an der Wichtigkeit dieses Gedankens einer Allgemeinheit, interpretiert ihn aber – offensichtlich angeregt durch die Anfangspassagen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – in ausgeprägter Weise im Horizont eines willens- und triebtheoretischen Aspekts des Sittengesetzes. Reinhold unterscheidet zwischen gutem oder „uneigennützigem“ und bösem oder „eigennützigem Trieb“28 und versteht dabei den guten oder uneigennützigen Trieb, der ausdrücklich nicht mit einer utilitaristischen Lesart von gemeinnützigem Trieb verwechselt werden darf,29 als eine dem Sittengesetz konforme, den bösen oder eigennützigen Trieb als eine dem Sittengesetz widersprechende Aktivität unseres moralrelevanten Begehrungsvermögens. Wenn von einer „Forderung“ des Sittengesetzes oder des uneigennützigen Triebes die Rede ist, scheint man zuweilen von einer synonymen Verwendung der beiden Ausdrücke („Sittengesetz“, „uneigennütziger Trieb“) ausgehen zu können. Ins Auge sticht ferner, dass Reinhold von Anbeginn den Gedanken des freien Wählens zwischen den beiden Trieben stark akzentuiert und dadurch den Maximenbegriff primär ausgehend von dieser Freiheitsvorstellung bestimmt.30 Auf der Grundlage Kants ist eine derartige Interpretation des Sittengesetzes zwar nicht abwegig, wird doch beispielsweise zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das Sittengesetz explizit an der Vorstellung über einen „guten Willen“, den es von Beweggründen des „Eigennutzes“ fernzuhalten gilt, festgemacht.31 Doch hat diese Interpretation bei Kant nicht den gleichen hohen Stellenwert wie bei Reinhold. Zudem ist bei Kant das Wählen von Maximen zwar eine unabdingbare Voraussetzung für das Gesamtverständnis sittlichen Wollens, hat aber für die Bestimmung des Maximenbegriffs nicht die gleiche starke Bedeutung wie bei Reinhold. Im Wesentlichen thematisiert Reinhold diese Unterscheidung im 7. Brief des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 161 – 182). – Zur Herkunft der Unterscheidung siehe Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, 269 f. 29 „Das Rechtmäßige ist immer gemeinnützig, aber das Gemeinnützige nicht immer rechtmäßig“ (Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 138 [Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 102]). 30 Reinhold wird deshalb die „Maxime“, von der wir wollen können, dass sie ein Gesetz ist, vor allem als die „freye Selbstbestimmung beym Wollen“ definieren, vgl. Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 189 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 140). 31 Siehe GMS, AA 04: 393 – 398. 28

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Im Weiteren muss berücksichtigt werden, dass Reinhold um 1792 zu der Überzeugung gelangt ist, mit Kants moralphilosophischem Resultat sei das Fundament der Moral noch nicht vollständig aufgedeckt. Diese Überzeugung hängt mit zwei signifikanten Änderungen in Reinholds fortgesetzten Reflexionen zur Grundsatzfrage im Bereich der Moral zusammen. Dies betrifft zum einen die Einschätzung der Rolle von moralischen Gefühlen (a), zum anderen das Verständnis von Willensfreiheit (b). a) Bei Kant wird das moralische Gefühl aus dem Begründungszusammenhang moralischen Urteilens ausgeschlossen. Moralisches Urteilen soll eine Sache einzig und allein der moralisch-praktischen Vernunft sein. Im Blick auf den motivationalen Zusammenhang, die Triebfeder moralischen Agierens, wird das moralische Gefühl jedoch akzeptiert, sofern es sich um ein der moralischen Vernunft konformes, um ein durch den „Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“32 handelt. Kant denkt dabei an moralische Gefühle, die der Befolgung des Sittengesetzes zuarbeiten, so an das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz und das Gefühl der Pflicht gegenüber dem Gesetz. Reinhold kommt in diesem Punkt zu einem anderen Ergebnis. Wenn er den uneigennützigen Trieb als die dem Sittengesetz konforme Aktivität des Begehrungsvermögens begreift, „uneigennützigen Trieb“ und „Sittengesetz“ mitunter für austauschbare Ausdrücke hält, schließt er der Sache nach nicht aus, dass jenes moralische Gefühl, das der moralisch-praktischen Vernunft in ihrem Charakter der Uneigennützigkeit angemessen ist, auch beim Begründungszusammenhang moralischen Urteilens und Bestimmens gültiger Pflichten eine Rolle spielen soll. Näher besehen hat dieses Resultat mit Reinholds Einsicht zu tun, dass die Begründung unseres theoretischen und praktischen Wissens auf ein Verhältnis von einerseits gegebenen Tatsachen, die der Stufe des „gemeinen Verstandes“ entsprechen, und andererseits gerechtfertigten Tatsachen, die zur Stufe der „philosophierenden Vernunft“ gehören, angewiesen ist.33 Unter dieser Prämisse ist das aufrichtige moralische Gefühl dasselbe wie das sich auf der Stufe des gemeinen Verstandes ankündigende Sittengesetz, welches seinerseits auf der Stufe der philosophierenden Vernunft begrifflich expliziert wird. Mit dem Sittengesetz soll demnach nichts anderes vorliegen als eine das diskursiv vernehmbare moralische Gefühl rechtfertigende, verdeutlichende wie schließlich durch kultivierende Akte berichtigende Form der moralischen Vernunft. Aufgrund dieses Räsonnements, mit dem der autonome Geltungssinn der Moral auf der Stufe einer, verglichen mit Kants Ansatz, Ebd., 401 Anm. Zu dieser begründungstheoretischen Komponente, die Reinhold seit 1792 in seine Überlegungen zur Ableitung von Folgesätzen aus einem ersten Grundsatz einbezieht, beachte man insbesondere Karl Leonhard Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Zweyter Band, Jena 1794, 3 – 72. 32

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abgeschwächten Form des Kognitivismus vertreten wird, versteht sich nicht zuletzt, dass Reinhold im Unterschied zu Kant nicht in erster Linie die Achtung vor dem Gesetz und die Pflicht gegenüber dem Gesetz als Kandidatinnen für das moralische Gefühl in Betracht zieht. Primär geht es ihm um ein dem Trieb der Uneigennützigkeit entsprechendes Gefühl, um ein Gefühl vernünftiger Gemeinschaft. b) Bei Kant wird neben der Autonomie des Vermögens und des Geltungssinnes der moralisch-praktischen Vernunft gleichfalls der im Verhältnis zum Sittengesetz stehende Wille als autonom angenommen. Das heißt, dass dieser Wille als frei betrachtet wird. Das „Princip“ des autonomen oder freien Willens soll dabei nichts anderes als das Sittengesetz in der Bedeutung des kategorischen Imperativs sein. Wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten konstatiert, ist dieses Prinzip die Forderung an den Willen: „[N]icht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“34 Ihrem Wesen nach bestimmt Kant die im Bereich der praktisch-moralischen Vernunft verortete „Freiheit des Willens“, die er seit der Metaphysik der Sitten als „Freiheit der Willkür“ verstanden wissen möchte,35 negativ gesehen als unser Vermögen, unabhängig von sinnlichen oder heteronomen Antrieben zu wollen, positiv gesehen als unser Vermögen, uns selbst ein praktisches Gesetz, das Sittengesetz, zu geben.36 Frei als Wollende sind wir demnach positiv gesehen, wenn wir eine Maxime wählen, die ein allgemeines Gesetz sein kann, wobei Kant, so insbesondere in der Metaphysik der Sitten, hervorheben wird, dass nicht das Wahlvermögen im Falle der Maximen die entscheidende Komponente ist, sondern das Wollen nach Maßgabe des Gesetzes. Der entscheidende Gedanke ist dabei, dass die Willens- bzw. Willkürfreiheit nur unter der Bedingung einer allgemeinen, das Entstehen von Konflikten ausschließenden Form des Wollens möglich ist. Mit anderen Worten: die Verträglichkeit von Willensakten ist das eigentliche Freiheitskriterium. Dieser profilierten Ausrichtung des Freiheitsgedankens auf das Sittengesetz korrespondierend, begründet Kant die Existenz des Vermögens der Willens- bzw. Willkürfreiheit ausgehend von dem als Faktum der praktischen Vernunft eingestuften Sittengesetz. Was Reinhold anbelangt, steht er voll und ganz hinter Kants Befürwortung einer Autonomie im Sinne der Willens- bzw. Willkürfreiheit, setzt allerdings in der definitorischen und sachlichen Bestimmung dieser Freiheit einen anderen Schwerpunkt als Kant. Die im Bereich der praktisch-moralischen Vernunft verortete Freiheit des Willens ist Reinhold zufolge das Vermögen, sowohl unabhängig von sinnlichen Antrieben zu wollen als auch in Anbetracht des Sittengesetzes 34 35 36

Siehe GMS, AA 04: 440. Siehe MS, AA 04: 226. Siehe GMS, AA 04: 446 – 448; KpV, AA 05: 33; MS, AA 06: 213 f.

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derart zu wollen, dass eine echte Entscheidung für oder wider das Sittengesetz denkbar ist. Von daher bedarf es nach Reinhold im System der Moral von vorneherein einer klaren Abhebung des Vermögens des freien Wollens von dem Sittengesetz bzw. der „Selbstthätigkeit der Vernunft“. Letztere gibt das Gesetz, „während die Freyheit des Willens das Vermögen ist, jenes Gesetz zu befolgen oder zu übertreten“.37 Anders gesagt: „Der praktischen Vernunft kömmt nichts als die Aufstellung des Gesetzes, der Freyheit aber die Ausführung desselben zu.“38 Dieser Ansicht zufolge steht bei Reinhold eine Willensfreiheit des Wählenkönnens und bewussten Wählens von Maximen angesichts des Sittengesetzes im Mittelpunkt. Diese Willensfreiheit wird dabei definiert als Vermögen der Person, sich für oder wider das Sittengesetz zu entscheiden. Es versteht sich, dass Reinhold mit dieser Auslegung der Auffassung ist, sowohl der gesetzeskonforme oder gute als auch der gesetzeswidrige oder böse Wille sei frei zu nennen: „Der reine Wille sowohl als der unreine sind daher nichts anderes als die beyden gleich möglichen Handlungsweisen des freyen Willens“.39 Beide Willensrichtungen sind Arten des freien Willens überhaupt. Aufgrund der Annahme, dass es den autonom wählenden Willen von der Vorstellung der Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft abzuheben gilt, kommt es zudem nicht von ungefähr, dass Reinhold um 1792 das Vermögen der Willensfreiheit und nicht das Sittengesetz zur ersten Tatsache des gesamten Moralsystems und damit des gesamten Bereichs der praktischen Philosophie erklärt. Der Begriff der Sittlichkeit, so wird hierzu bekräftigt, ist „vor dem philosophisch-bestimmten Begriffe von dem freyen Willen unmöglich“.40 Als Folge davon soll für die Existenz der Willensfreiheit auch nicht mehr ausgehend von einem Faktum des Sittengesetzes, sondern einem Faktum des praktischen Selbstbewusstseins, des Selbstbewusstseins der wollenden und handelnden Person, argumentiert werden. Es darf nicht außer Acht bleiben, dass Reinholds Verständnis von Willensfreiheit auf der Überlegung basiert, dass diese Form von Freiheit im strengen Sinne nur unter der Bedingung eines zurechenbaren und verantwortungsbewussten Wollens möglich und sinnvoll ist.41 Das eigentliche Freiheitskriterium ist damit die Gewissenhaftigkeit des Wollenden in seinem zurechenbaren und verantworReinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 185 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 137). 38 Ebd., 271 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 187). 39 Ebd., 272 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 188). 40 Ebd., 384 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 254). 41 So dann auch die hauptsächliche Argumentationsrichtung Reinholds in der Verteidigung seiner Auffassung von Willensfreiheit gegenüber Kant. Siehe Karl Leonhard Reinhold, Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von J. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens, in: Reinhold, Auswahl vermischter Schriften, Zweyter Theil, Jena 1797, 365 – 400 (Gesammelte Schriften, Bd. 5/2, 141–153). 37

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tungsbewussten Wollen. Reinhold hat sich mit diesem Zugang zur Frage der Willensfreiheit in wesentlicher Übereinstimmung mit Kant gesehen. So hat er insbesondere in Bezug auf das Diktum einer Freiheit zum Guten wie zum Bösen auf Parallelen mit Aussagen Kant aus der Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aufmerksam machen können. Kants Erklärung aus der Metaphysik der Sitten, wonach die Willkürfreiheit nicht als „das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae)“, sondern einzig und allein als das Vermögen, „durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden“, zu definieren sei,42 lässt dann allerdings die unterschiedlichen Gewichtungen in den beiden Positionen deutlich werden und führt dazu, dass Reinhold sich ab 1797 in eine Kontroverse mit seinem Lehrmeister zur Frage der Willensfreiheit verwickelt.43 Für die Frage der Verbindlichkeit sind diese Veränderungen und Neuerungen Reinholds nicht folgenlos. Sie führen dazu, dass das Verständnis von Verbindlichkeit nicht mehr allein mit der gesetzlichen oder allgemeinen Form des Sittengesetzes, sondern gleichzeitig mit dem moralischen Gefühl der Uneigennützigkeit und der gewissenszentrierten Willensfreiheit im Sinne des Entscheidens für oder gegen das Sittengesetz in Verbindung zu bringen ist. Demgemäß argumentiert Reinhold nun in der Sache dafür, dass das moralische Gefühl der Uneigennützigkeit und die Willensfreiheit als Rahmenkriterien für moralische Verbindlichkeit aufzufassen sind. Seiner Ansicht nach kann eine Norm im Bereich der Moral nur unter der Bedingung verbindlich sein, dass der Mensch als ein Wesen betrachtet wird, dem die Fähigkeit uneigennütziger Gefühlsregungen sowie das Vermögen, sich frei für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, zukommen. Reinhold erweitert damit im Grunde einen Gedanken, der durch Kants Zweckformel des kategorischen Imperativs vorgegeben ist. Wie Kant eingeschärft hat, ist der Mensch, im Unterschied zu Sachen, ein vernünftiges, als „Zweck an sich selbst“ existierendes Wesen44 und soll deshalb bei unserem moralischen Urteilen als Wesen dieser Art angesehen werden. Werden Normen aufgestellt, die dieser Bestimmung des Menschen widersprechen, können diese nicht in den Rahmen dessen fallen, was als moralisch richtig anzusehen ist. Reinhold seinerseits erweitert das moralrelevante Menschenprofil, indem er dem Menschen neben Zweckhaftigkeit an

Siehe MS, AA 06: 226. Zu dieser Kontroverse siehe insbesondere die Beiträge von Karl Ameriks, Daniel Breazeale, Martin Bondeli und Manfred Baum in: Violetta Stolz, Marion Heinz, Martin Bondeli (Hg.), Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin, Boston 2012. Siehe ferner Martin Bondeli, Freiheit, Gewissen und Gesetz. Zu Kants und Reinholds Disput über Willensfreiheit, erscheint in den Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses in Wien vom 21. bis 26. September 2015, Bd. 1, 517–532. 44 Siehe GMS, AA 04: 428 f. 42

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sich auch das Gefühlsvermögen der Uneigennützigkeit und die Willensfreiheit in der Bedeutung des Entscheidens für oder gegen das Gesetz zuschreibt. Neben dieser Erwägung in Bezug auf Rahmenkriterien moralischer Verbindlichkeit ist Reinhold mit seinem erweiterten Verbindlichkeitsverständnis darauf aus zu zeigen, dass das Gefühl der Uneigennützigkeit und die Willensfreiheit bei der Entscheidung für das Sittengesetz zu unterstellen sind. Die Verbindlichkeit ist davon abhängig zu machen, dass die sich für das Gesetz entscheidende Person in der Einstellung der Uneigennützigkeit wie auch in einer Einstellung der Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeit agiert. Auch in diesem Punkt lässt sich darauf hinweisen, dass Reinhold eine Idee Kants fortentwickelt. Bereits Kant hat das für das Bestehen von Zurechnung und Verantwortung vorauszusetzende moralische Gewissen, das er als inneren Gerichtshof charakterisiert hat, in einen vergleichbaren Zusammenhang gestellt. Nach Kant hat das moralische Gewissen ein Begleitfaktor bei der Anwendung des Sittengesetzes zu sein. Es muss bei der Subsumtion bestimmter Fälle unter das Gesetz manifest werden. Von daher hat Kant das Gewissen wiederholt als „moralische Urtheilskraft“ kenntlich gemacht und die Gewissenshandlung als eine mit der nötigen „Behutsamkeit“ – nach bestem Wissen und Gewissen – vor sich gehende Gesetzesanwendung beschrieben.45 Reinhold seinerseits geht in dieser Sache einen Schritt weiter. Das moralische Gewissen soll nicht nur bei der Anwendung des Gesetzes, sondern auch bei der vorausgehenden freien Entscheidung für das Sittengesetz ein Begleitfaktor sein. Demgemäß soll in dieser Angelegenheit des Gewissens nicht nur von moralischer Urteilskraft, sondern auch von Willensfreiheit die Rede sein. Abschließend darf man behaupten, dass Reinholds um 1792 gewonnenes Ergebnis zur Frage der Verbindlichkeit im Bereich der Moral nicht der Plausibilität entbehrt. Ausgehend von Kants Problemstand vermag dieses Resultat durchaus zusätzliches Licht in die Sache zu bringen und führt so zu beachtenswerten Ergänzungen. Für Kant versteht sich, dass die für die Verbindlichkeit ausschlaggebende Form des Gesetzes etwas ist, was nicht nur allgemein gilt, sondern auch einen allgemeinen Inhalt hat. Dabei ist, abgesehen von der mit der Zweckformel des kategorischen Imperativs vorgegebenen Norm der moralischen Würde des Menschen, nicht leicht einsichtig, welcher allgemeine Inhalt mit der Form der Gesetzlichkeit zu supponieren ist. Reinholds Einlassungen zum Sittengesetz, bei denen ausdrücklich der Befund erörtert wird, dass dieses eine Allgemeinheit oder Form, aber kein „bloß logisches Gesetz“ ausdrückt,46 sind hier insofern hilfreich, als er die Uneigennützigkeit und damit eine Vorstellung von unparteilichem oder gemeinsamem Interesse in Vorschlag bringt. Der mit dem Sittengesetz geforderte Siehe RGV, AA 06: 186; MS, AA 06: 438. Siehe Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 189 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 140). 45

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Verallgemeinerungstest hat dadurch einen formalen und inhaltlichen Anhaltspunkt. Was das Thema des Gewissens und der damit einhergehenden Pflicht zur Gewissenhaftigkeit angeht, wird dieses von Kant sehr ausführlich auf den Gesetzeskontext, jedoch nur ansatzweise auf den Freiheitskontext bezogen. Es besteht Grund zur Behauptung, dass die von Kant besprochene Anwendung des Gesetzes eine auf neuer Ebene stattfindende freie Entscheidung für das Gesetz ist. Denn nur so lässt sich über eine Gewissenhaftigkeit sprechen, die auch wirklich Zurechnung und Verantwortung einschließt. Insofern drängt sich bei der Anwendung des Gesetzes in der Tat nicht nur der Bezug zur Urteilskraft, sondern auch zu einer Willensfreiheit in der von Reinhold vertretenen Bedeutung auf.

2. Der erste Grundsatz des Naturrechts. Im Spannungsfeld von Erlaubnis und Rechtsgesetz Nachdem Reinhold im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens noch hauptsächlich gegen die Vertreter des positiven Rechtes polemisiert und, sichtlich unter dem Eindruck der Lektüre von Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts,47 den Mangel an Einigkeit unter den Aufgeklärten über das Verständnis von Recht und Naturrecht beklagt hat, geht er zu Beginn der 1790er Jahre in die Offensive. 1792 unterbreitet er im sechsten Brief des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie unter dem Titel Versuch einer neuen Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts48 eine Reihe einschlägiger Definitionen und Erörterungen zu Recht und Naturrecht. Anders als im Falle seiner Einlassungen zur Moral kann Reinhold bei seinen sich über die Zeitperiode von 1789 bis 1792 erstreckenden Behandlungen des Rechts und Naturrechts auf keine einschlägige Schrift Kants zurückgreifen. Die erste, über das Rechtsverständnis des kritischen Kant ausführlicher Auskunft gebende Publikation, der Aufsatz Über den Gemeinspruch, erscheint erst 1793. Zudem kann Reinhold sich für sein Vorhaben auch nur beschränkt auf die erklärtermaßen im Geiste Kants unternommenen naturrechtlichen Studien Hufelands stützen. Denn Hufeland, der vor allem eine umfangreiche Besprechung älterer und neuerer Ansätze zum Naturrecht liefert, argumentiert in eigener Sache Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange, Leipzig 1785. – Reinhold zitiert 1789 dieses Werk Hufelands zusammen mit einem neueren Beitrag zum Naturrecht von Johann Friedrich Flatt, vgl. Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 118 (Gesammelte Schriften, Bd. 1, 73). 48 Siehe Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 174–220 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 129–159). 47

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noch augenfällig vor dem Hintergrund der leibniz-wolffschen Perfektibilitätsidee. Daran erinnert auch sein erster Grundsatz des Naturrechts, der lautet: „Befördere die Vollkommenheit aller empfindenden, vorzüglich der vernünftigen, Wesen“ bzw. „Verhindere, daß die Vollkommenheit derselben gemindert werde.“49 Eine Orientierung am Freiheitsbegriff, wie Reinhold sie wünscht, liegt hier nicht vor. Doch gibt es damals noch einen anderen und weit passenderen Autor, auf den Reinhold sich bei seinem rechtsphilosophischen Vorhaben beziehen kann und in der Tat auch bezogen hat. Es handelt sich um Friedrich Gentz, der 1791 noch ganz als Anhänger Kants in Erscheinung tritt und sich in der Berlinischen Monatsschrift mit dem bemerkenswerten Aufsatz Über den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts50 zu Wort meldet. Gentz deutet den Ausdruck „Recht“ in allgemeinster Bedeutung als das moralisch Erlaubte oder Mögliche – eine Deutung, die unter anderem wolffsche Wurzeln hat.51 Gleichzeitig argumentiert er aber dafür, dass nicht das leibniz-wolffsche Ideal der Perfektibilität, sondern die „Freiheit“ – genauer: die Freiheit im „negativen Sinne“, die Freiheit als Unabhängigkeit von Zwang – an der Spitze der „praktische Bestimmung des Menschen“ zu stehen und den Anfangsgrund einer „Deduktion des Naturrechts“ zu bilden hat.52 In Ansehung einer solchen Deduktion soll die dem Menschen zugesicherte Freiheit als ein in interpersonaler Weise zu regelndes und insofern Einschränkung und Zwang implizierendes Rechtsverhältnis begriffen werden. Mit diesem doppelten Zugang bringt Gentz den Rechtsbegriff wie folgt auf den Punkt: „Recht ist dies moralische Vermögen (die Erlaubniß) eines Individuums, die Freiheit der andern so weit einzuschränken, als es zur Aufrechterhaltung seiner eignen Freiheit nöthig ist“.53 Davon ausgehend ergreift Gentz für „ursprüngliche Rechte“ Partei, so für das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Eigentumsrecht sowie das Recht Verträge abzuschließen und deren Einhaltung zu fordern.54 Diese drei ursprünglichen Rechte sollen das Fundament aller weiteren oder abgeleiteten Rechte sein. Reinhold hat den Aufsatz von Gentz positiv erwähnt,55 und dies nicht zufällig, teilt doch auch er, wie sich um 1792 herausstellt, die Ansicht, dass die Erlaubnis Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (wie Anm. 47), 243. Friedrich Gentz, Über den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts, in: Berlinische Monatsschrift 1791, 17. Bd., 370–396. 51 „Jus est facultas agendi, quod moraliter possibile est“ (Christian Wolff, Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 10, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1971 [Frankfurt am Main, Leipzig 1738], Pars prior, § 156). 52 Siehe Gentz, Über den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts (wie Anm. 50), 376. 53 Siehe ebd., 379. 54 Siehe ebd., 382–386. 55 Siehe Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 97 f. 49

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zum Wesen des Rechts gehört und dass es gleichzeitig einen Rechtszwang, der mit dem Verhältnis zwischen eigennützig handelnden Personen zu tun hat, anzuerkennen gilt. Wenn Reinhold um 1790 dazu übergeht, zu Recht und Naturrecht näher Stellung zu nehmen, kann er sich somit auf eine bemerkenswerte Vorleistung aus dem Kreis des neueren kantischen Denkens beziehen. Für eine systematische Ausarbeitung der Sache sind seines Erachtens allerdings weitere wesentliche Denkschritte nötig. Zudem hält Reinhold es für erforderlich, auch im Bereich des Rechts nicht nur mit einem negativen, die Abwesenheit von Zwang betonenden Freiheitsbegriff, sondern zugleich mit dem Begriff der Willensfreiheit als Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz zu operieren. Im sechsten Brief des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie stellt Reinhold ein von Lesarten des historischen, geoffenbarten oder bloß positiven Rechts klar zu unterscheidendes Konzept von Vernunftrecht ins Zentrum. Es soll, mit anderen Worten, primär um das aus Vernunftgründen gültige Recht zu tun sein. Unter diesem Vorverständnis definiert er „Recht in weiterer Bedeutung“ – einer Bedeutung, unter die Moral und Recht im engeren Sinne gleichermaßen fallen – als „das sittliche Vermögen (facultas moralis)“, das ein Vermögen des Willens ist, sich gemäß dem Sittengesetz zu bestimmen und sich so, im Falle der Befolgung des Gesetzes, zugleich „Schranken“ auferlegen zu können.56 Im Anschluss daran wird ausgehend von Vorstellungen des Beschränkens, Sollens und Zwingens zum einen der Begriff der Pflicht seinem Wesen und seinen Arten nach definiert, zum anderen in Abhebung von dem Grundverständnis von Moral das Recht in engerer Bedeutung, jenes Recht, zu dem fraglos der Charakter des Zwingens gehört, in den Brennpunkt gerückt.57 In diesem Zusammenhang orientiert sich Reinhold am Begriff des Möglichen als Erlaubten. „Recht in engerer Bedeutung“ soll im Allgemeinen als das moralisch Erlaubte, als das, was durch das Sittengesetz „weder verbothen noch gebothen, sondern der Willkühr überlassen, bloß erlaubt ist“, aufgefasst werden,58 im Besonderen als die durch das Sittengesetz oder Gesetz des uneigennützigen Triebes eröffnete „Möglichkeit der freywilligen Befriedigung des eigennützigen Triebes“.59 Wie Reinhold unterstreicht, ist im vorliegenden Falle von einer Dreiheit von erlaubt (= geboten), bloß erlaubt und verboten auszugehen und im Blick auf den Möglichkeitsbegriff zwischen Siehe Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 192 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 142). 57 Näheres zu diesen Anknüpfungspunkten und zur weiteren Darstellung siehe bei Martin Bondeli, Reinholds Naturrechtskonzept, in: K. L. Reinhold. Alle soglie dell! idealismo, Archivio di filosofia LXXIII (2005), Nr. 1–3, 243–254. 58 Siehe Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 198 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 145). 59 Siehe ebd., 197 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 145). 56

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„bloß möglich“ und „einzig möglich“ (= notwendig) zu unterscheiden.60 Da das Recht in engerer Bedeutung bloße Erlaubnis ist, ist zudem, wie Reinhold im Weiteren hervorhebt, zu berücksichtigen, dass diese Rechtsstufe lediglich unter dem Sittengesetz stehen, somit nicht aus dem Sittengesetz deduziert, nicht im Sinne einer aus dem Sittengesetz stammenden Pflicht bestimmt werden kann. Dass Reinhold dem Recht in engerer Bedeutung primär das Wesen einer unter dem Sittengesetz stehenden Erlaubnis zuschreibt, hat damit zu tun, dass es, dem Sinn der nicht zu den Verboten gehörenden Menschenrechte entsprechend, den möglichen Gebrauch der menschlichen Freiheit und damit auch des eigennützigen Triebes des Menschen zu garantieren gilt. Dadurch dass der mögliche Gebrauch der menschlichen Freiheit garantiert wird, ist freilich das Recht in engerer Bedeutung nicht nur Erlaubnis, sondern zugleich Zwang. Die besagte Freiheit muss garantiert werden. Zudem ändert sich mit der Erlaubnis nichts daran, dass das Recht in engerer Bedeutung als gültiges und insofern verbindliches Recht angesehen und bestimmt werden muss. Reinhold spricht in dieser Perspektive genauer von einem Recht, das nicht entrissen werden kann und insofern ein „ursprüngliches und unverlierbares Recht“, dies im Gegensatz zu einem Recht, das „erworben und verloren“ werden kann, darstellt.61Insoweit das Recht ein Verhältnis von Personen, ein Rechtsverhältnis, darstellt, ist das Recht in engerer Bedeutung auch aber insofern sowohl zwingend als auch gültig oder verbindlich, als es ihm obliegt, die Freiheit des eigennützigen Triebes zu koordinieren und im Konfliktfalle unter dem Gesetz des uneigennützigen Triebes einzuschränken. Es soll also eine gesetzmäßige Befriedigung des eigennützigen Triebes bestehen. Und nur eine solche schafft verbindliches Recht und rechtmäßigen Zwang. Von daher versteht sich am Ende auch der Übergang Reinholds zum Begriff des Naturrechts und zur Aufstellung seines ersten Grundsatzes des Naturrechts: „Du darfst denjenigen, der dich zu bloßen Befriedigung seines eigennützigen Triebes zwingt, durch Zwang abhalten.“62 Sofern die Befriedigung des eigennützigen Triebes nicht gesetzmäßig verläuft, zu einem ungerechtfertigten Zwang führt, besteht die Befugnis von Gegenzwang. Dieser Zwang ist also defensiv. Zudem ist auch hier eine Bedeutung von Erlaubnis mit im Spiel, nämlich eine Erlaubnis, mit der das Dürfen der Zwangsausübung gemeint ist. Ausdrücklich macht Reinhold in dieser Hinsicht darauf aufmerksam, dass das „Zwangsrecht“ weder mit einer „Zwangspflicht“ noch mit einer „Pflicht zu zwingen“ zusammenhängt.63

