Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert: Integration oder Stagnation? [1. Aufl.] 9783658205515, 9783658205522

Die Globalisierung, begleitet von der De- und Transnationalisierung von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur, sc

260 9 3MB

German Pages XIII, 291 [299] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Von Bangsaen nach Astana: Eine Annäherung an den asiatischen Regionalismus (Jörn Dosch)....Pages 1-23
Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt (Pierre Gottschlich)....Pages 25-41
Südasien neu denken: Vergangenheit und Zukunft der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) (Christian Wagner)....Pages 43-64
Der ostasiatische Regionalismus: Entwicklung, Erfolge und Herausforderungen (Lien Huong Do)....Pages 65-88
Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens (Jürgen Haacke)....Pages 89-126
Südostasien in der globalen Nuklearordnung: Mehr als nur eine kernwaffenfreie Zone? (Jens Heinrich)....Pages 127-168
Die EU-Unterstützung der ASEAN im Bereich der regionalen Sicherheit Südostasiens (Naila Maier-Knapp)....Pages 169-196
Eurasische Wirtschaftsunion – ein D-Zug auf dem Abstellgleis? Die Integrationsstrategie der Russländischen Föderation im 21. Jahrhundert (Ludmila Lutz-Auras)....Pages 197-227
Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status der wirtschaftlichen Integration (Alessandro Tripolone)....Pages 229-253
Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte mit Defiziten (Timotheus Krahl)....Pages 255-282
Back Matter ....Pages 283-291
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Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert: Integration oder Stagnation? [1. Aufl.]
 9783658205515, 9783658205522

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Jörn Dosch Ludmila Lutz-Auras Hrsg.

Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert Integration oder Stagnation?

Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert

Jörn Dosch · Ludmila Lutz-Auras (Hrsg.)

Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert Integration oder Stagnation?

Hrsg. Jörn Dosch Institut für Politik- und ­Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock Rostock, Deutschland

Ludmila Lutz-Auras Institut für Politik- und ­Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock Rostock, Deutschland

ISBN 978-3-658-20551-5 ISBN 978-3-658-20552-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Bei einer großzügigen Auslegung der Definitionskriterien existieren weltweit gut 120 regionale Organisationen. Gemeint sind hiermit alle multilateralen Kooperationsmechanismen, die mindestens drei Staaten einer geographischen Region (oder auch mehrerer miteinander verbundener Regionen) umfassen. Im Grunde handelt es sich somit um alle zwischenstaatlichen, institutionalisierten Interaktionsformen, die unterhalb der globalen Ebene agieren. Das Spektrum reicht hierbei von supranationalen Staatenverbünden, wie der Europäischen Union, über intergouvernemental angelegte Organisationen, wie der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), die keinen Transfer nationaler Souveränität auf überstaatliche Behörden vorsehen, bis zu regelmäßig stattfindenden Dialogforen, wie dem Asia-Europe Meeting (ASEM) oder dem East Asian Summit (EAS), die einen formalen Rahmen für die Kooperation unter einer – in einigen Fällen – großen Anzahl von Mitgliedsstaaten zur Verfügung stellen, von diesen aber keine verbindlichen Verpflichtungen einfordern. Die Anfänge des Regionalismus in Asien lassen sich auf die frühen 1950er Jahre datieren und fanden ihren ersten Höhepunkt 1967 mit der Gründung der ASEAN, der ältesten heute noch existierenden rein asiatischen Regionalorganisation. Gleichzeitig zählt die ASEAN zu den am besten dokumentierten und studierten Organisationen überhaupt. Im Katalog der größten Bibliothek der Welt, der British Library in London, finden sich mehr als 8.600 Publikationen und weitere Medien, die sich mit der ASEAN befassen. Auch etliche andere asiatische Organisationen und Kooperationsforen, wie die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC), die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) oder die Greater Mekong Subregion (GMS), sind ausführlichen Analysen unterzogen worden. Im deutschsprachigen Raum fehlte bisher jedoch eine aktuelle und umfassende Auseinandersetzung mit den

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Vorwort

unterschiedlichen Ausprägungen des asiatischen Regionalismus insgesamt. Diese Lücke versucht der vorliegende Band zu schließen. Es handelt sich außerdem um das erstes Buch zu diesem Thema, das die Eurasische Wirtschaftsunion als wichtigen Bestandteil des asiatischen Regionalismus im 21. Jahrhundert und damit auch die prominente Rolle Russlands ausgiebig berücksichtig. Das Buchprojekt nahm seinen Anfang mit einer Konferenz an der Universität Rostock, die im Juni 2017 mit großzügiger Unterstützung der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Fakultät stattfand. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren, die anschließend in mehreren Überarbeitungsrunden die einzelnen Kapitel dieses Bandes beisteuerten. Unser herzlicher Dank gilt auch Meggy Kalisch, welche als Assistentin die umfangreiche Produktion des Manuskriptes in allen Phasen mit großem Einsatz begleitete, Jan Treibel, der das Buch als Lektor sehr professionell betreute, und allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Springer VS, denen wir das hier vorliegende Endprodukt verdanken. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine interessante Lektüre. Rostock im April 2020

Jörn Dosch Ludmila Lutz-Auras

Inhaltsverzeichnis

Von Bangsaen nach Astana: Eine Annäherung an den asiatischen Regionalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Jörn Dosch Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt. . . . . . . . . . . . . . . 25 Pierre Gottschlich Südasien neu denken: Vergangenheit und Zukunft der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC). . . . . . . . . . . . . . . 43 Christian Wagner Der ostasiatische Regionalismus: Entwicklung, Erfolge und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Lien Huong Do Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Jürgen Haacke Südostasien in der globalen Nuklearordnung: Mehr als nur eine kernwaffenfreie Zone?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Jens Heinrich Die EU-Unterstützung der ASEAN im Bereich der regionalen Sicherheit Südostasiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Naila Maier-Knapp

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Inhaltsverzeichnis

Eurasische Wirtschaftsunion – ein D-Zug auf dem Abstellgleis? Die Integrationsstrategie der Russländischen Föderation im 21. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ludmila Lutz-Auras Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status der wirtschaftlichen Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Alessandro Tripolone Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte mit Defiziten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Timotheus Krahl Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen. . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Prof. Dr. Jörn Dosch hat den Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock inne. Zuvor lehrte und forschte er an der Monash University (Malaysia), der University of Leeds, der Stanford University und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie 2016 als Gastprofessor am Saw Swee Hock Southeast Asia Centre der London School of Economics and Political Science (LSE). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die internationalen Beziehungen des asiatisch-pazifischen Raums sowie die Außenbeziehungen der EU und der USA. U. a. veröffentliche er Die ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft, Überblick für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, 2016. Dr. Ludmila Lutz-Auras ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. In ihrer Lehre, Forschung sowie ihren Publikationen widmet sie sich Themen rund um die Transformationsländern Osteuropas (Schwerpunkte: Russland, Ukraine, Weißrussland), politischen Systemen im Kaukasus und Zentralasien, kollektiven Identitätsbildungsprozessen. Zu ihren Publikationen zählt u. a. „Auf Stalin, Sieg und Vaterland!“ Politisierung der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland. Wiesbaden: Springer VS, 2013.

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Jörn Dosch  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. Pierre Gottschlich  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. Jürgen Haacke London School of Economics and Political Science, Birmingham, UK Dr. Jens Heinrich Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. Lien Huong Do  Vietnam Initiatives, Hanoi, Vietnam Dr. Timotheus Krahl  TÜV Rheinland InterTraffic GmbH, Mainz, Deutschland Dr. Ludmila Lutz-Auras Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. Naila Maier-Knapp Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. Alessandro Tripolone  Universität Rostock, Rostock, Deutschland Dr. habil. Christian Wagner  Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, Deutschland

Abbildungsverzeichnis

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte mit Defiziten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 1 Abb. 2

Logistics Performance Index, GMS-Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Entwicklung der intra-regionalen Migration in der GMS. . . . . . . . 266

XI

Tabellenverzeichnis

Südasien neu denken: Vergangenheit und Zukunft der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 1

Südasien: Sozioökonomische Rahmendaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status der wirtschaftlichen Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 1 Tab. 2

Aktuelle Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion. . . . . . . . . . 234 Abkommen und Verhandlungen der EAWU mit extraregionalen Staaten und Organisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte mit Defiziten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 1

Kosten- und Zeitersparnisse entlang einiger ausgewählter Korridore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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Von Bangsaen nach Astana: Eine Annäherung an den asiatischen Regionalismus Jörn Dosch 1 Einleitung: Geschichte und Gegenwart regionaler Kooperation in Asien Die Geschichte des asiatischen Regionalismus kennt viele Schnittstellen. Eine der Jüngsten lässt sich auf den September 2013 datieren, als Xi Jinping, Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, an der Nazarbayev-Universität im kasachischen Astana seine Initiative der Neuen Seidenstraße verkündete. Offiziell als „Belt and Road Initiative“ (BRI) betitelt, handelt es sich um die Vision einer Perlenschnur von Straßen, Schienentrassen, Häfen und anderen Mega-Infrastrukturprojekten, die China und Europa im größten Wirtschaftskorridor der Welt miteinander verbinden sollen.1 Ob Xis Rede in Kasachstan eines Tages als historisch gelten kann, wird davon abhängen, in welchem Maße die Neue Seidenstraße als global umfassendstes Projekt der regionalen Zusammenarbeit tatsächlich Gestalt annimmt und nicht nur – wie schon seit 2011 – Güterzüge in dreizehntägiger Fahrt rund 11.000 km von Chongqing nach Duisburg rollen, sondern auch Hochgeschwindigkeitszüge Berlin und Paris mit Peking und Shanghai verbinden. Als fraglos epochal in der Geschichte des asiatischen Regionalismus gilt hingegen ein Ereignis, das sich 46 Jahre zuvor in Thailand zutrug. Ansätze zur

1Dosch

and Cui (2020).

J. Dosch (*)  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_1

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J. Dosch

regionale Zusammenarbeit in Asien reichen bis in die frühen 1950er Jahre zurück,2 doch entstand erst 1967 eine funktionsfähige Regionalorganisation. Im frühen August jenes Jahres trafen sich die Außenminister Indonesiens, Malaysia, Singapurs, Thailands und der Philippinen im Strandresort von Bangsaen, knapp 100 km südöstlich von Bangkok, um einen institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit ihrer Staaten zu finden – und um miteinander Golf zu spielen. Die entspannte Arbeitsatmosphäre in Bangsaen, so wurde später – vielleicht ein wenig mythisch überhöht – berichtet, war geprägt durch „geselliges Geplänkel, scherzhaften Schlagabtausch und warmherzige Gespräche“.3 Die Beratungen setzten sich in der privater Residenz des thailändischen Außenministers Thanat Kohman und vor der eleganten Kulisse des Saranrom Palasts in Bangkok fort, bis sich „eine gedämpfte Feierlichkeit auf die kleine Versammlung von Diplomaten legte, als die fünf Minister, jetzt in Businessanzügen“, am 08.08.1967 die Bangkok Deklaration, das zweiseitige Gründungsdokument der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), unterzeichneten.4 Die nachfolgenden Ausführungen beschäftigen sich mit den wesentlichen Entwicklungen des asiatischen Regionalismus seit jenem denkwürdigen Augusttag in Bangkok. Dabei stehen vier Aspekte im Vordergrund: erstens die rasch wachsende Bedeutung der ASEAN als Nukleus des asiatischen Regionalismus und die Ausdehnung ihres spezifischen Kooperationsmodells („ASEAN Way“) auf die meisten anderen regionalen Zusammenschlüsse in der Region; zweitens die Entwicklung eines asiatisch-pazifischen Regionalismus und dessen Erweiterung – und damit auch zumindest partielle Ablösung – durch Ansätze der indo-pazifischen- und eurasischen Kooperation; drittens die Signifikanz von Identitätskonzepten für den asiatischen Regionalismus und, viertens, die wachsende Relevanz der sicherheitsund ordnungspolitischen Funktion regionaler Zusammenarbeit, die sich gleichwohl im Falle der meisten asiatischen Regionalorganisationen und -foren hinter den Visionen und Zielsetzungen wirtschaftlicher Integration verbirgt. Weder dieser Beitrag noch der Band insgesamt verfolgen dabei das Anliegen, vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse zur regionalen Kooperation in Asien eine neue Theorie des Regionalismus zu entwickeln. Gleichzeitig ist es notwendig, im letzten Teil des Kapitels auf bestehende Ansätze zu v­ erweisen,

2Siehe

den Beitrag von Lien Huong Do, Kap. 4 in diesem Buch. (2006, S. 2). 4Ebd. Der ASEAN traten später Brunei (1984), Vietnam (1995), Laos und Myanmar (1997) sowie Kambodscha (1999) bei. 3Severino

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auch wenn diese nur bedingt auf den asiatischen Regionalismus anwendbar sind. In Anlehnung an die klassische Definition von Joseph Nye beschreibt Regionalismus im deskriptiven Sinne die Formation von zwischenstaatlichen Verbänden oder Gruppierungen auf der Basis von Regionen und im doktrinären Sinne die Propagierung solcher Formationen.5 Regionalismus bezeichnet somit sowohl das Streben von Staaten, der Realität wachsender wirtschaftlicher, politischer und/oder kultureller Interaktionen und Transaktionen innerhalb einer Region durch die Bildung formaler Kooperationsstrukturen gerecht zu werden als auch die politische Forderung und Vision, die innerregionale zwischenstaatliche Zusammenarbeit voranzutreiben. Baogang He bringt dies auf die folgende kurze Formel: Regionalismus ist sowohl eine Institution als auch eine Ideologie.6 Regionale Organisationen sind eine wichtige Manifestation des Regionalismus, bilden aber selten die „gesamte DNA einer Region“ ab.7 Ergänzt werden sie durch diverse Kooperationsforen, Dialogprozesse und andere eher informelle Mechanismen der intergouvernementalen und transnationalen Zusammenarbeit.

2 Die Bedeutung der ASEAN für den asiatischen Regionalismus Die Welt nahm von der Gründung der ASEAN kaum Kenntnis, zumal auch die Bangkok-Deklaration keine Wirtschafts- oder gar Sicherheitsgemeinschaft normierte, sondern in bewusst vage gehaltener Prosa generell die Zusammenarbeit in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht postulierte. Bedeutend war die Entstehung der ASEAN aber vor allem vor dem Hintergrund, dass die Region noch wenige Jahre zuvor weder als friedlich noch stabil gelten konnte, da Indonesien mit militärischen Mitteln die Entstehung des souveränen Staates Malaysia zu verhindern trachtete. Im festländischen Südostasien tobte

5Nye

(1968), S. vii. (2017, S. 10). Yeo (2019, S. 7–10) weist zu Recht darauf hin, dass in der akademische Literatur zu den internationalen Beziehungen Asiens die Begriffe Regionalismus, regionale Architektur und Multilateralismus häufig gleichgesetzt werden, es sich aber um jeweils eigenständige Konzepte handelt. Diese Diskussion kann hier nicht vertieft werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass dieses und die folgenden Kapitel des Bandes durchgängig den Begriff Regionalismus im Sinne von multilateraler Kooperation auf regionaler Ebene verwenden. 7Engel et al., S. 6. 6He

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der Vietnam-Krieg und drohte auf Thailand und möglicherweise weitere Länder der Region überzuspringen, so wie es die 1954 erstmals von US-Präsident Dwight D. Eisenhower vorgetragene „Domino-Theorie“, die Warnung vor einer Expansion des Kommunismus in ganz Südostasien infolge einer Kettenreaktion, zu prophezeien schien. Es war daher das Anliegen der nicht-kommunistischen Staaten der Region, ihre zumeist erst kurz zuvor gewonnene nationale Souveränität (nur Thailand war nie kolonisiert) gegenüber feindlichen Einflüssen und Herausforderungen gemeinschaftlich abzusichern. Gleichzeitig verfolgte der neue indonesische Präsident Suharto die Strategie, einen Schlussstrich unter die Aggressionspolitik seines Vorgängers Sukarno zu ziehen, während den Nachbarn an einer Einbindung des mit Abstand größten südostasiatischen Staates in stabile und transparente regionale Kooperationsstrukturen gelegen war. Parallelen zur Eigen- und Fremdwahrnehmung der jungen Bundesrepublik Deutschland in den frühen 1950er Jahren und zu den Motiven, die 1952 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) und damit zum Beginn des europäischen Integrationsprozesses führten, drängen sich auf. In der Tat spielten die frühen Erfolge der regionalen Zusammenarbeit in Westeuropa eine Rolle in den Überlegungen der südostasiatischen Regierungen, wenn auch von vornherein ein alternatives Modell der Kooperation angestrebt wurde. Supranationale Governance-Strukturen, wie sie bereits die EGKS kennzeichneten, erschienen in den späten 1960er Jahren, die in den meisten Staaten Südostasiens vom Prozess der Nationenbildung und der Herstellung stabiler innerstaatlicher Regierungsstrukturen geprägt waren, ausgeschlossen. So entstand schon früh der Nukleus des ASEAN Way, der für eine am Konsens orientierte und auf Konventionen und de facto Absichtserklärungen beruhenden intergouvernementalen Kooperation steht. Bedeutung hat dieser Ansatz eines von „weichen Institutionen“ und dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten bestimmten Regionalismus im Laufe der kommenden Jahrzehnte weit über die ASEAN hinaus erlangt und charakterisiert heute die meisten Regionalismen Asiens. Der ASEAN Way bildet das Gegenmodell zu einer rechtlich verbindlichen und auf einklagbaren Verträgen basierenden Integration, wie sie z. B. die EU prägt. Parallel zur Ausweitung und Vertiefung der Zusammenarbeit innerhalb Südostasiens begann die ASEAN in den frühen 1970er Jahren, ihre Beziehungen mit Akteuren außerhalb der Region zu intensivieren. Das erste substanzielle Ergebnis bildete die Etablierung der ASEAN Postministeriellen Konferenzen (ASEAN Postministerial Conferences/PMC) mit den sogenannten Dialogpartnern der Gemein-

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schaft, zu denen heute neun Staaten (Australien, China, Indien, Japan, Kanada, Neuseeland, Russland, Südkorea, USA) und die EU zählen. Die PMC avancierten im Laufe ihrer Existenz von einem lange Zeit nur wirtschaftlichen und politischen Diskussionsforum auch zu einem Zentrum des sicherheitspolitischen Dialogs der asiatisch-pazifischen Staaten. Die Zusammenkünfte auf Außenministerebene finden jährlich im Anschluss an die Außenministertagung der ASEAN-Staaten (ASEAN Ministerial Meetings/AMM) und die Sitzungen des 1994 erstmals ausgetragenen sicherheitspolitisch orientierten ASEAN Regionalforums (ASEAN Regional Forum/ARF)8 statt. Der Durchbruch als der zentrale Baustein eines sich damals herausbildenden asiatisch-pazifischen Regionalismus gelang den PMC in den frühen 1990er Jahren im Zusammenhang mit der allgemeinen Diskussion um eine Institutionalisierung transpazifischer Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges. Da die Konferenzserie bereits über eine gewisse Tradition, Dauerhaftigkeit und vor allem eine gefestigte Organisationsstruktur verfügte, lag es nahe, ihr eine Kernfunktion im neuen asiatisch-pazifischen Kooperationsprozess zuzuerkennen. Die wesentlichen heute in der Region existierenden multilateralen Organisationen und Dialogforen, wie das Asia Pacific Economic Cooperation Forum (APEC, gegründet 1989)9, ASEAN Plus Three10 (1999) und der East Asian Summit11 (2005) orientieren sich am Modell der PMC und damit letztlich am ASEAN Way. Häufig wird hierfür auch der Begriff Offener Regionalismus verwendet als eine Form der Zusammenarbeit, der sich nicht nach außen abschottet, sondern durch das Zusammenspiel der Kooperation auf der regionalen und der globalen Ebene geprägt ist.12

8Aktuelle

Mitgliedschaft: ASEAN-Staaten, Australien, Bangladesch, China, Europäische Union, Indien, Japan, Kanada, Mongolei, Neuseeland, Nordkorea, Papua Neuguinea, Pakistan, Russland, Südkorea, Sri Lanka, Timor-Leste, USA. 9Aktuelle Mitgliedschaft: Australien, Brunei, Chile, VR China, Hongkong (als „Hongkong, China“), Indonesien, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Philippinen, Russland, Taiwan (als „Chinese Taipei“), Thailand, Singapur, Südkorea, USA, Vietnam. 10ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea. 11Gründungsmitglieder: ASEAN-Staaten, Australien, China, Indien, Japan, Südkorea; 2011 traten die USA und Russland bei. 12Für einen Überblick über diese Debatte siehe Zorob and Loewen (2018, S. 8).

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3 Vom asiatisch-pazifischen zum indo-pazifischen und eurasischen Regionalismus Bevor die massive asiatische Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98 dem Traum vom ungebremsten und immerwährenden Wirtschaftswachstum in Ost- und Südostasien zumindest temporär ein jähes Ende setzten, gehörte es in einigen akademischen Kreisen und ohnehin bei den politischen Eliten Asiens zum guten Ton, den baldigen Anbruch des „Pazifischen Jahrhunderts“ auszurufen. Anlass dazu gaben die eindrucksvollen Erfolge der asiatischen Volkswirtschaften, die zunehmende Vernetzung von Akteuren und die sich intensivierende Verdichtung der Handels- und Investitionstransaktionen. Solche Interdependenzen schufen innerhalb des asiatisch-pazifischen Raums ein wachsendes Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit verstärkter Kooperation auf Regierungsebene. Andererseits wurden externe Entwicklungen der frühen 1990er Jahre, wie vor allem die damals bevorstehende Errichtung des europäischen Binnenmarktes und die stagnierenden Welthandelsgespräche im Rahmen der Uruguay-Runde13 als Bedrohung der wirtschaftlichen Prosperität des asiatisch-pazifischen Raums empfunden. Seitens einiger asiatischer Staaten bestand zudem die Hoffnung, mithilfe eines neuen, institutionell abgesicherten Kooperationsmechanismus auch ein Gegengewicht zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA (USA, Kanada, Mexiko) etablieren zu können.14 Die beteiligten Akteure perzipierten somit die Notwendigkeit, die als Folge komplexer Interdependenz in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen entstandenen Probleme und Herausforderungen einer kollektiven Bearbeitung zugänglich zu machen. Es bestand der Bedarf nach einem institutionellen Handlungsrahmen zur Erhöhung von Transparenz sowie Erwartungs- und Verhaltenssicherheit und nicht zuletzt einer Senkung der Transaktionskosten in den Akteursbeziehungen. Von der Intensivierung multilateraler Kooperation im Politikfeld Wirtschaft erwarteten sich die Beteiligten – nach anfänglicher Skepsis einiger weniger Akteure – im Sinne eines positiven Summenspiels reziproke Vorteile bei der Absicherung von Wohlfahrt im asiatisch-pazifischen Raum. Es herrschte in der damals publizierten Literatur weitgehender Konsens darüber, dass die APEC 1989 als Folge eines wahrgenommenen Bedarfs nach einem Internationalen Wirtschaftsregime

13Die

Uruguay-Runde wird 1994 dann doch zu einem erfolgreichen Abschluss geführt, der die Grundlage für die Entstehung der Welthandelsorganisation (WTO) bildet. 14Chongkittavorn (1998, S. 47).

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im asiatisch-pazifischen Raum entstand und auf diese Weise die bestehende institutionelle Lücke schließen sollte.15 Einigen galt APEC als die erste wesentliche internationale Organisation nach dem Ende des Kalten Krieges.16 Selbst wenn die Folgen der Asienkrise vor einem knappen Vierteljahrhundert in nur wenigen Jahren überwunden werden konnten und fast alle betroffenen Staaten daraus institutionell gestärkt hervorgingen, stellte sich die anfängliche Euphorie hinsichtlich der Zukunftsträchtigkeit eines asiatisch-pazifischen Regionalismus anschließend nicht mehr ein. Zwar haben die APEC und andere transpazifische Foren die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts überdauert, bleiben jedoch chronisch „unterinstitutionalisiert“17 und entsprechen in ihrer heutigen Bedeutung als nützliche, aber sekundäre Kooperationsmechanismen nicht mehr den ursprünglich an sie gestellten Erwartungen, sich in tragende Säulen des internationalen Systems zu entwickeln.18 Die Erklärung hierfür liefern die Umstände der Entstehung des asiatisch-pazifischen Regionalismus, die ganz im Zeichen der Auflösung des Ost-West-Konflikts stand. Als im Jahr 1989 die globalen Blöcke des Kalten Krieges zerbrachen, begann nicht nur in Europa eine Epoche der Um- und Neugestaltung internationaler Beziehungen. Auch der asiatisch-pazifische Raum wurde von weitreichenden strukturellen Veränderungen erfasst. Hatten über etliche Jahrhunderte zunächst kolonial-imperialistische Interessen europäischer Staaten und später die hegemonialen Absichten der beiden Supermächte USA und Sowjetunion das Beziehungsgeflecht in der Großregion strukturiert, bot sich nun die Möglichkeit, die vorherrschenden bipolaren Abhängigkeitsverhältnisse durch ein multilaterales System der Zusammenarbeit zu ersetzen. In der Vorstellung der meisten asiatischen Regierungen war dies jedoch nicht ohne eine prominente Involvierung der USA möglich. Washington selbst – insbesondere während der ersten Amtszeit (1993-1997) von Präsident Bill Clinton – begann sich vor allem als pazifische Macht zu definieren und unterstützte aktiv die Multilateralisierung der Beziehungen mit den asiatischen Partnern.19 Als Clintons Nachfolger George W. Bush (20012009) die Präsidentschaft antrat, waren die USA im asiatisch-pazifischen Raum wirtschafts- und sicherheitspolitisch jedoch längst zu bewährten bilateralen

15Aggarwal

(1994), (1998); Morrison (1998). (1997), S. 37. 17Gill and Green (2009, S. 12). 18Ausführlich: Dent and Dosch (2012). 19Dosch (2002). 16Morrison

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J. Dosch

Beziehungsstrukturen zurückgekehrt. Die Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington, der folgende War on Terror und der Krieg im Irak verursachten dann schnell eine neue Prioritätensetzung in den Außenbeziehungen der Vereinigten Staaten. Als sich schließlich Präsident Barack Obama (20092017) wieder deutlich Asien zuwandte und den Kontinent zum Dreh- und Angelpunkt der geostrategischen Ausrichtung der USA erklärte („Pivot to Asia“), hatten führende asiatische Staaten bereits neue Ansätze regionaler Kooperation entwickelt, welche die USA nicht mehr zwangsläufig einbezogen. Die 2001 gegründete Shanghai Cooperation Organisation (SCO), der Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan angehören, ist ein frühes Beispiel. Auch die 2012 begonnenen Verhandlungen zur einer Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), eine Freihandelszone bestehend aus den ASEAN-Staaten, Australien, China, Japan, Südkorea und Neuseeland, fallen in diese Kategorie.20 Die Entwicklung hin zu einem stärkeren auf den asiatischen Kontinent ausgerichteten Regionalismus, der zwar die USA und andere Staaten jenseits des Pazifiks nicht explizit ausschließt (wie z. B. im Falle der – letztlich in der ursprünglichen Form jedoch gescheiterten – Trans-Pacific Partnership/TPP), auf deren Partizipation aber nicht im Sinne einer conditio sine qua non angewiesen ist, trägt auch der Erkenntnis Rechnung, dass die asiatisch-pazifische Region für eine effektive Vertiefung der multilateralen Zusammenarbeit als zu heterogen gelten muss. Nach der gängigen Definition umfasst der asiatisch-pazifische Raum das gesamte Pazifikbecken (Inseln und Archipele) und seine kontinentalen Randzonen sowie die an den Pazifik angrenzenden Gebiete Asiens sowie Nord-, Zentral- und Südamerikas. Eine Region kennzeichnet einen „geographisch abgrenzbaren und […] subjektiv abgegrenzt wahrgenommenen Teil eines Größeren“21. Selbst wenn zugestanden wird, dass es im sozialkonstruktivistischen Sinne ausreicht, wenn eine Region im Bewusstsein der relevanten staatlichen und nicht-staatlichen Akteure als ein gemeinsamer Interaktionsraum wahrgenommen wird und damit nicht zwangsläufig als geographischer Fakt existieren muss, hat sich der asiatisch-pazifische Raum als Bezugs- und Identifikationsrahmen als zu weitläufig erwiesen. Dies lässt sich schon daran ablesen, dass Los Angeles und Tokio, zwei Städte, die einst um den inoffiziellen Titel der Hauptstadt Asien-Pazifiks konkurrierten, knapp 9.000 km und rund 12 Flugstunden voneinander entfernt liegen.

20Lien

Huong Do, Kap. 4 in diesem Band. (1993, S. 138). Siehe auch (Mols 1996, S. 77).

21Schlotter

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Seit Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts lässt sich eine Umorientierung von einem transpazifischen Verständnis zum Konzept des indopazifischen Raums feststellen. Dieser Ansatz bezieht Indien und generell Südasien zentral in Kooperationsstrategien ein und trägt sowohl der zunehmenden Westprojektion chinesischer Interesse als auch der wachsenden geostrategischen Verknüpfung des Pazifischen- mit dem Indischen Ozean Rechnung.22 In der Belt & Road Initiative, von der in Südasien bislang vor allem Pakistan profitiert hat, kommt dieses Konzept deutlich zum Ausdruck.23 Zeitlich parallel zu dieser Entwicklung ist die Konstruktion der eurasischen Region verlaufen, ein Ansatz, der vor allem vom russländischen Präsidenten Wladimir Putin in Anknüpfung an lang etablierte Ideen artikuliert worden ist. Vorstellungen zur Neuorganisation des postsowjetischen Raums und zu einer Großmachtrolle Russlands spielen hierbei eine bedeutende Rolle. Wie Ludmila Lutz-Auras darstellt,24 avancierte der „Eurasismus“, der seine Wurzeln in den 1920er Jahren hat, nach dem Untergang der UdSSR „zunächst zu einer intellektuellen Mode und im Weiteren zu einem weltanschaulichen Paradigma nicht nur für die russländischen, sondern auch für etliche zentralasiatische und andere postsowjetische Intelligenzler.“ In gesellschaftlichen Debatten rückte dieses Gedankenkonzept immer stärker in den Fokus und fand seinen Ausdruck in der Ideologie des Neo-Eurasismus oder der Figur des „eurasischen Hinterlandes“ des postsowjetischen Raums. Mit dem Inkrafttreten der von Kasachstan, Russland und Belarus gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1.1.2015 transformierte die Idee endgültig zur geopolitischen Realität.25 Armenien und Kirgisistan traten 2014 bzw. 2015 bei. Die EAWU stellt auch insofern eine neue Qualität des asiatischen Regionalismus dar, als dass sie – zumindest in formaler Hinsicht – nicht dem ansonsten üblichen Ansatz eines weichen Intergouvernementalimus folgt, sondern von vornherein supranationale Strukturen vorsah. Zwischen Anspruch und Realität in der Zusammenarbeit klafft jedoch bis dato eine deutliche Lücke, da die weitreichenden Integrationsmechanismen noch der Implementierung harren, wie Alessandro Tripolone im Detail aufzeigt.26

22Für

eine frühe umfassende Studie siehe (Seidler 2013). den Beitrag von Christian Wagner, Kap. 3 in diesem Band. 24Kap. 8 in diesem Band. 25Die EAWU ist jedoch nicht die erste Organisation, die Eurasien im Namen trägt. Erstmals findet sich der Begriff in der Vorläuferorganisation, der Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, die am 10. Oktober 2000 von Mitgliedern der Gemeinschaft Integrierter Staaten (GIS) gebildet wird: Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. 26Kap. 9 in diesem Band. 23Siehe

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Ein ganz anderes Konzept der Brückenbildung zwischen Europa und Asien besteht im Interregionalismus, d. h. in der Verdichtung der Kooperationsstrukturen- und Mechanismen in den Beziehungen zwischen den Regionen Europa und Asien.27 Bereits seit den frühen 1970er Jahren pflegen die ASEAN und die EU (damals noch Europäische Gemeinschaft) enge Beziehungen und haben ihre Zusammenarbeit im Laufe der Jahrzehnte stetig erweitert und vertieft. Mit der Gründung des Asia Europe Meeting (ASEM) 1996, dem heute 51 Staaten sowie die EU und das ASEAN Sekretariat als Mitglieder angehören, entstand analog zu den asiatisch-pazifischen Foren auch ein institutionalisierter euro-asiatischer Dialog. Zwar konnte auch ASEM ursprüngliche Erwartungen an eine strukturbildende Wirkung in den internationalen Beziehungen nicht erfüllen, stellt aber zumindest weiterhin einen der größten institutionalisierten Rahmen für intergouvernementale Kooperation unterhalb der globalen Ebene bereit. An Bedeutung zugenommen hat demgegenüber die Kooperation zwischen der EU und der ASEAN, die sich längst nicht mehr nur auf wirtschaftliche Felder begrenzt ist, sondern, wie Naila Maier-Knapp darlegt, eine sicherheitspolitische Komponente ausgeprägt hat.28 Jede Überlegung zum asiatischen Regionalismus in Asien muss auch die Rolle der EU mitdenken – als Referenz- und Orientierungspunkt (weniger jedoch als Modell) für andere Organisationen und vor allem als globaler Förderer regionaler Organisationen. So hat Brüssel im Zeitraum 2014 bis 2020 Mittel in Höhe von 320 Mio. Euro für die Unterstützung der regionalen Zusammenarbeit in Asiens zur Verfügung gestellt, wobei 170 Mio. Euro – gut 24 Mio. Euro im Jahresdurchschnitt – auf die ASEAN entfallen.29 Die Relevanz und Dimension dieser Förderung wird besonders dann ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Zuwendungen der Mitgliedsstaaten zum Budget der ASEAN auf jährlich lediglich rund 16 Mio. US$ summieren.

4 Die Rolle von Identitäten Auch andere Organisationen wie die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) haben von EU-Mitteln profitiert. Der 1985 gegründeten Organisation gehören heute Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, die

27Ausführlich

zum Konzept des Interregionalismus: Rüland (2014). in diesem Band. 29European Commission (2014). 28Kap. 7

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Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka an. Während ASEAN trotz diverser Schwächen häufig als Erfolgstory und zweitwichtigste Regionalorganisation (nach der EU) gefeiert wird, fällt Christian Wagners Urteil zur SAARC ernüchternd aus: Auch im vierten Jahrzehnt ihrer Existent zählt die SAARC weiterhin „zu den schwächsten Regionalorganisationen, die selbst innerhalb Südasien kaum bekannt und wenig ernst genommen wird.“ Die Kritik lässt sich auf folgenden Nenner bringen: SAARC veröffentliche zwar jede Menge Berichte, produziere aber keine Resultate; messbare Erfolge in den jeweiligen Politikfeldern seien daher gering und kaum wahrnehmbar.30 Das Beispiel SAARC verdeutlicht auch, welche wichtige Rolle der Definition einer Region und einer darauf bezogenen Identität bei der Herausbildung und dem Bestand von Regionalismen zukommt. Im konkreten Fall, so Pierre Gottschlich, bestehen häufig Unklarheiten, wie Südasien jenseits von Indien zu fassen ist. Je nach Perspektive, die geographisch, politisch, historisch oder kulturell geprägt sein kann, können die Einschätzungen zu voneinander abweichenden Ergebnissen hinsichtlich des Vorhandenseins einer regionalen Identität führen.31 Dies ist einer der wesentlichen Unterschiede im Vergleich zur ASEAN, die auf einer zumindest im Bewusstsein der Eliten existierenden kollektive südostastasiatische Identität basiert, welche historisch-kulturell gewachsen ist und in der kontinuierlichen Beschwörung des ASEAN Way ihren deutlichsten Ausdruck findet. Kennzeichnend ist dabei auch, dass von Anbeginn der ASEAN Nationalismus und Regionalismus in keinem Widerspruch zueinander gestanden haben und sich Prozesse des nation-building und des region-building zeitlich parallel und konzeptionell aufeinander bezogen entwickelten.32 Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass Realität und Mythos der ASEAN-Identität durchaus miteinander und ineinander verschwimmen. In einer Region, in der sich sowohl eines der reichsten Länder (Singapur) als auch drei der ärmsten Staaten (Kambodscha, Laos und Myanmar) der Welt finden und die durch eine bemerkenswerte Heterogenität der politischen Systeme charakterisiert ist, welche von der absoluten Monarchie Bruneis, über die marxistisch-leninistischen Systeme Vietnams und Laos über diverse Formen semi-autoritärer und semidemokratischer Regime bis zur Demokratie Indonesiens im fortgeschritten Konsolidierungsstadium reicht, spielt geschickte politische Rhetorik eine

30Kap. 3

in diesem Band. in diesem Band. 32Etwa Lee Lai To (2017, S. 4). 31Kap. 2

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wichtige Rolle bei der Formierung einer gemeinsamen Identität. Wissenschaftler und vor allem die konstruktivistische ASEAN-Forschung um Amitav Acharya haben ihr Übriges getan, um das Image einer ASEAN-Identität entstehen zu lassen.33 Letztlich ist jedoch jede kollektive Identität als belief system zu verstehen; es kommt nicht darauf an, ob sie auf nachprüfbaren materiellen Fakten beruht, entscheidend ist vielmehr, dass sie in der Selbst- und ggf. Fremdwahrnehmung der betroffenen Akteure existiert. Dies ist zweifelsohne der Fall in Südostasien. Rolle und Eigenwahrnehmung Indonesiens sind hierbei stets von kritischer Relevanz gewesen. Sowohl das autoritäre Suharto-Regime als auch die nachfolgenden fünf Präsidenten der Transitionsphase bzw. demokratischen Ära haben Position, Interessen und Identität des eigenen Landes grundsätzlich in der Region verortet und in den extra-regionalen Beziehungen nationale Alleingänge weitgehend vermieden. Auch in diesem Punkt zeigt sich der Gegensatz zu Südasien, das freilich in noch erdrückenderem Maße von einer Nation (Indien) dominiert wird. Im Unterschied zur Zentralität der Region – und damit substanziellen Bedeutung der ASEAN – in der indonesischen Wahrnehmung kommt der Idee einer über den indischen Subkontinent hinausgehenden südasiatischen Region und der SAARC als materiellem Ausdruck eines auf einem solchen Verständnis beruhenden Regionalismus keine entscheidende Funktion für die eigene Identität und das eigene Rollenverständnis Indiens zu. Der entscheidende Faktor für die weitgehende Dysfunktionalität der SAARC ist jedoch das konfliktive bilaterale Verhältnis zwischen Indien und Pakistan, das seit der Gründung der beiden unabhängigen Staaten im August 1947 vom Streit über die Zugehörigkeit Kaschmirs bestimmt wird. Obwohl die SAARC zeitweise durchaus eine wichtige Plattform für politische Gespräche und den informellen Austausch vor allem zwischen Indien und Pakistan zur Verfügung gestellt hat, ist es der Organisation gleichzeitig nicht gelungen, einen Beitrag zur Entstehung einer regionalen Stabilitäts- und Friedensordnung zu schaffen. Zwar definiert die SAARC-Charta vor allem die Verbesserung der sozioökonomischen Entwicklung in den Mitgliedsstaaten und den Ausbau der wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region als Hauptziele der regionalen Zusammenarbeit, möchte jedoch auch das gegenseitige Vertrauen zwischen Staaten erhöhen.34 Hier manifestiert sich ein weiterer wichtiger Aspekt des asiatischen Regionalismus.

33Siehe 34Siehe

z. B. Acharya (2000), (2009), (2012). den Beitrag von Christian Wagner, Kap. 3 in diesem Band.

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5 Sicherheits- und Ordnungspolitik als Erfolgsindikator regionaler Zusammenarbeit Auch wenn in den Fällen aller Regionalorganisationen Motive zur Intensivierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit formal im Vordergrund stehen, bemisst sich der Erfolg der einzelnen Kooperationsprozesse vor allem hinsichtlich der jeweiligen Dividende für Frieden und Stabilität. Die Ergebnisse im Bereich der Steigerung des intra-regionalen Handels fallen durchweg gering aus. So liegt der Anteil des intra-SAARC Handels am Gesamthandel der Mitgliedsstaaten trotz Gründung einer Freihandelszone (SAARC Free Trade Area, SAFTA) im Jahr 2006 weiterhin bei unter fünf Prozent (wie die Weltbank anmerkt, ist es um 20 Prozent günstiger für Indien mit Brasilien Handel zu betreiben als mit dem Nachbarn Pakistan).35 Im Falle der EAWU fiel das Volumen des intra-regionale Handels sogar unter den Wert vor Gründung der Organisation. So betrug 2018 der Anteil des russländischen Handels mit Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Belarus acht Prozent, nachdem er 2000 bereits bei zehn Prozent gelegen hatte.36 ASEAN sticht mit einem intra-regionalen Handelsvolumen von rund 25 Prozent in Asien hervor, wobei dieser Wert jedoch seit 20 Jahren fast unverändert ist – trotz Inkrafttretens des Freihandelsabkommens ASEAN Trade in Goods Agreement (ATIGA) 2010, das mehrere bereits zuvor geschlossene Handelsabkommen konsolidierte, und darauf aufbauend der Gründung der ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft am 1.1.2016, bei der es sich auf dem Papier um einen „single market and production base“ handelt.37 Sektorale Fortschritte im Bereich der ökonomischen Integration sollen nicht in Abrede gestellt werden, doch zeichnet sich die ASEAN seit jeher vor allem als sicherheits- und ordnungspolitischer Akteur aus, wie Jürgen Haacke ausführt.38 Seit Michael Leifer Ende der 1980er Jahre die ordnungspolitische Rolle der ASEAN diskutierte und darauf aufbauend die Funktion der ASEAN als Sicherheitsgemeinschaft in den Diskurs einbrachte,39 hat vor allem Amitav Acharya dieses Argument vorangebracht.40 Eine Sicherheitsgemeinschaft ist in diesem Sinne nicht als Militär-

35World

Bank (2016). (2019). 37Dosch (2016). 38Kap. 5 in diesem Band. 39Leifer (1987), (1989), (1995). 40Acharya (2014). 36Bhutia

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allianz, sondern als ein Set an Vereinbarungen zu Normen und institutionalisierter Kooperation zu verstehen, welches das Fundament der Regionalordnung Südostasiens bildet. Zwar kommt Haacke zu dem Schluss, dass die zunehmende strategische Rivalität zwischen den USA und China die Staaten Südostasiens vor Herausforderungen stellt, die sich mit bewährten normgeleiteten ordnungspolitischen Ansätzen nicht mehr in vollem Umfang meistern lassen, doch steht die Qualität der ASEAN als regionaler Sicherheitsakteur weiterhin außer Frage.41 Neben der traditionellen Ausrichtung auf Vertrauensbildung, Konfliktvermeidung und informelles Konfliktmanagement schließt diese sicherheitspolitische Dimension des südostasiatischen Regionalismus auch eine formal-institutionelle Beteiligung an der Reduzierung regionaler Instabilität ein, wie vor allem die aktiven Anstrengungen der ASEAN zur Bearbeitung der Souveränitätsdispute im Südchinesischen Meer unter Beweis stellen. Schon der 1995 unterzeichnete Treaty on the Southeast Asia Nuclear-Weapon-Free Zone (auch als Vertrag von Bangkok bekannt) ließ die Bereitschaft der ASEAN erkennen, Aspekte der hard security in der regionalen Zusammenarbeit nicht auszuklammern zu wollen. Das Abkommen verpflichtet die Mitgliedstaaten, keine Nuklearwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben oder einzusetzen. Zwar hatte auch zuvor kein ASEAN-Staat jemals militärische nukleare Ambitionen verfolgt, doch kommt der Problematik als solcher generell in Asien große Bedeutung zu. Neben Europa verfügt Asien über die höchste Dichte an Nuklearmächten, wobei Südasien (Indien, Pakistan) und Ostasien (Nordkorea, China), die Kernschauplätze der nukleare Rüstung sind. Werden die USA mit ihren Bündnis- und Kooperationssystemen in Asien und Russland als eurasische Macht hinzugezählt, „erhöht sich die Zahl auf sechs Kernwaffenstaaten, deren Beziehungen untereinander von strategischer Kooperation und Partnerschaft (Indien-USA, China-Pakistan), über Wettbewerb (USA-China), bis hin zu offenen Drohungen, Kriegen und Konflikten (USA-Nordkorea, Indien-Pakistan) reichen.“42 Die Verortung der ASEAN und der einzelnen Mitgliedstaaten in der globalen Nuklearordnung, wie sie Jens Heinrich vornimmt, und die Frage, ob der Beitrag Südostasiens dabei mehr ist als die öffentlichkeitswirksame Proklamation einer kernwaffenfreien Zone, sind wichtige Aspekte im Kontext des Selbstverständnisses und der Rolle der ASEAN als sicherheitspolitischer Akteur. Insgesamt kommt der Kernwaffenfreien Zone eine Nichtverbreitungsfunktion nach innen zu. Im Außenverhältnis der ASEAN

41Siehe 42Jens

Kap. 5 in diesem Band. Heinrich, Kap. 6 in diesem Band.

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hat der Vertrag Bedeutung als Instrument der generellen Tabuisierung des Kernwaffeneinsatzes erlangt.43 Auch die 1992 von der Asian Development Bank initiierte Greater Mekong Subregion (GMS), der Thailand, Laos, Vietnam, Kambodscha, Myanmar und die beiden südchinesischen Provinzen Yunnan und Guangxi angehören, besitzt eine Sicherheitsdimension, selbst wenn gerade in diesem Fall deutliche wirtschaftspolitische Motive der Kooperation zugrunde liegen. Sub-Regionalismus bildet insofern eine spezielle Kategorie des Regionalismus, als hier nicht zwangsläufig Staaten in ihrer Gesamtheit, sondern vor allem sub-staatliche Regionen, Provinzen oder generell Territorien miteinander vernetzt sind. Sub-regional cooperation aims at realizing comparative advantages by linking adjacent territories of different states with a heterogeneous factor endowment (e.g. land, labour, capital). The involved states and interested companies from the territories in question closely work together to foster private investment and infrastructure development.44

Timotheus Krahl zeigt auf, dass die GMS nachweisbare Erfolge beim Ausbau und der Verbesserung der physischen Infrastruktur, besonders in den Bereichen Straßenbau und Energieversorgung, erzielt hat, dabei aber auch eine „friedensstiftende Funktion“ ausübt.45 Krahl greift hierbei auf den bereits in den 1950er Jahren entwickelten Ansatz von Karl W. Deutsch zur Bestimmung und Analyse „pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften“ zurück.46 Unter den klassischen Integrationstheorien finden Deutschs Überlegungen noch am ehesten Anwendung in der Diskussion des asiatischen Regionalismus, vor allem seit sie von der inzwischen dominierenden konstruktivistischen Schule in der ASEAN-Forschung wiederentdeckt wurden. Unter regionaler Integration versteht Deutsch die Verdichtung grenzüberschreitender Transaktionen, die letztlich zur Entstehung einer Gemeinschaft führen, deren Mitglieder die Erwartung besitzen, dass Konflikte im Binnenverhältnis nicht mit kriegerischen, sondern mit anderen (d. h. friedlichen) Mitteln ausgetragen und bewältigt werden.

43Ibid. 44Zorob

and Loewen (2018, S. 10). in diesem Band. 46Deutsch et al. (1957). 45Kap. 10

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6 Abschließende theoretische Überlegungen In der wissenschaftlichen Literatur wird zwischen einem „alten“ und einem „neuen“ Regionalismus unterschieden. Demnach bezieht sich die klassische Form des Regionalismus vor allem auf endogene Entwicklungen in einem definierten geographischen Raum und wird von nationalen Regierungen primär aus friedensund stabilitätspolitischen Motiven initiiert und vorangetrieben. Demgegenüber wird der „neue Regionalismus“ als multidimensionaler Prozess verstanden, der sich sowohl auf mehrere Politikfelder bezieht, als auch ein weites Spektrum staatlicher sowie nicht-staatlicher Akteure einschließt und dabei nicht zuletzt eine Reaktion auf die zunehmende Globalisierung darstellt.47 Die großen Integrationstheorien, wie der Föderalismus in den Überlegungen von Altiero Spinelli und Carl Joachim Friedrich, sowie der Funktionalismus und Neofunktionalismus, Ansätze, die sich mit Namen wie David Mitrany und Ernst B. Haas verbinden,48 entstanden im europäischen Kontext und sind für die Diskussion des Regionalismus in Asien seit jeher von eher untergeordneter Bedeutung gewesen. Die Funktionalisten gehen davon aus, dass Staaten bzw. deren Unternehmen und andere Akteure zunächst sachbezogen kooperieren, also beispielsweise Handel miteinander betreiben und Investitionen in den Nachbarländern tätigen, und sich diese Transaktionen dann in einem Maße intensivieren, dass die Regierungen schließlich einen institutionellen Rahmen schaffen – z. B. ein Freihandelsabkommen oder eine Zollunion – um eine stabile Basis für die grenzüberschreitenden Aktivitäten zu errichten. Zusammenfassend lässt sich dieser Prozess auf die gängigen Formel form follows function komprimieren. Der Föderalismus hingehen nimmt an, dass regionale Integration ihren Ausgangspunkt in der bewussten politischen Entscheidung mehrerer Regierungen findet, sich zu einer neuen Einheit (z. B. einer regionalen Organisation oder sogar zu einem neuen Staat, wie im Falle der USA und der Schweiz) zusammenzuschließen. Dieser politischen Entscheidung folgt dann die Intensivierung der Zusammenarbeit in den einzelnen Politikfeldern – function follows form.49 Der Funktionalismus bzw. vor allem der Neofunktionalismus, der die Eigendynamik von Integrationsprozessen betont und annimmt, dass die Kooperation in einem Politikfeld nach

47Siehe

vor allem Hettne, Inotai and Sunkel (1999) und Hettne (2005). und Rossi (1941); Friedrich (1964); Mitrany (1965), (1976); Haas (1958), (1964). 49Siehe Grimmel und Rüland (2015) für eine sehr gelungene, umfassende Diskussion der Geschichte und des State of the Art in der Regionalismusforschung. 48Spinelli

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und nach auf weitere Bereiche übergeht („spill over“), eignet sich prinzipiell auch für die Betrachtung des asiatischen Regionalismus, ist aber mit Ausnahme einiger früher Studien zur ASEAN kaum zur Anwendung gekommen. Grund hierfür ist die in der Asienforschung verbreitete Position, dass sich die Zusammenarbeit in Asien nicht mit ursprünglich für den europäischen Vergemeinschaftungsprozess entwickelten Analyseansätzen bewerten ließe, da diese Theorien davon ausgingen, dass Staaten a priori Integration, also die Schaffung supranationaler Institutionen, anstrebten. Dies entspreche jedoch nicht den Zielsetzungen regionaler Organisationen und Foren in Asien, die auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit unter Bewahrung der nationalen Souveränität ausgerichtet seien.50 Manfred Mols legte vor vielen Jahren eine politikwissenschaftliche Definition des Begriffspaars Kooperation und Integration vor,51 die sich auch heute noch sehr gut als Ausgangspukt für eine über das europäische Beispiel hinausgehende Diskussion der Eigenschaften und unterschiedlichen Formen des Regionalismus eignet. Kooperation beschreibt demnach beliebige Formen der Zusammenarbeit in unterschiedlichsten Politikfeldern (Sicherheitspolitik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Technologie usw.). Unerheblich ist dabei, wie viele und welche Akteure (staatliche und/oder nicht-staatliche) daran beteiligt sind und ob die Zusammenarbeit nach festen oder sich erst noch ergebenden Verfahren und Regeln betrieben wird. Kooperation bedarf selten einer breiteren Legitimationsgrundlage. Sie bezieht sich auf konkrete Sachverhalte und kann im Allgemeinen wieder beendet werden, ohne dass dadurch zwischenstaatliche oder zwischengesellschaftliche Beziehungen dauerhaft belastet würden. Kooperation impliziert a priori auch keine Einschränkung nationalstaatlicher Autonomie, Souveränität oder Identität. Kooperation kann unterschiedliche, beliebige Auslöser haben. Im Regelfall wird sie von denen, die sie initiieren, betreiben und je nach Umständen wieder beenden, unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten gesehen. Die involvierten Akteure erwarten von ihrem kooperativen Engagement einen komparativen, berechenbaren Vorteil. Gleichzeitig geht Kooperation im Bewusstsein der beteiligten Akteure aber über die allgemeine, als zwangsläufig empfundene Interdependenz der internationalen Beziehungen hinaus. Kurzum: Kooperation bringt Akteure zusammen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen oder gemeinsam geteilte Zielvorstellungen zu erreichen. Daraus folgend ist Integration nach Mols

50Statt 51Mols

vieler: Hong Pyo Lee (2018, S. 23–26). (1996, S. 20 ff.).

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J. Dosch fortgesetzte, dann aber verdichtete, realpolitisch schwierig zu revidierende Kooperation in als relevant empfundenen Politikfeldern und unter Beteiligung ebenfalls als relevant angesehener Akteursgruppen. Im Idealfall handelt es sich um einen autodynamischen [Prozess] multipler Verklammerungen, die über sich selbst hinausweisen. Integration liegt dann vor, wenn Souveränität nicht nur berührt oder (wie bei einer funktionalen Kooperation) graduell unterhöhlt wird, sondern direkt in einer Weise betroffen ist, dass das Herrschaftsmonopol des (National-)Staates erkennbare, ins Gewicht fallende Einschränkungen erfährt.52

Politikwissenschaftlich ist Integration somit weniger als exakt zu definierender Fixpunkt zu interpretieren, sondern als flexibles, dynamisches Konzept, das jedoch früher oder später die Frage supranationaler Governance aufwirft. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive zeichnet sich Integration hingegen konkret als Abfolge bestimmter Stufen der Zusammenarbeit ab. Integration – so hat es vor allem Béla Balassa beschrieben53 – beginnt mit der Schaffung einer Freihandelszone, führt über eine Zollunion, einen gemeinsamen Markt sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion, und mündet schließlich in eine wirtschaftliche und politische Union, de facto ein neues staatliches Gebilde. Der europäische Integrationsprozess, der zumindest die vierte Stufe in Balassas Typologie, also eine Wirtschafts- und Währungsunion, erreicht hat, lässt sich mit diesem Stufenmodell anschaulich beschreiben; auf den asiatischen Regionalismus trifft es nicht zu. Seit den späten 1970er Jahren hat vor allem die ASEAN mit verschiedenen Elementen aus dem Baukasten wirtschaftlicher Integration experimentiert, darunter Zollpräferenzabkommen, Projekte zur staatlichen Förderung gemeinsamer industrieller Großprojekte und Initiativen zum Aufbau regionaler arbeitsteiliger Produktionsnetzwerke und später eine Freihandelszone. Weder sind die einzelnen Vorhaben jemals vollständig implementiert worden, noch folgten sie dem Stufenmodell Balassas. Im eignen Verständnis bildete die ASEAN heute einen Binnenmarkt, ohne jemals zuvor die Stufe der Zollunion durchlaufen zu haben. Zudem ist der südostasiatische „Binnenmarkt“ nicht durch die üblichen Definitionskriterien, d. h. den vollständig freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen, charakterisiert. Das Problem liegt in der Begrifflichkeit. Löst man sich von der Vorstellung, dass Integration per definitionem stets Supranationalität beinhalten muss und einigt man sich auf den ersten Teil der oben genannten Definition, die Integration als

52Mols

(1996, S. 26). (1961).

53Balassa

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„verdichtete, realpolitisch schwierig zu revidierende Kooperation“ versteht, dann lässt sich auch im asiatischen Kontext über Integration sprechen. Ob im Einzelfall eine fortschreitende Integration, Stagnation oder gar Regression in der Praxis zwischenstaatlicher Kooperation zu konstatieren ist, hängt vor allem vom Erwartungshorizont der involvierten Akteure ab. Die selbstgesteckten Ziele der ASEAN, EAWU, SAARC, GMS usw. sind es, welche die Messlatte für Integrationserfolge bilden. Selbst wenn fast alle der in diesem Band vorgestellten Regionalorganisationen sowohl in der Eigen- als auch Fremdperzeption hinter ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben sind und häufig zentrale Visionen und Zielsetzungen enger wirtschaftlicher und politischer Vernetzung (noch) nicht erreicht wurden, haben die beteiligten Akteure bisher in keinem Fall in Erwägung gezogen, etablierte Kooperationsmechanismen wieder aufzukündigen. Zudem ist in einzelnen Sektoren eine kontinuierliche Vertiefung der Zusammenarbeit feststellbar, wie es auch in verschiedenen Fällen zu einer thematischen Ausweitung der Kooperation gekommen ist. Dies alles spricht durchaus für das Vorhandensein von Integration in einem weiten Verständnis. Um die Frage von Supranationalität zu umgehen, bietet es sich an, zunächst mit dem Ansatz des Intergouvernementalismus zu arbeiten, sei es in der realistischen Version von Stanley Hoffmann oder der liberalen Variante von Andrew Moravcsik.54 Zwar ist auch der Intergouvernementalismus vor dem empirischen Hintergrund der europäischen Integration entstanden, doch lässt er sich problemlos auf Asien anwenden, da die Nationalstaaten als zentrale Einheiten und die nationalen Regierungen als treibende Akteure in Integrationsprozessen dargestellt werden. Es handelt sich somit um einen staatszentrierten Ansatz, welcher der asiatischen Kooperationsrealität in besonderem Maße gerecht wird. Der Unterschied zwischen Hoffman und Moravcsik, der hier nur kurz angesprochen werden soll, aber nicht im Detail ausgeführt werden kann, besteht vor allem darin, dass aus realistischer Sicht die nationalstaatlichen Interessen im Integrationsverlauf durch die Machtverteilung zwischen den Staaten bestimmt werden, während sie aus liberaler Perspektive das Resultat eines innergesellschaftlichen Präferenzbildungsprozesses sind.55 Eine Schwachstelle des Intergouvernementalismus ist jedoch, dass er ausschließlich formale Institutionen, also kodifizierte, rechtsverbindliche und damit auch sanktionierbare Regeln und Verfahren, in den Fokus nimmt. Zwar ist auch der asiatische Regionalismus von

54Hoffman 55Für

(1966), (1995); Moravcsik (1993), (1998). eine Diskussion siehe z. B. Bieling (2012); Steinhilber (2012).

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formalen Institutionalisierungsprozessen geleitet, doch kommt informellen auf Konventionen und dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhenden Regelsystemen, wie oben dargestellt, eine ebenso bedeutsame Funktion zu. In diesem Sinne versteht Alice D. Ba im Kontext des asiatischen Regionalismus Institutionalisierung generell als „Regulierung kooperativen Verhaltens“, wobei Institutionen formal (materielle und rechtliche Strukturen) oder informell ausgeprägt (soziale Strukturen) sein können. Diese Überlegungen münden schließlich in der Definition: „Institutionalization is the process of creating commonly understood rules of the game, expected path of action and behaviour, and also understood constraints.“56 Die folgenden kritischen Bestandsaufnahmen der wesentlichen asiatischen Regionalorganisationen und anderer Formen der Zusammenarbeit, die sich auf dem Zeitstrahl von Bangsaen nach Astana und darüber hinaus gebildet haben, finden ihren Rahmen in dem hier vorgestellten Verständnis von Regionalismus als Intergouvernementalismus mit unterschiedlichen Ausprägungen.

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56Ba

(2016, S. 5). Für eine der umfassendsten Darstellungen und Diskussionen der großen Bandbreite an unterschiedlichen Regionalismus-Konzepten im asiatischen Kontext, die teilweise miteinander konkurrieren, siehe He 2017.

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Von Bangsaen nach Astana: Eine Annäherung an den ...

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Prof. Dr. Jörn Dosch hat den Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock inne. Zuvor lehrte und forschte er an der Monash University (Malaysia), der University of Leeds, der Stanford University und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie 2016 als Gastprofessor am Saw Swee Hock Southeast Asia Centre der London School of Economics and Political Science (LSE). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die internationalen Beziehungen des asiatisch-pazifischen Raums sowie die Außenbeziehungen der EU und der USA. U. a. veröffentliche er Die ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft, Überblick für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, 2016.

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt Pierre Gottschlich

1 Einleitung: Südasien als Idee Südasien ist mit seinen knapp zwei Milliarden Einwohnern die bevölkerungsreichste, am dichtesten besiedelte und am schnellsten wachsende Region der Erde. Es steht außer Frage, dass die Zukunft der Menschheit maßgeblich von den Entwicklungen im südasiatischen Giganten Indien und in den umliegenden Staaten geprägt werden wird. Obgleich über die zunehmende Bedeutung Südasiens weitgehende Einigkeit herrscht, bestehen doch häufig Unklarheiten, was genau Südasien jenseits von Indien eigentlich umfasst und ist. Wo die Grenzen der Region verlaufen, kann man aus verschiedenen Blickwinkeln (geographisch, politisch, historisch oder kulturell) sehr unterschiedlich definieren. Von der jeweiligen Perspektive auf Südasien ist auch die Einschätzung abhängig, ob es so etwas wie eine regionale südasiatische Identität gibt oder überhaupt geben kann. Der Beitrag möchte einige Ansätze vorstellen, um die aufgeworfenen Fragen zu beantworten: Was ist Südasien? Kann die Region eine gemeinschaftliche südasiatische Identität stiften? Die Idee einer Region „Südasien“ ist ein modernes und vergleichsweise junges Phänomen. Es ist ein erfundener, vollkommen künstlicher Ausdruck und ähnelt in diesem Sinne Bezeichnungen wie „Südostasien“ oder „Mittlerer Osten“1, ohne

1Arnold

(2012, S. 13).

P. Gottschlich (*)  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_2

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P. Gottschlich

jedoch bisher deren Popularität und Selbstverständlichkeit im täglichen Gebrauch erreicht zu haben.2 Der Begriff tauchte erst spät in der wissenschaftlichen Diskussion auf3 und war nach der Teilung Britisch-Indiens zunächst vor allem als politisch neutraler Name etabliert worden.4 Indien war nach der Unabhängigkeit 1947 erstmals zu einem echten Nationalstaat geworden, stellte aber gleichzeitig durch die Aufspaltung des britischen Kolonialerbes nur noch einen Teil dessen dar, was zuvor gemeinhin als, wenn man so will, Region „Indien“ bekannt war. Angesichts eines neu entstandenen Pakistan brauchte es nun auch eine neue, angemessenere Bezeichnung für den nicht länger nur indischen Subkontinent. Der Begriff „Südasien“ umfasste und umfasst neben Indien und Pakistan (sowie ab 1971 das unabhängige Bangladesch) auch Nepal, Bhutan, die Insel Ceylon (heute Sri Lanka) sowie die Malediven. Diese sieben Staaten formen im strengen, aber keineswegs unumstrittenen Sinne bis heute das, was als Südasien firmiert. Erst seit den 1960er Jahren hat in der Frage der regionalen Bezeichnung ein nachhaltiger Wandel stattgefunden.5 Zuvor wurden die Länder Südasiens und insbesondere Indien oftmals der Region Südostasien zugerechnet. Es ist insofern auch kein Zufall, dass Pakistan 1954 zusammen mit Thailand und den Philippinen Mitglied des südostasiatischen Militär- und Verteidigungsbündnisses Southeast Asia Treaty Organization (SEATO) wurde. Noch 1967 gab es ein Angebot an Indien, der soeben neu gegründeten südostasiatischen Regionalorganisation Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) beizutreten, welches die damalige Premierministerin Indira Gandhi jedoch ablehnte und damit vermutlich die Geschichte des Regionalismus in Süd- und Südostasien entscheidend beeinflusste.6 Später gab es sogar für eine Zeit den Trend, vom „Südlichen Asien“ zu sprechen, welches Süd- und Südostasien umfasste. Die Etablierung der Bezeichnung „Südasien“ als distinkte Regionalbezeichnung ist nicht zuletzt auch im Kontext des Kalten Krieges zu sehen, der im globalen Systemwettstreit eine „Parzellierung“ Asiens und der Welt in unterscheidbare geographische Blöcke vorantrieb.7 Formal eingeführt wurde der

2David Arnold

(Interview mit dem Autor, 20. Juni 2017). bei Hasan (1964). 4Bose and Jalal (1998, S. 3). 5Hasan (1964, S. 161). 6Wagner (2017a, S. 162). 7Joshi (2003, S. 6). 3Z.B.

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

27

Begriff schließlich 1985 mit der Gründung der Regionalorganisation South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC), mit der zugleich erstmals eine Art südasiatischer Identität verbunden wurde.8 Südasien wurde ab dieser Zeit in erster Linie als die Summe der Mitgliedsländer der SAARC verstanden. Die Gründerstaaten der SAARC gingen offenkundig von der Existenz einer Region Südasien aus, verzichteten gleichwohl aber darauf, konkret zu definieren, was genau darunter zu verstehen sein sollte.9 Einen bislang ungeklärten Grenzfall stellt Burma (heute Myanmar) dar, welches kartographisch der indo-chinesischen Halbinsel zugerechnet wird, historisch aber wesentlich engere Bindungen zum indischen Subkontinent hat und geographisch von beiden genannten Räumen isoliert ist.10 Heute wird Myanmar trotz seiner während der Zeit der britischen Kolonialherrschaft eng mit Südasien verflochtenen Geschichte gemeinhin eher als südostasiatisches Land angesehen11 – nicht zuletzt auch angesichts seiner Mitgliedschaft in der ASEAN. Ein zweiter bedeutender Grenzfall ist Afghanistan, welches zwischen Südund Zentralasien liegt, aber historisch-kulturell bisweilen zu Südasien gehörig angesehen wird. Im Gegensatz zu Myanmar wurde Afghanistan auch in die SAARC aufgenommen und ist seit 2007 vollwertiges Mitglied der Organisation. Gleichwohl bleibt seine regionale Zugehörigkeit umstritten, und es gibt gute Gründe für die Auffassung, dass Afghanistan wie auch Myanmar oder gar die mitunter ebenfalls ins Spiel gebrachten Länder Iran und China (vor allem und in erster Linie mit Tibet) außerhalb des eigentlichen Südasien liegen.12 Doch was ist Südasien? Der Historiker Sanjay Joshi beschreibt eindrücklich das komplizierte Umfeld, in welchem sich Definitionsansätze bewegen: Die meisten Versuche, die Region zu definieren, sind ziemlich willkürlich, und die Grenzen, welche die Region umfassen, irgendwie unklar. Die Vorstellung von Südasien ist heute kein Ergebnis von geographischer Nähe und beruht auch nicht auf

8Ahmed

(2013, S. 11). (2003, S. 6). 10Hasan (1964, S. 161). 11Emanual Nahar (Interview mit dem Autor, 19. Juni 2017). 12Arnold (2012, S. 13). Interessanterweise zählt die Statistikbehörde der Vereinten Nationen den Iran und Afghanistan offiziell zu Südasien, wohingegen Myanmar hier Südostasien zugerechnet wird. Quelle: United Nations Statistics Division (1999). 9Joshi

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P. Gottschlich einer geteilten Sicht der Welt. Vielmehr ist Südasien das Produkt einer Vielzahl globaler, regionaler und lokaler politischer Prozesse, welche umgekehrt unterschiedliche Konfigurationen von Machtverhältnissen und Geschichte reflektieren.13

Die Aufgabe, die Region Südasien greifbar zu machen, ist demnach komplex und schwierig, soll aber nichtsdestotrotz auf den folgenden Seiten angegangen werden. Die genaue Abgrenzung der Region kann geographisch und politischadministrativ erfolgen oder aber auch in historischer oder kultureller Hinsicht versucht werden.

2 Südasien als Region 2.1 Geographisch Das vielleicht signifikanteste Merkmal Südasiens ist seine geographische Abgeschiedenheit, die einmalig auf der Erde ist.14 Der Subkontinent wird an drei Seiten über eine Küstenlinie von mehr als 8500 km vom Indischen Ozean begrenzt und stößt im Norden auf die höchsten Gipfelketten der Welt, den Himalaya, dessen „ewiges Eis“ eine fast lückenlose Mauer von 400 km Breite und über 2500 km Länge bildet.15 Weder Meer noch Gebirge waren aber jemals völlig unüberwindbare Hindernisse und haben keineswegs zu einer vollständig isolierten Entwicklung Südasiens geführt.16 Schon immer haben Transitwege zu Wasser und zu Lande die Region mit den angrenzenden Gebieten verbunden und eine nachhaltige wechselseitige Beeinflussung ermöglicht. Ein signifikantes und in der Geschichte immer wieder bedeutendes Beispiel sind die Pässe zwischen dem Indus-Tal und dem iranischen Hochland.17 Es ist – nicht nur aus der Perspektive des Historikers Burton Stein – verlockend, jedoch irreführend, die Entwicklung einer so alten und reichen Zivilisation wie der indischen als isoliert von der umliegenden Welt anzusehen oder die Region gar als eine eigene Welt für sich zu betrachten. Denn, so Stein:

13Joshi

(2003, S. 6). Übersetzung durch den Autor. (2009, S. 23). 15Arnold (2012, S. 28–30). 16Stein (2010, S. 8–13). 17Joshi (2010, S. 370). 14Chapman

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

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Weit entfernt von einer isolierten Entwicklung waren Inder von den frühesten Zeiten ihrer Geschichte an Teil der weiteren Welt, die ihre Gemeinschaften, Kulturen und Staaten teilweise formte. Diese Verbindungen zur Welt sind ein wiederkehrendes Thema in der historischen Evolution Indiens, wie natürlich auch der umgekehrte Prozess des Einflusses Indiens auf die Welt.[…] Von Anfang an war die Schaffung Indiens verknüpft mit dem, was jenseits des Subkontinents lag.18

Die einzigartige geographische Lage hat signifikante Folgen für die Region gehabt. Während der weltweiten Ausbreitung des Menschen ist der Subkontinent durch seine geographische Abgeschnittenheit in den Worten des Indologen und Althistorikers Michael Witzel „eine Art Sackgasse gewesen, in der die Migrationen vieler Völkerschaften endeten.“19 Dieser Umstand erklärt laut Witzel die enorme „Vielfalt der indischen Menschentypen“ und die riesige Anzahl der auf dem Subkontinent gesprochenen Sprachen.20 Die ethnische und linguistische Heterogenität Südasiens ist bis heute immens und lässt manche Beobachter in Umkehr des indischen Staatsmottos „Unity in Diversity“ von „Diversity in Unity“, also einer Vielfalt innerhalb der geographischen Einheit des „unteilbaren Naturraums“21 Südasien, sprechen.22 Die geographische Zuordnung der Region und seiner Teile ist jedoch nicht unumstritten. Während in Indien das Narrativ der naturgegebenen Einheit des Subkontinents maßgeblich ist, gibt es beispielsweise in Pakistan konkurrierende Vorstellungen. Hier wird nicht zuletzt in Schulbüchern versucht, eine andere Sichtweise zu etablieren, in der Pakistan als natürlicher geographischer Teil der islamischen Welt und damit eher zu Zentral- und Westasien zugehörig angesehen wird.23 Eine geographische und historische Verbindung des Indus-Staates zu Indien und damit zu Südasien wird hierbei weitgehend negiert. In Anlehnung an Benedict Andersons berühmte Definition von Nationen als „imaginierten Gemeinschaften“ mag man hier gar von „imaginierten Geographien“ sprechen24, die gleichwohl bedeutsame Auswirkungen auf die politischen Gegebenheiten in Südasien haben können.

18Stein

(2010, S. 17–18). Übersetzung durch den Autor. (2003, S. 11).