Siehe ebd., 197 f. (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 145). Siehe ebd., 203 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 149). 62 Siehe Anm. 7. 63 Siehe Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Zweyter Band, 214 (Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, 156). 60 61

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Das Recht zu zwingen verpflichtet uns nicht, dieses Recht auch in Anwendung zu bringen. Wir dürfen von ihm Gebrauch machen.64 Wie Gentz ist auch Reinhold schließlich darauf aus, das im Sinne eines Vernunftrechts definierte und auf einen ersten Grundsatz hin bestimmte Recht im Hinblick auf eine Geltendmachung einzelner Rechte zu konkretisieren. In diesem Rahmen versteht Reinhold die Gegenüberstellung von ursprünglichem oder unverlierbarem Recht einerseits und erworbenem Recht andererseits offensichtlich auch dahingehend, dass es Rechte des Menschen gibt, die diesem unabhängig davon, ob sie durch bestehende Verträge zugesichert werden oder nicht zukommen, und Rechte, die nur gelten, wenn sie auch mittels Vertrag zugesichert sind. Interessanterweise deutet sich mit dieser Gegenüberstellung, die Reinhold erklärtermaßen erst im Zusammenhang des Verhältnisses von Vernunftrecht und positivem Recht ausführen möchte, noch eine weitere, in der Folge von Fichte vertretene Vorstellung von Erlaubnis an, nämlich eine Erlaubnis im Sinne des kontraktualistischen Gedankens, dass ein Recht seine Gültigkeit nicht generell, sondern lediglich unter der Bedingung einer willentlich getroffenen Übereinkunft hat. So wird Fichte in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre das seines Erachtens dem Recht eigentümliche „Erlaubnisgesetz“ als ein Gesetz charakterisieren, das im Unterschied zum Moralgesetz nur unter geschriebenen oder ungeschriebenen vertraglichen Bedingungen gilt und sich so auf eine „gewisse Sphäre einschränkt“.65 Aus seinen Vorlesungen über Moral, Ethik und Naturrecht und seinen unmittelbar daran anschließenden Publikationen zur Rechtsthematik ist ersichtlich, dass Reinhold nach 1792 zunehmend die Auffassung von Recht als Zwang weiterverfolgt und sich insbesondere über die Vorstellung einer Einschränkung des unrechtmäßigen, nicht durch den Vorrang der Uneigennützigkeit geregelten eigennützigen Triebes verständigt.66 Entscheidender Ausgangspunkt für die Grundlegung des Rechts wird die Unterscheidung von „innerer“, die Moral betreffender und „äußerer“, das Recht in engerer Bedeutung betreffender „Freyheit des Willens“.67 Die im Bereich der Moral bestehende innere Willensfreiheit soll dabei Es liegt nahe, dass Reinhold hiermit gerade auch den Einwurf Kants gegen Hufeland zu rechtfertigen versucht, wonach es übertrieben sei zu verlangen, dass man von seinem Recht „nichts nachlassen“ dürfe (siehe RezHufeland, AA 08: 129). 65 Siehe Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt, Bd. I/3, 324. 66 Zu dieser Neuausrichtung siehe Bondeli, Reinholds Naturrechtskonzept (wie Anm. 57), 250–252; siehe ferner die Kommentare in Reinhold, Gesammelte Schriften, Bd. 5/2, 273–286. 67 Siehe Reinhold, Aphorismen über das äußere Recht überhaupt und insbesondere das Staatsrecht, in: Reinhold, Auswahl vermischter Schriften, Zweiter Theil, 401 f. (Gesammelte Schriften, Bd. 5/2, 155) sowie Reinhold, Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität (wie Anm. 9), 108 f. 64

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„alle“Aktivitäten des Willens umfassen, die im Bereich des Rechts in engerer Bedeutung bestehende äußere Willensfreiheit lediglich jene Aktivitäten des Willens, „die das äußere Thun und Lassen, und auch dieses nur in Bezug auf das äußere Thun und Lassen Anderer“ angehen.68 In Vergegenwärtigung dieser Unterscheidungen ist es nichts als konsequent, dass Reinhold nun der Moral das Sittengesetz und dem Recht in engerer Bedeutung ein „Rechtsgesetz“ zuordnet.69 Dieses Rechtsgesetz, das zuvor als das den eigennützigen Trieb garantierende und einschränkende Gesetz des uneigennützigen Triebes vorgestellt worden ist, wird nun von Reinhold als ein Gesetz der Allgemeinheit als Verträglichkeit freier Handlungen aufgefasst und ausgedrückt in der Vernunftforderung: „daß jede Person ihr äusseres freyes Thun und Lassen auf das einschränke, was sich mit dem äusseren freyen Thun und Lassen jeder anderen Person verträgt.“70 Reinhold will damit nicht in Abrede stellen, dass das von Haus aus mit der Befugnis zu zwingen einhergehende Recht in engerer Bedeutung nicht zugleich den Charakter einer Erlaubnis hat. Ausdrücklich wird an der Einteilung in „gebietende“, „verbietende“ und „erlaubende“ Gesetze festgehalten.71 Ausdrücklich wird das aus der Anwendung des Rechtsgesetzes resultierende Recht als eine „bloße Erlaubniß“ eingestuft.72 Ebenso wenig ändert sich für Reinhold mit der Einführung des Rechtsgesetzes etwas an der als Form von Erlaubnis deutbaren Auffassung, dass es den möglichen Gebrauch der menschlichen Freiheit zu statuieren und genau in diesem Sinne unverlierbare, ursprüngliche Rechte des Menschen zu verteidigen gilt. Ein Unterschied besteht lediglich darin, dass Reinhold inzwischen dazu übergegangen ist, die besagten Rechte unter dem Ausdruck „Urrecht“ zusammenzufassen73 und im Einzelnen aufzulisten. Er nennt dabei primär das Recht der Person auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Eigentumsrecht der Person sowie den die „Anerkennung“ der gegenseitigen Selbsteinschränkung der Personen zum Ausdruck bringenden und als Bedingung für die Verwirklichung, Positivierung des Rechts zu begreifenden „Urvertrag“.74 Siehe ebd., 111. Wolfgang Kersting, der sich kritisch zu Reinholds Ausführungen zum Rechtsbegriff von 1792 äußert (vgl. Wolfgang Kersting, Sittliche Erkenntnis, die moralische Möglichkeit des Erlaubten und die Moralwahl, in: ders., Dirk Westerkamp (Hg.), Am Rande des Idealismus. Studien zur Philosophie Karl Leonhard Reinholds, Paderborn 2008, 89–100), übersieht, dass Reinhold – wie zuvor der noch prokantische Gentz – mit dem Erlaubnisgedanken zugleich ein eigenständiges Rechtsgesetz eingeführt hat. 70 Siehe Reinhold, Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität (wie Anm. 9), 111. 71 Siehe ebd., 108. 72 Siehe ebd., 111. 73 Siehe ebd., 113. 74 Siehe ebd., 113–115. 68 69

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Es besteht kein Zweifel, dass Reinhold bei seinen Ausarbeitungen zum Rechtsbegriff in der Zeit nach 1792 einen vergleichenden Blick auf Kant wirft. Dieser definiert in der Schrift Über den Gemeinspruch das als gültig anzusehende Recht als die „Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist“.75 Die Freiheit, die einschränkbar ist, ist dabei in erster Linie die Freiheit des Menschen als Unabhängigkeit von nötigender Willkür durch andere Menschen. Soweit diese Freiheit unter dem Recht steht, ist ihre Ausübung mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Von einem diese Freiheit betreffenden Recht als Erlaubnis ist nicht die Rede. In dieser letzteren Sache klärt Kant seine Anhänger spätestens mit der Schrift Zum ewigen Frieden darüber auf, dass er sich zu jenen philosophischen Rechtslehrern zählt, die sich skeptisch zum Vorschlag verhalten, neben dem gebietenden und verbietenden noch ein „Erlaubnisgesetz“ anzunehmen.76 Es wird erwähnt, dass ein solches Gesetz nicht zu Unrecht bezweifelt worden sei, da es die Vorstellung einer „Nöthigung“ zu etwas, „wozu jemand nicht genöthigt werden kann“, nahelege, also einen „Widerspruch“ zu enthalten scheine.77 Näher besehen lehnt Kant ein Erlaubnisgesetz nicht in jeder Hinsicht ab, bliebt aber, was die Aufnahme eines solchen Gesetzes in das Grundverständnis von Recht und Rechtgesetz angeht, kritisch.78 Insgesamt dürften diese klar konturierten Einlassungen Kants nicht wenig wirkungsvoll bei Reinholds Bestreben gewesen sein, sein Gesetz des uneigennützigen Triebes als Rechtsgesetz auszuformulieren und den Erlaubnisgedanken unter dieser veränderten Perspektive nochmals zur Geltung zu bringen. Im Weiteren ist es offensichtlich, dass Reinhold ab 1796 sein Rechtssystem unter Beizug von Fichtes Naturrechtslehre weiter ausgearbeitet hat. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass Reinhold das Recht als Interaktion von Personen und dadurch als Teilbereich innerhalb eines Gesamtbereichs moralischer Willenshandlungen fasst, sondern auch die einsetzende Verwendung der Fichte-typischen Ausdrücke „Anerkennung“ und „Urrecht“. Allerdings ist augenfällig, dass eine Überstimmung Reinholds mit Fichte nur oberflächlicher Natur ist. Reinhold versteht unter dem Urrecht nicht, wie Fichte, eine auf freier Anerkennung, Treu und Glauben beruhende und somit vom Zwangsrecht zu unterscheidende vorgelagerte Sphäre des Rechts, sondern ein Ensemble ursprünglicher und dabei in jedem Falle zwingender Rechte. Ebenso wenig kennt Reinhold letztlich den kontraktualistiTP, AA 08: 289 f. Siehe ZeF, AA 08: 347 f. Anm. 77 Siehe ebd. 78 Für detailliertere Informationen zu Kants beschränkter Akzeptanz des Erlaubnisgesetzes siehe Reinhard Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, New York 1982, 233–285. 75 76

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schen Erlaubnisbegriff Fichtes, d. h. die Annahme, dass das Recht mit einem Vertrag, dessen Eingehen und Akzeptanz unserer Willkür überlassen ist, steht und fällt. Was Reinhold „Urvertrag“ nennt, ist ein Vertrag, der mit dem Recht, das dem Menschen ursprünglich und unverlierbar zukommt, automatisch gegeben ist. Die Antwort, die Reinhold im Bereich des Rechtes auf seine 1789 gestellte Frage der Verbindlichkeit gibt, lässt sich demnach wie folgt resümieren. Reinhold ist 1792 davon ausgegangen, dass sich verbindliches Recht mit einem ersten Grundsatz des Naturrechts ergibt, der besagt, dass ungerechtfertigter Zwang durch Gegenzwang abgehalten werden darf, wobei es seines Erachtens einem Gesetz des uneigennützigen Triebes obliegt zu befinden, was ungerechtfertigter Zwang ist. Mit der nach 1792 erfolgten Einführung eines Rechtsgesetzes über die Verträglichkeit der Freiheiten der Personen untereinander wird nun auch ausdrücklich das Gesetz des uneigennützigen Triebes kenntlich gemacht. Es wird jenes Prinzip bereitgestellt, welches besagt, unter welcher Bedingung gültiges, verbindliches Recht besteht und in der Folge davon gerechtfertigter Zwang ausgeübt werden darf. Erst mit diesem Prinzip, dem Rechtsgesetz, stellt Reinhold den eigentlichen ersten Grundsatz des Naturrechts auf, denn der zuvor formulierte Grundsatz dieser Art bezog sich auf den Fall einer schon bestehenden und zu ahndenden Rechtsverletzung. Was Reinholds Ergebnis als schwierig und problematisch erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass der Systematik nach auch das Recht in engerer Bedeutung aus dem Fundament der Willensfreiheit als Vermögen, sich für oder gegen das Sittengesetz auszusprechen, erklärbar sein sollte. Eine solche Forderung ist wohl insofern einsichtig, als auch bei der Begründung des Rechts das mit der Auffassung von Willensfreiheit implizierte Gewissen eine Rolle spielt. So muss es beispielsweise darum gehen, den mit dem Rechtsgesetz verlangten Verträglichkeitstest gewissenhaft, mit bestem Wissen und Gewissen, durchzuführen. Doch hat im Falle des Rechts die Willensfreiheit von den Grundvoraussetzungen her nicht dasselbe Gewicht wie bei der Moral. Beim Recht hat die Gesetzlichkeit, d. h. das mit dem Gesetz übereinstimmende Willens- und Handlungsvermögen, einen höheren, ausschließlicheren Stellenwert als bei der Moral. Entsprechend ist bei der Moral eine Willensfreiheit als Vermögen, sich für oder wider das Gesetz auszusprechen, von größerer Bedeutung als beim Recht. Reinhold selber verweist auf diesen Unterschied, wenn er unterstreicht, dass es beim Recht nicht um die „Absicht“, sondern lediglich um die „äußere Richtung“ der Willenshandlung geht, kurzum: dass der Unterschied zwischen Moralität und Legalität zu berücksichtigen ist. Es besteht deshalb Grund zum Vorwurf, dass das Fundament der Willensfreiheit zu schmal ist, um dasjenige, was der Sache nach im Rahmen von Moral und Recht abhandelt wird, abdecken zu können. Reinhold kann diesem Vorwurf nur entgehen, wenn er dafür argumentiert, dass es mit der Annahme einer äußeren

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neben der inneren Freiheit des Willens gleichzeitig die Handlungsfreiheit in die Willensfreiheit zu integrieren gilt. Als Gewinn darf man Reinholds Ergebnis sicherlich insofern bezeichnen, als aufgewiesen wird, in welcher Weise Rechtsgesetz und Erlaubnis als miteinander vereinbare Vorstellungen anzusehen sind. Wenn Reinhold im Falle gerechtfertigter Zwangsausübung von einem Zwingendürfen statt Zwingenmüssen spricht, operiert er mit einem Verständnis von Erlaubnis, das mit der Vorstellung von Recht als Zwang kompatibel ist. Desgleichen steht dieses Verständnis von Erlaubnis in Einklang mit der mit dem Rechtsgesetz implizierten Vorstellung von gültigem, verbindlichem Recht. Denn es geht bei der Erlaubnis um den Gebrauch und nicht um die Begründung dieses Rechts. Wenn Reinhold für den Gedanken einer Erlaubnis in der Lesart des möglichen Gebrauchs der menschlichen Freiheit Partei ergreift und deshalb den Freiheitsbegriff an die Spitze seines Rechtssystems stellt, widerspricht dies nicht der Grundauffassung von Recht als Befugnis zu zwingen. Denn auch eine erlaubte, uns freigestellte Handlung wird uns mittels Recht und im Konfliktfalle mittels Rechtszwang zugesichert. Die von Kant geäußerten Bedenken bezüglich eines Widerspruchs zwischen Nötigung und Erlaubnis sind im Falle Reinholds nicht von Belang. Reinholds Aussagen zum Erlaubnisbegriff bringen emphatisch zum Ausdruck, dass mit dem Rechtsgesetz Äußerungen der Freiheit unter ein Gesetz gestellt werden, das Rechtgesetz somit um der Freiheit willen da ist. Hinter der von Reinhold seit 1789 erhobenen Forderung erster Grundsätze der Moral und des Naturrechts stehen zwei Hauptabsichten. Reinhold verfolgt damit zum einen eine illuminatische und durch Denkresultate Kants geprägte Aufklärungsstrategie. Es soll mittels eines Einverständnisses über Prinzipien im Bereich der praktischen Vernunft Konsens und organisatorische Einheit unter den Selbstdenkern und fortschrittlich gesinnten Politikern gestiftet und so ein erster Schritt in der Einleitung von kulturellen und sozialpolitischen Reformen unternommen werden. Zum anderen geht es um die Beantwortung der Frage nach den Quellen verbindlicher moralischer und juristischer Urteile und damit zusammenhängender Pflichten und Rechtszwänge. Reinhold hält sich Falle der Moral an Kants formalen Bestimmungsgrund der Sittlichkeit und argumentiert dafür, dass Verbindlichkeit allerdings nicht nur von einer Form der Gesetzlichkeit abhängt, sondern auch von einem richtig verstandenen Begriff der Willensfreiheit und einem moralischen Gefühl der Uneigennützigkeit. Im Falles des Naturrechts favorisiert Reinhold letztlich die Ansicht, dass die Grundlage gültigen Rechts in einer mit der Erlaubnisidee verträglichen Konzeption des Rechtsgesetzes im Sinne der allgemeinen Einschränkung der äußeren Freiheit besteht. There are two main intentions that lay behind the claim of moral principles and natural law which Reinhold raised from 1789 onwards: Firstly, Reinhold suggests a strategy of enlightenment that is coined by the illuminati and Kant. He calls for a consensus about the principles of practical reason amongst autonomous thinkers and progressive politicians that consequently implies organizational unity and helps to put forward cultural and socio-po-

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litical reforms. Secondly, Reinhold responds to the question of the sources of moral obligations and legal judgements as well as related duties and legal constraints. In the case of morals, Reinhold adheres to Kant!s formal determinant of morality and argues for a concept of obligation that not only depends on a type of legality, but also on a properly understood freedom of will and a moral sense of unselfishness. In the case of natural law, Reinhold favours the view that the basis of applicable law consists of a notion of law which is compatible with the idea of permission in the sense of a general restriction of outer freedom. PD Dr. Martin Bondeli, Universität Bern, Institut für Philosophie, Länggassstrasse 49a, Postfach 3000 Bern 9, E-Mail: [email protected]

Gabriel Rivero Von der Abhängigkeit zur Notwendigkeit. Kants Perspektivwechsel in der Auffassung der Verbindlichkeit zwischen 1784 und 1797*

Kants Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verbindlichkeit reicht bis in seine vorkritische Phase zurück, wie sich bereits anhand der Preisschrift von 1762/64 bezeugen lässt.1 Die historische Entwicklung der kritischen Konzeption der Verbindlichkeit ist von zwei Aspekten des kantischen Denkens besonders geprägt: zum einem von einer erkenntnistheoretischen Neuerung, die die 1770 eingeführte transzendentale Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand zur Sprache bringt; zum anderen von der Auffassung, die Verbindlichkeit sei im Zusammenhang mit der Nötigung und der Abhängigkeit des Willens hinsichtlich eines formalen Gesetzes zu bestimmen.2 Der erste Aspekt tritt, wie bereits erwähnt, 1770 mit dem Erscheinen der Dissertation zu Tage, während der zweite sich anhand der Briefe und der Vorlesung Kaehler auf die Mitte der 1770er Jahre festlegen lässt. Kants kritisches Verständnis der Verbindlichkeit in der Vorlesung Naturrecht FeyGefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer KL 916/ 13 – 1. Für Verbesserungsvorschläge danke ich Heiner Klemme sowie den TeilnehmerInnen des von ihm geleiteten Oberseminars „Grundprobleme der Philosophie der Neuzeit“. 1 UD, AA 02: 298 ff. Zur historischen Entwicklung von Kants Auffassung der Verbindlichkeit und deren geschichtliche Quellen siehe Clemens Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011; Heiner F. Klemme, Gehören hypothetische Imperative zur praktischen Philosophie? Wille und praktische Vernunft in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der ,ersten Einleitung" in der Kritik der Urteilskraft, in: Il Cannocchiale. Rivista di studi filosofici 29 (2014), 209–231; Gabriel Rivero, Le concept d!obligation comme concept premier de la philosophie pratique. Sur le d*veloppement de la raison pratique kantienne, in: Sophie Grapotte, Margit Ruffing (Hg.), Kant: La raison pratique. Concepts et h*ritages. Actes du XIe Congr)s international de la Soci*t* d!$tudes Kantiennes de Langue FranÅaise, Paris 2015, 215–223; Gabriel Rivero, Nötigung und Abhängigkeit. Zur Bestimmung des Begriffs der Verbindlichkeit bei Kant bis 1775, in: Bernd Dörflinger, Dieter Hüning, Günter Kruck (Hg.), Zum Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, Hildesheim, Zürich, New York 2017, 45–70. 2 Zu dieser Phase des kantischen Denkens siehe Rivero, Nötigung und Abhängigkeit (wie Anm. 1). *

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erabend (1784), in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und in der Kritik der praktischen Vernunft (1787/88) nimmt die in der Dissertation und in der Vorlesung Kaehler entwickelten Elemente auf und interpretiert sie in dem weiteren Rahmen einer Konzeption der reinen praktischen Vernunft um. Aus einer Vernunft, die praktisch und gesetzgebend ist, lässt sich eine Form der Verbindlichkeit ableiten, die das Kriterium der unbedingten Gültigkeit erfüllen soll, und deren Formel im kategorischen Imperativ Ausdruck findet. Das soeben Gesagte lässt sich als den von Kant bis 1787/88 vertretenen Standpunkt ansehen. Eine nähere Betrachtung der Entwicklung der Konzeption der Verbindlichkeit nach 1787 zeigt allerdings, dass Kant gewisse Änderungen in der Definition anführt, die in der Metaphysik der Sitten von 1797 expliziert werden. Der dabei beachtenswerteste Aspekt dieser Änderung bezieht sich auf die maßgebende Verschiedenheit der kategorialen Bestimmungen des Verbindlichkeitsbegriffs, die sich aus einem Vergleich beider Definitionen leicht feststellen lässt. In diesem Sinne lautet die Definition in der Grundlegung wie folgt: „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit“;3 wogegen sie in der Metaphysik der Sitten lautet: „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“4 Es liegt also nahe, dass hierbei zwei divergierende Kategorien in den Vordergrund gestellt werden, nämlich die relationskategorial orientierte Abhängigkeit einerseits und die modalkategorial orientierte Notwendigkeit andererseits. Dass dem so ist, ist entwicklungsgeschichtlich gesehen erklärungsbedürftig, denn bei näherem Hinsehen erweist sich, dass die jeweiligen kategorialen Bestimmungen unterschiedlichen Traditionen und Konzeptionen der Verbindlichkeit zuzuordnen sind. Die auf der Idee der Notwendigkeit basierende Definition der Verbindlichkeit lässt sich in erster Linie auf die Tradition des Wolffianismus zurückführen, von welchem sich Kant allerdings bereits in seiner vorkritischen Phase entschieden distanzierte. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, aus welchem Grund und mit welcher Absicht diese modalorientierte Änderung vorgenommen wurde. Diese Frage ist jedoch in der Kant-Forschung noch nicht thematisiert worden, obwohl, wie aus den beiden Zitaten ersichtlich ist, Kants Definitionen durchaus verschiedene Züge tragen.5

GMS, AA 04: 439. MS, AA 06: 222. 5 Trotz der markanten Unterschiede zwischen den beiden Definitionen der Verbindlichkeit haben die Interpreten der Metaphysik der Sitten im Allgemeinen und der Rechtslehre im Besonderen den naheliegenden Divergenzen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sie sich explizit des Begriffs der Verbindlichkeit bedienen. Vgl. z. B. dazu Otfried Höffe, Der kategorische Rechtsimperativ, in: ders. (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, 42, 47. Allen Wood bezieht sich in seinem Aufsatz zur „Einleitung“ in die Metaphysik der 3

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Aufgrund der bemerkenswerten Unterschiede dieser Definitionen liegt die Vermutung nahe, dass aus Kants Sicht die Formulierung der Verbindlichkeit, wie sie in der Grundlegung zur Sprache gebracht wurde, nicht mehr tauglich ist. Der Grund, weshalb Kant im Laufe seiner Denkentwicklung zu diesem Resultat kommt, mag darin bestehen, dass die Definition der Grundlegung einseitig auf die Abhängigkeit und Nötigung fokussiert wird. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass sich eine solche einseitige Fokussierung auf diese Begriffe als problematisch erweist, weil die auf diese Weise formulierte Verbindlichkeit nicht als einheitlicher Begriff für die Rechts- und Tugendlehre fungieren kann. In dieser Hinsicht stellt sich heraus, dass durch die Fokussierung auf die Relationskategorie der Abhängigkeit das Recht aller moralischen Nötigung ausgeschlossen blieb. Dies hätte die nachteilige Konsequenz, dass es keinen einheitlichen Verbindlichkeitsbegriff gäbe, auf dessen Grundlage sich letztlich ein System der praktischen Philosophie errichten ließe. Unter diesen Umständen lässt sich die These aufstellen, dass Kant mit dem Rekurs auf die Modalkategorie der Notwendigkeit den Versuch unternimmt, diese Schwierigkeit zu lösen. Im Lichte der entwicklungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Kants veränderter Perspektive auf die kategoriale Bestimmung der Verbindlichkeit lassen sich zudem Konsequenzen für die seit geraumer Zeit in der Kant-Forschung umstrittene Frage nach dem Verhältnis zwischen Moral und Recht ziehen. Denn eine Berücksichtigung der ausdifferenzierten Verbindlichkeit und der moralischen Nötigung würde gleich mehrere Missverständnisse einiger Ansätze ausräumen – das trifft insbesondere auf die Ansätze zu, die die Unabhängigkeit von Kants Rechtskonzeption von seiner Moralphilosophie behaupten. Nimmt man die Unterscheidung zwischen der relationalen und der modalen Kategorie in den Blick, dann ergeben sich zwei wichtige Kritikpunkte gegen die Versuche, Kants Moral- und Rechtsphilosophie als voneinander unabhängig zu deuten. Einer davon bezieht sich auf den irreführenden Versuch, Kants Moralund Rechtsphilosophie als zwei Normativitäten zugehörig zu verstehen. In dieser Hinsicht lässt sich etwa Christoph Horns Interpretation einer Kritik unterziehen, der eine „nicht-ideale Normativität“ des Rechts bei Kant behauptet. Dafür trifft er eine Unterscheidung zwischen moralischer und rechtlicher Normativität und argumentiert infolgedessen, dass das Recht „keine unmittelbare moralische Forderung […], sondern die anschauliche Darstellung eines praktisch-vernünftigen Begriffs [impliziere]“.6 Damit meint er, das Recht schließe keine Verpflichtung ein und sei nur eine „nichtideale Prozedur“, die sich auf den homo phaenomenon richSitten auf die Verbindlichkeit, ohne dabei die Unterschiede zu der Grundlegung zu thematisieren. Vgl. Allen Wood, Kant!s Doctrine of Right: Introduction, in: ebd., 30. 6 Christoph Horn, Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Frankfurt am Main 2014, 39.

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te. Es liegt jedoch viel näher, dass die von Kant intendierte Änderung in der Verbindlichkeitsdefinition um 1797 darauf abzielt, Recht und Moral unter ein und dieselbe Normativität zu stellen, die durch eine einheitliche Verbindlichkeit garantiert wird.7 Der andere Kritikpunkt resultiert aus einer näheren Betrachtung des Nötigungsbegriffs. In dieser Hinsicht wurde der Versuch unternommen, Moral und Recht deshalb als unabhängig anzusehen, weil die auf der praktischen Vernunft gründende Moral naturgemäß einen selbstnötigenden Charakter hat, während das Recht hingegen eine äußere Form der Nötigung zulässt. Dieser Argumentation folgt beispielsweise Allen Woods Ansatz;8 nimmt man Woods Ausführungen allerdings näher in den Blick, lässt sich feststellen, dass er weder historisch noch systematisch auf die moralische Nötigung und die Verbindlichkeit im Rahmen des Rechtsbegriffs eingeht, um eine solche These überzeugend belegen zu können. Stattdessen genügt es ihm, eine Analyse des Rechtsbegriffs in Verbindung mit der äußeren Freiheit zu liefern, wodurch eine Entkoppelung der Nötigung im Sinne des Rechts von der Nötigung im Sinne der Moral als Dreh- und Angelpunkt der kantischen Rechtstheorie angesehen wird.9 An diesen Ausführungen sind noch zwei weitere Punkte zu bemängeln: 1) Horn führt Unterscheidungen ein, die dem kantischen Konzept des Rechts und der Verbindlichkeit fremd sind – wie z. B. eine rechtliche Normativität, die als nichtideale Prozedur den homo phaenomenon bindet. Dies würde voraussetzen, dass es eine ethische Normativität gäbe, die als ideale Prozedur den homo noumenon binden würde. Von einer solchen Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Prozedur ist aber bei Kant nicht die Rede. 2) Die Idee, das Recht impliziere keine Verpflichtung, sondern nur eine anschauliche Darstellung, ist ebenfalls irreführend. Das Recht äußert wohl der Ansicht Kants nach eine Verbindlichkeit, nun aber ist nicht zu erwarten, dass das Subjekt nach dieser Verbindlichkeit handelt (vgl. MS, AA 06: 231). Bei diesen zwei Punkten verkennt Horn also zum einen den Unterschied zwischen Gesetz und Imperativ; zum anderen betrachtet er den Begriff der Verbindlichkeit von 1797 nicht näher; aus diesem Grund erweist sich die Unterscheidung zwischen moralischer und rechtlicher Normativität, die Horn zieht, als wenig plausibel. 8 Vgl. Allen Wood, The Free Development of Each: Studies on Freedom, Right, and Ethics in Classical German Philosophy, Oxford 2014. 9 Eine Kritik an Woods Auffassung findet sich in dem Aufsatz von Paul Guyer, The Twofold Morality of Recht: Once More Unto the Breach, in: Kant-Studien 107 (2016), 34–63. Eine Analyse der Unterschiede beider Definitionen der Verbindlichkeit fehlt aber auch bei ihm, obwohl er an mehreren Stellen seines Aufsatzes vom Begriff der Verbindlichkeit Gebrauch macht. Anstatt auf die Verbindlichkeit und auf die moralische Nötigung zu fokussieren, argumentiert Guyer, dass der „objektive“ Inhalt des Rechtsprinzips von der Moral abgeleitet wird, da der rechtlichen und ethischen Gesetzgebung der positive Begriff der Freiheit zugrunde liege (vgl. dazu ebd., 41 ff.). Damit lässt aber Guyers Strategie die Pointe der kantischen Argumentation nicht zu Tage treten. Dies zeigt sich grundsätzlich in den folgenden irrtümlichen Behauptungen Guyers: 1) Das Recht befasst sich nicht bloß mit der Handlung, sondern es enthält auch eine Beziehung zu der Maxime der Handlung (vgl. ebd., 42). 2) Kants Rechtsprinzip ist darauf gerichtet, eine Maximierung der Freiheit zu erlangen (vgl. ebd., 44). Um den irreführenden Charakter dieser Behauptungen zu zeigen, sei nun erstens daran erinnert, dass Kants Rechtsbegriff wesentlich auf die Handlung bezogen ist, insofern das Recht keinen Zweck der Handlung berücksichtigt; und zweitens, dass das Recht auf keine 7

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Im vorliegenden Aufsatz soll demgegenüber die These vertreten werden, dass die neuen Züge der Definition von 1797 eine terminologische Änderung aufgreifen, die grundsätzlich darauf abzielt, dem Begriff der Verbindlichkeit komplementäre Elemente hinzuzufügen, damit die von Kant eingeführte Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Gesetzgebung in ein einheitliches System integriert werden kann. Dabei soll plausibel gemacht werden, dass ein einziger und einheitlicher Verbindlichkeitsbegriff sowohl für das Recht als auch für die Ethik gültig ist. Hierfür ist es aber notwendig, den Begriff derart auszudifferenzieren, dass unter seiner allgemeinen Bestimmung noch eine spezifisch rechtliche Form der Verbindlichkeit identifiziert werden kann. Der vorliegende Text gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil wird die Definition der Verbindlichkeit in der Vorlesung Naturrecht Feyerabend und in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten thematisiert. Im Zentrum der Diskussion stehen zum einen der Begriff der Abhängigkeit und zum anderen die Folgen der auf der Relationskategorie basierenden Verbindlichkeit für die Auffassung des Rechts. Im zweiten Teil wird die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit um 1797 näher betrachtet. Hierbei liegt der Fokus der Diskussion ausschließlich auf der „Einleitung“ in die Metaphysik der Sitten. Dabei werden die Verbindlichkeitsdefinition und deren Konsequenzen für die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit thematisiert. Anhand dieses Vergleichs zwischen den Definitionen von 1785 und 1797 wird sich zeigen, dass die Erneuerung der Terminologie in der Metaphysik der Sitten eine Anpassung und Erweiterung der Definition der Verbindlichkeit im Hinblick auf den Rechtsbegriff impliziert. I. Verbindlichkeit um 1784/85 Die Vorlesung Naturrecht Feyerabend sowie die Grundlegung definieren die Verbindlichkeit in Zusammenhang mit der Abhängigkeit des Willens bezüglich des moralischen Gesetzes, die von Kant auch moralische Nötigung genannt wird.10 Maximierung der Freiheit, sondern eher auf eine legitime Beschränkung derselben gründet. Zur weiteren eingehenden Kritik an der Unabhängigkeitsthese siehe auch Philipp-Alexander Hirsch, Freiheit und Staatlichkeit bei Kant. Die autonomietheoretische Begründung von Recht und Staat und das Widerstandsproblem, Berlin, Boston 2017. 10 Die Definition in der Grundlegung lautet: „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit“ (GMS, AA 04: 439). Die Definition in der Vorlesung Naturrecht Feyerabend ist nahezu identisch mit der in der Grundlegung dargelegten: „Verbindlichkeit ist moralische Neceßitation der Handlung, d:i: die Abhängigkeit eines nicht an sich guten Willen vom Princip der Autonomie, oder objectiv nothwendigen praktischen Gesetzen.“ Immanuel Kant, Einleitung des „Naturrechts Feyerabend“, KantIndex, Bd. 30.1, hg. von Heinrich Delfosse, Norbert Hinske und Gianluca Sadun Bordoni, Stuttgart-

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Bezeichnend für beide Texte ist also, dass eine Relationskategorie in den Vordergrund der Verbindlichkeitsauffassung tritt. Stellt man sich nun die Frage, welche Implikationen diese relationskategoriale Bestimmung mit sich bringt, ist die Tafel der Kategorien der Kritik der reinen Vernunft zu Rate zu ziehen. Sie legt drei Kategorien der Relation dar: Substanz, Kausalität und Wechselwirkung. Die Abhängigkeit wird gemäß der Einordnung der ersten Kritik im Rahmen der zweiten Kategorie („Kausalität und Dependenz“) zur Sprache gebracht und die Urteilsform, aus der sie abgeleitet wird, ist die hypothetische.11 Wie alle Kategorien der Relation ist die Abhängigkeit den dynamischen Kategorien zuzuordnen, die im Unterschied zu den mathematischen eine Beziehung zwischen Elementen ungleichartiger Natur zur Sprache bringen, bei der das eine Element als Ursache, das andere hingegen als Wirkung angesehen wird. Demgemäß sind zwei wichtige Merkmale der Abhängigkeit hervorzuheben: 1) Die in Verbindung gesetzten Elemente müssen heterogener Natur sein. 2) In dieser Relation kommt eine Dependenz zustande, in der das eine als das Bestimmende und das andere als das Bestimmte fungiert. Kants Auffassung der Abhängigkeit in der Grundlegung folgt ebenfalls den soeben angesprochenen allgemeinen Bestimmungen der ersten Kritik; die Relation der voneinander abhängigen Termini wird jedoch im Hinblick auf die Abhängigkeit des Willens anhand zweier Aspekte noch näher erläutert: In der einen Relation werden bloß empirische Elemente betrachtet, während in der anderen Vernunftprinzipien berücksichtigt werden. Im ersten der genannten Fälle (d. h. hinsichtlich des empirischen Aspekts) wird die Abhängigkeit des Willens so bestimmt, dass bloß empirische Komponenten der Relation ins Spiel gebracht werden, indem eine Affektion des Begehrungsvermögens durch die Empfindung zustande kommt. Unter dieser Bedingung ist von Neigung und Bedürfnis zu sprechen.12 Im zweiten Fall wird die Relation des Willens durch Vernunftprinzipien bestimmt. Aufgrund dieser Vernunftprinzipien lässt sich im Gegensatz zum Bedürfnis von Interesse sprechen.13 Dabei sieht Kant wiederum vor, dass zwei Möglichkeiten dieser auf Vernunftprinzipien basierenden Bestimmung zu unterscheiden sind. Demnach ist die Abhängigkeit des Willens entweder im Hinblick auf das Vernunftprinzip derart bestimmt, dass sich ein Interesse an einem gegebenen Gegenstand ergibt – in diesem Sinne tritt das Vernunftprinzip „zum Behuf der Neigung“ auf und die entsprechende Handlung wird als „handeln aus Interesse“ geBad Cannstatt 2014, 12. Im Text der Akademie-Ausgabe fehlt das Wort „nicht“, was bedauerlicherweise der Herausgabe Lehmanns geschuldet ist. Vgl. V-NR/Feyerabend, AA 27: 1326. 11 Vgl. KrV A 80 / B 106 und B 111. 12 „Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung und diese beweist also jederzeit ein Bedürfnis“ (GMS, AA 04: 413). 13 „Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse“ (ebd.).

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kennzeichnet; oder die Abhängigkeit des Willens ergibt sich ausschließlich aus Prinzipien der Vernunft, sodass der Wille einem „Interesse an der Handlung“ folgt, ohne sich dabei von einem Bedürfnis bzw. einer Neigung beeinflussen zu lassen. Hierdurch nimmt der Wille der Ansicht Kants nach ein praktisches Interesse an der Handlung. Das bisher Gesagte zeigt also, dass die Kategorie der Abhängigkeit auf drei mögliche Ausformungen der Relation von Willen und Gesetz hinweist: Erstens tritt eine bloß empirische Bestimmung des Willens als Empfindung hervor, in der die Abhängigkeit des Willens von einem gegebenen Gegenstand als Bedürfnis zu verstehen ist; zweitens erfolgt eine Bestimmung des Willens durch Vernunftprinzipien, wohl aber zum Behuf einer Neigung – hierin ist die Abhängigkeit des Willens, obwohl Vernunftprinzipien dabei mitwirken, immer noch empirisch bedingt; und drittens wird der Wille durch reine Vernunftprinzipien bestimmt, wodurch die Abhängigkeit ausschließlich vom reinen Gesetz definiert ist. Somit wird ersichtlich, dass die Abhängigkeit und die daraus resultierende Nötigung des Willens je nach dem Verhältnis zwischen dem Bestimmenden und dem Bestimmten definiert werden können. Aus den jeweiligen Verhältnissen von Gesetz und Willen geht entsprechend ein Sollen (Nötigung) hervor, aus dem dann die unterschiedlichen Formen der Imperative geschlossen werden.14 Nun korrespondiert aber nicht jedes Sollen bzw. jeder Imperativ mit einer moralischen Verbindlichkeit. Zieht man den soeben angesprochenen zweiten Fall näher in Betracht, wird deutlich, dass es sich um ein Sollen handelt, das nicht als moralisch zu definieren ist, indem sein nötigender Charakter letzten Endes auf einen gegebenen Gegenstand der Neigung zurückgeht und sich aufgrund dessen als bedingt erweist. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Willen bringt in diesem Fall nur ein Sollen in der Form eines hypothetischen Imperativs zur Geltung. Im dritten Fall geht hingegen ein Sollen hervor, dessen nötigender Charakter der Bestimmung des Willens durch das Gesetz selbst zugrunde liegt. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Willen ist in dem Fall derart bestimmt, dass es ohne Berücksichtigung eines gegebenen Gegenstandes aus der Achtung vor dem Gesetz etabliert wird. Erst hierbei lässt sich von einem Sollen sprechen, dem eine moralische Nötigung bzw. Verbindlichkeit zugrunde liegt. Die reine Bestimmung des Willens durch das Gesetz bringt demnach eine Verbindlichkeit zum Ausdruck, deren Form ein unbedingter Imperativ ist. Auf diese Weise erklärt sich, in welchem Sinne allen Imperativen ein Sollen zuzusprechen ist, sich aber nur im Fall des kategorischen Imperativs von moralischer Verbindlichkeit sprechen lässt; denn nur in diesem Fall sind die Elemente der Relation kategorisch verbunden. Die beiden kategorisch verbundenen Ele„Alle Imperative werden durch ein Sollen ausgedrückt und zeigen dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an“ (ebd.). 14

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mente der Relation sind – laut der Definition der Grundlegung und der zweiten Kritik – der nicht schlechterdings gute Wille einerseits und das Prinzip der Autonomie andererseits. Sobald die Elemente in einer solchen Relation der Abhängigkeit stehen, wird darüber hinaus unterstellt, dass eine Art Subsumtion bzw. Unterwerfung des Willens unter das Gesetz (Prinzip) stattfindet, aufgrund dessen das daraus Resultierende als unbedingte, reine Verbindlichkeit geltend gemacht wird. Davon ausgehend ergibt sich folgendes: Der menschliche Wille erlegt sich eine (Selbst-)Nötigung auf, insofern er sich (selbst) dem Gesetz unterwirft. Dass Kants Definition der Verbindlichkeit in der Grundlegung auf die Relationskategorie der Abhängigkeit zurückgreift, erhellt auch, warum das Handeln durch Imperative bestimmt wird. In Bezug auf den kategorischen Imperativ wird ersichtlich, dass dabei eine Relation vorausgesetzt wird, durch welche sich der menschliche Wille aufgrund seiner subjektiven Beschaffenheit das Objektive des Gesetzes als zufällig vorstellt. Für dieses so etablierte Verhältnis ist charakteristisch, dass das Objektive des Gesetzes und das Subjektive des Willens nicht zusammenfallen. Ist die Übereinstimmung mit dem objektiven Gesetz vom Standpunkt des menschlichen Willens gesehen zufällig, dann erweist sich eine Instanz der „Notwendigmachung“ der Handlung als erforderlich, die Kant moralische Nötigung nennt. In dieser Hinsicht besteht die Neuheit der kantischen Konzeption der Verbindlichkeit im Vergleich zu anderen seinerzeit vorhandenen Ansätzen darin, dass der Ansicht Kants nach die bestimmende Relation der Abhängigkeit, aus der die Verbindlichkeit hervorgeht, weder auf einen theologischen (Crusius) noch auf einen bloß willkürlichen, rechtlich-politischen Standpunkt (Hobbes) zurückgeführt werden kann. Die moralische Nötigung bzw. Verbindlichkeit kann Kant zufolge nur das Resultat der Bestimmung der praktischen Vernunft selbst sein. Eine solche Forderung scheint aber nur unter einer Bedingung möglich zu sein: Die moralische Nötigung soll den Charakter eines subjektiven (Selbst-)Zwangs („Notwendigmachung“) annehmen, dessen einziger Trieb das Gesetz selbst sein soll. Damit kritisiert Kant die Tradition des Wolffianismus, indem seiner Ansicht nach die Verbindlichkeit nicht im Zusammenhang mit der Notwendigkeit (necessitas), sondern mit der Nötigung (necessitatio) steht.15 Die moralische Nötigung stellt Vgl. dazu V-Mo/Kaehler (Stark), 29. Wolff definiert die passive Verbindlichkeit wie folgt: „Die sittliche Nothwendigkeit zu handeln selbst ist die Verbindlichkeit.“ Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Gesammelte Werke, I. Abt, Bd. 19, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim, New York 1980 (Halle 1754), § 37. Ähnliches ist in der Philosophia practica universalis zu lesen: „Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva.“ Christian Wolff, Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 10, hg. von Jean $cole u. a., Hildesheim, New York 1971 (Frankfurt am Main, Leipzig 1738), § 118. Zu Kants Kritik an Wolff siehe Heiner F. Klemme, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017, insbesondere 12–20; dazu auch Rivero, Nötigung und Abhängigkeit (wie Anm. 1). 15

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demnach einen reinen intellektuellen Selbstzwang dar, der von keinem gegebenen Gegenstand veranlasst werden darf, und entsprechend als eine Selbstverpflichtung bzw. Selbstnötigung zu verstehen ist.16 Ist die relationskategorial definierte Verbindlichkeit im Wesentlichen als Selbstnötigung (Selbstzwang) zu begreifen, dann drängt sich die Frage auf, wie sie sich im Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff interpretieren lässt, insofern dem Recht eben dieser selbstnötigende Charakter prinzipiell abgesprochen wird. Charakteristisch für ihn hingegen ist der äußere Zwang. Wenn dem so ist, dann zeigt sich, wie eingangs herausgestellt, dass die auf der Grundlage der Relationskategorie begriffene Verbindlichkeit eine selbstnötigende Instanz repräsentiert, die aber prinzipiell jegliche verbindliche Eigenschaft des Rechts ausschließen würde.17 Das ist das problematische Resultat der Fokussierung auf die Relationskategorie und die sich daraus ergebende Selbstverpflichtung des moralischen Sollens. Ein Blick auf die 1784 gehaltene Vorlesung zum Naturrecht wird das weiterhin verdeutlichen. Kants Ausführungen in der Vorlesung Naturrecht Feyerabend definieren das Recht im Rahmen moralphilosophischer Prinzipien, die wie in der Grundlegung auf dem Willen und der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft beruhen. Die Verbindlichkeitsauffassung von Achenwall kritisiert Kant dabei folgendermaßen: „Der Autor hat die Obligation definiert durch Nöthigung des größten Kant spricht von einem intellektuellen Zwang bzw. einer moralischen Nötigung. Siehe dazu KpV, AA 05: 32 und MS, AA 06: 380. Von besonderem Belang ist hier der subjektive Charakter dieses Selbstzwangs, weil die daraus resultierende Nötigung als wesentliches Element der Verbindlichkeit in den Vordergrund gestellt wird, ohne damit ein von der Psychologie abgeleitetes Vermögen des Subjekts als Grundlage für die Nötigung zu befürworten. Die Nötigung als definitorisches Element der Verbindlichkeit findet sich auch bei Baumgarten und Meier. Im Unterschied zu Kant aber bestimmen sie die Nötigung im Zusammenhang mit aus der empirischen Psychologie entnommenen Begriffen. Siehe dazu Heiner F. Klemme, Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Ursprung der Freiheitsantinomie bei Christian Garve, in: Heiko Puls (Hg.), Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes im dritten Abschnitt der „Grundlegung“. Deduktion oder Faktum?, Berlin, Boston 2014, 59–101. 17 Aus dem Grund kommt Wood zu dem Ergebnis, dass die Möglichkeit einer Beziehung zwischen Recht und Moral ausgeschlossen sei. „Kant is concerned with practical reason primarily as a faculty of self-constraint – that is, a faculty through which we guide our conduct, and even require ourselves to do certain things (for reasons). […] This means the motivating force of any kind of reason is internal to the faculty of reason itself. […] The constraints of right grounded on the freedom of others, and the constraint of universal law that applies to ethics, are therefore analogous constraints, grounded on the categorical imperative that expresses merely the concept of obligation. But these constraints are not the same, because the application of the concept of obligation (of universal law) is different in the two spheres“. Allen Wood, The free Development of Each (wie Anm. 8), 40, 79. 16

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Guths.“18 Aus kantischer Sicht bedeutet eine Nötigung des „größten Guths“, die Verbindlichkeit einer Handlung durch ein komparatives Verfahren zu erfassen, bei dem letztlich Strafe und Belohnung als Bestimmungsgründe der Handlung berücksichtigt werden. Im Gegensatz dazu stellt Kant, wie in der Vorlesung Naturrecht Feyerabend ausgeführt wird, eine Konzeption der moralischen Verbindlichkeit in den Vordergrund, deren nötigender Charakter nicht auf den Folgen, sondern auf der formalen Gesetzmäßigkeit der Handlung beruht.19 Insofern der Wille autonom ist, darf er dann nur durch sich selbst – und nicht von der Natur – eingeschränkt werden. In Bezug auf das Recht gilt somit, dass der Wille allein unter der Bedingung der allgemeinen Übereinstimmung der Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen eingeschränkt werden kann.20 Also: „Recht, ist die Einschränkung der Freiheit, nach welcher sie mit jeder andrer Freiheit nach einer allgemeinen Regel bestehen kann.“21 Die Ausführungen der Vorlesung zeigen in diesem Sinne, dass das Recht aus der (1) Allgemeinheit des durch den autonomen Willen selbst gegebenen Gesetzes, (2) der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem eines anderen und (3) aus der Formalität seines Begriffes erfolgen soll. Allein die Freiheit und die Formalität des Gesetzes stehen der Ansicht Kants nach im Zentrum des Rechts.22 Im Fall des Rechts garantieren die Allgemeinheit der Regel und die dabei implizierte Übereinstimmung der Freiheit, dass jeder Handlung, die eine solche Übereinstimmung hindert, mit Zwang widerstanden werden kann. Auf diese Weise argumentiert Kant in der Vorlesung weiterhin, es seien zwei Formen der Relation des Willens zum Gesetz möglich, wodurch die Verbindlichkeit Ausdruck findet: entweder als Achtung vor dem Gesetz, indem das Gesetz zum Motiv der Handlung wird, oder als Zwang, wenn andere Motive als die Achtung selbst gegeben sind.23 Hier ist nun eine wichtige Abweichung gegenüber den späteren Ausführungen in der Grundlegung zu bemerken. In diesem Werk argumentiert Kant, dass das Verhältnis des Willens zum Gesetz zu Imperativen führt, in denen das Sollen entImmanuel Kant, Abhandlung des „Naturrechts Feyerabend“, Kant-Index, Bd. 30.2, hg. von Heinrich Delfosse, Norbert Hinske und Gianluca Sadun Bordoni, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, 18. 19 „Bloß die allgemeine Gesetzmäßigkeit muß mich verpflichten.“ Kant, Einleitung des „Naturrechts Feyerabend“ (wie Anm. 10), 12. „Alle Handlungen stehen doch unter dem Princip der Gesetzmäßigkeit. […] Eine Handlung zu der ich Verbindlichkeit habe, muß ganz ohne Hofnung und Furcht geschehen.“ Kant, Abhandlung des Naturrechts Feyerabend (wie Anm. 18), 18. 20 Kant, Einleitung des „Naturrechts Feyerabend“ (wie Anm. 10), 5. 21 Ebd., 6. Siehe dazu auch Kant, Abhandlung des „Naturrechts Feyerabend“ (wie Anm. 18), 22: „Recht ist die Einschänkung jeder besondern Freiheit auf die Bedingungen, unter denen die allgemeine Freiheit bestehen kann.“ 22 Das Recht ist also kein Resultat einer metaphysischen, teleologischen und konsequentialistischen Annahme, in welcher das Gesetz der Natur fordert, etwas zu tun oder zu unterlassen. Damit distanziert sich Kant von der naturrechtlichen Tradition. 23 Kant, Einleitung des „Naturrechts Feyerabend“ (wie Anm. 10), 14. 18

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weder bedingt oder unbedingt gilt. Wie gezeigt wurde, ist es nur in dem Fall, wo das Sollen unbedingt gilt, möglich, von Verbindlichkeit zu sprechen, insofern sie als reine Bestimmung des Willens durch (Selbst-)Nötigung verstanden wird. Anders verfährt Kant in der Vorlesung Naturrecht Feyerabend, wo er die Verbindlichkeit, wie oben erwähnt, mit Achtung und Zwang in Zusammenhang bringt. Durch den Rekurs auf den Zwang liegt es aber nahe, dass die Erzwingbarkeit der Pflichten keine Form der (Selbst-)Nötigung implizieren kann. Kurzum: „Praktische necessitas und praktische necessitatio treten bei ihm [dem Recht] auseinander“.24 Wenn das Recht eine necessitas (Notwendigkeit), aber keine necessitatio (Nötigung) äußert – wenn die Befolgung des Rechts also nicht aus dem Rechtsgesetz selbst erfolgt –, dann ist das wesentliche Element der Verbindlichkeit, nämlich die moralische Selbstnötigung, entfallen.25 Demnach lässt sich schließen, dass Kant um 1784 das Recht von seiner eigenen Konzeption der Verbindlichkeit entkoppelt hat. Daraus folgt die Konsequenz: Die vorgelegte Definition der Verbindlichkeit der Grundlegung als Abhängigkeit vom Moralgesetz deckt sich nur mit dem Gebiet der Ethik und ist entsprechend auch nur im Gebiet der inneren Freiheit bzw. der inneren Pflicht – d. h. innerhalb all dessen, was nicht erzwingbar ist – zur Geltung zu bringen.26 Allerdings stehen die Ergebnisse der vorigen Überlegungen Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt am Main 1993, 105. 25 Ein Imperativ schließt notwendigerweise eine Nötigung ein, wie Kant herausstellt: „Praktische Gesetze, als neceßitirende Gründe der Handlung, heißen Imperative.“ Kant, Einleitung des „Naturrechts Feyerabend“ (wie Anm. 10), 9. Nun aber scheint es fragwürdig, wie das nötigende Moment im Fall des Rechts zustande gebracht werden kann. Marcus Willaschek schließt daraus, dass dem Recht kein imperativer Charakter zuzuschreiben ist. In dieser Hinsicht argumentiert er, dass das im Recht ausgesprochene Sollen keineswegs eine verbindliche Kraft beinhalte, die als präskriptiv zu verstehen wäre. Hierin fehlt der Ansicht Willascheks nach eine Verbindlichkeit im äußeren Sinne. Versucht man, das Recht als einen Rechtsimperativ zu verstehen, dann fehlt Willaschek zufolge die Externatitätsbedingung, die dem Recht eigen ist. Siehe dazu Marcus Willaschek, Recht ohne Ethik? Kant über die Gründe, das Recht nicht zu brechen, in: Volker Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin, New York 2005, 88–204. Einer ähnlichen Auffassung war auch Kersting, vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 24), 103 ff. Später revidiert er diese Position in Wolfgang Kersting, Die verbindlichkeitstheoretischen Argumente der kantischen Rechtsphilosophie, in: Ralf Dreier (Hg.): Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 37 (1990), 62–74. 26 „Vor dem Hintergrund der generischen unbedingten Normativität freien Handelns unter der gesetzlichen Form von Allgemeinheit differenziert Kant im Naturrecht Feyerabend sodann zwischen Ethik und Recht nach dem jeweiligen Mechanismus, der die Gesetzlichkeit des Freiheitsgebrauchs durch Vorschrift regelt. Im Fall des Rechts ist dies der Zwang, im Fall der Ethik die Verbindlichkeit. […] Hier wird die Verbindlichkeit vom rechtlichen und jedem anderen Zwang abgekoppelt und mit der rein moralischen Nötigung […] gleichgesetzt.“ Günter Zöller, „[O]hne Hofnung und Furcht“. Kants NaturrechtFeyerabend über den Grund der Verbindlichkeit zu einer 24

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durchaus im Widerspruch zu zwei Grundannahmen der kantischen Moral- und Rechtsphilosophie: (1) Es gibt nur eine einzige Verbindlichkeit,27 und (2) das Recht als moralischer Begriff äußert eine Verbindlichkeit.28 Es wurde eingangs die These aufgestellt, Kants Änderung in der Definition der Verbindlichkeit von 1797 sei von dem Ziel geleitet, das soeben entworfene widersprüchliche Resultat zu korrigieren. Hierzu sind anhand der modalkategorialen Definition komplementäre Elemente einzuführen, die es ermöglichen, den Rechtsbegriff unter die Prinzipien des Systems der Metaphysik der Sitten sowie einer einheitlichen Definition der Verbindlichkeit subsumieren zu können. Diese Lösung möchte ich im Folgenden ausführen.