19Witzel 20Ebd. 21Nahar

(1991, S. 7). and Jalal (1998, S. 4). 23Joshi (2010, S. 368). 24Joshi (2010, S. 358). 22Bose

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2.2 Politisch-administrativ In politisch-administrativer Hinsicht war Südasien schon immer stark fragmentiert und weit von einer einheitlichen Verwaltungsstruktur entfernt. Ein Blick auf eine fast siebzig Jahre alte, aber noch immer aufschlussreiche Karte des Geographen Winifred M. Day zeigt, dass in viereinhalbtausend Jahren Geschichte die Binnengrenzen von teilweise größerer Bedeutung waren als die (politischen) Grenzziehungen nach außen.25 Days Karte stellt die Dauerhaftigkeit von Grenzen anschaulich dar: Je länger eine Abgrenzung Bestand hatte, desto dicker ist die entsprechende Linie eingezeichnet. Die neben dem Himalaya stärkste Linie verläuft von Süd-Gujarat entlang des Flusses Narmada ostwärts quer über die indische Landmasse bis zur Küste des Golfs von Bengalen bei Balasore (Baleswar) im Norden Odishas. Nicht wenige Autoren sehen die vielleicht wichtigste Trennlinie des Subkontinents in dieser Grenze zwischen Nord- und Zentral- bzw. Südindien26 – wesentlich bedeutender als beispielsweise der Indus als Grenzfluss in Richtung Westasien. Die Historiker Hermann Kulke und Dietmar Rothermund verorten entlang dieser Nord-Süd-Grenzlinie von Gujarat bis an die Ostküste eine 600 km breite und 1700 km lange „Zwischenregion“, welche die Flussebenen des Nordens vom Rest des Subkontinents abtrennt und lange Zeit als Barriere für Händler, Eroberer und Einwanderer fungierte.27 Der „Dakshinapatha“ (Weg nach Süden) wurde und wird hier durch unwegsames Waldgelände, Bergketten und ödes Hochland erschwert.28 Für lange Phasen der indischen Historie gilt daher, dass nur die entschlossensten Wanderer und Eindringlinge in den Süden gelangt sind.29 Die Physiographie der Landschaft hat hier die politische, wirtschaftliche und soziale Geschichte der Menschen entscheidend geprägt.30 Südasien war dementsprechend, wie man angesichts der Karte von Day sofort vermuten würde, niemals ein einziger, einheitlicher Staat31 – schon gar nicht im Sinne eines modernen Nationalstaates europäischer Prägung.

25Day

(1949). (2010, S. 2–3). 27Kulke und Rothermund (2010, S. 17). 28Ebd., S. 13. 29Chapman (2009, S. 7). 30Stein (2010, S. 9). 31Arnold (2012, S. 37). 26Mann

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

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Schon der erste nennenswerte Versuch, eine Art Zentralstaat auf dem Subkontinent zu etablieren, schlug letztlich fehl. Im 3. Jahrhundert v.u.Z. schuf der Maurya-Kaiser Ashoka einen zentralistischen und straff organisierten Verwaltungsstaat, der gleichwohl lediglich einen Teil Südasiens umfasste und bei weitem nicht überall echte Kontrolle ausüben konnte.32 Mithilfe eines Berufsbeamtentums betrieb Ashoka in seinem Machtbereich die Umwandlung der Ökonomie von Gütertausch in Geldwirtschaft und vereinheitlichte nicht nur Grundzüge des Rechts, sondern auch Maße und Gewichte. Kaiser Ashoka machte darüber hinaus den Buddhismus zur Staatsreligion und versuchte so, auch in weltanschaulich-spiritueller Hinsicht eine Einigung voranzutreiben. Das MauryaReich war jedoch fragil und kurzlebig und zerfiel nach Ashokas Tod 232 v.u.Z. rasch. Danach gelang es zunächst nur noch der Gupta-Dynastie im 4. Jahrhundert und dem Delhi-Sultanat im 13. und 14. Jahrhundert, mehr als die Hälfte des indischen Festlandes für mehr als ein paar Jahrzehnte unter ihre Kontrolle zu bringen.33 Die großen Entfernungen stellten sich immer wieder als nahezu unüberwindbare Hindernisse für eine dauerhafte Kontrolle des Landes heraus. Auch die wiederholten Versuche, die übergroßen Reiche von zwei Hauptstädten aus zu administrieren (beispielsweise im frühen 14. Jahrhundert durch Sultan Muhammad bin Tughluq mit den Hauptstädten Delhi und Daulatabad), brachten keine dauerhafte und nachhaltige Lösung für dieses Dilemma.34 Die ab 1526 regierenden Mogulkaiser entfalteten eine bis dahin ungekannte Machtfülle. Sie stützten sich auf neue, von einer starken und beweglichen Kavallerie getragene Formen der Kriegsführung und versuchten, in ganz Indien ein einheitliches und zentralisiertes Verwaltungssystem zu etablieren. Ihr Machtantritt wird vielfach mit dem Beginn der „Neuzeit“ in der indischen Geschichtsschreibung gleichgesetzt.35 Doch auch den Moguln glückte es nicht, ganz Südasien unter ihre Herrschaft zu stellen. Selbst während der Phase seiner größten Ausdehnung Ende des 17. Jahrhunderts unter Aurangzeb konnte das Mogulreich den drawidischen Süden Indiens nicht vollständig erobern und sah sich zudem in mehreren Teilen des Landes mit bedeutenden Aufständen konfrontiert.36 Erst den britischen Kolonialherren gelang es, formal den gesamten

32Ray

(2008, S. 13–51). (2012, S. 38). 34Kulke und Rothermund (2010, S. 19). 35Kulke und Rothermund (2010, S. 15). 36Conermann (2006, S. 105–113). 33Arnold

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Subkontinent unter ihrer Regierung zu vereinen, auch wenn diese Machtausübung oftmals indirekt erfolgte. Doch die knapp zweihundertjährige Periode der „British Raj“, bei der ohnehin nur in ihrer zweiten Hälfte von einer vollständigen Durchdringung Südasiens gesprochen werden kann, macht vor allem für revisionistische Kritiker der britischen Imperialgeschichte lediglich einen Wimpernschlag in den Jahrtausenden indischer Historie aus.37 Allerdings sollte man die Bedeutung der Herrschaft der Briten nicht unterschätzen, auch wenn gerade indische Historiker immer wieder auf die vermeintliche „Marginalität des britischen Einflusses“ verweisen.38 Denn, und das ist hier entscheidend, es handelt sich um die unmittelbar zurückliegenden und damit vor der Unabhängigkeit gleichsam prägendste Erfahrung des Subkontinents, was für viele Beobachter ihren besonders essenziellen Charakter für die Gegenwart unterstreicht.

2.3 Historisch Bei der politischen Etablierung der Bezeichnung Südasien wurde dem einigenden Einfluss der Briten entscheidende Bedeutung zugesprochen. Es sind dementsprechend zahlreiche wichtige Versatzstücke des „kolonialen Erbes“, welche die Region bis heute nachhaltig prägen. Hierbei ist es zum Beispiel nur britischen Interessen geschuldet, dass eine Zugehörigkeit Myanmars zu Südasien überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen wird.39 Britisch-Indien umfasste in einem Versuch der Ausweitung und Verteidigung des Kolonialreiches auf dem eigentlichen Subkontinent auch das damalige Burma, welches nach der Unabhängigkeit gleichwohl nie wirklich in die neu ausgerufene Region einbezogen wurde und als komplizierter Sonderfall galt und gilt. Unzweifelhaft haben die 200 Jahre britischer Kolonialherrschaft auf dem indischen Subkontinent signifikant zur Entwicklung einer mutmaßlich einheitlichen Region Südasien beigetragen: Die Verwaltungsstrukturen der „British Raj“ und das Westminster-System formen eine geteilte administrative und politische Basis in allen südasiatischen Ländern, die trotz aller nachträglichen Anpassungen noch immer deutlich erkennbar ist.40 Insbesondere die Administration durch den Civil Service, nicht umsonst als der

37Joshi

(2003, S. 7). und Rothermund (2010, S. 14). 39Joshi (2003, S. 7). 40Nahar (1991, S. 7). 38Kulke

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

33

„stählerne Rahmen“ der britischen Herrschaft bekannt, hat eine Zentralisierung der Verwaltung ermöglicht, die bis heute nachwirkt. Auch die Vereinheitlichungen von Recht, Währung und Kommunikationswegen hat der Entwicklung einer mehr oder weniger uniformen Region aus einer schier unüberschaubaren regionalen Diversität und Heterogenität Vorschub geleistet.41 Die Errichtung des weltgrößten Eisenbahnnetzes durch die Briten hat die Mobilität der Menschen und den Austausch von Gütern und Ideen auf dem Subkontinent mehr gefördert als jede Zwangsmaßnahme es vermocht hätte. Hierzu hat nicht zuletzt auch die englische Sprache beigetragen, die als neue Verkehrssprache eine Verständigung über die Sprachgrenzen Britisch-Indiens ermöglichte. Doch nicht nur die britische Kolonialherrschaft selbst, sondern auch die Teilung des Subkontinents als ihre unmittelbare Folge kann als eine wichtige gemeinsame, wenngleich traumatische, Erfahrung der Menschen in Südasien angesehen werden.42 Interessanterweise verlief auch nach der Teilung die Geschichte der zunächst zwei und nach der Unabhängigkeit von Bangladesch drei großen südasiatischen Staaten erstaunlich parallel. Die 1950er und 1960er Jahre waren sowohl in Indien als auch in Pakistan von Prozessen des „Nation Building“ geprägt: Das jeweilige Staatsgebiet wurde zum Teil gewaltsam arrondiert und konsolidiert, Verfassungen wurden geschrieben und staatliche Souveränität nach innen durchgesetzt. Die 1970er Jahre sahen eine Garde populistisch agierender Politiker: Indira Gandhi in Indien, Zulfikar Ali Bhutto in Pakistan und Mujibur Rahman in Bangladesch. Alle drei Populisten erlagen den Versuchungen einer autoritären Herrschaft, alle drei stießen aber auf massiven Widerstand – Indira Gandhi wurde nach der Rückkehr zu freien Wahlen aus dem Amt gewählt, Zulfikar Ali Bhutto und Mujibur Rahman fielen Militärputschen zum Opfer. In den 1980er Jahren kam es in ganz Südasien zu einem Aufstieg extremistischer religiöser Kräfte: In Pakistan und Bangladesch zeigten sich erstmals und staatlich gefördert die islamistischen Tendenzen, welche die Region seither in Unruhe halten. Indien hatte derweil mit radikalen, terroristischen Sikhs zu kämpfen und erlebte den gesellschaftlichen und politischen Aufstieg eines zum Teil gewalttätigen Hindu-Nationalismus. Die 1990er Jahre brachten schließlich mit der Ära der Globalisierung eine Phase der politischen Pluralisierung und wirtschaftlichen Öffnung, des bescheidenen ökonomischen Aufschwungs und des höheren Lebensstandards. Gleichwohl

41Joshi 42Keay

(2003, S. 7). (2014, S. xxviii): „Indeed, Partition itself needs to be seen as a shared experience.“

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P. Gottschlich

blieben und bleiben die Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche von Millionen Menschen noch immer unerfüllt.43 Spätestens seit den ersten Versuchen einer stärker institutionalisierten regionalen Zusammenarbeit in den 1980er Jahren wurde Südasien als eine Region der gemeinsamen Probleme wie Überbevölkerung, Armut und Unterernährung angesehen.44 Es sind in einer Erweiterung des traditionellen Sicherheitsbegriffs auch und gerade die Schwierigkeiten der „menschlichen Sicherheit“, welche die Region interdependent belasten. Hierzu zählen die Sicherung des Zugangs zu Nahrung, Wasser und Energie ebenso wie die zunehmend grenzüberschreitenden Bedrohungen durch Krankheiten und Kriminalität.45 Trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungswege gibt es noch immer ein starkes Bewusstsein für die gemeinsamen Herausforderungen in Südasien, zu denen neben sozialen und ökonomischen Problemen in den einzelnen Ländern auch eine allzu oft anzutreffende politische Instabilität und der transnationale Terrorismus gezählt werden.46 Die Geschichte der gemeinsamen Problembewältigung in der Region hat nach dieser Auffassung gerade erst begonnen. Die SAARC könnte hierbei zukünftig eine wichtige Rolle spielen.47

2.4 Kulturell Kulturelle Verbindungen spielen eine bedeutende Rolle bezüglich der Frage, wie weit die Region Südasien reicht. Afghanistan ist ein interessantes Beispiel. Es wird geographisch in der Regel Zentralasien zugerechnet, unterscheidet sich kulturell aber stark von den anderen Ländern der Region. Eine kulturelle Affinität zu Südasien ist hingegen unbestreitbar. Afghanistan hat deutlich mehr Kontakte nach Pakistan und Indien als nach Tadschikistan und Kirgistan.48 Trotzdem tun sich viele Beobachter schwer damit, Afghanistan als südasiatisches Land einzuordnen. Doch was genau umfasst eine vermeintlich einheitliche südasiatische Kultur? Der britische Historiker David Arnold stellt hierzu zunächst einmal fest:

43Keay

(2014, S. xxxiii). (1991, S. 7). 45Ahmed (2013, S. 1–2). 46Emanual Nahar (Interview mit dem Autor, 19. Juni 2017). 47Ahmed (2013, S. 4). 48Emanual Nahar (Interview mit dem Autor, 19. Juni 2017). 44Nahar

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

35

Wenn man von der südasiatischen Kultur spricht, ist damit keine einzelne, deutlich abgegrenzte und von allen übrigen Kulturen abgeschnittene Welt gemeint, sondern ein Gebiet, in dem sich bestimmte Denk- und Glaubensmuster wie auch gewisse Formen sozialen und materiellen Lebens entwickelt und immer wieder erneuert haben.49

Zu diesen überwölbenden Mustern kultureller Traditionen zählt Arnold, vielleicht etwas überraschend, als erstes die sich aus dem „vibrierenden Pluralismus des religiösen Lebens und der sozialen Ideen in Südasien“ fast notwendig ergebende „Neigung, engen Konformismus infrage zu stellen“50 – eine südasiatische „Streitkultur“51. Hinzu kommen eine unbestreitbare Religiosität und „eigentümliche Formen sozialer Organisation“ wie das Kastensystem oder vergleichbare Besonderheiten des Zusammen- oder Nichtzusammenlebens, die Südasien deutlich von anderen Regionen unterscheiden.52 Nicht zuletzt gibt es aber natürlich Merkmale, welche die Menschen Südasiens teilen und die sie von anderen Gruppen unterscheiden – und welche zudem dazu führen, dass sie sich auch außerhalb Südasiens häufig instinktiv erkennen und miteinander in Kontakt treten.53 Der britische Südasien-Experte und Autor John Keay hat mit dem mitunter vorteilhaften Blick von außen festgestellt, wo diese Gemeinsamkeiten liegen: Für den außenstehenden Betrachter scheinen zwischen den Völkern Südasiens sehr viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu bestehen. In den Abflughallen der Welt sind sie ebenso allgegenwärtig wie die Chinesen und genauso schwer einem konkreten Teil ihrer Heimat zuzuordnen. Unabhängig von ihrer Nationalität sehen sie sich nicht unähnlich, sie tragen oft weite, bequeme Kleidung, und sie reisen mit zu viel Gepäck. Sie sind zudem recht eigen, was ihre Essgewohnheiten betrifft. Sie unterhalten sich in Sprachen (inklusive Englisch), die zum Teil wechselseitig verständlich sind. Sie mögen dieselben Kinofilme und entscheiden sich für die gleichen Musikkanäle. Fast alle betätigen sich regelmäßig in irgendeiner Form von religiöser Aktivität, fast alle heiraten innerhalb von abgegrenzten Kreisen, und fast alle sind stolz auf ihre familiären, lokalen und regionalen Identitäten.[…] Die Unterschiede zwischen einem [südasiatischen] Land und einem anderen sind weit weniger offenkundig als die zwischen zwei benachbarten europäischen Staaten.[…] Stolz auf die

49Arnold

(2012, S. 20–21). (2012, S. 24). 51Sen (2005). 52Arnold (2012, S. 25–26). 53Yusuf and Najam (2013, S. 3). 50Arnold

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P. Gottschlich Vergangenheit, ein unerschütterliches Gespür für die eigene Gemeinschaft und eine schillernde Vielzahl an kulturellen Referenzen sind keineswegs nur in der Region [Südasien] zu finden. Aber ihre Beharrlichkeit und Zentralität in Südasien sind einzigartig.[…] Menschen aus Südasien haben mehr gemein als sie zugeben würden.54

Die notwendige Unbestimmtheit einer südasiatischen Kultur oder Zivilisation bietet allerdings auch Anknüpfungspunkte für den Versuch der Durchsetzung einer kulturellen Hegemonialstellung durch Indien, wie eine Anekdote illustriert, die John Keay dem Autor dieses Beitrags in einem Interview schilderte: [Im Mai 2017] führte das Jaipur Literature Festival eine Reihe von Veranstaltungen in der British Library in London durch.[…] Am zweiten Abend gab es einen großen Empfang, bei dem der indische Botschafter [Yashvardhan Kumar Sinha] eine kurze Rede hielt. Sie war in keiner Weise bemerkenswert bis auf den Fakt, dass er die Gelegenheit nutzte, alle Anwesenden aufzufordern, den indischen Subkontinent nicht länger „Südasien“ zu nennen, sondern einfach zur vor der Teilung [1947] üblichen Bezeichnung „Indien“ zurückzukehren. Ich habe keine Ahnung, was der Anlass für diesen recht undiplomatischen Appell war, und ob es eine rein persönliche Einschätzung oder offizielle Politik war. Das Publikum, welches auch Nepalesen, Bangladeschis und Pakistanis umfasste, war auf jeden Fall sprachlos – wie auch britische Beobachter wie ich selbst, die sich so lange bemüht haben, gerade nicht den Ausdruck „Indien“ für die ganze Region zu verwenden.55

Hier zeigt sich nach Auffassung mancher Kritiker in unguter Weise das „koloniale Erbe“, welches die indische Vorstellung von Südasien bis heute beeinflusst. Der moderne Nationalstaat Indien sieht sich demnach in direkter Nachfolge der Briten als allen anderen Ländern in der Region weit überlegene und damit unumstrittene Hegemonialmacht in Südasien.56 Die Vorherrschaft Indiens wird hierbei nicht nur in seinem übergroßen Anteil von jeweils rund drei Vierteln der südasiatischen Landmasse und Bevölkerung sowie in seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke deutlich, sondern nicht zuletzt auch in kultureller Hinsicht. Südasien ist und bleibt aus dieser Perspektive stets und in allen Facetten auf das heutige Indien fixiert. Die Furcht der übrigen Staaten vor einer auch kulturell erdrückenden Dominanz Indiens als „Gutsherr Südasiens“ scheint nicht

54Keay

(2014, S. xxvii–xxviii). Übersetzung durch den Autor. Keay (Interview mit dem Autor, 11. Juni 2017). Übersetzung und erläuternde Ergänzungen durch Autor. 56Joshi (2003, S. 9). 55John

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37

unbegründet, auch wenn sich Neu-Delhi selbst als „wohlwollender Hegemon“ versteht.57

3 Südasien als Identität Die erstaunliche Äußerung des indischen Botschafters in London und die Reaktion darauf haben einmal mehr deutlich gemacht, wie tief das wechselseitige Misstrauen in Südasien sitzt. Der Gedanke an eine gemeinsame, übergreifende südasiatische Identität erscheint da fast absurd. Ist die Idee also völlig utopisch? Nicht unbedingt. Obgleich die nationale Identität heute unter den multiplen Identitäten des durchschnittlichen Südasiaten die mit Abstand bedeutsamste ist, gibt es doch Ansatzpunkte für ein mögliches anderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese Ansätze beruhen vor allem auf der geteilten Geschichte im „alten Indien“, also vor der Teilung, und auf einem daraus erwachsenden, spezifisch südasiatischen Sentiment.58 Am Ende der „British Raj“ 1947 war die Idee einer übergeordneten Identität vor allem in der breiten Masse der Bevölkerung nicht stark genug, um das Auseinanderbrechen zu verhindern.59 Auch heute wird ein solcher pan-südasiatischer Identitätsentwurf kaum die inzwischen oftmals fest verankerten nationalen Zuschreibungen in Indien, Pakistan oder Bangladesch ersetzen können. Aber unter Umständen könnte er sie um eine zusätzliche Facette ergänzen. Denn: Identität ist veränderlich. Sie umfasst fast immer mehrere Ebenen und ist selbstverständlich kontextgebunden, wie das Beispiel eines indischen Auswanderers eindrücklich zeigt: In Indien war ich Bengale. Unsere Nachbarn waren Tamilen und Punjabis und Telugus.[…] Irgendwo waren wir uns vage bewusst, dass wir auch Inder waren – wir waren Inder, wenn der Premierminister in einem fremden Land auf einem rotem Teppich empfangen wurde, wir waren Inder, wenn die Kricket-Nationalmannschaft ein Spiel gewonnen hatte, und wir waren Inder, wenn der Premierminister eines Nachbarstaates Indien beschuldigte, sich in dessen Angelegenheiten einzumischen. (Doch wenn das Kricket-Team verlor, war uns sofort klar, dass es daran lag, dass zu viele Telugus oder Punjabis in der Mannschaft waren.) Aber sobald ich Indien verlassen hatte, schien meine Identität mit jedem Flugzeug, das ich auf meiner Reise in die Vereinigten Staaten bestieg, zu wachsen. Sie umfasste nun Bundesstaaten,

57Ebd. 58Dixit

(2016). (2009, S. 326).

59Chapman

38

P. Gottschlich Provinzen, Nationen und schließlich ganze Kontinente, bis ich eines Tages beim Ausfüllen eines weiteren offiziellen Dokuments realisierte, dass ich plötzlich Asiate geworden war – oder zumindest war dies das Kästchen, welches für mich vorgesehen war. Ich machte mein Kreuz in das Kästchen und ging, ohne viel darüber nachzudenken, meiner Wege.60

Es ist auffällig, dass sich eine auf der gemeinsamen Herkunft aus Südasien beruhende Identität fast ausschließlich im „Desi“-Konzept in der DiasporaSituation zeigt,61 wo die Binnendifferenzierungen nicht zuletzt auch angesichts geteilter Erfahrungen und Probleme schnell verwischen. In Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Kenia oder Australien scheinen die Grenzen der Nationalstaaten Indien, Pakistan und Bangladesch sehr viel leichter zu überwinden zu sein. Es spricht einiges dafür, dass gerade dort, wo eine gemeinsame südasiatische Identität vielleicht am stärksten benötigt wird, nämlich in Südasien selbst, der Ballast von 70 Jahren Nationalismus zu stark sein könnte, um ein übergeordnetes Zugehörigkeitsgefühl zu schaffen. Dies zeigt sich auch in dem oftmals vernachlässigten Umstand, dass der Prozess des „Nation Building“ in mehreren südasiatischen Ländern noch weit davon entfernt scheint, abgeschlossen und vollendet zu sein und es daher hier kaum Raum für vermeintlich konkurrierende Identitätsentwürfe gibt.62

4 Schlussfolgerung: Zusammengehörigkeit und Zusammenarbeit in Südasien Der aus Nepal stammende Publizist und Herausgeber Kanak Mani Dixit hat vor einigen Jahren bitter festgestellt, dass sechs Jahrzehnte nationalistischer Politik ausgereicht haben, eine vage gemeinsame Identität auf dem indischen Subkontinent auszulöschen und durch Identitäten zu ersetzen, die sich ausschließlich am Nationalstaat orientieren.63 Diese künstliche Distanz wurde und wird dadurch verstärkt, dass die Menschen Südasiens aufgrund zum Teil rigider Grenz-

60Roy

(1998, S. 168–169). Übersetzung durch Autor. bedeutet wörtlich „von (unserem) Land“ und wird übertragen im Sinne von „unsere Leute“ benutzt. Der Begriff ist von „desh“ (= Land, Heimatland) abgeleitet und dient als gängige (Selbst-)Bezeichnung für Angehörige der südasiatischen Diaspora. 62Ahmed (2013, S. 175). 63Dixit (2013, S. 30). 61„Desi“

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

39

abschottung, beispielsweise zwischen Indien und Pakistan, zum Großteil nicht in der Lage sind, andere Länder der Region als Pilger oder Touristen zu bereisen. Die daraus resultierende Entfremdung hatte die paradoxe und traurige Folge, dass gerade die Menschen in der nördlichen Indus- und Ganges-Ebene (also im heutigen Pakistan, Indien und Bangladesch), die sich eigentlich am ähnlichsten sind, heute die größten Feindseligkeiten gegeneinander hegen.64 Entsprechend pessimistisch sind die Einschätzungen über die Aussichten auf eine auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl beruhende dauerhafte regionale Kooperation, die alle Länder Südasiens umfasst. Dieser Pessimismus zeigt sich gleichermaßen in der Region selbst wie auch im (akademischen) Blick von außen. Der indische Politikwissenschaftler und SAARC-Spezialist Emanual Nahar sieht in den bilateralen Streitfragen und in einer Atmosphäre von Angst, Misstrauen und Neid kaum zu überwindende Hindernisse, die eine echte Kooperation (im Moment) unmöglich machen: Die spalterischen Kräfte auf dem Subkontinent überwiegen jedes Gefühl der Zusammengehörigkeit.65 David Arnold nennt die Wirkungskraft einer vermeintlich einigenden südasiatischen Identität „vernachlässigbar“. Das Konzept sei eine Sichtweise von außen, nicht von innen, und finde im gegenwärtigen Klima kaum Anklang unter den Meinungsführern und Entscheidungsträgern in der Region selbst.66 Etwas optimistischer sieht John Keay die Dinge: Zwar nennt auch er den Gedanken an eine südasiatische Identität „abwegig“, betont aber zugleich, dass die Gemeinsamkeiten („commonalities“) der Menschen in Südasien durchaus für engere regionale Verbindungen und eine stärkere Zusammenarbeit sprechen.67 Angesichts der andauernden und scheinbar ausweglosen Kooperationsblockaden, die insbesondere dem historisch extrem belasteten bilateralem Verhältnis zwischen Indien und Pakistan entspringen, könnte zukünftig möglicherweise auch der Versuch unternommen werden, die Region Südasien neu zu definieren – „Südasien 2.0“.68 Manche Bestrebungen der jüngeren Vergangenheit deuten bereits in eine solche Richtung: Die diplomatische Isolierung Pakistans in den Jahren 2016 und 2017 hat vor allem in Indien Stimmen lauter werden lassen, welche die Region zukünftig ohne Pakistan verstanden wissen möchten.

64Dixit

(2013, S. 31). Nahar (Interview mit dem Autor, 19. Juni 2017). 66David Arnold (Interview mit dem Autor, 20. Juni 2017). 67John Keay (Interview mit dem Autor, 11. Juni 2017). 68Wagner (2017b). 65Emanual

40

P. Gottschlich

In einer solchen „Neuvermessung Südasiens“69 würden aber die geographische Einheit, die gemeinsame Geschichte und die geteilte Kultur Südasiens gegenüber außenpolitischen Kalkülen in den Hintergrund treten. Ein Ausschluss Pakistans könnte sich hierbei gerade für Indien als Pyrrhus-Sieg entpuppen: Die Loslösung der Definition der Region von zwar nicht unumstrittenen, aber trotz allem halbwegs anerkannten Kriterien von Geographie, Historie und Kultur könnte für Akteure wie China als Einladung verstanden werden, ebenfalls Ansprüche auf Zugehörigkeit zu Südasien zu erheben.70 Ob mit einer solchen Entwicklung dem regionalen Zusammengehörigkeitsgefühl und den Aussichten auf eine vertiefte regionale Zusammenarbeit wirklich gedient wäre, muss bezweifelt werden – von der Entstehung einer gemeinsamen südasiatischen Identität ganz zu schweigen.

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69Wagner

(2017b, S. 4). 2016, S. 6.

70Chowdhury

Südasien als Region und identitätsstiftendes Konstrukt

41

Keay, John. 2014. Midnight’s descendants: South Asia from Partition to the present day. London: William Collins. Kulke, Hermann, und Dietmar Rothermund. 2010. Geschichte Indiens: Von der Induskultur bis heute, 2. Aufl. München: Beck. Mann, Michael. 2010. Geschichte Südasiens: 1500 bis heute. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Nahar, Emanual. 1991. SAARC: Problems and prospects. New Delhi: Sehgal Publishers. Ray, Himanshu P. 2008. Interpreting the Mauryan empire: Centralized state or multiple centres of control? In Ancient India in Its Wider World, Hrsg. Grant Parker und Carla M. Sinopoli, 13–51. Ann Arbor: University of Michigan Press. Roy, Sandip. 1998. The call of rice: (South) Asian American Queer Communities. In A Part, Yet Apart: South Asians in Asian America (eds) Dhingra Shankar, Lavina and Rajini Srikanth, 168–185. Philadelphia: Temple University Press. Sen, Amartya. 2005. The argumentative Indian: Writings on Indian culture, history and identity. London: Penguin Books. Stein, Burton. 2010. A history of India, 2. Aufl. Chichester: Wiley-Blackwell. United Nations Statistics Division. 1999. Methodology: Standard Country or Area Codes for Statistical Use (M49). https://unstats.un.org/unsd/methodology/m49/. Wagner, Christian. 2017. Asien. In Regionen und Regionalismus in den Internationalen Beziehungen: Eine Einführung, Hrsg. Simon Koschut, 161–177. Wiesbaden: Springer VS. Wagner, Christian. 2017. Südasien neu denken: Szenarien einer veränderten politischen Geographie. SWP Aktuell 45: 1–4. Witzel, Michael. 2003. Das alte Indien. München: Beck. Yusuf, Moeed, und Adil Najam. 2013. Imaging South Asian Futures. In South Asia 2060: Envisioning regional futures, Hrsg. Moeed Yusuf und Adil Najam, 1–8. London: Anthem Press.

Dr. Pierre Gottschlich  ist seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikund Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. Seit 2019 vertritt er dort den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Area Studies Südasien, Fragen der Kollektividentität, die Außen- und Sicherheitspolitik Indiens sowie internationale Krisen- und Konfliktforschung. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Von 1998 bis 2004 studierte Pierre Gottschlich Politikwissenschaft an der Universität Rostock und an der University of Nebraska at Kearney (USA). 2010 erfolgte die Promotion zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über die indische Diaspora in den USA.

Südasien neu denken: Vergangenheit und Zukunft der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) Christian Wagner 1 Einleitung: Kontextbedingungen regionaler Zusammenarbeit in Südasien In Südasien lebten 2018 ca. 1,814 Mrd. Menschen.1 Dies entsprach ca. 24 Prozent der Weltbevölkerung. Mit einem Wirtschaftswachstum von 6,7 Prozent gehörte Südasien 2018 im internationalen Vergleich zu den am schnellsten wachsenden Regionen.2 Allerdings liegt der Anteil Südasiens am globalen Bruttosozialprodukt (BSP) deutlich unter dem Bevölkerungsanteil. Die Region ist ein Wachstumsmotor der Weltwirtschaft zugleich aber auch, nach Sub-Sahara Afrika, das größte Armenhaus der internationalen Gemeinschaft. So lag das Pro-Kopf-Einkommen in der Region 2018 bei lediglich 1.923 US$.3 Trotz aller Erfolge bleibt der Kampf gegen die Armut eine der zentralen Herausforderungen in Indien und Pakistan.

1The

World Bank (2020d). Die Region Südasien setzt sich aus den Mitgliedsstaaten der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) zusammen. Diese umfassen Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka.

2The 3The

World Bank (2020a). World Bank (2020d).

C. Wagner (*)  Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_3

43

44

C. Wagner

Tab. 1   Südasien: Sozioökonomische Rahmendaten Bevölkerung Pro Kopf BIP Anteil der Bevölkerung (in Mio.) 2017 (in USD) mit weniger 2017 als 1,90 US$/ Tag (2011 PPP) in %

HDI Rang Anteil der Bevölkerung 2017 mit weniger als 3,20 US$/ Tag (2011 PPP) in %

Afghanistan

35,5

587

n/a

n/a

168

Bangladesch

164,7

1602

18,5 (2011)

60,4 (2011)

136

Bhutan Indien Malediven Nepal

0,8

2903

2,2 (2012)

14,5 (2012)

134

1352,6

1983

21,2 (2011)

60,4 (2011)

130

0,4 29,4

12.527

7,3 (2011)

24,4 (2011)

101

734

15 (2011)

50,9 (2011)

149

Pakistan

207,6

1541

6,1 (2013)

39,7 (2013)

150

Sri Lanka

21,4

4085

1,9 (2012)

16,1 (2012)

76

BIP: Bruttoinlandsprodukt; HDI: Human Development Index Quelle: https://hdr.undp.org/en/data

2015 hatten in Indien 50,4 Prozent der Bevölkerung weniger als 3,20 US$ pro Tag zur Verfügung, in Pakistan waren es 34,7 Prozent.4 (s. Tab. 1). Zugleich ist Südasien auch eine der konfliktträchtigsten Regionen im weltweiten Vergleich.5 Keine andere Region in Asien hat mehr Kriege und bilaterale Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Eine der Ursachen ist das komplexe Konfliktspektrum von alten und neuen sicherheitspolitischen Bedrohungen. Zu den klassischen zwischenstaatlichen Konflikten zählen Territorialkonflikte wie der Streit zwischen Indien und Pakistan über die Zugehörigkeit Kaschmirs oder die Grenzkonflikte u. a. zwischen Indien und China sowie Afghanistan und Pakistan (Durand-Line). Die Atomprogramme Indiens und Pakistans bergen die Gefahr eines weiteren Konfliktes – den einer nuklearen Eskalation. Des Weiteren stehen alle Staaten der Region einer Reihe neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen gegenüber. Der Klimawandel und die zunehmenden Umweltprobleme verstärken die seit Jahren zu beobachtende

4The

World Bank (2020b, c). Die Prozentangaben sind bezogen auf ein kaufkraftbereinigtes Einkommen in US$ mit Basiswert 2011 (US$ 2011 PPP). 5Lalwani und Haegeland (2018, S. 11).

Südasien neu denken: Vergangenheit und Zukunft der South ...

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Migration und die Urbanisierung. Die schwache Staatlichkeit bietet Freiräume für ein breites Spektrum militanter Gruppierungen, das ethnisch-separatistische, religiös-extremistische sowie linksradikale Gruppen umfasst. In den letzten Jahren sind neue konfliktverschärfende Mechanismen hinzugekommen. Im militärischen Bereich sind dies neue Waffenplattformen, wie seegestützte Nuklearwaffen sowie neue Militärdoktrinen, die begrenzte Militärschläge beinhalten.6 Konfliktverschärfend sind zudem die neuen sozialen Medien, die in lokalen Kontexten Ausschreitungen gegen Minderheiten schüren und in zwischenstaatlichen Krisen die nationalistische Agenda anheizen. Der grenzüberschreitende Charakter vieler neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen, vor allem im Umweltbereich, hat in den letzten Jahrzehnten die Diskussion über regionale Kooperation vorangetrieben. Die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) wurde zwar bereits 1985 gegründet, weist bislang aber nur eine schwache Erfolgsbilanz auf. So ist es den beteiligten Staaten aufgrund ihrer bilateralen Probleme noch nicht einmal gelungen, regelmäßig ihre regulären jährlichen Gipfeltreffen abzuhalten. Zugleich wird die SAARC durch neuere Entwicklungen herausgefordert. Erstens hat China im Rahmen seiner Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative, BRI) in den letzten Jahren sehr umfangreich in Südasien investiert. Zweitens kühlt das indisch-pakistanische Verhältnis zunehmend ab, d. h. die beiden größten Volkswirtschaften in der Region haben kaum Interesse an der Zusammenarbeit. Diese Entwicklungen werfen die Frage nach der Zukunft der SAARC auf. Denkbar sind zwei Szenarien, die sich mit den Begriffen SAARC 2.0 und Südasien 2.0 umschreiben lassen. Im Szenario SAARC 2.0 fördern die chinesischen Investitionen die Wirtschaftskraft aller Mitgliedsstaaten. Dies wirkt sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung und den intra-regionalen Handel aus. Davon profitiert auch die SAARC, was zu deren Stärkung beiträgt. Im Szenario Südasien 2.0 hingegen führen die chinesischen Investitionen dazu, dass die Mitgliedsstaaten zwar ihre Handelsbeziehungen mit China ausbauen, jedoch weiterhin wenig Anreize für den intra-regionalen Handel haben. Zudem entwickelt Indien ein größeres Interesse an neuen Regionalformaten wie der Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation (BIMSTEC), in der Pakistan kein Mitglied ist. In einem solchen Szenario dürfte die SAARC weiter an Bedeutung einbüßen. Um die Chancen und Risiken der beiden Szenarien einzuschätzen erfolgt zunächst eine kurze Darstellung der

6Ebd.,

S. 15.

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C. Wagner

SAARC. Im zweiten Teil werden die neueren Entwicklungen erörtert, welche die SAARC herausfordern.

2 Die SAARC: Entstehung, Aufgaben, Struktur, Herausforderungen 2.1 Entstehung Die SAARC wurde am 8. Dezember 1985 mit dem ersten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs von Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka in Dhaka gegründet.7 Die Organisation war von Beginn an durch eine große Asymmetrie und Heterogenität ihrer Mitglieder gekennzeichnet. Die Einwohnerzahl der Indischen Union lag mit über einer Milliarde Menschen um das Dreifache über der aller Nachbarstaaten. Indien umfasst 72 Prozent der Gesamtfläche Südasiens und hatte einen Anteil von über 75 Prozent am damaligen Bruttosozialprodukt (BSP) der Region. Die Mitgliedsstaaten der neugegründeten Organisation hatten auch eine sehr unterschiedliche innen-, außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Ausrichtung. Indien und Sri Lanka waren Demokratien, wohingegen es in den anderen Staaten unterschiedliche autoritäre Regime gab. Indien verstand sich als säkularer Staat, wohingegen der Islam in Pakistan und Bangladesch die Staatsreligion war. Nepal war der einzige Hindu-Staat und Sri Lanka hatte dem Buddhismus einen besonderen Rang in der Verfassung eingeräumt. Wirtschaftspolitisch verfolgte Indien Mitte der 1980er Jahre noch ein weitgehend staatlich reguliertes, gemischtes Wirtschaftssystem. Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka hatten bereits Ansätze zu einer exportorientierten Wirtschaftspolitik eingeleitet. Außenpolitisch hatten die bilateralen Konflikte divergierende Sicherheitsinteressen und Allianzen zur Folge gehabt. Indien und Pakistan stritten seit 1947 über die Zugehörigkeit Kaschmirs und hatten bereits drei Kriege gegeneinander geführt. Pakistan hatte enge Beziehungen zu den USA und China. Indien hingegen verfügte über sehr gute wirtschaftliche und politische Verbindungen zur Sowjetunion. Die Staaten Südasiens teilten zwar eine Reihe von Entwicklungsproblemen wie Armut und Unterernährung, doch verhinderten die bilateralen Konflikte,

7Zur

Entstehung der SAARC vgl. Michael (2013).

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vor allem zwischen Indien und Pakistan, bis in die 1980er Jahre eine regionale Zusammenarbeit. Die ersten Vorschläge für eine regionale Organisation in Südasien wurden Ende der 1970er Jahre von Bangladeschs Staatschef Zia-ur Rahman entwickelt. Die Regierung in Neu-Delhi fürchtete, dass sich die kleineren Nachbarstaaten in einer solchen Organisation gegen Indien zusammenschließen könnten, wollte aber auch nicht als Blockierer gelten. Die Regierung in Islamabad hingegen befürchtete, dass eine solche Einrichtung von Indien dominiert und damit gegen Pakistan gerichtet würde.8 Ab 1981 fanden Gespräche auf Außenministerebene statt. In der Delhi-Deklaration von 1983 legten die Außenminister der beteiligten Staaten die wichtigsten Prinzipien der künftigen regionalen Zusammenarbeit fest. Es wurde die Einstimmigkeit von Entscheidungen und die Ausklammerung von strittigen bilateralen Themen wie des Kaschmirkonfliktes vereinbart, sodass sich sowohl Indien als auch Pakistan trotz ihrer gegenseitigen Vorbehalte an der neuen Organisation beteiligten. Die internationalen Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zerfall der Sowjetunion brachten eine politische und wirtschaftliche Annäherung. In Pakistan (1988), Nepal und Bangladesch (1990/1991) etablierten sich formal demokratische Regime. Indien leitete mit der Liberalisierung 1991 eine grundlegende Neuorientierung seiner Wirtschaft ein, die auf eine stärkere Weltmarktintegration abzielte. Die größeren Gemeinsamkeiten wirkten sich auch positiv auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus. Afghanistan wurde bei dem Gipfeltreffen in Delhi 2007 als achtes Mitglied aufgenommen. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren die Zahl der Staaten mit Beobachterstatus bei der SAARC deutlich angestiegen. Mittlerweile sind Australien, China, die Europäische Union (EU), Iran, Japan, Mauritius, Myanmar, Südkorea und die USA als Beobachter bei der SAARC zugelassen.

2.2 Ziele und Aufgaben Angesichts der Spannungen in der Region wurden die Ziele der SAARC bewusst allgemein gehalten. Die wichtigsten Ziele der SAARC Charta sind erstens die Verbesserung der sozioökonomischen Entwicklung in den Mitgliedsstaaten. Zweitens soll die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region intensiviert

8Bokhari

(1985, S. 371–390).

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werden, drittens das gegenseitige Vertrauen zwischen Staaten erhöht und viertens die Zusammenarbeit mit anderen Regionalorganisationen vorangetrieben werden. Zahl und Umfang der Aufgabenfelder haben sich seit der Gründung mehrfach geändert. 2017 waren Humankapitalentwicklung und Tourismus, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Umwelt, Naturkatastrophen und Biotechnologie, Wirtschaft, Handel und Finanzen, soziale Angelegenheiten, Information und Armutsbekämpfung, Energie, Transport, Wissenschaft und Technologie sowie Bildung, Sicherheit und Kultur die wichtigsten Kooperationsfelder.

2.3 Aufbau und Struktur Die Organisation der SAARC besteht aus vier Ebenen.9 Die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs bilden das höchste Entscheidungsgremium, das die allgemeinen Richtlinien der Kooperation festlegt. Ursprünglich sollten die Gipfeltreffen einmal im Jahr stattfinden. Bis 2017 gab es jedoch nur 18 Gipfeltreffen. Verschiedene bilaterale Krisen zwischen Indien und seinen Nachbarstaaten haben wiederholt eine Aussetzung bzw. Verschiebung der Treffen zur Folge gehabt. Die letzte Verschiebung erfolgte 2016 als die indische Regierung den anstehenden SAARC Gipfel in Islamabad in Folge des Terroranschlags in Uri im September 2016 boykottierte. Andere Mitglieder schlossen sich dem Boykottaufruf Indiens an (s. u.). Das zweithöchste und wichtigste politische Gremium ist der Rat der Außenminister (Council of Ministers). Die Außenminister treffen sich zweimal im Jahr und sind für die Aushandlung und Konkretisierung der Richtlinien zuständig, die auf den Gipfeltreffen offiziell verabschiedet werden. Unterhalb des Außenministerrates befindet sich der ständige Ausschuss hoher Beamter (Standing Committee). Er ist für die Überwachung und Kontrolle der Kooperationsprogramme, die Koordination der themenübergreifenden Programme, Mobilisierung von regionalen und externen Ressourcen und die Identifikation von neuen Themenfeldern zuständig. Die vierte Ebene bilden die technischen Komitees, die für die verschiedenen Kooperationsfelder zuständig sind. Sie formulieren die Programme und bereiten Projekte in den verschiedenen Bereichen vor.

9Wagner

(2012, S. 209–216).

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49

1987 wurde ein gemeinsames Sekretariat der SAARC in Kathmandu eingerichtet. Das Sekretariat wird von einem Generalsekretär geleitet, der alle drei Jahre vom Rat der Außenminister gewählt wird. Der Generalsekretär hat keine eigenständige Entscheidungsbefugnis. Das Sekretariat koordiniert und überwacht die Umsetzung von Aktivitäten, bereitet die Treffen der Mitgliedsstaaten vor und ist für die Kommunikation mit anderen Regionalorganisationen zuständig. Im Lauf der Zeit wurden insgesamt elf Regionalzentren zu verschiedenen Themen eingerichtet, von den 2017 noch fünf aktiv waren. Dies waren das SAARC Agriculture Centre (SAC) in Dhaka, das SAARC Energy Centre (SEC) in Islamabad, das SAARC Cultural Centre (SCC) in Colombo, das SAARC Tuberculosis and HIV/AIDS Centre (STAC) in Kathmandu, sowie das SAARC Disaster Management Centre (SDMC) in Indien. Im Rahmen der SAARC wurde 2010 auch eine gemeinsame südasiatische Universität mit Sitz in Neu-Delhi eröffnet. Neben der offiziellen zwischenstaatlichen Struktur haben sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Kommissionen (u. a. Commission on Economic Cooperation, CEC), Arbeitsgruppen (Coalition for Action on South Asian Cooperation, CASAC), regionalen Think Tanks (Regional Centre for Strategic Studies, RCSS), zwischenstaatlichen Vereinigungen (Association of SAARC Speakers and Parliamentarians) und transnationalen Gruppierungen (SAARC Chamber of Commerce and Industry, SCCI; SAARCFINANCE; South Asia Free Media Association, SAFMA) etabliert mit dem Ziel, die regionale Vernetzung in Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft weiter voranzutreiben.

2.4 Wirtschaftliche Zusammenarbeit Der Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit war einer der wichtigsten Impulse für die Gründung der SAARC. Aufgrund der politischen Spannungen lag der intraregionale Handel Mitte der 1980er Jahren bei lediglich zwei bis drei Prozent des Gesamthandels der SAARC-Mitglieder. Darüber hinaus gab es zahlreiche nicht-tarifäre Handelshindernisse und infrastrukturelle Probleme, die einer Ausweitung des Handels im Wege standen. Zudem fürchteten die kleineren Mitgliedsstaaten die ökonomische Dominanz Indiens mit negativen Folgen für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Schließlich wiesen die Volkswirtschaften eine geringe ökonomische Komplementarität auf. Bei wichtigen Exportgütern wie Tee, Jute und Textilien waren die SAARC Staaten Konkurrenten auf dem Weltmarkt. 2004 vereinbarte die SAARC die Einrichtung einer Freihandelszone (SAARC Free Trade Area, SAFTA), die 2006 in Kraft trat. Weniger entwickelte SAARC-

50

C. Wagner

Mitglieder wie Bangladesch, Bhutan, Malediven und Nepal erhielten längere Übergangsfristen für die Umsetzung. In Pakistan gab es Widerstände gegen die Ratifizierung des Abkommens, da die Armee den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und die damit verbundene Annäherung an Indien ablehnte. SAFTA umfasst aber nur den Warenhandel, nicht die Dienstleistungen, obwohl diese mittlerweile den größten Bereich des regionalen Bruttosozialprodukts ausmachen. 2006 wurde der SAARC Development Fund (SDF) geschaffen, der zunächst einen Umfang von 300 Mio. US$ hatte. Indien steuerte hierzu 100 Mio. US$ bei, Pakistan stellte 70 Mio. US$ zur Verfügung. Die restlichen 130 Mio. US$ sollten von den sechs übrigen Mitgliedern aufgebracht werden. Seit einigen Jahren vergibt der SDF Mittel für regionale Projekte, sofern diese in mindestens drei Staaten durchgeführt werden.

2.5 Politische Zusammenarbeit Obwohl die Charta explizit strittige Themen ausklammert, entwickelte sich die SAARC dennoch zu einer wichtigen Plattform für politische Gespräche. In der Abschlusserklärung des SAARC-Gipfels 1997 wurde erstmals die Bedeutung vertrauensbildender Maßnahmen und informeller politischer Konsultationen für die guten nachbarschaftlichen Beziehungen in der Region anerkannt. Die Gipfeltreffen boten den Staats- und Regierungschefs immer wieder Gelegenheiten für informelle Begegnungen, bei denen bilaterale Probleme auf höchster politischer Ebene erörtert wurden. So brachte der SAARC-Gipfel 1988 in Islamabad das erste Zusammentreffen zwischen dem indischen Premierminister Rajiv Gandhi und der neuen pakistanischen Premierministerin Benazir Bhutto. Aus diesen Gesprächen folgte eine Nichtangriffsvereinbarung von nuklearen Einrichtungen im Kriegsfall. Bei dem Gipfel in Malé 1990 kam es zu dem ersten Zusammentreffen der neuen Premierminister Chandra Shekhar (Indien) und Nawaz Sharif (Pakistan), beim Treffen in Colombo 1991 führten beide Staaten intensive Gespräche über die Lage in Kaschmir. Bei dem Gipfeltreffen in Malé 1997 trafen die neu gewählten Premierminister Indiens und Pakistans, I.K. Gujral und Nawaz Sharif erstmals zusammen. Der SAARC Gipfel 2010 in Bhutan wurde von Indien und Pakistan für bilaterale Gespräche genutzt, um eine erneute Annäherung nach dem Anschlag von Mumbai 2008 wieder in Gang zu bringen. Des Weiteren trafen sich der indische Premierminister und der sri-lankische Präsident im Rahmen der SAARC zu Gesprächen über die Tamilenfrage nach dem Ende des Bürgerkriegs in Sri Lanka 2009.

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51

Allerdings zeigt die hohe Ausfallrate der Gipfeltreffen aufgrund bilateraler Spannungen, dass nationale außenpolitische Erwägungen immer eine größere Rolle spielten als die Verpflichtung zur regionalen Zusammenarbeit. Zwei Vereinbarungen der SAARC verdienen besondere Beachtung. Dies ist erstens die bereits 1987 verabschiedete SAARC Regional Convention on Suppression of Terrorism. Allerdings wurde diese Konvention nie umgesetzt, da sich die Mitgliedsstaaten, vor allem Indien und Pakistan, nicht auf gemeinsame Definition von Terrorismus verständigen konnten. Die Bedeutung der Thematik ist bis heute aktuell. So boykottierte Indien nach dem Terroranschlag in Uri im September 2016 den nachfolgenden Gipfel in Islamabad, da die Attentäter aus Pakistan kamen. Zweitens verabschiedete die SAARC 2009 eine Demokratie Charta, die sich u. a. gegen einen verfassungswidrigen Regierungswechsel in den Mitgliedsstaaten aussprach. Allerdings ist diese Charta bis heute nicht von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert worden.

3 Neue Herausforderungen für die SAARC Mehr als 30 Jahre nach ihrer Gründung zählt die SAARC zu den schwächsten Regionalorganisationen, die selbst innerhalb Südasien kaum bekannt und wenig ernst genommen wird. Die häufigste Kritik ist, dass die SAARC zwar Berichte, aber keine Resultate produziert. Mittlerweile gibt es über zweihundert SAARCrelevante Treffen im Jahr, aber der messbare Erfolg der Organisation ist gering. Der intraregionale Handel ist in den letzten Jahren zwar gewachsen, lag aber 2016 bei unter fünf Prozent. Südasien war damit im internationalen Vergleich die am wenigsten wirtschaftlich integrierte Region.10 Es gibt zwei neuere Entwicklungen, die für die künftige Entwicklung der SAARC vermutlich von Bedeutung sind. Erstens scheinen sich die indischpakistanischen Beziehungen, die seit 70  Jahren im Zentrum einer jeden Betrachtung zu Südasien stehen, zunehmend voneinander zu entkoppeln. Beide Staaten haben unterschiedliche außenpolitische Prioritäten und finden keine Basis für einen Dialog. Indien setzt die Priorität in Gesprächen mit Pakistan auf die Bekämpfung des Terrorismus. Die Regierung in Islamabad will hingegen vor allem den Dialog zu Kaschmir eröffnen, was wiederum nicht im indischen Interesse ist. Zweitens setzt das umfangreiche Engagement Chinas im Rahmen

10The

World Bank (2016); The Asia Foundation (2016).

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C. Wagner

seiner Seidenstraßeninitiative (Belt and Road, BRI) attraktive wirtschaftliche Anreize für die Mitgliedsstaaten der SAARC.

3.1 Indien und Pakistan: Neue außenpolitische Prioritäten Sofern Südasien nicht irrtümlicherweise mit Indien gleichgesetzt wird, bildet das indisch-pakistanische Verhältnis den Kern einer jeden Diskussion über die Region. Das bilaterale Verhältnis beider Staaten wird seit ihrer Unabhängigkeit im August 1947 vom Streit über die Zugehörigkeit Kaschmirs bestimmt.11 Der damalige Fürstenstaat Jammu & Kaschmir (J&K) mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung blieb beim Erlangen der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im August 1947 zunächst ebenfalls unabhängig. Nach dem Eindringen von Stammeskriegern aus Pakistan trat der Hindu Herrscher Kaschmirs im Oktober 1947 der Indischen Union bei, die im Gegenzug Truppen entsandte. Aus den Kämpfen entwickelte sich der erste indisch-pakistanische Krieg 1947/48. Der indische Premierminister Jawaharlal Nehru brachte den Konflikt in die Vereinten Nationen (VN) und regte die Idee eines Referendums an, mit dem die Kaschmiris über ihre Zukunft entscheiden sollten. Die VN-Resolutionen besagen sinngemäß, dass sich nach einem Waffenstillstand die pakistanischen Truppen aus J&K zurückziehen. Anschließend wird eine indische Interimsverwaltung eingerichtet, die das Referendum über den Anschluss an Indien oder Pakistan, nicht jedoch die Unabhängigkeit, durchführt. Die Frage der territorialen Zugehörigkeit wurde überlagert von der Bedeutung, die Kaschmir für das nationale Selbstverständnis Pakistans und Indiens besitzt. Für Pakistan ist das mehrheitlich muslimische Kaschmir die Vollendung der Zwei-Nationen Theorie von Staatsgründer Muhammed Ali Jinnah. Ihr zufolge bildeten die Muslime des indischen Subkontinents eine eigene Nation, die das Anrecht auf einen eigenen Staat hatten, um nach der Unabhängigkeit nicht dauerhaft unter der Mehrheit der Hindus zu leben. Für Indien wiederum ist das muslimische Kaschmir ein Beleg für den säkularen Charakter des Staates, der allen Religionsgemeinschaften offensteht. Trotz zahlloser bilateraler Verhandlungsrunden und internationaler Vermittlungsversuche ist der Konflikt bis heute nicht beigelegt und belastet immer

11Hierzu grundsätzlich

Ganguly (2002), Bose (2003) und Cohen (2013).

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wieder das bilaterale Verhältnis zwischen den beiden Nuklearstaaten. Dieser Konflikt war Ursache von drei (1947/48, 1965, 1999) der vier (1971) Kriege, die beide Staaten bis heute geführt haben. Mit dem Vertrag von Shimla 1972 rückte Indien von den VN-Resolutionen ab und setzte seitdem ausschließlich auf bilaterale Gespräche mit Pakistan. Pakistan hat hingegen immer versucht, den Konflikt mit Indien zu internationalisieren, z. B. durch die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der indischen Sicherheitskräfte in Kaschmir oder durch das Hervorrufen regionaler Krisen wie 1999 oder 2002. Pakistans Strategie der Internationalisierung erwies sich in mehrfacher Hinsicht als kontraproduktiv. Erstens machten selbst Pakistans engste Verbündete, wie die USA und China aber auch die Vereinten Nationen (VN) und die Europäische Union (EU), immer wieder deutlich, dass eine Beilegung des Kaschmirkonfliktes nur durch bilaterale Gespräche zwischen Indien und Pakistan zu erreichen ist. Zweitens richteten sich militante Gruppen, die von Pakistan gefördert worden waren, gegen ihre einstigen Unterstützer. Die pakistanischen Taliban, die sich 2007 zusammenschlossen und Verbindungen zu internationalen Terrororganisationen wie Al-Qaida hatten, verwickelten die Streitkräfte in einen langwierigen Kleinkrieg in den selbstverwalteten Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas, FATA) an der Grenze zu Afghanistan. In Pakistan hat der Konflikt mit Indien dazu beigetragen, die Rolle des Militärs in der Innen- und Außenpolitik zu stärken. Die vermeintliche Bedrohung durch Indien führte zu einer Ausweitung der Militärausgaben, die kaum vom Parlament hinterfragt oder kontrolliert werden, sowie zum Aufbau des Atomprogramms und zur Unterstützung von islamistischen Gruppen. In zentralen außenpolitischen Fragen, die das Verhältnis zu den Nachbarstaaten und den Großmächten wie USA und China betreffen, kann keine gewählte Regierung in Pakistan gegen die Interessen der Streitkräfte agieren. Die bislang beste Phase der indisch-pakistanischen Beziehungen war der Verbunddialog (composite dialogue) zwischen 2004 und 2008. Im April 2003 schlug der indische Premierminister Vajpayee nach der Krise von 2001/02 überraschend neue Gespräche mit Pakistan vor. Der pakistanische Präsident Musharraf, der für den Kargil-Krieg 1999 verantwortlich und im Oktober des gleichen Jahres mit einem Putsch an die Macht gekommen war, rückte Ende 2003 von den VN Resolutionen ab.12 Bei ihrem Treffen im Januar 2004 vereinbarten Indien und

12Hussain

(2011, S. 329).

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Pakistan einen Verbunddialog und Musharraf erklärte, dass pakistanisches Gebiet nicht für terroristische Angriffe auf Indien genutzt werden sollte.13 Der Dialog brachte eine Ausweitung des Handels sowie bessere Reisemöglichkeiten für die lokale Bevölkerung. Im April 2005 wurde erstmals eine Busverbindung zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs eingerichtet, nach dem Erdbeben im Oktober des Jahres wurden Übergangsstellen für die lokale Bevölkerung an der Kontrolllinie (Line of Control, LoC) eröffnet. In geheimen Verhandlungen erreichten beide Staaten 2007 einen Kompromiss zu Kaschmir, der jedoch aufgrund der innenpolitischen Turbulenzen in Pakistan zu dieser Zeit nie publik wurde. Allerdings wurde die Vereinbarung später von Präsident Musharraf, dem pakistanischen Außenminister Kasuri und dem indischen Premierminister Manmohan Singh bestätigt.14 Der Anschlag in Mumbai im November 2008, der von der Terrorgruppe Lashkar-e-Toiba (LeT) durchgeführt wurde, brachte ein Ende des Verbunddialogs. Die LeT hatte Unterstützung des pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) erhalten.15 Mit dem Amtsantritt des indischen Premierministers Narendra Modi im Frühsommer 2014 verbanden sich große Hoffnungen, dass sich auch das Verhältnis mit Pakistan verbessern würde. Unmittelbar nach seiner Wahl im Mai 2014 landete Premierminister Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) seinen ersten außenpolitischen Coup, als er die Staats- und Regierungschefs der Nachbarstaaten zu seiner Vereidigung nach Neu-Delhi einlud. Der dabei erfolgte Besuch von Premierminister Nawaz Sharif, der im Sommer 2013 die Regierung in Pakistan übernommen hatte, schien eine neue Phase der Annäherung einzuleiten. Beide Premierminister gelten als wirtschaftsfreundlich und Sharif hatte bereits 1999 mit dem damaligen indischen Premierminister Vajpayee (BJP) die Lahore-Deklaration unterzeichnet, um die bilateralen Beziehungen zu verbessern. Die Flitterwochen der indisch-pakistanischen Beziehungen 2014 fielen jedoch kurz aus. An der Kontrolllinie in Kaschmir und der internationalen Grenze kam es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen, für die sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich machen. Im August 2014 sagte die indische Regierung Gespräche mit Pakistan ab, da sich der pakistanischen High Commissioner in Delhi im Vorfeld der Gespräche mit Vertretern pro-pakistanischer Gruppen aus

13The

Hindu (2004). Friday Times (2007, S. 6); The Daily Times (2009). 15The Times of India (2010). 14The

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dem indischen Teil Kaschmirs getroffen hatte. Ein neuer Anlauf zum Dialog bahnte sich bei dem Treffen von Modi und Sharif auf dem Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) im russischen Ufa im Juli 2015 an, als beide Gespräche zwischen den nationalen Sicherheitsberater im Kampf gegen den Terrorismus vereinbarten. Ende August wurden die anberaumten Gespräche in Delhi kurzfristig abgesagt, da sich beide Seiten nicht auf eine gemeinsame Agenda verständigen konnten. Modis überraschender Besuch bei Nawaz Sharif in Pakistan im Dezember 2015 brachte keine dauerhafte Annäherung. Der Anschlag in Pathankot im Januar 2016, welcher der von Pakistan aus operierenden Jaish-eMohamed (JeM) zugeschrieben wurden, machte die Hoffnung auf eine bessere Zusammenarbeit zunichte.16 Der Anschlag im indischen Uri im September 2016 durch militante Gruppen aus Pakistan hatte zwei Reaktionen Indiens zur Folge. Erstens erfolgte in Reaktion auf den Anschlag eine Kommandooperation gegen Einrichtungen militanter Gruppen auf der pakistanischen Seite der Kontrolllinie. Damit wurde diese seit vielen Jahren von beiden Seiten praktizierte Form der verdeckten Kriegsführung entlang der Kontrolllinie erstmals öffentlich. Zweitens versuchte Indien in der Folge, Pakistan regional zu isolieren. Die indische Regierung sagte ihre Teilnahme am bevorstehenden SAARC-Gipfel in Islamabad ab, dem sich andere SAARC-Mitglieder anschlossen. Anschließend wertete die indische Regierung das im November 2016 in Goa stattfindende Gipfeltreffen der Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation (BIMSTEC) auf.17 Sie lud mit Afghanistan und den Malediven zwei Staaten ein, die zwar Mitglied der SAARC, nicht aber von BIMSTEC waren. Da Pakistan nicht Mitglied in BIMSTEC ist, wurde das Treffen somit zu einem „SAARC minus One“ Gipfel. Die beteiligten Staaten sprachen sich in ihrer Abschlusserklärung deutlich für eine gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus aus, was mehr als ein offensichtlicher Fingerzeig in Richtung Pakistan war. Pakistans Außenpolitik wird zwar immer noch von Indien bzw. von der Kaschmirfrage bestimmt, aber auch hier verändern sich zunehmend die Prioritäten. Die starke Hinwendung zu und die wachsende finanzielle Abhängigkeit von China durch die umfangreichen chinesischen Investitionen in den China Pakistan Economic Corridor (CPEC) (s. u.) und die gleichzeitig eher

16Dawn 17Zu

land.

(2015). BIMSTEC gehören Bangladesch, Bhutan, Indien, Myanmar, Nepal, Sri Lanka, Thai-

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abnehmenden politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA werden den außenpolitischen Handlungsspielraum der Regierung in Islamabad neu austarieren. Zudem gewinnen die Konflikte im Mittleren Osten, vor allem die Rivalitäten zwischen Saudi-Arabien und Iran, für Pakistan zunehmend an Bedeutung. Pakistan hat nach dem Iran die weltweit zweitgrößte Zahl an Schiiten.18 Seit den 1980er Jahren ist die sektiererische Gewalt zwischen militanten sunnitischen und schiitischen Gruppen ein innenpolitisches Thema. Pakistan verfügt seit vielen Jahren über sehr gute wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen zu Saudi-Arabien. Premierminister Nawaz Sharif erhielt dort nach dem Putsch 1999 politisches Asyl, fast 900.000 Pakistanis sind in Saudi-Arabien beschäftigt.19 Saudi-Arabien machte Pakistan zum Teil seiner Militärallianz, die im Jemen gegen aufständische schiitische Gruppen kämpft. Obwohl der Konflikt mit Indien andauert, scheint die Kaschmirfrage auch in Pakistan an Bedeutung zu verlieren. Im Januar 2017 erklärte der neue COAS General Qamar Javed Bajwa den Kampf gegen den Terrorismus in Pakistan weiterhin als wichtigste sicherheitspolitische Herausforderung.20 Ende Januar 2017 wurde Hafiz Saeed, der Führer der Jamaat-du-Dawa (JuD), unter der Anklage der Förderung des Terrorismus unter Hausarrest gestellt. Die JuD gilt als ziviler Arm von Lashkar-e-Toiba (LeT), die für zahllose Anschläge im indischen Kaschmir verantwortlich ist. Die LeT hat in der Vergangenheit umfangreiche Unterstützung durch die pakistanischen Sicherheitskräfte erhalten. Im April 2017 erklärte Bajwa, den Kampf der Kaschmiris auch zukünftig „politisch“ unterstützen zu wollen.21 Dies ließ allerdings die Frage offen, ob die Armeeführung weiterhin bereit wäre, den militanten Gruppen auch militärisch Beistand zu leisten. Pakistan hatte die im Sommer 2016 wieder aufgeflammten Proteste im indischen Teil Kaschmirs politisch unterstützt. Doch die teilweise zu beobachtende Islamisierung der dortigen Protestbewegung richtet sich nicht nur gegen Indien, sondern, im Unterschied zu früher, mittlerweile auch teilweise gegen Pakistan. Diese Entwicklungen zeigen, dass sich die außenpolitischen Prioritäten beider Staaten zu verlagern scheinen. Pakistan hatte zwar 2017 Angebote zur Wiederauf-

18World

Shia Muslims Population (2018). (2017). 20Masood (2017). 21The Hindu (2017a). 19McKernan

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nahme des Dialogs mit Indien gemacht, doch hatte die Regierung in Neu-Delhi erklärt, dass neue Gespräche erst nach einem Ende der Anschläge in Indien möglich seien. Die Todesstrafe gegen einen indischen Spion in Pakistan und Modis Ankündigung, die Menschenrechtslage im pakistanischen Teil Kaschmirs und in Belutschistan zu thematisieren, sprechen ebenfalls nicht für eine baldige Neuauflage eines Dialogs zwischen beiden Seiten.

3.2 China in Südasien Die vermutlich wichtigste Entwicklung, die langfristig für eine neue politische Geographie in Südasien sorgen wird, ist das umfassende chinesische Engagement im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI). Der größte Nutznießer der BRI in Südasien ist bislang Pakistan. Die chinesische Regierung hat für den China Pakistan Economic Corridor (CPEC), der ein Teil der BRI ist, Investitionen in Höhe von 57 Mrd. US$ für Infrastrukturmaßnahmen und Energieprojekte zugesagt.22 Die pakistanische Regierung setzt große Hoffnungen auf das Projekt, das als „game changer“ oder gar als „fate“ bzw. „destiny changer“ gesehen wird.23 Es gibt zwar eine Reihe von Vorbehalten, wie z. B. die wachsende Verschuldung und damit noch größere politische Abhängigkeit Pakistans von China, die Befürchtungen der lokalen Industrie vor der chinesischen Konkurrenz und die ausbleibende Schaffung von Arbeitsplätzen für Pakistanis sowie die prekäre Sicherheitslage für chinesische Experten in Pakistan angesichts verschiedener innenpolitischer Konfliktherde. Bereits vor dem CPEC waren mehrere tausend chinesische Experten in Pakistan tätig und eine Zielscheibe für Angriffe und Entführungen durch militante Gruppen, u. a. in Belutschistan und in KhyberPakhtunkhwa.24 Die Armee hat deshalb zum Schutz der chinesischen Experten eine eigene Special Security Division (SSD) mit ca. 15.000 Soldaten aufgestellt.25 China hat in den letzten Jahren aber nicht nur in Pakistan, sondern auch massiv in anderen südasiatischen Staaten investiert. Beim Besuch des chinesischen Präsidenten Xi 2016 in Bangladesch erhielt die Regierung in Dhaka

22Dawn

(2017a). Today (2016). 24Zafar (2008). 25Gishkori (2015). 23Pakistan

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Zusagen für staatliche und private Investitionen in Höhe von ca. 38 Mrd. US$.26 Im Frühjahr 2017 sagte China Nepal Auslandsinvestitionen in Höhe von 8,3 Mrd. US$ zu.27 In dem Zeitraum von 2005 bis 2015 hatte China zudem ca. 14 Mrd. US$ in Sri Lanka investiert.28 Den weitaus größten Teil hatte China als Kredite für eine Reihe von Infrastrukturprojekten vergeben, was die Verschuldung des Landes in die Höhe trieb. Nach dem Regierungswechsel in Sri Lanka 2015 musste die neue Regierung unter Präsident Sirisena einräumen, dass eine Reihe der Projekte, u. a. der Hafen in Hambantota und der Flughafen in Mattala, unwirtschaftlich waren. Da die sri-lankische Regierung die Kredite nicht dauerhaft bedienen konnte, verständigte sie sich mit Peking Ende 2017 darauf, 70 Prozent der Anteile des Hafens in Hambantota für 99 Jahre an eine staatseigene chinesische Firma zu übertragen.29 Seit 2014  hat China auch in seine Beziehungen mit den Malediven intensiviert, um seine Präsenz im Indischen Ozean auszubauen. So besuchten drei chinesische Kriegsschiffe die Malediven im Frühjahr 2017. Das wachsende chinesische Engagement hatte in Indien Befürchtungen ausgelöst, dass die Regierung in Male China den Bau eines Flottenstützpunktes gewähren könnte. Im Dezember 2017 unterzeichnete der Inselstaat überraschend sein erstes Freihandelsabkommen mit China.30 Angesichts der wachsenden Verschuldung des Inselstaates gegenüber China könnte eine ähnliche Situation wie in Sri Lanka eintreten, d. h. die Regierung muss Teile des Territoriums zur Schuldenrückzahlung an China abtreten. Indien hat dem wachsenden chinesischen Engagement in Südasien wenig entgegen zu setzen. Die Regierung in Peking profitiert davon, dass Indien eine Reihe von Problemen mit seinen südasiatischen Nachbarn hat. Die Region Südasien gilt zwar gemeinhin als natürlicher Einflussbereich Indiens, doch zeigt eine genauere Analyse, dass es den Regierungen in Neu-Delhi nur selten gelungen ist, sich in den bilateralen Konflikten dauerhaft gegenüber den Nachbarn durchzusetzen. Des Weiteren gibt es in Südasien zahllose religiöse, sprachliche und ethnische Verbindungen zwischen Indien und den Nachbarstaaten. So sind z. B. die meisten Nationalsprachen in den Nachbarstaaten Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und

26Habib

(2016). (2017). 28Bhatia et al. (2016). 29Srinivasan (2017a); The Hindu (2017b). 30Srinivasan (2017b). 27Giri

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Nepal auch anerkannte Sprachen in der indischen Verfassung. Die Diskussionen in den Nachbarstaaten über deren außenpolitische Interessen und Konflikte mit Indien berühren damit aber auch Fragen der nationalen Identität, bei der die Abgrenzung gegenüber Indien im Vordergrund steht.31 Wirtschaftlich hat die indische Regierung seit den 1990er Jahren eine Reihe von Initiativen unternommen, den Handel mit den Nachbarstaaten zu fördern und ihnen auch einseitige Handelszugeständnisse gemacht. Allerdings ist für die Nachbarstaaten in Südasien Indien im Vergleich zu China deutlich weniger wirtschaftlich attraktiv. Im Vorfeld des BRI-Forums im Mai 2017 bemühte sich die chinesische Regierung intensiv darum, Indien zu einer Teilnahme zu bewegen. Die indische Regierung lehnte dies jedoch aus verschiedenen Gründen ab. Erstens verläuft der CPEC durch den pakistanischen Teil Kaschmirs, der offiziell von Indien als Teil Kaschmirs beansprucht wird. Zweitens kritisiert Indien die zunehmende Verschuldung von Staaten durch die BRI und fürchtet, dass diese damit auch politisch von China abhängig werden. Indische Sicherheitsexperten sehen die Hafenprojekte Chinas in Südasien als potenzielle Militärstützpunkte (String of Pearls), mit denen Indien eingekreist werden soll. Neben der BRI existieren noch weitere Infrastrukturprojekte, die auf Südasien ausstrahlen und Folgen für die regionale Kooperation haben können. Iran, Russland und Indien forcieren den Ausbau des International North South Transport Corridor (INSTC). Im Mai 2015 sagte Indien Investitionen in Höhe von 150 Mio. US$ für den Ausbau des Hafens im iranischen Chabahar zu, um damit einen besseren Zugang nach Afghanistan und Zentralasien zu erhalten.32 Afghanistan war es in den Verhandlungen über den Transitvertrag mit Pakistan nicht gelungen, eine direkte Handelsverbindung mit Indien auf dem Landweg zu erhalten. Pakistan hatte dies bereits in der Vergangenheit abgelehnt. Im Sommer 2017 eröffneten Indien und Afghanistan zunächst einen Luftkorridor, um den internationalen Handelsaustausch für Afghanistan zu verbessern.33 Ende Oktober des Jahres erfolgte die erste Weizenlieferung Indien nach Afghanistan über den Hafen von Chabahar.34 Ein zweites Infrastrukturprojekt war der sogenannte BCIM-Korridor, mit dem Bangladesch, China, Indien und Myanmar die Infrastruktur zwischen dem

31Wagner

(2016, S. 307–320). Roy (2015). 33Dawn (2017b). 34Dawn (2017c). 32Singh

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indischen Subkontinent und den Provinzen im Süden Chinas verbessern wollten. Diese Idee der regionalen Zusammenarbeit war bereits Ende der 1990er Jahre entstanden. 2013 erhielt das Projekt eine entscheidende Förderung u. a. mit neuen Initiativen, die während des Besuchs des indischen Premierministers Manmohan Singh in China verkündet wurden.35 Nachdem die chinesische Regierung allerdings den BCIM-Korridor als Teil der BRI Initiative betrachtete, ließ das indische Interesse an dem Korridor deutlich nach. Die indische Regierung wollte vermeiden, über den Umweg des BCIM Korridors indirekt zu einem Teil der BRI Initiative zu werden, die sie auf grundsätzlichen Erwägungen ablehnte (s. o.).