II. Recht und Verbindlichkeit in der Metaphysik der Sitten Kants Bestimmung des Rechts ist in der Metaphysik der Sitten durch drei Komponenten gekennzeichnet: 1) die Interaktion zwischen der Willkür einer Person und einer anderen (Intersubjektivität); 2) die äußere Sphäre der Handlung (als Einfluss der Willkür auf eine andere, d. h. Reziprozität) und 3) die Formalität des Gesetzes (Abstraktion von Zwecken).29 Betrachtet man andere Rechtfertigungsmodelle der Zeit, lässt sich leicht feststellen, dass Kant mit seinem Versuch, das Recht und die dazu gehörige rechtliche Verbindlichkeit unter den soeben genannten Bedingungen zu begründen, eine ganz andere Richtung als alle anderen bis dato bekannten Ansätze einschlägt. In dieser Hinsicht sind m. E. vier Rechtfertigungsmodelle der rechtlichen Verbindlichkeit zu unterscheiden.30 Zwei davon haben ihren Ursprung bei vorkantischen Autoren, während die anderen beiHandlung, in: Simon Bunke, Katerina Mihaylova, Daniela Ringkamp (Hg.), Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 2015, 109. 27 Siehe dazu VARL, AA 23: 250: „Es gibt verschiedene Pflichten aber nur eine Verbindlichkeit überhaupt in Ansehung ihrer aller.“ 28 MS, AA 06: 230: „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht“. Dazu siehe auch ebd., 231: „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz […] ein Gesetz, welche mir eine Verbindlichkeit auferlegt.“ 29 Vgl. ebd., 230. Siehe auch dazu Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre, Hamburg 1988, 92 f. 30 Wolfgang Kersting stellt einige Deduktionsmodelle des Rechts dar und unterscheidet zwischen Ansätzen der „Kantianer“, Kant und Fichte. Bei den erstgenannten Autoren wird das Recht direkt auf die Moral zurückgeführt, bei Fichte treten beide als zwei verschiedene Sphären auf, wobei das Recht nur als hypothetischer Imperativ gilt, während bei Kant eine Beziehung zwischen Recht und Moralgesetz konstatiert wird, ohne dabei eine direkte Deduktion des Rechts – als das moralische Erlaubte – zu unternehmen. Siehe dazu Wolfgang Kersting, Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral (Einleitung), in: Jean-Christophe Merle (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 21–37. Siehe dazu auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (wie Anm. 24), 134–197.

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den nach dem Erscheinen der Grundlegung entwickelt worden sind. Die Begründung der rechtlichen Verbindlichkeit erfolgt in der ersten Gruppe entweder aus der Natur des Menschen (Wolff) oder aus einer voluntaristischen Instanz wie der des Vertragsmodells (Hobbes) bzw. des Willens Gottes (Crusius). Nach der Veröffentlichung der Grundlegung werden die beiden anderen Modelle vorgebracht, welche die rechtliche Verbindlichkeit entweder mit einer auf die Moral zurückzuführenden Deduktion begründen – das ist der Fall bei den „Kantianern“ – oder auf der Trennung von moralischer Verbindlichkeit und Recht basieren, wie es in Fichtes Grundlage des Naturrechts der Fall ist.31 Die Begründung der Verbindlichkeit des Rechts bereitet im Prinzip keinem der vier Modelle Schwierigkeiten, da sie entweder ein einziges, homogenes Kriterium verwenden, um die Verbindlichkeit im Bereich der Ethik und des Rechts geltend zu machen, oder Verbindlichkeit und Recht derart entkoppeln, dass das Recht lediglich innerhalb einer Gemeinschaft verbindlich gemacht und demzufolge von jeglicher Moralphilosophie getrennt wird.32 Im Gegensatz dazu beansprucht Kant, das Recht durch die Idee einer Fremdverpflichtung zu begründen,33 die weder auf eine natürliche Verbindlichkeit noch auf den Willen eines Oberherrn zurückgeht; ebenso wenig wird sie auf eine absolute Deduktion durch die Moral noch auf die bloß hypothetische In diesem Sinne befürwortet Fichte einen technisch-praktischen Begriff des Rechts, d. h. einen bedingten Begriff desselben, der mit dem unbedingten Sittengesetz im keinerlei Verhältnis steht. „Der deducirte Begriff [der Rechtsbegriff] hat mit dem Sittengesetze nichts zu thun, ist ohen dasselbe deducirt. […] Der Begriff der Pflicht, der aus jenem Gesetze hervorgeht, ist dem des Rechts in den meisten Merkmalen geradezu entgegengesetzt. Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgesetz erlaubt nur, aber gebietet nie, dass man sein Recht ausübe.“ Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Fichtes Werke, Bd. 3, hg. von Immanuel Fichte, Berlin 1971, 54. Siehe dazu Wolfgang Kersting, Kant über Recht, Paderborn 2004, 169–197 und Kersting, Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral (wie Anm. 30). 32 In den beiden ersten Modellen ist entweder die Natur (die Vollkommenheit) oder der Wille (sei es ein Souverän, sei es Gott) die Instanz, aus der die „weltliche“ Verbindlichkeit unbedingte (ethische oder rechtliche) Gültigkeit gewinnt. In dieser Hinsicht unterscheidet Crusius zwischen Verbindlichkeit der Klugheit und gesetzlicher Verbindlichkeit. Diese letzte Form der Verbindlichkeit stellt sicher, dass die Verbindlichkeit eine unbedingte Gültigkeit gewinnen kann. Vgl. Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 1, hg. von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1969 (Leipzig 11744), § 162. Die „Kantianer“ hatten ebenfalls als homogenes Kriterium das Sittengesetz vor Augen, indem dieses Gesetz als Ableitungsprinzip des Rechts fungierte und somit das Recht als ein bloßes Dürfen bestimmte. Dazu siehe Wolfgang Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz – Die Begründung des Rechts bei Kant und den frühen Kantianer, in: Reinhard Brandt (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, New York 1982, 148–177. 33 „Vor und nach Kant hat man das Wesen des subjektiven Rechts, des Berechtigtseins, in der Erlaubnis, in dem Tun-dürfen gesehen. Kant hingegen bestimmt das Berechtigtsein im Rahmen eines Fremdverpflichtungsverhältnisses“. Kersting, Kant über Recht (wie Anm. 31), 45 f. 31

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und von der Moral unabhängige Verbindlichkeit einer Gemeinschaft zurückgeführt. Wie ist dann der verpflichtende Charakter des Rechts unter diesen Bedingungen zu etablieren?34 Es wurde oben ausgeführt, wie sich der Zusammenhang zwischen der relational orientierten Definition der Verbindlichkeit von 1784/85 und dem Rechtsbegriff als problematisch erweist. Entsprechend lässt sich die Neuformulierung der Verbindlichkeit in der Metaphysik der Sitten als eine Antwort auf diese Problemlage ansehen. Es wird damit der Versuch unternommen, den Fokus der Definition derart zu verschieben, dass die Begriffe von Notwendigkeit und Nötigung in ein und dieselbe Definition der Verbindlichkeit integriert werden können. Die in der Metaphysik der Sitten gegebene Definition lautet: „Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“35 Vergleicht man sie mit der früheren Bestimmung von 1784/85, lassen sich markante Divergenzen feststellen. Es liegt auf der Hand, dass der Hauptunterschied in der Verwendung des Begriffs Notwendigkeit anstelle von Abhängigkeit besteht.36 Auf diese Weise lässt sich zunächst feststellen, dass In dieser Hinsicht hebt von der Pfordten heraus, wie das kantische Unternehmen vor die Schwierigkeit gestellt ist, die seinerzeit vorherrschende „Konzentration des strikten Naturrechts auf äußeres Verhalten“ mit der Konzentration auf die „allgemeine Moralphilosophie des inneren Sittengesetzes der praktischen Vernunft“ zu vereinbaren. Unter diesen Umständen stand Kant der Ansicht von der Pfordten nach vor einer doppelten Aufgabe: „einerseits die Rechtsphilosophie in sein stark auf die innere Quelle des Sittengesetzes gestütztes System der praktischen Philosophie zu integrieren, andererseits auf die Grundannahme seiner Zeit hinsichtlich der Beschränkung des Naturrechts und damit des Rechts auf äußeres Verhalten zu reagieren.“ Siehe Dietmar von der Pfordten, Kants Rechtsbegriff, in: Kant-Studien 98 (2007), 431–442, hier 432. Der Autor ist der Ansicht, Kants Gelingen ist unter Berücksichtigung seiner Theorie der äußeren Handlung und seiner Auffassung des Rechtsbegriffs als „bloße Perspektive auf das praktische Vernunftgesetz“ zu sehen, siehe ebd., 441. 35 Siehe MS, AA 06: 222. 36 Die Verwendung der Notwendigkeit dürfte in erster Linie aber als problematisch angesehen werden, weil sie in zweierlei Hinsichten den merkwürdigen Eindruck erwecken kann, dass dabei wichtige Aspekte der bisherigen kantischen Moralphilosophie in Frage gestellt werden. Merkwürdig ist in diesem Sinne etwa, dass die Umformulierung der Verbindlichkeit ähnliche Züge wie die in der Grundlegung gegebene Pflichtdefinition trägt – Kant legt mehrere Definitionen von Pflicht in der Grundlegung dar, die eben durch den Begriff der Notwendigkeit bestimmt werden. Eine von diesen Definitionen lautet: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ GMS, AA 04: 400. Weitere Definitionen finden sich auf den Seiten 434 und 439 der Grundlegung. Wenn sowohl Pflicht als auch Verbindlichkeit sich im Wesentlichen auf die Notwendigkeit einer Handlung beziehen, könnte man auf diese Weise den Eindruck gewinnen, es werde damit die von Kant beanspruchte Unterscheidung zwischen Pflicht und Verbindlichkeit aufgehoben. Jedoch steht eine solche Absicht letzten Endes mit der Grundlegung, der Kritik der praktischen Vernunft sowie mit der Metaphysik der Sitten im Widerspruch, wo Kant eben die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit und Pflicht betont. Vgl. dazu GMS, AA 04: 439, KpV, AA 05: 32 und MS, AA 06: 222. Nicht weniger beachtenswert ist insofern der Gebrauch dieser Terminologie, als Kant bereits in der vor34

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Kant den Schwerpunkt der frühen Definition verlagert und von einer relational zu einer modal orientieren Definition der Verbindlichkeit übergeht. Welche Implikationen hat dieser neue Fokus? Die Relationskategorie bringt, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, ein Verhältnis zum Ausdruck, in welchem eine Dependenz von einem bestimmten zu einem bestimmenden Element zustande kommt; sie beschreibt also eine Relation von Grund und Folge. Charakteristisch für die Modalitätskategorien ist hingegen, dass sie einem Begriff kein neues Prädikat hinzufügen, sondern nur die Form des Prädikats in Beziehung auf das Denken überhaupt bestimmen. Kurzum: Die Modalkategorien drücken das Verhältnis der Begriffe zum Erkenntnisvermögen aus.37 Ohne dem Inhalt und der Vollständigkeit eines Urteils etwas beizufügen, lässt sich die Modalität der Urteile als möglich, wirklich oder apodiktisch klassifizieren, und die Kategorien, die aus solchen Urteilsformen folgen, sind Möglichkeit-Unmöglichkeit, Dasein-Nichtsein und Notwendigkeit-Zufälligkeit.38 Da die Modalität bloß die Beziehung zum Denken überhaupt betrifft, lässt sich bei näherem Hinsehen feststellen, dass der Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft in Ansehung der Erkenntnisvermögen jeweils der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit zugeordnet werden.39 Aus diesen allgemeinen Grundzügen der Modalität lassen sich im Hinblick auf die Verbindlichkeit einige Aspekte der Neuformulierung ihrer Definition näher erörtern. Da die Modalität dem Begriff kein neues Prädikat hinzufügt, lässt sich zunächst darauf schließen, dass die modalkategorial definierte Verbindlichkeit bloß die Form benennt, wie eine freie Handlung durch einen Imperativ bestimmt wird. In dieser Hinsicht liegt es nahe, dass die Definition weder darauf gerichtet ist, die Termini eines Verhältnisses zu bestimmen, noch in welcher bestimmenden Beziehung sie zueinander stehen – wie es bei der auf der Abhängigkeit basierenden Definition der Grundlegung der Fall war. Damit ändert sich 1797 der Fokus der Formulierung der Verbindlichkeitsdefinition signifikant, da nun nicht mehr die Relation selbst, also die Frage nach dem Bestimmenden und dem Bestimmten, sondern der Modus der Bestimmung im Vordergrund steht, also ob diese Beziehung entweder möglich, wirklich oder notwendig ist. Mit der Verwendung der Modalkategorie der Notwendigkeit lässt sich entsprechend deutlicher erklären, dass eine freie Handlung durch einen Imperativ als kategorisch (d. h. notwendig) bestimmt werden kann. Das ist der erste relevante Fokuswechsel in der Neuformulierung der Verbindlichkeit. kritischen Phase die Notwendigkeit als Bestandteil der Verbindlichkeitsdefinition in der wolffschen Tradition bemängelte – stattdessen hatte er, wie schon gezeigt, die Nötigung als leitenden Begriff eingeführt. 37 Vgl. KrV A 219 / B 266. 38 Vgl. KrV A 70 / B 95, A 80 / B 106. 39 Vgl. KrV A 75 / B 100.

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Aus diesen allgemeinen Bestimmungen der Modalität erfolgt eine weitere Einsicht in die Neuformulierung. Aufgrund der Tatsache, dass die Modalkategorien lediglich die Beziehung zum Denken überhaupt explizit machen, dass sie also klären, mit welchem Erkenntnisvermögen das Urteil in Verbindung steht, lässt sich annehmen, dass die Notwendigkeit mit dem Erkenntnisvermögen der Vernunft in Verbindung zu setzen ist. Die Relationskategorie der Abhängigkeit fokussiert eher auf die Unterwerfung des bestimmten Elements durch das bestimmende; das besagt, dass das Erkenntnisvermögen, welches dabei zum Einsatz kommt, die Urteilskraft ist. Im Einklang damit zeichnet sich die relational definierte Verbindlichkeit durch die Selbstnötigung aus, die aus der Unterwerfung des nicht schlechterdings guten Willens hervorgeht. Anders verhält es sich beim Verweis auf die Modalkategorie der Notwendigkeit, denn hier steht nun nicht die Selbstnötigung im Zentrum der Definition, sondern vielmehr der notwendige Charakter der Bestimmung einer freien Handlung durch die praktische, selbstgesetzgebende Vernunft. Auf diese Weise scheint ein zweiter Fokuswechsel in Kants Definition zu erfolgen. Nimmt man das vorher Gesagte in den Blick, dann zeigt sich noch in einer dritten Hinsicht ein neuer Fokus. Bei der Definition von 1784/85, wie schon in der Vorlesung Kaehler von 1774, war Kant vom Interesse geleitet, die „Nothwendigmachung“ einer im Prinzip zufälligen Handlung durch ein objektives Prinzip zu erhellen.40 Durch die Unterscheidung zwischen einem subjektiv zufälligen und einem objektiv notwendigen Prinzip konnte er den kategorischen Charakter des Imperativs hinsichtlich des moralischen Wertes einer Handlung und die dabei implizierte (Selbst-)Nötigung akzentuieren. Dies lässt sich durch die Unterscheidung zwischen der Heiligkeit der reinen Vernunftwesen und dem für den Menschen implizierten gebietenden Charakter des Gesetzes einsehen.41 Im ersten Fall ist das Objektive eines Gesetzes und das Subjektive des Wollens gleichbedeutend, wie es etwa bei Gott der Fall ist. Der Mensch hingegen, bei dem das Objektive des Gesetzes und das Subjektive des Willens nicht zusammenfallen, ist durch einen Imperativ zu bestimmten Handlungen verpflichtet. Bei der auf der Notwendigkeit basierenden Definition von 1797 steht die „Notwendigmachung“ des subjektiven durch das objektive Prinzip nicht im Zentrum, sondern vielmehr die Notwendigkeit der Gesetzgebung, die sich in ethische und rechtliche Gesetzgebung ausdifferenzieren lässt, und sowohl unvollkommene Pflichten und Maximen einerseits als auch vollkommene Pflichten und Handlungen andererseits bestimmt.42 Vgl. V-Mo/Kaehler (Stark), 29. Vgl. dazu GMS, AA 04: 414. 42 Wirft man einen Blick auf die Tafel der Kategorien der Freiheit in der zweiten Kritik, bestätigt sich die Relevanz der Verwendung der Modalkategorie an der Stelle der Relationskategorie im 40

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Damit tritt ein vierter Perspektivwechsel zutage. In der Definition der Metaphysik der Sitten ist die Rede von der Notwendigkeit einer freien Handlung. Das deutet darauf hin, dass Kants Interesse nicht so sehr an der Bestimmung der Maxime und der entsprechenden Subsumtion dieses subjektiven Prinzips unter ein objektives Gesetz orientiert ist. Vielmehr ist er darauf konzentriert, eine allgemeinere Sphäre zu finden, in die er auch die Rechtslehre miteinbeziehen kann. Eine solche Sphäre ist nun durch die Handlung gegeben. Vom Begriff der Handlung ausgehend lässt sich eine fünfte Verschiebung herausstellen: Im Vergleich zu den Ausführungen von 1785 fällt auf, dass der nichtschlechterdings gute Wille, der in der Grundlegung eine herausragende Rolle spielt, nicht mehr im Vordergrund der kantischen Überlegungen steht. Stattdessen sind die Willkür und die zu bestimmende Handlung nun leitende Begriffe. Dass dem so ist, ist in Verbindung mit der von Kant angeführten Unterscheidung zwischen Willen und Willkür zu deuten. Der Wille wird mit dem Gesetz bzw. der praktischen Vernunft selbst identifiziert, während die Willkür als das Vermögen der Freiheit verstanden wird. Der Wille, insofern er das Gesetz selbst ist, ist zu keiner Nötigung fähig.43 Nur die Willkür, als das Vermögen der Freiheit, kann genötigt werden, sei es durch empirische, sei es durch rationale Bestimmungsgründe. Es scheint hierdurch so zu sein, dass Kant in der Metaphysik der Sitten dem nicht-schlechterdings guten Willen und der Abhängigkeit der Maxime vom Prinzip der Autonomie die Bestimmbarkeit der Willkür durch ein praktisches Gesetz und die daraus resultierende Notwendigkeit der Handlung gegenüberstellt. Steht die Unterwerfung des nicht-schlechterdings guten Willens nicht mehr im Fokus der kantischen Definition, erweist sich wiederum die Modalkategorie als geeigneter für die Formulierung der Verbindlichkeit. Der Grund dafür ist der folgende: Die Handlung kann problemlos mit dem Prädikat der Notwendigkeit versehen werden, während eine notwendige Maxime, insofern Maximen auf ein subjektives Prinzip zurückgehen, widersprüchlich wäre. Aufgrund dieser terminologischen Änderung lässt sich nicht nur die für die Tugendlehre relevante (innere) Maxime, sondern auch die für die Rechtslehre relevante (äußere) Handlung unter einem einzigen Begriff der Verbindlichkeit bestimmen. Damit kommt man zu der Einsicht, dass Kant von der Triade Wille-Maxime-Abhängigkeit (1785) zu der Triade Willkür-Handlung-Notwendigkeit Rahmen des Systems einer Metaphysik der Sitten. Denn die Relationskategorie bestimmt den Zustand der Person, während durch die Modalität die Pflichten als vollkommene oder unvollkommene definiert werden können. Vgl. dazu KpV, AA 05: 66. 43 Der Metaphysik der Sitten zufolge lässt sich die Willkür durch sinnliche Neigungen affizieren, zugleich ist sie aber auch durch Gründe der reinen Vernunft (Wille) bestimmbar. Ist Letzteres der Fall, dann ist die Willkür als frei anzusehen. Vgl. MS, AA 06: 213 f. u. 226. Siehe dazu Antonino Falduto, The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant!s Philosophy, Berlin, Boston 2014, 197–203.

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(1797) gelangt ist. Das liegt daran, dass es der Ansicht Kants um 1797 zufolge nur im Hinblick auf die Willkür gerechtfertigt ist, von Nötigung zu sprechen. Die Verbindlichkeit im Zusammenhang mit der Notwendigkeit zu definieren, ist also eine Folge der Auffassung, dass der Wille die objektive Instanz der Gesetzgebung repräsentiert. Das bisher Gesagte beweist, wie zielgerichtet Kant seine Definition der Verbindlichkeit umformuliert. Vom Fokus der Grundlegung auf die Selbstunterwerfung des Willens unter das Gesetz, der auf die Einseitigkeit der Selbstverpflichtung bzw. die Selbstnötigung hinausläuft, geht Kant in der Metaphysik der Sitten zum Fokus auf die modale Bestimmung der Handlung über, deren Notwendigkeit in der Gesetzgebung der Vernunft Ausdruck findet. In diesem Kontext erschließt sich einerseits die Trennung zwischen ethischer und rechtlicher Gesetzgebung sowie andererseits die Unterscheidung zwischen Gesetz und Triebfeder, die jeder Gesetzgebung eigen ist. Ein Gesetz (bzw. die praktische Vernunft selbst) kann nur eine Notwendigkeit (nicht eine Nötigung) zur Sprache bringen, die wiederum der Wille in Form der Verbindlichkeit einer Handlung (sei es im Hinblick auf die rechtliche oder auf die ethische Gesetzgebung) bestimmt. Wie werden aber, wie hier eingangs postuliert wurde, die Notwendigkeit und die Nötigung in die Verbindlichkeitsdefinition integriert? Betrachtet man diese näher, zeigt sich deutlich, dass die Notwendigkeit der freien Handlung das Resultat eines Imperativs ist. Dementsprechend behauptet Kant in der Metaphysik der Sitten, die Verbindlichkeit enthalte nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Nötigung,44 die sich in der Unterscheidung zwischen Gesetz und Imperativ niederschlägt.45 Die Bestimmung einer freien Handlung ist also das Resultat einer Bestimmung der Willkür (Nötigung) durch das Gesetz (Notwendigkeit), die in der Form eines kategorischen Imperativs Ausdruck findet und sich sowohl auf die Bestimmung einer Maxime als auch auf die einer Handlung beziehen kann. Wenn dem so ist, dann lässt sich die imperative Instanz, aus der die freie Handlung „necessiert“ wird, in zweierlei Hinsichten wirksam machen: Entweder macht die Willkür das Gesetz zur Triebfeder und die Erfüllung der Pflicht erfolgt aus der entsprechenden Achtung für das Gesetz (ethische Gesetzgebung), oder die Willkür macht das Gesetz nicht zur Triebfeder und in diesem Fall besteht die Befolgungsart der „Weil […] Verbindlichkeit nicht bloß Nothwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nöthigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbot-Gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird“ (MS, AA 06: 223). 45 „Er [der Imperativ] unterscheidet sich darin von einem praktischen Gesetze, daß dieses zwar die Nothwendigkeit einer Handlung vorstellig macht, aber ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob diese an sich schon dem handelnden Subjecte (etwa einem heiligen Wesen) innerlich nothwendig beiwohne, oder (wie dem Menschen) zufällig sei; denn wo das erstere ist, da findet kein Imperativ statt“ (ebd., 222). 44

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Notwendigkeit des Gesetzes in der legitimierten Befugnis, Zwang auszuüben (rechtliche Gesetzgebung). Auf diese Weise wird die Möglichkeit eröffnet, die durch die Notwendigkeit modal bestimmte Verbindlichkeit durch die Komponente der „Nötigung“ zu ergänzen, sodass die Umformulierung der Definition eine Erweiterung des Verbindlichkeitsbegriffs zur Folge hat. Dementsprechend ist Kant von der 1784/85 noch einseitigen Fokussierung auf die Nötigung, die eine Integration der Recht- und Tugendpflichten unter einer einzigen Verbindlichkeit prinzipiell problematisch macht, zu der modal verstandenen Verbindlichkeit übergangen, deren Pointe grundsätzlich darin besteht, sowohl eine Selbstverpflichtung als auch eine Fremdverpflichtung im moralischen Sinne umfassen zu können. Hätte Kant an der Terminologie der Grundlegung festgehalten, wäre die Schwierigkeit entstanden, die rechtliche Sphäre der Willkür als intersubjektiv und die der Handlung als wechselseitig zu bestimmen, da durch die Relationskategorie der Abhängigkeit eher die Maxime und die entsprechende Unterwerfung unter ein Gesetz thematisiert werden. Das besagt, die neue Terminologie ist erstens darauf gerichtet, eine Sphäre der Handlung zu finden, die nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich bestimmbar ist; und sie zielt zweitens darauf ab, eine Ausdifferenzierung der Notwendigkeit der Handlung in verschiedene Gesetzgebungen (rechtliche und ethische Gesetzgebung) plausibel zu machen, die von demselben Begriff der Verbindlichkeit ausgehen. Aus der hier entwickelten Argumentation erhellt sich, dass die beiden Gesetzgebungen in ihrer Verschiedenheit zwar beizubehalten sind, aber zugleich durch eine weitere Instanz (und somit in das System der Metaphysik der Sitten) integriert werden: Diese Instanz ist die auch für das Recht geltende moralische Verbindlichkeit. Die vorherigen Ausführungen machten ersichtlich, wie aufgrund des kantischen Perspektivwechsels von 1797 eine Definition der Verbindlichkeit zu Tage tritt, die die Probleme der einseitigen Fokussierung auf die Abhängigkeit und Nötigung in der Bestimmung von 1784 zu lösen versucht. Wie im Laufe des vorliegenden Textes gezeigt wurde, führt die auf der Modalität gründende Definition eine Erweiterung der Verbindlichkeit ein, die eine Integration des Rechts in das System der Metaphysik der Sitten (Recht und Ethik) ermöglicht. Der vorliegende Aufsatz stellt Kants Perspektivwechsel in seiner Verbindlichkeitsauffassung zwischen 1784 und 1797 dar. Im Vordergrund des Textes stehen die beiden kategorialen Bestimmungen, die für den Verbindlichkeitsbegriff von Signifikanz sind: die Relationskategorie der Abhängigkeit und die Modalkategorie der Notwendigkeit. Kant geht im genannten Zeitraum seiner Denkentwicklung von der relationalen zur modalkategorialen Bestimmung über, um komplementäre Elemente in seiner Verbindlichkeitsdefinition einzuführen. Ziel davon, so die Hauptthese des vorliegenden Aufsatzes, ist die Lösung der aus der relationalen Bestimmung der Verbindlichkeit entstandenen Probleme und

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somit die Ermöglichung eines systemtauglichen Verbindlichkeitsbegriffs, der sowohl für die Tugend- als auch für die Rechtslehre Gültigkeit beanspruchen kann. This text presents Kants changing perspective on his conception of obligation during the phase between 1784 and 1797. The text primarily deals with the two categorical determinations that are significant for the concept of obligation: the relational category of dependence and the modal category of necessity. During the above mentioned period, Kant shifts from the relational to the modal categorical determination, in order to introduce complementary elements within his conception of obligation. According to the claim of the present paper, this aims at solving the problems resulting from the relational determining of obligation and allows a systematic concept of obligation that is valid for the Doctrine of Virtue as well as the Doctrine of Right. Dr. Gabriel Rivero, Philosophisches Seminar, Institut für Ethnologie und Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Emil-Abderhalden-Straße 26/27, 06108 Halle, E-Mail: [email protected]

Daniel C. Henrich Zur Rezeption von Kants Begriff der Verbindlichkeit in der modernen Moralphilosophie There is only one principle of practical reason, and it is the categorical imperative. (Christine Korsgaard)

I. Da sich der Begriff der Pflicht bei Kant aus dem der Verbindlichkeit ergibt, kann man Kants Moralphilosophie in erster Linie als eine Theorie der Verbindlichkeit verstehen.1 Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung) ist Verbindlichkeit. […] Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.2

In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erörtert Kant den Begriff der Verbindlichkeit in Form einer Analyse der Ermöglichungsbedingungen des kategorischen Imperativs,3 weshalb die Begriffe ,Verbindlichkeit" und ,kategorische Geltung" im Folgenden synonym verwendet werden.4 Der Grund für die kategorische Geltung moralischer Normen ist der Grund ihrer Verbindlichkeit. Anfang der 1990er Jahre weist Ernst Tugendhat darauf hin, dass kaum detaillierte Analysen des Verbindlichkeitsbegriffs existierten, was für den deutschsprachigen Raum Vgl. dazu auch Beatrix Himmelmann, Kants Begriff des Glücks, Berlin 2003 (KantstudienErgänzungshefte 142), 57 ff. 2 GMS, AA 04: 439. 3 Kant spricht in der Grundlegung zunächst noch im Plural von ,kategorischen Imperativen" (GMS, AA 04: 414), erklärt später aber, dass es nur einen kategorischen Imperativ geben könne (ebd., 424). Vgl. dazu auch Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart 2002, 25 f. Anm. 9 und Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt am Main 1990, 179. 4 Darüber hinaus findet keine genauere Analyse der Differenz zwischen ,Verbindlichkeit" und ,Verpflichtung" statt. Das englische ,obligation" wird im Sinne von ,Verbindlichkeit" verstanden, ,duty" im Sinne von ,Pflicht". 1

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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mit wenigen Ausnahmen bis heute zutreffend ist.5 Wenn überhaupt eine Auseinandersetzung stattfindet, so geschieht dies häufig im Rahmen einer reinen Kantrezeption. Vor allem im englischsprachigen Raum war diese Rezeption allerdings häufig von einer skeptischen Grundhaltung geprägt, was einerseits auf den Einfluss Humes und andererseits auf die Bedeutung neoaristotelischer Ansätze zurückzuführen ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Renaissance dieser aristotelischen Ansätze eng mit einem Aufsatz verknüpft ist, in dessen Mittelpunkt eine dezidierte Kritik der Begriffe ,ought", ,obligation" und ,duty" steht: In ihrem einflussreichen Aufsatz Modern Moral Philosophy (MMP) behauptet Elizabeth Anscombe, dass diese Begriffe im Zentrum der modernen Moralphilosophie stehen und dass sie ein Symptom ihrer Defizite seien. Den Kontext dieser These bildet die Analyse einer nach Anscombes Ansicht grundlegenden Differenz zwischen der aristotelischen Ethik auf der einen und der modernen Moralphilosophie auf der anderen Seite.6 Den Ursprung dieser Differenz verortet Anscombe im Christentum und einer damit einhergehenden Gesetzesethik („law conception of ethics“).7 Aus dieser Perspektive stellen sich die zentralen Begriffe der modernen Moralphilosophie als systematisch entkernte Residuen einer religiösen Konzeption dar, für die moralische Verbindlichkeit ihren Ursprung in göttlicher Gesetzgebung findet. „The situation, if I am right, was the interesting one of the survival of a concept outside the framework of thought that made it a really intelligible one.“8 Nach Preisgabe ihres gehaltgebenden Ursprungs bewahrten diese Begriffe nach Ansicht Anscombes eine hypnotische Kraft („mesmeric force“), der kein rationaler Gehalt mehr korrespondiere. Die kantische Konzeption einer moralischen Selbstgesetzgebung hält Anscombe für schlichtweg „absurd“, da der Begriff ,Gesetzgebung" zwingend die Machtüberlegenheit eines äußeren Gesetzgebers erfordere. „Kant introduces the idea of ,legislating for oneself", which is […] absurd […]. The concept of legislation requires superior power in the legislator.“9 Darüber hinaus kritisiert sie, dass die Formulierung des kategorischen Imperativs anhand der Universalisierungsformel nicht gelingen könne, so lange Kant nicht Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 40. Eine bemerkenswerte Gegenposition zu der häufig strapazierten These einer grundlegenden Differenz zwischen Kant und Aristoteles findet sich in Korsgaards Aufsatz From Duty and for the Sake of the Noble: Kant and Aristotle on Morally Good Action. Siehe Christine M. Korsgaard, The Constitution of Agency. Essays on practical reason and moral psychology, Oxford, New York 2008, 174 – 206. Siehe dazu auch Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge u. a. 2004, 43 – 76, hier 50 f. An dieser Stelle geht Korsgaard direkt auf Anscombe ein. 7 Gertrude Elizabeth Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33/124 (1958), 1 – 19, hier 5. 8 Ebd., 6. 9 Ebd., 2; siehe auch ebd., 13. 5

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erkläre, welche Merkmale einer Handlung im Hinblick auf die Universalisierung als relevant anzusehen seien.10 Zwar ist auch Anscombe der Ansicht, dass Wörter wie ,sollen" und ,müssen" eine normative Konnotation besitzen, allerdings nicht in der von Kant und der modernen Moralphilosophie vorgeschlagenen moralischen, sondern in einer ausschließlich funktionalen Hinsicht. The terms "should! or "ought! or "needs! relate to good and bad: e. g. machinery needs oil, or should or ought to be oiled, in that running without oil is bad for it, or it runs badly without oil. According to this conception, of course, "should! and "ought! are not used in a special "moral! sense.11

Anscombe schlägt daher vor, die Konzeption eines moralischen Sollens gänzlich aufzugeben und zu einer Ethik zurückzukehren, die, wie die aristotelische, ohne solche Begriffe auskommt. It would be most reasonable to drop it [the morally ought]. It has no reasonable sense outside a law conception of ethics; they are not going to maintain such a conception; and you can do ethics without it, as is shown by the example of Aristotle.12

Damit wird Anscombe zum Bezugspunkt moderner tugendethischer Ansätze, in denen das Gute nicht mit ,Verbindlichkeit" oder ,Kategorizität" in Verbindung gebracht, sondern als Leistung des Menschen begriffen wird, seine gattungsspezifischen Merkmale zu verwirklichen (Stichwort: ,flourishing").13 Allerdings liefert Anscombes Aufsatz keine detaillierte Rekonstruktion der von ihr kritisierten Konzeptionen, sondern eine eher allgemeine, teilweise polemische Kritik, die zumindest der kantischen Konzeption nicht gerecht wird. In dieser Hinsicht ist Philippa Foots Aufsatz Morality as a System of Hypothetical Imperatives von größerer Bedeutung, denn auch wenn sein Einfluss nicht an den von MMP heranreichen mag,14 gilt Foots Argumentation bis heute als bahnbrechend und hat vor allem im angelsächsischen Raum großen Einfluss auf die Diskussion über kategorische Geltung und Verbindlichkeit ausgeübt.15 Foot entSiehe ebd., 2. Einen ähnlichen Vorwurf erhebt sie gegen John Stuart Mill. Ebd., 5. 12 Ebd., 8. 13 Zum Begriff ,flourishing" in MMP siehe ebd., 7 und 18 f. Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf Anscombes konstruktiven Ansatz und die verschiedenen Lesarten von MMP ein. Vgl. dazu etwa Roger Crisp, Does Modern Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Royal Institute of Philosophy Supplement 54 (2004), 75 – 93 und Roger Crisp, Reasons and the good, Oxford, New York 2006, 27 ff. Siehe auch Simon Blackburn, Jerry Fodor, Anscombe!s ethics. The Times Literary Supplement, London, England 2005. 14 Tatsächlich erwähnt auch Foot MMP, erklärt allerdings, dass ihr Ansatz trotz gewisser Ähnlichkeiten von der Position Anscombes abweiche. Siehe Philippa Foot, Virtues and Vices and other Essays in Moral Philosophy, Oxford, New York 2002, 157 – 173, hier 169. 15 Russ Shafer-Landau, Moral Realism. A Defence, Oxford 2005, 199 ff. Siehe auch Michael Smith, The Moral Problem, Oxford u. a. 1995 (Philosophical Theory), 77 ff. und John McDowell, 10

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wickelt anhand einer Kritik der kategorischen Geltung bei Kant die These, dass moralischen Urteilen nur hypothetische Geltung zukomme und Verbindlichkeit im kantischen Sinne nicht existiere. Zunächst gesteht sie allerdings zu, dass unsere Alltagssprache tatsächlich eine Unterscheidung zwischen einem moralischen und einem nicht-moralischen Gebrauch des Wortes ,sollen" enthält, die der Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen zumindest prima facie entspricht. Aus dieser moralphänomenologischen Perspektive besitzen Imperative eine hypothetische Geltung, wenn ihre Geltungsbedingung auf den Wünschen und Bedürfnissen der Akteure basiert. Im Gegensatz dazu zeichnen sich moralische Imperative dadurch aus, dass ihre Geltung von den Wünschen der Akteure unabhängig ist: Ein kategorischer Imperativ gilt demnach auch dann, wenn die Wünsche der Personen, an die sich der Imperativ richtet, mit dem Imperativ nicht übereinstimmen. Allerdings ist Foot der Ansicht, dass dieses Verständnis kategorischer Geltung, welches hier im Folgenden als kG1 bezeichnet wird, nicht ausreichend ist, um das kantische Verständnis – im Folgenden kG2 – hinreichend zum Ausdruck zu bringen.16 Denn Kant, so Foot weiter, verbinde mit der kategorischen Geltung moralischer Normen eine spezifische Verbindlichkeit („binding force“), die von kG1 nicht erfasst werde. Um dies zu erläutern, verweist Foot auf Normen, die zwar das Merkmal der Wunschunabhängigkeit besitzen, aber dennoch nicht als kategorisch bezeichnet werden können, weil ihnen keine Verbindlichkeit im kantischen Sinne zukommt. Foot selbst nennt als Beispiele Anstands- und Klubregeln („rules of etiquette“, „club rules“), mit Bezugnahme auf Michael Smith bietet es sich allerdings an, diesen Normentypus als ,institutionelle Normen" zu bezeichnen.17 Das für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende Merkmal der institutionellen Normen besteht darin, dass ihre Geltung einerseits zwar unabhängig von den Wünschen und Interessen der Personen besteht, an die sie gerichtet sind – weshalb institutionelle Normen im Sinne von kG1 auch als kategorische Normen verstanden werden müssten. Gleichzeitig kommt den institutionellen Normen andererseits jedoch keine Verbindlichkeit im kantischen Sinn zu, da es sich nicht, oder zumindest nicht zwingend, um moralische Normen handelt. So trifft etwa auf Klubregeln zu, dass sie unabhängig von den Wünschen der Klubmitglieder Geltung beanspruchen, deshalb aber dennoch nicht als kategorische Imperative im kantischen Sinne bezeichnet werden können. Auch Regeln der Etikette hängen in ihrer Geltung nicht von den Wünschen und Bedürfnissen der Personen ab, an die sie sich richten, können aber dennoch nicht Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives?, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 52 (1978), 13 – 42. 16 Zu einer ähnlichen Differenzierung siehe auch Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt am Main 2007 (Philosophische Abhandlungen 94), 318 ff. 17 Vgl. Smith, The Moral Problem (wie Anm. 15), 80 ff.

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als kategorische Normen im Sinne Kants gelten. Damit wird deutlich, dass kG1 einen Normentypus darstellt, dessen Geltung zwar unabhängig von den Interessen und Wünschen der Adressaten besteht, der aber dennoch nicht als im kantischen Sinne verbindlich und damit kategorisch bezeichnet werden kann. Um die kantische Konzeption von Verbindlichkeit zu verstehen, ist es nach Foot daher notwendig, den Unterschied zwischen kG1 und kG2 herauszuarbeiten: Was haben moralische Imperative den institutionellen Normen (kG1) voraus? Aus kantischer Sicht kann die Antwort nach Foots Ansicht nur lauten, dass man im Unterschied zu den institutionellen Normen im Fall moralischer Normen nicht nach einer weiteren Begründung für ihre Befolgung verlangen kann, da diese einen internen Handlungsgrund darstellen. Mit anderen Worten, wenn ein Akteur sich mit einem moralischen Imperativ konfrontiert sieht, wäre die Frage ,Wieso sollte ich mich entsprechend verhalten?" nach Ansicht Kants sinnlos, wohingegen sie im Fall institutioneller Normen durchaus eine Berechtigung besitzt. Von einer kategorischen Geltung moralischer Urteile zu sprechen, bedeutet nach Ansicht Foots daher, dass moralische Urteile notwendigerweise einen intrinsischen Handlungsgrund liefern: Moralische Urteile besitzen eine „automatic reason-giving force“. So although people give as their reason for doing something the fact that it is required by etiquette, we do not take this consideration as in itself giving us reason to act. Considerations of etiquette do not have any automatic reason-giving force, and a man might be right if he denied that he had reason to do "what!s done!. This seems to take us to the heart of the matter, for, by contrast, it is supposed that moral considerations necessarily give reasons for acting to any man.18

Foots Rekonstruktion moralischer Kategorizität besagt also, dass Normen im Sinne von kG2 – im Gegensatz zu kG1 – notwendigerweise Handlungsgründe liefern. Oder anders ausgedrückt, die Behauptung, moralische Urteile besäßen eine kategorische Geltung, ist nach Foot mit der Behauptung gleichzusetzen, moralisch zu handeln bedeute per se, rational zu handeln. Diese Position kann man auch als ,moralischen Rationalismus" bezeichnen.19 Damit hätte Foot eigentlich eine instruktive Grundlage für eine nähere Analyse des Verbindlichkeitsbegriffs gelegt.20 Umso überraschender ist es, dass Foot nun direkt und ohne weitere Begründung behauptet, eine Person, die unmoralisch handle, könne deswegen keines-

Foot, Virtues and Vices (wie Anm. 14), 161. Vgl. dazu auch ebd., 148–156, insbesondere 152 ff. 19 Vgl. dazu etwa Russ Shafer-Landau, Moral Rationalism, Ethical Theory. An Anthology (Blackwell Philosophy Anthologies 17), Chichester, West Sussex 22013, 159 – 166; Mark van Roojen, Moral Rationalism and Rational Amoralism, in: Ethics 120/3 (2010), 495 – 525. 20 Siehe dazu auch Kant selbst: „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“ KrV, A 547 / B 575. 18

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wegs zwingend als irrational bezeichnet werden.21 Die irritierende Geschwindigkeit, mit der Foot den moralischen Rationalismus ablehnt, findet ihren Grund in dem von ihr zu dieser Zeit22 wie selbstverständlich vertretenen neo-humeschen Rationalitätsbegriff, der von der Annahme ausgeht, Rationalität lasse sich ausschließlich in der Relation zwischen Akteurswünschen und Mittelwahl definieren:23 Nur eine Mittelwahl, die einer Verwirklichung dieser Wünsche zuwiderläuft, kann demnach als irrational bezeichnet werden – und vice versa. Irrational actions are those in which a man in some way defeats his own purposes, doing what is calculated to be disadvantageous or to frustrate his ends. Immorality does not necessarily involve any such thing.24

Setzt man diesen Rationalitätsbegriff voraus und geht gleichzeitig davon aus, dass die These einer kategorischen Geltung moralischer Urteile mit der Position des moralischen Rationalismus alternativlos identisch ist, kann man folgern, dass moralische Urteile nicht notwendigerweise Handlungsgründe liefern.25 Damit wäre der moralische Rationalismus und mit ihm die Verbindlichkeit moralischer Urteile widerlegt und der Gehalt kategorischer Geltung ,kollabiert" auf den der instiSiehe Foot, Virtues and Vices (wie Anm. 14), 161 f. Vgl. dazu auch John Hacker-Wright, Philippa Foot!s Moral Thought, New York 2013, 57 ff. 22 In ihren letzten Schriften hat sich Foot explizit von ihrer Position in Morality as a System of Hypothetical Imperatives distanziert und eine Art ,naturalistischen Rationalismus" vertreten. Siehe Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford, New York 2003. Heiner Klemme spricht diesbezüglich von einem „,kantianisierenden" Aristotelismus“ (Heiner F. Klemme, John McDowell und die Aufklärung. Eine Kritik der neo-aristotelischen Ethik, in: ders. [Hg.], Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, New York 2009, 369 – 385, hier 370). Siehe dazu auch Daniel C. Henrich, Wieso soll ich? Zum Begriff der praktischen Rationalität im Spätwerk von Philippa Foot, in: Robert Ranisch, Marcus Rockoff, Schuol Sebastian (Hg.), Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken (Tübinger Studien zur Ethik – Tübingen Studies in Ethics 4), Tübingen 2014, 35 – 51. 23 Ich gehe hier nicht näher auf die Frage ein, ob Hume selbst eine solche Position vertreten hat. Meiner Ansicht nach ist dies vor dem Hintergrund der empirischen Methode, die Hume konsequenterweise auch in seiner Moralphilosophie vertreten hat, gar nicht möglich. Vgl. dazu etwa Elijah Millgram, Was Hume a Humean?, in: Hume Studies 21/1 (1995), 75 – 94. Siehe auch Christine M. Korsgaard, The Normativity of Instrumental Reason, in: Garrett Cullity, Berys N. Gaut (Hg.), Ethics and Practical Reason, Oxford, New York 1997, 215 – 254, hier 222: „This suggests that Hume!s view is that there is no such thing as practical reason at all.“ Darüber hinaus übergehe ich auch die Frage, welche Position Foot zu Imperativen der Klugheit einnimmt. In ihrem Aufsatz Reasons for Action and Desires legt sie mit Bezug auf Thomas Nagel die Lesart nahe, dass diese im Sinne kategorischer Imperative zu verstehen sind. Vgl. Foot, Virtues and Vices (wie Anm. 14), 148 – 152. Siehe dazu auch McDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 149 ff. und Hacker-Wright, Philippa Foot!s Moral Thought (wie Anm. 21), 67 ff. 24 Foot, Virtues and Vices (wie Anm. 14), 162. 25 Wie wir sehen werden, ist die Annahme der Alternativlosigkeit nicht zwingend, denn John McDowell vertritt eine Position, in der die Verbindlichkeit moralischer Normen verteidigt, der moralische Rationalismus jedoch abgelehnt wird. 21

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tutionellen Normen. „The conclusion we should draw is that moral judgements have no better claim to be categorical imperatives than do statements about matters of etiquette.“26 Der entscheidende Punkt von Foots Ablehnung des moralischen Rationalismus besteht in der Prämisse, dass sich Handlungsgründe nur in der Relation von Zweck und Mittelwahl ergeben. Rekonstruiert man die Verbindlichkeit moralischer Normen vor dem Hintergrund dieser (unhinterfragten) Voraussetzung im Sinne Foots als eine Art „automatic reason giving force“ moralischer Urteile, so ist klar, dass sie als Illusion erscheinen muss. Eine genauere Analyse des Verbindlichkeitsbegriffs müsste sich also mit der Frage auseinandersetzen, was es bedeutet, zu behaupten, moralische Urteile lieferten notwendigerweise Handlungsgründe. In Deutschland ist Foots Aufsatz nicht intensiv rezipiert worden.27 Einer der wenigen Philosophen, die sich affirmativ auf ihn beziehen, ist Ernst Tugendhat.28 Ähnlich wie Foot unterscheidet er zwischen einer relativen und einer absoluten Verwendungsweise des Sollens und behauptet anschließend, dass „die Klärung des ,muß" oder ,soll", das in moralischen Urteilen enthalten ist, […] identisch [ist] mit der Klärung des eigentümlichen Verpflichtungscharakters der moralischen Normen“.29 Zwar habe Kant den Versuch einer Klärung unternommen, diesen hält Tugendhat allerdings für „völlig falsch“.30 Vielmehr stimmt er mit Foot darin überein, dass moralische Normen im Sinne hypothetischer Imperative zu verstehen sind,31 da ihnen „ein (freilich so gut wie nie explizites und bewußtes) ,ich will" zugrunde [liegt]“.32 Im Gegensatz zu Foot unterscheidet Tugendhat aber zwischen drei Normtypen: Vernunftnormen, soziale Normen und Spielregeln.33 Unter ,Vernunftnormen" versteht er Imperative, deren Missachtung relativ zu dem vorausgesetzten Wunsch des Handlungssubjekts irrational ist. Damit nähert er den Begriff der praktischen Vernunft schon zu Beginn einem hypothetischen Verständnis an, was eine weitere Parallele zu Foot darstellt. Für die weitere Argumentation sind nun zwei Aspekte wichtig: Erstens beschreibt Tugendhat die ,sozialen Normen" (wie auch die ,Spielregeln") als Spezialfall der Vernunftnormen, was bedeutet, dass die Differenzierung der drei Normtypen nicht auf einer Foot, Virtues and Vices (wie Anm. 14), 164. Eine interessante Ausnahme findet sich in Halbig, Praktische Gründe (wie Anm. 16). 28 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (wie Anm. 5), 46. Allerdings hat auch Tugendhat seine Ansichten mehrfach revidiert. Vgl. dazu vor allem Ernst Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 2002, 132 ff. und Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (wie Anm. 5), 56. Hier wird vor allem auf Tugendhats Position in seinen Vorlesungen über Ethik Bezug genommen. 29 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (wie Anm. 5), 40. 30 Ebd. 31 Ebd., 46. 32 Ebd., 61. 33 Ebd., 42 ff. 26

27

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Ebene liegt. Damit wird klar, dass auch soziale Normen letztendlich als hypothetische Imperative zu verstehen sind. Entscheidend ist jedoch zweitens, dass Tugendhat die moralischen Normen ihrerseits als Unterkategorie der sozialen Normen versteht und ihren Geltungsanspruch in Abgrenzung zu den beiden anderen Formen sozialer Normen („strafrechtlich“ und „konventionell“) im Sinne eines intrinsischen Geltungsanspruchs des absoluten Sollens auffasst. Tugendhat will damit sagen, dass man im Gegensatz zu einem Verstoß gegen strafrechtliche oder konventionelle Normen im Fall einer Abweichung von moralischen Normen davon ausgehe, dass es sich um ein an sich schlechtes Verhalten handle.34 Auch nach Tugendhats Auffassung besitzen moralische Normen also eine intrinsische Geltung, allerdings spricht er nicht von internen Handlungsgründen, sondern von einem in sich schlechten Verhalten. Was aber versteht Tugendhat unter einem in sich schlechten Verhalten? Diese Frage begründet den Übergang zur Analyse der absoluten Verwendung der Begriffe ,gut" und ,schlecht". So erfordert die Analyse des bestimmten Sinnes, den das grammatisch absolute „muß“ hat, von sich aus, nun auch den bestimmten Sinn der grammatisch absoluten Verwendungsweise der anderen Wortgruppe – „gut“ und „schlecht“ – zu klären.35

Tugendhat schlägt ein attributives Verständnis der Begriffe ,gut" und ,schlecht" vor, welches besagt, dass sich deren absolute Verwendungsweise nicht auf Handlungen, sondern auf Personen im Sinne von Kooperationspartnern bezieht.36 „Ich möchte nun behaupten, daß die moralischen Normen einer Gesellschaft eben jene sind, […] die definieren, was es heißt, ein gutes kooperatives Wesen zu sein.“37 Soziale Normen im Sinne der moralischen Normen gründen für Tugendhat also auf der reziproken Forderung der Gesellschaftsmitglieder, gute Kooperationspartner zu sein. Abweichendes Verhalten wird mit äußeren und inneren Sanktionen (Empörung/Scham) belegt. Besonders wichtig ist nun, dass Tugendhat diese Forderung, auf der die absolute Verwendungsweise der Wörter ,gut/schlecht" basiert, verwendet, um eine Verbindung zur absoluten Verwendungsweise des moralischen Sollens herzustellen. Daß alle das moralische Verhalten wechselseitig voneinander fordern, heißt, daß jeder so sein muß, als Mitglied der Gesellschaft, unabhängig davon, ob er so sein will. Das grammatikalisch absolute „muß“ ist also genau in diesem Sinne auch ein sachlich unbedingtes „muß“; „in genau diesem Sinn“, d. h.: es ist nicht abhängig davon, ob man so sein will. 38

34 35 36 37 38

Hier bestehen erneut Parallelen zu Foots Rede von einer „automatic reason giving force“. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (wie Anm. 5), 48. Ebd., 56. Ebd. Ebd.

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Diese Aussage ist irritierend, denn sie scheint im Gegensatz zu Tugendhats bisherigen Äußerungen zu implizieren, dass tatsächlich eine Form moralischer Verbindlichkeit im kantischen Sinne existiert. Wie bereits angedeutet, basiert in Tugendhats sanktionstheoretischem Ansatz allerdings jedes – und damit auch das moralische Müssen – auf dem Wunsch, innere oder äußere Sanktionen zu vermeiden. Genau diese Ansicht kommt auch im weiteren Verlauf des Zitats zum Ausdruck: Natürlich kann das nicht heißen, daß dieser Sinn an und für sich unbedingt ist, sondern auch diese wechselseitige Forderung und das entsprechende „Müssen“ ist – wie alles Müssen – überhaupt nur zu verstehen auf der Basis einer Sanktion, die eintritt, wenn ihr zuwidergehandelt wird.39

Da eine ausführlichere Analyse dieses ,Widerspruchs" hier nicht möglich ist, soll nur darauf hingewiesen werden, dass Tugendhats Behauptung, das absolute Sollen sei ein „sachlich unbedingtes ,muß"“ unverständlich bleibt. Tugendhats Modell setzt eindeutig auf ein hypothetisches Verständnis der moralischen Normen, was er auch selbst zugibt, indem er erklärt, er stimme „der These von Philippa Foot zu, daß moralische Normen eine bestimmte Art hypothetischer Imperative sind“.40 Im Gegensatz zu Foot ist in Tugendhats sanktionstheoretischem Modell jedoch ohne Weiteres nachvollziehbar, woher diese hypothetische Geltung stammt:41 Sie basiert ausschließlich auf dem Wunsch der Vermeidung sozialer Sanktionen. Damit muss Tugendhat zu dem Schluss kommen, dass eine kategorische Geltung moralischer Normen im Sinne Kants nicht existiere, kann dann allerdings auch nicht behaupten, es gäbe ein „sachlich unbedingtes ,muß"“ im moralischen Sinne. Woher aber stammt überhaupt die Rede von einem „sachlich unbedingten ,muß"“ im moralischen Sinne? Gerade im Zusammenhang einer Analyse des Verbindlichkeitsbegriffs ist diese Frage wichtig und muss genauer analysiert werden: Wieso spricht gerade Tugendhat, der eine sanktionstheoretische Geltung moralischer Normen vertritt, vom ,moralischen Müssen" anstatt vom ,moralischen Sollen"? Tatsächlich hält Tugendhat die Verwendungsweise des Wortes ,sollen" in moralischen Kontexten für problematisch. „Daß ein Großteil der Philosophie, insbesondere Kant, für die moralischen Normen das Wort ,Sollen" verwendet, ist nicht glücklich. Man soll nicht nur seine Versprechen halten, man muß es.“42 Peter Stemmer, der als Schüler Tugendhats ebenfalls eine sanktionstheoretisches Modell moralischer Normen vertritt, hat diesen Gedanken vertieft und Ebd. Ebd., 46. 41 Aus Platzgründen wurde das Thema der Herkunft der hypothetischen Geltung moralischer Normen bei Foot hier nicht näher behandelt. 42 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (wie Anm. 5), 36. 39 40

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drei Argumente für den Wechsel vom Sollen zum Müssen geliefert.43 Demnach stellt erstens bereits die grammatikalisch absolute Form des faktischen Sprachgebrauchs ein Argument für den Übergang vom ,Sollen" zum ,Müssen" dar.44 Außerdem behauptet Stemmer, dass auch die philosophische Theorie bis ins 18. Jahrhundert in moralphilosophischen Zusammenhängen nicht das Wort ,sollen", sondern das lateinische Wort für ,müssen" (,debere") verwendete.45 Stemmers Hauptargument besteht jedoch in dem Hinweis, dass „praktische ,soll"-Sätze […] auf das Wollen eines anderen [verweisen]“,46 während das Wort ,müssen" die „Unausweichlichkeit einer Handlung“47 anzeige und daher für moralphilosophische Zusammenhänge besser geeignet sei. Erneut ist es irritierend, dass ein Vertreter der sanktionstheoretischen Theorie der Moral von der Unausweichlichkeit einer Handlung spricht. Denn im Hinblick auf die von der Sanktionstheorie vertretenen Geltungsbedingungen moralischer Normen wäre es wesentlich naheliegender, zu behaupten, eine wirkliche Unausweichlichkeit existiere gerade nicht, da ja jede Geltung immer von der Bedingung des Sanktionsvermeidungswunsches des Handlungssubjekts abhängig ist. Der Grund für die Rede von einem moralischen Muss bei gleichzeitigem Festhalten an einer hypothetischen Geltung moralischer Normen findet sich bei Tugendhat und Stemmer letztendlich in einer Kombination ihrer sanktionstheoretischen Konzeption moralischer Geltung mit der anthropologischen Annahme, dass der Mensch qua Naturwesen mit Notwendigkeit Sanktionen vermeiden will. Das sanktionskonstituierte moralische Müssen ist offensichtlich hypothetisch. Es ist allerdings auf ein Wollen relativ, das jeder hat. […] Ein Müssen dieser Art hat die Eigenschaft der Unausweichlichkeit. Man kann sich ihm nicht entziehen, indem man das Wollen, auf das es bezogen ist, fallen lässt. Das moralische Müssen existiert also unabhängig von einem Wollen, das man haben kann oder auch nicht haben kann. […] Und genau hierin liegt seine – anders als bei Kant verstandene – Kategorizität.48

Das sanktionstheoretische Verständnis führt die ,Verbindlichkeit" moralischer Normen also auf eine natürliche Notwendigkeit zurück und reduziert damit – in kantischer Terminologie gesprochen – die kategorische Geltung auf die assertorische (Ratschläge der Klugheit). Unter dieser Voraussetzung kann nach Ansicht Stemmers „ein hypothetisches Müssen unausweichlich und in diesem Sinne Vgl. Peter Stemmer, Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin, New York 2008, v. a. 284–293. Vgl. auch Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung, Berlin, New York 2000, 39 – 71. 44 Vgl. Stemmer, Normativität (wie Anm. 43), 285. 45 Ebd., 286. 46 Ebd., 287. 47 Ebd. (Hvhg. D.C.H.). 48 Ebd., 314 f. (Hvhg. D.C.H.). 43

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kategorisch sein“.49 Dazu zwei kurze Anmerkungen: Da Stemmer an anderer Stelle indirekt zugibt, dass man nicht bei jedem Menschen den Wunsch nach Sanktionsvermeidung voraussetzen kann50 und er ganz im Sinne der Sanktionstheorie annimmt, dass „es ohne Sanktionen kein moralisches Müssen gibt“,51 hat seine Argumentation die kontraintuitive Konsequenz, dass bestimmte Menschen von moralischen Normen ausgenommen sind. Wichtiger ist jedoch ein anderer Einwand, der erneut auf den Begriff der Rationalität und der Handlungsgründe verweist: Allein aus der Tatsache, dass ein Wesen bestimmte Merkmale aufweist – beispielsweise den Wunsch, glücklich zu sein und Sanktionen zu vermeiden – lässt sich nicht die normative These ableiten, dass es auch gemäß dieser Wünsche handeln soll.52 Um überhaupt als Handlungssubjekt (Agent) zu agieren, muss eine Person die Fähigkeit besitzen, eine Entscheidung zur moralischen Handlung aus Gründen, d. h. autonom, zu treffen. Nur so lässt sich der Begriff der Normativität überhaupt verstehen. Dieser Einwand macht zugleich deutlich, dass die von Stemmer vertretene „Unausweichlichkeit der Handlung“ den von Foot immerhin angedeuteten Zusammenhang zwischen (moralischen) Handlungen und Handlungsgründen (Rationalität) unberücksichtigt lässt. Denn ein zentrales Merkmal moralischer Handlungen – bzw. von Handlungen überhaupt – besteht darin, dass sich eine Person auf der Basis von Gründen entscheidet, die Handlung auszuführen. Gerade dieses, im Begriff der Rationalität notwendig enthaltene ,Andershandelnkönnen" wird jedoch verdeckt, wenn man ausschließlich vom moralischen Müssen spricht – denn tatsächlich muss man seine Versprechen nicht halten, man soll es. Andernfalls wäre der (intentionale) Bruch eines Versprechens gar nicht möglich und der für moralisches Handeln zentrale Begriff der Urheberschaft verlöre seine Bedeutung. Um diesem Einwand zu entgehen, führt Stemmer die Rede vom „Paradoxon des normativen Müssens“ ein, welches darin bestehen soll, dass man einerseits moralisch handeln ,muss", andererseits aber auch anders handeln kann.53 Gerade diese Paradoxie wird durch die Verwendung des Wortes ,sollen" jedoch vermieden. II. Bisher wurde argumentiert, dass Verbindlichkeit in einem spezifischen Verhältnis zum Begriff der Handlungsgründe steht. Foot hat dieses Verhältnis im Sinne einer „automatic reason-giving force“ moralischer Urteile beschrieben und diese Mög49 50 51 52 53

Ebd., 298. Vgl. ebd., 310. Ebd., 318. Diesen Punkt arbeitet Christine Korsgaard sehr deutlich heraus. Siehe dazu unten. Vgl. Stemmer, Normativität (wie Anm. 43), 7 ff.