4 Fazit und Ausblick: SAARC 2.0, Südasien 2.0? Die neueren Entwicklungen im indisch-pakistanischen Verhältnis und die Folgen von Infrastrukturprojekten, vor allem der BRI, werden vermutlich auch weitreichende Folgen für die regionale Zusammenarbeit in Südasien haben. Es sind dabei zwei Szenarien denkbar, die sich mit den Schlagworten SAARC 2.0 und Südasien 2.0 umschreiben lassen. Im Szenario SAARC 2.0 erfährt die Regionalorganisation eine Stärkung durch die umfangreichen chinesischen Investitionen und die neuen Infrastrukturprojekte in den Nachbarstaaten Indiens. Die Modernisierung der Infrastruktur in einigen südasiatischen Staaten führt zu einer Verbesserung und Ausweitung des regionalen Handels. Allerdings bleiben der SAARC auch dann enge Grenzen gesetzt, sofern sich Indien weiterhin der BRI verweigert und Pakistan aus politischen Erwägungen nicht an der Ausweitung des regionalen Handels mit Indien interessiert ist. Der externe chinesische Impuls durch neue Investitionen und Kredite könnte deshalb eher zu dem zweiten Szenario Südasien 2.0. führen. Dabei würde sich die wirtschaftliche Situation in den meisten Staaten Südasiens trotz aller zu erwarteten Probleme verbessern. Allerdings würden sich die Handelsströme der SAARC Mitglieder dann eher auf China oder andere attraktive Exportmärkte ausrichten als auf die Region Südasien. Zudem ist für die meisten Staaten der Region China politisch attraktiver als Indien. In dem Szenario Südasien 2.0 wird die SAARC vermutlich eine noch geringere Rolle spielen als sie dies bereits ohnehin tut. Solange es nicht zu tief greifenden Strukturreformen und einer nachhaltigen Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur

35Yhome

(2017).

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kommt, dürften die ohnehin schwachen Anreize zur Stärkung des intra-regionalen Handels eher noch weiter abnehmen. Die ohnehin gering ausgeprägte wirtschaftspolitische Komponente der SAARC dürfte weiter an Bedeutung verlieren. Die neueren Entwicklungen im indisch-pakistanischen Verhältnis und das wachsende chinesische Engagement in Südasien haben das Potenzial nicht nur die Region, sondern vermutlich auch die Vorstellung darüber, was die Region darstellt, grundlegend zu verändern. Der größte Leittragende dieser Entwicklungen dürfte die SAARC als Organisation sein. Die politische Ordnung des indischen Subkontinents, die heute durch die SAARC repräsentiert wird, könnte sich damit zukünftig auch anders darstellen. Angesichts der umfangreichen Investitionen erscheint Pakistan auf den ersten Blick als größter Nutznießer dieser Entwicklung. Allerdings stellt der China Pakistan Economic Corridor zugleich eine risikoreiche wirtschaftliche und politische Wette dar. Pakistan muss die wirtschaftlichen Chancen auch realisieren, um angesichts der steigenden Verschuldung mittelfristig nicht zu einem chinesischen Wirtschaftsvasallen zu werden. Zugleich könnte der CPEC den außenpolitischen Handlungsspielraum Pakistans gegenüber Indien einschränken. Für China ist der CPEC auch eine Wette auf den Status Quo in der Kaschmirfrage. Die chinesische Regierung dürfte wenig Interesse daran haben, dass sich die pakistanischen Sicherheitskräfte erneut in militärische Abenteuer wie den Kargil Krieg 1999 begeben, um die Kaschmirfrage zu internationalisieren. Indien erscheint auf den ersten Blick als Verlierer, vor allem da es dem Ausbau der wachsenden ökonomischen Präsenz Chinas in Südasien nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen hat. Allerdings treibt Indien auch mit seiner Pakistan-Politik der vergangenen Jahre den Prozess der Neuvermessung Südasiens mit voran. So könnte Indien den Ausbau von BIMSTEC vorantreiben, die eine deutlich größere politische und wirtschaftliche Homogenität als die SAARC aufweist. Zudem könnten damit die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Südostasien und zur ASEAN weiter gestärkt werden, nicht zuletzt mit Blick auf die geostrategische Rivalität mit China. In diesen Kontext gehört auch die Förderung der Indian Ocean Rim Association (IORA), an deren Umbenennung und inhaltlicher Neuausrichtung Indien maßgeblich beteiligt war. Sofern diese Entwicklungen weiter voranschreiten, wird sich die politische Geographie Südasiens mittel- bis langfristig grundlegend wandeln.

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Dr. habil. Christian Wagner  ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind außen- und sicherheitspolitische Fragen in Indien und Südasien. Er war 2015 Visiting Fellow bei der Observer Research Foundation (ORF) und am Jawaharlal Nehru Institute for Advanced Studies (JNIAS). 2016 war er Gastwissenschaftler am Institute for Defence Studies and Analyses (IDSA) in NeuDelhi. 2019 war er Visiting Fellow am Institute of South Asian Studies (ISAS) der National University of Singapore (NUS).

Der ostasiatische Regionalismus: Entwicklung, Erfolge und Herausforderungen Lien Huong Do 1 Einleitung: Zusammenarbeit im Kontext regionaler Heterogenität Auf die Region Ostasien entfallen ca. 28 Prozent des asiatischen Kontinents und sie umfasst neben fünf nordostasiatischen Ländern (China, Japan, Südund Nordkorea, die Mongolei) auch die zehn Mitgliedsstaaten1 des südostasiatischen Staatenverbundes ASEAN. Kennzeichnend für die Region, in der 2,3 Mrd. Menschen leben, ist die kulturelle, geographische und politische Vielfalt. Russland, das geographisch an die Region grenzt, wird wegen der funktionalen Fokussierung auf Europa für die Zwecke dieses Kapitels als externe Macht verstanden. Die USA hingegen, obwohl nicht unmittelbar in der Region gelegen, werden aufgrund ihrer Bedeutung für regionale Belange in die Analyse einbezogen. Das intraregionale Beziehungsgeflecht ist ein Resultat historisch gewachsener Prozesse, die bis ins 3. Jahrhundert zurückreichen, als sich regionale Verknüpfungen in den Bereichen Handel, Kultur und Religion im Kontext der

1Das Kapitel wurde aus dem Englischen von Jens Heinrich übersetzt. Für eine ausführlichere Analyse der Autorin auf Englisch siehe Lien Huong Do (2018). Zu den ASEAN-Staaten zählen Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Osttimor ist kein ASEAN Mitglied, wird aber dennoch geographisch zu Südostasien gezählt.

L. Do (*)  Vietnam Initiatives, Hanoi, Vietnam © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_4

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Seidenstraße zu bilden begannen. Die Herausbildung eines modernen ostasiatischen Regionalismus kann in drei Phasen unterteilt werden. Die erste Phase hat ihren Startpunkt in den frühen 1950er Jahren. Motiviert durch eine sich vertiefende chinesisch-sowjetische Kooperation und einer de-facto Allianz beider Staaten mit Nordkorea, formierte sich auf Bestreben Südkoreas der Asian Pacific Council (APC), dem Australien, Japan, Malaysia, die Philippinen, Neuseeland, die Republik China [Taiwan], Südvietnam und Thailand angehörten. Der Fokus des APC war allerdings auf wirtschaftliche Belange ausgerichtet. Bereits 1954 wurde mit der Southeast Asian Treaty Organization (SEATO) eine explizit sicherheitspolitische Organisation gegründet, deren Zielsetzung auf der Bekämpfung des Kommunismus lag. Dreizehn Jahre später schlossen sich dann Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand zur ASEAN zusammen.2 Auch hier stand eine anti-kommunistische Haltung im Vordergrund. Von den ehemals gegründeten Organisationen und Zusammenschlüssen existiert neben der ASEAN heute nur noch die 1989 von Australien und Japan initiierte Asia–Pacific Economic Cooperation (APEC). Sowohl der APC (1975) als auch die SEATO (1977) lösten sich noch vor dem Ende des Kalten Krieges auf. Eine zweite wichtige Phase begann in den späten 1980er Jahren und kann als zweite Welle des Regionalismus bezeichnet werden. Zentral für diese Phase waren die ökonomischen und handelspolitischen Schwerpunktsetzungen. Mit der APEC enstand erstmals ein maßgeblicher institutioneller Rahmen mit dem Ziel, die wachsenden wirtschaftlichen Interdependenzen zu managen und eine Handelsliberalisierung voranzubringen. Gleichzeitig ermöglichte das Forum regelmäßig stattfindende politische und auch sicherheitspolitische Diskussionen auf höchster staatlicher Ebene – ein Prozess, der vor allem von den USA unter der Clinton-Administration in den frühen 1990er Jahren angestoßen wurde. Eine weitere zentrale Wegmarke des Regionalismus bildet das 1994 gegründete ASEAN Regional Forum (ARF). Ziele des ARF waren (und sind) die Beschäftigung mit sicherheitspolitischen Themen und der Vertrauensbildung.3 Die Zahl der Mitglieder des ARF, das sich als einer der zentralen institutionalisierten intergouvernementalen Dialoge für den Austausch im Bereich

2Green 3Ebd.,

und Gill (2009, S. 5). S. 9.

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der ­Sicherheitspolitik etabliert hat, ist seit der Gründung von zehn auf 27 im Jahr 2020 angewachsen.4 Der Beginn der dritten Phase des Regionalismus kann auf das Jahr 1997 datiert werden, als die asiatische Wirtschafts- und Finanzkrise die bestehenden Institutionen, Strukturen und Akteure, vor allem ASEAN und APEC, herausforderte. Der durch die Krise ausgelöste Druck führte zu Rufen nach neuen kooperativen Mechanismen und Instrumenten, die in Zukunft in der Lage sein sollten, ökonomische Probleme effektiver zu bewältigen. Im Zentrum der Bemühungen stand zudem das Bestreben, die Koordinierung zwischen der ASEAN und den regionalen Wirtschaftsmächten, wie China, Japan und Südkorea, zu optimieren. Im Zuge dieser Bemühungen entstanden zusätzliche institutionelle Arrangements: • • • • • • •

ASEAN+3 (ASEAN-Staaten, China, Japan und Südkorea) [1997] Die Shanghai Cooperation Organization [2001] Die East Asian Vision Group [1999] Die East Asian Community [2002] Der East Asia Summit [2005] Die Verhandlungen zu einem Transpacific Partnership Abkommen [2005] Die Regional Comprehensive Economic Partnership (2012 auf dem ASEAN Gipfel in Kambodscha ins Leben gerufen) [2012].

Neben dem Argument, durch die Schaffung neuer Institutionen über bessere Managementinstrumente für zukünftige ökonomische Krisen zu verfügen, wurden die Impulse für die Vertiefung des Regionalismus auch in den Zusammenhang einer ostasiatischen Freihandelszone gestellt, mit der sich die Vision des weltweit größten  integrierten regionalen  Wirtschaftsraumes verband.5 Direkte Konsequenz dieses Denkens war die Initiierung der East Asian Community (EAC) im Jahr 2002. Die Idee, den Aufbau der EAC an die Europäische Kommission anzulehnen wird verständlich vor dem Hintergrund der verschiedenen Kooperationsvorschläge, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts lanciert wurden. All diesen Ansätzen war gemein, dass sie sich – gespeist aus den

4Australien,

Bangladesch, Brunei Darussalam, China, Demokratische Volksrepublik Korea, Europäische Union, Indien, Indonesien, Japan, Kambodscha, Kanada, Laos, Malaysia, Mongolei, Myanmar, Neuseeland, Pakistan, Papua Neuguinea, Philippinen, Republik Korea, Russland, Singapur, Sri Lanka, Thailand, Timor-Leste, USA, Vietnam. 5Takashi (2003, S. 252).

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historischen Erfahrungen des japanischen Militarismus und Imperialismus – von einem „erzwungenen Regionalismus“ abzugrenzen versuchten. Als geeignete Plattformen für den Aufbau einer East Asian Community werden der East Asian Summit und das ASEAN+3 Format betrachtet.6

2 Eine (kurze) Geschichte regionaler Foren und Organisationen Der folgende Abschnitt vermittelt einen historischen Überblick über verschiedene Organisationen und Foren in Ostasien. Dabei sollen sowohl die entscheidenden Akteure als auch zentrale Herausforderungen beleuchtet werden.

2.1 Die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) Die ASEAN gilt als der größte regionale Zusammenschluss von Staaten in der Region. Der Staatenverbund wurde 1967 mit der Zielsetzung gegründet, wirtschaftliches Wachstum, sozialen Fortschritt, kulturelle Entwicklung aber auch Frieden und Sicherheit zu fördern.7 Seit Bestehen der ASEAN sind ihr drei zentrale Errungenschaften gelungen. Erstens konnte die Zahl der Mitglieder verdoppelt werden. Neben den fünf Gründungsmitgliedern (Indonesien, Singapur, die Philippinen, Thailand und Malaysia) sind zwischenzeitlich Brunei (1984), Vietnam (1995), Myanmar und Laos (1997) sowie Kambodscha (1999) der ASEAN beigetreten. Besonders die Mitgliedschaft Myanmars war aufgrund des damals dort herrschenden Militärregimes durchaus kontrovers. Die zweite bedeutsame Entwicklung für die ASEAN war die Verabschiedung und Annahme einer Charta auf dem 13. ASEAN-Gipfel im November 2007. Die Charta transformierte die ASEAN von einer losen politischen Gemeinschaft in eine Organisation mit verbindlichen Regeln und Verfahren („a rulebased organization with a legal personality“)8 und ebenete den Weg hin zu einer Wirtschaftsgemeinschaft (ASEAN Economic Community), die bis bis 2015 sukzessive enstehen sollte, dann aber tatsächlich zum Stichtag nur partiell

6Association

of Southeast Asian Nations (2016). (2010, S. 15). 8Katsumata (2009, S. 11). 7Severino

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umgesetzt wurde. Gemäß der Charta soll die ASEAN der Verwirklichung und dem Erhalt des regionalen Friedens und der Sicherheit dienen, den kernwaffenfreien Status Südostasiens festigen, sich an Prinzipen guter Regierungsführung (good governance) halten und nicht zuletzt als eine „primary driving force“ in regionalen Angelegenheiten wirken.9 Es ist besonders dieser letztgenannte Aspekt der normierten Zentralität der ASEAN im Gefüge der regionalen Zusammenarbeit, der die Charta auch im Außenverhältnis der Organisation zu einem wichtigen Dokument werden ließ. Generell besteht der dritte Erfolgsfaktor der ASEAN in der Stärkung außerregionaler Beziehungen mit anderen Regionen und Ländern. In den 1990er Jahren intensivierte sich die Ausdehnung regionaler Kooperation und Integration. Neue Foren und Abkommen, wie das ASEAN Regional Forum (ARF), ASEAN+3 und die ASEAN Free Trade Area (AFTA), wurden geschaffen bzw. initiiert. Auf dem neunten ASEAN Gipfel im Jahr 2003 einigten sich die ASEAN-Staaten, eine ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft zu etablieren, um die AFTA bis 2020 in einen gemeinsamen Markt zu transformieren. Diese Zielsetzung wurde 2006 auf dem 38. ASEAN-Wirtschaftsministertreffen angepasst und schon für 2015 anvisiert. Um die regionale Integration und Vernetzung auch in anderen Bereichen weiter voran zu bringen, einigten sich die Mitglieder auf ihrem 12. Gipfel darauf, eine Political-Security Community und eine Socio-Cultural Community zu etablieren.10 Wesentliches Charakteristikum der ASEAN ist der „ASEAN Way“, worunter eine bestimmte Grundüberzeugung hinsichtlich Kultur und Identität zu verstehen ist. Der „ASEAN Way“ kann wie folgt definiert werden „[A] high level of informality, the practice of quiet diplomacy, continuing process of dialogue, a willingness to exercise self-restraint, solidarity, the practice of consensus building and the art of conflict avoidance.“11 Dieses Set an Normen und Vorstellungen wird als ursächlich für wirtschaftliches Wachstum und Kriegsverhütung unter den ASEAN Staaten gesehen,12 aber auch als wesentlich für den begrenzten Einfluss externer Mächte in Südostasien. Vor allem das Nichteinmischungsgebot und dessen Umsetzung in Südostasien kann als einer der Faktoren gelten, welche die Rivalität zwischen Großmächten aus der Region herausgehalten haben.

9Beeson

(2009, S. 35). und Smith (2007). 11Emmers (2003, S. 23). 12Kraft (2012, S. 63). 10Jones

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2.2 Der East Asian Economic Caucus (EAEC) Den ersten Versuch zum Aufbau einer formellen Organisation für den gesamten ostasiatischen Raum bildete die East Asian Economic Group, die später in den East Asian Economic Caucus umbenannt wurde. Angestoßen im Jahr 1990 durch den malaysischen Premierminister Mahathir Mohamad bestand das Ziel darin, die ASEAN Mitgliedsländer plus China, Südkorea und Japan zusammenzubringen. Insofern stellte der EAEC auch eine neue Konzeptualisierung Ostasiens dar, indem Südostasien und Nordostasien als gemeinsame Region gedacht wurden.13 Die zunehmende Institutionalisierung im Bereich der Wirtschaft in Ostasien war zum einen als Managementstrategie für die aufstrebenden regionalen Ökonomien und zum anderen als Reaktion auf die sich verstärkende Bildung von Wirtschaftsblöcken (EU, NAFTA) zu verstehen.14 Besonders im Verhältnis zur Europäische Union ging es darum, eine gemeinsame Position gegen Protektionismus und Handelshemmnissen zu artikulieren, welche die EU abbauen müsste, wollte sie einen besseren Zugang zum asiatischen Markt gewinnen.15 Japan sollte ursprünglich der Dreh- und Angelpunkt des EAEC sein, da es als „einziges asiatisches Land galt, das in der Lage war, anderen asiatischen Ländern zu helfen.“16 Japan weigerte sich jedoch, die „treibende Kraft“ hinter einer ostasiatischen Wirtschaftskooperation zu werden, wie es Malaysia erwartet hatte, da Tokio stattdessen eine breitere Zusammenarbeit in Asien und dem Pazifik fördern wollte, die sich an Japans US-Politik orientierte.17 Trotz größter Bemühungen der ASEAN eine gemeinsame Positionierung bezüglich der Notwendigkeit eines ostasiatischen Regionalismus zu finden, scheiterte der Vorschlag vor allem an der mangelnden Bereitschaft der USA, Ostasien eine eigenständige, exklusive Kooperationsarchitektur zuzugestehen, am fehlenden Interesse Japans, der Konzentration Chinas auf den eigenen Übergang zur Marktwirtschaft und das Fehlen eines Konsenses unter den potenziellen Mitgliedern.18 Obwohl der EAEC als konkretes Projekt scheiterte, war es, nach Auffassung des singapurischen Senior Ministers, Lee Kuan Yew, „an idea that would not go

13Takashi

(2003). (2006). 15Takashi (2003). 16Australian Financial Review zitiert nach Takashi (2003). 17Takashi (2003, S. 258). 18Chirathivat (2005). 14Chirathivat

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away“, denn der ostasiatische Regionalismus war eine unvermeidliche Reaktion auf das Entstehen der NAFTA und der EU.19 Anfang der 1990er Jahre wurden die Asia Pacific Economic Cooperation (APEC) und die ASEAN Freihandelszone (ASEAN Free Trade Agreement/ AFTA) als Instrumente für die weitere Liberalisierung des regionalen Handels und als Reaktion auf den zunehmenden Regionalismus in anderen Teilen der Welt geschaffen.20 Gegen Mitte desselben Jahrzehnts setzte sich in der EU die Ansicht durch, dass Europa die Chancen, die mit dem Aufschwung der asiatischen Volkswirtschaften verbunden waren, nicht verpassen sollte. Als konkreter Schritt wurde daher das Asia Europe Meeting (ASEM) ins Leben gerufen. Damit bildete sich eine weitere, in diesem Fall inter-regional ausgelegte Gruppierung mit dem Ziel, die Verbindungen zwischen Ostasien und der Europäischen Union zu fördern.

2.3 ASEAN+3 1997 traf die asiatische Wirtschafts- und Finanzkrise die Region zu einem Zeitpunkt, als die rasch fortschreitende regionale Integration in Europa und Nordamerika einen wichtigen externen Faktor bildete, der den ostasiatischen Regionalismus antrieb. Die Nachfrage nach regionaler Kooperation und die positive Wahrnehmung der damit verbundenen Vorteile (vor allem Marktöffnung sowie Liberalisierung und Deregulierung) waren so stark wie nie zuvor, sodass mehrere Länder den Weg des Regionalismus erkundeten. Fast alle nordost- und südostasiatischen Staaten waren – zu unterschiedlichen Graden – in einem oder mehreren bilateralen oder subregionalen Preferential Trade Agreements (PTA) involviert. In nur wenigen Jahren wurden verschiedene Handelsabkommen vorgeschlagen oder werden (noch) verhandelt. Einige konnten hingegen abgeschlossen oder bereits umgesetzt werden. Die Verbreitung dieser Abkommen veranlasste einen Beobachter zu dem Schluss dass „[t]he whole East Asian region now seems busy in dealing with these bilateral FTAs in one way or another“.21 1997 kam es auf Bestreben der ASEAN zu einem multilateralen Gipfeltreffen mit China, Südkorea und Japan (ASEAN+3). Den Kern dieser Strategie bildete die Stärkung der ostasiatischer Kooperation mit dem Ziel, Frieden, Stabilität

19Stubbs

(2002, S. 446). (2005, S. 150–151). 21Chirathivat (2005, S. 152–153). 20Chirathivat

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und Wohlstand für den gesamten Raum zu schaffen22 – ein Markt von damals 1,9 Mrd. Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,6 Billionen US$ bzw. einem Anteil von 17,9 Prozent am globalen BIP. 2018 betrug das BIP 19,8 Billionen US$, was 23,8 Prozent des weltweiten BIP entsprach.23 Im Rahmen des ASEAN+3 Formats wurde eine Vision einer East Asian Community entwickelt (siehe Abschn. 3), die in einem Spannungsverhältnis zu japanischen Entwürfen stand.

2.4 Der East Asian Summit (EAS) Der East Asian Summit, der erstmals am 14. Dezember 2005 in Malaysia stattfand, sollte einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg hin zu einer East Asian Community leisten. Die Gipfeltreffen der ostasiatischen Staats- und Regierungsoberhäupter finden jährlich statt und gelten als strategisches Forum und wichtiger Bestandteil einer im Entstehen begriffenen regionalen Architektur. Der EAS, so eine Hoffnung, soll ergänzend und verstärkend mit anderen regionalen Institutionen wie dem ASEAN+3 beim Aufbau einer ostasiatischen Gemeinschaft (EAC) wirken.24 Eine wesentliche Rolle im Aufbauprozess regionaler Kooperationsformen und -institutionen spielt die ASEAN. Die Akzeptanz der ASEAN als Initiator geht jedoch über Südostasien hinaus. Initiativen des Staatenverbundes zum Aufbau einer EAC wurden von verschiedenen Staaten (Indien, Australien und Neuseeland) aus unterschiedlichen Regionen vorangetrieben. Die Bedeutung des EAS lässt sich auch daran bemessen, dass über eine Erweiterung der Mitgliedschaft – etwa um die USA und Russlands – nachgedacht wird.

3 Die Entstehung der Idee einer East Asian Community Der Idee einer East Asian Community (EAC) lagen von Beginn an zwei verschiedene Visionen zugrunde. Die erste dieser Ideen stammte vom damaligen japanischen Premierminister Koizomi und wurde anschließend auch von den

22Bergsten

(2000); Takashi (2003, S. 252). (2019). 24Ministry of Foreign Affairs Japan (2005a). 23Parpart

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nachfolgenden japanischen Regierungen unterstützt. Kern des Konzepts Japans war eine deutliche asiatisch-pazifische statt rein ostasiatischer  Ausrichtung der Kooperation und eine US-freundliche Grundhaltung. Der im Jahr 2002 von Koizomi präsentierte Entwurf sah vor, dass die EAC geographisch breiter als ursprünglich konzipiert aufgestellt werden sollte und sich in Einklang mit dem East Asian Summit als institutioneller Basis befinden müsse. Einen zweiten Ansatz artikulierte die East Asian Vision Group (EAVG), eine vom ASEAN+3 Forum etablierte Gruppe, die sich in ihrem Report „Towards An East Asian Community – Region of Peace, Prosperity and Progress“ deutlich für die Schaffung einer EAC aussprach. In dem Dokument heißt es: We, the people of East Asia, aspire to create an East Asian Community of peace, prosperity and progress based in the full development of all peoples in the region … The Vision Group envisions East Asia moving from a region of nations to a bona fide regional community with shared challenges, common aspirations, and a parallel destiny (…) The time for building an East Asian Community is opportune.25

Dem japanischen Entwurf lag die Idee eines asiatisch-pazifischem Regionalismus zugrunde, der per definitionem auch die Vereinigten Staaten einschließen würde. Die Ausrichtung des EAVG/ASEAN+3 Ansatzes war hingegen enger gefasst, im Wesentlich auf Ostasien konzentriert und dabei China-freundlich. Die Spannungen zwischen beiden Visionen sollen im Folgenden herausgestellt werden.

3.1 Die japanische Version einer East Asian Community Koizumis Vorschlag sah die Schaffung einer ostasiatischen Freihandelszone und die weitere Integration Ostasiens in die globale Wirtschaft vor, womit auch die Hoffnung verbunden war, das ökonomische Gewicht der Region im weltweiten Kontext zu stärken. Die Initiative sollte die Bedeutung Ostasiens für die Weltwirtschaft unterstreichen, die gemeinsame Stimme der verschiedenen Ökonomien der Region hörbar machen und außerdem Einfluss, Wohlstand und Frieden sichern.26

25East Asian Vision 26Kita

Group (2001, S. 6). (2010, Abschn. 9).

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Die japanische Regierung sah in der EAC eine ihrer wesentlichen Regionalismusstrategien. Ein zentraler Einflussfaktor der japanischen Ostasienpolitik war in den Beziehungen zu den USA zu sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Japan nicht nur zu einem nach außen hin pazifistischen Staat umgestaltet, wodurch eine erneute Militarisierung des Landes und Aggressionen Japans gegen seine Nachbarn verhindert werden sollten, sondern auch zu einem der wichtigsten Partner der USA in der Region. Mit einer Veränderung der Sicherheitslage nach dem Ende des Kalten Krieges und vor allem mit der Fokussierung der USA auf den Global War on Terror nach dem 11. September 2001 reduzierte sich Japans Bedeutung für die USA. Auch wenn dieser Bedeutungsverlust nur kurzfristig war – zu wichtig ist Japan in den Bereichen Raketenabwehr, Nordkorea und mit Blick auf den Aufstieg Chinas – hat Japan versucht, während dieser Phase eine unabhängigere Beziehung mit den USA zu definieren,27 um nationale Interesse zu befördern und den eigenen Einfluss zu vergrößern. Neben der Stärkung des eigenen regionalpolitischen Profils ging es Tokio bei der Schaffung einer EAC um die Verhinderung einer chinesischen Hegemonie.28 Diese Zielsetzung wurde durch Chinas gesteigertes Interesse und seiner proaktiven Diplomatie gegenüber der ASEAN maßgeblich mitbeeinflusst. Besonders Anfang der 2000er Jahre gelang es Peking, eine Reihe von Abkommen mit dem südostasiatischen Staatenverbund abzuschließen, darunter das Framework Agreement on Economic Cooperation, die Declaration on Conduct of Parties in the South China Sea, die Joint Declaration on Cooperation in the Field of Non-traditional Security Issues, das Framework Agreement on Comprehensive Economic Cooperation und ein Memorandum of Understanding on Agricultural Cooperation. Im Jahr 2003 stimmte der Volkskongress für den Beitritt zum Treaty of Amity and Cooperation. Besonders hervorzuheben ist das chinesische Early Harvest Programm, das die Reduzierung von Zöllen für landwirtschaftliche Produkte aus den ASEANStaaten vorsah und die erste Stufe auf dem Weg zu einer 2002 vereinbarten China-ASEAN Freihandelszone bildete.29

27Junbo

(2009, Abschn. 11). (2010, S. 500). 29Ebd., S. 506. 28Sohn

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Aus japanischer Sicht waren es gerade diese Abkommen und die damit verbundene Vertiefung der Kooperation, die Japan dazu bewogen, das Vorgehen Chinas im – aus Perspektive Tokios – japanischen „Hinterhof“ zu begrenzen. Dabei galten die verschiedenen regionalen Organisationsformen und -foren als Hebel zur Stärkung der eigenen Position und zur Unterminierung chinesischer Ambitionen.

3.2 Die EAVG-Version einer East Asian Community Die deutlich engere und auf Ostasien fokussierte Auslegung einer EAC wurde auf dem 8. ASEAN+3 Gipfel (2004) als langfristiges Ziel offiziell ausgerufen. Damit folgten die Staaten den Empfehlungen der EAVG (die mit ihrem Report aus dem Jahr 2001 eines der wichtigsten Dokumente erstellt hatte) und ihren eigenen Beschlüssen früherer Treffen. Die zentrale Rolle in dem Prozess hin zu einer EAC sollte dabei das ASEAN+3 Forum spielen. Die japanische Regierung versuchte auch hier ein bestimmender Impulsgeber zu bleiben. Koizumis Nachfolger, Yukio Hatoyama, rief 2009 erneut zur Bildung einer EAC auf, was sowohl von den südostasiatischen Staaten als auch von China und Südkorea begrüßt wurde. Alle drei ostasiatischen Länder drückten daraufhin ihre Bereitschaft aus, eine „EAC based on the principles of openness, transparency, inclusiveness as a long-term goal“ zu verwirklichen.30 Auf dem ASAEN Gipfel 2012 wurde der Vorschlag der EAVG angenommen, bis 2020 eine East Asian Community zu etablieren, wobei dieses Ziel jedoch letztlich nicht erreicht wurde. Die EAC Initiative wurde konsequenterweise von vielen Staaten der Region positiv aufgenommen, so etwa von Singapur und Thailand. Vor allem China versprach sich davon eine stabilisierende und friedenssichernde Auswirkung und ein wirtschaftlich positives Umfeld.31 So erklärte das chinesische Außenministerium: China is willing to see Japan and various countries in Southeast Asia maintain good cooperative relations and it hopes Japan, being the only developed country in Asia, will play a constructive role in maintaining economic stability and promoting the healthy development of cooperation in the region.32

30Song

und Yu (2014, Abschn. 14). (2006, S. 5). 32Zitiert nach Takashi (2006, S. 6).

31Takashi

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Die ASEAN-Staaten befürworteten den japanischen Vorschlag zur Schaffung einer EAC nicht zuletzt deshalb, weil damit ein klares Bekenntnis zur Führungsrolle der ASEAN verbunden war. Der damalige japanische Regierungschef Koizomi machte 2002 deutlich, dass „[The EAC] should be achieved by expanding East Asian cooperation founded on the Japan–ASEAN relationship.“33 Zusätzlich versprachen sich die südostasiatischen Länder eine Reihe von Vorteilen, die Japan in Aussicht stellte. Tokio sicherte auf dem Japan-ASEAN Gipfel 2005 eine Summe von 7,5 Mrd. Yen zu, um Counterterrorismus-Maßnahmen zu unterstützen und Wirtschaftshilfe zu leisten.34 Strategisch-konzeptuell orientieren sich das japanische Engagement und der Wunsch, die Beziehungen zu Südostasien zu verstärken, an der 1977 verkündeten und nach dem damaligen Premierminister benannten Fukuda-Doktrin. Kern der Doktrin war das Bekenntnis Japans zu Frieden und der Verzicht auf eine Militarisierung. Ferner wollte Tokio mit der Doktrin das Fundament für eine vertiefte, partnerschaftliche und umfassendere Beziehung zu den südostasiatischen Staaten legen, wobei ASEAN als „a vehicle of policy to consolidate Japan’s cooperative initiatives in the region“35 galt. Eine weitere breit angelegte regionale Initiative wurde vom damaligen australischen Premierminister Kevin Rudd im Juni 2008 in einer Rede vor der Asia Society skizziert.36 Rudd forderte eine starke und effektive regionale Institution zur Lösung regionaler Probleme wie Sicherheit, Terrorismus, Naturkatastrophen, Krankheiten, Handel, Energie und Ernährungssicherheit. Geographisch sollte sich die Initiative über den gesamten asiatisch-pazifischen Raum erstrecken und dabei vor allem die Vereinigten Staaten, Japan, China, Indien und Indonesien einschließen. Um Kontroversen vorzubeugen, plädierte Rudd dafür, dass sein Vorschlag nicht zulasten bestehender Institutionen und Kooperationsformen gehen dürfe. Wegen der fehlenden positiven Resonanz und erheblicher Skepsis bei vielen Staaten der Region37 war der Vorschlag jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt.38

33Koizomi

zitiert nach Sohn (2010, S. 509). of Foreign Affairs of Japan (2005b). 35Sudo 1992 zitiert nach Yeo (2006, S. 262). 36Viner (2014). 37Frost (2009). 38Elek (2008). 34Ministry

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4 Das Transpacific Partnership-Abkommen Ein Vorläufer des Transpacific Partnership (TTP)-Abkommens wurde bereits 2005 unter dem Namen Transpacific Strategic Economic Partnership Agreement (TPSEP Agreement) zwischen Chile, Neuseeland, Singapur und später Brunei vereinbart. Das Abkommen trat 2006 in Kraft. Relativ zügig signalisierten auch andere Staaten ein grundsätzliches Interesse am Ausbau transpazifischer Wirtschaftskooperation. Im Jahr 2008 traten die USA den Verhandlungen bei und zwei Monate später erklärten Australien, Peru und Vietnam auf dem APEC Gipfel in Lima ebenfalls formell ihren Wunsch, Teil des Verhandlungsprozesses zu werden. Bis 2015 traten zusätzlich Länder wie Malaysia (2010) und Japan (2013) den Gesprächen bei, sodass die Zahl auf zwölf anwuchs. Das zentrale Anliegen von TPP war eine Liberalisierung des Handels im asiatisch-pazifischen Raum, wobei folgende Leitgedanken formuliert wurden: • Förderung des freien und offenen Handels und der Investitionen; • Förderung der Ausweitung und Diversifizierung des Handels zwischen den Mitgliedern; • Beseitigung von Handelshemmnissen und Erleichterung des grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten; • Förderung der Bedingungen für einen fairen Wettbewerb in der Freihandelszone; • deutliche Erhöhung der Investitionsmöglichkeiten; • Gewährleistung eines angemessenen und wirksamen Schutzes und die Durchsetzung der Rechte geistigen Eigentums; • Schaffung eines wirksamen Mechanismus zur Vermeidung und Beilegung von Handelsstreitigkeiten.39 Das TTP Abkommen wurde vor allem wegen der Teilnahme der USA als historisch bezeichnet, da dem Abkommen nun „broad membership and the highest standards that represent the effectiveness of an agreement of the 21st century“40 zugrunde lagen. Mit 12 Mitgliedsstaaten schuf das Transpacific Partnership Agreement einen Markt mit 800  Mio. Menschen, umfasste ca.  40  Prozent

39Ministry 40Foreign

of Foreign Affairs and Trade New Zealand (2017). Trade Information System (2017a).

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des globalen BIP und ungefähr ein Drittel des Welthandels.41 Die mit dem Abkommen verbundenen Erwartungen waren hoch. Vietnams Botschafter in den USA, Pham Quang Vinh, sah darin sogar eine neue Generation von Freihandelsabkommen und erklärte, dass TTP bis 2025 einen Prozentpunkt zum globalen Wachstum beisteuern würde: „The TPP is the 21st century trade agreement because it proposes very high standards on trade, techniques and intellectual property, environment and labour protection, and it eliminates tariff barriers to nearly zero percent.“42 Am 23. Januar 2017 zogen sich die Vereinigten Staaten als Unterzeichner der TPP zurück, womit Präsident Trump einem seiner zentralen Wahlversprechen nachkam. Der Ausstieg der USA schmälerte den Wert des Abkommens erheblich. Trotz dieses Rückschlags unterzeichneten die elf verbliebenden Mitglieder im März 2018 eine überarbeitete Version von TTP, das sog. Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership.

5 Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) Die Initiative zu einer regionalen und umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (RCEP) entstand 2011/12 unter der Ägide der ASEAN. Auf ihrem 19. Gipfeltreffen formulierte der Staatenverbund ein klares Bekenntnis zum Führungsanspruch bezüglich regionaler Wirtschaftskooperation. Der RCEP Prozess zielte auf einen „ASEAN-led process“43 ab. Die Verhandlungen zu RCEP begannen 2013 und erfolgten gemäß der Guiding Principles and Objectives for Negotiating the RCEP.44 Obwohl RCEP als ASEAN-Initiative begann, waren an den Verhandlungen 16 Länder (10 ASEAN-Mitglieder und sechs Länder, mit denen die ASEAN Freihandelsabkommen geschlossen hat, nämlich Australien, China, Indien, Japan, Korea und Neuseeland) beteiligt, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Ende 2019 zog sich Indien aus Sorge, der nationale Markt könne billigen chinesischen Importen überschwemmt werden, von RCEP zurück. Die Option eines späteren Beitritts besteht jedoch. Bis Mitte 2019 hatten die

41Foreign

Trade Information System (2017b). Quang Vinh (2015). 43Association of Southeast Asian Nations (2012). 44Department of Foreign Affairs and Trade Australia (2012). 42Pham

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Parteien 27 Verhandlungsrunden absolviert, wobei eine endgütige Einigung für 2020 angestrebt wurde. Die Regional Comprehensive Economic Partnership wurde vor allem als ein „growth driver and a key pathway for broader economic integration in the region“45 bewertet. Zielsetzung war es, ein modernes, umfassendes, qualitativ hochwertiges und für alle Seiten vorteilhaftes Abkommen zu schaffen, das den Handel mit Waren und Dienstleistungen, Investitionen, wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit, geistiges Eigentum, Wettbewerb, Streitbeilegung und weitere Fragen umfasst. Nach dem Rückzug der USA aus dem TPP Abkommen scheinen die Bedingungen für den Aufbau der RCEP günstiger zu sein. Sollte dieses umfassende Handelsabkommen tatsächlich verwirklicht werden, dann wäre damit – sofern Indien doch später beitritt – ein Markt mit drei Milliarden Menschen, einem Anteil von 27 Prozent am globalen Handel und einem BIP von 21 Billionen US$ geschaffen.46 Im Jahr 2015 belief sich die Gesamtproduktion der 16 RCEP-Mitgliedsländer auf 22,4 Billionen US$ oder 30,6 Prozent der Weltproduktion, der Gesamthandel auf 11,9 Billionen US$ und die gesamten Zuflüsse durch ausländische Direktinvestitionen (FDI) in die Mitgliedsländer auf 329,6 Mrd. US$.47 Nach Wignaraja kann RCEP dazu beitragen „[to] regionalise the sophisticated global production networks that make Asia the world’s factory, reduce the overlap among Asian FTAs, lest Asia becomes a confusing ‘noodle bowl’ of multiple trade rules.“48 Laut Foizee ist die RCEP eine bessere Wahl als die Transpacific Partnership für Asien, da die RCEP vollständig mit der von China vorgeschlagenen One Belt, One Road Initiative (BRI/OBOR) übereinstimmt. Die BRI ist eine der zentralen Strategien Chinas, um seinen Einfluss durch Infrastrukturprojekte zu erhöhen, die von chinesischen Banken und der von China geführten Asian Infrastructure Investment Bank finanziert werden. Die Auswirkungen der BRI werden im Vergleich zu denen des TPP wohl unmittelbarer und konkreter spürbar sein, was vor allem daran liegt, dass sich die wesentlichen Merkmale der Transpacific Partnership nur langsam entfalten werden.49

45Department

of Foreign Affairs and Trade Australia (2015). Monetary Fund (2013). 47Ministry of Foreign Affairs of Japan (2016). 48Wignaraja (2013, Abschn. 5). 49Foizee (2015). 46International

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Die RCEP bietet China unter anderem Zugang zu den ASEAN-Märkten und einen bevorzugten Zugang zu den japanischen und ggf. indischen Märkten. RCEP ist für China in einer Zeit, in der die protektionistischen Reaktionen auf seine Exporte vor allem in den USA rasant zunehmen, von entscheidender Bedeutung. Angesichts seiner unbequemen strategischen Beziehungen zu Japan und Indien sind sich die Entscheidungsträger in China der Tatsache bewusst, dass es nahezu unmöglich ist, künftige bilaterale Freihandelsabkommen mit diesen Ländern zu schließen. Der bevorzugte Zugang zu diesen Märkten erfolgt daher höchstwahrscheinlich über ein multilaterales Abkommen wie der RCEP.50

6 Eine kritische Bewertung des ostasiatischen Regionalismus Trotz der Schaffung mehrerer – teilweise überlappender – regionaler Foren und Organisationen in Ostasien neigen etliche Beobachter in ihrer Bewertung des Potenzials des Regionalismus in diesem Teil der Welt zur Skepsis oder gar zum Pessimismus. Hauptgründe hierfür waren (und sind) die Spannungen im Verhältnis einiger Staaten, wie Japan, China und Südkorea, aber auch die Rivalität zwischen den USA und China hat sich negativ auf die Etablierung regionaler Kooperationsstrukturen ausgewirkt.51 Insgesamt verlief der Prozess der Stärkung und Vertiefung zwischenstaatlicher Zusammenarbeit im ostasiatischen Regionalismus langsam und durchaus fragil. Im Allgemeinen stellt die Unsicherheit der Beteiligung Washingtons an der regionalen Integration eine wesentliche Hürde dar. Pempel beschreibt die Region Ostasien vollkommen berechtigt als uneinheitlich. Er argumentiert, dass Ostasien gegenwärtig als eine „eng gestrickte Region“ zu bezeichnen sei, es aber weder eine Karte für Ostasien noch eine einzige Konzeption von Ostasien gebe.52 Die Frage, welche Position Südostasien einnehmen kann (und schon eingenommen hat) ist nach wie vor unklar. Aus konzeptueller Perspektive weist Acharya darauf hin, dass das Konzept von Südostasien bis in die 1960er Jahre untrennbar mit Südasien verbunden war.53 Während des Kalten Krieges vereinte das Konzept des „südlichen Asiens“ alle Nationen

50Palit

(2016). (2006); Hund (2003); Kang (2006); Zhang (2006). 52Pempel (2005, S. 24). 53Acharya (2006). 51Beeson

Der ostasiatische Regionalismus …

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in Südostasien und Südasien. So wurde beispielsweise die 1955 in Bandung abgehaltene Asien-Afrika-Konferenz offiziell als Konferenz der südostasiatischen Premierminister oder Colombo Powers bezeichnet. Indien, Co-Sponsor der Bandung-Konferenz (und zwei weiterer zuvor abgehaltener Konferenzen), war es durch die Teilnahme von Staaten aus Südasien, Südostasien und Nordostasien gelungen, den asiatischen Regionalismus zu fördern.54 Wie zuvor erwähnt, besitzen Rivalitäten zwischen zentralen Regionalstaaten Auswirkungen auf die Bildung einer EAC. So argumentiert Aurelia George Mulgan, dass Fortschritte bei der Umsetzung der EAC-Idee aufgrund der Führungsrivalität zwischen Japan und China erschwert würden.55 Die japanische Initiative für das EAC könnte von China genutzt werden, um eine regionale Ordnung unter seiner Führung durchzusetzen. Diese Rivalität zeigt sich besonders in unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich der EAC-Mitgliedschaft, wobei China die Mitgliedschaft aus der ASEAN+3-Gruppe anstrebt, während Japan die ASEAN+6-Gruppe unter Beteiligung der USA bevorzugt. Darüber hinaus bezweifelt Mulgan das Potenzial für trilaterale Gipfel zwischen Japan, China und Südkorea, um die EAC voranzubringen. Der Hauptgrund hierfür liegt, so die Einschätzung, in unterschiedlichen Sichtweisen und Ansätzen zur Lösung von Wirtschaftskrisen, zu Fragen des Klimawandels oder zur Nordkorea-Problematik, weniger jedoch in Kontroversen zum Aufbau der EAC. Andere Experten, wie Cossa et al., stellen die Notwendigkeit eines regionalen Mechanismus grundsätzlich infrage, und bezweifeln, dass die EAC tatsächlich den Wohlstand, die Stabilität und den Zusammenhalt der Region fördern könne.56 Sie bezweifeln außerdem, dass die EAC die regionalen Sicherheitsherausforderungen bewältigen kann, wie zum Beispiel die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, den Wettbewerb um regionale Dominanz, den beschleunigten Energiewettbewerb und die zunehmenden Umweltprobleme. Außerdem, so ein weiterer Kritikpunkt, existieren große Unterschiede zwischen den Ländern Nordostasiens und Südostasiens in der Art und Weise, wie sie Sicherheitsbedrohungen definieren und wahrnehmen und welche strategischen Implikationen sich daraus – auch aufgrund unterschiedlicher Kultur – ergeben. Die Tendenz ostasiatischer Staaten, Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischung in innere

54Acharya

(2006, S. 412). (2009). 56Cossa et al. (2005). 55Mulgan

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Angelegenheiten zu priorisieren, gefährdet auch ihre Kooperationsfähigkeit, die wiederum gerade bei nichttraditionellen Sicherheitsproblemen zwingend ist.57 Ein weiteres zentrales Problem, das sich immer wieder spürbar auf die Weiterentwicklung des Regionalismus auswirkte, ist die Koexistenz verschiedener Handelsforen, welche die bestehenden Spannungen eher vertieften als lösten. Besonders kritisch ist dabei das instrumentelle Regionalismusverständnis, das Staaten wie Japan, China aber auch die USA angenommen haben. Dies wird vor allem mit Blick auf RCEP, TPP und EAC deutlich. Das TPP wurde ursprünglich von den USA vorangetrieben und schloss China aus. Die RCEP wurde hingegen von China befördert und richtete sich implizit gegen TPP und die USA. Die EAC wiederum, die 2002 vom ehemaligen japanischen Premierminister Junichiro Koizumi vorgeschlagen wurde und aufgrund des ASEAN+3 Formats auch China einbezieht, ist ein Instrument für das japanische Streben nach Unabhängigkeit gegenüber Washington (ohne dabei die zentrale Rolle der USA komplett minimieren zu wollen) und um Tokios Einfluss in Ostasien zu erhöhen. Gleichzeitig soll dadurch verhindert werden, dass China seine regionale Hegemonie ausbaut. Die Bedeutung der unterschiedlichen Foren für (geo-)strategische Erwägungen lässt sich an den Beispielen der Transpacific Partnership und der Regional Comprehensive Economic Partnership verdeutlichen. Die TPP war von der Obama-Regierung (auch) als ein Instrument gedacht, um die regionale Vormachstellung der USA zu festigen. Ziel war dabei vor allem die Reduzierung des chinesischen Einflusses, was die USA dazu veranlassten, mit schwächeren Ländern der Region zu kooperieren.58 Mit den Worten des ehemaligen USPräsidenten Obama: „Wenn mehr als 95 Prozent unserer potenziellen Kunden außerhalb unserer Grenzen leben, können wir nicht zulassen, dass Länder wie China die Regeln der Weltwirtschaft schreiben.“59 TPP hätte als Grundlage für ein fortgesetztes US-Engagement in Asien gedient und zur Stabilität in einer Region beigetragen, die zunehmend von Nationalismus, territorialen Konflikten und Militarismus herausgefordert wird.60 Die RCEP hingegen dient – quasi spiegelbildlich – der Förderung der chinesischen Hegemonie. Angesichts des Ausschlusses Chinas vom TPP

57Curley

und Thomas (2012). zitiert nach Kim (2016). 59Obama (2015, Abschn. 2). 60Goto (2015). 58Wen

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Abkommen wurde die RCEP, obwohl es sich dabei um eine ASEAN-Initiative handelt, als Chinas „main game in town“61 angesehen mit dem aus chinesischer Sicht vorteilhaften Merkmal, dass „the United States isn’t at the table“.62 China hat seine führende Rolle in seinem eigenen Spiel unter Beweis gestellt, indem es nach Wegen gesucht hat, die Fortschritte bei den RCEP-Verhandlungen durch die multilateralen Foren und bilateralen Treffen zwischen China und anderen Ländern zu fördern, so zum Beispiel auf dem Ostasien-Gipfel 2013 in Brunei. Dort erklärte der chinesische Premierminister Li Keqiang: „Many East Asian countries use chopsticks. Anyone who uses chopsticks knows it is very hard to eat with one, and that you need a pair. And if you bundle chopsticks together, they are hard to break.“63 Um bei der Metapher der Essstäbchen zu bleiben, lässt sich argumentieren, dass sich RCEP mit der BRI/OBOR Initiative und der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) zu einem solchen Bündel verdichten lässt, das andere Staaten überzeugt und so die regionale Stellung Pekings stärkt.64 Jin Yi'nan, ehemaliger Direktor des Strategic Institute an der University of Defence in China, machte das politisch-strategische Denken hinter ökonomischer Integration deutlich, als er sagte, dass „[Präsident Trumps Rückzug aus der TPP] ein großes Geschenk für China gewesen ist, da Trump nicht erkennt, dass TTP China in wirtschaftlicher Hinsicht einschränken soll. Für China wird der Erfolg von RCEP eine Möglichkeit sein, die USA aus der Region auszuschließen.“65

7 Fazit und Ausblick Ostasien ist eine Region, die sich durch eine große Vielfalt in Geographie, Geschichte, Politik und Kultur auszeichnet. Diese Heterogenität stellt in besonderer Weise eine Herausforderung für jede Form regionaler Kooperation dar. Dennoch konnte der Regionalismus in Ostasien Fuß fassen und sich entwickeln – auch deshalb, weil er auf jahrhundertealten, vormodernen Verbindungen aufbauen konnte. Die Entwicklung des ostasiatischen Regionalismus

61Ratner

und Kumar (2017, Abschn. 6).

62Ebd. 63Sevastopulo

et al. (2013). und Kumar (2017). 65Anonymous (2017, Abschn. 7). 64Ratner

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lässt sich in drei Stufen einteilen. Die erste Phase begann Anfang der 1950er Jahre mit dem Ziel, die kommunistischen Aufständen in Ostasien abzuwehren und klein zu halten. Die zweite Stufe, deren Anfänge in den späten 1980er Jahren liegen, war vor allem durch Strategien zur Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Handelsintegration im asiatisch-pazifischen Raum charakterisiert. Die dritte Welle schließlich blühte als Folge der Finanzkrise in Asien 1997–98 auf. Zu dieser dritten Welle ist besonders das Konzept der East Asian Community (EAC) zu zählen. Die EAC wurde 2002 von Japan initiiert, um ein ostasiatische Freihandelsabkommen zu fördern. Die Idee wurde 2004 auf dem 8. ASEAN+3-Gipfel offiziell bekräftigt und als langfristiges Ziel der Kooperation innerhalb des ASEAN+3 Prozesses anerkannt. Die EAC-Initiative wurde von fast allen Ländern der Region begrüßt, einschließlich China, Singapur, Japan und den ASEAN-Ländern, mit der Erwartung, dass die EAC ein stabiles und friedliches Umfeld für die wirtschaftliche Entwicklung schaffen würde. Bei der Institutionalisierung einer ostasiatischen Gemeinschaft gestalten sich die Fortschritte jedoch schwierig. Aufstrebende multilaterale Foren, die potenziell in Konkurrenz stehen können, wie TPP und RCEP haben den EAC-Prozess infrage gestellt. Fünf potenzielle EACMitglieder – Brunei, Singapur, Japan, Malaysia und Vietnam – haben das TPPAbkommen unterzeichnet, und fast alle potenziellen EAC-Mitglieder haben an den RCEP-Verhandlungen teilgenommen, wodurch Überlappungen aber auch Ausschluss und Ausgrenzung gefördert werden. Die Teilnahme an diesen Foren lenkt potenzielle EAC-Mitglieder davon ab, ihre Energien und Ressourcen in den Aufbau einer EAC zu investieren. Die Fortschritte beim Aufbau des EAC sind daher gemäßigt und es scheint nur begrenzt Bedarf zu geben, die Vorteile der EAC herauszustellen. Im Gegensatz zur EAC haben die zu erwartenden geopolitischen und wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus dem TPP und dem RCEP ergeben können, potenzielle EAC-Mitglieder dazu bewogen, ihr Engagement und politisches Kapital für den Auf- und Ausbau dieser zwei Formate zu nutzen. So hat die Teilnahme an Gesprächen zur TPP und RCEP über mehrere Jahre hinweg einen enormen Personalaufwand verursacht. Einige EAC-Mitglieder, darunter Japan, Malaysia und Vietnam, brauchten sieben Jahre, um ihre TPP-Verhandlungen abzuschließen. Neben den offiziellen 19 Verhandlungsrunden für die TPP gab es unzählige informelle Treffen. In der Zwischenzeit sind die RCEP-Verhandlungen nach gut zwei Dutzend formalen Gesprächsrunden noch nicht abgeschlossen. Zu dem Aufwand an fachkundigem Personal gehörten u. a. diplomatische Verhandlungsteams und im Falle der TPP Teams von Bürokraten, die an Reformen und Anpassungen der nationalen Gesetzgebung arbeiten, um die Bestimmungen

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der TPP-Vereinbarung zu erfüllen. Tendenziell verlangsamt sich der Fortschritt beim Aufbau der EAC, wenn die EAC-Mitgliedsländer parallel (oder primär) andere regionale Foren besuchen.66 Die unterschiedliche Gewichtung von Ressourcen zeigt die Hierarchie und die Bedeutung der EAC im Vergleich zur ASEAN Community, zur TPP oder zur RCEP. Die Vorteile, besonders von TPP und RCEP, scheinen, so ein abschließender Eindruck, deutlich sichtbarer zu sein als die der EAC.

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Dr. Lien Huong Do ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Vietnam Initiatives, einem globalen Think Tank für Entwicklungspolitik in Vietnam. Lien Huong Do befasst sich seit 2011 mit dem ostasiatischen Regionalismus und analysiert u. a. die Rolle Chinas sowie die Bedeutung politischer Parteiorganisationen im Prozess der regionalen Gemeinschaftsbildung. 2018 promovierte sie an der University of Technology, Sydney/Australien, mit einer Dissertation zum Thema The Potential of the East Asian Community to Deepen East Asian Regionalism.

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens Jürgen Haacke 1 Einleitung: Das Sicherheitskonzept der ASEAN Der Begriff der regionalen Sicherheitsordnung hat, wenn überhaupt, Seltenheitswert im offiziellen Sprachjargon der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) und findet keinerlei Erwähnung in der zur Gründung des ASEANStaatenverbundes anno 1967 verabschiedeten Bangkoker Erklärung. Dort taucht der Begriff Sicherheit explizit nur in der Präambel einmal auf, obwohl kein Zweifel daran bestehen sollte, dass sicherheitspolitische Überlegungen ausschlaggebend für die Geburt der ASEAN waren. Interessanterweise hat auch die von der ASEAN angestrebte und nach offizieller Darstellung zumindest ansatzweise vollzogene Bildung einer dreigliedrigen Gemeinschaft, die auch eine sicherheitspolitische Dimension in Form der ASEAN als politische und sicherheitspolitische Gemeinschaft (ASEAN Political and Security Community) besitzt, nicht zu einer Verwendung des Ordnungsbegriffes im offiziellen Sprachgebrauch der Regionalorganisation geführt, obwohl die ASEAN und seine Mitglieder seit Jahrzehnten rigoros Ordnungspolitik betreiben.1 In der wissenschaftlichen Literatur hat es solche Hemmungen hingegen nicht gegeben. Etliche der Standardwerke zum ASEAN-Staatenverbund haben insbesondere auf dem Begriff Regionalordnung aufgebaut. Das gilt beispielsweise

1ASEAN

(1976a), (1976b), (2003), (2007), (2009), (2016).

J. Haacke (*)  London School of Economics and Political Science (LSE), London, UK E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_5

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für wichtige Teile des Gesamtwerkes sowohl von Michael Leifer2 als auch von Amitav Acharya3, die weiterhin den Ruf als Schwergewichte in der Literatur zum Staatenverbund genießen. Dabei ist zu beachten, dass für Leifer ein stabiles Machtgleichgewicht (balance of power) Voraussetzung einer regionalen Ordnung war4, während Acharya die These vertritt, dass die ASEAN-Länder sich zusehends als Sicherheitsgemeinschaft verstehen und mit ihren Vereinbarungen zu Normen und institutionalisierter Kooperation die Regionalordnung Südostasiens entscheidend geprägt haben. Diese Argumente sind von verschiedenen Seiten aus unterschiedlichen Gründen kritisiert worden,5 aber es bietet sich trotzdem an, Begrifflichkeiten wie regionale Ordnungspolitik, anvisierte Sicherheitsordnung oder existierende regionale Sicherheitsordnung aufzugreifen, um zumindest Teilaspekte der internationalen Politik Südostasiens zu analysieren.6 Welche Rolle nimmt der ASEAN-Staatenverbund im Hinblick auf die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens ein? Was sind die wesentlichen Bausteine der vom Staatenverbund erwünschten und geschaffenen intra-regionalen Sicherheitsordnung? Wie hat ASEAN versucht, die Beziehungen Südostasiens mit extra-regionalen Staaten zu regeln? Wie viel Akzeptanz besitzen die ordnungspolitischen Ansätze des Staatenbundes sowohl innerhalb Südostasiens und darüber hinaus? Inwieweit wird der ordnungspolitische Konsens der ASEAN-Staaten durch nationalstaatliche Entscheidungen belastet? Hat sich der ordnungspolitische Ansatz der ASEAN insbesondere gegenüber China trotz des weitergehenden Territorialstreites im Südchinesischem Meer bewährt? Ohne der Argumentation dieses Kapitels vorgreifen zu wollen, sollte an dieser Stelle Folgendes vermerkt werden: Erstens, der Staatenverbund stellt weder ein Verteidigungsbündnis noch eine supranationale Regionalorganisation dar. Vielmehr ist auch nach gut fünf Dekaden der Charakter der ASEAN unverändert intergouvernemental, wobei sicherheitspolitische Entscheidungen der Regionalorganisation nur im Konsens gefällt werden. ASEAN ist eine Regionalorganisation, die von Beginn an auf Vertrauensbildung und Konfliktprävention und damit auf kooperative Sicherheit gesetzt hat. Mitgliedsstaaten verfolgen trotz oftmals geteilter Positionen zu regionalen und internationalen Fragen auch keine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik.

2Leifer

(1989), (1996). (2014). 4Haacke (2005). 5Z. B. Khong (1997, 2006). 6Tan (2012;) Yates (2017). 3Acharya

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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Zweitens bildet seit Jahrzehnten der Fokus auf Dialog sowie normengerechtem Verhalten zum Aufbau von gegenseitigem Vertrauen ein wesentliches Merkmal der von Mitgliedern des Staatenverbundes anvisierten regionalen Sicherheitsordnung. Dies gilt sowohl im Binnenverhältnis der ASEAN-Staaten zueinander als auch gegenüber den Großmächten. Besondere Bedeutung wird der Einhaltung des Nichteinmischungsgebots und des Gewaltverzichtsprinzips zugemessen. Schon innerhalb der ersten Dekade nach der Gründung der ASEAN bildete sich auch ein intra-regionaler Konsens in Fragen des bilateralen Konfliktmanagements zwischen den ASEAN-Staaten. Wie wir sehen werden, besteht dieser Konsens auch heute noch weitgehend unverändert fort, auch wenn mit der Etablierung der politischen und sicherheitspolitischen Gemeinschaft neue Initiativen ergriffen wurden, um die regionale Sicherheitsordnung zu stärken. Drittens haben die ASEAN-Länder, vor dem Hintergrund des Aufstiegs Chinas und zunehmender strategischer Rivalität zwischen Washington und Peking, kollektiv den Aufbau in sich verzahnter, institutionalisierter überregionale Dialoge und Kooperationsforen betrieben und auch das jeweilige Agenda Setting für sich beansprucht.7 Dazu gehören das ASEAN Regional Forum (ARF), der EAS (East Asia Summit) und das ASEAN Defence Ministers’ Meeting Plus (ADMM-Plus). Trotz weitreichender Bedenken und Kritik an ASEAN gehören sowohl EAS und ADMM-Plus zu den wichtigsten Regionalforen. Parallel zum Staatenverbund der ASEAN haben die Mitgliedsländer selbstverständlich auch versucht, ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen eigenständig zu verfolgen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem multilateralen Ansatz der ASEAN und der jeweils auf nationaler Ebene geprägten Außen-und Sicherheitspolitik war schon immer offensichtlich. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellt sich aber vielleicht mehr denn je die Frage, ob und inwieweit vor allem bilaterale Ansätze der einzelnen Mitgliedsstaaten den multilateralen Kern der von den ASEAN-Staaten betriebenen Ordnungspolitik schwächen.

2 Begriff der regionalen Sicherheitsordnung Dieses Kapitel setzt das Vorliegen einer regionalen Sicherheitsordnung keineswegs einfach mit regionaler Stabilität oder regionaler Sicherheit – im Sinne eines Ausbleibens von zwischenstaatlichen Kriegen und militärischen Interventionen oder

7Green

and Gill (2009).

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innerstaatlichen Konflikten – gleich. Unter Rückgriff auf Michael Leifer, dessen Werk von Annahmen der English School in den Internationalen Beziehungen beeinflusst wurde, lässt sich der regional bezogene Ordnungsbegriff, auch wenn durchaus eher minimalistisch, als geteilte Annahmen über das notwendige und erwünschte normative Fundament zwischenstaatlichen Verhaltens verstehen,8 ggfs. darüber hinaus auch als regionales Einvernehmen in strategischen Fragen.9 Anders ausgedrückt: Nach Leifer ließe sich von einer Regionalordnung dann sprechen, wenn Regierungen in einem regionalen Kontext bestimmte Verhaltenserwartungen teilen, soweit es entweder um die bindende Wirkung von bestimmten Normen und Prinzipien geht, welche die Beziehungen zwischen staatlichen Akteuren regeln sollen (z. B. Grundsatz des Respekts für territoriale Integrität oder friedliche Konfliktlösungen) oder um die Legitimität der Wahrnehmung sicherheitspolitischer Rollen durch extra-regionale Staaten. Er selbst sprach in Bezug auf Südostasien davon, dass sich eine regionale Sicherheitsordnung (regional order) als unerreichbar (elusive) erwiesen habe. Diese Position bezog er mit Blick auf Divergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten in Fragen regionaler Ordnungspolitik. Wie vor allem Khong Yuen Foong10 aufgezeigt hat, ist diese Schlussfolgerung jedoch nicht unbedingt zwingend, da das Vorliegen einer regionalen Sicherheitsordnung keine vollständige Übereinstimmung in allen ordnungsrelevanten Fragen verlangt. Nach Khong wäre mehr damit gewonnen, wenn man feststellte, inwieweit eine regionale Sicherheitsordnung besteht. Die Antwort hierauf hängt letztlich davon ab, bei welchen ordnungsrelevanten Fragen Übereinstimmung herrscht und bei welchen nicht. Regionale Sicherheitsordnungen bilden hiernach u. a. auch grundsätzlich einen Konsens dahin gehend ab, inwieweit regionale Institutionen unter welchen Voraussetzungen eine Rolle bei der Bewältigung verschiedener sicherheitsbezogener Herausforderungen spielen sollen und können. Als Indikatoren für die Verdichtung einer regionalen Sicherheitsordnung in Südostasien kommen daher beispielsweise infrage: 1) die Breite des Konsenses innerhalb des ASEAN-Staatenverbundes zu Fragen intra-regionaler Ordnungspolitik,

8Für

Leifer stand der Begriff „regional order“ für „the existence of a stable structure of regional inter-governmental relationships informed by common assumptions about the bases of inter-state conduct“. Siehe Leifer (1987, S. 1–2). 9Der Ursprung von regionalen Sicherheitsordnungen liegt natürlich keineswegs stets nur im Ausgang von Verhandlungen. Vgl. Alagappa (2003). 10Khong (2006, S. 40–42).

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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2) die praktische Umsetzung der vom Staatenverbund beschlossenen Vereinbarungen zu ordnungsrelevanten Fragen, 3) das Ausmaß regionaler Verständigung innerhalb des Staatenverbundes zur Rolle externer Staaten sowie entsprechende Vereinbarungen, sowie 4) Zu-und Abnahme regionaler Stabilität im Sinne eines Auftretens zwischenstaatlicher Konflikte, innenpolitischer Unruhen, etc. An dieser Stelle wäre zu erwähnen, dass Beurteilungen der ASEAN als Sicherheitsakteur sehr unterschiedlich ausfallen. Auf der einen Seite gibt es Stimmen, die dem Staatenverbund in wesentlichem Maße den Erfolg einer mehr oder weniger friedfertigen Region in den letzten 50 Jahren zuschreiben.11 Auf der anderen Seite wird von anderen regelmäßig infrage gestellt, ob die ASEAN als regionale Organisation tatsächlich eine wichtige sicherheitspolitische Rolle hat einnehmen und erfolgreich wahrnehmen können.12 Interessanterweise fußen diese grundverschiedenen Sichtweisen nicht ausschließlich auf unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Unabhängig von den jeweiligen theoretischen Präferenzen lässt sich sicherlich dreierlei feststellen: Erstens pflegen die ASEANMitgliedsländer unterschiedliche Interessen und haben sich, wie bereits erwähnt, zu keinem Zeitpunkt einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik verschrieben; zweitens folgt der Staatenverbund dem Prinzip einer nationalen Umsetzung aller getroffenen Entscheidungen in allen Kooperationsfeldern; und drittens sind die Rollen des ASEAN-Sekretariats und des ASEAN-Generalsekretärs eng ausgelegt und dem intergouvernementalen Charakter des regionalen Staatenverbundes angepasst. Darüber hinaus ist zu beachten, dass in Südostasien eine Vielzahl von sicherheitspolitischen Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen vorliegt. Diese betreffen beispielsweise zwischenstaatliche sowie innerstaatliche Konflikte, transnationale Sicherheitsrisiken und -bedrohungen sowie internationale Konfliktlagen zwischen extra-regionalen Akteuren und einzelnen Ländern Südostasiens.13 Selbstverständlich gehören aber auch die potenziellen regionalen Auswirkungen geopolitisch und geoökonomisch wettstreitender oder rivalisierender Regionalund Großmächte zu den sicherheitspolitischen und sogar strategischen Herausforderungen der ASEAN-Staaten.

11Severino

(2006); Mahbubani and Sng (2017); Natalegawa (2018). Jones and Smith (2006). 13Haacke (2013). 12B.

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3 Stützpfeiler der regionalen Sicherheitsordnung Südostasiens in der Zeit des Kalten Krieges Von regionaler Stabilität war Südostasien zur Zeit der Gründung des ASEANStaatenverbundes weit entfernt. Der damals in Indochina tobende Krieg, Chinas Unterstützung lokaler kommunistischer Parteien in verschiedenen südostasiatischen Ländern14 sowie die indonesische Konfrontationspolitik gegenüber Malaysia und dem damals zugehörigen Singapur sorgten für Spannungen und Bedrohungsszenarien, die entscheidend zur Gründung der ASEAN beitrugen. Die fünf Gründungsmitglieder machten trotz ihrer weitgehend starken Westbindung allerdings von Anfang an klar, dass ASEAN keine Neuauflage der Southeast Asia Treaty Organization (SEATO) sein würde.15 ASEAN diente in starkem Maße zunächst der Versöhnung zwischen drei Kernstaaten: Indonesien, Malaysia und Singapur. Auch wenn die federführenden Politiker darauf hinaus arbeiteten, mit der Gründung der ASEAN die Eingliederung Indonesiens in einen tragfähigen Regionalismus zu ermöglichen, so wurde dieses Bestreben nicht mit dem Ziel regional wirklich autonomer Sicherheitsstrukturen verknüpft. Formal gesehen verfolgte ASEAN gar keine Kooperation in Sicherheitsfragen, selbst wenn solche für die Mitgliedsstaaten eigentlich im Vordergrund standen. Auf intra-regionaler Ebene lag der tatsächliche Schwerpunkt aber auf Vertrauensbildung und Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Diese Form der Konfliktprävention baute zusehends auf dem Respekt für ein Gerüst völkerrechtlicher Prinzipien auf. Aufgrund fortbestehender Territorialkonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten wurde insbesondere dem Gewaltverzichtsprinzip große Bedeutung zugemessen. Aber auch dem Nichteinmischungsgebot wurde in dieser Phase besondere Signifikanz zuerkannt. Dieser sub-regionale Konsens zu regionaler Ordnungspolitik wurde insbesondere durch den 1976 unterzeichneten ASEAN Freundschafts- und Kooperationsvertrag (Treaty of Amity and Cooperation, TAC) verbindlich festgelegt. Für die weitere Entwicklung des intra-regionalen Konfliktmanagements war dabei das Einverständnis der Mitgliedsländer entscheidend, dass ASEAN ungeachtet des Art.14 TAC, der die Möglichkeit vorsieht, einen Hohen Rat (High Council) anzurufen, diese Regelung unter normalen Umständen nicht in Anspruch nehmen und bilateraler Konfliktbewältigung den Vorzug geben würde.

14Ang 15Zur

(2018). SEATO siehe z. B. Fenton (2012).

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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Vor dem Hintergrund des Krieges in Vietnam und des 1967 angekündigten militärischen Rückzugs Großbritanniens aus Gebieten östlich des Suez sowie der 1969 verkündeten Nixon-Doktrin wurden insbesondere in Malaysia seinerzeit Vorschläge erarbeitet, die auf eine Neutralisierung der Region abzielten. Weil ein solcher Schritt aber selbst unter den anderen ASEAN-Mitgliedsländern äußerst umstritten war, lief der Neutralisierungsvorschlag ins Leere. Stattdessen verabschiedeten die ASEAN-Staaten angesichts des sich vollziehenden geopolitischen Wandels 1971 eine gemeinsame Erklärung zur Errichtung einer Zone des Friedens, der Freiheit und der Neutralität (Zone of Peace, Freedom and Neutrality, ZOPFAN). Diese sah vor, seitens der Großmächte eine Selbstverpflichtung für die Respektierung grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien gegenüber Südostasien zu erlangen. Wie auch schon im Gründungsdokument, beanspruchten die südostasiatischen Staaten auch die „primäre Verantwortung“ für wirtschaftliche und soziale Stabilität und friedliche Entwicklung der Region. Selbst nach der Übernahme Südvietnams durch Hanoi bestand aber weiterhin Einverständnis darüber, dass die ASEAN-Staaten trotz einer Vertiefung politischer Kooperation weiterhin für ihre eigene Außen- und Verteidigungspolitik verantwortlich sein würden. Somit konnten von einzelnen ASEAN-Ländern schon bestehende militärische Allianzen fortgeführt und Sicherheitskooperation mit extra-regionalen Staaten ausgebaut werden. In diesem Punkt spiegelten sich weiterhin sowohl unterschiedliche Sicherheitsperzeptionen als auch ein unterschiedliches Meinungsspektrum zur Präsenz und ordnungspolitischen Rolle auswärtiger Mächte in Südostasien wieder. Ein weitreichendes Einverständnis zwischen den ASEAN-Mitgliedsstaaten und den Großmächten über die Hauptelemente einer regionalen Ordnung für Südostasien kam nicht zustande. Vor allem ging es um die konsequente Beachtung des Souveränitätsprinzips, des Nichteinmischungsgebots sowie um militärische Nichtintervention und friedliche Konfliktlösungen, welche die ASEAN-Staaten aber Ländern wie China und den USA vergeblich abverlangten. Für die Zeit des Kalten Krieges blieb ZOPFAN symbolisch dennoch ein signifikanter Ausdruck einer eingeforderten regionalen Ordnung. Parallel zu ZOPFAN wurde auch das Ziel einer atomwaffenfreie Zone verfolgt, die 1995 vertraglich vereinbart wurde.16 Als es um die Frage ging, inwieweit Vietnam sich Mitte der 1970er Jahre dem Modus zwischenstaatlichen Verhaltens anpassen würde, den die damaligen fünf ASEAN-Staaten in Gestalt des Freundschafts- und Kooperationsvertrages von

16ASEAN

(1995).

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1976 für sich beschlossen hatten, wurde der Dissens hinsichtlich einer erweiterten, auch Indochina umfassenden Regionalordnung deutlich. Hanoi sprach sich für eine „wirkliche“ (genuine) Unabhängigkeit aus und keiner der Staaten Indochinas trat dem TAC in den 1970er Jahren bei. Eine von ganz Südostasien getragene regionale Sicherheitsordnung blieb damit vorerst unerreichbar. Allerdings übernahmen die ASEAN-Staaten noch gegen Ende der 1970er Jahre mehr Verantwortung für regionale Sicherheit, weitgehend in Gestalt einer diplomatischen Gemeinschaft, die sich weiterhin der politischen Kooperation verpflichtet gab, formal allerdings immer noch nicht als Sicherheitsakteur fungieren wollte.17 Der Staatenverbund hatte sicherlich daran Anteil, Vietnams militärische Intervention in Kambodscha rückgängig zu machen, die eine Verletzung mehrerer völkerrechtlicher Grundsätze bedeutet hatte. Aber das Ende des Kambodscha-Konflikts ist dennoch primär eine Folge von Entscheidungen in Moskau sowie mehrjährigen internationalen Verhandlungen, die im Pariser Friedensvertrag von 1991 mündeten. Die Fiktion, dass ASEAN sich nicht regionaler Sicherheitskooperation verschrieben hatte, endete formal 1992.18 Eine Einigung zur regionalen Ausweitung des Modells kooperativer Sicherheit, das ASEAN die ersten beiden Jahrzehnte praktiziert hatte, folgte binnen eines Jahres. Ziel war es, strategische Vertrauensbildung auf breiterer regionaler Ebene in der Asien-Pazifik Region durch Dialog und Respekt für eine regionalspezifische Auslegung von grundlegenden Normen zu fördern, die in der Literatur und in der politischen Praxis auch heute noch zumeist als „ASEAN Way“ zusammengefasst werden.19

4 Südostasien nach dem Ende des Kalten Krieges Auf das Ende des Kalten Krieges folgte aber kein wirklich neues Kapitel regionaler Ordnungspolitik seitens der ASEAN-Länder. Die ASEAN-Mitgliedsstaaten setzten sich im intra-regionalen Verhältnis zu diesem Zeitpunkt weiterhin für die fortlaufende Gültigkeit des Gewaltverzichts- und des Nichteinmischungsgebots ein. Anders als noch in den 1970er Jahren wurden der ASEAN Way nun auch von Vietnam, Laos, Myanmar, Kambodscha uneingeschränkt stark verfochten – Länder, die der ASEAN zwischen 1995 und 1999 beitraten.

17Leifer

(1989). (1992a). 19Vgl. dazu die unterschiedlichen Ansätze, z. B. Acharya (2014); Haacke (2003). Zu strategischem Vertrauen vgl. Natalegawa (2018). 18ASEAN

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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Das normative Gefüge der von den ASEAN-Staaten gewünschten intra-regionalen Sicherheitsordnung geriet allerdings Ende der 1990er nicht zuletzt wegen der Verwerfungen der damaligen Finanz und Wirtschaftskrise vorübergehend leicht ins Wanken. So wurde die traditionell eng ausgelegte Praxis des Nichteinmischungsgebotes 1997–1998 zur Zielscheibe progressiv argumentierender Regierungsmitglieder in Malaysia und Thailand. Insbesondere Thailands damaliger Außenminister, Surin Pitsuwan, sprach sich für eine flexiblere Anwendung des Nichteinmischungsgebotes aus. Obwohl sich zunächst die anderen ASEAN-Länder gegen neue Parameter bei der Ausübung des Nichteinmischungsgebotes wandten, kam es binnen kurzer Zeit zu einer Anpassung des bestehenden Konsenses, wonach ASEAN-Staaten innenpolitische Problemlagen in einzelnen Ländern ansprechen würden können, soweit regionale Interessen oder die regionale Stabilität durch erstere infrage gestellt waren.20 Dieser Gedanke liegt konsequenterweise auch der Praxis der ASEAN-Staaten nach der im Jahr 2003 beschlossenen ASEAN-Sicherheitsgemeinschaft (ASEAN Security Community, ASC) zugrunde.21 Trotz der Ambition, eine politische und sicherheitspolitische Gemeinschaft zu etablieren, stellten die Mitgliedsstaaten weiterhin klar, dass sie keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ins Auge fassen würden. Interessanterweise hebt auch die ASC grundsätzlich weiterhin auf die Bildung und das Herausschälen weiterer gemeinsamer Normen ab, was die vereinbarte ordnungspolitische Zusammenarbeit der ASEAN-Staaten anbelangt.22 Dabei sollte nach Gutdünken der ASEAN die wachsende Sicherheitsgemeinschaft nicht allein auf den Anstrengungen der ASEAN-Mitglieder beruhen, sondern auch auf der Mitwirkung der multiplen Dialogpartner des Staatenverbundes aufbauen.

5 In der Schusslinie der Dialogpartner: Ordnungspolitische Präferenzen der ASEAN Gerade die 1990er Jahre hatten gezeigt, wie tief die Kluft war, die sich zwischen den ASEAN-Staaten und den Dialogpartnern des Staatenverbundes auftat. So dachten beispielsweise die USA unter Präsident Clinton nicht daran, sich über

20Acharya

(2004); Haacke (1999). ASEAN Security Community wurde in ASEAN Political-Security Community (APSC) umbenannt. 22ASEAN (2009). 21Die

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einen Mangel an Demokratisierung der ASEAN-Partner nur in Schweigen zu hüllen oder Menschenrechtsfragen nicht anzusprechen. Auch ein verlässlicher Sicherheitspartner wie Singapur musste gelegentlich Kritik einstecken.23 Für einige ASEAN-Staaten bedeutete diese amerikanische Politik eine unerwünschte Folge einer neuen unipolaren Weltordnung. Die Vereinigten Staaten waren aber nicht der einzige Dialogpartner, der die normativen Bausteine einer auch überregional (also über Südostasien hinaus) angelegten Ordnungspolitik seitens des ASEAN-Staatenverbundes infrage stellte. Die Europäische Union tat dies auch zu einem gewissen Grad, ebenso wie Australien oder sogar Japan. Einige Dialogpartner belächelten dabei kritisch nicht nur den sog. ASEAN Way, sondern auch die ASEANisierung neuer Institutionen. Aus Sicht einiger außerregionaler Partnerländer war zum Beispiel das im ARF von ASEAN präferierte Modell kooperativer Sicherheit kaum tauglich, um den perzipierten Erfordernissen in Bezug auf präventive Diplomatie und Konfliktmanagement in der Region zu genügen.24 Aus Sicht der Vereinigten Staaten spielte das ARF lediglich nur eine ergänzende Rolle zum System amerikanischer Militärallianzen in der Asien-Pazifik-Region.25 Die seitens der ASEAN gesetzten ordnungspolitischen Parameter waren nicht nur aus der Perspektive mehrerer westlicher Dialogpartner sowie Japans unzureichend, sie erweisen sich auch mit Blick auf den Wiederaufstieg Chinas als problematisch. So kam z. B. Peking der von den ASEAN-Staaten im Jahr 1992 und danach stets wiederholten Aufforderung, im Südchinesischem Meer Zurückhaltung bzw. Selbstbeschränkung bei der Durchsetzung maritimer Ansprüche auszuüben, nur bedingt nach, wie vor allem Mitte der 1990er Jahre die Besetzung des von den Philippinen beanspruchten Mischief Reef zeigte. Zwar wurde der Staatenverbund nicht müde, im direkten bilateralen Verhältnis zu Peking, wie auch in den erweiterten Dialogforen, auf diplomatischem Wege weiterhin Zurückhaltung einzufordern. Aber dieser Ansatz fruchtete allenfalls vorübergehend, als 2002 eine politische Absichtserklärung zum Südchinesischem Meer mit China erfolgreich vereinbart wurde. Die Umsetzung dieser Erklärung (Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea) erwies sich jedoch als äußerst zäh. Jahre gingen ins Land, ohne dass ein Durchbruch erzielt werden konnte. Ein einklagbarer Verhaltenskodex, wie er einigen ASEAN-Staaten schon in den

23Jayakumar

(2011). (2007), siehe auch Haacke and Morada (2010). 25Dosch (2002). 24Yuzawa

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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1990er Jahren vorschwebte, konnte damals nicht verhandelt werden. So ist auch nicht weiter verwunderlich, dass trotz eines von den Mitgliedsländern geteilten ordnungspolitischen Ansatzes ein Abrücken von dem Grundsatz, dass ASEAN keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreiben und damit jeder Mitgliedsstaat weiterhin für seine eigene Sicherheit und Verteidigung verantwortlich zeichnen würde, gar nicht erst angedacht wurde. Mit anderen Worten: An den bilateralen Militärallianzen zwischen den USA auf der einen Seite und Thailand sowie der Philippinen auf der anderen wurde von letzteren rigoros weiter festgehalten. Hatte insbesondere das Verhältnis zwischen Washington und Manila Anfang der 1990er Jahre noch einen tiefen Einschnitt zu verzeichnen, als philippinische Volksvertreter im Senat eine Verlängerung amerikanischer Militärbasen ablehnten, so erfolgte eine sicherheitspolitische Wiederannäherung schon wieder vor der Jahrtausendwende.26 Die regionale Präsenz der USA wurde im Übrigen seitens Singapurs weitsichtiger Regierung auch unter verdecktem Beifall seiner Nachbarn gerade im Angesicht wiedererweckter Spannungen zwischen einzelnen ASEAN-Staaten gestärkt. Es besteht also keine Frage, dass auch aus Perspektive vieler ASEANStaaten die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens keineswegs allein auf den Anstrengungen der ASEAN fußen sollte, Frieden und Stabilität an die Selbstbindung von Staaten wie China an völkerrechtliche und regionale Normen zu koppeln. Für die intra-ASEAN Ebene waren die erzielten kollektiven Übereinkünfte hinsichtlich eines normzentrierten Miteinanders allerdings besonders wichtig, weil diese den nachbarschaftlichen Umgang zwischen politisch, wirtschaftlich, ethnisch und religiös sehr diversen Staaten regeln sollten, die auch historisch in sicherheitspolitischer Perspektive sehr unterschiedlich ausgerichtet waren: vom Bündnispartner der USA bis zum Verfechter eines konsequenten Blockfreienstatus, bis hin zum Verbündeten Moskaus bzw. Pekings. Die Struktur der regionalen Sicherheitsordnung Südostasiens ist damit nach dem Kalten Krieg in jedem Fall eine Mischstruktur: Es gibt nebeneinander wirkende und sich ergänzende Elemente. Dennoch ist auch klar, dass die Regionalordnung Südostasiens Spannungsmomente enthält, insbesondere was die Gewichtung einzelner ordnungsgestaltender Elemente betrifft. Diese Spannungen werden zwangsläufig dann verschärft, wenn neben den im Kollektiv angelegten ordnungspolitischen Stützen einzelne ASEAN Staaten ihre bilaterale Beziehungen zu den USA, China und den regionalen Mächten Japan und Indien

26Silove

(2016).

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in einer Weise ausbauen, die zumindest ansatzweise wieder oder weiter die Rolle der auswärtigen Mächte, nicht aber die der ASEAN stärkt, was die Aufgabenverteilung zur Wahrnehmung praktischer Sicherheitspolitik anbelangt. Bevor diese bilateralen Beziehungen und die damit einhergehenden Spannungsverhältnisse näher analysiert werden, gilt es jedoch zu untersuchen, welche Rolle aus Sicht der südostasiatischen Staaten die ASEAN in der regionalen Sicherheitsordnung einnimmt.

6 Die politische und sicherheitspolitische Gemeinschaft der ASEAN Die ASEAN Political-Security Community (APSC) wurde u. a. vor dem Hintergrund der asiatischen Wirtschafts- und Finanzkrise ins Leben gerufen, wobei ein zentrales Argument für die Vertiefung der wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit auch der von Singapur eingebrachte Einwurf war, die ASEAN gleiche einer „Sonnenuntergangs“-Organisation (sunset organisation).27 Während einige ASEAN-Staaten wie Singapur die Wirtschaftskooperation stärken wollten, stellte Indonesien auch politische und sicherheitspolitische Aspekte in den Vordergrund einer vertieften Zusammenarbeit. Aber die langjährigen strategischen Ziele des Staatenverbunds hatten weiterhin Bestand. Mindestens vier Zielsetzungen lassen sich aufführen: Erstens sollte keine Großmacht eine dominante Rolle in der Region wahrnehmen können. Zweitens sollten negative Auswirkungen für die ASEAN-Staaten im Falle strategischer Rivalität der Großmächte vermieden werden. Drittens sollte auch die Etablierung eines Großmächtekonzerts, das womöglich auf Kosten der Autonomie südostasiatischer Länder gehen würde, ausgeschlossen werden. Und viertens sollten die Großmächte bzw. Dialogpartner dazu bewegt werden, die Entwicklung und wirtschaftliche Integration Südostasiens voran zu treiben. Wie bei vorherigen Initiativen lässt sich auch im Falle der APSC zwischen ordnungspolitischen Vorstellungen unterscheiden, die sich primär auf die Beziehungen der südostasiatischen Staaten untereinander beziehen und solchen, die die Frage der Beziehungen zwischen den Staaten der ASEAN und externen Akteuren direkt tangieren. Die praktische Umsetzung einiger ordnungspolitisch relevanter Vorhaben auf der Ebene der ASEAN-Staaten untereinander hat sich

27Jayakumar

(2000).

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bislang mindestens ebenso schwierig gestaltet wie solcher im Verhältnis zu den Großmächten und anderen Dialogpartnern. Zunächst ist festzuhalten, dass der Staatenverbund nach 2003 den Konsens über die sicherheitspolitische Rolle der ASEAN in intra-regionalen Beziehungen nicht grundlegend erneuert hat. Das Nichteinmischungsprinzip soll den Mitgliedern weiterhin klare Grenzen setzen, wenn es um die Innenpolitik und innerstaatliche Konfliktlagen anderer Mitgliedsländer geht. In der Praxis sind gleichwohl im kollektiven Rahmen der ASEAN Gespräche legitim, die über das, was ursprünglich von Mitgliedsstaaten untereinander toleriert wurde, weit hinausgehen. Mit anderen Worten: Die Praxis, dass Mitgliedsstaaten ihre innenpolitischen Konfliktlagen informell bei ASEAN-Treffen vortragen und besprechen, hat weiter Bestand und ist selbst Norm geworden. Offene Kritik auf bilateralem Wege kann aber deshalb noch immer gehörig diplomatisches Porzellan zerschlagen. Ein anschauliches Beispiel bot die malaysische Regierung unter Ministerpräsident Najib Razak, als sie, offenbar vor dem Hintergrund einer Legitimitätskrise im eigenen Land und mit Blick auf kommende Wahlen, wiederholt deutliche Kritik an der von Aung San Suu Kyi geführten NLD-Regierung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Rakhine State übte (eine Kritik, die in der Sache vielen als berechtigt erschien und auf internationaler Ebene ähnlich scharf formuliert wurde). Naypyidaws Reaktion zeigte aber, dass aus dortiger Sicht Najibs Regierung einen lang bestehenden Eckpfeiler regionaler Ordnungspolitik aus politischen Opportunitätsgründen ignorierte. Grundsätzlich gilt auch weiterhin das Gebot, im Fall der Fälle bilaterales Konfliktmanagement zu betreiben. Unter indonesischem Vorsitz hat die Staatengemeinschaft allerdings aufgezeigt, dass die ASEAN im Fall des thailändischkambodschanischen Grenzkonflikts im Jahre 2011 auch im multilateralen Rahmen eine wichtige Rolle spielen konnte. Genau genommen handelte es sich bei der Handhabung dieses Konflikts um einen Präzedenzfall, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass Kambodscha eine Internationalisierung des Konfliktes anstrebte und den VN-Sicherheitsrat kontaktierte. Die indonesische Regierung rief daher im Februar 2011 ein außerordentliches Außenministertreffens zusammen. Der ehemalige indonesische Außenminister ging sogar so weit zu behaupten, dass die Art und Weise, in welcher der Grenzkonflikt von den ASEAN-Ländern gemanagt wurde, dem Ideal des Hohen Rates nahe kam. Es hieß: „Although the foreseen council within the TAC was never invoked, for all practical purposes the Special Informal ASEAN Foreign Ministers’ Meeting

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constituted such council.“28 Eine erreichte Vereinbarung über den Einsatz indonesischer Beobachter (Indonesian Observer Team) wurde nicht umgesetzt. Die APSC ist in den letzten 15 Jahren ein besonders wichtiger Bezugspunkt in der regionalen Ordnungspolitik der ASEAN gewesen. Schließlich hat sich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der ASEAN-Staaten untereinander im Grunde erst wirklich mit dem Bali Concord II von 2003 funktional weiter ausdifferenziert. Aber die praktische Umsetzung gestaltet sich trotzdem als schwierig. Hinsichtlich der Pläne zur Bildung einer Sicherheitsgemeinschaft schien seinerzeit die Verständigung darüber, auch die politische Entwicklung der Mitgliedsstaaten zu fördern, besonders bedeutsam. Es stellte sich allerdings schnell heraus, dass einzelne Mitgliedsstaaten den Aufbau demokratischer Strukturen nicht nachhaltig und in einigen Fällen auch nicht einmal annähernd, betreiben wollten. Das kollektive Schweigen auf der Ebene der ASEAN im Nachgang zum 2006 erfolgten Militärputsch gegen Thaksin Shinawatra machte bereits offenkundig, welche Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafften. Unter indonesischer Führung wurde zwar von ASEAN-Staaten politischer Wandel in Myanmar zumindest mit angeschoben, aber die Rolle der Staatengemeinschaft in dieser Hinsicht sollte letztlich auch nicht überbewertet werden.29 Wie sich in den letzten Jahren anhand politischer Entwicklungen generell gezeigt hat, ist das damalige kollektive Bekenntnis zu mehr Demokratie aus Sicht einiger Mitgliedsländer eher deklaratorischer Natur gewesen. Es ist unstreitig, dass die ASEAN die sicherheitspolitische sowie verteidigungspolitische und selbst die militärische Zusammenarbeit ausgebaut hat. Mindestens zwei Kooperationsfelder standen bzw. stehen dabei im Vordergrund: Terrorismusbekämpfung sowie humanitäre und Katastrophenhilfe. Über die Ansätze und Grenzen dieser Kooperation ist schon viel geschrieben worden.30 Darüber hinaus legten die ASEAN-Staaten eine gemeinsame Agenda für die Umsetzung weiterer intra-regionaler Kooperationsvorhaben vor. Zu betonen ist, dass es hierbei in erster Linie um eine Weiterentwicklung von Normen gehen sollte, die für intra-ASEAN Beziehungen Geltung haben würden, sowie um die Institutionalisierung sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Diese Weiterentwicklung von Normen und Institutionalisierung auf ASEAN-Ebene ist allerdings kaum vorangeschritten. Beispielsweise ist das ASEAN Institut für

28Natalegawa

(2018, S. 43). Rolle Indonesiens in Bezug auf Myanmar, siehe Natalegawa (2018, S. 189–204). 30Vgl. z. B. Tan and Ramakrishna (2004); Chow (2005); Emmers (2009); Collins (2013). 29Zur

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Frieden und Versöhnung (ASEAN Institute for Peace and Reconciliation, AIPR) auch nach vielen Jahren nicht wirklich erfolgreich gewesen. Nachdem das AIPR bereits im APSC Blueprint Erwähnung gefunden hatte, konnten sich die Staats-und Regierungschefs der ASEAN-Mitgliedsstaaten erst 2011 auf dem 18. ASEAN-Gipfeltreffen auf eine praktische Umsetzung des Vorschlags einigen. Im Jahr danach bestätigten die Staats- und Regierungschefs auf dem 21. Gipfeltreffen der ASEAN dann die von den Außenministern im Juli des Jahres verabschiedeten Terms of Reference. 2014 wurde die erste Initiative des AIPR – ein Symposium – seitens des Japan-ASEAN Solidarity Fund finanziert. Zwar wurde 2016 das AIPR dazu aufgerufen, die operative Umsetzung zu beschleunigen. Bis dato gibt es aber kaum Anhaltspunkte, dass das AIPR trotz einiger innerstaatlicher wie auch bilateraler Konflikte zwischen den ASEAN Staaten eine signifikante Bedeutung erlangen könnte. Dies belegt unter anderem, wie viel Bedeutung weiterhin dem Nichteinmischungsgebot beigemessen wird. Die Mitgliedsländer scheinen auch weiterhin damit beschäftigt zu sein, für das AIPR Prinzipien, Mechanismen und Praktiken zu definieren. 2017 wurde immerhin die Gründung des AIPR-Sekretariats verkündet. Als zweites Beispiel möge das ASEAN Maritime Forum (AMF) dienen, dessen Gründung schon 2004 vorgeschlagen wurde, aber erst 2010 tatsächlich anlaufen konnte. Letztlich scheint dieses Forum selbst aus Sicht der ASEAN Partner unnötig, wie die weitgehend fehlgeschlagenen Versuche, eine dezidierte Aufgabenstellung festzulegen, wohl belegen. Interessanterweise nahm das AMF auch erst dann überhaupt etwas Schwung an, als 2012 auf Indonesische Initiative hin das erweiterte Maritime Forum (Expanded ASEAN Maritime Forum) zusammentrat, das Dialogpartner miteinbezieht und damit einen höheren Stellenwert einnimmt als das AMF. Inzwischen finden beide Foren direkt im Anschluss aneinander statt. Es stehen zwar Themen wie maritime Zusammenarbeit oder die Verbesserung maritimer Sicherheitskooperation im Südchinesischen Meer auf der Agenda, wobei Indonesien scheinbar auch Potenzial erkennt, im AMF strittige Fragen zum Südchinesischen Meer aufzugreifen. Wie realistisch diese Annahme ist, wird sich indes noch zeigen. Zusammenarbeit im Bereich des Peacekeeping ist seitens der ASEAN-Mitgliedsstaaten auch nur langsam angegangen worden. Nachdem die von Jakarta ins Spiel gebrachte Idee der Gründung einer regionalen Friedenssicherungstruppe schon im Ansatz verworfen worden war, schalteten interessierte Regierungen mehrere Gänge zurück und entschieden sich Jahre später dafür, ein ARF Peacekeeping-Expertentreffen zu organisieren. Dieser Expertendialog mündete dann 2010 in dem von Thailand vorgebrachten Vorschlag, auf Ebene der ASEAN-

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Staaten ein Netzwerk regionaler Peacekeeping-Zentren aufzubauen. Die ASEAN-Verteidigungsminister nahmen 2011 diese Idee auf, schränkten jedoch zugleich die maßgebliche Agenda erheblich ein, indem sie die Schwerpunkte der Zusammenarbeit auf gemeinsame Planung, Training und Erfahrungsaustausch begrenzten. Das erste Treffen dieses Netzwerkes fand im September 2012 statt. Aufgrund scheinbar weiterhin unüberbrückbarer Differenzen bzw. fehlender Perspektiven hinsichtlich der Schaffung eines regionalen PeacekeepingKontingents gab es 2015 zudem den Vorschlag, eine Art schnelle Eingreiftruppe (ASEAN Ready Group) zu bilden, die sich aus Spezial-Einsatzkräften in den Bereichen Katastrophenhilfe und Militärmedizin speisen würde. 2016 wurde dann auch der Ruf nach einer Feldübung laut, die der Stärkung humanitärer Hilfsleistungen und einer verbesserten Katastrophenhilfe dienen sollte. Der Versuch einer solchen Neuausrichtung betont allerdings geradezu das Scheitern eines intra-regionalen Peacekeeping-Ansatzes der ASEAN-Staaten. In der Tat haben sich verschiedene Mitgliedsstaaten der ASEAN allenfalls dazu bereitgefunden, praktische Ansätze in subregionalen Konstellationen anzugehen. Diesbezüglich sei auf die diversen minilateralen Ansätze und Institutionen verwiesen, die im operativen Sinne perzipierte Sicherheitsrisiken und -bedrohungen ausschalten sollen (wie z. B. „Eyes in the Sky“). Gleichzeitig fällt auf, dass die mitwirkenden ASEAN-Länder weitgehend auf transnationale Sicherheitsrisiken fokussiert sind. Signifikanterweise bewegen sich allerdings auch diese Ansätze grundsätzlich im Rahmen des überbrachten Kanons an völkerrechtlich verankerten Normen, was die Zusammenarbeit aus Sicht einiger Kritiker einschränkt. Seit gut einem Jahrzehnt kann die ASEAN immerhin darauf verweisen, den Beginn eines Übergangs vom reinen Sicherheitsdialog zu praktischer Zusammenarbeit im Bereich der Katastrophenhilfe zusammen mit den Dialogpartnern erfolgreich zurückgelegt zu haben. Diese praktische Komponente der Zusammenarbeit auf multilateraler Ebene betrifft allerdings vor allem das ASEAN- Regionalforum31 und das ASEAN Defense Ministers Meeting-Plus (ADMM-Plus), das um acht Dialogpartner erweiterte Treffen der ASEAN Verteidigungsminister32 (ADMM)33. Die zunehmende Fokussierung auf das ADMM-Plus belegt einmal

31Haacke

(2009, S. 427–449). zunächst mangelnde Konsens hinsichtlich verteidigungspolitischer Kooperation unter dem Dach der ASEAN wurde erst mit der Entscheidung zugunsten eines Auftakttreffens im Jahre 2006 überwunden. 33Vgl. ASEAN (2017). 32Der

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mehr, dass sich aus Sicht der ASEAN-Staaten in Sicherheitsfragen diejenigen institutionellen Strukturen, welche die Dialogpartner mit einbinden, oft mehr Gewicht besitzen als die, in denen allein die ASEAN-Mitgliedsländer zusammenkommen. Dabei mögen hier auch andere Faktoren eine Rolle spielen, nicht zuletzt die Notwendigkeit der für praktische Übungen erforderlichen Kapazitäten. Letztere können vornehmlich die auswärtigen Mächte, nicht jedoch alle ASEANLänder bereitstellen. Das schränkt die ASEAN-Staaten auch dann ein, wenn sie neuen Ideen der verteidigungspolitischen Sicherheitszusammenarbeit grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen.

7 ASEAN zwischen den Großmächten Ein wichtiges von den ASEAN-Staaten stark verteidigtes ordnungspolitisches Prinzip ist das der ASEAN Centrality.34 Dieses besagt, dass es dem ASEANStaatenverbund obliegt, die Kooperationsagenda in Beziehungen der ASEAN mit Drittstaaten zu definieren und organisatorisch zu leiten. Dem Prinzip liegt der strategische Gedanke zugrunde, dass Südostasien niemals wieder eine Geisel oder Spielball extra-regionaler Mächte sein darf. Historisch lässt sich der Anspruch auf die allseitige Anerkennung des Zentralitätsprinzips des Staatenverbundes bis in die 1990er Jahre zurückführen, als ASEAN mit der Gründung des ASEAN-Regionalforums (ARF) erstmals die Federführung für einen überregionalen Sicherheitsdialog übernahm. Damals gab es aufgrund des fehlenden Vertrauens zwischen China, Japan und den USA keine besonderen Einwände ihrerseits, dass ASEAN organisatorisch einem solchen neuen Regionalismus vorstehen und inhaltlich beeinflussen würde, auch wenn die Volksrepublik China zunächst (unberechtigterweise) die Befürchtung hegte, dass im ASEAN Regionalforum gegen Peking politischer Druck aufgebaut werden könnte. Auch Austausch und Kooperation in Form von ASEAN + 3 oder des East Asia Summit (EAS), der einen Dialog zu strategischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen unter Führung von Staats-und Regierungschef mitwirkender Länder beinhaltet, unterliegen diesem Prinzip. So setzt eine Mitgliedschaft im EAS u. a. eine Dialogpartnerschaft mit ASEAN voraus. Der Grundsatz der ASEANZentralität wurde sowohl intern gegen als problematisch eingestufte Vorschläge einzelner ASEAN-Staaten (z. B. Malaysias Vorschlag zur Gründung einer East Asia Community mit Sitz eines eigenen Sekretariats in Kuala Lumpur) wie

34Caballero-Anthony

(2014, S. 563–584).

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auch konkurrierende Pläne einzelner Dialogpartner (z. B. Canberras Vorschlag einer Asiatisch-Pazifischen Gemeinschaft) verteidigt. ASEAN hat auf dieser Ebene auch das vorgenannte ASEAN-Verteidigungsministertreffen-Plus eingeführt, welches eine von den ASEAN-Staaten formal geleitete Plattform für einen verteidigungspolitischen Dialog geschaffen hat, der in erster Linie eine auf nichttraditionelle Sicherheitsrisiken fokussierte praktische Zusammenarbeit mit den wichtigsten Partnerstaaten (u. a. den USA, China, Japan, Indien, Südkorea, Australien) ermöglicht. Die angepeilte überregionale und internationale Akzeptanz der im TAC aufgeführten Normen hat aus ordnungspolitischer Sicht für die ASEAN-Länder keineswegs an Bedeutung verloren. Seit 1987 besteht die Möglichkeit des Beitritts zum TAC auch für außer-regionale Staaten. Die Mitgliedschaft im EAS ist sogar explizit an einen Beitritt zum TAC gekoppelt. Vor allem die Gewaltverzichtsnorm und das Prinzip der friedlichen Konfliktbeilegung spielen weiter eine vorrangige Rolle für ASEAN-Staaten. Unter indonesischem Vorsitz wurde 2011 daher die Declaration of the East Asia Summit on the Principles of Mutually Beneficial Relations verabschiedet, die diese Prinzipien als Teil der EAS Bali Principles auflistet. Letztlich geht es hier laut Natalegawa um „the management of the exercise of power and the promotion of predictability of interstate behaviour based on commonly agreed principles and norms“.35 Der Unterschied zwischen dem Beitritt der Partnerländer zum TAC und den im Rahmen des EAS vereinbarten Prinzipien und Normen liegt darin, dass letztere auch im Verhältnis der Dialogpartner untereinander gelten sollten.36 Der Ansatz der ASEAN steht aus Sicht nicht weniger Beobachter ordnungspolitisch in engem Zusammenhang mit der Beibehaltung eines Gleichgewichts des Einflusses mehrerer Großmächten, das allerdings weniger militärisch als diplomatisch ausgerichtet ist.37 Dies passt zu der These, dass ASEAN eine sog. hedging utility darstellt.38 Aus Sicht der ASEAN-Länder gilt es daher, die Präsenz und Interessen der regionalen Großmächte und der Vereinigten Staaten bezogen auf Südostasien einigermaßen auszutarieren.39 Belege hierfür sind die inklusive Mitgliedschaft im ARF sowie die Mitgliedschaft von Indien, Australien und Neuseeland neben China, Japan und Südkorea im EAS. Speziell aus indonesischer

35Natalegawa

(2018, S. 101). (2011a). 37Goh (2011, S. 373–401). 38Rüland (2011). 39Ciorciari (2009, S. 157–196).

36ASEAN

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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Sicht40 hat die weitere Ausdehnung des EAS um Russland und den USA mit der Herstellung eines dynamischen Gleichgewichts (dynamic equilibrium) als geopolitischem Imperativ zu tun. Einige Beobachter betonen allerdings, dass aus südostasiatischer Perspektive in der Hierarchie der Großmächte die USA an vorderster Front stehen bzw. stehen sollten.41 Ungeachtet solcher Ansichten hat ASEAN als kollektiver Akteur nicht nur mit den USA, sondern auch mit China, Japan, und Indien seine sicherheitspolitischen Beziehungen im Rahmen der Plus-One Partnerschaften in den letzten Jahren vertieft. So wurde beispielsweise ein separater verteidigungspolitischer Dialog mit verschiedenen Dialogpartnern aufgenommen. Dialogpartnerschaften wurden auch zu strategischen Partnerschaften oder allumfassende Partnerschaften rhetorisch aufgewertet. Der ASEAN-Staatenverbund pflegt Beziehungen mit einzelnen Dialogpartnern auch durch Gipfeltreffen zu vertiefen (wie z. B. das US-ASEAN-Gipfeltreffen im kalifornischen Sunnylands in 2016). Dabei treten die Mitgliedsländer stets dafür ein, dass ASEAN regionaler Dreh- und Angelpunkt überregionaler Dialoge bleibt, auch wenn der Staatenverbund auf sich allein gestellt nur bedingt einen praktischen Beitrag zur regionalen und überregionalen Sicherheit leisten kann, weil ihm auf kollektiver Ebene eigentlich nur diplomatische Mittel zur Verfügung stehen. Intern haben ASEAN-Länder im November 2011 den Bali Concord III verabschiedet, der mehr gemeinsame Positionen und mehr Vorabsprachen der Mitgliedsländer im Umgang mit den externen Staaten und zu globalen Themen herbeibringen soll.42

8 Herausforderung China Die größte Herausforderung, der sich ASEAN bezüglich der vom Staatenverbund präferierten Stützpfeiler einer regionalen Sicherheitsordnung gegenübersieht, geht von der Volksrepublik China aus. Dies betrifft vor allem die Norm der friedlichen Konfliktbeilegung. Noch stärker ist allerdings die vom ASEAN-Staatenverbund seit 1992 explizit propagierte Norm der Selbstbeschränkung (self-restraint) im Südchinesischen Meer seitens der Volksrepublik China regelmäßig infrage gestellt worden. ASEAN hatte diesen Aufruf zur Selbstbeschränkung nach der gewaltsamen Einnahme von Johnson South Reef veranlasst, und darüber hinaus

40Natalegawa

(2018, S. 96–104). (2013). 42ASEAN (2011b). 41Goh

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einen auf den Prinzipien des TAC angelegten Verhaltenskodex vorgeschlagen.43 Dennoch wurde das innerhalb der philippinischen exklusiven Wirtschaftszone liegende Mischief Reef 1994 von China besetzt. ASEAN reagierte auf diesen Akt mit einer weiteren Erklärung sowie mit diplomatischen Verhandlungen, die im November 2002 in der rechtlich unverbindlichen Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea (DOC) gipfelten. Peking hatte sich zuvor einem rechtsverbindlichen Code of Conduct verweigert. Auch danach spielte China in den Verhandlungen über Jahre auf Zeit, während vor allem die chinesische Marine weiter aufgerüstet wurde. Erst 2011 einigten sich ASEAN und China auf Richtlinien zur Implementierung der DOC. Die Norm der Selbstbeschränkung wurde aber auch hiernach nicht respektiert.44 So kam es beispielsweise 2012 zu einem stand-off zwischen China und den Philippinen um Scarborough Shoal. 2014 sorgte die Entscheidung, die chinesische Ölbohrplattform Hai Yang Shi You 981 in von Hanoi beanspruchten Seegebieten zu positionieren, für diplomatische Auseinandersetzungen und nationalistische Proteste in Vietnam, das über Jahre verschiedene Strategien verfolgt hatte, um Chinas Übergriffe im Südchinesischem Meer zu „beschränken“.45 Seit 2014 sind offensichtlich mit Zustimmung der chinesischen Führung unter Xi Jinping Landreklamationen durch Aufschüttungen auf den von China besetzten Riffen in der Spratly-Gruppe erfolgt, die südostasiatischen Anrainerstaaten und Anspruchsteller in erheblichem Maße46 verstört haben.47 Diese Maßnahmen haben den Ausbau militärischer Kapazitäten auf den von China künstlich ausgebauten Riffen im Spratly-Archipel ermöglicht, insbesondere auf Fiery Cross Reef, Subi Reef und Mischief Reef. Verschiedenen Berichten zufolge sind hier zumindest Vorbereitungen getroffen werden, dort auch unterschiedliche Raketensysteme zu installieren: Marschflugkörper sowie Boden-Luft Raketen.48 Diese Entwicklungen haben ASEAN-Länder wiederholt veranlasst, kollektiv eine durchaus kritische Haltung zu diesen und anderen Handlungen Chinas zu beziehen. China bezog daraufhin den Standpunkt, dass eine Implementierung der DOC parallel zu einer Weiterführung von Gesprächen zum COC machbar ist (ein erster Entwurf der ASEAN wurde 2012 von

43ASEAN

(1992b).

44Auch ASEAN-Staaten

haben sich nicht durchgehend an dieser Norm orientiert. (2011), vgl. auch Dosch (2006). 46Für Analysen, Kartenmaterial und Satellitenbilder, siehe CSIS Asia Maritime Transparency Initiative, https://amti.csis.org. 47Corr (2018). 48CSIS Asia Maritime Transparency Initiative (2017); Reuters (2018). 45Thayer

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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Indonesien vorgestellt, ein Gegenentwurf von China). Immerhin konnte 2016 eine Übereinkunft in Bezug auf ungeplante maritime Zusammenstöße erzielt werden. Und im Mai 2017 wurde zwischen China und ASEAN auch eine Einigung über ein Rahmenabkommen bezüglich eines zukünftigen Verhaltenskodex (code of conduct) in Bezug auf das Südchinesische Meer erreicht. Die chinesische Regierung stellte jedoch klar, dass sich das Rahmenabkommen durchaus von dem noch auszuhandelnden Verhaltenskodex unterscheiden würde.49 Zu diesem liegt zwar inzwischen ein einzelner Vertragstext im Entwurf vor50, aber ein verbindlicher Verhaltenskodex ist weiterhin nicht in unmittelbarer Reichweite. Die Militarisierung verändert das militärische Kräftegleichgewicht im Südchinesischem Meer zwischen den Anspruchstellern weiter zugunsten Pekings. Qualitativer Wandel liegt zum einen in Chinas nunmehr dauerhafter Präsenz von Marine und Küstenwache. Die Gefahr einer weiteren Zuspitzung des sinoamerikanischen Konfliktes und sogar einer unbeabsichtigten bewaffneten Auseinandersetzung hat nicht ab- sondern weiter zugenommen. China und die USA sind sich beispielsweise nicht darüber einig, welche Aktivitäten in der von China beanspruchten Ausschließlichen Wirtschaftszone zulässig sind. Außerdem hat China, bezogen auf seine „historisch“ begründeten Territorial- und Rechtsansprüche, bislang keine Kompromissbereitschaft offenbart. Die Volksrepublik fordert weiterhin die Gültigkeit der sogenannten Neun-Striche-Linie ein, die 2009 auch den Vereinten Nationen gegenüber auf einer an eine Verbalnote angehängten Karte formal übermittelt wurde, nachdem Vietnam eine Eingabe an die VN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels eingereicht hatte. Ein 2016 auf Antrag der Philippinen gefällter Schiedsspruch des Ständigen Schiedshofs in Den Haag, wonach die von China reklamierten historischen Rechte keine Grundlage haben, wird von China schlicht ignoriert. Die kompromisslose Haltung Chinas steht dabei im Einklang mit der Sichtweise, dass das Südchinesische Meer zu den nationalen Kerninteressen zählt und im Zusammenhang mit der Überwindung des Jahrhunderts der Schande und Erniedrigung gesehen wird. Dass Pekings „historischer“ Anspruch auf einem Mythos beruht51, spielt dabei keine Rolle.52

49Panda

(2017). (2018); Thayer (2018). 51Hayton (2018). 52Ebd.

50Yong

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Die fortschreitende Militarisierung zeigt auch, dass Chinas Führung es immer weniger für notwendig hält, ASEAN entgegenzukommen. ASEAN hat dem eigenen Selbstverständnis nach, den Ausgleich zwischen den Großmächten gesucht, nicht zuletzt, um von diesen Zugeständnissen zu erlangen. In den 1990er Jahren wurde Südostasien von Peking mit einer Charme-Offensive hofiert, aber mit dem Aufstieg zur größten Militärmacht Ostasiens engt China den diplomatischen Raum des Staatenverbundes inzwischen zunehmend ein. Genau genommen untergräbt China auch die Einheit des ASEAN-Staatenverbunds, zumindest in Bezug auf das Südchinesische Meer. Peking setzt dabei darauf, dass einzelne ASEAN-Staaten ihre Interessen indirekt vertreten, wenn sie diesen Ländern Wirtschaftshilfe anbieten und Investitionen in Aussicht stellen oder auch diplomatischen Druck ausüben. Als Jahresvorsitzender des Staatenverbundes gab beispielsweise Kambodscha im Jahre 2012 nicht dem Verlangen Manilas und Hanois nach, konkrete Formulierungen zu umstrittenen Seegebieten in das gemeinsame Communiqué aufzunehmen, mit der Folge, dass in diesem Jahr überhaupt kein Communiqué verabschiedet wurde. Zwar gelang es dem damaligen indonesischen Außenminister, unmittelbar darauf die wiederhergestellte Einheit des Staatenbundes mittels der Verabschiedung eines SechsPunkte Vorschlags zu demonstrieren, aber es gibt wenig Zweifel, dass eine über grundlegende Prinzipien hinausgehende einheitliche Position außer Reichweite ist. So veröffentlichte Malaysia 2016 im Nachgang zu dem außergewöhnlichen China-ASEAN Außenministertreffen in Kunming eine angeblich gemeinsame Pressemitteilung, zog diese aber dann wieder zurück.53 Die Presseerklärung hatte die Besorgnis der ASEAN-Staaten zu neuen Entwicklungen im Südchinesischem Meer ausgedrückt, die aus Sicht des Staatenverbundes Vertrauen erodiert und Spannungen erhöht hätten und sogar das Potenzial besäßen, die Sicherheit und Stabilität im Südchinesischem Meer zu untergraben. Der Reputation der ASEAN als diplomatischer Gemeinschaft sind diese Verwerfungen nicht gut bekommen. Die informelle Sicht in einzelnen ASEAN-Staaten ist, dass die regionale Organisation China gegenüber die Segel weitgehend gestrichen habe. Das haben vor allem die Philippinen und Vietnam so gesehen. ASEAN unterstützte beispielsweise nicht die von Manila 2011 vorgeschlagene Zone des Friedens, der Freiheit, Freundschaft und Zusammenarbeit (Zone of Peace, Freedom, Friendship and Cooperation, ZoPFFC). Dieser Vorschlag war aufgrund chinesischer Beeinträchtigungen von philippinischen Erdölexplorationsmaßnahmen bei Reed Bank, innerhalb der von Manila

53The

Straits Times, 17. Juni 2016.

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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beanspruchten 200 Seemeilen-Zone, erfolgt und bezog sich auf umstrittene Seegebiete. Als China die Kontrolle über Scarborough Shoal übernahm, wurde auch dieser Vorgang von ASEAN-Staaten unter kambodschanischem Vorsitz nicht ausdrücklich gerügt. Phnom Penh schien zudem die Position Pekings zu teilen, wonach die Auseinandersetzung zwischen den Anspruchstellern nicht multilateral, sondern bilateral zu verhandeln sei. Vietnamesische Politiker haben ähnliche Erfahrungen wie die Philippinen gemacht und ebenfalls wenig deutlichen Beistand seitens des Staatenverbundes für stärkere Kritik an China erhalten. Nicht verwunderlich ist es daher, dass insbesondere Manila schon seit den 1990er Jahren versucht, chinesischem Druck mithilfe wieder verbesserter militärischer Zusammenarbeit insbesondere mit den USA gegenzusteuern. Unter Präsident Benigno Aquino III erreichte das Werben um die Unterstützung Washingtons einen neuen Höhepunkt. Auch Vietnam hat die verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit den USA gesucht und eine Rolle Amerikas im Südchinesischen Meer im Angesicht der Ereignisse angemahnt. Diese Ermahnungen, die von einigen anderen Staaten der Region unterstrichen wurden, dienten der Obama Administration als Rechtfertigung für eine verstärkte Orientierung zur Asien-Pazifik Region. Die Obama Administration begann in der Tat schon 2009, den erst zwei Jahre später dann auch verkündeten Pivot einzuleiten, der in einer verbesserten diplomatischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aufstellung Washingtons im asiatisch-pazifischen Raum münden sollte. Die Verbesserung der Beziehungen Washingtons gegenüber Südostasien stand dabei im Mittelpunkt amerikanischer Bestrebungen. Diese schlossen unter anderem die Unterzeichnung des TAC ein, ebenso wie die Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu Myanmar.54 Obschon vielschichtig in seiner Zielsetzung, war für den Pivot vor allem der politische und militärische Aufstieg Chinas ein wesentlicher Faktor. Während Washington die Notwendigkeit einer friedlichen Konfliktbeilegung unter Anwendung des Völkerrechts betonte, stellten die USA auch klar, dass sie in der strittigen Frage der Souveränität nicht Partei ergreifen würden. Wie die amerikanische Reaktion auf den Scarborough Shoal stand off im Jahr 2012 belegte, wollte sich Washington auf keinen Fall in eine Situation hineinmanövrieren lassen, in der Manila den Territorialstreit zulasten der USA hätte eskalieren können. Die USA gaben Manila daher seinerzeit keine Garantie, dass das bilaterale Verteidigungsabkommen auch auf umstrittene Seegebiete

54Haacke

(2015).

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Anwendung finden würde und setzten im Falle der Auseinandersetzung um Scarborough Shoal auf Vermittlung. Auf der anderen Seite haben die USA ihre militärische Kooperation mit den Philippinen ausgeweitet. So wurde 2014 mit Blick auf die Ereignisse um Scarborough Shoal eine neue Vereinbarung zur verbesserten Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen (Enhanced Defense Cooperation Agreement, EDCA) getroffen. Schwerpunkte dieses Abkommens umfassen die Stärkung maritimer Sicherheit sowie des maritimen Situationsbewusstsein (maritime domain awareness) Manilas und die Verbesserung der Kapazitäten zur Leistung humanitärer Hilfe bzw. Katastrophenhilfe; langfristig auch die Modernisierung der philippinischen Streitkräfte. Im Gegenzug gewährt EDCA den USA erneut Zugang zu militärischen Stützpunkten auf den Philippinen: auf Luzon, Palawan, den Visayas sowie Mindanao. Wie bereits erwähnt, hat auch Vietnam sich angesichts der Entwicklungen im Südchinesischen Meer um eine verstärkte Rolle der USA in der Region bemüht und dabei in den USA offene Türen eingerannt. Hanoi und Washington haben auf bilateraler Ebene eine umfassende Partnerschaft begründet, die auch einen Dialog der Streitkräfte umfasst. Anlässlich des Besuchs in Washington im Juli 2015 seitens des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Vietnams veröffentlichten beide Seiten auch eine gemeinsame Position zur zukünftigen Vision bilateraler Beziehungen. Diese zielt auf stärkere Zusammenarbeit bei traditionellen und nicht-traditionellen Sicherheitsbedrohungen wie auch bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts im Südchinesischen Meer. 2016 nahm die Obama-Administration gegenüber Hanoi noch bestehende Altsanktionen vom Tisch. Mit dem Pivot der Obama-Administration haben aber auch andere südostasiatische Staaten ihre jeweilige sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit Washington erneut bzw. weiter ausgebaut. So hat z. B. Singapur, dessen nationale Sicherheit stark von der Freiheit der Meere abhängt, den Pivot der Obama-Administration ausdrücklich begrüßt und die bilaterale verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit den USA weiter intensiviert. Hierbei geht es um die Vertiefung des bestehenden strategischen Sicherheitsdialogs, aber auch um den Ausbau bestehender Kooperation in Bereichen wie Verteidigungstechnologie sowie verbesserter militärischer Interoperabilität. Singapur hat u. a. nicht nur der Rotation von Schiffen für küstennahe Gefechtsführung (littoral combat ships), sondern auch der Stationierung von P-8 Poseidon Meeresüberwachungsflugzeugen zugestimmt.55 Malaysia hat bilaterale Marinemanöver mit den USA ausgeweitet,

55Roblin

(2017).

Der ASEAN Staatenverbund und die regionale Sicherheitsordnung …

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entsprechende Vorschläge wurden auch von der Regierung Jokowi mit Bezug auf die Natuna-Inseln gemacht.56 Den über Jahre zunehmenden Druck durch China auf die südostasiatischen Staaten haben die USA durch eine Intensivierung ihrer militärischen Kooperation mit den maritimen Ländern der Region allerdings nicht entscheidend reduzieren können. Aber die Militarisierung des Südchinesischen Meeres tangiert selbstredend auch immer mehr Washington. Für Washington geht es dabei um die eigenen strategischen Interessen und Rolle im West-Pazifik.57 Washington tritt daher vehement für die internationale Navigationsfreiheit ein. Schon unter Präsident Obama wurden entsprechenden Forderungen durch sogenannte Operationen zur Freiheit der Schifffahrt (FONOPS-Freedom of Navigation Operations) stärker Nachdruck verliehen, vor allem nach dem im Jahr 2016 ergangenem Urteil des Schiedshofs (Permanent Court of Arbitration 2016). Die Trump-Administration hat solche FONOPS im Südchinesischen Meer fortgesetzt und auch neue Signale für die weitere Festigung existierender Sicherheitspartnerschaften ausgestrahlt. So stattete der Flugzeugträger USS Carl Vinson in Begleitung des Raketenkreuzers USS Lake Champlain und des Lenkwaffenkreuzers USS Wayne E. Meyer Danang/Vietnam im März 2018 einen Besuch ab. Der aus dem Amt scheidende PACOM Commander Admiral Harris warf China zudem vor, die USA als bevorzugten Partner regionaler Länder im Indo-Pazifik ersetzen zu wollen.58 Das Pentagon verstärkt diese Signale. Verteidigungsminister James Mattis sprach beim Shangri-La Dialog in 2018 einmal mehr von einer freien und offenen Indo-Pazifik-Region und stellte klar, dass die USA für strategische Partnerschaften, aber nicht für strategische Abhängigkeiten stehen würden und auf sich vertiefende Allianzen und Sicherheitspartnerschaften setzten.59 Er betonte in diesem Zusammenhang ebenso die zentrale Rolle der ASEAN in der regionalen Sicherheitsarchitektur und deutete an, dass die USA mehr auf die Bedürfnisse der regionalen Partner in Sicherheitsfragen eingehen würden. Gleichzeitig kritisierte er als chinesischen Wortbruch die militärische Aufrüstung auf den von China ausgebauten Riffen im Südchinesischen Meer.

56Buszynski

(2018, S. 134–36). (2017). 58Harris (2018). 59Mattis (2018). 57McDevitt

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Es ist offenkundig, dass die chinesisch-amerikanischen Beziehungen eine Eigendynamik besitzen, aber eine, die schon seit längerem mit Südostasien sehr wohl im Zusammenhang steht. Schien zunächst Chinas Charmeoffensive gegenüber den ASEAN-Staaten im Nachgang zur Asiatischen Finanzkrise im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends zulasten des US-amerikanischen Einflusses zu gehen, so haben die schnell wachsenden Sorgen und Ängste innerhalb der Region China gegenüber den USA die Gelegenheit verschaffen, die Beziehungen mit den ASEAN-Staaten neu aufzustellen. In der Tat haben nicht zuletzt die entsprechenden Signale aus verschiedenen ASEAN-Staaten amerikanischen Politikern, Funktionären und Analysten als Rechtfertigung für den Pivot Washingtons gedient. Insbesondere die diplomatisch-militärische Komponente des Pivots hat wiederum die Volksrepublik dazu veranlasst, der perzipierten Eindämmungspolitik Amerikas entschieden entgegen zu treten, nicht zuletzt mittels der militärischen Aufrüstung umstrittener Inseln (Woody Island auf den Paracels sowie den vorgenannten Riffen im Spratly-Archipel). Unter Xi Jinping wurde aber auch explizit Augenmerk auf eine Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten gelegt. Dabei hat Peking vor allem auf wirtschaftliche Instrumente der Außenpolitik gesetzt, die den USA so nicht zur Verfügung stehen, und strategische Überlegungen angestellt, wie China mit seinen Ressourcen geopolitisch einen Vorteil gegenüber den USA erringen kann – nicht nur gegenüber schwachen Nachbarstaaten wie Kambodscha oder Laos, sondern auch gegenüber Amerikas Bündnis-und Sicherheitspartnern im maritimen Südostasien.

9 Kalküle der Einzelstaaten Die Regierungen einzelner ASEAN-Mitgliedsstaaten haben zwar überlappende, aber auch partikulare Sicherheitsinteressen. Entsprechend divergieren Einschätzungen zu Sicherheitsrisiken und Sicherheitsbedrohungen. Auch China wird unterschiedlich wahrgenommen. Für einige Mitgliedsstaaten zählen – wie oben dargestellt – gerade die Politik und Handlungen Chinas im Südchinesischen Meer als bedeutendste externe sicherheitspolitische Herausforderung. Dies gilt beispielsweise für Vietnam oder die Philippinen mit ihren konkurrierenden Seegebietsansprüchen. Beide sind von China wiederholt stark unter Druck gesetzt worden sind. Es verwundert also nicht, dass gerade diese ASEAN-Länder seit

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geraumer Zeit die USA zum Schutz ihrer maritimen Interessen und Rechtsansprüche ins Spiel gebracht haben. Andere ASEAN-Staaten haben ihre überlappenden Ansprüche im Südchinesischen Meer mit denen Chinas nicht in gleicher Weise priorisiert, andere wiederum sind der Thematik gegenüber weitgehend indifferent. Generell wird vielerorts in Südostasien politische Legitimität und gar das politische Überleben regierender politischer Regime mit guten Beziehungen zu China verknüpft, teilweise auch angesichts des politischen Drucks, den westliche Länder auf sie ausüben. Kambodscha ist hierfür das wohl beste Beispiel. In autoritären Ländern der Region ist China ein generell immer wichtigerer Faktor in der Innen- und Außenpolitik verschiedener ASEAN-Staaten.60 Aber auch in demokratischen und semi-demokratischen Ländern gilt nicht selten, dass kontinuierlicher wirtschaftlicher Aufschwung gleichbedeutend mit intensiven Wirtschaftsbeziehungen gerade zu China in Verbindung steht. Es kann daher auch nicht überraschen, dass Peking mittlerweile nicht nur die Konzipierung der gemeinsamen und kooperativen Sicherheit beeinflusst, sondern auch wirtschaftliche „Entwicklung“ als zweites Standbein einer Sicherheitsordnung anpreist. In dieser Hinsicht spielt die neue Seidenstraße (One Belt One Road, OBOR, oder Belt Road Initiative, BRI) eine Rolle, die unter Präsident Xi Jinping seitens der Volksrepublik 2013 verkündet wurde. Diese zielt vor allem auf Verbesserungen der Infrastruktur in einzelnen ASEAN-Staaten ab und stützt sich hierbei auf überschüssiges Kapital und überschüssige Industriekapazitäten. Begleitend zur OBOR-Initiative hat China auf die Schaffung der Asian Infrastructure Investment Bank gesetzt, die seit Anfang 2016 operativ tätig ist und eine Art Ergänzung zur Asian Development Bank darstellt. OBOR ist in Südostasien generell auf breites Interesse gestoßen, zum einen weil Infrastrukturprojekte zur Verbesserung der Konnektivität auch von den Regierungen vieler ASEAN-Staaten begrüßt werden, zum anderen weil China auch bereit ist, eine breite Palette von Projekten zu finanzieren. Zu den OBORProjekten gehört beispielsweise eine Eisenbahnschnellstrecke durch Laos bis Vientiane, die eine Anbindung an Chinas Streckennetz bietet und einschließlich des Baus von Brücken über den Mekong bei Luang Prabang bis 2021 fertig gestellt sein soll. In den Philippinen hat sich die Duterte-Administration für chinesische Unterstützung bei mehreren Großprojekten entschieden, wie im

60O’Neill

(2018).

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Fall der Wasserversorgung Manilas. Noch enthusiastischer ging es zeitweise in Malaysia zu. Unter Premierminister Najib Razak vereinbarte Malaysia den Bau der East Coast Rail Link (ECRL) von Port Klang bis zur Grenze mit Thailand. 2016 einigten sich beide Seiten auch auf den Bau eines Tiefwasserhafens und eines maritimen Industrieparks bei Malacca sowie auf den Ausbau des Hafens in Kuantuan, der ebenfalls von einem Industriepark flankiert werden sollte.61 Natürlich ist Chinas BRI in Südostasien politisch nicht unumstritten. In einigen Ländern wird mittlerweile sogar ausdrücklich vor einer Schuldenfalle gewarnt. Auch innenpolitisch lassen sich OBOR-Projekte vonseiten der politischen Opposition immer wieder ausschlachten. So hat sich z. B. Indonesiens Präsident Joko Widodo starker Kritik politischer Widersacher ausgesetzt gesehen, die anti-chinesische Ressentiments bedienen. Nach dem eher unerwarteten Wahlsieg der von Mahathir angeführten siegreichen Oppositionskoalition rief der alte und neue Premier sogleich dazu auf, die Staatsverschuldung generell runterzufahren, was zumindest zur Suspendierung von OBOR-Projekten führte.62 Wie das Beispiel Myanmar allerdings aufzeigt, ist es für Länder Südostasiens generell jedoch schwierig, sich Chinas OBOR-Agenda komplett zu widersetzen. ASEAN-Länder brauchen Prosperitätszuwächse, auch wenn sie von China ausgehen. Gerade die Philippinen bieten ein prägnantes Beispiel, welchen politischen Preis einzelne Regierungen zu zahlen bereit sind, damit sie von chinesischen Krediten und Investitionen profitieren können. So hat die von Präsident Duterte seit 2016 geführte Regierung aus diesem Grund darauf verzichtet, den Schiedsspruch des Ständigen Schiedshofs diplomatisch auszuschlachten, obwohl dieser fast vollständig zugunsten der Philippinen ausfiel. Dutertes Kurs hat es vor allem den regionalen Staaten erschwert, Chinas historisch begründete Rechtsansprüche im Südchinesischen Meer zurückzuweisen. Politische Spannungen zwischen der Duterte Regierung und Washington haben ihrerseits zu Verzögerungen in der Umsetzung von EDCA geführt. Allerdings hat Präsident Duterte in Bezug auf das Südchinesische Meer drei rote Linie gegenüber Peking aufgeführt, die zu überschreiten aus seiner Sicht einen Kriegsgrund darstellen könnten.63

61Strangio

(2017); Embong et al. (2017). (2018). 63Heydarian (2018). 62Zhu

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10 Auswirkungen Wie bereits klargestellt, haben die ASEAN-Staaten trotz ihrer weitreichenden Zielsetzungen nicht den Anspruch, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen. Es obliegt jedem einzelnen Mitgliedsstaat, autonom Entscheidungen in diesen Politikbereichen zu treffen. Wie aber schon kurz dargestellt wurde, kommt es durchaus vor, dass Mitgliedsländer gegenüber extra-regionalen Staaten zu Entscheidungen gelangen, die so nicht von anderen Mitgliedsstaaten mitgetragen werden, sondern die auch konsensuale Positionen des Staatenbundes sprengen. Wie das erwähnte Beispiel der Philippinen zeigt, kommt es auch vor, dass einzelne ASEAN-Staaten durch ihre Entscheidungen und Handlungen, die von anderen ASEAN präferierten ordnungspolitischen Ansätze zumindest ansatzweise unterlaufen. Denn die Weigerung der Duterte-Regierung, den vom Schiedshof ergangenen Schiedsspruch diplomatisch zu instrumentalisieren, schwächt voraussichtlich die Position der ASEAN als Ganzes für einen unabsehbaren Zeitraum. Schließlich hat die regionale Organisation über viele Jahre besonderen Wert auf Respekt für völkerrechtliche Prinzipien und Normen vonseiten mächtigerer Staaten gelegt. Darüber hinaus lässt sich konstatieren, dass die Versuche einzelner ASEAN-Staaten, die Vereinigten Staaten als regionale Ordnungsmacht verstärkt in Stellung zu bringen, um China zu einem Umdenken zu bewegen oder sogar abzuschrecken, nicht nur Fragen über die Wirksamkeit der seitens der Staatengemeinschaft wahrgenommenen Diplomatie aufwerfen, sondern auch den geopolitischen Wettbewerb zwischen Washington und Peking weiter befeuert haben. Es besteht die Gefahr, dass Südostasien in Zukunft im Vordergrund weiter wachsender strategischer Rivalität stehen wird. Die TrumpAdministration nimmt diesbezüglich inzwischen kaum noch ein Blatt vor dem Mund.64 Sie hat langfristig einen strategischen Wettstreit mit China und Russland ausgerufen und begonnen, eine integrierte regierungsweite Strategie für den IndoPazifik auszuarbeiten, bei der das erklärte Ziel eine freie und offene Indo-Pazifik Region ist.65 Bezeichnenderweise wurde diese von Präsident Trump persönlich in Vietnam im November 2017 verkündet.66 Aus Sicht Washingtons betreibt Peking nämlich eine inakzeptable Politik des Zwanges. Die nationale Verteidigungsstrategie erklärt dazu: „China is leveraging military modernization, influence

64Pence

(2018). (2018). 66Trump (2017). 65Wong

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operations, and predatory economics to coerce neighboring countries to reorder the Indo-Pacific region to their advantage.“67 Konturen der Indo-Pazifik-Strategie sind bereits erkennbar. Die TrumpAdministration hat beispielsweise Staaten dieser Region Unterstützung beim Aufbau und der Weiterentwicklung von maritimen Kapazitäten zugesagt, auch um die Interoperabilität zwischen den Streitkräften zu stärken. Um den Vorwurf zu entkräften, die Indo-Pazifik-Strategie Washingtons besitze keine wirtschaftliche Dimension, kündigte Außenminister Mike Pompeo im August 2018 Investitionen in Höhe von 113 Mio. US$ an, die für den Ausbau der digitalen Wirtschaft, sowie für Investitionen in den Bereichen Energie und Infrastruktur bestimmt sind.68 Der Kongress hat auch den Build Act verabschiedet, mit dem private Investitionen in die Indo-Pazifik Region erleichtern werden sollen. Der vom Kongress verabschiedete 2019 National Defence Authorization Act beschäftigt sich inhaltlich auch mit der Umbenennung sowohl der Southeast Asia Marime Security Initiative in Indo-Pacific Maritime Security Initiative als auch des United States Pacific Command (PACOM) in United States Indo-Pacific Command und zielt u. a. auf die Ausweitung eines regionalen Raketenabwehrschirms, ein größeres Augenmerk auf Zusammenarbeit der demokratischer „Quad-Staaten“ (USA, Japan, Indien, Australien), und die Stärkung der taiwanesischen Streitkräfte ab. Dieses Bündel an Ankündigungen verleiht dem strategischen und geopolitischen Wettstreit mit China weitere Schärfe. Die Reaktion Pekings unterstreicht dies. Zwar sucht auch die chinesische KP nicht die militärische Konfrontation mit Washington, aber Peking rüstet ungebrochen weiter auf und sieht keine Veranlassung, seine territorialen Ansprüche aufzugeben. Gegenüber den benachbarten Staaten lässt Chinas Führung kaum eine Gelegenheit aus, die immensen Vorteile der OBOR-Strategie anzupreisen. Für die ASEAN-Staaten ist die Dynamik mittel- bis langfristig mit signifikanten Risiken verbunden. Erstens könnte die regionale Stabilität strukturell durch Wettrüsten der Großmächte, aber auch durch Zwischenfälle Schaden nehmen. Zweitens – nicht allein die Einheit, sondern auch die Zentralität der ASEAN in der regionalen Sicherheitsarchitektur könnte noch stärker infrage gestellt werden. Damit einhergehend könnte der ordnungspolitische Ansatz der ASEAN, ihre internationalen Beziehungen mit den Großmächten zu regeln, und auch die der Großmächte untereinander durch Wahrung internationaler und regionaler Normen zu steuern, noch stärker infrage gestellt werden. Drittens ist

67Department 68Pompeo

of Defense (2018, S. 2). (2018).

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es ferner möglich, dass der sicherheitspolitische Spielraum der ASEAN-Staaten zwischen China und den USA sich verringert, was aus Sicht einiger sogenannte Hedging-Strategien erschweren könnte. Natürlich bieten sich auch Chancen: Der von Trump angezettelte „Handelskrieg“ mit China warf beispielsweise die Frage auf, inwieweit Südostasiens Wirtschaften nicht nur betroffen sein, sondern auch davon profitieren können. Südostasiatische Staaten, die enge Beziehungen zu den USA pflegen, werden sich auch die Frage stellen, inwieweit auf amerikanische Sicherheitsgarantien weiterhin Verlass ist. Mit der Aufgabe der US-amerikanischen Mitgliedschaft in der Transpazifischen Partnerschaft (TPP), die in Südostasien nicht allein als Freihandelsinitiative, sondern auch als strategisches Engagement verstanden wurde, hatte die Trump-Administration schon Anfang 2017 Bedenken und Unsicherheiten erkennbar verstärkt. Mangelte es in den ersten Monaten darüber hinaus vor allem an Kohärenz in der amerikanischen Südostasienpolitik, so hatten dann die ersten Gespräche auf Ebene der Staats- und Regierungschefs neue Fragen darüber aufgeworfen, ob Südostasien aus Sicht Washingtons eine unmittelbare strategische Bedeutung aufweist, die sich nicht allein als Funktion amerikanischer China-Politik verstehen lässt. Trump warf auch im Juni 2018, als das in Singapur organisierte Gipfeltreffen zwischen ihm und dem nordkoreanischen Präsidenten Kim, weitere Fragen darüber auf, wie Washington unter Trump zu Alliierten und Sicherheitspartnern steht, als er US-südkoreanische Militärmanöver als „provozierend“ bezeichnete und einen Rückzug amerikanischer Truppen von der koreanischen Halbinsel in Aussicht stellte. Mit Anbruch der Ära Trump haben sich damit die ohnehin schon während der Präsidentschaft Obamas bestehenden Befürchtungen in Südostasien, was die Nachhaltigkeit des amerikanischen pivots anbelangt69, zu noch größerer Unsicherheit über die zukünftige Rolle der USA in Südostasien intensiviert.

11 Schlussfolgerung: ASEAN verliert ordnungspolitisch an Bedeutung Wie dieses Kapitel gezeigt hat, konnte der ASEAN-Staatenverbund über Jahrzehnte die regionale Sicherheitsordnung Südostasiens (mit-)prägen. Inzwischen sind wir allerdings an einem Punkt angelangt, an dem man sich fragen muss, ob

69Liow

(2017).

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die Regionalorganisation ihre starke Position in ordnungspolitischer Sicht nicht zumindest teilweise eingebüßt hat. Auch wenn es unter den ASEAN-Mitgliedsstaaten zu keinem Zeitpunkt einen Konsens gegeben hat, der sich auf alle Aspekte regionaler Ordnungspolitik erstreckt hätte, so hat es doch über viele Jahre einen weitgehenden ordnungspolitischen Konsens in wichtigen Teilfragen gegeben. Auch heute noch sind die ASEAN-Staaten der Auffassung, dass bilaterale Konflikte auf diplomatischem Wege und nicht mit Gewalt zu lösen seien. In den intra-ASEAN-Beziehungen ist dieses Prinzip von besonderer Bedeutung. Grundsätzlich sollen Konflikte zwischen den ASEAN-Staaten bilateral angegangen werden, obwohl der Staatenverbund im Fall des thailändisch-kambodschanischen Grenzkonflikts gezeigt hat, dass er vermittelnd eingreifen kann, insbesondere wenn dies aus Sicht Jakartas zwingend notwendig ist. Wie dieses Beispiel zeigt, gibt es einen regionalen Konsens, dass Südostasien bilaterale Sicherheitsfragen mit starkem Internationalisierungspotenzial am liebsten selbst angehen und nicht der internationalen Staatengemeinschaft überlassen will. Darüber hinaus soll das Nichteinmischungsprinzip den Mitgliedern weiterhin klare Grenzen setzen, wenn es um die Innenpolitik und innerstaatliche Konfliktlagen anderer Mitgliedsländer geht. In der Praxis sind aber bereits seit einiger Zeit sehr wohl auch im kollektiven Rahmen der ASEAN-Gespräche legitim, die über das, was ursprünglich von Mitgliedsstaaten toleriert wurde, weit hinausgehen. Dies soll nicht bedeuten, dass trotzdem gelegentlich öffentlich Kritik von ASEAN-Staaten untereinander ausgeübt wird, die von betroffenen Staaten dann auch als unpassend und unerwünscht gesehen wird. Mit Unterzeichnung des Bali Concord II sind neue Felder der Sicherheitskooperation erschlossen worden, aber die Rolle des Staatenverbundes als Sicherheitsakteur hat sich nicht grundlegend gewandelt. Wie schon bei seiner Gründung sehen die Mitgliedssaaten auch heute noch ASEAN als Medium zum Aufbau gegenseitigen Vertrauens. Laut ASEAN Blueprint 2025 ist zwar weiterhin vorgesehen, die institutionellen Kapazitäten der ASEAN zu stärken. Es bleibt aber offen, wie und wann ASEAN ggfs. ordnungspolitisch über bestehende Ansätze hinaus handlungswillig und handlungsfähig sein will. Dass der Blueprint vor allem einen klaren Verweis auf die normativen Grundbausteine und Prinzipien enthält, die schon über viele Jahre verankert worden sind, passt da ins Bild. Einen Konsens zu aktuellen Sicherheitsrisiken in intra-regionalen Beziehungen gibt es nur in dem Maße, in dem die Mitgliedsstaaten neue Formen der Sicherheitskooperation vereinbaren.