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lichkeit ohne nähere Analyse abgelehnt. Auch die sanktionstheoretische Analyse der Verbindlichkeit reduziert diese letztendlich auf eine hypothetische Geltung, versucht aber immerhin die zumindest sprachphänomenologisch unbezweifelbar vorhandene Existenz der Verbindlichkeit moralischer Normen mit dem Verweis auf die assertorische Geltung hypothetischer Imperative zu erklären. Allerdings gibt es auch Positionen, die den Versuch unternehmen, Verbindlichkeit in einem kategorischen Sinn zu rekonstruieren und dabei die Notwendigkeit einer Bezugnahme auf Handlungsgründe explizit auszuschließen. In dieser Hinsicht ist John McDowells Position von besonderem Interesse, da er zwar einerseits Foots These zustimmt, moralische Urteile stellten keineswegs notwendigerweise interne Handlungsgründe bereit, gleichzeitig jedoch behauptet, daraus folge nicht, dass moralischen Normen ausschließlich hypothetische Geltung zukomme. I want to agree that one need not manifest irrationality in failing to see that one has reason to act as morality requires, but to query whether it follows that moral requirements are only hypothetical imperatives.54

Indem McDowell behauptet, die kategorische Geltung moralischer Normen sei mit der Annahme Foots, unmoralisches Handeln müsse nicht zwingend irrational sein, vereinbar, formuliert er also implizit die These, dass der Begriff der Verbindlichkeit auch ohne Bezugnahme auf den moralischen Rationalismus verteidigt werden kann. Wie ist das zu verstehen? Zunächst wendet sich McDowell gegen die von Foot vertretene neo-humesche Auffassung, Handlungsgründe basierten in der einen oder anderen Weise immer auf den Wünschen der Akteure, und stellt ihr seine eigene Position eines „anti-anti-realism“55 gegenüber. Diese basiert auf einer Kritik an der auf Hume zurückgehenden Trennung von kognitiven und motivationalen Handlungsmerkmalen.56 „It seems to be false that the motivating poMcDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 13. Zum Begriff des ,Anti-anti-Realismus" erläutert McDowell, die Bezeichnung ,Realismus" „would risk obscuring the fact that what I urge is more negative than positive; my stance […] is better described as ,anti-anti-realism" than as ,realism"“ (John McDowell, Mind, Value, and Reality, Cambridge u. a. 1998, 8). 56 Siehe dazu vor allem das klassische Kapitel „Of the influencing Motives of the Will“ in Humes Treatise (David Hume, A treatise of human nature. A critical edition, Bd. 1, hg. von David F. Norton und Mary J. Norton, Oxford, New York 2007, 265 – 268 / T 2.3.3. / SB, 413–418). Vgl. auch John McDowell, Mind and World. With a new introduction, Cambridge u. a. 82003; McDowell, Mind, Value, and Reality (wie Anm. 55), 198 – 218. Für die Bestimmung des Verhältnisses der Begriffe ,Motivation" und ,Handlungsgrund" aus einer humeschen Perspektive siehe Bernard A. Williams, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck. Philosophical Papers 1973–1980, Cambridge u. a. 1985, 101 – 112. Vgl. dazu auch John McDowell, Might there be External Reasons?, in: James E. Altham, Ross Harrison (Hg.), World, Mind, and Ethics. Essays on the ethical philosophy of Bernard Williams, Cambridge, New York 1995, 69 – 85. Eine Lesart, die den Aufsatz Williams! zumindest teilweise aus dem humeschen Kontext löst, findet sich in Christine M. Korsgaard, Skepticism about Practical Reason, in: The Journal of Philosophy 83/1 (1986), 5 – 25. 54

55

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wer of all reasons derives from their including desires.“57 Zentrales Merkmal dieser Kritik ist McDowells Überzeugung, dass die spezifische Sichtweise einer Situation ausreichend ist, um Handlungsgründe zur Verfügung zu stellen. „Why should it not be the case […] that the agent!s conception of the situation, properly understood, suffices to show us the favourable light in which his action appeared to him?“58 Nach dieser Auffassung ist der Wunsch eines Akteurs die Folge einer spezifischen Situationswahrnehmung und nicht ein von dieser Situationswahrnehmung unabhängiger mentaler Zustand, der das Zustandekommen der Handlung erst verständlich macht.59 „The desire need not function as an independent component in the explanation, needed in order to account for the capacity of the cited reason to influence the agent!s will.“60 Demnach stellt die Situation also selbst die moralische Forderung an einen Akteur. Genauer, der Akteur wird einer moralischen Forderung aufgrund seiner spezifischen Sichtweise der Situation unmittelbar gewahr. Den Wunsch, entsprechend zu handeln, versteht McDowell dann als Folge dieser Sichtweise – und nicht umgekehrt. Wie aber stellt sich McDowell diese Verknüpfung von Situationswahrnehmung und moralischem Handlungsgrund bzw. Forderung genau vor und auf welche Weise will er vor dem Hintergrund dieser Argumentation einen radikalen Subjektivismus vermeiden, in dem das einzelne Subjekt seine eigene moralische Einschätzung einer bestimmten Situation vertritt? Für die Beantwortung der ersten Frage sind die Begriffe ,Bildung", und ,Erziehung" von zentraler Bedeutung, denn McDowell nutzt sie, um die Vermittlung von Situationswahrnehmung und Handlungsgrund zu erläutern. So wird der Mensch für McDowell im Rahmen seiner Erziehung zu einem Handlungssubjekt gebildet, für welches die spezifische Situationen mit den entsprechenden Motiven und damit auch mit entsprechenden Handlungsgründen zwingend verknüpft sind.61 Die Fähigkeit des Subjekts, Handlungsgründe zu erkennen, ist für McDowell daher auch kein Akt rationaler Erkenntnis, sondern ein perzeptives VermöMcDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 15. Ebd., 16. 59 Thomas Nagel spricht diesbezüglich von „motivated desires“ in Abgrenzung zu „unmotivated desires“. Vgl. Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Princeton 1978, 29 ff. 60 McDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 16. 61 Ich gehe hier nicht näher auf das Verhältnis der Begriffe ,Motivation" und ,Handlungsgrund" bei McDowell ein, sondern setze die auch von McDowell und anderen akzeptierte These des sogenannten ,motivationalen Internalismus" voraus, dass Handlungsgründe nur als solche bezeichnet werden können, wenn sie einen Akteur motivieren. Grundlegende Texte dieser mittlerweile sehr vielschichtigen Diskussion sind: W. D. Falk, „Ought“ and Motivation, in: Proceedings of the Aristotelian Society 48 (1947), 111 – 138; William K. Frankena, Obligation and Value in the Ethics of G. E. Moore, in: ders. (Hg.), Perspectives on morality. Essays, Notre Dame, Ind. 1976, 12 – 23; Williams, Moral Luck (wie Anm. 56); Korsgaard, Skepticism about Practical Reason (wie Anm. 56). 57

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gen, welches sich das Subjekt im Laufe seiner Bildung und Erziehung im Sinne einer ,zweiten Natur" aneignet und welches in kommenden, bisher nicht erlebten Situationen aktualisiert werden kann.62 In moral upbringing what one learns is not to behave on conformity with rules of conduct, but to see situations in a special light, as constituting reasons for acting; this perceptual capacity, once acquired, can be exercised in complex novel circumstances.63

Akzeptiert man jedoch diese Antwort auf die erste Frage und damit die These, dass die Verknüpfung von Situation und Handlungsgrund (Motivation) im Akteur durch die Erziehung und Bildung desselben geleistet wird, so scheint die in der zweiten Frage angesprochene Gefahr erst recht virulent: Wie will McDowell die Konsequenz vermeiden, dass die Subjekte aufgrund ihrer individuellen Erziehung je unterschiedliche Situationswahrnehmungen und damit auch unterschiedliche Handlungsgründe besitzen? Die Antwort McDowells wirkt auf den ersten Blick überraschend: Eine Person hat dann die richtige oder angemessene Wahrnehmung einer Situation und damit auch die entsprechenden Handlungsgründe, wenn sie richtig bzw. angemessen erzogen wurde.64 Ist dies der Fall, so spricht McDowell von einer ,tugendhaften Person", einem ,phronimos". Der ,phronimos" ist für McDowell also eine Person, die aufgrund ihrer Prägung (,moulding") moralisch relevante Situationen in der angemessenen Weise wahrnimmt und motivational angemessen reagiert. If the upbringing has gone as it should, we shall want to say that the way of seeing things – the upshot, if you like, of a moulding of the agent!s subjectivity – involves considering them aright, that is having a correct conception of their actual layout.65

Allerdings schränkt McDowell den Gedanken einer ,richtigen" oder ,angemessenen" Erziehung sofort dahingehend ein, dass er nicht im Sinne einer unabhängigen Wahrheit verstanden werden dürfe, auf die man sich zur Grundlegung einer ethischen Theorie berufen könne. Vielmehr handelt es sich bei der Rede von der ,richtigen Erziehung" an dieser Stelle zunächst nur um einen operativen Begriff zur Lösung des Problems der normativen Verknüpfung von Situationswahrnehmung Vgl. dazu McDowell, Mind, Value, and Reality (wie Anm. 55), 167 – 197 (Hvhg. D.C.H.). McDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 21 (Hvhg. D.C.H.). 64 Interessanterweise bezieht sich auch Foot auf die Erziehung („social teaching“), um zu erklären, wieso es uns so erscheint, als ob moralische Forderungen notwendigerweise Handlungsgründe konstituierten. Allerdings ist dieser Schein für sie tatsächlich auch nicht mehr als ein solcher. „This kind of teaching explains why it should be thought that moral judgements give reasons for acting which are independent of interests and desires, but it does nothing to prove that it is so“ (Foot, Virtues and Vices [wie Anm. 14], 153; vgl. dazu auch ebd., 163). 65 McDowell, Might there be External Reasons? (wie Anm. 56), 73. 62

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und Handlungsgrund, der an anderer Stelle vertieft und ausgearbeitet wird.66 Da die Details dieser Ausarbeitung für den vorliegenden Zusammenhang nicht von grundlegender Bedeutung sind, werden sie hier nicht weiter verfolgt. Wichtig ist vielmehr, dass McDowell diesen Prozess der Prägung, aufgrund dessen der Akteur Situationen in einem bestimmten, Gründe konstituierenden Licht wahrzunehmen lernt, explizit als nicht-rationalen Vorgang kennzeichnet. It is plausible, then, that from certain starting-points there is no rational route – no process of being swayed by reasons – that would take someone to being as if he had been properly brought up. (Being properly brought up is not itself a rational route into being that way.)67

In diesem Sinne ist es auch folgerichtig, dass McDowell behauptet, man könne im Hinblick auf eine Person, die in der richtigen Weise geprägt wurde und welche daher das Vermögen zur angemessenen Wahrnehmung der Situation und der motivationalen Reaktion besitze (,phronimos"), so wenig von einer rationalen Person sprechen, wie man im Fall der unmoralischen Person von einer irrationalen Person sprechen könne. Damit wird klar, wieso McDowell der Ansicht ist, die Verteidigung der Verbindlichkeit moralischer Normen sei ohne Bezugnahme auf den moralischen Rationalismus möglich: Für den ,phronimos" ergeben sich moralische Anforderungen und die entsprechenden Handlungsgründe (Motive) aus der Wahrnehmung der Situation selbst. Damit kann McDowell die ,genuine" oder ,ontologische" Struktur moralischer Handlungsgründe als verbindlich bezeichnen, ohne darauf festgelegt zu sein, die Erkenntnis moralischer Normen durch ein spezifisches Rationalitätsvermögen zu erklären. According to this position, then, a failure to see reason to act virtuously stems, not from the lack of a desire on which the rational influence of moral requirements is conditional, but from the lack of a distinctive way of seeing situations. If that perceptual capacity is possessed and exercised it yields non-hypothetical reasons for acting. Now the lack of a perceptual capacity, or failure to exercise it, needs show no irrationality.68

Für eine tugendhafte Person sind moralische Normen demnach verbindliche Forderungen, weil die Person auf die richtige Art und Weise geprägt wurde und nun sozusagen zwingend auf die richtige Weise reagiert. Allerdings wird damit auch deutlich, dass die Erkenntnis moralischer Anforderungen im Modell McDowells kein Resultat der Anwendung praktischer Rationalität ist, sondern (nur) die Konsequenz eines quasi perzeptiven Vermögens, welches seinen Ursprung in der seinerseits nicht als rational zu bezeichnenden Prägung der Subjekte findet. Moralische Handlungen sind im Modell McDowells nicht als Resultat eines DeliberaSiehe dazu etwa John McDowell, Mind, Value, and Reality (wie Anm. 55), 3 – 22. McDowell, Might there be External Reasons? (wie Anm. 56), 74. 68 McDowell, Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives? (wie Anm. 15), 23 (Hvhg. D.C.H.). 66

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tionsprozesses zu verstehen, an dessen Ende eine durch Gründe konstituierte Handlung steht, sondern vielmehr eine durch Prägung erlangte epistemische Fähigkeit. Obwohl McDowell also ein nicht-hypothetisches Verständnis von Verbindlichkeit entwirft, unterliegt seine Argumentation einem ähnlichen Kritikpunkt wie die sanktionstheoretische Position von Stemmer und Tugendhat: Das Verhalten einer Person kann nur dann als moralisches Handeln, ja als Handeln überhaupt verstanden werden, wenn es als Resultat einer rationalen Entscheidung betrachtet werden kann. Diese Kritik wird verständlicher, wenn man sich dem Ansatz von Christine Korsgaard zuwendet, der derzeit einen der interessantesten Versuche einer Rekonstruktion des Verbindlichkeitsbegriffs darstellt. Denn im Gegensatz zu McDowell steht bei Korsgaard ein gehaltvoller Begriff von Autonomie und Urheberschaft (,agency") im Zentrum der Argumentation, weshalb sie Kants Position trotz einiger grundlegender Unterschiede wesentlich nähersteht als McDowell.69 Gleichzeitig verknüpft sie ihr Verständnis von ,Verbindlichkeit" mit dem Begriff der ,Handlungsgründe", weshalb es eine direkte Anschlussfähigkeit an den hier eingeschlagenen Weg bietet.70 Zunächst weist Korsgaard darauf hin, dass die Verknüpfung von internen Handlungsgründen und moralischer Verbindlichkeit nur dann ein Problem darstellt, wenn die motivierende Kraft jedes Handlungsgrundes, wie etwa bei Foot, ausschließlich auf die persönlichen Wünsche des betreffenden Handlungssubjekts zurückgeführt wird. In diesem Fall hinge die Geltung moralischer Urteile nämlich von dem akzidentellen Umstand ab, welche Wünsche eine Person besitzt. Verbindlichkeit im kantischen Sinne wäre dann ein Hirngespinst. Dem stellt Korsgaard eine instruktive Lesart der kantischen Argumentation entgegen, in der der Begriff der ,Autonomie" im Mittelpunkt steht. Aus Platzgründen soll die komplexe Konzeption von Korsgaard hier vor allem aus Sicht ihres wichtigen Aufsatzes The Normativity of Instrumental Reason dargestellt werden.71 Hier entwirft Korsgaard anhand einer Kritik des Empirismus und des dogmatischen Rationalismus ein Modell der Normativität, welches für ihr Verständnis von Verbindlichkeit von grundlegender Bedeutung ist. Zunächst ist wichtig, dass Korsgaard Kant nicht als einen (dogmatischen) Rationalisten versteht, sondern seine Position als eine Art ,dritten Weg"72 zwischen Empirismus Für den Begriff ,agency" verwende ich im Folgenden neben ,Agentenschaft" auch die Begriffe ,Urheberschaft", und ,Handlungssubjekt". 70 Vgl. Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 207 – 229 und Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends (wie Anm. 6), 43 f. 71 Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 27 – 68. Korsgaard hat später leichte Änderungen an der Position in The Normativity of Instrumental Reason vorgenommen, die aber hier zunächst keine entscheidende Rolle spielen. Siehe dazu auch Anmerkung 86. 72 Eine ähnliche Argumentation liefert Heiner Klemme. 69

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und ,dogmatischem Rationalismus" beschreibt.73 „Kant is usually thought of as a rationalist, but the Kantian conception of practical rationality represents a third and distinct alternative.“74 Diese Lesart wird am besten vor dem Hintergrund ihrer Kritik des von Empirismus und Rationalismus vertretenen Begriffs des Handlungsgrunds (Rationalität) verständlich. Korsgaard geht davon aus, dass der Begriff des Handlungsgrundes zwei Bedingungen erfüllen muss: Zum einen muss er als normative Orientierung (,guide") oder normatives Erfordernis (,requirement") fungieren, zum anderen muss er motivierend wirken.75 Die Kritik an Empirismus und (dogmatischem) Rationalismus lautet nun, dass deren Konzepte jeweils nur eine der beiden Bedingungen erfüllen: Der Empirismus kann zwar zeigen, wieso Handlungsgründe motivierend wirken, aber ihre Funktion als normatives Erfordernis nicht erklären. Im Gegensatz dazu kann der Rationalismus zwar erklären, wieso Handlungsgründe ein normatives Erfordernis darstellen, nicht jedoch, inwiefern sie motivierend wirken. The empiricist account explains how instrumental reasons can motivate us, but at the price of making it impossible to see how they could function as requirements or guides. The rationalist account, on the other hand, allows instrumental reasons to function as guides, but at the price of making it impossible for us to see any special reason why we should be motivated to follow these guides.76

Aus Platzgründen soll im Folgenden vor allem die Kritik des empiristischen Verständnisses der Normativität instrumenteller Vernunft im Fokus stehen. Nach Ansicht des Empirismus ist ein Handlungsgrund mit der Motivation gleichzusetzen, das Mittel zu einem von dem Agenten gehegten Wunsch zu ergreifen. Anders ausgedrückt, eine Person (P) hat gemäß dem empiristischen Modell genau dann einen Handlungsgrund (G), wenn P einen Wunsch (W) besitzt, für dessen Realisierung die in G enthaltene Handlung das geeignete Mittel (M) ist und wenn P auch von dieser Relation weiß, d. h. wenn P eine Überzeugung (U) besitzt. Praktische Vernunft besteht gemäß der empiristischen Position also ausschließlich darin, die Mittel zu den vorausgesetzten Wünschen zu ergreifen: Weil P W zu realisieren wünscht, soll P M ergreifen – vorausgesetzt, die Überzeugung von P hinsichtlich Zum Begriff des ,dogmatic rationalism" siehe Korsgaard, The Normativity of Instrumental Reason (wie Anm. 23), 240 ff. Wichtig ist, dass Korsgaard deutlich zwischen Hume und den so genannten Neo-Humeanern unterscheidet. Vgl. etwa Korsgaard, Skepticism about Practical Reason (wie Anm. 56), 43: „But Hume, unlike his would-be followers, does not build consistency with one!s overall good into his notion of an end.“ Insofern richtet sich die Kritik des Empirismus vor allem gegen die sogenannten ,neo-humeschen" Positionen. 74 Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 31. 75 Zum Aspekt der Motivation siehe Korsgaard, Skepticism about Practical Reason (wie Anm. 56). 76 Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 31 73

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der Wirksamkeit von M basiert nicht auf einem Irrtum.77 Praktisch unvernünftig, d. h. irrational ist gemäß dieser auch von Foot, Tugendhat und Stemmer vertretenen Ansicht also nur jene Person, die es versäumt, die Mittel zu dem von ihr verfolgten Ziel zu ergreifen.78 Korsgaard stellt nun die Frage nach dem von diesem Modell vertretenen Begriff der Normativität. Oder anders ausgedrückt, sie stellt die Frage, ob dieses Modell tatsächlich erklären kann, wie das normative Sollen eines hypothetischen Imperativs zu Stande kommt. Die Antwort ist negativ und die Begründung für diese negative Antwort vielschichtig: Eine dieser Begründungen lautet, kurz gesagt, dass das Modell ein kausales Verhältnis von Wunsch und Handlungsgrund impliziert – oder anders ausgedrückt, dass das instrumentelle Verständnis der praktischen Vernunft den zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, ein Sollen aus einem Sein abzuleiten.79 Aus der Tatsache, dass eine Person einen Wunsch besitzt, kann man zwar ableiten, dass sie motiviert ist, das geeignete Mittel zu ergreifen (erste Bedingung für einen Handlungsgrund), nicht jedoch, dass sie dies auch tun soll, d. h. dass eine Verbindlichkeit existiert, die Handlung zu vollziehen (zweite Bedingung für einen Handlungsgrund). Unless there are normative principles directing us to the adoption of certain ends, there can be no requirement to take the means to our ends. The familiar view that the instrumental principle is the only requirement of practical reason is incoherent.80

Wenn ein Wunsch für sich genommen jedoch nicht ausreichend ist, einen Handlungsgrund zu generieren, stellt sich die Frage, ob und wie im Rahmen der instrumentellen Vernunft nach Ansicht Korsgaards überhaupt ein normativer Handlungsgrund, d. h. eine Sollgeltung entstehen kann. Korsgaards überraschender Vorschlag lautet, dass normative Erfordernisse und damit auch die Normativität hypothetischer Imperative prinzipiell nur dadurch zu erklären sind, dass die Person, welche sich ein Ziel setzt, im Akt dieser Zielsetzung als selbstgesetzgebende Instanz agiert. Nur wenn dies der Fall ist, sich das Ziel also als Resultat einer selbstgesetzgebenden und autonomen Tätigkeit verstehen lässt – als Ziel eines Wollens und nicht eines reinen Wünschens –, entwickelt das Ziel die Kraft, das normative Sollen der instrumentellen Vernunft zu konstituieren. „The instrumenZur Frage inwiefern in diesem Modell etwa Irrtümer von P oder ihre latenten Wünsche Auswirkungen auf den Begriff des Handlungsgrundes haben siehe den ersten Teil des für die gesamte Diskussion klassischen Artikels Internal and External Reasons von Bernard Williams (siehe Anm. 56). 78 Die Position von Anscombe nimmt in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 79 Vgl. Korsgaard, Skepticism about Practical Reason (wie Anm. 56), 58. Ich spreche hier bewusst von ,Humes Prinzip" und nicht von einem ,naturalistischen Fehlschluss". Zum Unterschied der beiden Grundsätze siehe William K. Frankena, The Naturalistic Fallacy, in: Mind 48/192 (1939), 464 – 477. 80 Korsgaard, The Normativity of Instrumental Reason (wie Anm. 23), 220. 77

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tal principle can only be normative if we take ourselves to be capable of giving laws to ourselves – or, in Kant!s own phrase, if we take our own wills to be legislative.“81 Hinter dieser These steht die Idee der Agentenschaft, welche bei McDowell fehlt: Zwar spielt auch bei Korsgaards Position die Kritik der humeschen Handlungstheorie eine wichtige Rolle, allerdings verzichtet sie im Gegensatz zu McDowell darauf, den Erwerb der angemessenen Motivation auf einen nicht-rationalen Prozess der Prägung (,moulding") zurückzuführen, sondern hält an dem für den kantischen Begriff der Verbindlichkeit zentralen Moment der Autonomie fest. Korsgaard zeigt, dass Normativität und Verbindlichkeit nur dann existiert, wenn eine Person sich selbst Ziele setzt und an deren Verwirklichung auch gegen äußere und innere Ablenkungen festhält. If I give in to each claim as it appears I will do nothing and I will not have a life. For to will an end is not just to cause it, or even to allow an impulse in me to operate as its cause, but, so to speak, to consciously pick up the reins, and make myself the cause of the end. And if I am to constitute myself as the cause of an end, then I must be able to distinguish between my causing the end and some desire or impulse that is "in me! causing my body to act. I must be able to see myself as something that is distinct from any of my particular, first-order, impulses and motives.82

Nur in der autonomen Selbstsetzung von Zielen – in dem Wollen eines Zwecks – und der bewussten Ergreifung der daraus resultierenden Mittel entstehen nach Korsgaard Normativität und Handlungsgründe und damit auch Verbindlichkeit. Genau deshalb behauptet sie auch, „that hypothetical imperatives cannot exist without categorical ones“.83 Korsgaard vertritt also die Ansicht, dass auch die Normativität der instrumentellen Vernunft auf der Selbstgesetzgebung autonomer Subjekte beruht. Damit aber verschwimmt die Differenz zwischen hypothetischer Imperative und der Verbindlichkeit moralischer Normen. Und tatsächlich behauptet Korsgaard auch, dass Kant selbst eine einheitliche Theorie der praktischen Vernunft besitzt. Ihrer Ansicht nach existiert kein kategorialer Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen. „Kant therefore has a unified account of practical rationality: to be guided by reason just is to be autonomous, to give laws to oneself.“84 Das Zwischenergebnis der hier stark verkürzt wiedergegebenen Argumentation von Korsgaard lautet daher, dass die Begriffe ,praktische Vernunft" und ,Rationalität" nur in Relation zu autonomen, d. h. selbstgegebenen Zwecken verstanden Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 58. Ebd., 59 (Hvhg. im Original). 83 Ebd., 58, 62 f. Später erklärt Korsgaard, dass sie der Ansicht ist, dass genau genommen gar keine hypothetischen, sondern ausschließlich kategorische Imperative existieren. Siehe dazu Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 221 Anm. 15 und 222 Anm. 17. 84 Korsgaard, The Constitution of Agency (wie Anm. 6), 58, 62 (Hvhg. im Original). 81

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werden können. Damit stellt ihr Ansatz nicht nur eine Alternative zu jenen Konzeptionen dar, für die die Kritik der Verbindlichkeit auf einer Reduktion des Rationalitätsbegriffs auf die instrumentelle Vernunft basiert, sondern auch zu McDowells Versuch, Verbindlichkeit ohne Bezugnahme auf einen starken Begriff der Rationalität und der Autonomie zu rekonstruieren. Andererseits wirft Korsgaards Argumentation jedoch auch schwerwiegende Fragen auf: Eine davon betrifft das Verhältnis von hypothetischen und kategorischen Imperativen. Wenn selbst die Normativität der instrumentellen Vernunft auf Autonomie basiert, worin besteht dann das Spezifikum moralischer Normen? Tatsächlich finden sich Stellen bei Korsgaard, die eine gänzliche Aufhebung der Differenz zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen zumindest nahelegen. So erklärt sie etwa, dass bereits der reine Willensakt eines ,heroischen Existenzialisten" einen unbedingten Handlungsgrund liefern könne – auch ohne, dass dieser eine moralische Konnotation besitze. I suppose that through some heroic existentialist act, one might just take one!s will at a certain moment to be normative, and commit oneself forever to the end selected at that moment, without thinking that the end is in any way good, and perhaps for no other reason than that some such commitment is essential if one is to have a will at all.85

Diese These ist eine Konsequenz der Annahme, dass die Normativität von Handlungsgründen, d. h. Rationalität, prinzipiell – also auch im Fall der Zweckrationalität – auf der Autonomie der Akteure basiert. Anders formuliert, wir können überhaupt nur dann den Begriff des Handlungssubjekts sinnvoll nutzen, wenn wir voraussetzen, dass eine willentliche – d. h. nicht rein willkürliche – Setzung von Zielen existiert, welche aufgrund ihrer Autonomie eine Normativität impliziert, die sich ihrerseits auf die Ergreifung der Mittel überträgt. Nur unter diesen Voraussetzungen lässt sich behaupten, dass ein Akteur die Mittel zu seinem Zweck ergreifen soll. Die zweite und entscheidende Frage lautet daher, ob die reine Autonomie, wie Kant behauptet, imstande ist, substantielle Handlungszwecke zu konstituieren. But if the argument shows that our unconditional principles must be laws of autonomy, then it brings us back home to the old Hegelian question: can any substantive requirements be derived from the mere fact of our autonomy? How much determinate content do the constitutive norms of autonomy have? And does this content coincide with, or include, morality?86

Anders formuliert: Kann die praktische Autonomie eines Akteurs substantielle Zielen generieren, welche die Möglichkeit des von Korsgaard erwähnten ,heroischen Existenzialisten" ausschließen? In diesem von Kant vertretenen und von 85 86

Ebd., 62 (Hvhg. im Original). Ebd., 66.

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Hegel bekanntlich ausgeschlossenen Fall87 hätte die ,Anwendung" von Autonomie substantielle und moralisch gehaltvolle Ziele zur Folge: Jede Person, die wirklich autonom handelt, würde notwendigerweise moralisch handeln. Diese für den Ansatz Korsgaards sehr wichtige Frage kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Festgehalten werden muss, dass Korsgaard mit ihrem Ansatz die für den Begriff der Verbindlichkeit entscheidende Frage stellt: Woher stammt die Normativität von Imperativen – gleichgültig, ob hypothetischer oder kategorischer Art? Ihre Antwort lautet: „Autonomy is the only possible source of intrinsic normativity, and so of obligation.“88 Auf den ersten Blick erscheint vor allem Korsgaards These, dass auch der hypothetische Imperativ auf einer autonomen Entscheidung des Agenten basiert, von Kants eigener Position abzuweichen. Korsgaard ist allerdings der Ansicht, dass sie auch damit Kants eigene Position rekonstruiert. Da dieser Frage hier nicht weiter nachgegangen werden kann, bleibt festzuhalten, dass Korsgaards Ansatz anhand einer instruktiven Verwendung des Begriffs der Handlungsgründe eine direkte Verbindung zwischen Autonomie und Verbindlichkeit herstellt, womit ihre Position der kantischen Auffassung von Verbindlichkeit in jedem Fall nähersteht als das Modell McDowells, welches den Begriff der Autonomie nicht in der gleichen Weise ins Zentrum stellen kann. Der Aufsatz behandelt die Rezeption von Kants Begriff der Verbindlichkeit in der modernen Moralphilosophie. Die Auswahl der Texte richtet sich neben ihrer Bedeutung auch danach, ob die Autoren ein an der Rezeption Kants ausgerichtetes eigenes Verständnis von Verbindlichkeit entwickeln. Im ersten Teil werden zunächst drei kritische Positionen dargestellt, um im zweiten Teil dann auf zwei affirmative Ansätze einzugehen. Der erste Teil beginnt mit einer Darstellung des Aufsatzes Modern Moral Philosophy von Elizabeth Anscombe. Anscombe verbindet ihre radikale Kritik an jeglicher Form moralischer Verbindlichkeit mit einem funktionalistischen Ansatz, der starken Einfluss auf die Entstehung neo-aristotelischer Ansätze in der Mitte des letzten Jahrhunderts hatte. Anschließend wird die Kritik von Philippa Foot in ihrem ebenfalls sehr einflussreichen Artikel Morality as a System of Hypothetical Imperatives aufgegriffen. Besonders interessant ist neben der von Foot formulierten Kritik vor allem die von ihr vorgeschlagene Rekonstruktion des Begriffs der Verbindlichkeit im Sinne intrinsischer Handlungsgründe. Im nächsten Schritt wird die sanktionstheoretische Position von Ernst Tugendhat vorgestellt, da dieser einer der wenigen deutschen Philosophen ist, die sich affirmativ auf Foot beziehen und eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem kantischen Verständnis von Verbindlichkeit liefern. Im vierten Schritt wird dann kurz Peter Stemmer erwähnt, der im Anschluss an Tugendhat einige bemerkenswerte Anmerkungen zum Begriff des moralischen „Müssens“ beisteuert. Im Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: Werke in 20 Bänden, red. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, Bd. 2, 434 – 530, hier 460 ff. 88 Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends (wie Anm. 6), 65. 87

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zweiten Teil wird als erstes McDowells Versuch vorgestellt, die Verbindlichkeit moralischer Normen im Rahmen seines ,Anti-anti-Realismus" zu verteidigen. Hervorzuheben ist hierbei besonders, dass McDowell Philippa Foots Skepsis gegenüber dem moralischen Rationalismus teilt und dennoch der Ansicht ist, dass sich die verbindliche Geltung moralischer Normen erklären lässt. Eine kurze Kritik an McDowell leitet anschließend über zur Philosophie Christine Korsgaards, welche durch ihre konstruktive Bezugnahme auf den Begriff der internen Handlungsgründe und der Autonomie den derzeit interessantesten Ansatz zur Rekonstruktion von Verbindlichkeit im kantischen Sinne liefert. The essay deals with the reception of Kant!s concept of „Verbindlichkeit“ ("obligation!, "binding force!) in modern moral philosophy. In the first part, three critical positions are presented, followed by two affirmative approaches in the second part. The first part begins with Elizabeth Anscombe!s essay Modern Moral Philosophy. Anscombe combines her radical criticism of moral obligation with a functionalist approach that had a strong influence on modern neo-aristotelian approaches. This is followed by Philippa Foot!s equally influential article Morality as a System of Hypothetical Imperatives. Besides her criticism of Kant, Foot!s reconstruction of the Kantian concept of obligation in the sense of intrinsic reasons for action is particularly interesting. In the next step, Ernst Tugendhat!s position is presented, since he is one of the few German philosophers who refer affirmatively to Foot and provide a detailed examination of the Kantian understanding of obligation. In the fourth step, Peter Stemmer is briefly mentioned, who, following Tugendhat, makes some interesting remarks on the concept of the „moral must“. In the second part, McDowell!s attempt to defend the binding force of moral norms is presented. What is particularly interesting about his method is that McDowell shares Foot!s scepticism about moral rationalism and yet believes that the binding force of moral considerations can be explained. A brief critique of McDowell then leads on to Christine Korsgaard!s philosophy, which provides one of the currently most interesting approaches of reconstructing the meaning of obligation in the Kantian sense. Dr. Daniel C. Henrich, Philosophisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, 55099 Mainz, E-Mail: [email protected]

K U R ZB IO GR A P HIE

Robert Sanderson (1587 – 1663)

Sanderson wurde nach julianischem Kalender am 19. September, nach dem heute gültigen gregorianischen Kalender am 29. September 1587 als jüngster Sohn von Robert (1540 – 1609) und Elizabeth Sanderson, geb. Carr (1554 – 1620), in Sheffield geboren und wuchs in Rotherdam auf. Er galt als Ausnahmetalent, das sich bereits in seiner Jugend der Theologie widmete. Mit 13 Jahren kam er in die Obhut des Hebraisten Richard Kilby (1560 – 1620), des neuen Rektors des Lincoln College und späteren Mitübersetzers der King James Bible, der Sanderson alsbald ebendort einführte und zu ihm ein enges freundschaftliches Verhältnis aufbaute. Am 1. Juli 1603 (grg. 11. Juli) wurde Sanderson an der Universität Oxford immatrikuliert, drei Jahre später, am 3. Mai (grg. 13. Mai) 1606 erhielt Sanderson den Bachelor of Arts, am 11. Juli (grg. 21. Juli) 1608 den Master of Arts. In den akademischen Jahren 1608 – 1610 wurde Sanderson Dozent für Logik am Lincoln College und 1613 – 1615 sowie 1616/17 Konrektor des College. 1611 erfolgte die Priester-

weihe. 1615 überarbeitete er seine Logik-Vorlesungen und veröffentlichte im selben Jahr das Logicæ artis compendium, von dem zeitgenössischen Angaben zufolge bis zu 10.000 Exemplare verkauft wurden. Darüber hinaus trat Sanderson auch in die juristische Praxis ein, als er am 10. April (grg. 20. April) 1616 für ein Jahr zum senior proctor der Universität gewählt wurde und in dieser Funktion die Universitätsgerichtsbarkeit sowie juristische Angelegenheiten der Universität nach außen vertrat. Bereits in dieser Tätigkeit trat eine bestimmte Verbindlichkeitsauffassung Sandersons zutage, wenn er straffällig gewordene Studierende nicht einer Haft- oder körperlichen Strafe zuzuführen, sondern ihnen nachdrücklich ins Gewissen zu reden versuchte. In das Jahr seines Prokurats fielen die Berufung des streitbaren Calvinisten John Prideaux (1578 – 1650) auf die königliche Stiftungsprofessur für Theologie (Regius Professor of Divinity) und die von schottischen Calvinisten beeinflusste Anordnung James! I., das Theologiestudium weniger an den Summisten als an den Partri-

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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Kurzbiographie

sten auszurichten. Nach Ende seines Prokurats erhielt Sanderson am 29. Mai (grg. 8. Juni) 1617 den Bachelor in Divinity sowie die Erlaubnis, als Universitätsprediger zu wirken. 1618 wurde Sanderson Rektor in Wyberton, gab diese Stellung jedoch wegen des seiner Gesundheit unzuträglichen Klimas wieder auf und wurde Pfarrer in Boothby Pagnell, wofür er am 6. Mai (grg. 16. Mai) 1619 alle seine Ämter am Lincoln College niederlegte. Diese Pfarrstelle behielt Sanderson neben seinen künftigen Ämtern über 40 Jahre lang, fertigte vor allem dort seine Schriften an und machte Boothby Pagnell damit zu einem intellektuellen Anziehungspunkt, an dem sich 1666/67 auch Isaac Newton aufhalten sollte. 1619 heiratete Sanderson Anne Nelson. Auf Betreiben des Bischofs von London William Laud (1573 – 1645) im November 1631 zum Kaplan Charles! I. ernannt, wurde Sanderson zunehmend zum geistlichen Berater des Königs. Diesen begleitete er im Mai 1636 an seine ehemalige Wirkungsstätte Oxford und wurde daraufhin am 31. August (grg. 10. September) 1636 zum Doctor of Divinity ernannt, u. a. gemeinsam mit M*ric, dem Sohn Isaac Casaubons. Nachdem sich die schottischen Presbyterianer 1639 zu den so genannten Convenanters zusammengeschlossen hatten und den König sowie den inzwischen zum Erzbischof von Canterbury aufgestiegenen William Laud erfolglos um deren Zustimmung zum Convenant Oath gebeten hatten, traten sie an Sanderson

mit der Bitte heran, in ihrem Sinne Änderungen am Gottesdienst vorzunehmen. Nachdem Sanderson mit einigen Kollegen fünf Monate lang beim Dekan von Westminster darüber beraten und behutsame Reformen am service book vorgenommen hatte, war die Lage in der englischen Kirche bereits so unübersichtlich geworden, dass seine Reformen praktisch nutzlos waren. Gleichwohl war dank seiner Vermittlungsbemühungen seine Reputation so gestiegen, dass beide Kammern des Long Parliament ihn zu ihrem Vertrauten wählten und er vom König in diesem Amt bestätigt wurde. Als John Prideaux 1642 zum Bischof von Worcester ernannt wurde, folgte Sanderson ihm als Regius Professor of Divinity nach. Im selben Jahr floh der König nach der gescheiterten Verhaftung John Pyms aus London nach Oxford. Dies mag der entscheidende Grund dafür gewesen sein, dass Sanderson 1643 die Einladung des Long Parliament, bei einem Theologenkongress die kirchlichen Kontroversen beizulegen, ausschlug und wie viele andere der Londoner Versammlung fernblieb. Als Sanderson im Oktober 1646 begann, in seiner neuen Funktion als Regius Professor Vorlesungen zu halten, war die erste hiervon De juramenti promissorii obligatione, in welcher er das Konzept einer „doppelten Notwendigkeit zu gehorchen“ entwickelte, nämlich „dem Willen des Königs und dem Ruf Gottes“ (ed. 1674, fol. 4Ar). Vor dem Hintergrund der politischen Stimmung ist es daher bemerkenswert, dass Sanderson diese Vorlesung noch

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1647 in London bei Pullen & Crook in Druck geben konnte (1655 erschien ebendort die vom König selbst in Auftrag gegebene und geprüfte Übersetzung ins Englische). Denn nicht zuletzt der Aufenthalt des Königs in Oxford veranlasste das Long Parliament 1647 schließlich dazu, ein Committee of Parliament for the Reformation of the University of Oxford einzusetzen, das der Universität die Zustimmung zum Convenant und Negative Oath abzuringen versuchte. Gegen diese einer Säuberung gleichkommenden Reformbemühungen versuchten 20 Vertreter der Universität Oxford vorzugehen und bezogen Opposition gegen die Mitglieder der aus protestantischen Parlamentariern und schottischen Presbyterianern bestehenden Solemn League and Convenant: Ihre Deklaration Reasons of the Present Judgement of the University of Oxford (1647), in der sie sich sowohl zur Treue gegen den König als auch zur anglikanischen Kirche bekannten, wurde von Sanderson ausgearbeitet und am 1. Juni 1647 (grg. 11. Juni) verabschiedet. In dieser Schrift analysierte Sanderson u. a. die Anforderungen des anheimgestellten Convenant Oath und begründete penibel, warum ihm und seinen Mitstreitern diesen Eid abzulegen in foro conscientiae unmöglich sei. Nicht zuletzt sein universitätspolitisches Handeln zeigt, dass Sanderson von seiner Gewissenstheorie nicht nur theoretisch überzeugt, sondern dieselbe auch praktisch konsequent umzusetzen bereit war und keine Repressalien in foro externo fürchtete. Im Gegenteil

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hielt Sanderson noch Vorlesungen über seine Gewissenstheorie, als die Universität bereits von der Parlamentsarmee besetzt war. Seine Bemühungen zum Schutz der Universität blieben gleichwohl erfolglos und Sanderson wurde im Juni 1648 von Joshua Hoyle (1588–1654) abgelöst, konnte aber die Inhaftierung umgehen. In seiner den Independenten opponierenden Haltung war es Sanderson insbesondere darum zu tun, dass sich die Gewissensverpflichtung nicht nur auf das Naturrecht, sondern auch auf das positive Recht erstrecke, „solange es rechtmäßig erlassen“ wurde (Jugdement concerning submission to usurpers, 12 f.) – eine Besonderheit, in der seine Gewissenstheorie diejenige des Jesuiten Francisco Su'rez aufnimmt und zugleich an das 18. und 19. Jahrhundert weiterreicht. Sandersons gewissensbasierte Theorie der Obligation führte ihn ferner zu der Überzeugung, dass Ungehorsam sich unmöglich auf einzelne Gesetze und Vorschriften beschränken kann, sondern immer auch den Ungehorsam gegenüber ihrem Geltungsgrund, der Autorität im Allgemeinen, bedeute. Sandersons Formulierung, dieser Ungehorsam bedrohe „alle Autorität“ (vgl. The life of Dr. Sanderson, 141), zeigt die Vehemenz seiner Kritik an den Revolutionären: Sie gelten ihm nicht nur als Usurpatoren, sondern als Gotteslästerer. In der 1649 ohne Angabe von Ort und Verlag veröffentlichten Resolution of conscience differenziert Sanderson indessen zwischen der Unterwerfung des Untertanen unter die Gewalt der Usurpatoren (d¼malir /

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force) und derjenigen unter ihre Autorität (enous¸a / autoritie): Ein abgezwungener Treueeid auf die Herrschaft der Usurpatoren ist einerseits mit Blick auf seinen Mangel des Freiheitsmoments nichtig; ihn andererseits vorgeblich doch zu leisten, ist als Akt der naturrechtlich gebotenen Selbstbehauptung (self-preservation) nicht nur erlaubt, sondern geboten, zumal wenn dadurch die Herrschaft der Usurpatoren unterwandert und der rechtmäßige Herrscher reinstalliert werden kann (A resolution of conscience, 4 f.). Nach seiner kurzzeitigen Inhaftierung zum Zwecke eines Gefangenenaustauschs zog sich Sanderson nach Boothby Pagnell zurück; in diese Lebensphase fällt der Großteil seiner kasuistischen Arbeit. Diese Zurückhaltung legte Sanderson 1656 ab, als er 21 zwischen 1631 und 1648 gehaltene Reden über die Bibel für den Druck vorbereitete und sie dabei vor allem mit einem energischen Vorwort versah, das die überstürzten und wiederholt erneuerten Reformbemühungen der so genannten „Anti-Ceremonians“ scharf kritisierte (gedruckt 1656). Als die Regierung ihm zunehmend das Gehalt kürzte, half ihm 1658 Robert Boyle mit 50 £ aus, als Zeichen seiner Anerkennung für De juramenti promisorii obligatione. Erst mit der Restauration unter Charles II. kehrte Sanderson 1660 in Amt und Würden zurück und veröffentlichte noch im selben Jahr seine Ten lectures on the obligation of humane conscience. Am 28. Oktober (grg. 7. November) 1660 wurde er zum Bischof von London geweiht

und wirkte in dieser Funktion an der Vervollständigung des Common Prayer mit, die u. a. auch den Dank für die Restauration Charles! II. enthielt. Nach langer Krankheit starb Sanderson am 29. Januar (grg. 8. Februar) 1662 in Bugden. Literatur in Auswahl: Logicæ artis compendium, Oxford 11615–121741; Two sermons: preached at tvvo severall visitations, at Boston, in the diocesse and country of Lincolne, London 1622; Ten sermons, London 1627; Two sermons preached at Paules-Crosse London, London 1628; Twelve sermons, London 1632, 1637; Two sermons, London 1635; A soveraigne antidote against sabbatarian errours. Or, A decision of the chiefe doubts and difficulties touching the Sabbath, London 1636; De juramenti promissorii obligatione prælectiones septem, London 1 1647–101716; Reasons of the present judgement of the Vniversity of Oxford, s. l., 1647; Judicium Vniversitatis Oxoniensis, s. l. 1648; A resolution of conscience, s. l. 1649; A defence, by Antony Ascham, of his: A discourse: wherein is examined, what is particularly lawfull during the confusions and revolutions of government. – A reply to „A resolution of conscience“ by Robert Sanderson, London 1650; A sermon preached at Newport in the Isle of Wight, October, 1648, London 1653; De juramento, read publicly in the divinity school of Oxford by Robert Sanderson; translated into English by His Late Majesties speciall command and afterwards revised and approved under His Majesties own hand, London

Kurzbiographie

1655; Twenty sermons, London 1656; Fourteen sermons heretofore preached, London 1657; XXXIIII sermons, London 1657; De obligatione conscientiæ prælectiones decem, London 1660, 1670, Köthen 1674, London 1676, 1682, 1686, 1710, 1719; Reasons of the present judgement of the University of Oxford, London 1660; Several cases of conscience, London 1660; Ten lectures on the obligation of humane conscience, London 1660; Twenty sermons, London 1660; Episcopacy as established by law in England not prejudicial to regal power, written in the time of the Long Parliament by the special command of the late King, London 1 1661–41683; The power communicated by God to the prince, and the obedience required of the subject, by the most reverend father in God, James late Lord Archbishop of Armagh and primate of all Ireland ; faithfully published out of the original copy, written with his own hand, by the reverend father in God, Robert Lord Bishop of Lincoln, with his Lordships preface thereunto, London 11661–41710; Articles of visitation and enquiry concerning matters ecclesiastical, London 1662; Reason and judgement, or, Special remarques of the life of the renowned Dr. Sanderson, late Lord Bishop of Lincoln, Oxford 1663; XIV sermons, London 1664; XXXIV sermons, London 11664–31674; Five cases of conscience, London 1666, 1667; Two cases of conscience, London 1668; Ad clerum. A sermon preached at a visitation holden at Grantham, Oxford 1670; XXI sermons, London 11671–31681;

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Judicium Universitatis Oxoniensis, London 11671–51719; Physicæ scientiæ compendium, Oxford 1671; Logicæ et physicæ artis compendium , Oxford 1672; Eight cases of conscience, London 1674; Bishop Sanderson!s Jugdement concerning submission to usurpers, London 1678; Izaak Walton, The life of Dr. Sanderson, late Bishop of Lincoln, London 1678; Nine cases of conscience, London 1678, 1685; XXXV sermons, London 1681; XXXVI sermons, London 1686, 1689; A discourse concerning the church in these following particulars, London 1688; Casus Conscientiæ (sive questiones practicæ), Cambridge 1688; Physicae scientiae compendium, Oxford 1690; A discourse concerning the nature and obligation of oaths. Wherein all the cases which have any relation to oaths enjoyned by governments, are briefly considered, London 1716; A preservative against Schism and rebellion, in the most trying times, London 1722; The nature and obligation of oaths explained: or, a preservative against perjury, Popery, treason, and rebellion. Being, a course of lectures read in the DivinitySchool, at Oxford, in the year 1646, Dublin 1755; Izaak Walton, The lives of Dr. John Donne; Sir Henry Wotton; Mr. Richard Hooker; Mr. George Herbert; and Dr. Robert Sanderson, York 1796, London 1850; Works, ed. by William Jacobson, 6 vols., Oxford 1854; Izaak Walton, The lives of John Donne, Sir Henry Wotton, Richard Hooker, George Herbert and Robert Sanderson, with an Intr. and Notes

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Kurzbiographie

by S. B. Carter, London 1951; Izaak Walton, The lives of John Donne, Sir Henry Wotton, Richard Hooker, George Herbert and Robert Sanderson, London 1956, 1962. Kelly Kevin, A Thomistic appraisal of the concept of conscience and its place in moral theology in the writings of bishop Robert Sanderson and other early English protestant moralists, London u. a. 1967, Peter G. Lake, Serving God and the Times: The Calvinist Conformity of Robert Sanderson, in: Journal of British Studies 27,2 (1988), 81 – 116; Ricardo Pozzo, Ramismus, Semiramismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992), 15 – 17; Stephan Meier-Oeser, Subtilität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), 563 – 567; Riccardo Pozzo, Tobias Trappe, Ulrich Schödlbauer, Thema, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), 1059–1065, Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg 1999, Michael Hunter, Robert Boyle, 1627–1691. Scrupulo-

sity and Science, Woodbridge 2000, 61 – 100; Gerald Hartung, Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit, in: Die Ordnung der Praxis, hg. von Frank Grunert und Kurt Seelmann, Tübingen 2001, 381 – 402; Terence Irwin, The Development of Ethics. A Historical and Critical Study, vol. 2: From Su'rez to Rousseau, Oxford, New York 2008, 270 – 273; Edward Vallance, The Dangers of Prudence: Salus Populi Suprema Lex, Robert Sanderson, and the "Case of the Liturgy!, in: The Renaissance Conscience, ed. by Harald E. Braun and Edward Vallance, Oxford 2009, 100 – 117; Dennis R. Klinck, Conscience, Equity and the Court of Chancery in Early Modern England, London, New York, 2010, 2016, passim; Mika Ojakangas, The Voice of Conscience: A Political Genealogy of Western Ethical Experience, New York u. a. 2013, 30, 64, 106, 180 f. Oliver Bach

D ISKU SS IO N

Frank Grunert, Knud Haakonssen, Diethelm Klippel Natural Law 1625–1850. An International Research Network

I. Naturrecht in der akademischen Lehre Angesichts der großen, international kaum zu überblickenden Anzahl von zum Teil sehr gewichtigen Einzelstudien ist auf den ersten Blick der Eindruck plausibel, dass das Naturrecht von der Antike bis hin zu den jüngsten Erneuerungsbemühungen gut untersucht und daher als ein Forschungsdesiderat grosso modo erledigt ist. Dies scheint allgemein und erst recht für das frühmoderne Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts zu gelten. Ein genauerer und historisch informierter Blick belehrt indes eines Besseren: Zwar gibt es Vieles zu Vielem, dennoch sind Einzelheiten, Kontexte und Funktionen, d. h. Theorieentwicklungen, thematische Schwerpunkte, theoretische Rezeptionen und – im weiten Sinne – politische Wirkungen alles andere als hinreichend erforscht. Dies liegt einerseits an der kaum zu überblickenden Breite des Diskurses1 und andererseits zweifellos auch daran, dass das Naturrecht kein in sich geschlossenes theoretisches Phänomen darstellt. Es handelt sich eher um eine sich entwickelnde faktisch ubiquitäre Diskursformation, die jenseits des positiven Rechts im Rekurs auf einen unterschiedlich interpretierten Begriff von (menschlicher) Natur universale Normen zu begründen sucht und dabei historisch sich wandelnden theoretischen wie praktischen Ansprüchen ausgesetzt ist. Die Vielfalt, ja Widersprüchlichkeit der Naturrechte macht es unmöglich, in einem inhaltlichen Sinn von dem einen Naturrecht zu sprechen. Seine spezifische Identität erhält das frühmoderne Naturrecht nicht durch die Kohärenz einer Theorie, sondern durch im weiteren Sinne pragmatische Momente: d. h. durch ihren grundsätzlichen normativen Anspruch – wie auch immer dieser inhaltlich ausgefüllt und theoretisch begründet wird – sowie – formell und eher von außen – durch seine diskursive Institutionalisierung: Naturrecht formiert sich – nicht nur, aber vorwiegend – als eine akademische (Sub-)Disziplin, die mit ihrem akademischen Auftrag, alle institutionellen und literarischen Mittel schafft, um eine eigene Tradition und – im Kontakt mit anderen Fächern und politischen Institutionen – eine eigene Wirksamkeit zu erzielen. Naturrecht wird im ausgehenden 17. und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein an fast allen Hochschulen und Universitäten gelehrt, es schafft sich Vgl. die dreibändige Bibliographie, die Christian Friedrich Georg Meister in den Jahren 1749 bis 1757 vorgelegt hatte: Bibliotheca iuris naturae et gentium, Ps. I–III, Göttingen 1749–1757, sowie Diethelm Klippel, Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie 1780–1850, Tübingen 2012. 1

Aufkl%rung 30 · # Felix Meiner Verlag 2018 · ISSN 0178-7128

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eine eigene Geschichte mit einem eigenen Kanon von Werken und Autoritäten und erreicht aufgrund der akademisch organisierten Rezeptionsbedingungen eine kaum zu überschätzende theoretische und praktische Wirksamkeit – und dies nicht nur in den bekannten deutschen Zentren der Naturrechtsdiskussion, sondern praktisch international.2