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121

Im Vergleich dazu hat sich interessanterweise der ordnungspolitische Grundkonsens der ASEAN-Staaten gegenüber extra-regionalen Staaten stärker weiterentwickelt. Während die ASEAN-5 sich nicht wirklich auf einen Kompromiss verständigen konnten, der über die indirekte Aufforderung an Amerika, die Sowjetunion und China, sich in die inneren Angelegenheiten Südostasiens nicht einzumischen, nicht hinauslief, so wird den Großmächten seit Ende des Kalten Krieges eine institutionell immer weiter aufgefächerte, parallel verlaufende Teilnahme an regionalen Sicherheitsdialogen zugestanden bzw. angeboten. Der Konsens, wonach keine Großmacht Südostasien politisch dominieren soll, um regionale Autonomie zu erhalten, hat gleichzeitig weiterhin Bestand. ASEANMitgliedsstaaten vertreten auch die gemeinschaftliche Überzeugung, dass kollektive Beziehungen zu Großmächten ausbalanciert werden sollen. Darüber hinaus besteht Konsens darüber, dass die Großmächte geltendes Völkerrecht gegenüber den Regionalstaaten respektieren sollen, indem sie das Nichteinmischungsprinzip und die Norm friedlicher Konfliktbewältigung ausdrücklich anerkennen. Die Ordnungspolitik der ASEAN hat durchaus Erfolge aufzuweisen. Konfrontiert mit der Forderung, die Zentralität der ASEAN beim Aufbau einer kooperativen Sicherheitsarchitektur anzuerkennen, haben sich Großmächte bisher nicht auf Kosten der ASEAN durch die Bildung eines Großmächtekonzerts hervorgetan. Aber der normorientierte Sozialisationsansatz hat nur bedingt Wirkung gezeigt. Zwar haben alle wichtigen Mächte der Welt das TAC unterzeichnet, aber China hat seit den späten 1980er Jahren mit seinen Handlungen die von ASEAN propagierte Norm der Selbstbeschränkung im Südchinesischen Meer über Jahre weitgehend ignoriert. Hier geht es in den letzten Jahren vor allem um die zunehmende Militarisierung, die das Kräftegleichgewicht in erheblicher Weise ins Wanken bringt. Aus diesem Grund ist es nachvollziehbar, wenn betroffene ASEAN-Staaten nicht nur selbst in neue Waffensysteme investieren, als Risikomanagement konzipiert, sondern auch versucht haben, Länder wie Japan, Indien und die USA in Stellung zu bringen. In der Gesamtschau haben entsprechende Vereinbarungen den geostrategischen Wettstreit zwischen den USA und China eher angefacht statt entschärft, was der gemeinsamen strategischen Zielsetzung der ASEAN-Staaten grundsätzlich zuwiderläuft. In ihrem Sinne steuern kann ASEAN die gegenwärtigen, spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Ländern wie China, und den USA letztlich nicht. Die zunehmende strategische Rivalität zwischen Amerika und China stellt die Staaten Südostasiens vor neue Herausforderungen. Zudem sind die wirtschaftlichen und politischen

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Abhängigkeiten China gegenüber, die einige ASEAN-Länder auch billigend in Kauf nehmen, ein Grund dafür, dass die vielbeschworene Einheit des Verbundes gerade zum Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer inzwischen sichtbar Schaden genommen hat. Die Zentralität des Staatenverbundes findet in Washington und Beijing weiterhin Zuspruch, aber wird nicht zuletzt von China nunmehr stärker infrage gestellt. Die Zukunft wird zeigen, ob und wie sich deshalb der bisherige ordnungspolitische Konsens der ASEAN-Länder ggfs. verschiebt oder weiterentwickelt.

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Dr. Jürgen Haacke ist Associate Professor an der London School of Economics and Political Science (LSE) und leitete dort von 2016 bis 2018 das LSE Saw Swee Hock Southeast Asia Centre. Er lehrt und forscht vor allem zu Themen der internationalen Politik Südostasiens. Seine jüngeren wissenschaftlichen Publikationen befassen sich mit der gegenwärtigen britischen Außenpolitik in Südostasien sowie mit konzeptionellen und methodologischen Fragen zu sog. „hedging“-Strategien südostasiatischer Staaten vor dem Hintergrund bestehender Sicherheitsherausforderungen. Zurzeit arbeitet er an weiteren Veröffentlichungen zur Burma-Politik der Vereinigten Staaten.

Südostasien in der globalen Nuklearordnung: Mehr als nur eine kernwaffenfreie Zone? Jens Heinrich 1 Einleitung: Kernwaffen und Südostasien Die Verbreitung von Kernwaffen stellt seit dem Beginn des Nuklearzeitalters eine der zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen dar. Bis heute sind Kernwaffen ein wesentlicher Bestandteil politischer und politikwissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Kaum ein Strategiedokument kommt ohne den Hinweis auf Nonproliferation, Abrüstung und/oder Rüstungskontrolle aus.1 Gegenwärtig verfügen neun Staaten über Kernwaffen.2 Von diesen neun Staaten gelten fünf als sog. „offizielle“ Kernwaffenstaaten.3 Die vier anderen Staaten befinden sich außerhalb des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV). Weitere Länder sind

1Der

Autor plädiert für eine Unterscheidung der drei Begriffe, da diese unterschiedliche Zielsetzungen aufweisen, die nicht deckungsgleich sind. Zur Kritik einer begrifflichen und somit konzeptionellen Verschmelzung vgl. Heinrich (2017, S. 37). Für einen Überblick vgl. u. a. The White House (2002, 2006, 2010a, 2010b, 2017); Europäischer Rat (2003); Bundesministerium der Verteidigung (2016). 2USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea. 3Unter Artikel IX/Absatz 3 des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) gelten alle Staaten, die vor dem 1. Januar 1967 eine Nuklearexplosion durchgeführt oder einen Kernsprengkörper hergestellt und getestet haben, als Kernwaffenstaaten. Vgl. Auswärtiges Amt (2000, S. 5). J. Heinrich (*)  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_6

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über Allianzen und Bündnissysteme direkt oder indirekt Teil einer auf Nuklearwaffen basierenden Sicherheitsarchitektur.4 Ein Blick auf die geographische Verteilung von Kernwaffen verdeutlicht, dass Asien und Europa die höchste Dichte an Nuklearmächten aufweisen. In Asien treten Kernwaffen besonders deutlich hervor. Hier sind es die Regionen Südasien (Indien, Pakistan) und Ostasien (Nordkorea, China), in denen nukleare Rüstung eine prominente Rolle spielt. Wird der sicherheitspolitischen Relevanz der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) mit ihren Bündnis- und Kooperationssystemen Rechnung getragen und Russland (auch) als asiatische Macht verstanden, erhöht sich die Zahl auf sechs Kernwaffenstaaten, deren Beziehungen untereinander von strategischer Kooperation und Partnerschaft (Indien-USA, China-Pakistan), über Wettbewerb (USA-China), bis hin zu offenen Drohungen, Kriegen und Konflikten (USA-Nordkorea, Indien-Pakistan) reichen. Ein regionaler „Ausbrecher“ in dieser Hinsicht ist Südostasien.5 Hier haben Kernwaffen bis heute keine Verbreitung gefunden und die Gefahr nuklearer Proliferation wird als „external to the region“6 beschrieben. Ein simples Proliferationsschema, das auf eine Abfolge von Aktion und Reaktion setzt, würde zu der Annahme führen, dass Staaten, die in Nachbarschaft zu Kernwaffenstaaten leben, selbst nach diesen Waffen streben würden. Allerdings ist das Gegenteil eingetreten. Mit dem Vertrag von Bangkok, der 1997 in Kraft trat, haben sich die Staaten Südostasiens explizit zu einer kernwaffenfreien Zukunft bekannt, was diese Region als Untersuchungsgegenstand der Nonproliferationsforschung interessant macht.7 Ein zweiter Forschungsstrang richtet den Blick weniger auf

4Explizit

gilt das für die NATO, die durch die Nuclear Planning Group auch einen institutionellen Ausdruck der nuklearen Dimension des transatlantischen Bündnisses gefunden hat. 5Unter Südostasien werden hier die zehn Mitglieder der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) und Osttimor verstanden, wobei Letzteres explizit nicht Gegenstand des Aufsatzes ist. In diesem Aufsatz wird immer wieder auf den Unterschied zwischen dem Verhalten der ASEAN und einzelnen Mitgliedern verwiesen. 6Daplino and Westmyer 2016, S. 185. Zur Proliferationsgefahr unter veränderten Rahmenbedingen vgl. Malley and Ogilvie-White 2009. Vorerst gilt aber die Einschätzung der Autoren, dass „[t]he potential for nuclear breakout in Southeast Asia cannot be ruled out altogether, but the likelihood that this will happen is low.“ Ebd., S. 39. 7Indonesiens damaliger Präsident Sukarno äußerte 1965 „God willing, Indonesia will shortly produce its own atom bomb.“ Sukarno zitiert nach: Cornejo (2000, S. 35. Allerdings ist es vollkommen spekulativ, ob je eine Entscheidung für ein indonesisches Atomwaffenprogramm getroffen wurde, und ob je Ressourcen aufgewendet wurden

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die Ursachen für die ausbleibende Proliferation, sondern betrachtet und bewertet die Stellung der Region in der globalen Nuklearordnung. Südostasien verfügt mit der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) über einen Staatenverbund, der durch die Schaffung einer Political-Security Community und des ASEAN Regional Forums (ARF) auch den Anspruch erhebt, in den sicherheitspolitischen Bereich hineinzuwirken. Da Kernwaffen eine ganze Reihe von sicherheitspolitischen Fragen aufwerfen, bietet es sich an, die ASEAN und ihre Mitgliedstaaten im Kontext nuklearer Proliferation, Abrüstung und Rüstungskontrolle einer Analyse zu unterziehen. Der Aufsatz folgt dem zweiten Forschungsstrang. Ziel dieses Kapitels ist es, die Rolle der ASEAN und/oder einzelner Mitgliedstaaten in der globalen Nuklearordnung zu verorten und zu klären, ob der Beitrag Südostasiens mehr ist als die kernwaffenfreie Zone und was dieses potenzielle Mehr im Konkreten ist. Neben dieser grundsätzlichen Frage soll auch untersucht werden, ob und wie die ASEAN als Staatenverbund aktiv ist – die Mitglieder also gemeinsam handeln – oder ob es unterschiedliche Positionen, Fokussierungen oder eventuell Spannungen zwischen den Staaten gibt. Die Bandbreite verschiedenster Bereiche und Entwicklungen in der Nuklearordnung erlaubt eine empirisch breit aufgestellte Untersuchung. Das Kapitel ist wie folgt aufgebaut: Im zweiten Abschnitt werden Stand, Entwicklung und Perspektive der zivilen Nukleartechnologie in Südostasien dargestellt. Hier wird der Annahme gefolgt, dass ein ziviles Nuklearprogramm einen wichtigen (wenn auch nicht den einzig denkbaren) Weg zu Kernwaffen darstellt und als potenzieller Indikator für eine nukleare Option dienen kann.8

(wenn ja in welchem Umfang?). Der Untersuchung Cornejos zufolge waren die USA, die Indonesien im Rahmen des „Atoms for Peace“-Programms einen Forschungsreaktor bereitstellten, sehr skeptisch was die indigenen Fähigkeiten zum Aufbau eines Bombenprogramms betraf. Die Alternative war eine Kooperation mit China, das jedoch 1965 explizit jede Weitergabe nuklearer Technologie ausschloss. Vgl. Ebd. 1967 wurde ein safeguards agreement mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) geschlossen, was die Realisierung nuklearer Ambitionen erschwert(e). 8Hier wird explizit nicht der Theorie des „technologischen Imperativs“ gefolgt, nach der die technologischen Möglichkeiten zwangsläufig zu einer bestimmten Entscheidung – in diesem Fall zum Bau von Kernwaffen – führen würden. Die Proliferationsforschung konnte zeigen, dass ein Atomprogramm keine ausreichende Bedingung für ein Kernwaffenprogramm darstellt. Zur Kritik an der Annahme, dass ein ziviles Nuklearprogramm zu Kernwaffen führen muss vgl. Miller (2017). Trotz der Kritik an einem vereinfachten Proliferationsverständnis kann das Proliferationspotenzial ziviler Nukleartechnologie nicht unterschätzt werden.

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Außerdem erlaubt eine Darstellung der nuklearen Infrastruktur (oder ihres Fehlens) eine Gewichtung der Region in bestimmten Nichtverbreitungsregimen. Daran schließen Überlegungen (dritter Abschnitt) zur Einbindung der ASEAN bzw. ihrer Mitgliedstaaten in die globale Nuklearordnung an, wobei der Fokus auf Beitritt zu bzw. die Teilnahme an entsprechenden Verträgen und Abkommen liegt. Hier werden traditionelle und nicht-traditionellen Kooperationsformen, die kernwaffenfreie Zone aber auch neuere Trends in der globalen Nuklearordnung, wie der nukleare Verbotsvertrag, analysiert. Der Aufsatz endet mit einer Schlussbetrachtung, welche die Ergebnisse bewertet und weiterführende Fragen formuliert.

2 Die Verbreitung ziviler Nukleartechnologie in Südostasien Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Stand Juni 2019) verfügt kein südostasiatisches Land über einen operierenden Atomreaktor zur kommerziellen Energiegewinnung.9 Alle ASEAN-Staaten haben aber in der Vergangenheit ihre Bereitschaft artikuliert, Atomenergie nutzen zu wollen – sei es um ihre jeweilige nationale Entwicklung zu fördern oder um ihre Energiequellen zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von bestimmten Regionen oder Transportwegen zu reduzieren.10 Mit Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam plan(t)en einige südostasiatische Staaten Nuklearenergie mithilfe ausländischer Partner für nationale Entwicklungsziele in Zukunft ausbeuten zu wollen.11 Die einzelnen Projekte der Länder unterscheiden sich dabei stark hinsichtlich Stand der Planungen und Konkretisierung der Projekte. Vietnam gilt als das Land, das „perhaps the region’s most advanced plans for nuclear power“ hat.12 In den 1960er Jahren war Vietnam unter den Ländern, die vom „Atoms for Peace“ Programm der USA profitierten. Zwischen 1963 und 1968 unterhielt das Land einen kleinen operierenden Reaktor, der mit der

9Vgl.

International Energy Agency (2017, S. 20). (2008, S. 7 f.). 11International Energy Agency (2017, S. 25). Indonesien und Vietnam haben mit den USA ein sog. „123-Agreement“ unterzeichnet. Diese Abkommen setzen den Rahmen für die Kooperation im nuklearen Bereich. „123-Agreements“ sind nicht mit konkreten Kooperationsabkommen gleichzusetzen. Vgl. Kerr und Nikitin (2016). 12Dalpino and Westmyer (2016, S. 186). 10Symon

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Eskalation des Vietnamkrieges heruntergefahren wurde.13 1980 unterzeichneten die Sowjetunion und Vietnam ein entsprechendes „nuclear cooperation agreement“, das die Wiederinbetriebnahme des Reaktors vorsah (und 1984 umgesetzt wurde).14 Bereits Mitte der 1990er Jahre gab es Pläne zur Stromgewinnung aus Atomkraft. Zielmarken waren u. a. den ersten Atomstrom 2015 zu produzieren. 2006/2007 wurde das Ziel ausgegeben, einen 2000 Megawatt (MWe) Reaktor bis 2020 ans Netz zu bringen.15 Diese Leistung sollte für das Jahr 2025 vervierfacht werden.16 Vietnams Premierminister Nguyễn Tấn Dũng erklärte 2011, dass 2020 der erste Reaktor zur Energiegewinnung operieren soll. Bis 2030 sollte die Energiegewinnung durch Atomkraft auf 10, 7 Gigawatt (GWe) Leistung steigen.17 Die Lizenz zum Bau des ersten Atomkraftwerkes Ninh Thuan 1 in Phuoc Dinh wurde 2010 durch ein Abkommen zwischen Russland und Vietnam besiegelt. Den Auftrag zum Bau sollte die russische Rosatom bzw. AtomStroyExport erhalten.18 Ergänzt werden sollten die vier Reaktoren in Phuoc Dinh später durch weitere Atomkraftwerke in Vinh Hai, bei denen Japan bzw. die Japan Atomic Power Cooperation, die International Nuclear Energy Development of Japan Co. Ltd., das japanische Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI) sowie die Dienstleister Chubu, Kansai und Tepco Planung und Bau übernehmen sollten.19 Im Jahr 2016 verabschiedete sich die vietnamesische Regierung allerdings von den Zielen. Als Gründe wurden die hohen Kosten,20 die Verfügbarkeit alternativer Energiequellen, sowie eine gesunkene Nachfrage und eine ablehnende Haltung der lokalen Bevölkerung genannt.21 Diese Entscheidung bedeutete jedoch keinen kompletten Ausstieg aus der Nuklearforschung. Im Juni 2017 unterzeichnete das vietnamesische Ministerium für Wissenschaft und Technologie (MOST) ein Memorandum of Understanding (MoU) mit Rosatom. Das MoU hat den Aufbau eines nuklearwissenschaftlichen Forschungszentrums (CNEST) zum Inhalt.22 Vietnam verfügt gegenwärtig über einen operativen

13Yarr

and Nguyễn Thị Thanh Thủy (2016, S. 162).

14Ebd. 15World

Nuclear Association (2017).

16Ebd. 17Schneider

and Froggatt (2017, S. 113). S. 119; World Nuclear News (2017b). 19World Nuclear Association 2017. 20Zur Kostenproblematik vgl. Yarr and Nguyễn Thị Thanh Thủy (2016, S. 167–169). 21World Nuclear Association (2017). 22World Nuclear News (2017b). 18Ebd.,

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Forschungsreaktor (DALAT Research Reactor) und plant einen weiteren in der Nähe von Da Lat.23 Indonesien begann in der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit der Erarbeitung von Studien zur nuklearen Energiegewinnung. 1976 wurde die erste Machbarkeitsstudie mit Unterstützung der italienischen Regierung veröffentlicht.24 1996 kam es zur ersten größeren Machbarkeitsstudie, deren Gegenstand ein 7000 MWe Reaktor in Ujung Lemah Abang25 war. Das Projekt kam allerdings nie über die Studienphase hinaus. 1997 und 2007 wurden die Pläne durch Gesetze, dem Nuclear Energy Law (1997) und dem Law on National Long-Term Development Planning for 2005–25 (2007), konkretisiert. Besonders das Law on National Long-Term Development sah eine Leistung von 6 Gigawatt (GWe) im Zeitraum von vier Jahren (2015–2019) vor.26 Zwischen 2000 und 2002 gab es eine weitere Studie (Comprehensive Assessment of Different Energy Sources), die ein operierendes Atomkraftwerk bis 2016 vorsah.27 Seit 2015 ist die Stromerzeugung durch Atomenergie zwar nicht ausgeschlossen, wird aber von indonesischer Seite nur noch als „last resort“28 betrachtet. Wie in anderen Ländern auch führten die Ereignisse um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zu einer zunehmend ablehnenden Haltung der indonesischen Bevölkerung bezüglich der Nutzung nuklearer Energie.29 Trotz dieser klar artikulierten Skepsis werden weiterhin Studien zur Nutzung der Nuklearenergie und zum Aufbau einer – wie auch immer gestalteten – nuklearen Infrastruktur in Auftrag gegeben. 2018 rief Geni Rina Sunaryo, Direktor für Reaktorsicherheit und Technologie der indonesischen Atomenergiebehörde (BATAN), einen Fahrplan (detailed engineering design roadmap) für die Vorprojektphase des Experimentellen Reaktor (Reaktor Daya Eksperimental) aus.30 Außerdem befürwortet BATAN den Bau von großen

23International Atomic

Energy Agency (o. J.). et al. (2018, S. 169). 25World Nuclear Association (2019). 26Jakarta Post nach Schneider et al. (2018, S. 169) (Fn. 670). Der Lobbyverband „World Nuclear Association“ schreibt allerdings, dass in den Jahren 2013/14 die Akzeptanz von Atomenergie auf über 50 bzw. über 70 Prozent gestiegen sei. Vgl. World Nuclear Association (2019). 27International Atomic Energy Agency (2018). 28Jakarta Post (2015); International Energy Agency (2016). 29Vgl. Lieggi (2012). 30World Nuclear News (2018); Schneider et al. (2018, S. 169). 24Schneider

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Leichtwasserreaktoren aus Bali, Java, Madura und Summatra.31 Indonesien verfügt über drei Forschungsreaktoren (KARTINI-PSTA, RSG-GAS und TRIGA MARK II).32 Myanmars Interesse an der Nutzung ziviler Nukleartechnologie reicht bis in die Mitte der 1950er Jahre zurück, fand seinen Ausdruck allerdings lediglich in einem Neutronengenerator der Mitte der 1970er Jahre an der Universität von Rangun genutzt wurde.33 Das Land hat immer wieder Interesse an nuklearer Energie bekundet. Verschiedene Bestrebungen, Partner wie China, Pakistan oder die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu gewinnen, blieben jedoch erfolglos.34 2001 kam es zu einem Abkommen mit Russland über den Bau eines 10 MWe Forschungsreaktors.35 Dieses Abkommen wurde 2007 bekräftigt, aber nicht verwirklicht. Im Jahr 2015 vereinbarten Russland und Myanmar den Ausbau der Kooperation im Bereich der Nukleartechnologie.36 Die Idee, Nukleartechnologie zur Energiegewinnung zu nutzen, scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings keine kurz- bis mittelfristige Option zu sein. Das Energieministerium äußerte sich skeptisch mit Blick auf Umweltrisiken und sprach ähnlich wie offizielle Stellen in Indonesien von einem „last resort, when other means cannot be implemented“.37 Die nukleartechnologischen Ambitionen Myanmars waren sowohl innerhalb der Region als auch außerhalb nie unumstritten.38 Dabei standen vor allem die Verbindungen zu Nordkorea im Zentrum.39 Die Gefahr nuklearer Proliferation durch Myanmar kann jedoch als abstrakt bezeichnet werden. Das Land hat das Zusatzprotokoll der Internationalen Atomenergiebehörde unterzeichnet (jedoch nicht ratifiziert)40 und scheint an einer weiteren Öffnung und Kooperation mit ausländischen Partnern interessiert zu sein, wobei nukleare Aktivitäten kontra-

31World

Nuclear News (2018). Es geht über den Rahmen dieses Aufsatzes hinaus die Rolle der Atomenergiebehörde im Einzelnen zu bewerten. 32TRIGA MARK II wurde zeitweise heruntergefahren. Vgl. International Atomic Energy Agency (o. J.). 33Dalpino and Westmyer (2016, S. 192). 34Ebd., S. 193. 35Nuclear Threat Initiative (2015). 36World Nuclear News (2015). 37Dalpino und Westmyer (2016, S. 193). 38Vgl. Business Daily (2009). 39Vgl. Albright et al. (2010). 40Vgl. International Atomic Energy Agency (2017).

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produktiv sein würden. Im Compliance Report des US-Außenministeriums heißt es zum Risiko nuklearer Proliferation: The available evidence does not support a conclusion that Myanmar (Burma) violated the NPT [Non-Proliferation Treaty, J. H.]; however, the United States remains concerned about Burma’s lack of transparency regarding past nuclear work, as much of this knowledge remains within the military and is not reported to the civilian government. (…) The United States retains confidence in Burma’s civilian leadership’s intentions to pursue a purely peaceful civilian nuclear program. Although the United States continues to be concerned about Burma’s willingness to be transparent about its previous nuclear work given that much of this knowledge remains within the military, which is not under the civilian government’s control, we have no evidence of ongoing activities under Burma’s civilian government that raise compliance concerns.41

Der Compliance Report aus dem Jahr 2018 bescheinigt Myanmar weiterhin, dass es den NVV nicht verletzt hat.42 Allerdings bleiben die USA „concerned about Burma’s lack of transparency regarding past nuclear work, as much of this knowledge remains within the military and is not reported to the civilian government.“43 Die übrigen ASEAN-Staaten Laos, Brunei, Kambodscha, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand haben mit unterschiedlichen Abstufungen ebenfalls Studien in Auftrag gegeben und Kooperationsmöglichkeiten mit internationalen Partnern eruiert. In Brunei, Laos und Kambodscha fehlen jedoch die regulatorischen und infrastrukturellen Voraussetzungen, um Nuklearenergie zu nutzen.44 Laos hat zudem ein Interesse daran, als zukünftiger Energieproduzent (Wasserkraft) zu dienen45 und dürfte der Atomenergie kritisch gegenüberstehen. Hinzukommen die geographischen und urbanen Besonderheiten im Falle Singapurs, die eine Notfallversorgung und einen entsprechenden Bevölkerungsschutz enorm komplex machen46 oder, wie bei Malaysia, eine post-Fukushima Stimmung in weiten Teilen der Gesellschaft, welche die Kernkraft innenpolitisch umstritten macht. Thailand hat immer wieder Interesse an Kernkraftwerken

41U.S. 42U.S.

Department of State (2017). Hervorhebung hinzugefügt. Department of State (2018, S. 21).

43Ebd. 44Dalpino

and Westmyer (2016, S. 188). International Hydropower Association (2016). 46Dalpino and Westmyer (2016, S. 190). 45Vgl.

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artikuliert. Allerdings ist auch hier der lokale Widerstand groß.47 Gleichzeitig gibt es eine intensive Kooperation mit China. Thailand ist mit zehn Prozent an zwei Hualong 1 Reaktoren beteiligt.48 Dieses Design könnte auch in einem zukünftigen Projekt in Thailand eine Rolle spielen.49 Neben nationalen Energie- und Entwicklungsstrategien hat sich auch die ASEAN als Staatenverbund dem Thema Nuklearenergie gewidmet. Die Nutzung der Atomkraft ist Bestandteil des ASEAN Economic Blueprint und des detaillierteren ASEAN Plan of Action for Energy Cooperation (2016–2020). Dort heißt es unter Programmpunkt 7: „Civilian nuclear energy, as a clean source of energy can help ASEAN meet its growing energy demand in the region“.50 Als strategische Schritte für den Bereich Nuklearenergie werden der Kapazitätenaufbau bei Technologie und Regularien – vor allem Sicherheitsbestimmungen – genannt. Da Programme zum Aufbau ziviler Nukleartechnologie in die nationale Souveränität fallen und die ASEAN diesbezüglich keine Kompetenzen im Sinne einer Bereitstellung nuklearer Infrastruktur hat,51 beschränkt sich der Staatenverbund in erster Linie auf Programme zum Informations- und Erfahrungsaustausch.52 Hier spielen besonders internationale Organisationen wie die Internationale Atomenergiebehörde und Dialogpartner wie Canada, Korea, Japan, die USA und China eine wichtige Rolle.53

3 Südostasien in der globalen Nuklearordnung Unter Ordnung kann ein „pattern of human activity that sustains elementary, primary or universal goals of social life“54 verstanden werden. Internationale Ordnung, zu der auch die globale Nuklearordnung gezählt werden kann, ist demnach ein „pattern of activity that sustains the elementary or primary goals

47Schneider 48World

et al. (2018, S. 171). Nuclear News (2017a); Schneider et al. (2018, S. 171).

49Ebd. 50ASEAN

Center for Energy (2015, S. 41). den 1990er Jahren gab es seitens der Philippinen den Vorschlag einer EURATOM-ähnlichen Struktur zu schaffen. Vgl. Symon (2008, S. 14 f.). 52Die Schritte sind in den Outcome-strategies 1–3 zusammengefasst. Vgl. ASEAN Center for Energy (2015, S. 43). 53ASEAN Center for Energy (2017). 54Bull (2012, S. 4). 51In

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of the society of states (…)“.55 Hedley Bull hat in seiner Arbeit zu Ordnung in der Weltpolitik die Sicherheit vor Gewalt und Bedrohung, die Achtung von Abmachungen und Verträgen und die Respektierung von Besitz und Eigentum als die Primärziele identifiziert, ohne die eine Gesellschaft von Staaten kaum denkbar wäre. Staaten, so Bull, formen eine Gesellschaft (society), wenn sie durch gemeinsame Werte und Normen verbunden sind.56 Unter den „patterns of activity“ können in der Nuklearordnung bestimmte formellen und informelle, implizite und explizite Arrangements, Praktiken, Institutionen und Regime verstanden werden, welche die sicherheitspolitische und auch zivile Dimension der Nukleartechnologie betreffen. Die Ordnung umfasst die Beziehungen der offiziellen Kernwaffenstaaten untereinander genauso wie das Verhältnis zu Nichtkernwaffenstaaten. Sie wirkt darüber hinaus in die Bereiche Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle hinein. Neben der globalen Nuklearordnung mit ihren fast universellen oder auf Universalität abzielenden Vertragswerken, wie dem NVV oder dem umfassenden Atomteststoppvertrag (CTBT), existieren verschiedene regionale Ordnungsmuster, die ebenfalls durch formelle Regelungen oder implizite und informelle Praktiken gekennzeichnet sind und die wiederum auf die globale Ordnungsstruktur einwirken können. Die globale Nuklearordnung hat sich seit den ersten Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki immer weiter ausdifferenziert. Hinzu kamen nicht nur neue Verträge, sondern auch informelle Praktiken und ad hoc Regelungen, die nicht immer spannungsfrei zu den etablierten und konsensbasierten Abkommen stehen.

3.1 Mitgliedschaften in Verträgen, Abkommen, Regelungen und (in)formellen Initiativen Alle ASEAN-Staaten sind Mitglieder in den zentralen Vertragswerken und Abkommen, wie dem umfassenden Atomteststoppvertrag (CTBT)57 oder dem NVV.58 Mit der jüngsten Ratifizierung des CTBT durch Thailand am 25.

55Ebd.,

S. 8. S. 13. 57Einführend in die technologischen Aspekte des CTBT vgl. Dahlman et al. 2011. Zur Geschichte des CTBT vgl. Johnson (2009). 58Vietnam und Indonesien haben bei ihren jeweiligen Unterzeichnungen bzw. Ratifizierungen des NVV Erklärungen angefügt, die ihre Positionen mit Blick auf den freien und uneingeschränkten Zugang zu ziviler Nukleartechnologie und der Frage von Sicher56Ebd.,

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September 201859 haben alle zehn ASEAN Staaten den Vertrag ratifiziert. Dass Bangkok die Ratifizierungsurkunde lange nicht hinterlegen konnte lag nicht an einer generellen Ablehnung des Nichtverbreitungsregimes im Allgemeinen und des CTBT im Besonderen60, sondern an gesetzgeberischen Prozessen.61 Der CTBT ist für die globale Nuklearordnung dahin gehend von Relevanz, weil der Vertrag Kernwaffentests nicht nur verbieten, sondern auch – im Falle eines Tests – detektieren soll.62 Der Vertrag soll die Proliferation einschränken und das Entwickeln neuer Sprengköpfe erschweren.63 Gleichzeitig soll das Überwachungssystem der Bildung und Stärkung von zwischenstaatlichem Vertrauen bzw. von Vertrauen in den CTBT dienen. Zwei südostasiatische Staaten sind für den Teststoppvertrag von besonderer Bedeutung. Der Vertrag kann erst in Kraft treten, wenn ihn alle sog. Annex2-Staaten ratifiziert haben.64 Annex-2-Staaten sind alle Länder „mit nuklearer Kapazität, die zum Zeitpunkt des Verhandlungsabschlusses Mitglieder der Genfer Abrüstungskonferenz waren.“65 Darunter fallen auch Vietnam und Indonesien, das den Vertrag bereits 2012 ratifizierte.66 Die Bindung an das Vertragswerk wird zusätzlich durch nationale Initiativen gefestigt. Indonesien, Myanmar, Malaysia, die Philippinen, Thailand und Vietnam haben nationale Datenzentren errichtet, wodurch Informationen von der Vertragsorganisation, der CTBTO, an die Mitgliedstaaten gesendet bzw. Informationen an die in Wien ansässige Organisation

heitsgarantien und Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten verdeutlichen sollen. Vgl. United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J. a). 59Preparatory Commission for the Comprehensive Test-Ban Treaty Organization (o. J. b). 60Dass Thailand keine grundlegenden Bedenken bezüglich des Atomteststoppvertrages hat, zeigt sich daran, dass das Land über eine installierte und eine zertifizierte Messstation, die in das International Monitoring System (IMS) der Comprehensive Test-Ban Treaty Organization (CTBTO) eingebunden sind, verfügt. Eine dritte Messstation für Edelgase ist geplant. Zusätzlich hat Thailand im Jahr 2009 ein Workshop und ein Seminar abgehalten. Vgl. Preparatory Commission for the Comprehensive Test-Ban Treaty Organization o. J. c. 61Vgl. Permament Mission of Thailand to the United Nations (2015, S. 3). 62Der Vertrag ist durchaus umstritten, da nicht alle Tests verboten werden, was ihn – je nach Lesart – weniger als Abrüstungs- sondern mehr als Nichtverbreitungsvertrag erscheinen lässt. Vgl. Schaper (2019, S. 17 f.). 63Schaper (2019, S. 17). 64Hoffmann and Wrabetz (2005, S. 199). 65Ebd. 66Preparatory Commission for the Comprehensive Test-Ban Treaty Organization (o. J.b).

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übermittelt werden können.67 Das International Monitoring System (IMS) des CTBT hat für die Staaten Südostasiens aber nicht nur eine enge sicherheitspolitische Bedeutung, sondern wirkt auch in den Bereich nicht-traditioneller Bedrohungen hinein, indem es bei der Frühwarnung und Lageeinschätzungen bei Naturkatastrophen behilflich ist.68 In der Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) sind Indonesien, Malaysia, Myanmar und Vietnam als Mitglieder vertreten.69 Brunei, die Philippinen, Singapur und Thailand partizipieren als Nicht-Mitglieder (Stand Juni 2019).70 Lediglich Laos und Kambodscha sind weder in der CD vertreten, noch arbeiten sie als Nicht-Mitglieder mit ihr zusammen. Die CD funktioniert nach einem Konsensprinzip, weshalb jedes Mitglied ein Veto hat.71 In der Abrüstungskonferenz werden Themen wie Streumunition, Landminen, aber auch Spaltmaterialproduktion, negative Sicherheitsgarantien und Weltraumrüstung verhandelt. Besonders der Spaltmaterialproduktion bzw. deren Stopp in Form eines noch zu verhandelnden Vertrages (Fissile Material Cut-off Treaty, FMCT) kann für die globale Nuklearordnung eine hohe Bedeutung beigemessen werden, da ein zukünftiger Vertrag den quantitativen Ausbau nuklearer Rüstung erschweren soll. Die CD befindet sich seit mehreren Jahren in einer Blockade72 und es gelang bisher nicht, ein Arbeitsprogramm innerhalb dieses formellen Settings zu verabschieden, weil Pakistan die Gespräche zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Stand Juni 2019) blockiert.73 Die zentrale Herausforderung für einen erfolgreichen Gesprächsverlauf ist die Frage des Umfanges eines potenziellen FMCT. Die pakistanische Position zielt darauf ab, auch bereits bestehende Bestände in den Vertrag aufzunehmen, um der regionalen Asymmetrie mit Blick auf Indien gerecht zu werden. Indien wiederum lehnt, wie andere Staaten auch, diese Position ab und will nur die zukünftige Produktion durch einen Vertrag unterbinden.74

67Preparatory

Commission for the Comprehensive Test-Ban Treaty Organization (2015, S. 3). 68Vgl. Preparatory Commission for the Comprehensive Test-Ban Treaty Organization (o. J.a). 69United Nations Office at Geneva (o. J). 70United Nations Office at Geneva (2019). 71Auswärtiges Amt (2017, S. 17). 72Auswärtiges Amt (2018, S. 19). 73Auswärtiges Amt (2017, S. 17). 74Vgl. Heinrich (2017, S. 191–195); Delegation of Pakistan to the United Nations (2018).

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Für den Verlauf der Gespräche innerhalb der CD sind – neben den Kernwaffenstaaten – auch die Positionen der südostasiatischen Konferenzmitglieder aufgrund des Konsensprinzips von Bedeutung. Die indonesische Position mit Blick auf die Spaltmaterialproduktion orientiert sich an der Pakistans und beinhaltet die Aufnahme von existierenden Beständen und zukünftiger Produktion in den Vertrag.75 Diese Position wurde 2017 vonseiten Indonesiens bei einem Treffen der High-level Fissile Material Cut-off Treaty Expert Preparatory Group76 erneut bekräftigt. Auf dem Treffen machte der indonesische Repräsentant deutlich, dass ein Vertrag angestrebt werden würde, der „existing stocks and future production of fissile material for nuclear weapons or other nuclear explosive devices“77 zum Gegenstand hat.78 Auf demselben high-level meeting nahm die ASEAN, vertreten durch Thailand, in einer gemeinsamen Erklärung zumindest nicht explizit Bezug auf die Notwendigkeit, auch existing stocks in den Vertragstext aufzunehmen. Stattdessen wurde von einem „non-discriminatory, multilateral and internationally and effectively verifiable treaty banning the production of fissile material for nuclear weapons (…)“ gesprochen,79 was der Auffassung der Mehrheit der Staaten in der Abrüstungskonferenz und dem sog. Shanon-Mandat, auf dessen Grundlage die Gespräche stattfinden, entspricht. Auch andere südostasiatische CD-Mitglieder wie Malaysia, Myanmar und Vietnam sprechen von einem Produktionsstopp und nicht von der Inklusion bestehender Spaltmaterialbestände. Es ist nicht ganz eindeutig, ob es sich hierbei um einen fundamentalen Widerspruch zwischen Indonesien und anderen ASEAN-Staaten handelt, zumal Indonesien eben auch die gemeinsame Erklärung der ASEAN mitgetragen hat, oder eher die Gefahr

75Vgl.

Permanent Mission of the Republic of Indonesia to the United Nations (2013, S. 3); Permanent Mission of Indonesia (2017). 76Diese Gruppe ist „eine aus 25 Staatenvertreterinnen und -vertretern bestehende hochrangige FMCT Vorbereitungsgruppe (…).“. Auswärtiges Amt (2018, S. 19). Interessant ist, dass es sich dabei um einen informellen Zusammenschluss handelt, der helfen soll, Blockaden in formellen settings zu lösen. 77Vgl. Permanent Mission of the Republic of Singapore to the United Nations (2017a). Hervorhebung hinzugefügt. 78Neben der inhaltlichen Nähe zur Position Pakistans lässt sich auch eine sprachliche Übereinstimmung beider Länder nachweisen. Um den Eindruck zu vermeiden, ein Vertrag, der das Spaltmaterial zum Gegenstand hat, würde nur die zukünftige Produktion verbieten, sprechen pakistanische Offizielle und Delegierte von einem Fissile Material Treaty ohne den Zusatz Cut-off. Dieser Begriff wird auch von Indonesien verwendet. 79ASEAN [Thailand] (2017). Hervorhebung hinzugefügt.

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einer Überinterpretation von Formulierungen besteht. Gegen Spannungen innerhalb der ASEAN spricht außerdem, dass Indonesien zusammen mit den neun übrigen Mitgliedsländern in der UN-Generalversammlung (first commitee) dem Entwurf Kanadas, Deutschlands und der Niederlande zu einem Treaty banning the production of fissile material for nuclear weapons or other nuclear explosive devices80 zugestimmt hat. Dieser Entwurf bezieht sich ausschließlich auf die zukünftige Produktion von Spaltmaterial. Ein weiteres zentrales Element der Nuklearordnung ist die Exportkontrolle sensibler dual-use Technologien, in diesem Fall Nuklear- und Raketentechnologie. Exportkontrolle zielt auf das Angebot von Gütern ab, die das Risiko in sich tragen, für militärische Programme zweckentfremdet werden zu können. Exportkontrolle steht hier in einem Spannungsverhältnis zu dem vertraglich verbrieften Recht auf Zugang zu Nukleartechnologie für friedliche/zivile Zwecke.81 Neben der jeweiligen nationalen Gesetzgebung spielt die Koordinierung von Exportrichtlinien zwischen Staaten eine wichtige Rolle, da so ein Ausfuhrwettlauf auf Kosten von Beschränkungen und Standards verhindert werden soll. Zur Harmonisierung und (unverbindlichen) Koordinierung des Handels mit nukleartechnologischen Gütern und Raketentechnik haben sich eine Reihe von Gruppierungen und Regimen gebildet. Für den nuklearen Bereich ist das vor allem die Nuclear Suppliers Group (NSG), in der sich die Mitglieder auf „Minimalstandards einigen, um bei den Anforderungen an Exportgenehmigungen ein race to the bottom untereinander zu vermeiden.“82 Die NSG, die 1975 als Reaktion auf die indischen Atomtests ein Jahr zuvor gegründet wurde,83 wird von einigen Staaten als diskriminierendes Kartell wahrgenommen, das den Zugang zu Nukleartechnologie verhindern möchte. Derzeit bemühen sich Indien und Pakistan Mitglieder der Gruppe zu werden. Für den Bereich Raketentechnologie sind das Missile Technology Control Regime (MTCR) von 1987, das Wassenaar-Abkommen (1996)84 und der Hague Code of Conduct (HCoC)85 von 2002 die zentralen Regime und Praktiken. Die Wirksamkeit der verschiedenen Regime wird immer wieder kritisch hinterfragt, da ihre Bestimmungen entweder umgangen werden oder relevante Staaten nicht Teil des jeweiligen Regimes sind.

80Vgl.

United Nations General Assembly (2016). Meier (2017, S. 37). 82Schneider (2017, S. 57). 83Arms Control Association (2017a). 84Vgl. Wassenaar Arrangement Secretariat (2017). 85Vgl. Cirincione et al. (2005, S. 95–96). 81Vgl.

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So hielt die Bundesregierung in ihrem „Jahresabrüstungsbericht“ von 2018 mit Blick auf den HCoC fest: Bisher konnte der HCoC seine volle Wirksamkeit nicht entfalten, vor allem, weil wichtige Trägertechnologiestaaten (z. B. Ägypten, Brasilien, China, Iran, Israel, Nordkorea, Pakistan und Saudi-Arabien) nicht am HCoC teilnehmen. 2018 trat kein weiterer Staat dem Verhaltenskodex bei.86

Keiner der ASEAN-Staaten ist bisher Mitglied der NSG, des WassenaarAbkommens oder des MTCR. Lediglich Kambodscha, Singapur und die Philippinen sind subscribing states des Haager Verhaltenskodexes.87 Allerdings ist die EU bemüht, mit südostasiatischen Staaten in einen HCoC-Dialog zu treten. So gab es expert missions in Malaysia (2019), in Laos (2017), in Thailand (2016) und in Myanmar (2016).88 Die mangelnde aktive Teilnahme an diesen rechtlich unverbindlichen Regimen oder Gruppen hängt zum einen damit zusammen, dass eine Mitgliedschaft bzw. Einhaltung der (unverbindlichen) Regeln nur dann in Betracht käme und relevant wäre, wenn die ASEAN-Staaten über eine entsprechende nukleartechnologische Infrastruktur (und somit exportfähige Technologie) verfügen würden89 oder aber im Besitz von Raketentechnologie wären, die sie potenziell vermarkten könnten.90 Zum anderen könnte aber eine bisher hypothetische Exportfähigkeit das Interesse an der Einbindung in solche Kooperations- und Koordinationsformen reduzieren. Diese Auffassung wird u. a. von indonesischen Offiziellen vertreten, die in verschärften Exportkontrollen ein Hindernis für die eigene Wirtschaftspolitik sehen.91 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht von einer Aufrüstungsdynamik im klassischen kompetitiven Sinne gesprochen werden, die an diesem Befund kurzbis mittelfristig etwas ändern wird. Kein südostasiatischer Staat ist bisher als

86Auswärtiges Amt

(2018, S. 46). Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres [The Hague Code of Conduct] (2019). 88EU Non-Proliferation Consortium (o.J.). 89Dalpino and Westmyer (2016, S. 204). 90Einige südostasiatische Staaten, wie Indonesien und Singapur, sind jedoch bestrebt, ihre jeweiligen Rüstungssektoren durch Kooperationen mit ausländischen Firmen auszubauen. Auch findet ein grenzüberschreitender Rüstungshandel statt. Vgl. Heiduk (2017, S. 28). 91Vgl. Lieggi (2012). 87Vgl.

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Exporteur oder Produzent von zivil-nuklearer oder militärisch-konventioneller hardware in Erscheinung getreten.92 Nach dem 11. September 2001, der den internationalen Terrorismus stärker als alles andere in das Bewusstsein westlicher/nördlicher Sicherheitspolitik rückte bzw. diesem eine hohe Priorität einräumte, waren es vor allem die USA, die in der Verbindung von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen („Nuklearterrorismus“) die größte Bedrohung ausmachten. Verstärkt wurde die Bedrohungswahrnehmung durch die Aktivitäten des global agierenden A. Q. Khan Proliferationsnetzwerkes, das unter anderem Länder wie Libyen oder den Iran mit nuklearer Technologie belieferte.93 Die politischen und rechtlichen Reaktionen dieser Entwicklungen waren u. a. die United Nations Security Council Resolution 1540 und die Initiierung der Proliferation Security Initiative (PSI) durch die USA. Die PSI wurde 2003 auf Betreiben der USA ins Leben gerufen und soll die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen durch die Kontrolle von Handelswegen unterbinden. Die Initiative ist in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen handelt es sich dabei um einen losen Zusammenschluss von Staaten bzw. als „a multinational response to the challenge posed by the threat of the proliferation of weapons of mass destruction (WMD).“94 Diese Informalität steht in einem Spannungsverhältnis zu deutlich inklusiveren und formelleren Non-Proliferationsansätzen.95 Gleichzeitig ist die PSI Ausdruck einer Verschiebung weg von Rüstungskontrolle und Abrüstung hin zu Nichtverbreitung, mit dem erklärten Ziel „ [to] create a web of counter-proliferation partnerships through which proliferators will have difficulty carrying out their trade in WMD and missile-related technology.“96 Gegen die PSI lassen sich nicht nur politische, sondern auch rechtliche Bedenken anführen – etwa die Frage wie mit dem Recht auf freie Durchfahrt bei Verdachtsmomenten umzugehen ist und wie sich Schiffen gegenüber zu verhalten ist, die sich in internationalen Gewässern befinden.97 Aus Sorge, eine Praxis des

92Unter

den 100 größten Rüstungsunternehmen hat nur eines, ST-Engineering, seinen Sitz in Südostasien (Singapur). Vgl. Fleurant et al. (2017, S. 4). 93Für eine detaillierte Darstellung des Netzwerkes vgl. Levy und Scott-Clark (2007). 94Vgl. Proliferation Security Initiative (o. J.a). 95Vgl. Meier (2008, S. 60). 96John Bolton zit. nach: Nikitin (2018, S. 3) [Fn. 16]. 97Zur rechtlichen Problematik vgl. Joyner (2005).

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„militärischen Abfangens“ von verdächtigen Schiffsladungen oder Ähnlichem zu etablieren, hat die an PSI teilnehmende deutsche Regierung bekräftigt, dass sich die PSI weniger auf das Einüben militärischer Abfangoperationen, sondern mehr auf die Kooperation ziviler Genehmigungs- und Strafverfolgungsbehörden wie Zoll, Polizei und Ausfuhrkontrollbehörden konzentrieren und die praktische Zusammenarbeit mit Staaten stärken soll, deren PSI-Beitritt gegenwärtig nicht absehbar ist.98

Innerhalb der ASEAN lassen sich Differenzen mit Blick auf die PSI identifizieren. Indonesien, Myanmar und Laos sind keine „endorsing states“,99 wobei allerdings die letzten beiden Staaten an der PSI Übung Pacific Shild (2018) teilgenommen haben.100 Indonesien gilt als besonders kritisch gegenüber der PSI eingestellt. Zum einen wird befürchtet, dass die Souveränität Indonesiens in der Straße von Malakka bzw. die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UNCLOS) eingeschränkt wird.101 Zum anderen wird PSI als „Instrument der USA“ bewertet – was mit einer unabhängigen Außenpolitik unvereinbar scheint.102 Andere ASEAN-Mitglieder sind wiederum unterstützende und partizipierende Staaten. Dazu zählen Brunei, Kambodscha, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam.103 Malaysias Teilnahme an der Initiative seit 2014 ist aufgrund der Bedeutung des Landes für den Warenumschlag (transshipment) von Relevanz. Singapur, als größter Hafen der Welt, hat die Unterstützung von „useful initiatives, such as the Proliferation Security Initiative“104 angemahnt und erklärt, die PSI „can complement and contribute to efforts at achieving our goal of nuclear disarmament“.105 Die Aktivitäten des Stadtstaates gehen aber über rhetorische Bekundungen hinaus. In den Jahren 2005, 2009 und 2016 fanden dort die PSI-Übungen DEEP SABRE, DEEP SABRE II106

98Auswärtiges Amt

(2017, S. 55). Security Initiative (2019). 100Ministry of Foreign Affairs of Japan (2018). 101Nuclear Threat Initiative (2018). 102Vgl. Lieggi (2012). 103Vgl. Proliferation Security Initiative (2019). 104Permanent Mission of the Republic of Singapore to the United Nations (2017b). 105Ebd. 106Vgl. Ministry of Defence Singapore (2009). 99Proliferation

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und DEEP SABRE 2016107 statt. Singapur ist zudem das einzige südostasiatische „leading member“ und Mitglied der 21 Staaten umfassenden Operational Experts Group (OEG) in der PSI.108 Ein Jahr nach dem Start von PSI wurde 2004 die UN Resolution 1540 verabschiedet. Die Resolution ist verbindlich und muss auch von den Staaten umgesetzt werden, die keine Mitglieder in einem Vertrag, wie etwa dem NVV, sind.109 Die Resolution verpflichtet alle Staaten dazu „[to] refrain from providing any form of support to non-State actors that attempt to develop, acquire, manufacture, possess, transport, transfer or use nuclear, chemical or biological weapons and their means of delivery (…)“.110 Um eine Umsetzung der Resolutionsziele zu ermöglichen, werden die Staaten darüber hinaus dazu aufgefordert, entsprechende nationale Gesetze zu erlassen und durchzusetzen bzw. bestehende Regelungen anzupassen, was dem UNSicherheitsrat den Vorwurf einbrachte, als Gesetzgebungsorgan zu fungieren.111 Außerdem, so ein weiterer Kritikpunkt, sei die Effektivität nur schwer zu beurteilen, weil die Umsetzung nationaler Gesetze und Richtlinien – etwa bei Exporten – nicht immer gewährleistet werden kann und einigen Staaten entsprechende Fähigkeiten fehlten.112 Alle zehn ASEAN-Staaten haben – trotz vereinzelter Kritik an der Resolution wegen ihres Einwirkens auf innenpolitische Fragen und Prozesse – dem 1540 Committee ihre jeweiligen nationalen Berichte zu Gesetzen und Maßnahmen, welche die Resolution betreffen, übermittelt.113 Als konkrete Schritte sind hier u. a. der Strategic Goods (Control) Act 2003 (Singapur), die Strategic Goods (Control) Order 2009 (Singapur),114 das Commodity Identification Training, das gemeinsam von den USA, Australien und Japan in Singapur durchgeführt wurde und den Behörden vor Ort bei der Umsetzung von Exportrichtlinien helfen soll115 oder der Strategic Trade Act, den Malaysia 2010 verabschiedet hat, zu

107Naval

Today (2016). Security Initiative (o. J.b). 109Cirincione et al. (2005, S. 38). 110United Nations Security Council (2004, S. 2). 111Vgl. Meier (2008, S. 56). 112Vgl. Permanent Mission of the Republic of Indonesia to the United Nations (2007, S. 1–2). 113Vgl. 1540 Committee (o. J). 114Vgl. Permanent Mission of Singapore (2009). 115U.S. Department of Energy (2008, S. 9). 108Proliferation

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nennen.116 Der Strategic Trade Act war eine Reaktion auf die Kritik an Malaysias bestehendem „weak and disjointed system without a significant unifying law“117 und dem sich offenbarenden „little understanding of the importance of transshipment and brokering controls.“118 Die malaysische Regierung lehnte zudem lange Zeit die in der Resolution vorgesehene Hilfe durch andere Staaten bei der Gesetzgebung ab, kooperierte dann jedoch mit der US Export Control and Related Border Security Assistance und der Europäischen Union.119 Ein deutlich inklusiverer Ansatz wurde von der Obama-Regierung erstmals 2009 angekündigt und ein Jahr später als Nuclear Security Summit umgesetzt. Im Rahmen dieser Gipfel, die als Ziel die Sicherung nuklearen Materials verfolgten,120 kam es zu insgesamt vier Treffen (2010/2016 in Washington D.C.; 2012 in Seoul; 2014 in Den Haag).121 Von den ASEAN Mitgliedsstaaten waren von Beginn an Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam Teilnehmer. Weitere ASEAN-Staaten stießen zu den folgenden Gipfeltreffen nicht hinzu. Anzumerken ist, dass es sich bei den teilnehmenden südostasiatischen Staaten auch um jene handelt, die zum einen in der Vergangenheit bestrebt waren, nukleare Technologie zu nutzen (siehe Abschn. 2) und die zum anderen bereits in informelle Settings eingebettet sind oder aber diesen eine gewisse Skepsis und Ablehnung entgegenbringen (wie Indonesien mit Blick auf PSI). Besonders der letzte Aspekt zeigt, dass die ASEAN-Staaten nicht grundsätzlich neuen Nichtverbreitungsansätzen ablehnend gegenüberstehen. Ohne allzu vertiefend auf die einzelnen Instrumente des Nuclear Security Summit-Prozesses einzugehen, sollen exemplarisch Indonesiens Schritte in den Bereichen „Nuclear and Radiological Security“ (Einführung von GPS Tracking, Konvertierung von Radioisotopen) und „Counter Nuclear and Radiological Smuggling“ (Aufbau von Detektionssystemen) oder auch die Umsetzung der „Megaports Initiative“ durch Malaysia und Singapur, sowie die Umsetzung von Richtlinien zum physischen Schutz von Nuklearmaterial genannt werden.122 Die getroffenen

116Zur Bedeutung von Drittstaaten als Umschlagsplätze zur Umgehung von proliferationsspezifischen Sanktionen siehe: Salisbury (2018). 117Nuclear Threat Initiative (2010). 118Ebd. 119Ebd. 120Arms Control Association (2017b). 121Ebd. 122Für eine detaillierte Auflistung aller getroffenen Vereinbarungen und Erklärungen vgl.: Kutchesfahani et al. (2018).

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Maßnahmen spiegeln eine ganze Bandbreite von Handlungen wider, die im Bereich konkreter gesetzlicher Anpassungen, bis hin zu gemeinsamen Workshops und Trainingsprogrammen, aber auch politischen Bekundungen und Erklärungen liegen.

3.2 Die kernwaffenfreie Zone Der vorangegangene Abschnitt zeigte Entscheidungen, Handlungen und Positionen der einzelnen ASEAN Mitgliedstaaten mit Blick auf zentrale traditionelle Vertragswerke und neuere Regime, Institutionen und Praktiken. Die untersuchten Elemente der Nuklearordnung haben trotz ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung die Gemeinsamkeit, dass die südostasiatischen Staaten bei ihrer Entstehung und Entwicklung einen marginalen Einfluss hatten und die ASEANStaaten entweder beitraten, fernblieben oder aber sich neutral (bis gleichgültig) verhielten. Anders formuliert: Südostasien war für die globale Nuklearordnung (bisher) nicht die prägende Region. Damit stellt sich die Frage, ob die ASEAN als Staatenverbund bzw. ihre Mitgliedstaaten selbst Initiativen vorweisen können, mit denen sie versuch(t)en, die globale Nuklearordnung ihren Vorstellungen entsprechend zu beeinflussen. Im Kontext regionaler Nichtverbreitungs- und Rüstungskontrollpolitik ist vor allem die Initiative der ASEAN zur Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Südostasien (Southeast Asian Nuclear Weapon Free Zone, SEANWFZ) zu nennen, die mit der Ratifizierung des Bangkok-Vertrages durch Kambodscha 1997 in Kraft getreten ist.123 Dieser Vertrag wurde von allen zehn ASEAN-Staaten unterzeichnet und ratifiziert. Erste Überlegungen zu einer kernwaffenfreien Zone gab es bereits in der 1971 angenommenen Zone of Peace, Freedom, and Neutrality- Erklärung (ZOPFAN).124 Darin haben die damaligen Mitglieder der ASEAN vier Jahre nach der Gründung des Staatenverbundes und ein Jahr nach dem der NVV in Kraft trat auf die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Südostasien als Grundlage für „Weltfrieden und Sicherheit“ hingewiesen.125 Eine potenziell zu realisierende Zone in

123Der Vertragstext findet sich unter: United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.b), https://disarmament.un.org/treaties/t/bangkok/text. 124Special ASEAN Foreign Ministers Meeting (1971). 125Ebd.

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Südostasien wurde in der Erklärung explizit in einen globalen Kontext gestellt und als Teil eines weltweiten Trends gesehen. Allerdings waren die Verbreitung von Kernwaffen, Abrüstung und nukleare Rüstungskontrolle nicht durchgängig und vordergründig Teil sicherheitspolitischer Überlegungen innerhalb der ASEAN. So findet sich etwa im Vertrag über Freundschaft und Kooperation von 1976126 sowie in den drei Protokollen zum Vertrag kein expliziter Bezug zu Kernwaffen und somit auch nicht zu einer Zone, die diese Waffen regional hätte verbannen können. Mit der vietnamesischen Invasion in Kambodscha wurde die Schaffung einer Zone des Friedens, der Freiheit und der Neutralität zunächst fallen gelassen.127 Nach einer Phase relativer Bedeutungslosigkeit rückten die Themen Kernwaffen und kernwaffenfreie Zone Mitte der 1980er Jahr wieder verstärkt in den Fokus.128 Das erneuerte Interesse an einer KWFZ kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass die Schaffung einer Zone ein Zwischenschritt in Richtung ZOPFAN darstellte.129 Auf der anderen Seite gab es aber auch externe Faktoren, wie Nuklearwaffentests, die Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion in Reykjavik 1986 und der Intermediate-range Nuclear Forces Treaty (INF) von 1987, die dem Wunsch nach einer Region ohne Kernwaffen neue Impulse gaben. Am 15. Dezember 1997 wurde der Bangkok-Vertrag von allen ASEANStaaten unterzeichnet. Mit der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde durch Kambodscha trat der Vertrag am 26. Juni 1997 in Kraft. 2001 hat mit den Philippinen der letzte ASEAN-Staat den Bangkok-Vertrag ratifiziert.130 Aus Sicht der südostastischen Staaten stellt die SEANWFZ „ASEAN’s most important contribution to the global aspiration of a nuclear-weapons-free world“131 dar. Auch andere Staaten sehen in kernwaffenfreien Zonen positive Elemente nuklearer Nichtverbreitung und regionaler Sicherheit. Die deutsche Bundesregierung geht zum Beispiel davon aus, dass. Kernwaffenfreie Zonen (KWFZ) (…) die sicherheitspolitische Stabilität in einer Region durch die vollständige Abwesenheit von Kernwaffen im Vertragsgebiet [fördern]. Verträge über KWFZ gehen damit in mehrfacher Hinsicht in Zielrichtung

126Vgl. Association

of Southeast Asian Nations (1976). und Boutin (1998, S. 220). 128Vgl. Nuclear Threat Initiative 2017; ASEAN Ministerial Meeting (1984), [Punkt 71]. 129Acharya und Boutin (1998, S. 220). 130Vgl. Nuclear Threat Initiative (2016). 131Permanent Mission of the Republic of the Philippines to the United Nations (2017). 127Vgl. Achaya

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und Umfang über den NVV hinaus. Die Kernwaffenstaaten garantieren – im Unterschied zu den unilateralen Erklärungen der Nuklearwaffenstaaten im Rahmen des NVV – in Zusatzprotokollen rechtlich verbindlich, gegen die Vertragsparteien weder Kernwaffen einzusetzen noch ihren Einsatz anzudrohen (sogenannte negative Sicherheitsgarantien).132

Der Vertrag von Bangkok verpflichtet die Vertragsstaaten dazu weder innerhalb noch außerhalb des Vertragsgebietes133 „to develop, manufacture or otherwise acquire, possess or have control over nuclear weapons; station or transport nuclear weapons by any means; or test or use nuclear weapons.“134 Durch diese Bestimmungen verhindert der Bangkok Treaty das Entstehen neuer nuklearer Mächte in der Region und wirkt neben der Mitgliedschaft im NVV als zusätzliche Sperre für die regionale Proliferation in Südostasien. Darüber hinaus darf kein Vertragsstaat einem anderen Staat erlauben, auf dessen Territorium Kernwaffen zu entwickeln, herzustellen, anderweitig zu erwerben, zu besitzen oder unter Kontrolle/Befugnis zu bringen. Auch das Testen und Stationieren ist verboten. Außerdem ist es untersagt, radioaktiven Müll im Vertragsgebiet zu entsorgen.135 Der Wert der SEANWFZ als Instrument der Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle im Besonderen und kernwaffenfreier Zonen im Allgemeinen wird durchaus kritisch gesehen. Viele Staaten, die den jeweiligen Verträgen in der Vergangenheit beitraten, so ein Argument, hätten ohnehin nie vorgehabt, Nuklearwaffen zu erwerben oder haben ihre Programme aufgegeben, ohne dass dafür der

132Auswärtiges Amt

(2017, S. 18). Vertrag von Bangkok wird das Vertragsgebiet unter Artikel 1/Absatz a) als „the area comprising the territories of all States in Southeast Asia, namely, Brunei Darussalam, Cambodia, Indonesia, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippines, Singapore, Thailand and Vietnam, and their respective continental shelves and Exclusive Economic Zones (EEZ) (…).“ Das Vertragsgebiet ist also nicht mit der Mitgliedschaft in der ASEAN identisch, da durch die SEANWFZ auch das Nicht-Mitglied Osttimor abgedeckt ist. Der Begriff Territorium wird in Artikel 1/Absatz b) definiert als „the land territory, internal waters, territorial sea, archipelagic waters, the seabed and the subsoil thereof and the airspace above them (…).“ Vgl. United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.). Die Inklusion der exklusiven Wirtschaftszonen (200 Seemeilen) und des Kontinentalschelfs (bis zu 350 Seemeilen) sind ein zentraler Spannungspunkt mit anderen Staaten. 134United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.b.): Treaty on the Southeast Asia Nuclear Weapon-Free Zone, [Artikel 3]. 135Ebd. 133Im

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„Zonenvertrag“ ursächlich wäre.136 Eine zweite Kritik basiert auf der Weigerung der Kernwaffenstaaten das Protokoll zum Vertrag von Bangkok zu unterzeichnen137 und den Zonenvertrag somit zu respektieren und anzuerkennen. Die südostasiatische kernwaffenfreie Zone gilt somit in ihrem Nutzen als „limited“.138 Christopher Daase hat der Skepsis in Anlehnung an den Friedensnobelpreisträger Alfonso Garcia Robles die These entgegengestellt, dass kernwaffenfreie Zonen viel stärker nach außen als nach innen wirken. Auf Südostasien bezogen bedeutet das, dass „den Kernwaffenstaaten immer weniger Raum zugestanden wird, mit ihren Nuklearwaffen zu hantieren.“139 Auch wenn bisher kein Kernwaffenstaat das Protokoll unterzeichnet hat, würde eine exklusiv rechtspositivistische Interpretation die normative Bedeutung der KWFZ und die Rolle einer allgemeineren Verbotsnorm, des nuklearen Tabus, unberücksichtigt lassen. Es ist gerade die regionale Spezifizierung und Ausformulierung, die das Einsatzund Drohungsverbot von und mit Kernwaffen konkretisiert. Die Skepsis der unter Artikel IX des NVV definierten Nuklearmächte bezüglich der SEANWFZ ist auf konkrete Vorbehalte zurückzuführen, von denen die der USA und Chinas die bedeutsamsten sind und daher näher dargestellt und bewertet werden sollen.140 Ein für die USA und die ASEAN wesentlicher Streitpunkt war während des Kalten Krieges das Verhältnis der ASEAN-Staaten zu Vietnam, das, als die Schaffung einer Zone auf die Agenda rückte, nicht Mitglied der ASEAN war. Die sicherheitspolitischen Implikationen wären im Falle einer tatsächlichen Schaffung der Zone aus Sicht der USA und ihrer Verbündeten einseitig negativ gewesen.141 Vietnam als Nicht-Mitglied hätte – in der Theorie – sowjetische Kernwaffen stationieren können und wäre von allen potenziellen Beschränkungen befreit gewesen.142

136Vgl.

Daase (2000, S. 102). United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.c): Protocol to The Treaty on Southeast Asia Nuclear Weapon-Free Zone. 138Acharya and Boutin (1998, S. 225). 139Daase (2000, S. 105). So auch Kittel et al. (1991, S. 221). 140Trotz des tatsächlichen oder vermeintlichen Rückzugs der USA aus Institutionen der internationalen Ordnung sind die Positionierung und das Verhalten Washingtons immer noch (mit)bestimmend für andere Akteure. Daher ist ein USA-zentrierter Fokus eine vertretbare Perspektive. Vgl. Schaper (2019, S. 18). 141Feske (2000, S. 139). 142Ebd. 137Vgl.

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[T]he USA strongly opposed the idea [of a nuclear weapons free zone, J.H.], arguing that it would restrict its military deployments in the region. Since the proposed zone was unlikely to be accepted by Vietnam, which was at that time ASEAN’s principal adversary, it would not constrain the ability of Vietnam’s principal ally, the Soviet Union, from stationing nuclear forces in Vietnam. As such, a nuclear-weapon free zone in Southeast Asia would undermine the US nuclear deterrence posture, without imposing similar constraints on the USSR.143

ASEAN Mitglieder wie die Philippinen, Singapur und Thailand befürchteten aufgrund der Opposition der USA in Bezug auf eine kernwaffenfreie Zone in Südostasien, dass ein „Übergehen“ Washingtons das Verhältnis zu den USA negativ beeinträchtigt hätte.144 Seit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Beitritt Vietnams zur ASEAN ist dieser Spannungspunkt hinfällig geworden und spielt für den weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Ein gegenwärtig weitaus wirkmächtigerer Streitpunkt ist die Frage des Vertragsgebietes und der damit verbundenen Implikationen für die Navigation seegestützter Kernwaffen und nuklear betriebener Systeme sowie nuklearstrategischer Bomber. Auch Fragen strategischer Flexibilität spielen hier eine Rolle. Anders als die Verträge von Rarotonga (Südpazifik) oder Pelindaba (Afrika), umschließt Artikel 2 des Bangkok-Vertrages nicht nur die 12 Seemeilen (SM) umfassenden Hoheitsgewässer, sondern auch die sich auf 200 SM erstreckenden exklusiven Wirtschaftszonen (EWZ/EEZ) bzw. die auf 350 SM ausdehnbare Kontinentalschelfzone.145 Es sind vor allem zwei Punkte, die es für Kernwaffenstaaten, allen voran die USA und China, inakzeptabel machen, das Protokoll zum jetzigen Stand zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Für die USA haben die Freiheit der Navigation und die Flexibilität der nuklearen Waffensysteme hohe Priorität. Die Durchfahrt von strategischen Nuklear-U-Booten (SSBN) und mit Kernenergie betriebenen Schiffen (Flugzeugträger, U-Boote), etwa im Kontext nuklearen Signalisierens und coercive diplomacy, oder sogar der Einsatz von Kernwaffen aus der Zone heraus wären, so die Befürchtung, mit der Zone nicht vereinbar.146 Der Vorwurf richtet sich an eine allzu politische-

143Acharya

and Boutin (1998, S. 220).

144Ebd. 145Vgl. United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.b.): Treaty on the Southeast Asia Nuclear Weapon-Free Zone [Artikel 2]. 146Vgl. Feske (2000, S. 144); Goldblat (2000, S. 45).

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juristische Auslegung (Ausübung von Souveränität; Verbote; Rechtsanwendung) der wirtschaftlich gedachten EEZ.147 Ein zusätzlicher Gesichtspunkt, der für die USA problematisch ist, sind die in dem Bangkok-Vertrag klar formulierten negativen Sicherheitsgarantien (negative security assurances, NSA).148 Die Vereinigten Staaten bevorzugen ein überarbeitetes Protokoll, das ihren Bedenken Rechnung trägt.149 Bei einer negativen Sicherheitsgarantie versichert ein Kernwaffenstaat einem Nichtkernwaffenstaat diesen nicht mit nuklearen Waffen anzugreifen oder den Angriff anzudrohen. Diese NSA sind in Artikel 2 des Protokolls explizit aufgenommen: „Each State Party undertakes not to use or threaten to use nuclear weapons against any State Party to the Treaty. It further undertakes not to use or threaten to use nuclear weapons within the Southeast Asia Nuclear Weapon-Free Zone.“150 Der ablehnenden Haltung Chinas liegt ebenfalls die Argumentation zugrunde, die Freiheit der Navigation werde durch die SEANWFZ untergraben. China befindet sich in einem quantitativen und qualitativen Aufrüstungsprozess, der auch seegestützte Systeme umfasst. Vor allem Chinas ballistische Raketen (JULANG 2), die sich auf nuklearbetriebenen U-Booten der JIN-Klasse befinden und nuklear-betriebene Schiffe wie Flugzeugträger, wären davon betroffen.151 Die Überzeugungskraft dieser Argumentation ist jedoch fraglich, da der Vertragstext auf keine expliziten Einschränkungen hindeutet, denn Artikel 2 des Bangkok-Vertrages macht auch deutlich, dass [n]othing in this Treaty shall prejudice the rights or the exercise of these rights by any State under the provisions of the United Nations Convention on the Law of the Sea of 1982, in particular with regard to freedom of the high seas, rights of innocent passage, archipelagic sea lanes passage or transit passage of ships and aircraft, and consistent with the Charter of the United Nations.152

147Acharya

and Boutin (1998, S. 226). Ebd. 149Vgl. United States Delegation to the Conference on Disarmament (2015, S. 2). China hat hingegen immer wieder erklärt, dass es keine Kernwaffen gegen jene Staaten einsetzen wird, die Mitglieder einer kernwaffenfreien Zone sind. Vgl. Heinrich (2017, S. 239). 150Vgl. United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.c). 151Kristensen und Norris (2016). 152United Nations Office of Disarmament Affairs (o. J.b). 148Vgl.

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In Artikel 7 des Vertrages heißt es zu Möglichkeiten der freien Navigation und von Hafenbesuchen: Each State Party, on being notified, may decide for itself whether to allow visits by foreign ships and aircraft to its ports and airfields, transit of its airspace by foreign aircraft, and navigation by foreign ships through its territorial sea or archipelagic waters and overflight of foreign aircraft above those waters in a manner not governed by the rights of innocent passage, archipelagic sea lanes passage or transit passage.153

Der explizite Bezug auf das Seerechtsübereinkommen, das von den USA ohnehin nicht anerkannt wird, relativiert die Befürchtungen der Einschränkungen weiter. Die Seerechtskonvention verbietet „not really (…) a foreign country’s SSBN from travelling through the coastal country’s territorial water.“154 Artikel 22 (Abs. 2) des Übereinkommens bezieht sich explizit auf die „innocent passage“ und schränkt das Recht zur freien Durchfahrt dann teilweise ein, wenn etwa die Sicherheit (safety) die Benutzung spezieller Fahrrouten notwendig macht.155 Artikel 23 erkennt die freie Durchfahrt ebenfalls an, verlangt aber Schutzvorkehrungen und Transparenz. Foreign nuclear-powered ships and ships carrying nuclear or other inherently dangerous or noxious substances shall, when exercising the right of innocent passage through the territorial sea, carry documents and observe special precautionary measures established for such ships by international agreements. 156

Einzig eine Politik der Geheimhaltung über Schiffsantrieb und Ladung dürfte so mit dem Vertragstext unvereinbar sein.157 Die Argumentation der Kernwaffenstaaten wäre folglich nur dann nachvollziehbar, wenn ihre Durchfahrt nicht von der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UNCLOS) gedeckt und somit abhängig von den Vertragsstaaten wäre – und selbst unter diesen Bedingungen wären port calls und Durchfahrten gemäß Bangkok-Vertrag nicht ausgeschlossen.

153Ebd. 154Tong

(2017). Nations (1982, S. 32). 156Ebd.; Vgl. auch Prawitz (2000, S. 82). 157Feske (2000, S. 140). 155United

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Auch die Argumente hinsichtlich der negativen Sicherheitsgarantien sind nicht gänzlich überzeugend und es stellt sich die Frage, inwieweit derartige Überlegungen noch Teil der Debatte in den USA sind. Die Obama-Administration war zwar nicht bereit, vollkommen auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu verzichten und eine „sole purpose“158 Politik zu verfolgen, aber machte in dem Nuclear Posture Review Report aus dem Jahr 2010 klar, dass „the United States will not use or threaten to use nuclear weapons against non-nuclear weapons states that are party to the Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT) and in compliance with their nuclear non-proliferation obligations.“159 Die in dem Dokument genannten Kriterien der NVV-Mitgliedschaft und der Vertragseinhaltung (compliance) treffen auf alle südostasiatischen Länder zu – trotz einiger Bedenken, die es im Zusammenhang mit Myanmar gegeben hat. Auch wenn sowohl bei Obamas Nuclear Posture Review als auch bei dem entsprechenden Papier der Trump-Regierung jedes Bekenntnis zu negativen Sicherheitsgarantien expressis verbis fehlt und sich viele Ausnahmen und Einschränkungen aufzeigen lassen, so ist doch anzunehmen, dass eine Konfliktsituation, in der die USA sich durch eine negative Sicherheitsgarantie mit Blick auf Südostasien eingeschränkt sähen, äußerst abstrakt ist und nur dann plausibel würde, wenn ein Nuklearwaffeneinsatz gegen Systeme einer anderen Atommacht (z. B. U-Boote) in dem Zonengebiet infrage käme160 oder aber die USA aus dem Zonengebiet heraus einen Angriff durchführen wollten.161 Ein weiterer Faktor, der vor allem die chinesische Position maßgeblich mitbestimmt, sind die territorialen Ansprüchen Chinas, die sich mit denen einiger südostasiatischer Staaten überschneiden. Aus chinesischer Perspektive ist die geographische Ausdehnung der Zone bis zu 350 Seemeilen unvereinbar mit den eigenen Gebietsansprüchen über die die Regierung in Peking Souveränität ausüben will.162 Eine Ratifizierung des Protokolls würde aus Sicht Chinas implizit eine

158The

White House (2010b, S. 16). S. 15. 160Tong (2017). 161Ebd. Auch dieses Szenario ist aufgrund der hohen Flexibilität von Atom-U-Booten und der Reichweiten ballistischer Raketen fraglich, da der Abschuss auch einfach von einem, außerhalb der Zone liegenden Punkt erfolgen könnte. Zur weiteren Kritik an dem Argument vgl. Tong (2017). 162Vgl. Goldblat (2000, S. 46). 159Ebd.,

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Aufgabe der Gebietsansprüche bedeuten, weil das Territorium im Kontext des Vertrages (Artikel 1 [Use of Terms]) als Teil Südostasien anerkannt werden würde.163 Um dennoch die Ratifizierung durch die Kernaffenstaaten zu erreichen, sucht die ASEAN Konsultationen mit den Nuklearmächten und stößt verschiedene diplomatische Initiativen an. Positive Entwicklung gab es bereits im Jahr 2011.164 Allerdings zeigte sich kurze Zeit später, dass die Bedingungen für die Unterzeichnung des Protokolls durch die Kernwaffenstaaten zum damaligen Zeitpunkt nicht gegeben waren.165 2013 wurde ein Plan of Action (PoA) zur Implementierung der kernwaffenfreien Zone in Südostasien verabschiedet. Der PoA, der eine Laufzeit von 2013–2017 hatte, war jedoch wenig spezifisch bei der konkreten Ausgestaltung der Schritte. Unter Punkt zwei („Protocol to the Treaty on the SEANWF“) heißt es unverbindlich: „Continue consultations with the Nuclear Weapon States.“166 In den Kontext der Bemühungen ordnet sich auch das informelle Engagement einzelner ASEAN-Staaten wie Indonesien ein,167 dem es allerdings bisher auch nicht möglich war, die Positionen der offiziellen Kernwaffenstaaten substanziell zu beeinflussen. Der im August 2017 angenommene Nachfolgeplan (2018–2022) ruft alle Staaten dazu auf, jenen Vertragswerken und Abkommen beizutreten und an ihnen mitzuwirken, die der Stärkung der SEANWFZ dienen. Bei dem Aspekt, der für die kernwaffenfreie Zone jedoch die größte Relevanz besitzt, die Anerkennung durch die Kernwaffenstaaten, verweist der aktuell gültige Plan genauso wie das Vorgängerdokument lediglich auf die Weiterführung der Konsultationen.168 China ist zurzeit die offizielle Atommacht, deren Bereitschaft das Protokoll zu unterzeichnen, am weitesten zu reichen scheint. Peking signalisierte 2017 während eines Vorbereitungstreffens (PrepCom) zur Überprüfungskonferenz des NVV (RevCon) die Bereitschaft, das Protokoll zum Vertrag in seiner aktuellen Version zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die chinesische Delegation bekräftigte, dass China has resolved all pending issues with ASEAN countries regarding the Protocol to the Treaty on the Southeast Asia Nuclear-Weapon-Free Zone. The key issue now

163Tong

(2017). Ministry of Foreign Affairs of Japan (2011). 165Xinhua (2012). 166Association of Southeast Asian Nations (2013, S. 2). 167Vgl. Djalal (2011, S. 6). 168Commission for the Southeast Asia Nuclear Weapon-Free Zone (2017, S. 2).

164Vgl.

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rests is that based on the agreement between the five nuclear-weapon states and ASEAN countries in 2011, the ASEAN countries should first sign a joint statement to confirm the Protocol, and then sign with China a relevant MOU as soon as possible. On the above basis, if the ASEAN countries all agree to sign the Protocol with five nuclear weapon states separately, China is ready to be the first to sign.169

Da es aber auch unter den ASEAN-Mitgliedern als unwahrscheinlich galt, dass mit dem Auslaufen des Plan of Action im Jahr 2017 alle Kernwaffenstaaten das Protokoll unterzeichnet haben würden, erklärten sich die ASEAN-Staaten in dem Dokument ASEAN 2025 dazu bereit, ihre Anstrengungen zu intensivieren und „to resolve all outstanding issues in accordance with the objectives and principles of the SEANWFZ Treaty pertaining to the signing and ratifying of the Protocol to that Treaty at the earliest (…).“170

3.3 Der nukleare Verbotsvertrag Der Vertrag über das Verbot von Kernwaffen, der im Juli 2017 von der UN Generalversammlung angenommen und im September zur Unterschrift freigegeben wurde, sieht in Artikel I vor, dass kein Vertragsstaat „[d]evelop, test, produce, manufacture, otherwise acquire, possess or stockpile nuclear weapons or other nuclear explosive devices (…).“171 Neben dem Verbot der Herstellung und des Produzierens dürfen auch keine Kernwaffen von anderen Staaten an eine Vertragspartei überantwortet werden. Der Vertrag verlangt darüber hinaus Abrüstungsschritte von allen Staaten, die über Kernwaffen verfügen. [E]ach State Party that owns, possesses or controls nuclear weapons or other nuclear explosive devices shall immediately remove them from operational status, and destroy them as soon as possible but not later than a deadline to be determined by the first meeting of States Parties, in accordance with a legally binding, timebound plan for the verified and irreversible elimination of that State Party’s nuclear-

169Chinese Delegation at the First Session of the Preparatory Commission for the 2020 NPT Review Conference on Nuclear-Weapon-Free Zones and Nuclear Issues in the Middle East (2017, S. 2). 170ASEAN Secretariat 2015, S. 44. Vgl. auch Delegation of the Republic Indonesia (2019, S. 2). 171Vgl. United Nations (2017, S. 3).

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weapon programme, including the elimination or irreversible conversion of all nuclear-weapons-related facilities.172

Der Einsatz und die Drohung eines Kernwaffeneinsatzes gegen einen Nicht-Kernwaffenstaat werden in dem Vertrag ebenfalls untersagt (Artikel 1, Absatz d).173 Der Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (ban treaty) wird von allen Kernwaffenstaaten und ihren Verbündeten abgelehnt und dafür kritisiert, dass er den stufenweisen Ansatz zur Abrüstung untergräbt. Die zumindest rhetorisch der nuklearen Abrüstung positiv gegenüber stehende Obama-Administration sah den Vertrag als „polarisierenden Weg“ an, „der die bewährten Prinzipien der nuklearen Abrüstung, wie Überprüfbarkeit, aufgibt.“174 Auch die Bundesregierung äußerte sich skeptisch gegenüber dem Verbotsvertrag, da dieser, so der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth „den Nichtverbreitungsvertrag in seiner zentralen Rolle untergräbt.“175 Während die Kernwaffenstaaten ihre Skepsis teilen und dem Vertrag fernbleiben (was auch für die NATO-Staaten und Länder wie Schweden und Finnland gilt176), ist der Verbotsvertrag in Südostasien kaum umstritten, dennoch gibt es eine gewisse Dreiteilung. Bis auf Singapur haben alle ASEAN-Staaten den Vertrag unterzeichnet (Stand Juni 2019).177 Malaysias, das den ban am 30. September 2020 ratifiziert hat, ist hier besonders hervorzuheben, da das Land 2007 zusammen mit Costa Rica eine Kernwaffenkonvention – auf Basis eines Entwurfs von 1997 – vorgelegt hat.178 Neben Malaysia sind Laos, Thailand und Vietnam die einzigen ASEAN-Staaten, die bisher eine Ratifizierung des Vertrages vorgenommen haben.179 Aus der fehlenden Unterzeichnung bzw. Ratifizierung der anderen Staaten lässt sich jedoch keine generelle Ablehnung des Vertragswerkes ableiten. Alle ASEAN-Mitglieder haben an den Verhandlungen zum ban treaty 172Ebd.,

S. 5. Die Formulierung bezieht sich allerdings nicht exklusiv auf Nicht-Kernwaffenstaaten, sondern schließt die generelle Drohung eines Einsatzes bzw. einen Einsatz aus. 174Delegation of the United States (2016, S. 2). Eigene Übersetzung. 175Roth (2017). 176Bei den Positionen einiger NATO-Staaten sowie Schwedens und Finnlands darf jedoch eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Vertrag bezweifelt werden. Hier dürften auch allianzpolitische Erwägungen eine zentrale Rolle spielen. Der damalige US-Verteidigungsminister James Mattis äußerte zudem eine Drohung gegenüber Schweden sollte das Land dem Verbotsvertrag beitreten. Vgl. Mehta (2017). 177Vgl. International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (2020a). 178Vgl. United Nations General Assembly (2008). 179Vgl. International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (2020b). 173Ebd.

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teilgenommen und nur Singapur enthielt sich während der Abstimmung über die Annahme des Vertrages am 7. Juli 2017 der Stimme. Singapurs Enthaltung ist auf Bedenken zurückzuführen, der Verbotsvertrag könnte in einer gewissen Weise die „Rechte und Verpflichtungen von Parteien berühren, die diese unter anderen Verträgen haben.“180 John Khoo, First Secretary der Ständigen Vertretung Singapurs bei den UN, erklärte nach der Annahme des Verbotsvertrages, dass „[i] nclusive dialogue, renewed international cooperation, and practical measures for irreversible, verifiable and universal nuclear disarmament (…)“181 essenziell seien. Gleichzeitig hat der Stadtstaat die besondere Bedeutung des NVV hervorgehoben,182 was der Position der Verbotskritiker nahekommt, die ein Untergraben des NVV durch einen Verbotsvertrag fürchten. Neben den Verhandlungen zum Verbotsvertrag haben alle zehn ASEANStaaten die Humanitäre Initiative unterstützt. Diese Initiative, die als Wegbereiterin für den Verbotsvertrag gelten kann, zielte darauf ab, die „legal gap“, also das noch ausstehende Verbot dieser Kategorie von Massenvernichtungswaffen, zu schließen.183 Insgesamt kam es im Zusammenhang mit der Initiative zu drei Konferenzen (2013 in Oslo, 2014 in Nayarit und 2015 in Wien). Die Unterstützung durch die ASEAN-Staaten wurde 2016 vom Repräsentanten Myanmars bei den Vereinten Nationen, Hau Do Suan, im Namen der ASEAN bekräftigt, in dem hervorgehoben wurde, dass der Staatenverbund supports the substantive discussions on the humanitarian consequences of nuclear weapons since it provides a comprehensive understanding of the catastrophic effects of nuclear weapons, both on humanity and the environment.184

Außerdem wird von fast allen ASEAN-Mitgliedern der humanitarian pledge und die UN-Resolution 70/48 befürwortet und unterstützt.185 Die Resolution ermahnt alle

180Permanent

Mission of Singapore to the United Nations (2017). Eigene Übersetzung.

181Ebd. 182Ebd. 183Nötzold

(2018, S. 358). Mission of the Republic of the Union of Myanmar to the United Nations (2016, S. 4). Auch hier zeigt sich ein weiter gefasstes Sicherheitsverständnis, das schon früher in ASEAN Dokumenten zu beobachten war. 185Laos und Myanmar unterstützen die Humanitäre Verpflichtung nicht offiziell, haben aber ihre Unterstützung für die Konferenzen zu den humanitären Folgen bekundet und an diesen teilgenommen. Vgl. Khitchadeth (2014); Delegation of Myanmar to the United Nations (2014). 184Permanent

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Kernwaffenstaaten dazu, ihre Arsenale abzurüsten und zu eliminieren. Ferner sollen Kernwaffen durch alle „stakeholder“ stigmatisiert werden, um letztlich das Tabu ihres Besitzes zu stärken.

4 Schlussbetrachtungen: Südostasien in der globalen Nuklearordnung – mehr als eine kernwaffenfreie Zone? Gehen Engagement, Initiativen und Aktivitäten der ASEAN-Mitglieder über die mittlerweile mehr als 20 Jahre zurückliegende Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Südostasien hinaus? Die Frage kann mit einem klaren ja beantwortet werden, dem allerdings ein genauso klares aber folgen muss. Die südostasiatischen Staaten haben bereits vor der Unterzeichnung und Ratifizierung des Bangkok-Vertrages gezeigt, dass sie sich in die globale und auf Verträge und Institutionen basierende Nuklearordnung eingliedern wollen. Alle ASEANStaaten sind vor dem in Kraft treten des Bangkok Treaty dem NVV beigetreten. Dem zweiten, auf Universalität abzielenden Vertrag, dem bereits Mitte der 1990er Jahre ausgehandelten Atomteststoppvertrag, gehören mittlerweile alle Länder der ASEAN an bzw. ratifizierten diesen. Dass es sich dabei nicht um einen für den Vertrag unbedeutenden Umstand handelt, sondern – im Gegenteil – für den CTBT eine besondere Relevanz besitzt, liegt daran, dass die Ratifizierungen Vietnams und Indonesiens für das Inkrafttreten des Abkommens notwendig sind. Beide gelten als Annex-2-Staaten. Zusätzlich zu den beiden Verträgen engagieren sich bis auf Laos und Kambodscha alle ASEAN-Staaten direkt oder indirekt in der Genfer Abrüstungskonferenz. Während jedoch die Mitgliedschaften im NVV und CTBT innerhalb der ASEAN kein kontroverses Thema sind, lassen sich Unterschiede bei den in der Abrüstungskonferenz geführten (aber zurzeit blockierten) Gesprächen zur Spaltmaterialproduktion aufzeigen, wobei Indonesien – zumindest rhetorisch – der Blockadehaltung Pakistans nahesteht. Ob es sich dabei um substanziell unterschiedliche Auffassungen handelt, kann gegenwärtig nicht mit Gewissheit bestimmt werden. Sollten sich Fortschritte innerhalb und außerhalb der Abrüstungskonferenz einstellen und das Thema Spaltmaterial wieder auf die Agenda kommen, sollte der Blick auf Indonesien gerichtet werden. Neben den formellen und vertragsbasierten Elementen der globalen Nuklearordnung haben sich bereits in den 1970er Jahren informellere und weniger verbindliche Praktiken, Institutionen und Regime herausgebildet, die bis heute

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einen deutlichen Schwerpunkt auf Nichtverbreitung mittels Exportkontrolle und Harmonisierung von Ausfuhrbestimmungen legen. Für diese informelleren Ansätze spielen – und das ist das klare aber – die einzelnen ASEAN-Staaten und der Staatenverbund als Ganzes eine untergeordnete Rolle, da eine exportfähige rüstungs- und nukleartechnologische Infrastruktur, die ein Engagement entscheidend machen würde, fehlt. Sollte sich jedoch etwas an der gegenwärtigen Rüstungsbeschaffung in Südostasien ändern und die Region sich – warum auch immer – hin zu einem klassischen Rüstungswettlauf bewegen, wäre eine stärkere Einbindung in Exportregime wichtig. Außerdem wäre unter den Bedingungen der Aufrüstung die Befolgung des HCoC durch weitere ASEAN-Staaten zentral, da der HCoC der Vertrauensbildung durch Informationen und Transparenz dient. Bei den aus politischer und rechtlicher Sicht nicht unumstrittenen Entwicklungen in der Nichtverbreitungspolitik – der UN-Resolution 1540 und vor allem der Proliferation Security Initiative – ist nicht von einer einheitlichen Position der ASEAN-Mitglieder zu sprechen. So lehnt etwa Indonesien (bisher) jede Kooperation ab, während Singapur als aktives Mitglied sogar „host nation“ für drei PSI Übungen war. Für PSI und UNSCR 1540 gilt, dass die Staaten der ASEAN hier – wenn überhaupt – den Initiativen anderer Länder gefolgt sind. Mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen innerhalb der Nuklearordnung – dem nuklearen Verbotsvertrag und den verschiedenen, auf die menschlichen Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes abzielenden Konferenzen – stellt sich die Position der ASEAN-Staaten in der konkreten Ausgestaltung differenziert dar, gleichzeitig kann aber eine gewisse Deckungsgleichheit unterstellt werden. Als einzige südostasiatische Länder haben zwar bisher nur Laos, Malaysia, ­Thailand und Vietnam den Vertrag ratifiziert, aber die Unterzeichnung durch Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Myanmar, und den Philippinen zeigt die grundsätzliche Bereitschaft, ein verbindliches Atomwaffenverbot anzuerkennen und zu unterstützen. Singapurs Enthaltung in den UN dürfte nicht auf die Ablehnung der generellen Zielsetzung (nukleare Abrüstung) zurückzuführen sein, sondern mit der Befürchtung eines Untergrabens des NVV zusammenhängen. Das Herzstück und der mit Abstand zentralste Beitrag der Mitglieder der ASEAN für die globale Nuklearordnung ist die regional definierte kernwaffenfreie Zone in Südostasien. Die Zone, die erst 2001 mit dem Beitritt der Philippinen zum Vertrag von Bangkok umfassend etabliert wurde, wird – anders als zur Zeit des Kalten Krieges – heute von allen ASEAN-Staaten akzeptiert und unterstützt. Die KWFZ hat eine Nichtverbreitungsfunktion nach innen, wobei sie aber auch ökologische Aspekte der Sicherheit mit aufnimmt. Nach außen ist sie

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als Instrument der Tabuisierung des Kernwaffeneinsatzes bzw. der Einschränkung der „nuklearen Handlungsfreiheit“ der Atommächte zu bewerten. Es konnte gezeigt werden, dass die ASEAN-Staaten über den Vertrag von Bangkok hinaus aktiv sind, auch wenn die Aktivitäten unterschiedlich zu gewichten sind und sich bei aktuelleren Entwicklungen immer wieder Differenzen und eine „Vielstimmigkeit“ nachweisen lassen. Der Einfluss einzelner Staaten oder des Staatenverbundes insgesamt sollte daher nicht überschätz werden. Zu gering sind die direkten Einflussmöglichkeiten auf die Nuklearordnung, zu gewichtig die Positionen anderer Staaten. Es lassen sich dennoch zwei Bereiche identifizieren, in denen die ASEAN-Staaten ihr Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft haben. Die Verwirklichung dieses Potenzials könnte die skeptische Einschätzung des Aufsatzes für die Zukunft relativieren. Ein erster Bereich ist die Heranführung von Staaten, die bisher außerhalb von Entwicklungen wie PSI stehen. Ein solches Vorgehen könnten die bereits aktiven und eingebundenen Länder, wie etwa Singapur aber auch Malaysia, mit konkreten Forderungen nach einer Neugestaltung (mehr Formalität und Rechtssicherheit) der gegenwärtig rechtlich und politisch kontroversen Strukturen verbinden. Aufgrund ihrer Bedeutung als Umschlagplätze (Malaysia) und als Mitglieder der OEG (Singapur) haben diese Staaten ein potenzielles Gewicht, das sie zur Weiterentwicklung solcher ad-hoc Ansätze nutzen könnten. Ein zweiter Bereich ist die Forcierung der Ratifizierung des Protokolls des Bangkok-Vertrages durch die Nuklearmächte. Ohne hier einen Fahrplan zu erstellen, sollte das Verhandlungs- und Beeinflussungspotenzial mit Blick auf die KWS evaluiert werden. Es ist hier nicht zwingend notwendig, eine gleichzeitige Ratifizierung aller KWS zu erreichen. Ein gradueller Ansatz wäre möglich und eventuell vielversprechender.186 Ob die ASEAN als Staatenverbund aktiv wird oder einzelne Mitglieder als „lead nations“ fungieren, wäre hier zweitrangig. Als Konsequenz könnte dann jedoch eine deutlichere Antwort auf die Frage gegeben werden, ob Südostasiens Beitrag tatsächlich mehr ist als die kernwaffenfreie Zone ist.

186Tong 2017. Tong argumentiert, dass es mit dem Verbotsvertrag für einzelne Kernwaffenstaaten schwieriger geworden sei, das Protokoll zum Bangkok-Vertrag zu unterzeichnen, weil diese Staaten an einer einheitlichen Position interessiert seien. Plausibel ist aber auch die Annahme, dass gerade eine Unterzeichnung des Protokolls Druck von den KWS nehmen könnte, dem Verbotsvertrag beizutreten.

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Südostasien in der globalen Nuklearordnung: Mehr als nur eine ...

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Dr. Jens Heinrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit des Instituts für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. Er studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Greifswald und Friedens- und Konfliktforschung in Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Abrüstung und Rüstungskontrolle, Theorien der Internationalen Beziehungen und Friedensforschung. Zu Dr. Heinrichs Publikationen zählt u.a. Rüstung und Rüstungskontrolle in Asien. Zum Stabilisierungspotenzial einer sicherheitspolitischen Strategie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017.

Die EU-Unterstützung der ASEAN im Bereich der regionalen Sicherheit Südostasiens Naila Maier-Knapp 1 Einleitung Durch die diversen grenzüberschreitenden Krisen der letzten Jahre stand die Europäische Union (EU) als politische Organisation auf den Prüfstand und bedurfte sowohl institutioneller Änderungen als auch Neuerungen, um sich für künftige Krisen zu wappnen. Vor allem die Auswirkungen vergangener Krisen auf die politische Einheit Europas haben die bisherige Integration der EU teilweise infrage gestellt.1 Obgleich institutionelle Anpassungen, Änderungen und Erneuerungen zum gängigen Kreislauf von Institutionen gehören,2 haben die Krisen- und Sicherheitsdiskurse in den europäischen Haupt-

1Unter

anderem haben diverse Wissenschaftler die Krisen als einen Lackmustest für bisherige Theorien Europäischer Integration betrachtet, um theoretische Versäumnisse aufzudecken oder neue Ansätze und Sichtweisen zu etablieren. So haben Douglas Webber und Frank Schimmelfennig einen theoretischen Rundumschlag verfolgt, wohingegen andere nur einzelne theoretische Aspekte beleuchteten, die durch die Krisen hervorgehoben wurden. Zum Beispiel haben Simon Bulmer und Jonathan Joseph versucht, eine neue Sichtweise einzuführen, die sie als kritische Integrationstheorie bezeichnen. Diese postuliert, dass neuere Theorieansätze zwar vom Elitenfokus abrücken müssen, gleichzeitig aber noch die hegemonialen Narrative berücksichtigen sollen. 2Zum Beispiel gehören „The Uncertainty of the Past: organizational learning under ambiguity“, „The Institutional Dynamics of International Political Orders“ und „Rediscovering Institutions“ von James March und Johan Olsen zu den elementaren N. Maier-Knapp (*)  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_7

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städten in jüngster Zeit den Eindruck erweckt, dass die gegenwärtige Politik und institutionelle Integration der EU einer Dringlichkeitslogik folgen und als institutioneller Aktivismus betrachtet werden können. Die Flüchtlingskrise und die terroristischen Anschläge der vergangenen Jahre haben besonders dazu beigetragen und die öffentliche Diskussion über innerer und äußerer Sicherheit vorangetrieben. In diesem Zusammenhang hat auch die Idee der EU als Sicherheitsunion wieder Eingang in den Aussagen und Reden der EU-Offiziellen gefunden.3 Diese Krisen haben aber nicht nur intra-regionale Fragen bezüglich der (sicherheits-)politischen und institutionellen Richtung des europäischen Integrationsprojekts aufgeworfen. Auch auf extra-regionaler Ebene fragt man sich, welche Auswirkungen die krisenbedingten Entwicklungen in Europa auf die internationale Kooperationsstrukturen mit der EU haben werden. Einerseits sind die internationalen Partner um die Auswirkungen der Krisen auf die Handelsbeziehungen und die technische Zusammenarbeit mit der EU bedacht. Andererseits können sie auch Lehren und Rückschlüsse aus den Krisenerfahrungen der EU für ihre eigenen regionalen Integrationsprojekte ziehen. Für die Mitgliedsstaaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) ist die EU von besonderer Bedeutung. Sie ist zugleich Inspiration und unerlässlicher Förderer der institutionellen Integration der ASEAN und unterstützt somit auch die Stabilität in der Region.4 Angesichts dieses Stellenwerts der EU für das ASEAN-Sekretariat und die ASEAN-Staaten fragen sich diese vor dem Hintergrund gegenwärtiger Krisen und Sicherheitsdiskurse in der EU, inwieweit die sicherheitsorientierten institutionellen Entwicklungen und Debatten in Europa die Unterstützung des Integrationsprojekts in Südostasien beeinträchtigen werden.5

Werken für das Verständnis von institutionellen Prozessen in den Internationalen Beziehungen. „International Norm Dynamics and Political Change“ von Martha Finnemore und Kathryn Sikkink lässt sich hier auch empfehlen, wenn man Institutionen in einem erweiterten Sinn betrachtet. 3Prominentester Vertreter dieser Rhetorik war der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, der nach den Terroranschlägen im Jahr 2016 des Öfteren Bezug auf die Entwicklung der EU als eine Sicherheitsunion genommen hatte. Siehe zum Beispiel seine Presseerklärung am 23. März 2016, einen Tag nach dem Anschlag in Brüssel, und die Rede am 12. April 2016 im Europäischen Parlament. 4Jetschke und Portela 2012, S. 2. 5Aus akademischer Sicht ist diese Frage vor allem normativ im Zusammenhang mit der Idee von institutioneller Befriedung und Sicherheit zu sehen, da in Südostasien seit Ende der 1990er Jahre das Verständnis von Sicherheit sich gewandelt hat und zunehmend auf Regionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse gesetzt wird.

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Zur Beantwortung dieser Frage stellen die nachfolgenden Ausführungen den derzeitigen effektiven Handlungsraum die EU als supranationalen Akteur zur Förderung von regionaler Sicherheit der ASEAN in den Fokus. Zwei Vorgehensweisen der EU sind dabei von Bedeutung: Erstens die Förderung regionaler Integration und zweitens die Unterstützung des sicherheitspolitischen Dialogs im multilateralen Rahmen. Bei dieser Diskussion gilt generell, dass die Förderung von regionaler institutioneller Kapazität und Integration – unabhängig davon in welchen Sektoren sie stattfindet – einen positiven Einfluss auf die Stabilität und Kohärenz einer Regionalorganisation und ihrer Mitgliedsstaaten ausübt:6 Die Unterstützung regionaler Integration wirkt stets friedensstiftend und sicherheitsfördernd, da sie grundsätzlich den Dialog zwischen Akteuren voraussetzt und jedem Dialog in der Regel auch eine vertrauensbildende Funktion zukommt. Darüber hinaus postuliert dieses Kapitel, dass die EU gemäß eines umfassenden Sicherheitsbegriffes agiert. Dies bedeutet erstens, dass präventive und strukturelle Maßnahmen, die eher der Entwicklungspolitik zuzuordnen sind, zu berücksichtigen sind und zur regionalen Sicherheit beitragen. In den vergangenen Jahren sind in der EU intern größere Verlinkungen zwischen Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik entstanden und neue supranationale Akteure, wie der Europäische Auswärtige Dienst (EAD), geschaffen worden, um gezielt diese zwei Politikbereiche unter einem institutionellen Dach zu vereinigen.7 Diese neueren supranationalen Strukturen zeigen eine größere Sensibilität für internationale Sicherheit, die allerdings nicht immer inter-institutionell wirksam ist und in den Partnerländern der EU umgesetzt werden kann.8 Zweitens hat dieses umfangreiche Verständnis von Sicherheit bestimmte Auswirkungen auf die Akteursebene und setzt insbesondere eine integrierte Betrachtungsweise der relevanten EU Akteure voraus. Insofern liegt der analytische Schwerpunkt in der folgenden Diskussion auf der kollektiven Akteursfähigkeit der EU. Institutionelle Handlungsräume stehen in Beziehung zueinander und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, obwohl sie in der Diskussion einzeln angesprochen werden.9 Durch diese Annahmen 6Nicht

zuletzt seit Karl W. Deutsch 1957 das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft basierend auf Ansatz des Transaktionalismus etabliert hat, gilt diese Aussage als Grundannahme. 7Doidge and Holland 2012, S. 130. 8Youngs 2007, S. 4 und 7. 9Dieser Fokus beabsichtigt nicht die Leistung der EU Mitgliedsstaaten in Südostasien zu schmälern. Angesichts der limitierten Wortzahl verfolgt diese selektive Betrachtungsweise ausschließlich das Ziel, eine prägnante Analyser der EU als einen supranationalen Akteur zu erstellen.

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typisiert das Kapitel die EU, trotz Berücksichtigung ihrer wichtigen entwicklungspolitischen Kompetenzen, in erster Linie als einen „Sicherheits“Akteur in Südostasien. Dieser analytische Fokus ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund fortwährender Spannungen im Südchinesischen Meer und Rivalitäten zwischen den Großmächten in der Region sinnvoll. Die nachfolgenden Ausführungen beginnen mit einem Überblick der intraregionalen institutionellen Integrations-Dynamiken des ASEAN und der EU, um die größere auswärts- und sicherheitsorientierte Kapazität beider Regionalorganisationen aufzuzeigen. Die institutionellen Entwicklungen zeigen im Wesentlichen eine größere Kompatibilität und Korrespondenz der Kapazitäten beider Organisationen, die einen erweiterten EU-ASEAN interregionalen Handlungsraum einschließlich des sicherheitspolitischen Interaktionsraumes andeuten. Derzeitige systemische Gegebenheiten im asiatisch-pazifischen Raum sind förderlich für den Ausbau von regionalen Strukturen und werden deshalb im Anschluss zu der Diskussion der institutionellen Entwicklungen hervorgehoben. Trotz, oder gerade wegen, der derzeitigen Bedeutung des Bilateralismus der ASEAN-Staaten mit China und einer größeren Unsicherheit in den Beziehungen mit den Vereinigten Staaten,10 erscheint es möglich, dass der Bedarf nach Multilateralismus als komplementäre Stütze bilateraler Beziehungen wachsen könnte.11 Nach einer Darstellung des institutionellen und systemischen Kontexts erfolgt eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Dialogforen und Instrumenten der EU zur Förderung von regionaler Integration und Sicherheit der ASEAN. Zu denen in diesem Zusammenhang existierenden Problematiken gehören unter anderem die limitierte sicherheitspolitische Institutionalisierung der EU-ASEAN-Beziehungen, die Asymmetrie zwischen den tatsächlichen Sicherheitsbedrohungen vieler ASEAN-Staaten und der Sicherheitsagenda in den wichtigsten multilateralen Dialogforen, an denen die EU und die ASEAN teilnehmen, die Versicherheitlichung von EU-Entwicklungspolitik und mögliche Überschneidungen von nationalen und supranationalen Kompetenzen in der Praxis der EU-Außenpolitiken. Abschließend werden die wichtigsten Schlussfolgerungen für ein besseres Verständnis des Handlungsraums der EU als einem sogenannten supranationalen Sicherheitsakteur in Südostasien genannt.

10So

die Perzeption im Jahr 2017. (2017b).

11Maier-Knapp

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2 Wichtige Institutionelle Entwicklungen des ASEAN und der EU We engaged in productive and fruitful deliberations reflective of our commitment to renew the aspirations and the enduring values of the ASEAN “Founding Fathers, in adherence to the purposes and principles enshrined in the Bangkok Declaration which launched ASEAN in 1967 and the ASEAN Charter and to realize the six thematic priorities selected by the Philippines as ASEAN’s main deliverables for 2017, the 50th Anniversary of the establishment of ASEAN, namely: (a) A peopleoriented and people-centered ASEAN; (b) Peace and stability in the region; (c) Maritime security and cooperation; (d) Inclusive, innovation-led growth; (e) ASEAN’s resiliency; and (f) ASEAN:12 a model of regionalism, a global player.13

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des ASEAN wurde ein beeindruckendes Chairman’s Statement beim 30. Gipfeltreffen der ASEAN-Staaten präsentiert, welches die ASEAN sowohl als eine durch Stabilität, Sicherheit und Frieden charakterisierte geographische Region als auch als eine von rasanter institutioneller Entwicklung geprägte Regionalorganisation feierte. Kurzum – ein institutionelles Erfolgsmodell, das für sich die Rolle eines Leitbilds für den heutigen Regionalismus im globalen Süden beansprucht und, wie aus der obigen Passage hervorgeht, die ASEAN als globalen Akteur etablieren möchte. Die Sprache im Chairman’s Statement ist ehrgeizig und charakteristisch für die Politik des damaligen ASEAN-Vorsitzes, der Philippinen. Diese Ambitionen müssen allerdings noch den hohen Zielsetzungen gerecht werden. Nichtsdestotrotz hat die Regionalorganisation ASEAN in den vergangenen Dekaden durchaus eine bedeutende institutionelle Entwicklung vollzogen. Seit der Gründung der ASEAN am 8. August 1967 ist die institutionelle Entwicklung der Organisation vor allem mit der Verpflichtung zur Gründung einer ASEAN-Gemeinschaft in der Kuala-Lumpur-Deklaration von 1997 und in dem Bali Concord II von 2003 vorangetrieben worden. Das Vientiane Action Programm von 2004 bildete für diese Entwicklung eine weitere wichtige institutionelle Grundlage bis 2010. Mit der Ratifizierung des ASEAN Economic Community Blueprint im Jahr 2007 und der Veröffentlichung des ASEAN Political and Security Community Blueprint sowie des ASEAN Socio-Cultural Blueprint 2009 wurden diese Integrationsprozesse mit konkreteren Maßnahmen und Zielen für die drei Säulen der

12Hervorhebung

durch die Autorin, um die spezifische Wortwahl der ASEAN Staaten zu betonen. 13ASEAN Mitgliedsstaaten (2017), Para. 2

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Gemeinschaft tiefergehend definiert.14 Unter anderem wurden auch Strukturen und Instrumente für eine bessere Außenorientierung der ASEAN ausgearbeitet, welche die interregionale Zusammenarbeit mit der EU erleichtern können. Erhöhte institutionelle Korrespondenz und Kompatibilität des ASEAN mit der EU bedeuten zudem eine effektivere Absorption der Kapazitäten, die von der EU geteilt werden. Angesichts des enormen institutionellen Kraftakts der ASEAN-Staaten, welcher vor einigen Jahrzehnten undenkbar war, stand der 30. Gipfel somit ganz im Zeichen der Feierlichkeiten des 50-jährigen Bestehens der ASEAN und erklärt die ambitionierte Wortwahl der ASEAN als „model of regionalism“ und „global player“ im obigen Auszug. Einerseits dient diese Sprache dazu, sich selbst zu feiern und vermittelt Selbstbewusstsein, Stolz und Stärke, die nach innen gerichtet sind und ein Zeichen der Einigkeit und Geschlossenheit setzen möchte. Andererseits ist dieses Signal der Stärke auch nach außen gerichtet und versucht, Selbstvertrauen und Stabilität an die internationalen Partner, wie z. B. die EU, zu vermitteln. Hierbei fällt auf, dass die EU seit jeher die oben genannten Ambitionen unterstützt, da sie sich für eine starke und politisch kohärente ASEAN interessiert, welche eine globale Rolle im multilateralen Weltbild der EU einnehmen kann.15 Es ist insbesondere die Europäische Kommission, die dieses Bestreben der ASEAN durch finanzielle, aber auch durch technische Hilfe im Bereich der regionalen Integration aktiv unterstützt. Im neuen Finanzierungszyklus von 2014 bis 2020 verfügt die EU über ein Budget von 170 Mio. Euro, das ausschließlich zur Förderung der regionalen Integration der ASEAN und des ASEAN-Sekretariats vorgesehen ist.16 Diese Summe entspricht einer Erhöhung des vorangegangenen Budgetzyklus von 2007 bis 2013 um 100 Mio. Euro.17 14Diese

drei Blueprints sind mittlerweile mit dem Inkrafttreten der ASEAN-Gemeinschaft im Dezember 2015 ausgelaufen und wurden durch neue Blueprints ersetzt, die bis 2025 gelten. 15Darüber hinaus fällt noch auf, dass es eine Ähnlichkeit der Terminologie zwischen dem ASEAN und der EU gibt, obwohl in der Vergangenheit diese Wortwahl seitens der EU regelmäßig Vertretern Südostasiens missfiel. Vor allem Worte wie model, mimikry und emulation fanden sich die EU-Rhetorik wieder und riefen oft einen gewissen Grad an Ablehnung hervor. 16Europäische Kommission (2015). 17Im

Strategie-Dokument „Regional Programming for Asia 2007–2013“ wird die Summe von70 Millionen Euro nicht als solche genannt. Sie wird aber in den diversen Pressemitteilungen und Publikationen als ungefährer Wert aufgeführt. Zum Beispiel in der Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 19. Mai 2015, https://europa.eu/rapid/ press-release_IP-15-5000_de.htm.

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Diese deutliche Erhöhung der finanziellen Unterstützung ist vor allem ein Ergebnis der intensiven regionalen Integration der EU, die seit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 eine erhebliche institutionelle Entwicklung durchlebt und ihre supranationale Kompetenzen und Strukturen in der Außenpolitik erweitert hat. Speziell mit der Gründung und Konsolidierung des Europäischen Auswärtigen Dienstes verfügt die EU nun über größere Kapazitäten, um europäische Interessen im Ausland zu vertreten, und kann umgekehrt mit diesen Kapazitäten auch besser auf die Interessen und Gegebenheiten der Partnerländer und -organisationen eingehen. Zusätzlich zu den institutionellen Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon spielen die verschiedenen grenzüberschreitenden Krisen in der EU auch eine beachtliche Rolle in den gegenwärtigen Institutionalisierungs- und Reformprozessen. Vor allem die Flüchtlingskrise und die Serie terroristischer Anschläge haben rechtliche und institutionelle Veränderungen in der Migrations- und Sicherheitspolitik vorangetrieben, die zukünftig durchaus auch sicherheitspolitische Relevanz für die ASEAN Staaten und den interregionalen EU-ASEAN-Dialog besitzen könnten. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die ASEAN-Staaten angesichts ihres politisch-geographischen und normativen Kontextes, als auch mit Blick auf den Institutionalisierungsgrad ihrer Regionalorganisation, derzeit keine weitreichende interregionale Zusammenarbeit im sicherheitspolitischen Bereich mit der EU anstreben. Die EU selbst vertritt ebenfalls eine eher zurückhaltende Position in dieser Hinsicht. Zum einen ist diese Zurückhaltung durch die Kompetenzverteilung bestimmt. So ist die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, trotz der Neuerungen zugunsten der Europäischen Kommission, immer noch das Hoheitsfeld der Mitgliedsstaaten. Zum anderen ist Südostasien geographisch weit entfernt und damit auch strategisch zweitrangig für die EU18 und vor allem für ihre Mitgliedsstaaten.19 Die Einstufung von Südostasien als zweitrangige Thematik in der Außenpolitik der einzelnen EU-Staaten wurde durch die genannten Krisen sogar noch bekräftigt, welche erstens die politische Situation in der näheren Nachbarschaft noch stärker in den Fokus gerückt haben, zweitens das Hauptaugenmerk der nationalen Ministerien auf die sicherheitspolitische Koordination, den Kapazitätenaufbau und die intra-regionale Integration lenkten und drittens die EU und ihre Mitgliedsstaaten veranlasste, der Entwicklungspolitik gegenüber

18Gleichzeitig

gilt aber auch, dass durch die wirtschaftsökonomischen und entwicklungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Kommission die Stabilität und Sicherheit Südostasiens für sie von höherer Priorität ist als für die EU-Mitgliedsstaaten. 19Maier-Knapp 2010, S. 82.

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Afrika mehr Beachtung zu schenken. Dieses Narrativ bedeutet aber nicht, dass das europäische entwicklungspolitische Engagement in Südostasien abebbt. In der Tat deuten sowohl nationale als auch EU-Pläne auf eine Kontinuität hin. In der Region bleibt die Entwicklungszusammenarbeit mit europäischen Akteuren bedeutend, vor allem mit Blick auf Kambodscha, Laos und Myanmar.20 Zudem sind entwicklungspolitische Projekte zur Förderung der regionalen Integration der ASEAN von zunehmender Relevanz – wie die Erhöhung des oben genannten EU-Budgets für die Förderung der regionalen Integration der ASEAN zeigt – und haben angesichts der fortgeschrittenen institutionellen Entwicklung der EU einen unbestrittenen Mehrwert für Südostasien. Gleichzeitig muss dieser Mehrwert jedoch differenziert betrachtet werden, da auch die Vereinten Nationen und einzelne Nicht-EU-Staaten, wie vor allem Japan, die USA und Australien, die regionale Integration der ASEAN unterstützen.21 Diese Akteure stehen aber nicht nur im Wettbewerb mit der EU, sondern können bei der Implementierung von EU-Projekten eine wichtige Rolle spielen.22

3 Systemische Unsicherheit und die Rolle der USA Systemische Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum haben in jüngster Zeit zu einem erhöhten Grad an politischer Unsicherheit beigetragen. Zu erwähnen wäre z. B. der 12. Juli 2016 als ein wichtiges Datum für die ASEAN. An diesem Tag schaffte der Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag rechtliche Klarheit über die umstrittenen Territorien zwischen den Philippinen und China im Südchinesischen Meer. Obgleich dieser Schiedsspruch ein Sieg

20Vietnam

als ehemaliges Mitglied dieser sogenannten entwicklungsbedürftigen CLMV Gruppe hat sich zum Musterland gemausert und ist mittlerweile erheblicher Nutznießer von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU. 21Jetschke und Portela 2012, S. 3. 22Auf den Seiten 98–99 einer Evaluierung der Zusammenarbeit der Europäischen Kommission mit ASEAN von Juni 2009 wurde festgestellt, dass die Koordinierung unter den Geberländern, dem ASEAN-Sekretariat und den diversen Ministerien der ASEAN-Mitgliedsstaaten sich zwar in dem Zeitraum der Unterstützung gebessert hat, aber es immer noch die Regel ist, dass die relevanten Akteure gemäß ihres Mandats und Programms unabhängig von anderen Akteuren arbeiten. Somit sind Duplikationen von Projekten und Ressourcen unvermeidbar. Auch die darauffolgende Evaluierung von 2014 stellte in einigen Bereichen fest – auf Seite 37 zum Beispiel, dass „despite EU-financed efforts to improve coordination, human and animal health agencies still act mostly in isolation”.

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für Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit in der Region war, so bedeutete diese Entscheidung für die neue philippinische Regierung auch eine Art Schlussstrich unter die unbequeme Phase in den Beziehungen mit China und bot nun die Möglichkeit, mittels Diplomatie eine vertrauensbildende Annäherung einzuleiten. Tatsächlich erfolgte in der Zeit nach der Entscheidung ein verstärkter Bilateralismus zwischen China und den Philippinen sowie anderen südostasiatischen Staaten, um die Spannungen abzubauen, die während des dreijährigen Prozesses zugenommen hatten. Diese diplomatische Schwerpunktsetzung hatte aber auch zur Folge, dass ASEAN in ihrer politischen Akteursfähigkeit als Regionalorganisation vernachlässigt wurde und ein multilateraler Lösungsansatz für die Konflikte im Südchinesischen Meer noch unwahrscheinlicher wurde. Einerseits sind die Philippinen unter Präsident Duterte zwar daran interessiert, ASEAN als eine starke und ambitionierte Regionalorganisation darzustellen, wie dem oben zitierten Auszug aus dem Chairman’s Statement zu entnehmen ist. Andererseits schwächt die derzeitige und auch generelle Betonung der bilateralen Beziehungen das Ansehen der ASEAN in bestimmten Handlungsräumen. Zusätzlich zu der China-Problematik wirken die gemischten Signale der US-Regierung alles andere als zuversichtlich. Vor allem die Rhetorik Präsident Trumps hat deutlich gemacht, dass er nicht davor zurückscheut, traditionelle Normen und politische Praxis sowohl in der Innen- als auch Außenpolitik zu verwerfen.23 Mit der Unruhe im Weißen Haus und den gemischten Signalen, die an Südostasien gesendet wurden, sind die ASEAN-Staaten weiterhin verunsichert, wie der US-Präsident zu ihnen steht. Wirtschaftspolitisch war vor allem die Aufkündigung des US-Interesses an der Trans-Pacific Partnership eine Irritation, die aber auch gleichzeitig einen neuen Impuls für die Verhandlungen anderer Freihandelsabkommen in der Region geben könnte. Die letzten Jahre unter Obama haben ohnehin gezeigt, dass die Vereinigten Staaten wirtschaftlich in der Region immer deutlicher abgeschlagen hinter China liegen. Der wirtschaftlich introvertierte Ansatz der Trump-Regierung ist somit nicht völlig unerwartet in Erscheinung getreten und wird deshalb auch nicht als eine Abkehr von Südostasien und Asien generell betrachtet. In der Tat scheint es eher so, dass trotz Irritationen eine gewisse politische und sicherheitspolitische Kontinuität vor-

23Bei

vielen der südostasiatischen Partnern herrschte zu Beginn der Trump-Präsidentschaft ein ungutes Gefühl, da die Vereinigten Staaten augenscheinlich strategische Partnerschaften und Verteidigungsbündnisse jederzeit wieder als eine Bürde auslegen könnten und im schlimmsten Fall sich ihrer traditionellen Verantwortung von heute auf morgen entziehen könnten.

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herrscht. Dieser diplomatische Ton der Kontinuität wird auch immer wieder von den Vereinigten Staaten in den traditionellen Bindungen zu den militärischen Verbündeten in Asien bestätigt. Der offizielle Besuch von US-Admiral Harris, damals Oberbefehlshaber des US Pacific Command (USPACOM), der Cobra Gold Militärübung in Thailand im Februar 2017 oder die Teilnahme von Secretary of Defence James Mattis am Shangri-La Dialog in Singapur im Juni 2017 sind wichtige Signale der militärischen Bindung und des sicherheitspolitischen Bekenntnisses zu Südostasien. Auch der offizielle Besuch Indonesiens und des ASEAN-Sekretariats von Vizepräsident Mike Pence im April 2017 haben den ASEAN-Staaten Zuversicht vermittelt. Einen Monat später empfing der Außenminister der Vereinigten Staaten, Rex Tillerson, eine Delegation südostasiatischer Amtskollegen. Im Juni desselben Jahres wurde dann der vietnamesische Premierminister als erstes Regierungsoberhaupt eines südostasiatischen Landes seit Trumps Amtsantritt im Weißen Haus empfangen. Noch wichtiger für die regionale Stabilität als diese hochrangigen diplomatischen Besuche sind die fortwährende Präsenz des US-Militärs und seine Bereitwilligkeit, zum Schutz der ASEAN-Staaten gegen Bedrohungen vorzugehen. Obwohl momentane Spannungen im Südchinesischen Meer den schmalen militärischen Handlungsrahmen verdeutlicht haben und die Effektivität von Freedom of Navigation Operations und anderer Übungen infrage stellten, bleibt die Präsenz von US-Truppen aus Sicht der südostasiatischen Regierungen unerlässlich, vor allem als Gegengewicht zu einer Machtausdehnung Chinas.

4 Multilaterale Mechanismen für die EU-ASEAN Sicherheitsdiskurse Inwieweit ermöglichen die genannten institutionellen und systemischen Entwicklungen und die weiterhin dominante Rolle der USA in Südostasien ein erweitertes sicherheitspolitisches Engagement der EU? Zur Beantwortung dieser Frage beschäftigen sich die folgenden Ausführungen mit den wesentlichen multilateralen Dialogforen, bei denen die EU sicherheitspolitische Themen mit den ASEAN-Staaten diskutiert und tatsächlich auch eine größere Rolle für die EU zu erwarten ist. Zuerst wird der Handlungsraum der EU in dem ASEAN Regional Forum (ARF) unter die Lupe genommen. Danach folgen Diskussionen zu den zwei interregionalen Foren – dem Asia-Europe Meeting (ASEM) und dem EUASEAN Dialog. Im Anschluss erfolgt eine Darstellung des sicherheitsfördernden Einflusses der EU anhand des Instruments für Stabilität und Frieden (IcSP), dem

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einzigen supranationalen Instrument der Europäischen Kommission für externe Sicherheitspolitik. Die Schlussfolgerung soll verdeutlichen, dass die momentanen institutionellen und systemischen Entwicklungen einen größeren Bedarf an interregionalen Aktivitäten erwecken und dass die Europäische Kommission den Spielraum an der Nahtstelle zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik mehr für sich beanspruchen und ausbauen könnte. Dieser Nexus ist entscheidend für die jetzige und zukünftige institutionelle Ausgestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Südostasien.

4.1 Das ASEAN Regional Forum (ARF) Das ARF ist das einzige sicherheitsthematische Forum in Asien-Pazifik, in dem die EU durch die Europäische Kommission, stellvertretend für alle EU-Mitgliedsstaaten, vertreten ist. Neben der EU gibt es insgesamt 26 weitere ARFMitglieder: die zehn ASEAN Staaten, Australien, Bangladesch, China, Indien, Japan, Kanada, die Mongolei, Neuseeland, Nordkorea, Osttimor, Pakistan, Papua-Neuguinea, Russland, Sri Lanka, Südkorea und die Vereinigten Staaten. Im Rahmen des ARF stehen alle Mitglieder in enger Zusammenarbeit mit dem ASEAN-Sekretariat, um unter anderem die ARF-Agenda und den Arbeitsplan zu bestimmen. Indem das Forum das Arbeitsformat der ASEAN spiegelt, ist es institutionell durch einen „Organisationsminimalismus“ geprägt.24 Das bedeutet, dass die konkrete Zusammenarbeit im Sinne eines gemeinsamen praktischen Vorgehens gegen die verschiedenen Bedrohungen in der Region nicht das Ziel ist, obgleich das Forum auf die ASEAN und ihre regionalen Sicherheitsbedürfnissen zugeschnitten ist. Das ARF ist in erster Linie, gemäß eines dreistufigen Plans, als prozessorientierte und vertrauensbildende Dialogplattform zu betrachten. Der dreistufige Plan konzentriert sich derzeit sowohl auf vertrauensbildende Maßnahmen als auch auf präventive Diplomatie, um Kapazitäten für die dritte Stufe des effektiven Konfliktmanagements aufzubauen. Das ARF strebt also eine wirksame friedensstiftende Kapazität unter den ARF-Mitgliedstaaten an, die einerseits durch den Prozess der Kapazitätsschaffung und andererseits durch die Kapazität selbst einen sicherheitsfördernden Einfluss auf die gesamte asiatischpazifische Region haben könnte. Bisherige Aktivitäten des ARF sind allerdings vorwiegend noch dem Bereich der vertrauensbildenden Maßnahmen zuzuordnen, wobei an der Umsetzung von präventiver Diplomatie bereits gearbeitet

24Im

Englischen „organisational minimalism“. Acharya 2004, S. 259.

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wird.25 In der Tat deuten die verschiedenen seit 2009 stattfindenden ARF Disaster Relief table top- und field-Übungen an, dass in bestimmten Bereichen und unter bestimmten Mitgliedern der Schwerpunkt nicht mehr auf Vertrauensbildung alleine liegt, sondern auch auf der Entwicklung von Synergieeffekten, Interoperabilität und Standardpraktiken.26 Diese praktischen Aktivitäten sind einerseits vertrauensbildend und nützlich für die präventive Diplomatie. Andererseits, indem sie auch Verhaltensmuster kodifizieren und normieren, muss anerkannt werden, dass dadurch bereits Strukturen für die dritte Entwicklungsstufe des ARF geschaffen worden sind. Trotz dieser progressiven Betrachtungsweise muss einiges aber auch relativiert werden. Denn die aktuelle Fixierung auf globale Bedrohungen und das thematische Verharren auf allgemeinen Praxisstandards und Verhaltensmustern deutet eher darauf hin, dass das ARF eventuell an seine multilateralen Handlungsgrenzen27 gestoßen ist und nur noch bedingt thematische und strukturelle Vertiefung erlaubt. Hierbei spielen sowohl im großen als auch im kleinen Rahmen vor allem „activist states“ eine wichtige Rolle, um die Handlungsräume von Zusammenarbeit weiterhin zu erweitern.28 Regelmäßig stoßen auch die sogenannten activist ARF-Mitglieder an die Grenzen der Zusammenarbeit und können sich nur auf einem indirekten Weg mit bestimmten Problemen befassen: Während die Thematisierung von Konflikten, wie Osttimor, Südchinesisches Meer und Khao Preah Vihear Tempel, in der Vergangenheit schnell diese Grenzen aufzeigte, indem ein Rückgriff auf das Prinzip der Nichteinmischung erfolgte, sind Themen der globalen Sicherheitsagenda generell weniger politisch verhaftet und haben oft einen Zugang ermöglicht, um problematischere Aspekte anzusprechen. Gleichzeitig muss auch diese Aussage relativiert werden. Denn in Anbetracht einzelner Fortschritte bei bestimmten regionalen Konflikten, wie zum Beispiel mit Blick auf die Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea im Jahr 2002, scheinen die ASEAN-Staaten sich doch auch

25Haacke

2006, S. 137 und 2009, S. 443. Gegensatz zu Jürgen Haacke, der sich vor allem auf bilaterale und sub-regionale Aktivitäten, die nicht unter dem ARF-Banner stattgefunden haben, aber von dem Dialog innerhalb des Forums profitiert haben, bezieht, betont dieses Kapitel vor allem die,table top’- und,field’- Übungen unter dem ARF-Banner in der Zeit nach 2009. 27Derzeitige thematische Grenzen des ARF haben keine einschränkende Wirkung auf den supranationalen Aktionsraum der EU und sind nicht nachteilig für eine EU-Konsensbildung mit anderen ARF-Partnern. 28Haacke 2009, S. 446. 26Im

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für eine „embryonische“ präventive Diplomatie bei heiklen regionalen Themen zu interessieren.29 Obgleich die genannte Deklaration nicht direkt als ein ARFProdukt gelten kann, so war mit dem ARF eines von mehreren Dialogforen vorhanden, das zur Entwicklung und Ratifizierung des Dokuments beitrug. Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit der globalen Orientierung der ARF-Arbeitsagenda festzuhalten, dass angesichts des breiten Spektrums der Mitgliedschaft im Forum und dem Bedarf an kapazitärer Unterstützung ein ausschließlicher Fokus auf die regionalen Probleme der ASEAN-Staaten nur geringfügig vorteilhaft ist und zudem weitere Probleme entstehen könnten, da die internationalen Errungenschaften und Verhaltensstandards im Rahmen des ARF regelmäßig abgeschwächt werden, um einen Konsens unter den Teilnehmern zu ermöglichen. Dies war zum Beispiel der Fall bei der Diskussion zum Code of Unplanned Encounters at Sea (CUES). Einige Mitglieder bezogen zu diesem Verhaltenskodex im Rahmen des ARF Stellung, nur um die Nichtverbindlichkeit von CUES zu unterstreichen. Solche Auseinandersetzungen, die sich nachteilig auf die Entwicklung internationaler Normen auswirken können, beeinflussen das vorsichtige Verhalten der EU im ARF. Gleichzeitig prägen sie die Auffassung Brüssels, dass die globale Sicherheitsagenda unerlässlicher Konnex für Vertrauen unter den Mitgliedern ist. Auf diese Rolle der globalen Agenda wird sogar immer wieder explizit von den der ASEAN in der öffentlichen ARF-Kommunikation hingewiesen: Obwohl einige der Mitgliedsländer nicht unbedingt von globalen Sicherheitsbedrohungen betroffen sind, so erkennen sie die Nützlichkeit der globalen Agenda für den Dialog an. Mit dem umfassenden Sicherheitsbegriff und dem effektiven Multilateralismus als sicherheitspolitische Handlungsmaximen ist die EU als kollektiver Akteur in der Welt prinzipiell daran interessiert, Dialogforen wie das ARF zu stärken. Hierbei hat sich die EU zusätzlich zu den konzeptionellen Schwerpunkten der Vertrauensbildung und der präventiven Diplomatie auch auf Sicherheitsbereiche konzentriert, die ihrem internationalen Ruf entsprechen und sie als einigermaßen activist erscheinen lassen. Im Rahmen des ARF hat die EU beispielsweise versucht, Klima- und Umweltschutzaspekte auf der Diskussionsagenda zu etablieren und veranstaltete im März 2009 gemeinsam mit Kambodscha ein ARF-Seminar zu „International Security Implications of Climate-related Events and Trends“.30

29Emmers

and Tan 2011, S. 90. auf diese Veranstaltung wurde in diversen ARF Dokumenten genommen, unter anderem, im Chairman‘s Statement vom 16. ARF Gipfeltreffen. Das Dokument ist unter 30Bezug

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In letzter Zeit hat sie ihr Interesse im Bereich der maritimen Sicherheit sowohl im ARF als auch in anderen Dialogformaten mit südostasiatischen Partnern zum Ausdruck gebracht. Bereits 2009 veranstaltete sie ein ARF-Seminar zu maritimer Sicherheit mit Indonesien in Surabaya.31 Insbesondere die vom Europäische Auswärtige Dienst mitausgerichteten High-Level Dialogues (HLDs) zur maritimen Sicherheit haben seit 2013 zu dieser sicherheitspolitischen Profilierung der EU beigetragen.32 Von 2018 bis 2020 agierte die EU gemeinsam mit Australien und Vietnam als co-chair des „Maritime Security Work Stream“ und konnte in dieser Rolle die Diskussion zur maritimen Sicherheit in der Region weiter vorantreiben.33

dem folgenden Link zu finden: https://www.mofa.go.jp/region/asia-paci/asean/conference/ arf/state0907.pdf. 31Siehe S- 8 des Chairman’s Statements unter dem folgenden Link: https://www.mofa. go.jp/region/asia-paci/asean/conference/arf/state1007.pdf. Obgleich das 16. ASEAN Regional Forum Chairman’s Statement diese Veranstaltung auflistet, so scheint das europäische Interesse eher der Veranstaltung ‚ARF Seminar on Measures to Enhance Maritime Security: Legal and Practical Aspects‘ im November 2009 in Brüssel gegolten zu haben. Diese Veranstaltung war aber nicht als offizielles Inter-Sessional Meeting on Maritime Security eingestuft. 32Maier-Knapp 2017b. 33Hierbei ist auch zu erwähnen, dass die EU den Studien und Empfehlungen des nichtoffiziellen Track 2 des ARF Beachtung schenkt. Von Zeit zu Zeit treten Vertreter aus dem Council for Security Cooperation in the Asia–Pacific (CSCAP) aktiv mittels Erstellung von „briefings“ oder der Organisation von „workshops“ aktiv auf. In der Regel sind es thematische Experten aus der Wissenschaft oder internationalen Organisationen, die ihr Wissen mit ARF-Vertretern teilen. Es sind aber auch die Mitglieder selbst, die Briefings von anderen Mitgliedern beanstanden, wie im Fall der Suchaktion der verschollenen Malaysia Airlines MH370. Die Suchaktion der Malaysia Airlines MH370 selbst erfolgte nicht im Rahmen des ARF, obwohl dies angesichts der Opfer und des Suchgebiets durchaus im institutionellen Rahmen hätte durchgeführt werden können. Somit entsteht der Eindruck, dass die EU und die anderen ARF-Mitglieder sich uneins sind, inwieweit das institutionelle Potenzial des ARF ausgeschöpft werden kann. Einig sind sich alle aber darüber, dass sich das ARF als Schirmorganisation für die Entwicklung und Verbreitung von Expertentum und Kapazitäten bei Regierungs- als auch Nichtregierungsakteuren profilieren kann.

Die EU-Unterstützung der ASEAN im Bereich …

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4.2 Das Asia-Europe Meeting (ASEM) Das ASEM-Forum wurde am 1. März 1996 offiziell ins Leben gerufen, um Asien fester im neuen liberalen Weltsystem nach dem Kalten Krieg zu verankern. Wie im Falle der Gründung des ARF34 fand das erste Gipfeltreffen ebenfalls in Bangkok statt, wobei die Teilnehmerkonstellation eine andere war als die des ersten ARF-Gipfels: 16 Vertreter aus der EU und zehn Vertreter aus Asien.35 Zudem ist der ASEM-Dialog im Gegensatz zum ARF multisektoral und wird seit Anbeginn von einer triadischen geo-ökonomischen Rationalität getrieben. Diese geo-ökonomische Motivation diente der Institutionalisierung einer EuropaAsien-Verbindung, die versuchte, die ausgeprägten Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa einerseits und den Vereinigten Staaten und Asien andererseits auszugleichen.36 Heutzutage ist das Interesse im und am Forum wesentlich durch die wirtschaftliche Anziehungskraft Chinas geprägt. Doch das ASEM kann sich nicht alleine auf diesen Aspekt verlassen. Dies wurde schon beim ASEM-Gipfel in 2002 in Kopenhagen deutlich, als versucht wurde, durch neue Koordinierungsmechanismen37 und Synergieeffekte mit Blick auf das thematische und funktionale Über- und Ineinandergreifen der drei ASEM-Säulen (Wirtschaft, Politik und Soziales) die institutionelle Trägheit des ASEM zu überwinden. Durch dieses Über- und Ineinandergreifen erhoffte man sich auch bessere Bedingungen, um sicherheitspolitische Themen effektiver anzusprechen. Offiziell wurden konkrete Maßnahmen und Instrumente wie das „priority clustering“ oder eine „issue-specific leadership“ beim Gipfel in 2006 in Helsinki artikuliert, um fokussierte Gruppenbildung und -aktivitäten zu sicherheitspolitischen Themen zu ermöglichen. Die heutige Debatte zur Relevanz des

34Ähnlich

wie das ARF ermöglicht und unterstützt ASEM parallel zu den offiziellen Aktivitäten auch den zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausch auf der Track-2-Ebene. Hierbei wird oft auf den Erfolg der Asia Europe Foundation Bezug genommen, um den Wert von ASEM als eine Dialogplattform zu betonen und ihr Potenzial für nachhaltige Zusammenarbeit zu untermauern. Siehe zum Beispiel Lay Hwee Yeo 2003, S. 63. 35Heute ist ASEM nur noch im weitesten geografischen Sinn als interregionales Dialogforum zwischen der EU und Asien zu betrachten und auf 53 Mitglieder angewachsen, zu denen auch Länder wie Russland, Australien und Neuseeland gehören. 36Dent 1997. 37Zum Beispiel hat Howard Löwen in seinem Artikel „Ostasien und Europa – Partner einer internationalen Ordnungspolitik?“ den neuen Koordinierungsmechanismen Beachtung geschenkt, um festzustellen, inwieweit man von einer gesteigerten EU-Asien interregionalen Leistungskapazität für global governance sprechen kann.

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ASEM – die vor allem 2016 beim 20-jährigen Jubiläum von ASEM an Bedeutung erlangte – ist also kein neuer Diskurs. Es herrscht aber eine andere Tonart, die sich vom früheren Narrativ insofern unterscheidet, als dass sie als Lösungsansatz für die „Forum Fatigue“ ausschließlich auf Konnektivität als Allheilmittel setzt, um die Relevanz des ASEM in den kommenden Jahren aufrechtzuerhalten.38 Es ist unbestritten, dass dieses Motto der Konnektivität die Gesamt-Effektivität und -Relevanz des ASEM für die EU und ASEAN erhöht, inklusive der sicherheitspolitischen Dimension. Jedoch ist dieses Leitmotiv auch ambivalent, da es trotz seines säulenübergreifenden Potenzials im Wesentlichen auf eine ökonomische Rationalität baut, sodass eine institutionell und normativ tiefgründigere Entwicklung des ASEM-Prozesses nicht stattfinden kann. Die Bedeutung des ASEM bleibt für die EU und die anderen Mitglieder somit nicht eindeutig verankert und lässt kleine Zweifel daran aufkommen, dass die institutionelle Kapazität dieses Dialogprozesses über genügend Eigendynamik verfügt, um ihre Mitglieder weiterhin zu begeistern. Diese Zweifel lassen sich von Anbeginn vor allem auf die vorsichtige Institutionalisierung des ASEM zurückführen – eine Institutionalisierung, die ähnlich wie im Falle des ARF, über Jahre hinweg in einer äußerst diplomatischen Anschauung von Zusammenarbeit verharrte und stets verbindliche Strukturen gemieden hat. Einerseits schwächt diese Unverbindlichkeit die Möglichkeit, Entscheidungen und Aktivitäten zu konkretisieren. Andererseits gestaltete sich dieses institutionelle Format über die Jahre hinweg durchaus erfolgreich für die Vertrauensbildung einer so großen Ansammlung von unterschiedlichen Staaten mit verschiedenen Interessen. Die unverbindlichen Rahmenbedingungen haben wesentlich zu der freundschaftlichen Arbeitsweise innerhalb des ASEM beigetragen, die es den Mitgliedern erlaubte, heikle sicherheitspolitische Probleme sowohl bilateral als auch multilateral anzusprechen. Trotz der Vorteile dieses Arbeitsformats ist es aber auch in der dritten ASEM-Dekade generell immer noch schwierig für die EU, sicherheitspolitische Themen im ASEM effektiv zu behandeln. Durch die Spiegelung der globalen Sicherheitsagenda wird diese Problematik teilweise behoben und erlaubt es dem ASEM, die Hauptinteressen seiner 53 Mitglieder abzudecken und damit gleichzeitig seine eigene Bedeutung in der internationalen Institutionenlandschaft zu wahren. In Bezug auf sicherheitsrelevante Mechanismen ist festzustellen, dass diese rar sind und oft nur in Krisensituationen, wie Terroranschlägen

38Obgleich

dieses neue Leitmotiv beide Regionen begeistert und themenübergreifend in allen drei Säulen eingebaut werden kann, folgt die Programmatik einer inhärent asiatischen – wenn nicht gar chinesischen –Dynamik.

Die EU-Unterstützung der ASEAN im Bereich …

185

oder Naturkatastrophen, thematisiert werden, um in erster Linie eine bessere Kommunikation unter den Mitgliedern zu gewährleisten.39 Angesichts einer eher schwach ausgeprägten Institutionalisierungskultur und der Anlehnung der ASEM-Sicherheitsagenda an die globale Sicherheitsagenda wäre das Entstehen einer identitätsbildenden institutionellen Eigendynamik eine wünschenswerte Entwicklung für den sicherheitspolitischen Einfluss des ASEM auf die Weltpolitik.40 Insbesondere ist die Eigendynamik erstrebenswert, da mit der anwachsenden Teilnehmerzahl in den letzten Jahren bestimmte globale Sicherheitsthemen im multilateralen Plenarformat nur noch verwässert waren oder überhaupt nicht angesprochen wurden.41 Zudem gilt grundsätzlich, dass tiefergehende Diskussionen über Sicherheitsproblematiken nur bilateral innerhalb des ASEM-Rahmens stattfinden, um die Einigkeit und Gruppendynamik nicht zu stören.42 Nichtsdestotrotz stellt das ASEM ein bedeutendes Medium für die Vertrauensbildung, Diplomatie und Entscheidungsfindung in anderen internationalen Foren dar: ASEM verfügt über eine gewichtige Masse an Teilnehmern, die unter anderem auch nützlich ist, um spezielle EU-ASEAN-Interessen zu fördern. Insgesamt ist das ASEM-Format genügend flexibel, um den Mitgliedern einen nötigen Handlungsraum zur Verfügung zu stellen, sich im kleineren Rahmen zu globalen Sicherheitsthemen auszutauschen, wie in jüngster Zeit zu Terrorismus und Cybersicherheit. Im Wesentlichen ist das ASEM förderlich für den graduellen sicherheitspolitischen Einfluss der EU auf Südostasien und verfügt über eine Wertschöpfung für die globale Ordnungspolitik durch Prozesse der Vertrauensbildung und Rationalisierung.43 39Dosch

2003, S. 497; Maier-Knapp 2017a, S. 12 und 15. Anbetracht der minimalen Institutionalisierung könnten solche Bindungen als Kontinuum zwischen den verschiedenen ASEM-Treffen und Aktivitäten fungieren und dem gesamten ASEM-Prozess, bestehend aus einer Vielzahl an Treffen und Aktivitäten, höhere institutionelle Kohärenz verleihen. 41Ein gutes Beispiel hierfür ist die Situation an der Grenze zwischen Pakistan und Indien. Als beide Staaten noch keine ASEM-Mitglieder waren, ließ es sich leichter über die Konfliktsituation dort sprechen und entsprechende Stellungnahmen verfassen, wie es die ASEM-Deklaration zur Situation zwischen Indien und Pakistan beim 4. ASEMAußenministertreffen am 6–7 Juni 2002 in Madrid zeigt. 42Robles 2008, S. 2. 43Loewen 2006, S. 4–6; Dosch und Maier-Knapp 2017, S. 107. Für eine konzeptionelle Diskussion von Rationalisierung als Funktion innerhalb des EU-Asien/-ASEAN Interregionalismus siehe unter anderem S. 7–8 im Artikel „The European Union as an Inter- and Transregional Actor: Lessons for Global Governance from Europe’s Relations with Asia“ 40In

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4.3 EU-ASEAN-Dialog Als drittes Dialogforum für die EU als kollektivem Akteur in Südostasien ist der seit den 1970er Jahren bestehende EU-ASEAN-Dialog, der sich aus regelmäßigen Treffen der Außenminister und anderen hochrangigen Offiziellen aus den EU- und ASEAN-Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Zusätzlich wurde das Joint Cooperation Committee zwischen der Europäischen Kommission und den ASEAN-Staaten im Jahr 1980 mit dem Kooperationsabkommen von Kuala Lumpur ins Leben gerufen. Die kategorische Einordnung dieses zweigleisigen EU-ASEAN-Interregionalismus wird durch die institutionelle Zugehörigkeit zur EU und der ASEAN definiert und ist über die Jahre hinweg unverändert geblieben, trotz des Mitgliederzuwachs durch die verschiedenen Erweiterungsrunden der jeweiligen Regionalorganisationen. Diese institutionelle Kontinuität44 hat bedeutendes Vertrauen geschaffen und eine substanzielle Förderung der institutionellen Integration der ASEAN mittels Interregionalismus ermöglicht. Das Prinzip von Interregionalismus zur Förderung von Regionalismus scheint im EU-ASEAN-Dialogformat am Besten zur Geltung zu kommen und beiden Regionalorganisationen zu dienen:45 zum Beispiel durch das ASEANEU Regional Programme for Integration Support (APRIS) 1 und 2 von 2003 bis 2010, ASEAN Regional Integration Support from the EU (ARISE) von 2012 bis 2015 und EU-ASEAN Project on the Protection of Intellectual Property Rights I-III (ECAP) von 1993 bis 2015. Diese und andere Programme agieren komplementär zum EU-ASEAN-Dialog, indem sie die strategische Ausrichtung des interregionalen Dialogs in die Tat umsetzen. In der Regel sind diese Projekte und Programme entwicklungspolitischer Natur und so konzipiert, dass sie die regionale Integration der ASEAN durch Harmonisierung von Standards und Gesetzgebungen und durch die Überwindung von den sozioökonomischen Unterschieden fördern.46 Dadurch weisen sie grundsätzlich einen länderübergreifenden

von Jürgen Rüland oder die Dissertation „East is East: inter- and transregionalism and the EU-ASEAN relationship“ von Mathew Doidge. 44Trotz einer dreijährigen Dialogpause nach dem Beitritt von Myanmar zur ASEAN im Jahr 1997 kann man von einem der ausgereiftesten interregionalen Dialogformaten der EU sprechen. 45Rüland 2001, S. 8 f. 46Dosch et al. 2014.