II. Das Programm Weil die genauen Zusammenhänge dieses ungewöhnlich breiten (akademischen) Diskurses trotz vereinzelter Anstrengungen noch immer faktisch unbekannt sind und die Erforschung des Naturrechts als eines mindestens europäischen Phänomens sinnvollerweise nur mit der Hilfe einer umfassenden europäischen Kooperation möglich ist, haben die Verfasser ein europäisches Forschungsnetzwerk gegründet, das institutionell vom Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung getragen wird: Natural Law 1625–1850. An international Research Project (https://www.uni-erfurt.de/max-weber-kolleg/forschungs-gruppenund-stellen/forschungsstellen/natural-law-project). Das Netzwerk hat im Augenblick 60 Mitglieder, die in 19 europäischen und außereuropäischen Nationen aktiv mit der Erforschung des frühmodernen Naturrechts befasst sind. Es verfolgt den Anspruch zwei für dringlich erachtete Desiderate zu bedienen: Zum einen will es – nicht zuletzt mit Hilfe seiner Website (s. o.) – eine Plattform für unterschiedliche, das Naturrecht betreffende Forschungsinitiativen bieten, um durch die damit mögliche Bündelung internationaler Forschungen zum Naturrecht dessen Intensivierung und Dynamisierung zu fördern. Und zum anderen will das Netzwerk die inhaltliche Aufarbeitung und die materielle Erschließung bzw. die Präsentation der akademischen Traditionen des Naturrechts in den einzelnen maßgeblichen Bildungseinrichtungen erreichen. Es konzentriert sich hierbei auf den in seinem Titel genannten Zeitraum: 1625 erscheint in Paris De iure belli ac pacis des Niederländers Hugo Grotius, ein Werk, das in der Wahrnehmung der nachgrotianischen Naturrechtler die entscheidende Zäsur in der Geschichte des Naturrechts markiert und lange Zeit der diskursprägende Referenztext für die weitere Ausarbeitung und Transformation des Naturrechts sein sollte.3 Und um 1850 ist – nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnisse – die Umwandlung des Naturrechts in Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre insgesamt vollzogen. Die zeitliche Terminierung des Untersuchungszeitraums ist ungeachtet ihrer provozierenden Striktheit tatsächlich durchlässiger, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Denn es ist in der historischen Perspektive inzwischen klar, dass Grotius seinen spätscholastischen Vorläufern mehr verdankt, als er selbst zugeben will,4 und dass es gerade im Kontext der protestantischen Diskussion im 16. Jahrhundert bereits ein „Naturrecht vor dem NaVgl. Knud Haakonssen, Enlightenment and the ubiquity of natural law, in: Wolfgang Schmale (Hg.), Time in the Age of Enlightenment (13th International Congress for Eighteenth-Century Studies), Bochum 2012, 45–57. 3 Vgl. Frank Grunert, Von der Morgenröte zum hellen Tag. Zur Rezeption von Hugo Grotius! „De iure belli ac pacis“ in der deutschen Frühaufklärung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 25 (2003), 125–137. 4 Vgl. etwa Dominik Recknagel, Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spannung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Su'rez und Hugo Grotius, Frankfurt am Main 2010. 2

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turrecht“5 gegeben hat. Und ob das für die Rechtswissenschaft für die Zeit um 1850 konstatierbare „Ende“ des Naturrechts auch für die Philosophie gilt, und ob und wann eine Erneuerung naturrechtlichen Denkens nach dessen Ende – auch innerhalb der Jurisprudenz – zu beobachten ist, müssen die im Einzelnen anzustellenden Forschungen des Netzwerkes erst noch ergeben. Die Mitglieder des Netzwerkes gehen bei ihren Forschungen von den folgenden Überlegungen aus: Das nicht nur in Europa verbreitete nachgrotianische, moderne Naturrecht war keine begrenzte normative Theorie, sondern stellte tatsächlich das geläufigste „Idiom“ des moralischen und politischen Denkens während des 17. und 18. Jahrhunderts dar, das – wie inzwischen gezeigt werden konnte – auch im 19. Jahrhundert einflussreich blieb.6 Naturrecht war in dem gewählten Zeitraum die „Sprache“, mit deren Hilfe Erkenntnisse auf grundlegenden Gebieten der Philosophie, der Jurisprudenz und der erst später sich formierenden sozialen Wissenschaften hervorgebracht und formuliert wurden. Als komplexes theoretisches und praktisches Diskursphänomen fungierte das Naturrecht einerseits als ein Theorie-Katalysator mit einer ungewöhnlichen Reichweite und andererseits in der juristischen Praxis als eine subsidiär geltende Rechtsquelle.7 Sein theoretischer wie praktischer Stellenwert führte zu seiner allgemeinen, politisch für erforderlich gehaltenen und daher intensiv betriebenen Verbreitung: Naturrecht wurde zu einem praktisch an allen Universitäten und Hohen Schulen gelehrten Unterrichtsfach, das anthropologische, politische, normative und selbst erkenntnistheoretische Grundlagen vermittelte und so weitere theoretische wie praktische Innovationen initiierte. Weil dem Naturrecht als Lehrfach eine für unterschiedliche Disziplinen grundlegende Funktion zukam, liegt die Notwendigkeit auf der Hand, die Genese und die Transformationen, die Vernetzungen und die Wirkungen des Naturrechts als Lehrfach zu untersuchen. Die Fokussierung auf die akademische Tradierung des Naturrechts bedeutet eine Abkehr von den üblichen Standards der bisherigen Naturrechtsforschung: Bisher konzentrierte sich die Forschung in einem vorwiegend ideengeschichtlichen Zugriff auf die großen diskursprägenden Autoren (Grotius, Pufendorf, Thomasius, Wolff, Kant).8 UnberückMerio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999. 6 Vgl. grundlegend: Diethelm Klippel, Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung, Goldbach 1997. 7 Vgl. dazu die materialreiche Studie von Thomas Kischkel, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät. Grundlagen, Verlauf, Inhalt, Hildesheim, Zürich, New York 2016, v. a. 335–385. Siehe auch Jan Schröder, Naturrecht in den Konsilien von Wolfgang Adam Schöpf, in: Jens Eisfeld u. a. (Hg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit, Tübingen 2013, 101–112. 8 Vgl. etwa Hans-Peter Schneider, Justitia universalis. Quellenstudien zur Geschichte des ,christlichen Naturrechts" bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt am Main 1967; Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim 1971; Horst Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der praktischen Philosophie, München 1972; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin, New York 1984; Fiammetta Palladini, Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes: per una reinterpretazione del giusnaturalismo moderno, Bologna 1990; B*n*dict Winiger, Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs, Berlin 1992; Thomas Behme, Samuel Pufendorf: Naturrecht und Staat, Göttingen 1995; Kari Saastamoinen, The Morality of the Fallen Man. Samuel Pufendorf on Natural Law, Helsinki 1995; Knud Haakonssen, 5

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sichtigt und daher in ihrer Wirkung unterschätzt blieb hingegen die Tradition der universitären Naturrechtslehre,9 die sich zwar an den Leistungen der einflussreichen Autoren orientierte, tatsächlich aber in der Differenzierung des theoretischen Materials und entlang konkreter praktischer Problemstellungen sowie in der Konkurrenz der Konzepte zueinander nicht selten eigene und – durch seinen unmittelbaren Adressatenbezug – auch wirkungsmächtige Wege ging. So geht aus der bereits geleisteten Forschung des Netzwerkes schon jetzt deutlich hervor, dass den die Lehrtraditionen tragenden Autoren der zweiten, wenn nicht gar der dritten Reihe eine entscheidende Funktion in der Vermittlung und Entwicklung des Naturrechts in Europa zukam. Indem das Netzwerk die akademischen Traditionen des Naturrechts zum Thema seiner Arbeit macht, zielt es auf eine umfassende Rekonstruktion und Analyse der Entwicklung und Wirkmächtigkeit des Naturrechts im Europa der Zeit zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert. Dabei werden neben den im Prinzip bereits bekannten Texten der „Klassiker“ der Naturrechtslehre ganze, bisher nicht oder nur unzureichend berücksichtigte Quellengattungen in den Blick genommen: zu denken ist dabei an Vorlesungsverzeichnisse, -ankündigungen und -kompendien sowie Vorlesungsmitschriften, Dissertationen, Disputationen, Zeitschriftenartikel und weiteres ephemeres, zumeist anlassgebundenes Schrifttum. Berücksichtigt werden dabei idealiter nicht nur die Werke der üblicherweise für einschlägig erachteten Autoren, sondern auch die Arbeiten des gesamten – häufig kaum noch namentlich bekannten – Personals, dass mit der Naturrechtslehre an den verschiedenen Universitäten und Hohen Schulen befasst war. Im Ausgang von den einzelnen lokalen und regionalen Gegebenheiten und Traditionen geht es schließlich um die Rekonstruktion eines – wie sich abzeichnet – vielfältigen und über lange Zeit ausgesprochen lebendigen Beziehungsgeflechtes einer theoretischen Formation, die in ganz Europa einflussreich war. Von der wissenschaftlichen Erschließung und Aufarbeitung dieser Texte dürfen wichtige Aufschlüsse über die Formierung, Entwicklung und Wirkung des Naturrechts als der grundlegenden „Sprache“ der frühmodernen sozialen Wissenschaften und

Natural law and Moral Philosophy, Cambridge 1996; Frank Grunert, Normbegründung und politische Legitimation, Tübingen 2000; Timothy Hochstrasser, Natural law theories in the early enlightenment, Cambridge 2000; Martin Kühnel, Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger, Berlin 2001; Peter Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius, Berlin 2001; KlausGerd Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Thomas Ahnert, Religion and the Origins oft he German Enlightenment. Faith and the Reform of Learning in the Thought of Christian Thomasius, Rochester 2006; Ian Hunter, The Secularisation of the Confessional State. The Political Thought of Christian Thomasius, Cambridge 2007. 9 Die Berücksichtigung der universitären Naturrechtslehre ist in der Vergangenheit verschiedentlich als ein Desiderat beschrieben worden. Die ersten in diese Richtung unternommenen Schritte haben zeigen können, dass „das Grotianisch-Pufendorfische Naturrecht […] auch noch im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine erheblich größere Rolle [gespielt hat,] als bisher angenommen“, und dass der „deutsche Naturrechtsunterricht im 18. Jahrhundert […] wahrscheinlich von Höpfner, Achenwall und Darjes stärker geprägt worden [ist] als von Thomasius, Wolff und Kant“ (Jan Schröder, Ines Pielemeier, Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Otto Dann, Diethelm Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, Hamburg 1995, 255–269, hier 268 f.).

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der sie begleitenden Praxis erwartet werden. Es liegt auf der Hand, dass damit weitere Forschungsinitiativen angestoßen werden können.

III. Arbeitsweise und Datenbank Für die in einzelnen Projekten zu leistende Erschließung und Aufarbeitung des akademisch entwickelten und tradierten Naturrechts haben sich die Mitglieder des Netzwerks auf ein einheitliches, die Vergleichbarkeit ihrer Resultate gewährleistendes Verfahren geeinigt. Dabei stellt das wichtigste Instrument für die Präsentation der vom Netzwerk geleisteten Quellenerschließungen eine über das Internet zugängliche Datenbank dar, die allerdings im Einzelnen erst noch entwickelt und dann freigeschaltet werden muss. Ihre Funktion lässt sich freilich schon jetzt beschreiben. Den Ausgangspunkt für die Identifizierung und Erhebung des relevanten Materials bilden Vorlesungs- und Personalverzeichnisse der zu untersuchenden Universitäten aus dem gesamten Untersuchungszeitraum, die sowohl hinsichtlich des Personals als auch der be-

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handelten Lehren Zugang zum gelehrten, zumindest aber zum angekündigten Naturrecht bieten.10 Nach der Identifizierung und Klassifizierung von Lehrern und Lehren wird dann das mit der Lehre verbundene Schrifttum gesammelt, auf seine tatsächliche Relevanz geprüft und in den Pool des zu bearbeitenden Materials aufgenommen. Die Menge des vorhandenen Materials dürfte je nach Intensität, mit der sich die jeweilige Universität am Naturrechtsdiskurs beteiligte, stark differieren. Um die Quellen bei naturrechtsintensiven Lehranstalten handhabbar zu halten, werden nur Quellen berücksichtigt, die sich entweder durch ihren Titel als Werke des Naturrechts bzw. der Rechtsphilosophie zu erkennen geben, oder theoretischen Gebieten zugehörig sind, die substanziell und nachweisbar mit dem Naturrecht in einer konstitutiven Beziehung stehen. Der ermittelte Bestand wird mit denjenigen Digitalisaten abgeglichen, die im Netz bereits zugänglich sind. Von der projekteigenen Datenbank kann der spätere Nutzer mit Hilfe festinstallierter Links auf diese Digitalisate zugreifen. Berücksichtigt werden nur Digitalisate, die Teil eines offiziellen und damit Zuverlässigkeit garantierenden Digitalisierungsprogramms sind. Weil zu erwarten ist, dass die großangelegten Digitalisierungsprogramme schließlich alle Druckschriften des Untersuchungszeitraums erfassen werden, beschränken sich zusätzliche, vom Netzwerk in Auftrag gegebene Digitalisierungen in der Regel auf Handschriften oder Vorlesungsübersichten, die nicht Gegenstand der Programme sind. Die handschriftlich überlieferte und bereits aufgefundene Naturrechtsvorlesung von Christoph August Heumann – Eisenach 171311 – wäre hierfür ebenso ein Beispiel wie die bisher ebenfalls völlig unbekannte und erst unlängst in der Schweiz entdeckte Reinschrift einer von Christian Wolff in Marburg und in Halle gehaltenen Vorlesung über Grotius" De iure belli ac pacis.12 Die ausgewählten Quellen sollen in einem zweiten Schritt anhand eines für das gesamte Projekt einheitlichen Merkmalkatalogs erschlossen, in elementarer Form kommentiert und in den bestehenden Naturrechtsdiskurs eingeordnet werden. Dabei geht es um die Erfassung von Merkmalen, die zur Ermöglichung des angestrebten (internationalen) Vergleichs für alle Projekte verbindlich sind. Die erarbeiteten Kommentierungen werden in eine Datenbank aufgenommen und mit den digitalisierten Texten verlinkt. Mit der projektierten Datenbank soll ein nicht nur für die Naturrechtsforschung wichtiges online abrufbares Forschungsinstrument geschaffen werden, indem die in der Datenbank gesammelten Texte durch persistente Verlinkungen mittels der netzwerkeigenen Internetseite digital zur Verfügung gestellt und damit ortsunabhängig zugänglich gemacht werden. Die auf dieser Basis zu leistende eigentliche inhaltliche Erforschung der an den jeweiligen Standorten entwickelten Naturrechtslehren geschieht sowohl innerhalb der dafür vorgesehenen und betriebenen Einzelprojekte als auch im komparativen Austausch der Siehe zum Quellenwert von Vorlesungsverzeichnissen die Studien von Jens Bruning, Vorlesungsverzeichnisse, in: Ulrich Rasche (Hg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2011, 269–292 sowie Jan Schröder, Vorlesungsverzeichnisse als rechtsgeschichtliche Quelle, in: Michael Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, München 1991, 383–401. 11 Eine erste Beschreibung des Manuskripts findet sich in Martin Mulsow, Heumanns Eisenacher Naturrechts-Kolleg von 17013. Eine vorläufige Skizze, in: ders., Kasper Risbjerg Eskildsen, Helmut Zedelmaier (Hg.), Christoph August Heumann (1681–1764). Gelehrte Praxis zwischen christlichem Humanismus und Aufklärung, Stuttgart 2017, 127–140. 12 Vgl. Frank Grunert, B*la Kapossy, Christian Wolff!s Lectures of Grotius!s De Iure Belli ac Pacis from 1739–1740, in: Grotiana 38 (2017), 229–233. 10

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Netzwerkmitglieder untereinander. Die erarbeitete Datenbank bietet hierfür eine Grundlage und die turnusgemäß jährlich stattfindenden Tagungen das für den Austausch vorgesehene Forum. Gefragt wird bei den zum Teil bereits durchgeführten und den anstehenden Untersuchungen nicht allein nach – im engeren Sinn – ideengeschichtlichen Sachverhalten, sondern auch nach den politischen und institutionengeschichtlichen Rahmungen der an den Universitäten betriebenen Naturrechtslehre. Dies impliziert Fragen nach der Fachzugehörigkeit des Naturrechts (Jurisprudenz oder Philosophie), seiner administrativen Instituierung, der mit ihm verfolgten politischen Interessen sowie nach seinen praktischen juristischen und politischen Funktionen und Wirkungen. Die Perspektive zielt hier auf die Rekonstruktion eines die Differenzen und Gemeinsamkeiten benennenden Gesamtbildes des europäischen Naturrechts hinsichtlich seines Inhalts, seiner Entwicklungen und seiner Wirkungen.

IV. Erste Ergebnisse Die bisher vom Netzwerk und seinen Mitgliedern unternommenen, bereits gedruckten oder für den Druck vorbereiteten Forschungen haben schon zu einem frühen Zeitpunkt zu neuen Einsichten geführt und bisweilen sogar für Überraschungen gesorgt. Diese reichen etwa von Untersuchungen zur Naturrechtslehre von Johann Gottlieb Heineccius, deren Inhalt und deren ungewöhnlich breite, ganz Europa und sogar noch Südamerika einbeziehende Rezeption erstmals ausführlich analysiert wurden,13 über die von Merio Scattola vorgelegte Studie zu italienischen Versuchen, die Methode und Systematik des protestantischen Naturrechts mit katholischen Inhalten zu versehen,14 bis hin zu aufschlussreichen Erhebungen, die einzelne Universitäten betreffen und geeignet sind, entweder völlig unbekanntes Gelände erstmals zu kartieren oder bisherige Annahmen auf eine neue Datenbasis zu stellen. Dass die Friederichs-Universität in Halle mit schulbildenden Autoren wie Christian Thomasius und Christian Wolff zu denjenigen Universitäten gehörte, an denen die Naturrechtslehre besonders prominent vertreten war, lag und liegt im Horizont der Erwartungen, doch gingen die von Dominik Recknagel auf der Grundlage der Lektionskataloge der Universität Halle15 ermittelten Einzelheiten weit darüber hinaus.16 Bereits mit der Gründung der Universität im Jahr 1694 setzt die Naturrechtslehre mit gleich vier ihr geVgl. Frank Grunert, Knud Haakonssen, Love as the Principle of Natural Law. The Natural Law Theory of Johann Gottlieb Heineccius and its Contexts, Leiden 2019 [in Vorbereitung]. 14 Merio Scattola, Luigi Taparelli d!Azeglio und die Begründung des katholischen Naturrechts, in: ders., Prinzip und Prinzipienfrage in der Entwicklung des Naturrechts. – The question of principles and the development of modern natural law, hg. von Andreas Wagner, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 183–238. 15 Codex Lectionum Annuarum in Regia FRIDERICIANA Halensi habitarum ab Academiae Inauguratione MDCXCIV. usque ad annum praesentem, magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caesar. Iur. et Academiae Halens. Ministro [und weitere]. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, UB 3885c, 28. 16 Vgl. zum Folgenden Dominik Recknagel, Naturrecht in der Lehre. Naturrechtliche Vorlesungen an der Friedrichs-Universität zu Halle bis zum Jahr 1850, in: ders., Sabine Wöller (Hg.), „Vernunft, du weißt allein, was meine Pflichten sind!“ Naturrechtslehre in Halle, Halle (Saale) 2013, 9–19. 13

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widmeten Vorlesungen ein. Sie wurden von den Juristen Heinrich Bode, Johann Georg Simon, Johann Samuel Stryk und dem Philosophen Johann Franz Budde gehalten. Damit sind vier von elf Professoren, über die die beiden Fakultäten insgesamt verfügen, u. a. mit dem Naturrecht in der Lehre befasst. Dieser vergleichsweise fulminante Start findet in den darauffolgenden Jahrzehnten seine Fortsetzung: Im Laufe der folgenden 156 Jahren, nämlich im Zeitraum zwischen 1694 und 1850, summiert sich die Anzahl der Naturrechtsvorlesungen auf 1.155 Lehrveranstaltungen, die von insgesamt 84 Hochschullehrern abgehalten werden. Bis zum Jahre 1826 wurden immer mindestens fünf Vorlesungen, 1796 sogar mehr als 20 und 1705 schon einmal mehr als 15 Einzelveranstaltungen angeboten. Die gemessen an der Anzahl ihrer dem Naturrecht gewidmeten Lehrveranstaltungen fünf aktivsten Naturrechtslehrer waren in der Reihenfolge – Johann Christoph Hoffbauer, der Wolff-Schüler Daniel Nettel-bladt, der Thomasius-Schüler Jakob Gabriel Wolf, der Kantianer Johann Heinrich Tieftrunk und der Thomasius-Schüler Johann Friedemann Schneider. Und die Top 5 der zu Grunde gelegten Lehrbücher stammten von Pufendorf, Nettelbladt, Hoffbauer, Grotius und Jakob Gabriel Wolf – interessanterweise nicht von Thomasius. Gelesen wurde übrigens sowohl in der juristischen als auch in der philosophischen Fakultät, wobei die juristische Fakultät lange Zeit die Oberhand hatte. Angesichts dieser Datenlage ist nur schwer vorstellbar, dass es in Halle unter den angehenden Juristen und Philosophen irgendjemandem gelungen sein sollte, sich dem Naturrecht zu entziehen. Entsprechend darf wohl mit Fug vermutet werden, dass die über eineinhalb Jahrhunderte andauernde massive Präsenz des Naturrechts in Halle bei seinen Rezipienten weitreichende, nicht zuletzt mentalitätsbildende Wirkungen erzielt hat. In einer Studie zu den Universitäten Würzburg und Bamberg widmeten sich Katharina Beiergrößlein, Iris von Dorn und Diethelm Klippel der bisher noch unberücksichtigten Naturrechtslehre an katholischen Universitäten.17 Weil das frühmoderne Naturrecht faktisch ein protestantisches Phänomen war, stellt sich die Frage, wie an Universitäten in katholischen Territorien mit dem Naturrecht umgegangen wurde. Beiergrößlein, von Dorn und Klippel konnten zeigen, dass die Initiative zur Etablierung des Naturrechts als Fach innerhalb der Jurisprudenz sowohl in Würzburg als auch in Bamberg auf die Hochschulreformen des Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn zurückgingen, der vor allem im Hinblick auf das ius publicum Wert darauf legte, dass das Natur- und Völkerrecht in den Lehrkanon beider Universitäten aufgenommen wurde. Seine Nachfolger schätzten das Naturrecht als ein allgemeines Grundlagenfach der Rechtswissenschaft und werteten es insofern auf, als sie in der Prüfungsordnung festlegten, dass Kandidaten der Jurisprudenz sich im Natur- und Völkerrecht obligatorisch prüfen lassen müssen. Als Textgrundlage wurden vornehmlich die Lehrbücher protestantischer Autoren – wie Heineccius, Höpfner und später Hoffbauer – zu Grunde gelegt, wobei dies – wie ausdrücklich festgestellt wird – nicht bedeutet, dass auch protestantische Inhalte adaptiert würden. Die Kommentierung im Vorlesungsbetrieb ließ bei aller Wertschätzung von Methode und Systematik des „modernen“ protestantischen Naturrechts hinreichend Raum für kirchenpolitische Distanzierungen.18 Gegen die von der Schulkommission empfohlene Verwendung des Naturrechts von Joachim Georg Darjes, konnte sich der in Bamberg lehrende Ordinarius der Institutiones, Johann Georg Engelhart, mit Verweis auf Darjes! „böse Grundsätze“ im jus ec-cleKatharina Beiergrößlein, Iris von Dorn, Diethelm Klippel, Das Naturrecht an den Universitäten Würzburg und Bamberg im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 35 (2013), 172–192. 18 Vgl. ebd., 190. 17

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siasticum naturale erfolgreich zu Wehr setzen. Ihm wurde schließlich erlaubt, weiterhin nach dem Ius naturae des offenbar unproblematischeren Lutheraners Samuel Pufendorf zu lehren.19 Die Attraktivität des (protestantischen) Naturrechts für katholische Universitäten bestand im Übrigen in den typischen Funktionen, die das Naturrecht im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert überwiegend erfüllte: Es war als Grundlagenfach der Jurisprudenz etabliert, lieferte zumeist eine politische Theorie des absolutistischen, auf die Glückseligkeit seiner Untertanen zielenden Fürstenstaats, bot eine Gesetzgebungslehre und galt als allgemein akzeptierte, subsidiär geltende Rechtsquelle. Abgesehen von diesen unmittelbar zeitgemäßen Funktionen des protestantischen Naturrechts, war dessen Kenntnis für geistliche Territorien nicht zuletzt deswegen wichtig, weil es ihnen die Möglichkeit verschaffte, in politischen und insbesondere kirchenrechtlichen Auseinandersetzungen im Alten Reich auf der Höhe der Zeit, d. h. mit Rücksicht auf die üblichen theoretischen Standards, erfolgreich argumentieren zu können. Die Fokussierung auf einzelne Diskurse und deren Akteure führen nicht nur zu Differenzierungen bisheriger Kenntnisse der jeweiligen naturrechtlichen Entwicklung, sondern bisweilen auch zu ihrer durchgreifenden Korrektur. Bis dato bestand Einigkeit darüber, dass in der dänisch-norwegischen Doppelmonarchie die Naturrechtsdiskussion wegen der Dominanz des von der politisch einflussreichen lutherischen Geistlichkeit propagierten göttlichen Rechts erst spät in Gang kam und dass die vor Ludvig Holberg20 auftretenden Naturrechtler allenfalls als dessen Vorläufer zu qualifizieren seien. Demgegenüber konnte Mads Langballe Jensen anhand einer kontrastierenden Analyse der Naturrechte von Christian Reitzer und Henrik Weghorst zeigen, dass die frühen, in Kopenhagen vertretenen Positionen sowohl ein eigenständiges Profil aufwiesen als auch mitnichten einheitlich waren.21 Während Christian Reitzer als Schüler des frühen Thomasius im Anschluss an Grotius und vor allem an Pufendorf die socialitas zum Ausgangspunkt seiner theologieunabhängigen Naturrechtsbegründung machte, zielte Weghorst, der in Kiel bei Samuel Rachel studiert hatte, ausdrücklich auf ein christliches Naturrecht, das nicht den praktischen Nutzen naturrechtlicher Normen hervorhob, sondern die Liebe Gottes als naturrechtliches Prinzip beanspruchte. Weghorst trat damit – im Gegensatz zu Reitzer – für eine dezidiert anti-pufendorfianische Version des Naturrechts ein, was möglicherweise ein Versuch darstellte, das Ius naturae den Rechtsvorstellungen der Geistlichkeit zu akkomodieren. Sein Einfluss sollte sich noch an späteren Kontroversen – wie der Auseinandersetzung zwischen Andreas Hojer und Ludvig Holberg – ablesen lassen. Jensens Rekonstruktion macht – nach dem eigenen Verständnis des Autors – deutlich, dass die intellektuelle und politische Geschichte der frühen Aufklärung in Dänemark-Norwegen detailgenau als eine Geschichte von Professoren und politischen Akteuren geschrieben werden kann, die eine große Bandbreite politischer Diskurse aufgreifen und für unterschiedliche Ziele weiterentwickelten. Indem Jensens die bisher unbekannte Diversität der dänischen Naturrechtsdiskussion der 1690er Jahre vor Augen führt, öffnet er ausdrücklich das Feld für weitere Forschungen.

Vgl. ebd., 187. Vgl. zu Holbergs Naturrecht Knud Haakonssen, Holberg!s Law of Nature and Nations, in: Knud Haakonssen, Sebastian Olden-Jørgensen, Ludvig Holberg (1684–1754). Learning and Literature in the Nordic Enlightenment, London, New York 2017, 59–79. 21 Mads Langballe Jensen, Contests about Natural Law in Early Enlightenment Copenhagen, in: History of European Ideas 42 (2016), 1027–1041. 19 20

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V. Publikationsreihe: „Modern Natural Law. Studies and Sources“ Um die Forschungsergebnisse des Netzwerks in einem angemessenen Rahmen der interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde beim Brill-Verlag in Leiden mit der Unterstützung eines aus namhaften Experten zusammengesetzten Editorial Boards eine neue Buchreihe etabliert. In der mit Modern Natural Law. Studies and Sources betitelten Reihe werden ab 2019 monographische Einzelstudien, Sammelbände und Editionen einzelner Naturrechts-werke erscheinen. Ein von Simone Zurbuchen herausgegebener Sammelband zum Völkerrecht, die von David Saunders besorgte englischsprachige Übersetzung des von Fiammetta Palladinis 1990 zum ersten Mal publizierten Buches Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes: per una reinterpretazione del giusnaturalismo moderno, sowie eine von Mads Langballe Jensen verfasste Monographie zum Naturrecht von Philipp Melanchthon werden die Serie eröffnen. Die Reihe versteht sich freilich nicht als ein exklusives Medium des Netzwerkes, vielmehr sind auch thematisch einschlägige Arbeiten sehr willkommen, die außerhalb des Verbunds entstanden sind. Insofern soll die Reihe als eine internationale Plattform für Forschungen zum und für Editionen des frühneuzeitlichen Naturrechts dienen.