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regulatorischen und normativen Harmonisierungsansatz auf, der durchaus förderlich für Transaktionalismus mit möglichem friedensstiftenden Effekt ist.47 Das bedeutet nicht nur Vertrauensbildung und eine politische Harmonisierung, sondern auch die institutionelle Stärkung des ASEAN-Sekretariats und der Mitgliedsstaaten. Diese Stärkung wiederum impliziert eine Konsolidierung der übergeordneten institutionellen Prinzipien, von denen Demokratie, Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit die Grundpfeiler bilden. Dieser normative Einfluss auf die Grundeinstellung der ASEAN-Staaten im Bereich der länderübergreifenden Zusammenarbeit und des politischen Zusammenhalts kann womöglich auch Auswirkungen auf die Außenpolitik haben und die Position der ASEAN gegenüber den Dialogpartnern bei schwierigen sicherheitspolitischen Angelegenheiten stärken. Wichtig für dieses Kapitel ist vor allem die Annahme, dass durch die interregionale Förderung von regionaler Integration und die Stärkung des ASEAN-Sekretariats, Strukturen und Prinzipien eines kooperativen Multilateralismus als effektive Verhaltensmuster betont werden. Trotz dieses möglichen Einflusses der EU ist vor allem in letzter Zeit merkbar geworden, dass Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit zwar in Südostasien anerkannt werden, aber es keine entscheidende Wandlung der Gesinnung gibt, den Bilateralismus in den internationalen Beziehungen als Leitprinzip der ASEAN-Staaten abzustufen – auch oder gerade bei politischen Streitfragen und territorialen Konflikten. Angesichts dieses Leitprinzips zur Aufrechterhaltung der nationalen Interessen und Souveränität ist deutlich erkennbar, dass der eigentliche sicherheitspolitische Dialog im Rahmen der offiziellen EU-ASEAN-Beziehungen weitgehend, wie bei den Diskussionen im ARF und ASEM, auf vertrauensbildendem Niveau gehalten wird und sensible regionale Fragen in anderen Formaten geregelt werden. Nichtsdestotrotz können Vertrauensbildung und Informationsaustausch eventuell zu einzelnen EU-ASEAN-Verpflichtungen und Aktionen im sicherheitspolitischen Bereich führen, wie dem Joint Declaration on Co-operation to Combat Terrorism im Jahr 2003 beim 14. EU-ASEAN-Treffen der Außenminister oder dem Aceh Monitoring Mission.48 Konkrete sicherheitspolitische EU-ASEAN-Initiativen zur Förderung von regionaler Integration sind eher selten. Es gibt aber einige erwähnenswerte interregionale Programme, die Fragen der regionalen Sicherheit stark tangieren und durchaus sicherheitspolitische Auswirkungen haben

47Maier-Knapp 48Maier-Knapp

2014b, S. 222 und 227. 2014a.

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können, wie zum Beispiel das EU-ASEAN Migration and Border Management Programme. Die bisherige Konzeption solcher Projekte war aber stets ziviler und entwicklungspolitischer Natur, da erstens die EU als supranationaler Akteur nur über marginale sicherheitspolitische Kompetenzen und Ressourcen in der Außenpolitik verfügt und zweitens die Mehrheit der ASEAN-Mitglieder Entwicklungsländer sind und somit Fragen der Entwicklungspolitik schwierig von Fragen der Sicherheitspolitik zu trennen sind. Die interregionale Asymmetrie des Industrialisierungsgrads ist ein entscheidender Faktor bei der Erstellung von externen Programmen der EU und bildet auch den Hauptunterschied zwischen dem EU-ASEAN-Dialog und den vorangegangenen Dialogforen: Obgleich der EU-ASEAN-Dialog ein effektives Forum ist und auch die Bedrohungen der globalen Sicherheitsagenda widerspiegelt, unterscheidet er sich durch die stärkere Rücksichtnahme auf die regionalen Gegebenheiten der ASEAN-Staaten und somit auch auf den Nexus zwischen Sicherheit und Entwicklung. Dieser Nexus erfordert insbesondere einen Balanceakt der Europäischen Kommission, da unter Umständen Kompetenz- und Handlungsüberlappungen zwischen den europäischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitiken auf mehreren Ebenen entstehen können. Dieser Nexus ist im Wesentlichen ein internes Problem der EU, der aber zugleich impliziert, dass die externe Dimension der EU-Politik – wie die Implementierung von Projekten in Partnerländern – eine wichtige Rückwirkung auf die interne Debatte des Nexus haben kann. In der Praxis ist der Nexus der Sicherheit und Entwicklung besonders problematisch bei der Erstellung von Programmen für Konfliktgebiete und Länder, die von einer Militärregierung geführt werden. In solchen Fällen ist das Thema der Sicherung von humanitären Hilfe und Entwicklungshilfe von oberster Priorität und verlangt Sicherungswenn nicht gar Versicherheitlichungsprozesse in der Entwicklungspolitik, die sich zum Beispiel in einer möglichen Überschneidung von nationalen und supranationalen Kompetenzen und einer ambivalenten Erweiterung der supranationalen Perspektive und Kompetenz im Sicherheitsbereich äußern können. Der Spagat beziehungsweise die Überwindung dieser Problematiken findet vorwiegend bei der Programmerstellung innerhalb der EU-Institutionen und bei den Partnerakteuren vor Ort statt. Vor allem der Europäische Diplomatische Dienst spielt hierbei eine tragende Rolle in den Partnerländern. Neben den einzelnen Delegationen der EU-Mitgliedsstaaten49 ist der EAD zu einem gern-

49Hierbei

waren und sind Großbritannien und Frankreich mit ihren traditionellen Bindungen die üblichen Vertreter. Sie beziehen sich in ihren öffentlichen Äußerungen in Südostasien aber auch in der Regel auf die Interessen der EU als Staatengemeinschaft.

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gesehenen Gast und Sponsor von sicherheitsrelevanten Seminaren in Südostasien avanciert. Obgleich einzelne EAD-Delegationen durch ihr Engagement auffallen und den sicherheitspolitischen Mehrwert der EU-ASEAN-Beziehungen unterstreichen, so muss hier noch einmal festgehalten werden, dass die tatsächlichen sicherheitspolitischen Kompetenzen bei den EU-Mitgliedsstaaten liegen und dass die supranationalen Handlungsmöglichkeiten nicht unbedingt als ein Mehrwert im regionalen Sicherheitskomplex Asiens wahrgenommen werden. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass der bisherige Mehrwert der EU im EUASEAN-Dialog hauptsächlich im Bereich der Vertrauensbildung und im Aufbau von regionalen Kapazitäten an der Schnittstelle von Entwicklung und Sicherheit liegt.

4.4 Das Instrument für Stabilität und Frieden Mit der allmählichen Konsolidierung des EADs und anderen außenpolitischen Strukturen gemäß des Vertrags von Lissabon sowie der Etablierung eines integrierten Sicherheitsbegriffs war der Weg für die Erschaffung des Instrument contributing to Stability and Peace (IcSP) geebnet worden. Dieses Instrument der Europäischen Kommission wird weltweit als Übergangs- oder Überbrückungsinstrument eingesetzt, um transregionale Sicherheitsbedrohungen zu bekämpfen und um Krisen und Konflikte zu bewältigen und ihnen vorzubeugen. Dieser Bedarf der Europäischen Kommission entstand vor allem im Zuge ansteigender entwicklungspolitischer und humanitärer Hilfe weltweit in den 1990er Jahren, um sowohl schnelleren Schutz für die entsandten Helfer als auch nachhaltigere Einsätze mit minimalem bürokratischem Aufwand und Zeitverschwendung zu gewährleisten. Die erfolgreiche Anwendung der IcSP-Vorläuferinstrumente, des Rapid Reaction Mechanism (RRM) von 2001 bis 2006 gemäß EC Regulation 381/2001 und des  Instrument for Stability (IfS) von 2006 bis 2014 gemäß EC Regulation 1717/2006, und die verschiedenen Lehren, die man aus der Anwendung dieser Instrumente ziehen konnte, haben den Ratifizierungsprozess von IcSP erleichtert und eine Kompetenz- und Budgeterweiterung ermöglicht. Der Rat der EU und das Europäische Parlament50 waren nach 13 Jahren RRM- und IfS-Einsätzen einem erweiterten sicherheitspolitischen Mandat wohlgesonnen. IcSP ist wie seine Vorgänger in erster Linie ein Kurzzeitinstrument, 50Das

Europäische Parlament stand dieser Ratifizierung wohlgesonnen gegenüber, nicht zuletzt weil es sein außenpolitisches Mitspracherecht – vornehmlich im Budget – durch dieses Instrument gestärkt sah.

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um eine schwierige Situation in fragilen Ländern zu stabilisieren und den Weg für den Einsatz von Entwicklungshilfe oder anderer Form von Unterstützung zu ebnen. Durch die Verlängerung der Einsatzdauer auf 30 oder gar 36 Monate und die Erhöhung des Budgets für den Zeitraum von 2014 bis 2020 auf eine Gesamtsumme von 2,3 Mrd. Euro ist zu erkennen, dass der Europäischen Kommission und dem EAD ein erweiterter sicherheitspolitischer Handlungsrahmen gegeben wurde. Derzeit werden ungefähr 14,4 Mio. Euro in Südostasien auf zehn Projekte verteilt, die sich allesamt in ethnischen Krisenherden der Region befinden: sieben Projekte in Mindanao, zwei Projekte in Rakhine State und ein Projekt in Südthailand.51 Diese zehn IcSP-Projekte sind aber so konzipiert, dass sie nur einen indirekten Einfluss auf diese Konflikte haben können. Das heißt, sie verfolgen nur das Ziel, zivile Kapazitäten für Protektion und Prävention aufzubauen. Somit erfüllt IcSP zwar sein Mandat und überschreitet nicht die engen supranationalen sicherheitspolitischen Kompetenzen, doch fallen die Maßnahmen eher unter die Kategorie der Entwicklungszusammenarbeit. Die Einsätze scheinen daher in mancherlei Hinsicht eine Minimalinterpretation des IcSP-Mandats zu sein und nehmen eine besondere Rücksichtnahme auf ein integriertes Sicherheitsverständnis, um nicht zuletzt eine unnötige Duplikation von Kompetenzen zu vermeiden. Trotz aller Umsicht und Vorsicht kann der Europäischen Kommission dennoch immer wieder die Versicherheitlichung von Entwicklungspolitik vorgeworfen werden, da sie durch das IcSP versucht den traditionellen Sicherheitsbereich thematisch abzustecken, indem sie transregionale Sicherheitsbedrohungen, wie ethnische Konflikte, Terrorismus und Chemical, Biological, Radiological and Nuclear (CBRN) Risiken, im Directorate General (DG) for International Cooperation and Development (DEVCO) thematisiert. Diese Themen werden aber im Rahmen von DG DEVCO gemäß einer präventiven und entwicklungspolitischen Perspektive implementiert, ohne direkte sicherheitspolitische Zielsetzung. Zusätzlich verfolgt die Europäische Kommission eine institutionelle Differenzierung des praktischen Mandats. Die Zuständigkeit für die praktische Umsetzung von IcSP wird zwischen zwei verschiedenen Behörden der EU geteilt: zum einen der Generaldirektion Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (DG DEVCO), die für die präventive und damit hauptsächlich die Langzeit-Komponente zuständig ist, und zum anderen das Service for Foreign

51Diese

Auflistung wurde von der Website icsp.com entnommen und stimmt weitgehend mit dem Interviewmaterial der Autorin überein.

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Policy Instruments (FPI) beim EAD mit der Fokussierung auf einer robusteren und krisenorientierten Operationalisierung. Hierbei wird versucht, eine klarere Strukturierung der Grauzone von Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik zu schaffen, um einer institutionellen Versicherheitlichung entgegenzusteuern. Jedoch bedarf die Implementierug des IcSP einer weiteren konzeptionellen und regulatorischen Differenzierung.52 Hinsichtlich der EU als Förderer von regionaler Integration der ASEAN mit Einfluss auf die Stabilität und Sicherheit der Region gibt es nur wenige IcSP-Beispiele in Asien. Eines davon ist die Unterstützung von sogenannten ASEAN Crisis Centres durch IfS und IcSP. Durch dieses Projekt wurden Kapazitäten sowohl dem ASEAN-Sekretariat als auch den diversen relevanten Zentren der ASEAN-Mitgliedsstaaten zugesprochen, wie zum Beispiel dem ASEAN Coordinating Centre for Humanitarian Assistance on Disaster Managment (AHA Centre) und dem EU Centre of Excellence on Chemical, Biological, Radiological and Nuclear (CBRN) Risk Mitigation. Diese Assistenz beim Aufbau von regionalen Kapazitäten, die 2016 auslief, hat unter anderem versucht, durch Tagungen und Seminare fachrelevante Experten aus den Ministerien und wissenschaftlichen Einrichtungen der ASEAN-Staaten zusammenzuführen und nachhaltige intra-regionale Netzwerke zu entwickeln. Hierbei ist der potenzielle Einfluss auf die Sicherheit in der Region abermals in erster Linie struktureller und präventiver Natur, beruhend auf Vertrauensbildung und Vermittlung von fachspezifischen Kompetenzen. Zudem gilt hier, dass die Implementierung entwicklungspolitischer Natur ist, gleichzeitig aber auch von sicherheitspolitischen Schlagthemen profitiert.

5 Schlussfolgerungen Das  Hauptaugenmerk dieses Kapitels galt der vermeintlich günstigen institutionellen und systemischen Situation der EU-ASEAN-Beziehungen und der empirischen Belegung dieses Umstands mittels einer umfassenden und integrierten Sicherheitsperspektive, die relevante Mechanismen des gegenseitigen

52Bisher

haben das IfS und IcSP Einsätze in Südostasien folgende Merkmale gezeigt: 1. Zusammenarbeit mit Organisationen der Vereinten Nationen, zivilen Behörden und wissenschaftlichen Einrichtungen; generelle Ausführung von ziviler Natur in Absprache mit Partnern in den Ministerien; 2. Rolle der EU als Finanzierer von sicherheitsrelevanten Seminaren, Trainings- und Austauschprogrammen.

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sicherheitspolitischen Interesses berücksichtigte. Der bisherige erfolgreiche Beitrag der EU im Hinblick auf die Stabilität und Sicherheit in Südostasien beruhte vor allem auf zwei Vorgehensweisen: Erstens der Förderung der regionalen Integration zur Steigerung struktureller Resilienz und politischer Kohärenz sowie zweitens dem sicherheitspolitischen Dialog im Rahmen multilateraler und interregionaler Foren. Der Hauptteil begann mit einer Darstellung der institutionellen und systemischen Gegebenheiten und erörterte dann den tatsächlichen Handlungsraum der drei relevanten Dialogforen. Obgleich der Handlungsrahmen des EU-ASEAN-Dialogs substanzieller ist als jener der anderen zwei Foren und somit auch auf ASEAN-spezifische und entwicklungsrelevante Sicherheitsaspekte einzugehen vermag, so ist die primäre Sicherheitsagenda in allen drei Foren eine globale, die angesichts der Heterogenität der Mitglieder in erster Linie der Vertrauensbildung und dem Austausch von Information dient. Die ASEAN-Staaten legen diesen Fokus der Agenda aber nicht als Nachteil aus und profitieren sogar davon, wenn es darum geht, externe Einmischungen in die Intra-ASEAN-Angelegenheiten und Konflikte zu maßregeln. Angesichts der eher allgemeingültigen und globalen Orientierung der Mehrheit der Sicherheitsdiskurse in diesen Foren stellt die Förderung der regionalen Integration eine wichtige komplementäre Vorgehensweise der EU dar, um einen supranationalen sicherheitsfördernden Einfluss auf Südostasien zu nehmen. In diesem Zusammenhang erfolgte eine Betrachtung der EU-ASEAN-Beziehungen und des Nexus zwischen Entwicklung und Sicherheit. Es wurde gezeigt, dass die EU durch die Förderung von sozioökonomischen und entwicklungspolitischen Regionalprogrammen mit der Zielsetzung einer länderübergreifenden politischen und institutionellen Kohärenz stabilisierenden Einfluss auf die ASEAN-Region ausübt. Eine wichtige Rolle kommt in diesem Kontext auch dem Instrument für Stabilität und Frieden (IcSP) der EU zu. IcSP-Projekte mit regionalen ASEAN-Komponente besitzen einen potenziellen Mehrwert für die EU als supranationalem Sicherheitsakteur in Südostasien. Zudem unterstrich die IcSPDiskussion, dass eine erhöhte Berücksichtigung der Wechselbeziehung zwischen Entwicklung und Frieden in der EU-internen institutionellen Kompetenzverteilung nicht zwangsläufig eine Versicherheitlichung der Akteure und Vorgehensweisen bedeutet, da die Europäische Kommission darauf bedacht ist, der Versicherheitlichung auf Akteursebene sowohl in der Praxis als auch institutionell entgegenzuwirken. Dennoch bleibt der Nexus tückisch und birgt bei unvorsichtiger Handhabung das Risiko, die Akteure in den jeweiligen Bereichen gegeneinander aufzuwiegeln und Kapazitäten zu duplizieren.

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Trotz institutioneller Erneuerungen zeugt die momentane sicherheitspolitische Perspektive der EU gegenüber der ASEAN von Kontinuität. Diese Perspektive zeichnet sich erstens durch den Nexus von Sicherheit und Entwicklung aus und zweitens durch die fortdauernde Akteurskomplementarität zu den Vereinigten Staaten. Zum letzteren Punkt ist festzustellen, dass die derzeitige systemische Unsicherheit der US-geführten Struktur in Asien-Pazifik bis jetzt noch keine erhebliche Aufwertung der EU als Sicherheitsakteur nach sich gezogen hat. Die Profilierung der EU in der Region ist größtenteils als eine komplexe (Selbst-) Errungenschaft, wenn nicht gar (Selbst-)Kreation, der EU zu betrachten. Durch rege institutionelle Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit in ihrer Außenpolitik vermag es die EU wie keine andere Regionalorganisation, zu komplizierten Sachverhalten fundierte Debatten zu führen und umfassende Lösungsansätze vorzulegen. Die genannten Akteursproblematiken sind also in erster Linie solche, die sich aus den EU-internen Reflexionsprozessen ergeben und somit eher als strukturinhärente Probleme einzustufen sind. Abschließend ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass durch die diversen EU-Krisen zwar mehr Ressourcen für bestimmte Strukturen der EU-Sicherheitspolitik vorhanden sind, aber krisenbedingte intra-regionale Diskurse der EU keinen augenscheinlichen Einfluss auf die offizielle Sicherheitspolitik und Entwicklungspolitik gegenüber Südostasien ausübten. Auf längerer Sicht können gegenwärtige krisenbedingte institutionelle Entwicklungen der EU dennoch durchaus interessant für das ASEAN-Sekretariat und die ASEAN-Staaten sein. Es kann insgesamt festgehalten werden, dass nach vier Dekaden der offiziellen EUASEAN-Beziehungen die sicherheitspolitischen Interessen und Handlungsräume zwischen der EU und der ASEAN eine Aufwertung erlebt haben und deshalb der Eindruck gerechtfertigt erscheint, dass der EU als kollektivem Akteur in Südostasien eine politische und sicherheitspolitische Rolle zukommt.

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Dr. Naila Maier-Knapp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit des Instituts für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Rostock. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit Regionalismus und Interregionalismus der Europäischen Union (EU) und des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN). Ihr neuestes Buch in diesem Forschungsbereich Contemporary Inter-regional Dialogue and Cooperation between the EU and ASEAN on Non-traditional Security Challenges ist im Januar 2020 bei Routlegde Routledge erschienen.

Eurasische Wirtschaftsunion – ein D-Zug auf dem Abstellgleis? Die Integrationsstrategie der Russländischen Föderation im 21. Jahrhundert Ludmila Lutz-Auras Das neue Integrationsprojekt für Eurasien – Zukunft, welche heute geboren wird. (…) Die Eurasische Union ist ein offenes Projekt. Wir begrüßen den Beitritt weiterer Partner, insbesondere der Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Dabei haben wir nicht vor, irgendjemanden zu hetzen oder anzustoßen. Es muss eine souveräne Entscheidung eines Staates erfolgen, geleitet von den eigenen langfristigen Nationalinteressen. Wladimir Putin, 3. Oktober 2011.1

1 Einleitung: Von der Transsibirischen Eisenbahn zur eurasischen Integration Jeden Samstag kurz vor Mitternacht herrscht ein reges Gemenge auf dem Jaroslawler Bahnhof in Moskau, wo der dunkelgrüne Zug Nr. 20 „Vostok“ (der Osten) auf die meist mit überdimensionalen Gepäckstücken ausgestatteten Passagiere wartet. Einigen von ihnen steht eine sehr lange Reise bevor, die nach sieben Tagen und 7.622 km in der chinesischen Hauptstadt Peking endet.

1Putin

3.10.2011.

L. Lutz-Auras (*)  Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_8

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Dabei handelt es sich um eine Nebenlinie der längsten Bahnstrecke der Welt – der Transsibirischen Eisenbahn –, die laut dem Originalfahrplan 9.296 km von Moskau nach dem am Pazifik liegenden Vladivostok reicht. Die Transsib kreuzt auf ihrem Weg neun Zeitzonen, 16 Flüsse sowie zwei Kontinente, wobei 1.777 km auf Europa und 7.512 km auf Asien entfallen.2 Von dieser Hauptverkehrsachse Russlands zweigen viele Strecken nach Zentralasien, die Transmongolische Eisenbahn von Ulan-Ude in die Mongolei, Nordkorea und die Volksrepublik China ab. Dabei gründet die Transsib auf einer recht imposanten Entstehungsgeschichte, welche die Verwirklichung eines derartigen Mammutprojekts im Russländischen Reich zunächst als höchst fraglich erscheinen ließ. Zwar durchquerten bereits seit 1837 die erste Schienen den heutigen russländischem Boden, doch handelte es sich in diesem Fall lediglich um einen kleinen Privatzug für die monarchische Familie, der zwischen Sankt Petersburg und der Sommerresidenz „Zarskoje Selo“ insgesamt 23 km zurücklegte. Erst 1852 weihte das Romanov-Haus die zweite Bahnlinie zwischen der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg und Moskau mit einer Länge von circa 644 km ein, wobei sich in Deutschland zur gleichen Zeit schon über 8.000 km in Betrieb befanden.3 Vor dem Hintergrund der ökonomisch aufblühenden westlichen Welt konstatierte die russländische Führung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass auch Russland zur Ausbeutung der natürlichen, im äußersten Osten des Landes vorhandenen Reichtümer unmöglich länger auf Pferdefuhrwerke und Lastkähne setzen konnte. Um den einheimischen Aufschwung anzukurbeln und die Industrialisierung voranzutreiben, überzeugte der einstige Finanzminister Sergej Witte (1849–1915) den herrschenden Monarch Alexander III. (1845–1894) zum Bau einer Bahnlinie quer durch Eurasien. Die Berechnungen des Verkehrsministeriums für die Erstellung einer transkontinentalen Bahn nach Sibirien stießen jedoch zunächst auf den erbitterten Widerstand aus dem Finanzressort, da nach dem kostspieligen Krieg gegen das Osmanische Reich 1877–1878 die pekuniäre Situation des Landes sich in einem desolaten Zustand befand. Als jedoch 1886 die Generalgouverneure von Irkutsk und des Amurgebiets eindringlich vor der weiteren Vernachlässigung ihrer Provinzen durch das Zentrum sowie vor einem wachsenden Einfluss Chinas in der Region warnten, entschied

2Vgl.

Rekordy Transsiba [Die Rekorde von Transsib], URL: https://transsib.ru/cat-records. htm (15.04.2019). 3Vgl. Kraskovskij; Uzdina (1994, S. 145 f.).

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sich der waltende Regent Alexander III. für die Realisierung der ziemlich teuren Idee. Letztendlich beliefen sich die Kosten der insgesamt von 1891 bis 1916 andauernden Fertigstellung auf 1,5 Mrd. Rubel, welche ausschließlich aus der Staatsschatulle des Zaren stammen, obwohl auch andere Staaten involviert waren.4 Diese Kapitalanlage versprach allerdings große Erfolge, denn die strategischen Vorteile des gigantischen Vorhabens lagen auf der Hand: Die neue Verkehrsverbindung sollten den Zutritt zu den eisfreien pazifischen Häfen, einen besseren Zugriff auf sibirische Rohstoffe, das Anwerben ausländischer Investoren sowie die Erschaffung eines Raums für die expandierende russländische Wirtschaft ermöglichen. Ferner kalkulierte der erfahrene Unternehmer Witte, dass Russland durch die Transsib einen leichteren Zugang zum chinesischen Markt bekäme, was eine Verlagerung des europäischen Handels mit dem Reich der Mitte partiell auf diesen Weg bedinge. An diesen historischen Kontext anknüpfend entsteht der Eindruck, dass sich die Initiatoren der zum Anfang des 21. Jahrhunderts wiederkehrenden Versuche einer effektiven Bündelung einzelner Einheiten des eurasischen Territoriums stark an der Konzeption, der Intention und der Abwicklung des damaligen logistisch relativ anspruchsvollen Unterfangens orientierten. Nahezu simultan zum Startschuss der Transsibirischen Eisenbahn keimte in den 1920er Jahren eine neue geopolitische Geistesrichtung auf – der Eurasismus, dessen Anhänger es sich zum Ziel setzten, Russland sowohl vor dem Bolschewismus als auch vor dem Diktat des westlichen Universalismus zu retten. Sie verschmähten die durch das Ural-Gebirge materialisierte Trennung zwischen Europa und Asien, die Existenz eines dritten eurasischen Kontinents, dessen Zentrum Russlands verkörperte, postulierend. Die Weltsicht der Repräsentanten dieser Denkschule fußte auf der Behauptung, dass ein unüberwindlicher Gegensatz zwischen der eurasischen Kultur des Russländischen Imperiums einerseits und der „romano-germanischen“ Zivilisation Westeuropas andererseits vorherrsche, wie es der Linguist und einer der Urväter dieser Lehre Nikolaj Trubeckoj (1890–1938) registrierte. Trubeckoj und seine Weggefährten wiesen den allseits merkbaren Eurozentrismus vehement ab, die innige Verbundenheit Russlands mit Asien, seine komplexe Ethnogenese aus dem Kontakt mit finnougrischen, turkotatarischen Völkern während der Ära der mongolischen Dominanz der Goldenen Horde dabei glorifizierend.5

4Vgl. 5Vgl.

Žukov (1963, S. 133 ff.). Saviskij (1933); Trubeckoj (2005, S. 91–154).

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Nach dem irreversiblen Verschwinden der UdSSR von der politischen Landkarte avancierte der Eurasismus zunächst zu einer intellektuellen Mode und im Weiteren zu einem weltanschaulichen Paradigma nicht nur für die russländischen, sondern auch für etliche zentralasiatische und andere postsowjetische Intelligenzler. In einer als multipolar segmentiert wahrgenommenen Welt, in der Russland als Global Player fungiert, rückte dieses Gedankenkonzept immer stärker in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Debatten – sei es als Ideologie des NeoEurasismus, als „eurasisches Hinterland“ des postsowjetischen Raums oder in Gestalt der 2015 ihre Arbeit aufgenommenen Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Protektion der als positiv, kooperativ-integrativ interpretierten Ideen sollte vorranging die weltumspannend aufkeimenden Befürchtungen bezüglich Russlands hegemonialer Ambitionen lindern, den geopolitischen Zusammenhalt der eurasischen Region anhand sich stetig verdichtender ökonomischer Verflechtung gewährleisten, den politischen Führungsanspruch absichern, der Einflussnahme dritter internationaler Akteure in diesem Areal entgegenwirken und schließlich für stabile Lebensbedingungen der russischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der UdSSR ohne Diskriminierungen sorgen. Im 21. Jahrhundert trachtet jedes internationale Schwergewicht danach, ein eigenes Integrationsdesign im eurasischen bzw. im indo-pazifischen Raum installieren: 2011 verkündete der damalige US-Präsident Barack Obama mit seinem pointierten Programm des „Pivot to Asia“ das Konzept einer stärkeren Kooperation mit der Region, die durch die 2016 unterzeichneten Transpazifischen Partnerschaft (TTP) ihren hauptsächlichen Ausdruck fand. Sein Amtsnachfolger Donald Trump distanzierte sich jedoch recht schnell von der TPP. Die Volksrepublik China rief im Jahr 2013 unter der Losung „One Belt One Road“ die Initiative zur Wiederbelebung der sagenumwobenen Seidenstraße aus, welche die Bündelung von 64 asiatischen, europäischen und afrikanischen Ländern mittels eines dichten interkontinentalen Infrastruktur-Netzes erwägt. Als Reaktion darauf verlautbarte Chinas emsiger Rivale Indien, das den strategischen Wettlauf nicht paralysiert beobachten wollte, die Absicht der Ebnung einer Cotton Road, entlang derer Interaktionen rund um die Thematiken wie Bauwollanbau, Optimierung von Saatgut, Modernisierung der verarbeitenden Werke und Produktvermarktung sich ausprägen sollen.6 Die aufgelisteten Bemühungen müssen sich jedoch mit den Handlungen der fest etablierten Regionalmacht Russland arrangieren, das mit der Gründung der

6Vgl.

Joshi (2015, S. 314–337).

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Eurasischen Wirtschaftsunion seine Spitzenposition noch strammer fixierte. Denn von den 15 Staaten, in welche die UdSSR auseinanderdriftete, stellte die Russländische Föderation mit 17.075 von 22.402.200 Quadratkilometern und 147 Mio. von 285,7 Mio. Einwohnern der früheren Sowjetunion im Jahr 1989 nach wie vor das Herzstück Eurasiens dar.7 Obwohl Russland sich in der ersten postsozialistischen Phase seiner prestigeträchtigen Rolle als Weltreich beraubt und größtenteils wieder auf die Grenzen des früheren 18. Jahrhunderts zurückgeworfen sah, zementierte sich spätestens seit der Übernahme der Präsidentschaft von Wladimir Putin im Jahr 2000 im kollektiven Bewusstsein der Russländer ein hartnäckiger Großmachtanspruch. Die im Juli 2008 veröffentlichte außenpolitische Doktrin bezeichnete das Land als „eines der einflussreichen Zentren der modernen Welt“8, welches eine Führungsrolle auf der internationalen Bühne ausübt und insbesondere im postsowjetischen Raum über eine spezielle Einflusssphäre waltet. In diesem Zusammenhang betreibt Russland seine Politik vis-à-vis dem „Nahen Ausland“, als welches es die Nachfolgestaaten der UdSSR versteht, auf zweierlei Weise: Erstens unterhält es bilaterale Beziehungen zu jedem Akteur in diesem Raum. Zweitens versucht es, durch die Errichtung regionaler Organisationen integrativ zu wirken und sein historisch begründetes Machtverlangen nachhaltig zu festigen. Die Erzeugung einer gut funktionierenden Gemeinschaft bedarf dabei einer Reihe fundamentaler Faktoren: Gemeinsame Grenzen und einen Zugriff auf natürliche Ressourcen, verhältnismäßig komparable ökonomische Voraussetzungen, ähnliche politische Systeme, kulturelle Nähe sowie eine gemeinsame Linie in Hinblick auf die Bearbeitung ökologischer sowie sicherheitstechnischer Probleme.9 Den für die eurasische Integration auserwählten Ländern haften zudem einige spezielle Merkmale an, welche sie eng miteinander verzahnen: Die langandauernde Zugehörigkeit zu einem multiethnischen Sammelsurium. nahezu analoge Erfahrungen im Zuge der nach 1991 aufflammenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die Existenz eines dominierenden Zentrums in Gestalt Russlands, das alle entscheidenden Vorgänge diktiert, das Vorhandensein eingefrorener Konflikte wie die Causa Berg-Karabach oder Transnistrien und die

7Vgl.

Kotov (2001). vnešnej politiki Rossijskoj Federacii. 15 ijulja 2008 goda. [Konzeption der Außenpolitik der Russländischen Föderation. 15. Juli 2008]. 9Vgl. Gamble und Payne (1996); Mansfield und Milner (1999, S. 589–627). 8Koncepcija

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lukrativen Angebote seitens anderer attraktiver Partner außerhalb des vertrauten postsozialistischen Kreises. Trotz einiger bisher eher weniger fruchttragender Kooperationskampagnen auf den postsowjetischen Breiten nach dem Untergang des „Roten Imperiums“ entschieden sich die Regierungen Kasachstans, Belarus’, Armeniens und Kirgisiens für einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). Worin unterschiedet sich diese Allianz von den vorherigen von Russland gelenkten institutionellen Modellen wie der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)? Über welche außergewöhnlichen Ressourcen verfügt die Russländische Föderation, um ihren führenden Posten innerhalb der EAWU zu untermauern? Welche Beweggründe motivieren die anderen Mitglieder und potenzielle Beitrittskandidaten, sich an diesem Projekt zu beteiligen?

2 Symptomatische Attribute der eurasischen Integrationsroute – ein Blick durch das theoretische Teleskop Die Regionalisierung im postsowjetischen Raum begann nahezu simultan mit dem Untergang der sozialistischen Ordnung und der damit einhergehenden Zersplitterung des facettenreichen Konglomerats, von Anfang an Merkmale zweier miteinander verzahnter Komponenten beinhaltend – der Divergenz und der Konvergenz.10 Zum einen sympathisierte die Majorität der nun autonomen Länder mit der Zugehörigkeit zu gewohnheitsgemäß von Russland dominierten supranationalen Organisationen, um die über eine lange Periode hinweg aufgebauten Verbindungen aufrechtzuerhalten sowie die mancherorts entfachten Konflikte möglichst rasch einzudämmen. Zum anderen galt es, sich von dem „ewigen Hegemon“ zu emanzipieren, um die ersehnte Selbstständigkeit zur Umsetzung eigennütziger Interessen zu verwenden. Die bis dato unternommenen Integrationsversuche lassen sich grob in drei unterschiedliche Intervalle gliedern: In der als die „wilden 1990er“ betitelten, konfusen, in Hinblick auf die Neuregulierung politischer und ökonomischer

10Vgl. Vinokurov

(2007, S. 22 ff.).

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Konstellationen undurchschaubaren Dekade gab es etliche, meist seitens der Russländischen Föderation intendierte Vorstöße, die sich voneinander abgekoppelten Angehörigen der einstigen kommunistischen Familie in regionalen Organisationen wieder zu vereinen. Den wohl größten Bekanntheitsgrad erlangte die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), deren Gründung der am 8. Dezember 1991 von Boris El’cin, dem ukrainischen Präsidenten Leonid Kravčuk sowie dem belarussischen Staatsoberberhaupt Stanislau Schuschkewič unterzeichnete Vertrag beinhaltete11 – dasselbe Dokument, das die offizielle Auflösung der Sowjetunion besiegelte. Obwohl dieser Akt den Willen nur dreier der 15 Unionsrepubliken ausdrückte, blieb den anderen im aufwirbelnden Chaos der neuen Ismen zunächst nichts Weiteres übrig, als am 21. Dezember 1991 die dies bestätigende Alma-AtaErklärung sowie das damit zusammenhängende Beitrittsprotokoll zu signieren. Doch trotz der fixierten Prinzipien der Gleichheit aller Beteiligten, dem vehementen Gewaltverzicht, der Unverletzlichkeit der Grenzen, der friedlichen Lösung jeglicher Auseinandersetzungen und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten gerieten die GUS-Mitglieder recht schnell in Konflikte.12 Zahlreiche separatistische Strömungen in Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Tschetschenien, Berg Karabach der Ostukraine sowie Bürgerkriege in Georgien und Tadschikistan hinterließen tiefe Spuren in den ohnehin punktuell sehr empfindlichen Verhältnissen der Mitwirkenden zu einander. Bereits Ende der 1990er Jahre schwappten heftige Kritikwellen über den GUS-Komplex, die allgemeine Ineffizienz, bürokratische Ineffektivität, mangelnde Koordinierungsfähigkeit und lückenhafte Bündnisidee dabei pointierend. Als größter Misserfolg der Gemeinschaft kristallisierte sich die Tatsache heraus, dass die operierende Führungsriege eine große Anzahl von Vereinbarungen in verschiedenen Bereichen verabschiedete, die Mehrheit dieser Dekrete allerdings nie ratifizierte.13 Die Ursachen dafür wurzeln hauptsächlich in der fehlenden Bereitschaft der jeweiligen Akteure, erforderliche Einschränkungen ihrer Souveränität zuzulassen sowie in der Abwesenheit eines übergreifenden Integrationsziels. Es erstaunt daher nicht, dass sich unter dem GUS-Schirm ein

11Vgl. Postanovlenie Verchovnogo Soveta RSFSR ot 12 dekabrja 1991 goda Nr. 2014-I „O ratifikacii Soglašenija o sozdanii Sodružestva Nezavisimych Gosudarstv“. [Verordnung des Obersten Rats der RSFSR vom 12. Dezember 1991 Nr. 2014-I „Über die Ratifikation der Einigung zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten]“. 12Vgl. Ustav Sodružestva Nezavisimych Gosudarstv (g. Minsk, 22 janvarja 1993 goda). [Statut der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (Minsk, 22. Januar 1993]. 13Vgl. Kondratov (2013, S. 57–80).

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relativ dichtes auf Moskau zentriertes Netz bilateraler Verbindungen mit mehr oder weniger ergiebigen Substrukturen entstand. Während der von 2000 bis 2004 andauernden zweiten Phase konzentrierte sich die Führungselite der russländischen Regierung unter der Ägide des neuen Präsidenten Wladimir Putin wesentlich stärker auf die institutionellen Verkettungen innerhalb des postsowjetischen Raums. In der 2000 veröffentlichten Konzeption der Nationalen Sicherheit Russlands hieß es: Die nationalen Interessen Russlands in der internationalen Sphäre umfassen die Gewährleistung der Souveränität, die Festigung der Position Russlands als Großmacht als eines der Einflusszentren in der multipolaren Welt, die Entfaltung gleichberechtigter und gegenseitig vorteilhafter Beziehungen mit allen Ländern und Integrationsvereinigungen, vor allem mit den GUS-Mitgliedsstaaten sowie mit den traditionellen Partnern Russlands, die allgemeine Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen (…) anwenden.14

In der Praxis richtete sich der von Wladimir Putin präferierte außenpolitische Trend intensiver an ökonomischen und weniger an sicherheitspolitischen Kriterien aus, welche sich nicht unbedingt im Rahmen der schon vorhandenen regionalen Strukturen untermauern ließen. Es bedurfte also der Etablierung neuer Organisationen, die sich auf bestimmte Subregionen spezialisierten. Diesem Leitmotiv entsprechend vereinigten sich Russland, Belarus, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisien im Jahr 2000 unter dem Dach der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaf (EAWG), welche sie zum Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen sowie zur beträchtlichen Progression der wirtschaftlichen Zusammenarbeit untereinander verpflichtete. 2003 schlossen Russland, Belarus und Kasachstan ein Abkommen über die Errichtung eines einheitlichen Wirtschaftsraums ab, welchem nach einem langem Zögern auch die damalige ukrainische Machtzentrale letztendlich zustimmte.15 Diese Unternehmungen visierten zuvörderst eine stufenweise Justierung lukrativer Freihandelszonen, Zollunionen, der Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital bis hin zur Einführung einer gemeinsamen Währung an.

14Ukaz

Prezidenta Rossijskoj Federacii ot 10.01.2000 g. Nr. 24. O Koncepcii nacional’noj bezopasnosti Rossijskoj Federacii.[Dekret des Präsidenten der Russländischen Föderation vom 10.01.2000 Nr. 24. Über die Konzeption der nationalen Sicherheit der Russländischen Föderatin]. 15Vgl.

Slipenčuk (2012, S. 220 ff.).

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Die bis in die Gegenwart anhaltende dritte Periode charakterisierten vorerst epochale Ereignisse wie die Rosenrevolution in Georgien von 2003, die Orangene Revolution in der Ukraine im Winter 2004 oder die kirgisische Tulpenrevolution im März 2005. Diese „bunten“ Umwälzungen verursachten substanzielle Regimewechsel in den betroffenen Ländern, warben für (pseudo-)demokratische Grundordnungen, beschworen eine damit rechtfertigende Distanzierung von Russland und prägten somit die langfristige Stimmung in der gesamten Region. Diese bahnbrechenden Geschehnisse torpedierten die ohnehin ziemlich holperige Regionalisierungskampagne, die temporär komplett zu erliegen drohte. Im Zuge dieses der Russländischen Föderation ins Gesicht wehenden kalten Windes versuchten einige Staaten des „nahen Auslands“, eine Balancing-Allianz gegenüber dem wetteifernden Hegemon zu kultivieren. Am 23. Mai 2006 revitalisierten die Regierungschefs aus Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldova die bereits 1999 ins Leben gerufene Initiative „Für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung – GUAM“, die sie nun formell in eine vollwertige internationale Organisation umwandelten. Das Quartett der Unwilligen und sich von Russland Abwendenden, welchem die USA eine finanzielle Geburtshilfe leisteten, verlor jedoch zwischenzeitlich an Relevanz und traf erst nach einer zehnjährigen Pause am 27. März 2017 in Kiev zusammen, um einen zeitgemäßen Fahrplan aufzustellen.16 Dieses hoch ambitionierte, von der „Wiedereingliederung“ der Halbinsel Krim an das russländische Territorium provozierte Gipfeltreffen konnte allerdings weder ein Gegengewicht zu Russland bilden noch realitätstaugliche Taktiken aufstellen. Die im Kreml waltenden Machtinhaber reagierten auf solche Vorgehensweisen mit ökonomischen Sanktionen wie plötzlich kometenhaft steigenden Preiserhöhungen für Energieprodukte oder Importstopps für Agrarerzeugnisse, welche die Betroffenen teilweise in den pekuniären Ruin stürzten. Parallel dazu verlagerten sie ihren Fokus auf den Aufbau der Eurasischen Wirtschaftsunion, welche noch einige elementare Vorbereitungen benötigte. Einen folgeschweren Wendepunkt erreichte der eingeschlagene Kurs durch die im November 2013 aufgrund der Unterschriftverweigerung des lang verhandelten Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union seitens des zu jenem Moment den höchsten Staatsposten bekleidenden Viktor Janukovičs ausgebrochene Ukraine-Krise, die in eine bewaffnete Auseinandersetzung im Osten des Landes mündete. Dies findet seinen unverkennbaren Ausdruck in den offiziellen Bestimmungen der Russ-

16Vgl.

Sokov (2017).

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ländischen Föderation, wie es die Autoren der 2013 verabschiedeten „Konzeption der Außenpolitik der Russländischen Föderation“ formulierten: „Ein besonderes Augenmerk gilt der Arbeit von Organisationen und Strukturen, welche die Integrationsprozesse innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) fördern“.17 In der 2016 aktualisierten Fassung sucht der Leser diese Textpassage vergeblich: Obgleich das Papier nach wie vor das Vorhandensein einer multipolaren Welt akzentuiert, in welcher der „historische Westen“ kontinuierlich an seiner herkömmlichen Bedeutung verliert, gibt es erstmalig keine direkten Hinweise mehr auf die prioritäre Betrachtung der ehemaligen UdSSR-Republiken. Das sich eindeutig als furchtlose Großmacht definierende Russland möchte demnach lediglich aktiv die Möglichkeiten regionaler ökonomischer und finanzieller Organisationen zur Entwicklung der nationalen Wirtschaft nutzen, dabei insbesondere die Tätigkeiten von Bündnissen und Strukturen beachtend, welche die Festigung der integrativen Prozesse in Eurasien begünstigen.18

Entsprechend dieser Maxime zelebrierten der kasachische Präsident Nursultan Nazarbajev, sein belarussischer Amtskollege Alexander Lukašenko und das russländische Staatsoberhaupt Wladimir Putin die prompte Inkraftsetzung der Eurasischen Wirtschaftsunion am 1. Januar 2015. Zu ihren primären Zielen zählte die juristisch versicherte Garantie des freien Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften. Ferner deklarierten die Bündnispartner die konsequente Absicht, in den Bereichen der Landwirtschaft, Industrie sowie des Transport- und Energiewesens in Zukunft noch enger miteinander zu kooperieren.19 Der Europäischen Union, den USA sowie der Volksrepublik China schien ein voluminöser Konkurrent mit rund 170 Mio. Menschen, mehr als 2,2 Billionen US$ Wirtschaftsleistung und einem Fünftel der gesamten Gasreserven entgegenzutreten. So verwundert es nicht, dass schon bald viele skeptische Stimmen ertönten, die eine von Russland stimulierte Reanimierung

17Koncepcija

vnešnej politiki Rossijskoj Federacii. 12 fevralja 2013 goda. [Konzeption der Außenpolitik der Russländischen Föderation. 12. Februar 2013]. 18Koncepcija vnešnej politiki Rossijskoj Federacii. 30 nojabrja 2016 goda. [Konzeption der Außenpolitik der Russländischen Föderation. 30. November 2016]. 19Vgl. Dogovor o Evrazijskom Ekonomičeskom Sojuze. [Vertrag über die Eurasische Wirtschaftsunion].

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der Sowjetunion in modernisiertem Outfit vermuteten. Welche perspektivischen Ambitionen, Zielsetzungen und Erwartungen verbargen sich aber tatsächlich hinter dieser eingangs für eine große Furore sorgende Aktion?

3 Der innenpolitische Antrieb der russländischen Lokomotive Als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Dezember 1991 von der politischen Landkarte verblasste, platzte ein in der Oktoberrevolution 1917 seinen Ausgang genommenes sozialistisches Experiment, welches neben der territorialen und militärischen Auflösung des Riesenreiches auch die Annullierung einer als unerschütterlich empfundenen Weltmachtidentität bedeutete. Der schlagartige Verfall gewohnter Wertvorstellungen verursachte im postkommunistischen Russland ein ideologisches Vakuum, eine massenhafte moralische Desillusion sowie eine Infragestellung der nationalen Selbstdefinition in einer veränderten internationalen Umwelt. Neben der Renaissance des immer stärker strahlenden Konservatismus, welcher gepaart mit inbrünstigem Patriotismus sowie mit den von der Russisch-Orthodoxen Geistlichkeit definierten christlichen Werten und Behütung des traditionellen Familienbilds (in Anspielung auf die vehemente Ablehnung gleichgeschlechtlicher Verehelichung) auftrat, determinierte die Überzeugung, Russland versinnbildliche einen überaus gewichtigen Staat, zum festen mentalen Pfeiler der Allgemeinheit.20 In der seitens des einzigen staatlich unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum im November 2018 landesweit durchgeführten Umfrage kristallisierte sich heraus, dass 75  Prozent der Befragten die Ansicht vertrat, die Russländische Föderation figuriere seit Anfang der 2000er Jahre unbestreitbar als eine leistungsfähige Großmacht. Weitere 62  Prozent der Respondenten  gaben an, Russen seien Angehörige eines auserwählten Volks, welchem eine besondere Bedeutung in der Weltgeschichte zukomme.21 Was verbirgt sich hinter diesem erneut modernen, sowohl in der öffentlichen Rhetorik als auch im wissenschaftlichen Diskurs mittlerweile inflationär verwendeten Begriff „Großmacht“ und welche Rolle spielt dieser im Regionalisierungsbestreben der Eurasischen Wirtschaftsunion?

20Vgl.

Panteleeva (2008, S. 14 ff.). Nacional’naja identičnost’ i gordost’. Press-Vypusk 17.01.2019. [Nationale Identität und Stolz. Pressemeldung vom 17.01.2019]. 21Vgl.

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Der „geistige Vater“ des Neorealismus Kenneth Waltz legte fünf Kriterien fest, welche einen Staat als Großmacht kategorisieren: Bevölkerungszahl und Territorium, Ressourcenausstattung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, politische Stabilität und Kompetenz, militärische Stärke.22 Laut Barry Buzan und Ole Weaver bedarf es zudem einer gesunden Mixtur aus materiellen Kapazitäten, der internationalen Akzeptanz dieses Status sowie der Mitwirkung in Bezug auf die gegenwärtige und zukünftige Machtdistribution im globalen Kontext.23 Der letztgenannte Referenzpunkt zeigt, dass das Agieren eines Staates auf einem derart hohen internationalen Niveau sich nicht lediglich auf ein geografisch nahe gelegenes Gebiet beschränken kann. Sich an diesen Fakten festhaltend, attestierte der russländische Politikwissenschaftler Aleksandr Meškov: „Russland hat einfach keine andere Möglichkeit, als sich im Format einer Großmacht zu präsentieren. Dies ist eine historisch begründete Tatsache“.24 Meškov untermauert seine Behauptung mit Argumenten wie dem Vorhandensein einer meisterhaften Militärtechnologie, eines dementsprechend hervorragend ausgebildeten Kaders und dem Vorkommen zahlreicher wertvoller Bodenschätze. Seine am renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) tätige Kollegin Tatjana Šakleina entwarf einen theoretischen Kompass, an welchem sich die russländische Regierung zu orientieren scheint. Demnach muss eine Großmacht über folgende Eigenschaften verfügen: 1. Die Wahrung eines sehr hohen (oder absoluten) Grades an Unabhängigkeit bei der Fixierung von innen- und außenpolitischen Richtlinien; 2. Das Vorhandensein traditioneller Parameter wie territoriales, menschliches, militärisches, hinsichtlich der Rohstoffe wohlsituiertes, ökonomisches, intellektuelles, kulturelles, wissenschaftliches und technologisches Potenzial; 3. Die Sicherung nicht ausschließlich nationaler Interessen, sondern auch die Fähigkeit maßgebender Beeinflussung globaler Geschehnisse und regionaler Vorherrschaft über mehrere Länder.25 Allein aufgrund seiner Ausdehnung über 17.075.400 Quadratkilometer verstand sich Russland stets als ein eurasisches Land der Superlative, dessen sich über

22Vgl.

Waltz (1979, S. 131). Buzan und Wæver (2003, S. 32–35). 24Meškov (1999, S. 3). 25Vgl. Šakleina (2011, S. 29–39). 23Vgl.

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elf Zeit- und nahezu alle Klimazonen erstreckenden Weiten den größten Fluss Europas (Volga), das weltweit älteste und tiefste Binnengewässer (Baikalsee) sowie die längste Eisenbahnstrecke der Welt (Moskau-Vladivostok) beherbergen. Ferner verfügt der flächenmäßig größte Staat der Welt über ein stolzes Arsenal an Nuklearwaffen, einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat, die Mitgliedschaft in wichtigen internationalen Governance-Foren, wie der G-20, und beteiligt sich an Vermittlungsformaten in zentralen Schlüsselregionen, wie beispielsweise den 3 + 3-Gesprächen zum Iran-Konflikt oder dem sich mit der Friedensfindung in der beständigen Auseinandersetzung zwischen den Israelis und Palästinensern befassenden Nahost-Quartett.26 Auch wenn Russland nur sehr begrenzt mit ökonomischen Giganten wie den USA oder China konkurrieren kann, nimmt es als weltgrößter Erdgasexporteur und zweitgrößter Erdöllieferant eine exponierte Stellung ein, insbesondere im Hinblick auf die Versorgung der Europäischen Union und des postsowjetischen Raums. Ausgestattet mit diesen für eine regionale Führung und somit auch eine Großmacht notwendigen Attributen proklamierte Wladimir Putin zusammen mit den „ewigen“ Präsidenten Kasachstans Nursultan Nazarbajev und seinem belarussischen Konterpart Aleksandr Lukašenko am 1. Januar 2015 den relativ langfristig angekündigten Arbeitsbeginn der Eurasischen Wirtschaftsunion, wobei die Russländische Föderation eindeutig als finanziell am prallsten betankte Lokomotive fungierte – beladen mit etwa 88  Prozent des EAWU-Budgets, 77 Prozent aller Energieressourcen sowie über zwei Dritteln jeglicher Güter- und Dienstleistungsexporten des eurasischen Zugs.27 Fragen rund um die postsowjetische Integration und die Installation einer supranationalen Institution unter russländischer Leitung beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre sowohl die Öffentlichkeit als auch die lenkenden Eliten des Landes, weshalb die Letzteren diese stets zu einem der wichtigsten Themen ihrer Wahlkämpfe auserkoren. Im Laufe seines ersten Präsidentschaftsstadiums in den Jahren 2000–2004 repetierte Wladimir Putin bei diversen öffentlichen Auftritten, Russland sei in seiner Denkweise und Kultur ein buchstäblich europäisch geprägter Staat, welcher „eine wirkliche Kraft in Europa zu werden“ strebte.

26Vgl.

Učastie Rossii v mnogostoronnich soglašenijach, meždunarodnych organizacijach i ob’edinenijach (krome SNG). [Mitgliedschaften Russlands in mehrseitigen Abkommen, internationalen Organisationen und Vereinigungen (außer GUS)]. 27Evrazijskaja Ekonomičeskaja Komissija: Evrazijskij Ekonomičeskij Sojiz. Cyfry i fakty. (2018 g)Eurasische Wirtschaftskommission: Eurasische Wirtschaftsunion. Zahlen und Fakten 2018].

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Gleichwohl beteuerte er kurz nach seinem Amtsantritt im November 2000 in einem eigenhändig verfassten Artikel „Russland: neue östliche Perspektive“, dass die Russländische Föderation „sich schon immer als eurasisches Land gefühlt hat. Wir haben niemals vergessen, dass sich der Hauptteil des russländischen Territoriums in Asien befindet. Es stimmt, offen gesagt, dass wir diese Vorteile nicht immer genutzt haben.“28 Am 7. Mai 2012, dem Tag seiner dritten zeremoniellen Inauguration zum russländischen Staatsoberhaupt, bekundete Wladimir Putin einen divergenten Kurswechsel: Heute treten wir eine neue Etappe der nationalen Entwicklung an, in der wir Herausforderungen auf anderen Ebenen, in unterschiedlicher Qualität und prinzipiell anderem Umfang gerecht werden müssen. (…) Und wir alle sollten verstehen, dass das Leben der künftigen Generationen, die historische Perspektive des Staates und unserer Nation heute nur von uns abhängen, von einem realen Fortschritt in der Errichtung einer neuen Wirtschaft und modernen Lebensstandards, von unseren Bemühungen zum Schutz des Volkes und zur Unterstützung russländischer, von unserer Beharrlichkeit in den riesigen russländischen Räumen von der Ostsee bis zum pazifischen Ozean, von unserer Fähigkeit, Führer und Kraftzentrum ganz Eurasiens zu werden.29

Das als strategische Werbekampagne für den zum dritten Mal um das Präsidentschaftsamt ringenden Wladimir Putins im Jahr 2011 begonnene Unterfangen mit dem Ziel, einen soliden Gegenpol zur der sich zunehmend als unbequem entpuppenden Europäischen Union zu schaffen, versprach anfänglich kaum bahnbrechende Erfolge. Doch die Eskalation der stürmischen Konfrontation mit der Ukraine und die völkerrechtlich nicht anerkannte „Heimholung“ der Halbinsel Krim zwang Moskau zum raschen Handeln, um eine komplette internationale Isolation zu vermeiden. Sowohl die politische Gesichtswahrung als auch die Verhinderung eines totalen wirtschaftlichen Bankrotts führten dazu, dass die regierenden Parteien die Konsolidierung dieses extrem ambitionierten Projekts in Eurasien zur höchsten Priorität erklärten. Dafür musste Moskau einen recht stolzen Preis entrichten – den gänzlichen Verzicht auf die als Mitglied eigentlich unentbehrliche Ukraine sowie auf die politische Komponente der eingangs als eine solche angedachte Union, für die der frühere Duma-Vorsitzende und enge Vertraute Putins Sergej Naryškin sogar die Etablierung eines Eurasischen

28Putin 29Putin

(2000). (2012).

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Parlaments auf der Basis direkter demokratischer Wahlen vorsah.30 Doch weder in Astana noch in Minsk stieß diese Idee auf Begeisterung, weshalb Nursultan Nazarbaev, die Gunst der im November 2013 in der Ukraine aufgeflammten Krise nutzend, im Dezember 2013 entschlossen bekannt gab: Wir bilden eine Wirtschaftsunion. Es ist daher nicht die Aufgabe der Kommission, in das Abkommen Gesetze aufzunehmen, die über die wirtschaftliche Integration hinausgehen. Ich denke, dass wir deutlich über dieses Thema gesprochen haben. Bereiche wie Grenzschutz, Migrationspolitik, Verteidigungs- und Sicherheitssystem sowie Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kultur, Rechtshilfe in Zivil-, Straf- und Verwaltungssachen sind nicht relevant für die wirtschaftliche Integration und können keinesfalls auf dieses Format übertragen werden.31

Nichtsdestotrotz schätzte Wladimir Putin sein Land als Dreh- und Angelpunkt Eurasiens ein – im Westen resoluter Pionier eines christlichen Europas, welches seine Wurzeln zu vergessen scheint, im Osten ein vitales Schwergewicht Asiens. Als gigantischer multiethnischer und multikonfessioneller Staat hätte die Russländische Föderation per se eine nacheifernswerte Vorbildfunktion, diagnostizierte der Präsident: „Russland als eurasisches Land ist ein einzigartiges Beispiel für ein Gemeinwesen, in dem sich der Dialog der Kulturen und der Zivilisationen faktisch zu einer jahrhundertalten Tradition im staatlichen und gesellschaftlichen Leben etablierte.“32 Putin illustrierte kraft solcher Äußerungen nicht lediglich die seit 2012 ernstlich anvisierte „asiatische Wende“ sowohl in der innen- als auch in der außenpolitischen Ausrichtung Russlands, sondern verlautbarte seine Faszination für das metaphysische Modell der Vielfalt in der Einheit, welches er zur fundamentalen Grundkomponente der kollektiven Nationalidentität zementieren möchte.

4 Die sozio-ökonomischen Stoßkräfte Der Niedergang der UdSSR zündete ein Feuerwerk an politischen, kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen und ökonomischen Transformationsprozessen, deren Funken partiell bis in die Gegenwart in den einzelnen Nachfolgestaaten

30Vgl.

Golubkova (2012). nach Netreba (2013). 32Putin (2003).

31Zitiert

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noch lichterloh leuchten. Das Jahr 1991 symbolisierte nicht nur das bittere Ende des kommunistischen Regimes, sondern auch die Eliminierung der handelsindustriellen Kooperationen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken und damit eine massive Unterbrechung der miteinander verknüpften Produktionsketten. Die zur Förderung von schwach strukturierten Räumen wie Belarus oder Kasachstan errichteten Territorialen Produktionskomplexe (TPK) – gekennzeichnet von einer innergebietlichen Verflechtung von großen Unternehmen, der komplexen Nutzung von ortsgebundenen Ressourcen, der proportionalen, aufeinander abgestimmten Entwicklung verschiedener Gewerbe und Dienstleistungen sowie bestimmter Forschungseinrichtungen33 – kamen zum Stillstand. Die Funktionsweise solch eines TPK lässt sich am folgenden Exempel veranschaulichen: Aufgrund der günstigen klimatischen Konditionen spezialisierten sich die kasachischen und usbekischen Landwirtschaftsbetriebe auf die Zucht von allseits gefragter Baumwolle. Nach der Ernte transportierte eine eigens dafür geschaffene Spedition das Rohmaterial in das wegen des überdurchschnittlich hohen weiblichen Bevölkerungsanteils als „Stadt der Bräute“ betitelte Örtchen Ivanovo, wo es die ebenfalls hauptsächlich aus Frauen bestehende Belegschaft der dortigen Textilfabriken verarbeitete. Die in Ivanovo hergestellte Meterware ging nach Belarus und in die Baltischen Republiken, wo sich die zur Kleidungserzeugung notwendigen Nähwerkstätten befanden.34 Diese mit den von der KPdSU-Spitze formulierten Vorgaben übereinstimmende, künstlich geschaffene Abhängigkeit der 15 Sowjetrepubliken entpuppte sich als ziemlich robust, weshalb viele der postsowjetischen Regierungseliten ein Interesse an einer sukzessiven Rekonstruktion der damaligen ökonomischen Verkoppelungen bekundeten. Der wissenschaftliche Berater Wladimir Putins in Belangen der regionalen wirtschaftlichen Integration, Sergej Glaz’ev, lokalisierte in der Außerkraftsetzung der in der UdSSR kreierten Verbindungen sowie der sich daran anschließenden Einführung von Außenhandelszöllen signifikante Ursachen für die leichte „Verwundbarkeit postsowjetischer Volksökonomien“. Seiner Ansicht nach stellen die Wiederbelebung herkömmlicher technologischer Kausalitäten sowie die Entwicklung einer gut durchdachten Strategie zur Förderung der eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft wichtige Voraussetzungen für die künftige Wettbewerbsfähigkeit einzelner Staaten dar, die bislang nur sehr wenige den internationalen Standards

33Vgl. 34Vgl.

Morozova (1983). Zapol’skis (2017).

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entsprechende und auf dem Weltmarkt gefragte Konsumgüter herstellen.35 Glaz’ev lässt bei seiner zunächst als überzeugend und logisch wirkenden Argumentation allerdings außer Acht, dass die kommunistischen Machtinhaber in den verschiedenen Zonen der UdSSR absolut unterschiedliche Industriezweige und die dazu gehörigen Werke auf teilweise stark voneinander abweichendem Niveau installierten. Darüber hinaus konzentrierte sich die sowjetische Wirtschaft vorwiegend an Erfordernissen des Militärsektors, die alltäglichen Bedürfnisse privater Verbraucher dabei kaum beherzigend. Ähnliche Argumente wie Sergej Glaz’ev anführend, trug das kasachische Staatsoberhaupt a.  D. Nursultan Nazarbaev am 29. März 1994 in der Moskauer Staatlichen Lomonossov-Universität (MGU) erstmalig die Idee zur Gründung einer Eurasischen Wirtschaftsunion vor. Vom Charme des radikalen Umgestaltungsdrangs und der langwierigen Sehnsucht nach Eigenständigkeit umweht, zeigten die in den ehemaligen Sowjetrepubliken nach der „sanften Scheidung“ vom sozialistischen Lebensmodell das Ruder übernommenen Politiker keine große Begeisterung für ein solches Projekt. Erst 2011 gewann dieser Integrationsgedanke erneut an Bedeutung: Nach der Veröffentlichung des von Wladimir Putin formulierten Artikels „Das neue Integrationsprojekt für Eurasien – Zukunft, die wir heute geboren haben“ in der populären russländischen Tageszeitung „Izvestija“, publizierte auch Nursultan Nazarbaev den Beitrag „Die Eurasische Union: Von der Idee zu der Geschichte der Zukunft“ im gleichen Printmedium. In diesem an eine offizielle Doktrin erinnerndem Text schilderte der „ewige Präsident“ Nazarbaev die Vision einer künftigen Eurasischen Vereinigung, welche auf wirtschaftlichem Pragmatismus, freiwilliger Teilnahme, dem Fehlen einer universalen Ideologie, absoluter Gleichheit und einem Konsens aller Mitglieder beruhte.36 Auch wenn Wladimir Putin seinen älteren Amtskollegen als geistigen Vater der als eine alternativlose Notwendigkeit inszenierten Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion auftreten ließ, übernahm die russländische Präsidialverwaltung die Organisation und die Durchführung sowohl des inhaltlichen als auch formellen Akts. Dabei ging es primär um den Aufbau eines gemeinsamen Marktes von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften, was eine Unterstützung seitens großer Konzerne, die Einleitung einer raschen Modernisierung der meist maroden Technologien sowie die Erzeugung einer all

35Vgl. 36Vgl.

Glaz’ev (2009, S. 10–25). Nazarbaev (2011).

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dies begünstigenden politischen Atmosphäre implizierte.37 Das Vorhandensein äußerst ähnlicher gesellschaftlicher und bürokratischer Strukturen sowie einer Lingua Franca (Russisch) in der Russländischen Föderation, Kasachstan und Belarus beschleunigte die Manifestation der eine ökonomische Integration des postsowjetischen Raums anpeilenden supranationalen Institution enorm. Als Reaktion auf die gen Osten gerichtete Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union und die mit der Ukrainekrise seit 2013 einhergehenden Entfremdung von den westlichen Partnern widmete sich Russland intensiv dem eurasischen Projekt und betrachtete dieses als eine vielversprechende Möglichkeit für eine engere Verzahnung, ein effektives Produktionswachstum und eine generelle Diversifizierung der Volkswirtschaften zwischen den EAWUAngehörigen. Da die Russländische Föderation in diesem Zusammenhang zweifelsfrei eine all die anderen Akteure anführende Lokomotive verkörpert, hängt der gesamte Erfolg von den dort vorherherrschenden Verhältnissen ab. Unmittelbar vor der öffentlichen Ausrufung der EAWU zogen jedoch düstere Wolken am ökonomischen Horizont Russlands auf, was die begonnene Fahrt zunächst erheblich erschwerte: Das Wirtschaftswachstum stagnierte im Jahr 2014 bei lediglich 0,6 Prozent, die Preise für Energieträger wie Erdgas und -öl sanken rapide, der Internationale Währungsfond prognostizierte eine Rezession von −3,0 Prozent, der Rubel verlor 30 Prozent an Wert, die finanziellen Reserven schrumpften auf unter 378 Mrd. US$.38 Warum also entschieden sich die russländischen Machtinhaber dennoch dafür, in ein Integrationsmodell stolze Summen zu investieren, welches nur wesentlich ärmere Staaten wie Kasachstan, Belarus, Kirgisien und Armenien zu bündeln vermochte? Es gibt eine ganze Reihe kleinerer und größerer Programmpunkte, von denen sich die Russländische Föderation frappante Gewinne versprach: Anfänglich äußerte Wladimir Putin den Wunsch, zusammen mit der Europäischen Union eine Freihandelszone „von Lissabon bis Vladivostok“ zu generieren. Mit der Verhängung gegenseitiger Sanktionen änderte sich das Ziel: Seit 2014 ging es primär darum, einen innerhalb der EAWU gültigen Zollkodex zu verabschieden, um eine einheitliche rechtliche Grundlage für alle damit verknüpften Vorgänge zu konsolidieren, jegliche interne Abwicklungen zu optimieren und die Zölle gegenüber Drittländern zu harmonisieren. Die Ratifizierung dieses Gesetzes erfolgte

37Vgl.

Evrazijskaja Ekonomičeskaja Komissija: Evrazijskij Ekonomičeskij Sojiz. Cyfry i fakty. (2018 g). [Eurasische Wirtschaftskommission: Eurasische Wirtschaftsunion. Zahlen und Fakten 2018]. 38Vgl. World Bank Group: Russia Economic Report No. 34 I September 2015.

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im Januar 2018, wobei Russland seine Tarife und Bedingungen durchsetzte und dadurch Vorteile anderer Mitspieler neutralisierte, wie jene von Kasachstan, welche es sich mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation große Vorteile verschaffte.39 Seit der daraus resultierenden Abschaffung der bis dahin waltenden Zollschranken überschwemmten russländische Billigwaren die kasachischen, belarussischen, armenischen und kirgisischen Märkte, die Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Produzenten dabei erheblich schwächend. In Kontrast dazu bezogen Russland und Belarus auch weiterhin mangelnde Konsumgüter nicht von den EAWU-Nachbarn, sondern aus der Europäischen Union; Kasachstan favorisierte eher China als Kirgisien; Armenien paktierte lieber mit Deutschland als mit Belarus.40 Während der Handelsumsatz zwischen Belarus, Kasachstan und Russland im Jahr 2014 noch 61,2 Mrd. US$ betrug, belief er sich 2016 auf noch lediglich 42,9 Mrd. US$ trotz zwei neuer Mitglieder. 2017 stieg der EAWU-interne Warenaustausch wieder auf 54,7 Mrd. US$, ohne allerdings dabei die ursprüngliche positive Bilanz zu erreichen. Im Gegensatz dazu stiegen die Exporte nach China, welches mittlerweile einen gewichtigen Konkurrenten gegenüber der Russländischen Föderation verkörpert, von 35,1 Mrd. US$ 2015 auf 45,3 Mrd. US$ im Jahr 2017 und die Importe von 43,8 Mrd. US$ 2015 auf 57,4 Mrd. US$ an.41 Demnach zirkulierte das erworbene Kapital nicht innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion, sondern verließ ihre Grenzen und strömte auf die Bankkonten anderer Partner. Bereits seit 1991 kokettiert die „Energiesupermacht“ Russland mit den Vertrauten des „Nahen Auslands“, um unter anderem einen langwierigen und sicheren Zugang zu deren Naturschätzen zu erlangen. Da die Russländische Föderation, welche über rund 6,4 Prozent (106,2 Mrd. Barrel) der noch allgemein existierenden Ölreserven, 17,4 Prozent (34 Billionen Kubikmeter) der Erdgasvorräte und etwa 15,2  Prozent (160 Mrd. Ton) der Kohlebestände verfügt,42 diese eminente Position unbedingt bewahren möchte, bemüht sich die lenkende Führungsschicht um eine nachfragegerechte Steigerung der einheimischen Förderung. Welchen herausragenden Stellenwert dieser Wirtschaftszweig auch in

39Vgl.

hierzu Kulikov, Sergej: Cyfra rešaet vse. [Die Ziffer entscheidet alles], in: Rossijskaja gazeta 16.01.2018. 40Vgl. Eurasische Wirtschaftsbank (2017). 41Vgl. Eurasische Wirtschaftskommission (2018). 42Vgl. BP (2019).

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der Außen- und Sicherheitspolitik des Kreml einnimmt, illustriert der präsidiale Erlass über die „Energiestrategie Russlands für die Periode bis 2035“, welcher die Energieprotektion als eine der wichtigsten Komponenten der staatlichen Sicherheit definiert.43 Die derzeitige Gewinnung aus den an diesen Ressourcen reichen Feldern in Westsibirien dürfte sich allerdings bald minimieren, weshalb neue Vorkommen in klimatisch sehr schwierig zu kultivierenden Gebieten, wie beispielsweise auf der Halbinsel Jamal oder in der Barentssee, erschlossen werden müssten. Eine weitere Option bieten die sich im Fundus anderer Staaten befindenden Kostbarkeiten, wie die 1,8 Prozent (3,9 Mrd. Ton) der globalen Erdölbestände Kasachstans.44 Der zentralasiatische Tiger avancierte dank seiner voluminösen Mengen verschiedener Bodenschätze (Manganerz, Titan, Blei, Uran, Zink, Molybdän etc.), des damit verbundenen Exportpotenzials, der innerpolitischen Stabilität sowie der Offenheit des Landes gegenüber ausländischen Investitionen zum Objekt der Begierde auf dem internationalen Parkett. Dennoch blieben die für den Einsatz dieses heiß umworbenen Kapitals relevanten Transportrouten sowie die erwarteten Gewinnmaximierungen über Jahre hinweg stark begrenzt: Die in der UdSSR konzipierte, ausschließlich auf die Versorgung Zentralrusslands durch die Rohstoffe anderer Republiken ausgerichtete Infrastruktur führte dazu, dass Kasachstan nach wie vor von dem russländischen Pipelinenetz abhing. Aus einer schwungvollen Verhandlungswelle resultierte letztendlich die Reanimierung der einstigen „organische Verbindung“ – Russland gewährte die Expedierung über seine Verkehrswege, Kasachstan hingegen günstige Gas- und Öllieferungen, welche der „große Bruder“ zu höheren Preisen an europäische Konsumenten reexportierte, um die vereinbarten Versorgungsverpflichtungen zu erfüllen.45 Eine zusätzliche Fixierung solcher bilateraler Verträge im Rahmen supranationaler Institutionen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion befanden beide Parteien für sinnvoll, sich eine noch striktere Einhaltung der abgesteckten Spielregeln davon versprechend. Der Niedergang der UdSSR hatte nicht nur schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen für alle Nachfolgeländer, sondern löste auch enorme demografische Verschiebungen auf dem Territorium der einstigen Supermacht aus. Vor allem in der Russländischen Föderation entstand eine tiefe Delle: Laut offizieller Angaben lebten 1993 rund 149 Mio. Menschen und 2018 nur noch 146,8 Mio. im

43Vgl. Energetičeskaja strategija Rossii na period do 2035 goda. [Energiestrategie Russlands für die Periode bis 2035]. 44Vgl. BP (2019). 45Vgl. Šapkin (2016, S. 1–11).

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Land (ohne die Halbinsel Krim etwa 144 Mio.), wobei die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) sowie die Rating-Agentur Standard & Poor's einen Rückgang der russländischen Einwohnerzahl auf 130 Mio. bis zum Jahr 2050 prophezeien. Das nationale Statistikamt zeigt sich jedoch optimistischer und erwartet bis 2035 aufgrund einer kontinuierlich ansteigenden Nettozuwanderung von bis zu 300.000 Personen jährlich lediglich eine Verminderung auf 145,9 Mio.46 Ein weiterer damit verwobener Umstand treibt den russländischen Wissenschaftlern, Unternehmern und Staatsvertretern gleichermaßen die Sorgenfalten auf die Stirn: Die von steigenden Sterberaten begleiteten niedrigen Geburtenquoten führten recht schnell zum merkbaren Verlust der erwerbstätigen Milieus sowie der potenziellen Steuerzahler, wodurch die ohnehin nach den postsozialistischen Wirtschaftskrisen nicht prall gefüllte Staats- und chronisch defizitären Rentenkassen unter stetig größeren Druck gerieten. Der seit 2016 das Amt des Wirtschaftsministers bekleidende Maksim Oreškin befürchtet, dass die arbeitsfähige Bevölkerung bis 2024 um 800.000 Personen sinken wird, was eine Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um jährliche 0,5 Prozent verursachen könnte.47 Eine hoffnungsvolle Chance wenigstens zu einer teilweisen Behebung dieser Problematik böte beispielsweise eine im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion gezielt aufgestellte Einwanderungspolitik, denn trotz der anhaltenden Rezession bleibt Russland ein Magnet für ausländische Arbeitskräfte, nach den USA und Deutschland Platz drei in der Rangliste der Länder mit der größten Anzahl an Immigrantinnen und Immigranten. Auch wenn keine hundertprozentig zuverlässigen Statistiken zur ethnischen Herkunft der geschätzt 9,7 Mio. in Russland sich aufhaltenden Migrantinnen und Migranten vorliegen, betätigen sich hauptsächlich aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion stammenden Eingereisten auf dem inländischen Arbeitsmarkt, vor allem in der Baubranche, im Groß- und Einzelhandel, im öffentlichen und privaten Dienstleitungssektor, in der Gastronomie und im Transportwesen.48 Nach Angaben der Informationsagentur Fergana, die sich auf einen Bericht des russländischen Innenministeriums berief, kamen 2016 etwa 1,4 Mio. der circa 2,7 Mio. aus Zentralasien hingezogenen Bürger aus Usbekistan, circa 840.000 aus Tadschikistan und 640.000 aus Kirgisien. Die Geldüberweisungen aus der Russländischen Föderation in die benannten Staaten – 2,7 Mrd. US$ nach

46Vgl.

Statdata (2019); Triebe (2018). Triebe (2018). 48Vgl. Innenministerium der Russländischen Föderation (2019). 47Vgl.

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Usbekistan, 2 Mrd. US$ nach Tadschikistan und 1,7 Mrd. US$ nach Kirgisien im Jahr 201649 – leisten einen immensen Beitrag zur Steigerung des BIP in den jeweiligen Heimatländern. Im Zuge fallender Ölpreise und gegenseitig verhängter Sanktionen zwischen den westlichen Partnern und Russland, des dadurch bedingten Rubelabsturzes, einiger juristischer Reformen in Bezug auf das Migrationsrecht sowie der erheblichen Verkomplizierung und Verteuerung beim Erwerb einer Erwerbstätigkeitserlaubnis reduzierte sich der allgemeine Einwanderungsstrom. Seit 2015 müssen die Eingereisten innerhalb eines Monats nach Ankunft einen umfassenden Geschichts- und Sprachtest ablegen, ein Gesundheitszertifikat vorlegen und einen Nachweis über Krankenversicherung erbringen, bevor sie sich um die gebührenpflichtige Arbeitszulassung bemühen können.50 Die Tatsache, dass diese Schwierigkeiten Kirgisien, dessen Staatsangehörige nach dem Eintritt in die Eurasische Wirtschaftsunion im August 2015 von der Freizügigkeit innerhalb des Bündnisses gebührend profitieren und sich dementsprechend über eine komplette Befreiung von diesen harten Auflagen erfreuen, kaum betrafen, blieb von dem widerwilligen Beitrittskandidaten Tadschikistan sicherlich nicht unbemerkt.

5 Im sanften Fahrtenwind des Militärs Obwohl die militärischen Belange der Russländischen Föderation die Agenda der Eurasischen Union nicht sichtbar schmücken, dürfen sie nicht völlig unerwähnt bleiben. Russland, welches als Hauptwaffenlieferant in der Region agiert sowie nach dem Verzicht Kasachstans und Belarus’ auf ihr nukleares Arsenal 1992 als einzige Atommacht auftritt, förderte seit Beginn der 1990er Jahre die Zusammenarbeit in diesem Sektor. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Abwehr von Gefahren und Bedrohungen, sondern auch darum, die Region zu kontrollieren sowie den Handlungsspielraum externer Akteure wie die USA oder China zu beschränken. Russländische Streitkräfte sind denen der übrigen postsowjetischen Länder sowohl quantitativ als auch qualitativ überlegen, denn nach dem Zerfall der

49Vgl. MVD: V Rossii nachodjatsja 9,7  mln. inostrancev i lic bez graždanstv.[Innenministerium: In Russland befinden sich 9,7 Mio. Ausländer und staatenloser Personen]. 50Vgl. „O vnesenii izmenenij v Federal’nyj zakon ‚O pravovom položenii inostrannych graždan v Rossijskoj Federacii’ 2014“ [„Über die Änderung des Föderalen Gesetzes ‚Von rechtlicher Verordnung ausländischer Bürger in der Russländischen Föderation 2014“].

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UdSSR erbte der „Riese im Osten“ den Großteil der sowjetischen Armee inklusive deren Ausstattung und Infrastruktur. Ökonomisch schwache Staaten ohne nennenswerte eigene Rüstungsindustrien wie Kirgisien, Tadschikistan oder Armenien befanden sich seitdem kaum in der Lage, ihre militärische Hardware ausreichend zu warten oder neue zu erwerben. Auch bei der Personalstärke, insgesamt 900.000 Soldaten, sowie beim Professionalisierungs- und Ausbildungsstand übertreffen die russländischen Streitkräfte diejenigen der übrigen eurasischen Partner um ein Mehr- bis Vielfaches.51 Während das Verteidigungsbudget Russlands 2018 etwa 61,39 Mrd. US$ betrug, umfasste jenes von Kasachstan 1,6 Mrd. US$, von Belarus 713 Mio. US$, von Armenien 609 Mio. US$ und von Kirgisien 211 Mio. US$.52 Die seit 1991 gestarteten Versuche Russlands, über eine bi- und multilaterale Kooperation einseitige Abhängigkeiten zugunsten Moskaus zu schaffen, erwiesen sich bislang als nur begrenzt realisierbar. Einerseits beteiligen sich alle Nachfolgerstaaten der Sowjetunion, außer den baltischen Republiken, Georgien, Moldawien und seit 2014 der Ukraine, an gemeinsamen Übungen, Ausbildungsangeboten und Rüstungsgeschäften. Andererseits kann die Kreml-Spitze ein hegemoniales Modell lediglich gegenüber denjenigen entwickeln, die vom militärischen Schutz Russlands abhängen und denen es an alternativen Mäzenen fehlt.53 Dafür eignen sich beispielsweise Separatistengegenden wie Südossetien, Abchasien und Transnistrien sowie Länder wie Tadschikistan, Armenien und Kirgisien – in diesem Fall Beitrittskandidaten beziehungsweise bereits Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion. Zur nachhaltigen Sicherung der Machtprojektion im postsowjetischen Raum bemüht sich die Russländische Föderation, die strategische Präsenz eigener Militärbasen langfristig zu bewahren. Solche Stützpunkte existieren auf der Grundlage der Zustimmung der jeweiligen Gaststaaten Tadschikistan, Armenien und Kirgisien – Akteure, welche sich davon ein enormes Verteidigungspotenzial erhoffen. So verspricht sich die armenische Regierung angesichts der Anwesenheit russländischer Truppen einen eisernen Schutz gegen eventuelle Überfälle aus Aserbaidschan (Berg-Karabach-Konflikt) oder der Türkei (anhaltender historischer Streit um den Genozid an den Armeniern). Die lenkenden Eliten Tadschikistans und Kirgisiens begrüßen die Anwesenheit der russländischen Streitkräfte als Möglichkeit, den grassierenden Einfluss Chinas im militärischen

51Vgl.

The International Institute for Strategic Studies (2018, S. 181–215). Stockholm International Peace Research Institute: Sipri Yearbook (2019). 53Vgl. Klein (2018).

52Vgl.

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Bereich auszubalancieren und sich gegen potenzielle Unruhen oder das Überschwappen terroristischer Tendenzen aus Afghanistan effektiver abzuschirmen.54 Um diese Tatbestände zu betonieren, bot Russland Tadschikistan, Kirgisien und Armenien in regelmäßigen Abstände Paketleistungen in Form von großzügigen, preislich äußerst günstigen Waffenlieferungen an. Im Gegenzug bewilligten die Empfänger stets eine mehrjährige Verlängerung der Nutzung russländischer Stützpunkte auf ihrem Territorium – dabei wohl beachtend, dass die subventionierten Rüstungsimporte ihnen eine außerordentliche Gelegenheit eröffnen, ihre Streitkräfte auszubauen und wenigstens auf einem niedrigen Niveau zu modernisieren. Im Unterschied dazu fiel es der Russländischen Föderation nicht einfach, derartige Abhängigkeiten in Belarus und Kasachstan zu fundieren, da diese sich keinen auswärtigen Bedrohungen, zu deren Bewältigung Hilfe seitens ihres „großen Bruders“ notwendig wäre, ausgesetzt fühlen. Um dennoch eine gewisse Bindung zu knüpfen, beschenkte die Moskauer Zentrale diese Nachbarn mit kostenlosen Rüstungsgütern: Unentgeltlich überreichte sie Luftabwehrsysteme (S-300) an Armenien, Belarus und Kasachstan, um eine gemeinsame Luftabwehr zu installieren.55 Anhand solcher Methoden etablierte die Russländische Föderation multilaterale militärische Strukturen, um auf diese in Bedarfssituationen zurückgreifen zu können und vielleicht somit die Schaffung einer einheitlichen Verteidigungszone voranzutreiben. Es entsteht unweigerlich der Eindruck, dass Russland mithilfe eines solchen Vorgehens jegliche Gefahren abwehren, als Hegemon die Region kontrollieren und den Handlungsspielraum externer Akteure mit allen Mitteln einschränken möchte – auch wenn dieses eher im Hintergrund der formellen Abläufe innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion geschieht.

6 Fazit und Ausblick: Eurasische Wirtschaftsunion – alte Route, neue Schienen? Die Europäische Union, die bislang als zum Nachahmen motivierendes Vorbild in punkto supranationaler Zusammenarbeit mehrerer Staaten agierte, verzeichnet momentan einen spürbaren Tiefstand – der anstehende Austritt Großbritanniens;

54Vgl.

Cykunov (2017, S. 205 ff.). Strany ODKB sozdajut edinuju sistemu PVO. 13 fevralja 2009g. [OVKS-Länder schaffen ein einheitliches Raketenabwehrsystem. 13. Februar 2009].

55Vgl.

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die Regelverletzungen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie durch die osteuropäische Mitglieder wie Ungarn oder Polen; die Überforderung vieler Partner bezüglich der anhaltenden Flüchtlingsströme; die Gefährdung der gemeinsamen Währung seitens der südlichen Mitspieler, welche aufgrund massiver Überschuldungen erneute Finanzkrisen zu provozieren drohen.56 Währenddessen gewinnt der auch innerhalb der EU jahrzehntelang erfolgreich gelebte Regionalismus in anderen Teilen der Welt immer mehr an Bedeutung und konzentriert sich dabei auf folgende Schwerpunkte: Die Schaffung einer schrankenlosen Zirkulation von Waren, Dienstleistungen, Ideen und Menschen; die Bewältigung grenzübergreifender Gewaltkonflikte; die Bündelung politischer Entscheidungskompetenzen in multilateral ausgerichteten Institutionen oder durch die Herausbildung neuer Identitäten. Diesen Trend versinnbildlichen zahlreiche Neugründungen und Ausweitungen von internationalen Organisationen, wie beispielsweise die im Jahr 2002 entstandene Afrikanische Union (AU), die 2011 gebildete Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) oder die am 1. Januar 2015 offiziell in Kraft getretene Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU). Bereits im zaristischen Russland erkannten die Experten das facettenreiche Potenzial der Eurasischen Region: Eine zum damaligen Zeitpunkt überdimensionale Kapitalanlage in Höhe von 1,5 Mrd. Rubel in den Bau der Transsibirischen Eisenbahn versprach enorme Erfolge, die strategischen Vorteile des gigantischen Vorhabens klar versinnbildlichend: Die neue Verkehrsverbindung sollte den Zutritt zu den eisfreien pazifischen Häfen, einen besseren Zugriff auf sibirische Rohstoffe, das Anwerben ausländischer Investoren, eine spürbare Steigerung der Bevölkerungszahl sowie die Erschaffung eines Raums für die expandierende russländische Wirtschaft ermöglichen. Ferner kalkulierte der erfahrene Unternehmer und Finanzminister Sergej Witte, dass Russland durch die Transsib einen leichteren Zugang zum chinesischen Markt bekäme, was eine Umleitung des europäischen Handels mit dem Reich der Mitte partiell auf diesen Weg bedinge.57 An diesen historischen Kontext anknüpfend entsteht der Eindruck, dass die Initiatoren der zum Anfang des 21. Jahrhunderts wiederkehrenden Versuche einer effektiven Bündelung einzelner Gebiete des eurasischen Territoriums sich stark an der Konzeption, der Intention und der Abwicklung des damaligen logistisch relativ anspruchsvollen Unterfangens orientierten. Der renommierte Ethnologe und die Position eines russischen Galileos, Kopernikus’ oder Newtons bekleidende Nikolaj Gumelev formulierte einst: „Ich

56Vgl. 57Vgl.

European Parliament (2019). Žukov (1963, S. 135 ff.).

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verrate Ihnen ein Geheimnis – wenn Russland gerettet werden kann, denn nur als eine Eurasische Großmacht.“58 Mit diesem Gedanken sympathisieren auch die zeitgenössischen Experten, wie der Direktor des Instituts des Fernen Ostens an der Russländischen Akademie der Wissenschaften Michail Titarenko: Nur das sich am eurasischen Paradigma orientierende Russland kann die Probleme der Wiederbelebung, der Wahrung seiner territorialen Integrität, der Förderung jeglicher Bräuche der dort lebenden Völker und des Aufblühens der russischen Kultur, welche den Kern der Einheit und des Austausches verschiedener Zivilisationen darstellt, lösen. Nur ein Russland in Gestalt einer eurasischen Großmacht kann die Anerkennung seiner unabhängigen Gleichberechtigung gegenüber der Europäischen Union und den USA erringen, gute Beziehungen zu den neuen wachsenden Volkswirtschaften anbahnen und sich in diverse regionale Strukturen vernünftig integrieren.59

Als Motor der sowohl ein historisches Legat als auch eine Folge der aktuellen Entwicklungen verkörpernden Eurasischen Wirtschaftsunion, welche sich primär auf ökonomische Säulen stützen soll, fungierten bisher allerdings eher die politischen Eliten der beteiligten Länder als die Wirtschaft selbst. Das von der russländischen Lokomotive angesteuerte Hauptziel besteht wohl darin, dass die regierende Spitze ihren Bürgern suggerieren kann, Russland figuriere mach wie vor als eine solvente Großmacht, die das Eurasische Integrationsprojekt zum Wohle aller Partizipierenden ausrichtet und vor allem finanziert. Dies akzentuierend, erklärte Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Staats- und Regierungschefs der EAWU am 18. Januar 2018: In den drei Jahren seit ihrer Gründung hat die EAWU ihren Wert und ihre Wirksamkeit bewiesen. Der interne Warentausch und der Außenhandel der Mitgliedstaaten nahmen deutlich zu. (…) Ich bin überzeugt, dass wir diese Wachstumsrate nicht nur aufrechterhalten, sondern auch die generelle Weiterentwicklung der EAWU sicherstellen können. Dazu müssen wir unser Integrationsprojekt genauer betrachten, ehrgeizige Integrationsziele formulieren und umsetzen sowie neue Kooperationsperspektiven aufzeigen. Wir müssen daraufhin arbeiten, dass alle Menschen in unseren Ländern das Wesen der EAWU verstehen und zu deren Stärkung beitragen, indem sie ihr Wohlergehen sowie ihre Zukunft direkt mit der Eurasischen Wirtschaftsunion verbinden.60

58Gumilev

(1993, S. 31). (2014, S. 29). 60Message from President of Russia to heads of Eurasian Economic Union member states (2018).

59Titarenko

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Ein weiterer Aspekt russländischer Integrationsbestrebungen hinsichtlich der eurasischen „Einflusszone“ rankt sich um die politische Annäherung an die jeweiligen politischen Spitzenfunktionäre der postsowjetischen Staaten sowie die Betonierung der dortigen autoritären Regime, welche für Russland bestens bekannt und nutzbar für die Solidarisierung gegen kritische, meist aus dem Westen ertönenden Stimmen sind. Des Weiteren spielen die in diesen Ländern lebenden russischen Minderheiten, welche die russländischen Policy-Maker zur Umsetzung nationaler Interessen gern instrumentalisieren, eine glänzende Rolle in der Ausrichtung der gegenwärtigen Außenpolitik. Mit dem Schutz von Rechten der russischsprachigen Bevölkerung in den ehemaligen Republiken der UdSSR, welche schätzungsweise etwa 15 Mio. Bürger umfasst, begründet, mobilisierte Russland in der Vergangenheit sogar militärische Kräfte, wie im Fall des russländisch-georgischen Kriegs im Jahr 2008.61 Ein Blick in die Tagespresse und andere mediale Berichterstattungen genügt für die Feststellung, dass es in der Europäischen Wirtschaftsunion nicht immer zuvörderst um gewinnbringende Handelsbeziehungen oder andere ökonomische Substanzen geht. Stattdessen überschatten verschiedene bilaterale Konflikte die Funktionalität des Bündnisses: Belarus droht Russland permanent mit Hinwendung zur Europäischen Union, Kirgisien ringt immer wieder mit Kasachstan, Kasachstan sorgt sich um die russländische Dominanz, Armenien möchte sich vor allem mithilfe russländischer Truppenpräzens von Aserbaidschan abschirmen. Erschwerend kommt hinzu, dass Russland im Vergleich zu den anderen Bündnispartnern einfach alle Dimensionen komplett übersteigt – in politischen, wirtschaftlichen, militärischen, finanziellen, territorialen, professionellen, technologischen, wissenschaftlichen und sozialen Sphären. Das Beziehungs- und Ordnungsmodell, welches die Russländische Föderation im eurasischen Raum präferiert, scheint also nicht auf Kooperation unter Gleichrangigen zu fußen, sondern auf der Akzeptanz russländischer Hegemonie und Unterordnung anderer Alliierten in Bezug auf die Wünsche dieser. Der Führungsanspruch der dominierenden Macht beruft sich auf das Recht, die dort geltenden Interaktionsregeln zu bestimmen und den Handlungsspielraum externer Akteure möglichst flagrant zu limitieren. So verkündete Russland einseitige Einschränkungen für Unternehmen anderer Mitgliedstaaten der Zollunion im eigenen Binnenmarkt durch nichttarifäre Handelshemmnisse, initiierte Handelsblockaden gegenüber Verbündeten bei „mangelhaftem Verhalten“ oder verhängte Verbote

61Vgl. Vavolova

et al. (2019).

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für Transite belarussischer Produkte nach Kasachstan vor dem Hintergrund bilateraler Unstimmigkeiten.62 Die Souveränität der EAWU-Mitglieder erkennt Russland demnach zwar formal absolut an, nimmt diese de facto allerdings nur begrenzt wahr. Resümierend lässt sich Folgendes konstatieren: Der von der russländischen Lokomotive angeführte D-Zug der Eurasischen Wirtschaftsunion verfügt momentan lediglich über einen recht wackeligen, sich in einem teilweise desolaten Zustand befindenden Wagenpark, weshalb die gesamte mit natürlichen Ressourcen und menschlichem Kapital beladene Bahn frisch lackiert immer noch auf dem Abstellgleis weilt.

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62Vgl.

Ibragimov (2018, S. 756 ff.).

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Dr. Ludmila Lutz-Auras ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. In ihrer Lehre, Forschung sowie ihren Publikationen widmet sie sich Themen rund um die Transformationsländern Osteuropas (Schwerpunkte: Russland, Ukraine, Belarus), politischen Systemen im Kaukasus und Zentralasien, kollektiven Identitätsbildungsprozessen. Zu ihren Publikationen zählt u. a. „Auf Stalin, Sieg und Vaterland!“ Politisierung der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Russland. Wiesbaden: Springer VS, 2013.

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status der wirtschaftlichen Integration Alessandro Tripolone 1 Einführung: Die Eurasische Wirtschaftsunion im Überblick Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) mit ihren Mitgliedsstaaten Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Russland verfolgt seit dem Jahr 2015 die Absicht, die ökonomische Entwicklung Eurasiens zu fördern. Auf dem ersten Blick ist festzustellen, dass die EAWU auf einem ähnlichen Modell wie andere große Regionalorganisationen, beispielsweise die Europäische Union, beruht. Es besteht der Anspruch, eine integrierte Wirtschaftsgemeinschaft zu etablieren, wobei folgende Hauptziele angestrebt werden: 1. Modernisierung der Nationalwirtschaften der Mitgliedstaaten; 2. Verbesserung des intra-regionalen Handels in Eurasien; 3. Globale Ausdehnung des wirtschaftlichen Potenzials. Bereits 1994 wurde vom kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew die Idee einer Eurasischen Union im post-sowjetischen Raum mit der Absicht formuliert, die ökonomischen Interessen der potenziellen Mitglieder in ein gemeinsames Entwicklungskonzept für die gesamte Region einzubinden. Verschiedene Organisationen und institutionelle Kooperationsmechanismen seit der Auflösung der UdSSR, wie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) oder die Zollunion (ZU) zwischen Russland, Belarus und Kasachstan waren bestrebt, wirtschaftliche Vorteile durch A. Tripolone (*)  Universität Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_9

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eine kompakte Zusammenarbeit für ihre Mitgliedstaaten zu schaffen. In diesem Kontext stellt die EAWU eine Fortsetzung der vorangegangenen Integrationsprojekte Eurasiens dar. Sie strebt die ökonomische Entwicklung der Region an, um den Herausforderungen der Globalisierung entgegentreten zu können. Jedoch muss hervorgehoben werden, dass jeder Mitgliedsstaat innerhalb dieser Gemeinschaft seine eigenen Interessen verfolgt: Kasachstan und Belarus versuchen ihren Handel mit Russland auszuweiten, während die Russländische Föderation durch die Eurasische Union eine direkte Kontrolle über diese Makroregion ausüben möchte. Trotz allem bleibt die EAWU nur faktisch eine Wirtschaftsunion. Der russländische Präsident Wladimir Putin präsentierte bereits 2011 offiziell seine Idee zur Schaffung einer eurasischen Kommunität als ökonomische Gemeinschaft, die eine Antwort auf die globale Wirtschaftskrise darstellen und Prosperität in die Region bringen sollte. Infolgedessen wurde am 29. Mai 2014 der Astana-Vertrag ratifiziert, welcher die schon existierenden Mechanismen der Zollunion konsolidierte und verstärkte – mit dem Ziel, die Kooperation deutlich weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang verfolgt die EAWU eine Reihe prinzipieller Zwecke: 1. Die Schaffung eines gemeinsamen Raumes, in dem sich Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei und ohne Hindernisse bewegen können; 2. Die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes durch Beseitigung von Zollschranken und anderer Barrieren; 3. Die Ausbalancierung des Wirtschaftsniveaus zwischen den Volkswirtschaften der Mitgliedsländer; 4. Die Koordinierung der Energiepolitik der Mitgliedsländer und eine schrittweise Bildung gemeinsamer Energiemärkte; 5. Die Schaffung eines gemeinsamen politischen Rahmens für die Arbeitsmigration.1 Die Zusammenarbeit muss sich, wie in der Präambel des Vertrags dargelegt, an Prinzipien wie Souveränität und Solidarität orientieren, damit für jeden beteiligten Staat eine gleichwertige Mitgliedschaft in der Union garantiert wird.

1The

Eurasian Economic Commission (2018. Ausführlich zur EAWU: Tripolone (2018).

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

231

Hinsichtlich der Entwicklung der wirtschaftlichen Kennzahlen ist festzustellen, dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EAWU in den drei Jahren nach der Gründung von 1,6 Billionen US$ (2015) auf 1,9 Billionen US$ (2018) steigerte, doch ist der Binnenhandel innerhalb der Union im Vergleich zum Außenhandel der Mitgliedsstaaten noch sehr gering. Laut der Eurasischen Kommission betrug Russlands Warenhandel mit den anderen EAWU-Staaten im Jahr 2018 etwa 57,8 Mrd. US$ (8,3 Prozent des Gesamthandels), während der Umsatz im Außenhandel mit nicht EAWU-Staaten bei 634 Mrd. US$ (91,7 Prozent des Gesamthandels) lag.2 Dies bedeutet, dass die Union stark von Handelsbeziehungen mit Drittländern abhängig ist, während gleichzeitig Barrieren innerhalb der EAWU existieren, welche den Binnenhandel erschweren. Zusätzlich wirken sich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstände der Mitgliedstaaten hinderlich für den Prozess der ökonomischen Integration aus. Diese Fakten erwägend basiert die folgende Analyse auf der Annahme, dass sich die EAWU nur wenig entwickelt hat und sich in einer stagnierenden Phase befindet, da noch etliche systematische Schwierigkeiten den begonnenen Integrationsprozess begleiten und dabei die angestrebte Wirtschaftsentwicklung ausbremsen. Des Weiteren soll veranschaulicht werden, weshalb es zur Gründung der EAWU kam, welche Interessen ihrer Mitglieder verfolgen, welche Integrationsprobleme im Kooperationsprozess auftreten, aber auch welche wirtschaftlichen Fortschritte trotz aller Hürden und Herausforderungen erzielt worden sind.

2 Die Etappen zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion Die Eurasische Wirtschaftsunion wurde am 1. Januar 2015 gegründet. Die Union verkörpert ein Integrationsprojekt, das durch eine konstruktive und solidarische Wirtschaftskooperation unter den Mitgliedsstaaten den ökonomischen Regionalismus Eurasiens unterstützen möchte. Um den Integrationsprozess Eurasiens besser zu verstehen, ist es nötig, kurz auf die wichtigsten Etappen, die zu der Bildung der EAWU beigetragen haben, einzugehen. Der eurasische Prozess findet seine Wurzeln in der sowjetische Ära, die durch die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftssystems fast 70 Jahre lang

2Yevraziskaya

Ekonomicheskaya Kommisiya (2019, S. 140, 144–145).

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die Entwicklung der Region radikal beeinflusste. Die Sowjetunion kreierte einen Apparat, welcher auch nach der offiziellen Auflösung der UdSSR am 26. Dezember 1991 die aus ihr hervorgegangenen Staaten aufgrund enger ökonomischer Verflechtungen in einer engen Verbindung verblieben ließ. Bereits in der letzten turbulenten Phase der Sowjetunion entschieden die Ukraine, Russland und Belarus am 8. Dezember 1991, die Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS) zu gründen. Die GUS wurde ins Leben gerufen, um eine drastische Störung des gesamten Sowjetsystems mit katastrophalen Folgen für die Binnenwirtschaften der bisherigen Mitgliedsländer zu vermeiden. Zentraler Initiator war dabei die Russländische Föderation, der eine Hauptrolle als ökonomischer Koordinator für alle anderen Mitgliedern zukommen sollte – obwohl Russland bereits seit dem Ende der UdSSR die Absicht verfolgte, nicht nur das ökonomische Zentrum Eurasiens zu bilden, sondern auch eine militärische und politische Dominanz gegenüber den ehemaligen Ländern aufrechtzuerhalten, um weiterhin eine politische Hegemonie über die ehemaligen Sowjetrepubliken auszuüben zu können. Trotz des russländischen Bestrebens, seine politische und militärische Führungsposition in Eurasien nicht zu verlieren, konsolidierten Belarus, Kasachstan und Russland während der 1990er Jahren ihre ökonomischen Interessen und beschlossen, ihre Beziehungen gemeinsam zu erweitern. 1994 entschieden sich Kasachstan, Russland und Belarus, eine Freihandelszone zu gründen, und im folgenden Jahr entstand eine Zollunion. 1996 traten dieser auch Kirgisistan und Tadschikistan bei. Somit gründeten sie die Gemeinschaft Integrierter Staaten (GIS), welche das Ziel verfolgte, die ökonomische Kooperation durch einen gemeinsamen Markt für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit zu erweitern – ein Vorhaben, welches allerdings nie vollständig umgesetzt werden konnte.3 Der Versuch der Gründung eines Marktes ohne Hindernisse stellte die erste embryonale Stufe für die Schaffung der aktuellen Eurasischen Wirtschaftsunion dar. Letztendlich führten die stabilen Entwicklungen der Beziehungen zwischen Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Russland zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) am 10. Oktober 2000. Durch die EAWG wollten die Mitgliedstaaten ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit

3Die

Idee der Vertiefung der Kooperation konkretisierte sich nur zwischen Russland und Belarus, die im Jahr 1997 offiziell die Staatunion Russland-Belarus einrichteten.

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

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vertiefen und damit zusammenhängend die regionale Integration stärken. Zur Erfüllung dieses Ziels beabsichtigten die Länder: 1. Einen gemeinsamen Außentarif für den Handel mit Drittländern festzulegen; 2. ihre nichttarifären Hindernisse zu harmonisieren; und 3. das Wirtschaftsnetz Eurasiens wesentlich zu konsolidieren.4 Wirtschaftlich gesehen erzielte diese Organisation im Zeitraum 2002-2007 eine positive Steigerung des Handelsvolumens ihrer Mitgliedsstaaten, welches sich seit 2002 verdreifachte und 2007 mehr als 90 Mrd. US$ betrug.5 Es zeigte sich jedoch schnell, dass das Ziel, einen gemeinsamen Markt zu etablieren, der durch vereinheitlichte Tarife den Innen- und Außenhandel der Mitglieder stabilisieren sollte, nur die augenfälligen wirtschaftlichen Diskrepanzen zwischen den ökonomischen Entwicklungsniveaus der Mitgliedstaaten offenbarte – ein Problem, das auch heute noch in der EAWU existiert. Infolgedessen wurde entschieden, die Integrationsinitiativen durch regionale Handelsabkommen zu ersetzen, um die Integration auf der Grundlage verschiedener Ebenen und Geschwindigkeiten besser implementieren zu können. Belarus, Kasachstan und Russland legten deshalb einen gemeinsamen Außentarif fest und schufen eine Zollunion, während Kirgisistan und Tadschikistan beschlossen, auf der ersten Stufe der Integration zu verharren, nämlich in der Freihandelszone.6 Anschließend wurde im Oktober 2007 zwischen Belarus, Kasachstan und Russland der Vertrag über die Errichtung der Zollunion unterzeichnet. Die drei Staaten intensivierten damit ihre Interaktionen. Vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise 2008 entschieden Lukaschenko, Nasarbajew und Putin, wirtschaftlichen Risiken durch eine kompakte Zusammenarbeit zu minimieren, welche gleichzeitig eine weitere ökonomische Entwicklung gewährleisten sollte. Detailliert wurden im Rahmen der EAWG am 27. November 2009 ein Zollkodex und ein gemeinsamer Außentarif festgelegt. Beides bildete die Grundlage für die Gründung der Zollunion (ZU) am 1. Januar 2010, die anschließend – im Jahr 2012 – in die Entwicklung des Eurasischen Wirtschaftsraums mündete.

4Eurasian

Economic Community (2000).

5Ebd. 6Kirchner

und Tochitskaya (2014, S. 5).

234

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Tab. 1   Aktuelle Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion Land

Datum der Ratifizierung des EAWU-Vertrages

Armenien

10. Oktober 2014

Belarus (Gründer)

29. Mai 2014

Kasachstan (Gründer)

29. Mai 2014

Kirgisistan

23. Dezember 2014

Russländische Föderation (Gründer)

29. Mai 2014

Ökonomisch betrachtet verbesserten Belarus, Kasachstan und Russland durch die Gründung der ZU ihre wirtschaftliche Situation, wie George Plaskinsky bestätigte: Im Jahr 2010 hat die Exportquote von Kasachstan nach Russland um 38 Prozent zugenommen und die Exportquote nach Belarus hat sich mehr als verdoppelt. Die russischen Exporte nach Kasachstan sind um 25 Prozent gestiegen, gleichzeitig ist der Außenhandelsumsatz zwischen Belarus und Russland um 50 Prozent angewachsen.7

Generell resultierten die Zollunion und der Eurasische Wirtschaftsraum in einem gesteigerten Handelsvolumen und vereinfachten den Zugang von kasachischen und belarussischen Produkten zum russländischen Markt. Auf diese Weise nahm die Idee der Gründung einer Eurasischen Kommunität, die ganz Eurasien integrieren sollte, Gestalt an. Um dieses Ziel zu konkretisieren, entschieden Belarus, Kasachstan und Russland, durch die Gründung einer Wirtschaftsunion ihren Integrationsprozess zu vertiefen. Daran anknüpfend unterzeichneten die Präsidenten Lukaschenko, Nasarbajew und Putin 2014 während der Sitzung des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates in Astana den Vertrag der Eurasischen Wirtschaftsunion (Armenien und Kirgisistan traten der Union später bei), welcher zur Gründung der EAWU zu Beginn des folgenden Jahres führte (s. Tab. 1).

7Plaschinsky

(2011).

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

235

3 Die Bedeutung der Eurasischen Union für ihre Mitglieder Der kasachische Präsident Nasarbajew formulierte im Frühjahr 1994 während seiner Rede an der Staatlichen Moskauer Universität erstmals die Idee zur Gründung einer Eurasischen Wirtschaftsunion, die alle eurasischen Länder ökonomisch integrieren sollte. Das Konzept der Eurasischer Union erläuterte Nasarbajew 2003 konkret in seinem Buch Strategija Nezavisimosti (Die Strategie der Unabhängigkeit)8: Die eurasische Gemeinschaft sollte eine Union gleichwertiger unabhängiger Staaten darstellen, die auf die Verwirklichung der nationalen Staatsinteressen jedes teilnehmenden Landes und die Mobilisierung des vorhandenen Gesamtintegrationspotenzial abzielt. Die Anforderungen an die Mitglieder der Eurasischen Union sollten dabei die gegenseitige Anerkennung bestehender nationaler Institutionen, der Grenzen und der territorialen Integrität sowie die Eliminierung von Druckausübung und bewaffneten Konflikten umfassen.9 Die kasachische Idee hatte nicht die Reinkarnation der UdSSR im Blickfeld, sondern wollte die Eurasische Union als eine regionale Organisation formen, welche dazu beiträgt, die wirtschaftlichen Probleme der Region nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu mildern sowie Herausforderungen der Globalisierung gemeinsam zu meistern.10 Infolgedessen war EAWU gemäß der kasachischen Initiative • lediglich ein ökonomisches Projekt ohne politische Implikationen; • ein Interaktionsprojekt, welches auf den Gleichheitsprinzipien und der Achtung der nationalen Souveränität basiert. Der kasachischen Ansicht nach sollte die Union kein Mandat zur Einmischungen in die inneren politischen Angelegenheiten der Mitgliedstaaten besitzen. In der Tat trat Kasachstan der Eurasischen Wirtschaftsunion bei, um über die Zusammenarbeit mit den eurasischen Staaten und durch die Schaffung gemeinsamer Märkte sowie der damit verbundenen Abschaffung von Zöllen wirtschaftliche Vorteile zu erlangen – speziell um den Handel mit Russland zu

8Nazarbayev

(2003). Raikhan (2013). 10Nazarbayev (2011). 9Sadykova

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erleichtern. Die wichtigste Passage in der kasachischen Vision ist die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Zentralasiens gegenüber der Kontrolle Russlands über die Eurasische Union. Mit anderen Worten: Die Union sollte die nationale Souveränität einzelner Staaten gegenüber Russland stärken. Putins Vision der Eurasischen Union fokussierte sich hingegen vorwiegend auf die Verschmelzung der eurasischen Wurzeln und der wirtschaftlichen Interessen zwischen den slawischen Ländern. Er stellte die Union als ein Projekt dar, welches eine Einheit zwischen allen ehemaligen Sowjetrepubliken vorsah, um Eurasien ökonomisch mit der Europäischen Union und China zu verbinden. Putin arbeitete seine Idee der Eurasischen Union sorgfältig aus – insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise von 2008, als er die Notwendigkeit einer soliden Zusammenarbeit im eurasischen Raum hervorhob, um die globale Krise zu überwinden. Ausführlich erklärte der russländische Präsident das Konzept dieser Union in einem Artikel für die Zeitung Izvestija vom 4. Oktober 2011 mit dem Titel „Noviy integrazionniy proekt djla Evrazii – Budushcheye, kotoroe roshdaetsja segodnja“ (Neues Integrationsprojekt für Eurasien – eine Zukunft, die heute geboren wird), wobei er die Notwendigkeit der Schaffung einer Eurasischen Union als Mechanismus zur Erleichterung des globalen Wachstums und des zivilisatorischen Fortschritts des postsowjetischen Raums unterstrich, um in der gesamten Region gemeinsamen Erfolg und Wohlstand zu erreichen. Der russländische Präsident zielte darauf ab, eine vollständige eurasische Integration zu schaffen, um die eurasische Wirtschaft als vorrangiges Ziel zu entwickeln. Im Zentrum standen dabei die Beseitigung von Wirtschaftshindernissen im gegenseitigen Handel und die Abschaffung von Quoten für die Arbeitsmigration, um der eurasischen Bevölkerung unbegrenzte Mobilität in der Region zu ermöglichen.11 Im Gegensatz zu den Vorstellungen Nasarbajews muss berücksichtigt werden, dass die eurasische Integration in Putins Plan darauf ausgerichtet war, solide ökonomische Verbindungen in den Binnenbeziehungen aller eurasischen Länder herzustellen, um wirtschaftliche Erleichterungen zu schaffen, die einen Spillover-Effekt erzeugen können, welcher folglich auch eine politische Interaktion zwischen allen Ländern Eurasiens generieren kann. Im Hintergrund stand dabei die Idee, durch die Förderung der politischen Dimension regionaler Integration einer russländische Führungsposition in Eurasien Vorschub zu leisten.

11Putin

(2011).

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237

Von der GUS bis hin zur Zollunion hat Belarus an allen von Russland angeführten Integrationsprozessen seit der Auflösung der Sowjetunion teilgenommen und versucht, stets eine enge Kooperation mit Moskau aufrechtzuerhalten. Lukaschenko unterstützt die eurasische Integration als Beitrag zur ökonomischen Entwicklung von Belarus nachdrücklich, wie er bei der Vertragsunterzeichnung zur EAWU hervorhob: „Dieses Dokument gibt uns große Hoffnungen und wir glauben, dass wir eine großartige Position einnehmen können, um unsere Ziele und Vorstellungen im Rahmen der Eurasischen Integration zu formulieren“.12 Die Vorteile einer engen Zusammenarbeit von Belarus mit Russland im Rahmen des eurasischen Regionalismus liegen auf der Hand: Belarus bezieht 56  Prozent seiner Importe aus Russland, seinem mit Abstand wichtigstem Handelspartner.13 Das Narrativ, dass die beiden Staaten über gemeinsame historische Wurzeln verfügen, trägt zusätzlich zur belarussischen Wahrnehmung der speziellen Partnerschaft zwischen Minsk und Moskau als Achse der eurasischen Integration bei. Folglich konzentrierte sich Belarus in der EAWU von Beginn an auf die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Die Erwartungen der Regierung in Minsk an die Union bestehen darin, einen regionalen Markt ohne Hürden zu gleichen wirtschaftlichen Bedingungen für alle Mitglieder zu schaffen – vor allem mit Blick auf den Energiesektor.14 Die armenische Entscheidung für die Mitgliedschaft in der Eurasischen Union fiel am 3. September 2013 nach den Verhandlungen zwischen dem armenischen Präsidenten Sargsjan und dem russländischen Präsident Putin. Hierbei spielten zwei Aspekte eine besondere Rolle: • Die starke Abhängigkeit Armeniens vom russländischen Energiemarkt; • Das Militärbündnis mit Russland, welches im Jahr 1997 offiziell durch einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung etabliert und 2010 konsolidiert wurde, um die armenischen Ansprüche gegen Aserbaidschan im Territorialstreit um Berg-Karabach zu verteidigen.15

12Yevraziyskiy

ekonomicheskiy Soyuz (2014). Observatory of Economic Complexity (2018). 14Belta (2016). 15Grigoryan (2014, S. 99). 13The

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Die Eurasische Wirtschaftsunion besitzt aus armenischer Sicht daher nicht nur wirtschaftliche Bedeutung, sondern ist auch – möglicherweise sogar vor allem – von sicherheitspolitischer Relevant.16 Kirgisistan, die schwächste Ökonomie der Eurasischen Wirtschaftsunion mit einem BIP pro Kopf in Kaufkraftparität von 3.725,5 US$ (2017),17 kann wirtschaftlich nur einen geringen Beitrag zum Wachstum der EAWU leisten. Gleichwohl kommt der regionalen Integration aus der Sicht der Regierung in Bishkek eine wichtige Rolle für die eigene wirtschaftliche Entwicklung zu. Die erhofften Vorteile sind z. B. • Die Vereinfachung der Visa- und Beschäftigungsanforderungen für die rund 500.000 kirgisischen Wanderarbeiter in Russland und Kasachstan; • Die Möglichkeit, in dem eurasischen Markt eine privilegierte Position einzunehmen und den wechselseitigen Handel mit den anderen Mitgliedstaaten zu verbessern; • Die Gelegenheit für die kirgisischen Landwirte, ihre Produkte im Unionsgebiet zu einem gewinnbringenden Preis verkaufen zu können.18

4 Der Vertrag der EAWU und die grundlegenden Ziele der Kooperation Der am 29. Mai 2014 ratifizierte Astana-Vertrag besteht aus 118 Artikeln, die in 28 Abschnitte unterteilt sind, ergänzt durch 33 Anhänge. Das Das Hauptziel des Dokuments besteht darin, die wirtschaftlichen Interaktionsbereiche durch die Schaffung eines gemeinsamen Rechtsrahmens zu regulieren, um eine Harmonisierung der makroökonomischen sowie monetären Handels-, Investitions- und Steuerpolitiken der Mitgliedstaaten zu erreichen. Technisch wurde die EAWU als eine Verbesserung der Mechanismen der Zollunion und der vorherigen Integrationsprojekte Eurasiens konzipiert. Insgesamt normiert der Astana-Vertrag die Etablierung einer offenen Gemeinschaft, die als grundlegende Ziele die Modernisierung der nationalen Ökonomien, die wirtschaftliche Expansion und die globale Wettbewerbsfähigkeit der eurasischen

16The

Moscow Times (2015). World Bank (2018). 18Rehm (2015). 17The

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Länder durch eine kompakte Zusammenarbeit zu unterstützen versucht. Die Union verfolgt dabei folgende Ziele: • Erschließung eines gemeinsamen Raums, in dem sich Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei und ohne Hindernisse bewegen können; • Schaffung einer Interaktionszone, in der die Mitgliedstaaten eine koordinierte Politik in Schlüsselsektoren wie Wirtschaft, Energie, Industrie, Landwirtschaft und Verkehr verfolgen können; • Etablierung eines Binnenhandels ohne Hindernisse, wobei das Handelsvolumen jedes Mitgliedes im Unionsmarkt wachsen soll.19 Der Grundgedanke der EAWU, die eine Bevölkerung von über 184 Mio. Menschen beheimatet, von denen 94 Mio. wirtschaftlich tätig sind,20 liegt in Herstellung der Rahmenbedingungen für die eine effektive regionaler Integration, d. h. die Schaffung einer kohärenten und einheitlichen Wirtschaftspolitik in allen spezifischen Bereichen der Union. Diesbezüglich erklärt der Artikel 1 des AstanaVertrages: Die Vertragsparteien errichten hiermit die Eurasische Wirtschaftsunion, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit innerhalb ihrer Grenzen gewährleistet und eine koordinierte, vereinbarte Politik in den Wirtschaftssektoren bestimmt. Die Union muss eine internationale Organisation der regionalen wirtschaftlichen Integration sein und über eine internationale Rechtspersönlichkeit verfügen.21

Darüber hinaus werden im Artikel 4 des Vertrags die Hauptaufgaben der Union erläutert: • Die Verwirklichung angemessener Bedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten, um den Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu verbessern; • Die Realisierung eines gemeinsamen Marktes für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit innerhalb der Union;

19The

Eurasian Economic Commission (2018, S. 33–37). Ekonomicheskaya Kommisiya (2019, S. 22–26). 21Artikel 1 des Vertrages der Eurasischen Wirtschaftsunion. 20Yevraziskaya

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• Die Gewährleistung umfassender Modernisierung, Kooperation und Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaften in der Weltwirtschaft.22 Der erste Schritt der Kooperation besteht darin, eine Modernisierung der Volkswirtschaften der Mitglieder durch die Schaffung eines einheitlichen Handelsraums voranzubringen. Anschließend soll der Unionsmarkt entwickelt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der EAWU mit anderen internationalen Organisationen in der Globalwirtschaft zu stärken und die Herausforderungen weltweiter Krisen kollektiv besser abfedern zu können. In diesem Zusammenhang sind die wichtigsten Agenden des Integrationsprozesses: 1. Die Entwicklung von Maßnahmen zum Austausch von Fachpersonal, welcher die wirtschaftliche Integration der Mitgliedstaaten begünstigen kann (Artikel 23); 2. Die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes sowie die Beseitigung von Zollschranken und Verwaltungsbarrieren (Artikel 28); 3. Die wirtschaftliche Diversifizierung der Volkswirtschaften der Mitgliedsländer, um die Außenhandelspolitik der Union zu verbessern und ihre Position und ihr Gewicht im Weltwirtschaftssystem zu stärken (Artikel 33); 4. Die Umsetzung einer vereinbarten makroökonomischen Politik durch Nutzung eines gemeinsamen Rechtsrahmens zur Erzielung einer ausgewogenen wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Union (Artikel 62); 5. Die Errichtung eines freien Marktes für Dienstleistungen, finanzielle Transaktionen und Investitionen in der Union (Artikel 65); 6. Die Etablierung einer koordinierten Energiepolitik für die Mitgliedsländer mit der Errichtung gemeinsamer Energiemärkte (Artikel 79); 7. Die Schaffung einer gemeinsamen Politik in Bezug auf die Arbeitsmigration innerhalb der Union (Artikel 96). Dementsprechend erscheint die EAWU als eine Gemeinschaft, die mit koordinierten Ansätzen in allen prinzipiellen wirtschaftspolitischen Feldern die Entwicklung Eurasiens in umfassender Weise fördern möchte.

22Artikel

4 des Vertrages der Eurasischen Wirtschaftsunion.

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5 Die Organisationsstruktur der Union Die Organe der Eurasischen Wirtschaftsunion spiegeln den Rahmen der Zollunion wieder und sind an das Modell der Europäischen Union angelehnt. Schematisch besteht das Organigramm der EAWU aus dem Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat, dem Eurasischen Zwischenstaatlichen Rat, der Eurasischen Kommission und dem Gericht der Union. Der Oberste Eurasische Wirtschaftsrat, der sich aus den Präsidenten der Mitgliedstaaten zusammensetzt, befindet sich an der Spitze des Entscheidungsprozesses der Union und ist, wie es der Artikel 10 des Vertrages erklärt, verantwortlich für: • Die Festlegung von Perspektiven, Strategien und Richtlinien, um die Ziele der Union zu entwickeln; • Die Regulierung des Binnenmarkts. Eine Ebene unter der institutionellen Hierarchie der Union befindet sich der Eurasische Zwischenstaatliche Rat, der sich aus den Ministerpräsidenten der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Der Zwischenstaatliche Rat ist, wie im Artikel 16 beschrieben, verantwortlich für alle Fragen, die aufgrund mangelnden Konsenses in Entscheidungsprozessen im Obersten Eurasischen Wirtschaftsrat nicht geklärt werden können. Die ständige Aufsichtsbehörde der EAWU ist die Eurasische Wirtschaftskommission. Diese besteht aus 15 Mitgliedern (drei für jedes Land) und wird von dem Rat der Kommission (5 Mitglieder) sowie vom Vorstand der Kommission (10 Minister) gebildet. Der Rat, welcher die Exekutive beaufsichtigt, hat die Befugnis, die Entscheidungen des Vorstands der Kommission aufzuheben oder zu revidieren. Die Rolle und die Hauptaufgaben der Kommission (Artikel 18) werden grundsätzlich in Bezug auf das reibungslose Funktionieren der Union und die Ausarbeitung von Vorschlägen gesehen, um die wirtschaftliche Integration innerhalb der EAWU zu verbessern. Im Vergleich zu der vorherigen Zollunion – bei der die Stimmen zwischen den Parteien wie folgt geteilt wurden: Belarus 21,5  Prozent, Kasachstan 21,5 Prozent und Russland 57 Prozent – besitzt jedes Mitglied im Rat der Kommission nur eine Stimme.23 Das heißt, dass der Entscheidungsfindungsmechanismus in der EAWU die Dominanz eines Staates ausschließt, um kongruent die supranationale Macht der Kommission zu gewährleisten, die im Verhältnis zu den Mitgliedern neutral sein muss. Zur Bestätigung

23Revera

Consulting Group (2012, S. 9).

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dieser Tatsache kann hinzugefügt werden, dass der Vorstand der Kommission, der die Direktiven für die Staaten vorbereitet, zehn Minister umfasst, wobei jeder Mitgliedstaat durch zwei Minister vertreten ist. Auf diese Weise wird erreicht, dass die Rolle der Russländischen Föderation, obwohl sie 86  Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts der EAWU auf sich vereint, als führender Staat in der Union zumindest formal so abgeschwächt wird, dass Moskau durch diese Regelung lediglich 20 Prozent der gemeinsamen Stimmrechte besitzt.24 Schließlich hat der Gerichtshof der Union (Artikel 19) folgende Aufgaben: • Die Kontrolle über die korrekte Anwendung der Klauseln des Vertrages; • Entscheidungsgewalt im Falle von Kontroversen zwischen den Mitgliedsstaaten.

6 Die Hauptprinzipien der EAWU als Basis der Integrationserweiterung Die EAWU will durch eine präzise Regulation aller Sektoren, vom Warenhandel bis zu der Formulierung einer gemeinsamen Arbeitsmigrationspolitik, eine tiefere Zusammenarbeit erreichen, die alle eurasischen Länder verbinden kann. So heißt es bereits in der Präambel des Astana-Vertrages, dass die Solidarität und der Respekt der nationalen Souveränität für eine profitable Wirtschaftszusammenarbeit und die Grundprinzipien der EAWU eine nachhaltige Integration symbolisieren. Die Gründung einer Gemeinschaft, in der jedes Mitglied gleichwertig ist, entspringt dem Willen, die Macht Russlands zu begrenzen. Demgegenüber könnte jede Entscheidung, Russland eine mächtigere Funktion in der Union zuzuerkennen, einen Nachteil darstellen, da beitrittswillige Länder in ihrer Intention entmutigt werden könnten. Die prinzipielle Gleichheit aller Mitgliedstaaten und die Respektierung der Besonderheiten der politischen Verfasstheit jedes einzelnen Mitgliedes sind die zwei Hauptsäulen, auf denen die regionale Integration Eurasien basiert. Folgende Grundsätze stechen in diesem Kontext im einleitenden Teil des Vertrages hervor:

24Vinokurov

(2017, S. 57).

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• Souveränität aller Mitglieder, Achtung der verfassungsmäßigen Rechte und Bewegungsfreiheit innerhalb der Union als Hauptvoraussetzung der Kooperation; • Solidaritätsprinzip in der Zusammenarbeit als Grundlage und Respekt der Kultur, Geschichte und Tradition jedes Mitgliedsstaates; • Findung gemeinsamer Strategien zur Lösung verschiedener Probleme. Artikel 3 bekräftigt zudem, dass die Union ihre Maßnahmen unter uneingeschränkter Beachtung der Grundsätze des Völkerrechts, der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten und ihrer politischen Strukturen durchführen muss. Der Primat der nationalen Souveränität und die Anerkennung des politischen Systems eines jeden Landes können als die Kernmerkmale der Integration identifiziert werden – sowohl im Binnenverhältnis der Mitglieder als auch gegenüber anderen Staaten, die zukünftig Teil der Union werden möchten.

7 Die Schwierigkeiten und Herausforderungen des EAWU-Systems Die Eurasische Union ist formal lediglich auf ökonomische Integration ausgerichtet. Wie jedoch bereits gezeigt wurde, geht der Integrationswille einiger Mitgliedstaaten über die rein wirtschaftliche Dimension hinaus und beinhaltet, wie z. B. für Russland, auch eine politische Komponente. Generell verfügt die EAWU über eine intergouvernementale Konnotation, wobei die nationalen Regierungen als Hauptakteure der Integration auftreten und sich vor alle auf die ökonomische Zusammenarbeit konzentrieren. Sie widmen sich Problemen, wie der Lösung der Wirtschaftskrise, die über die vergangenen zehn Jahre andauerte, und versuchen, die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaften zu verbessern. Dabei spielen allerdings die jeweiligen Nationalinteressen eine sehr wichtige Rolle in den Entscheidungsprozessen der Union, welche den Integrationsprozess deutlich beeinflussen und teilweise stark verlangsamen. Obwohl die Exekutivfunktion der Kommission neutral strukturiert wurde mit dem Zweck, die Interessen aller eurasischen Staaten gleichwertig zu beschützen (s. o.), behielt der Oberste Eurasische Rat eine Überwachungsfunktion. In diesem Rat entscheiden die fünf Präsidenten nach ihren jeweiligen nationalen Präferenzen, was die Arbeit der Kommission äußerst schwierig macht. So verursachten beispielsweise die verschiedenen Nationalgesetzgebungssysteme der Mitgliedstaaten Komplikationen bei der Beseitigung nationaler regulatorischer und nichttarifärer Handelshemmnisse, mit der Folge, dass bis dato kein

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gemeinsamer Rechtsrahmen geschaffen werden konnte. Aus der Analyse von Dragneva und Wolczuck lässt sich ableiten, dass die Beseitigung von nichttarifären und technischen Handelshemmnissen, Verboten und Beschränkungen, quantitativen Kontrollmaßnahmen oder Subventionen25 eine fundamentale Interaktionskomponente darstellt, um den Unionshandel zu verbessern: Die Beseitigung solcher Hindernisse setzt einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten voraus, damit die Kommission über den Prozess entscheidet, welche Hindernisse wann beseitigt werden sollen. Nichttarifäre Handelshemmnisse behindern den freien Handel in der EAWU. Die Ad-Valorem-Äquivalente solcher Handelshemmnisse liegen zwischen zehn und 30 Prozent des Exportwerts einiger Länder.26

Ein weiteres Problem der Kooperationskonsolidierung besteht in der schwachen Koordinierungsrolle der Kommission. Die Mitgliedstaaten haben eine gesonderte Vereinbarung über die Ausfuhrzölle in den Handelsbeziehungen mit Drittstaaten geschlossen, die besondere Vorschriften für Exportzölle für individuell definierte Warenlisten enthält. Dadurch erhielten die Mitgliedstaaten die Befugnis, eigenständig Ausfuhrzollsätze zu erlassen und zu ändern, und machen von diesem Recht regen Gebrauch. Es mangelt jedoch an Transparenz, da auf der EAWUEbene keine offizielle Datenbank existiert, die Auskunft über die aktuellen Ausfuhrzollsätze gibt.27 Hinzu kommt, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten keine stabilen Wirtschaftsbeziehungen untereinander pflegen und periodisch sogar „Handelskriege“ ausfechten – beispielsweise die „Milch- und Fleischkriege“ zwischen Russland und Belarus oder die „Kartoffelkriege“ zwischen Kasachstan und Kirgisistan. Die Auswirkungen dieser Dispute haben die Entwicklung des gegenseitigen Handels aufgehalten und die Glaubhaftigkeit einer möglichen Erweiterung der Union beschädigt. Dass die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten auch schon in der Vergangenheit von etlichen Spannungsmomenten gezeichnet waren, verdeutlicht das Beispiel Belarus’, das im Dezember 2014 (einen Monat bevor die EAWU offiziell ihre Arbeit aufnahm) auf die russländischen Importverbote seiner Produkte mit der Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen reagierte.28

25Vinokurov

(2017, S. 60). R. and Wolczuk K. (2017, S. 19). 27Borovikov et al. (2017). 28Ebd., S. 20. 26Dragneva

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

245

In Anbetracht der obigen Ausführungen erscheint es nur schwer vorstellbar, dass die begonnenen Integrationsprozesse vertieft werden können und dass die Kommission tatsächlich ein supranationales Mandat erhält, um alle Wirtschaftsräume zu regulieren. Konkret fehlt es an einem gemeinsamen Willen in der Union, die nationalen Systeme mit den Regeln der EAWU zu vereinheitlichen, was sich dementsprechend als eine Schwächung oder gar Blockade des Integrationsprozesses erweist. Zur Schaffung einer funktionierenden Wirtschaftsunion müssten die Mitgliedstaaten deutlich größeres Engagement in den Entscheidungsprozessen auf der EAWU-Ebene zeigen, wobei die gemeinsamen Probleme der Union und nicht die einzelnen Nationalinteressen als Priorität betrachtet werden sollten.

8 Der ökonomische Zustand der EAWU Laut der offiziellen Statistiken der Eurasischen Kommission war zu Beginn der Integration im Zeitraum 2014-2016 eine drastische Reduzierung des Bruttoinlandsproduktes für alle Mitglieder der Union zu verzeichnen. Auffällig ist dabei zum Beispiel die starke Kontraktion des kasachischen BIPs zwischen 2014 (221,4 Mrd. US$) und 2016 (137,2 Mrd. US$). Erst ab 2017 gab es einen positiven Kurswechsel mit einer Steigerung des BIPs für alle Länder der Union, welche sich noch im Jahr 2018 weiter verbessert hat: So verzeichnete die EAWU 2017-2018 eine BIP-Steigerung um 5,4 Prozent.29 Das Volumen des Binnenhandels reduzierte sich im Zeitraum 2014-2015 deutlich. Insbesondere war für die Periode 2014-2015 eine ausgeprägte Reduktion im Handel zwischen Russland und Belarus zu konstatieren: 37,3 Mrd. US$ und 26 Mrd. US$ respektive, was einem Rückgang von 11,3 Mrd. US$ entsprach. Im Vergleich zum Zeitraum 2014-2015 verbesserte sich der gegenseitige Handel in der Periode 2015-2016 leicht. 2015-2016 steigerten beispielsweise Armenien und Kasachstan ihren Handel um 16,7  Prozent und Russland und Armenien um 3,2 Prozent. 2018 kam es zu einer positiven Entwicklung des Exportvolumens im gegenseitigen Handel der Mitgliedstaaten, wobei die EAWU 59,7 Mrd. US$ insgesamt erzielte (fünf Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2017). Vor

29Yevraziskaya

Ekonomicheskaya Kommisiya (2019, S. 39).

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allem erweiterten Russland und Kasachstan 2018 ihren bilateralen Handel (18 Mrd. US$) sowie Belarus und Russland (35,7 Mrd. US$).30 2016 identifizierte die Eurasische Kommission in einem White Report 60 Hürden (17 Ausnahmen, 34 Beschränkungen und neun Hindernisse), die dem Handel in der Union im Weg standen. Die Kommission begann daraufhin, Barrieren zu beseitigen, um den Handel zwischen den Ländern der EAWU zu erleichtern. Folgende Maßnahmen wurden ergriffen: • Anpassung der Kontrollmaßnahmen für die Veterinärkontrolle; • Beseitigung von Hindernissen bei der Arbeitsmigration durch die vollständige Anerkennung der Bildungsnachweise aller Bürger der Mitgliedstaaten; • Beseitigung von Verwaltungshindernissen im Zusammenhang mit dem Handel von Waren zwischen den Mitgliedstaaten. Folgende sichtbaren Resultate konnten daraufhin während des ersten Quartals 2017 erzielt werden: 1. Im Januar 2017 betrug die landwirtschaftliche Produktion 3,7 Mrd. US$ und verzeichnete damit einen Anstieg um 0,8 Prozent in konstanten Preisen gegenüber Januar 2016. 2. Das Volumen des gegenseitigen Warenhandels belief sich im ersten Quartal 2017 auf 11,8 Mrd. US$, welches einer Steigerung von 131,3 Prozent gegenüber dem Zeitraum Januar bis März 2016 entsprach; 3. Im Vergleich zu Januar-März 2016 stieg im gleichen Zeitraum 2017 das relative Gewicht des gegenseitigen Handels leicht von 14,1 Prozent auf 14,3  Prozent des Gesamthandels der Mitgliedsstaaten an.31 Durchgehend registrierte die EAWU im Jahr 2017 eine dynamische Entwicklung der industriellen Produktion, welche sich im Januar-Dezember 2017 auf 1,1 Mrd. US$ belief und damit im Vergleich zu Januar-Dezember 2016 in konstanten Preisen um 1,7  Prozent angestiegen war.32 Bezüglich des Binnenhandels war auch für das Jahr 2018 ein kontinuierlicher Zuwachs zu konstatieren: Von 4,3 Mrd. US$ im Januar 2018 bis zum höchsten Wert von 5,2 Mrd. US$ im

30Ebd.,

S. 144.

31Yevraziskaya 32Yevraziskaya

Ekonomicheskaya Kommisiya (2017, S. 1–3). Ekonomicheskaya Kommisiya (2018, S. 3).

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

247

Zeitraum März bis Juni 2018. Diese Werte zeigen, dass die Union nach einem turbulenten Beginn zu wachsen begonnen hat. Anhand dieser Daten lässt sich argumentieren, dass sich nach den negativen Konsequenzen der globalen Wirtschaftskrise, die eine starke Wirkung auf Eurasien und speziell auf Russland ausübte, die ökonomische Situation der Mitgliedsländer durch die Gründung der EAWU leicht verbessert hat. Offensichtlich existieren jedoch noch große Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern, wobei Russland nach wie vor als Hegemon gegenüber den anderen Staaten auftritt.

9 Überlegungen zum Innen- und Außenhandel der EAWU Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes ohne Barrieren zwischen den Mitgliedstaaten stellt die Priorität der EAWU für die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums dar. In diesem Sinne normiert Artikel 28, Absatz 3 des Gründungsvertrages, dass „im Rahmen des Funktionierens des Binnenmarkts unter den Mitgliedstaaten keine Einfuhr- und Ausfuhrzölle, nichttarifäre ordnungspolitische Maßnahmen, Schutz-, Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen im gegenseitigen Handel angewendet werden dürfen“.33 Mithilfe dieses Mechanismus entschieden die Staaten der EAWU, den Wettbewerb ohne technische Hindernisse zu implementieren, damit sich der Markt der Union zukünftig erweitern kann. Zwischen der Vision einer weitreichenden Integration und der Realität der regionalen Kooperation klafft jedoch eine große Lücke. Neben den aktuellen Problemen der noch existierenden Hindernissen und Grenzkontrollen zwischen den Staaten der EAWU, welche die Kommission auf der Grundlage des White Report jedoch zu beseitigen begonnen hat, sind die ökonomischen Unterschiede die wesentlichen Gründe, welche die Entwicklungen der Union bisher verlangsamt haben. In Verbindung damit müssen noch drei weitere Aspekte genannt werden: 1. Der bilaterale Handel zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten, vor allem Kirgisistan und Armenien (1,1 Mio. US$) und Armenien und Kasachstan (17,3 Mio. US$) im Jahr 2018, ist zu vernachlässigen;

33Artikel

28 des Vertrages der Eurasischen Wirtschaftsunion.

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Tab. 2   Abkommen und Verhandlungen der EAWU mit extraregionalen Staaten und Organisationen Freihandelsabkommen

Vietnam, in Kraft seit Oktober 2016 Iran, in Kraft seit Oktober 2019

Partielles nicht-präferenzielles China, vereinbart im Mai 2018 Wirtschafts- und Handelsabkommen „Memorandum of Cooperation“

ASEAN Sekretariat, November 2018

Partnerschaftserklärung

Pazifik-Allianz (Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru), Juli 2019

Laufende Freihandelsverhandlungen Ägypten, Israel, Indien, Serbien und Singapur Absichtserklärungen über wirtschaftliche Zusammenarbeit

Mongolei, Peru, Kambodscha, Singapur, Marokko, Moldau, Griechenland, Andengemeinschaft (Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru)

Beobachterstatus bei der EAWU

Republik Moldau, seit Mai 2018

2. Im Vergleich zur Russländischen Föderation ist das ökonomische Entwicklungsniveau der übrigen Mitgliederstaaten sehr gering; 3. Der Außenhandel der EAWU ist für die Mitglieder wichtiger und gewinnbringender als der Binnenhandel. In Anbetracht des dritten Punktes bleibt festzustellen, dass die EAWU hinsichtlich der Exporte und Importe weiterhin stark von Drittländern abhängig ist. Deshalb besteht die aktuelle Strategie der Union darin, ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit externen Akteuren zu erweitern und zu erleichtern. Dieses Ziel soll durch die Vereinbarung von Freihandelsabkommen verwirklicht werden, um die Import- und Exportkosten zu verringern. Wie Tab. 2 zeigt, gelang es der EAWU seit 2016, Handelsabkommen und andere Kooperationsvereinbarungen mit Drittstaaten und regionalen Organisationen zu schließen, wobei der erste Freihandelsvertrag mit Vietnam unterzeichnet wurde.34 Im November 2018 einigten sich die EAWU und das ASEAN Sekretariat auf ein sogenanntes Memorandum of Cooperation, welches das Ziel verfolgt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit durch Investitionenund Handelserleichterungen zwischen den Mitgliedstaaten der ASEAN und

34Bokarev

Dmitry (2018).

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

249

der EAWU zu steigern.35 Gleichzeitig findet auf diese Weise eine Vernetzung zweier großer Regionalismen im euro-asiatischen Raum statt. Die Etablierung eines vereinfachten ökonomischen Netzwerkes mit externen Akteuren erscheint als ein notwendiges Instrument der EAWU, um den globalen Handel ihrer Mitgliedsstaaten auszuweiten. Initiiert vom damaligen Präsidenten Kasachstans Nasarbajew, wurde 2016 zum „Jahr der Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen der Union mit Drittländern und wichtigen Integrationsvereinigungen“ erklärt. Die Bedeutung dieses Konzepts besteht darin, dass die Eurasische Wirtschaftsunion eine offene Wirtschaftsgemeinschaft sein soll, die effektiv in das globale Wirtschaftssystem integriert werden kann – als zuverlässige Brücke zwischen Europa und dem aufstrebenden Asien.36 Insgesamt lässt sich Folgendes schlussfolgern: 1. Die Ausweitung und bessere Regulierung sowohl des Binnenhandels als auch des Außenhandels ist eine zentrale Strategie für die wirtschaftliche Entwicklung der Union; 2. Der Binnenhandel der EAWU besitzt für Russland lediglich eine geringe Bedeutung; 3. Das Interesse Russlands an der ökonomischen Zusammenarbeit mit der EAWU hat eher einen politischen als ökonomischen Charakter und verfolgt die Absicht, die Kontrolle Moskaus gegenüber Eurasien zu konsolidieren.

10 Schlussbetrachtungen Die Eurasische Wirtschaftsunion wurde mit dem Ziel einer Stärkung der regionalen Integration in Eurasien konzipiert und orientierte sich dabei vor allem an vier großen Zielen: 1. Die Überwindung der ökonomischen Herausforderungen der Globalisierung, wie sie durch die Weltfinanzkrise von 2008 sichtbar wurden, durch eine vertiefte Zusammenarbeit der eurasischen Länder; 2. Die Modernisierung der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten und damit des eurasischen Binnenmarktes insgesamt;

35Association 36The

of Southeast Asian Nations (2018). Eurasian Economic Commission (2016).

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3. Die Erleichterung der Handelsbeziehungen durch die Abschaffung von Zöllen im Verhältnis der EAWU-Mitglieder; 4. Die Stärkung des Wirtschaftspotenzials Eurasiens im globalen Kontext. Insofern beruht die EAWU, zumindest formal gesehen, ausschließlich auf einem ökonomischen Kalkül, indem sie einen Mechanismus zur Steigerung des Wirtschaftswachstums in der Region bereitstellen soll. Tatsächlich jedoch beschränkt sich die Rolle der Union nicht auf ihre wirtschaftspolitische Funktion. Zumindest aus russländischer Sicht nimmt die Gemeinschaft auch eine politische Dimension an, welche sich direkt mit Putins Projekt der Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken unter der Führung Russland verbindet. Andere Staaten stimmen mit einer solchen Auffassung jedoch nicht zwangsläufig überein. Laut der Vertragsbestimmungen der EAWU hat die regionale Integration lediglich eine ökonomische Konnotation, die nach Ansicht der Mitglieder Belarus und Kasachstan eine Erweiterung der Kompetenzen der institutionellen Unionsorgane auf eine politische Integration ausschließt. Weder Lukaschenkos noch Nasarbajew (der auch nach seinem Rücktritt vom Präsidentenamt 2019 gemäß seiner von der Verfassung garantierten Position als „Führer der Nation“ weitgehend die Politik Kasachstans bestimmt) sind daran interessiert, ihre nationale Souveränität gegenüber der Russländischen Föderation einzubüßen. Die EAWU soll demnach vielmehr eine Transformation der jeweiligen ökonomischen Systeme anleiten, die eine Ausdehnung der Wirtschaftsaktivitäten erst in der gesamten Region Eurasiens und anschließend weltweit unterstützt. Von diesem Ziel ist die Union derzeit noch weit entfernt. Lediglich in den Jahren 2016 und 2017 konnten vor allem dank einer besseren Zusammenarbeit der Staaten und durch die Koordinationsaktivitäten der Kommission erste Fortschritte erzielt werden. Ebenso hat das Jahr 2018 positive Akzente für die ökonomische Situation der Mitglieder gesetzt – vor allem im gegenseitigen Handel, obwohl das wirtschaftliche Wachstum der Union weiterhin stark von Drittländern abhängig bleibt. Ein sichtbarer und nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg der Union wird von der Bereitschaft der beteiligten Volkswirtschaften zur Liberalisierung und der konsequenten Anwendung eines gemeinsamen Rechtsrahmens abhängen. Konsequenterweise ist die Beseitigung von Hindernissen, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital einschränken, ein vorrangiges Anliegen. Darüber hinaus erscheint eine Vereinheitlichung der Standards, Normen und Produktionsinfrastruktur notwendig, um den Binnenhandel anzukurbeln und ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum für alle Staaten sicherzustellen. Um das Potenzial der Union auszuschöpfen, ist die Implementierung

Die Eurasische Wirtschaftsunion: Geschichte, Ziele und Status …

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der bereits vereinbarten Mechanismen der angestrebten Integration unerlässlich. Hierzu zählen beispielsweise die Realisierung eines Finanzregulierungssystems (geplant für 2022-2025), die Errichtung eines gemeinsamen Ölmarktes (2024) und die Verwirklichung eines gemeinsamen Gasmarktes (2025).

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Dr. Alessandro Tripolone  ist Lehrbeauftragter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock und pflegt dort auch die Kooperation mit Wissenschaftlern in Belarus. Nach seinem Bachelor- und Masterstudium in Catania (Italien) und Rostock, schloss er 2018 seine Promotion am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit der Universität Rostock ab. Das Thema seiner Dissertation lautete The Eurasian Economic Union: from an historical examination to its legal and economic analysis with particular focus on the development of Belarus.

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte mit Defiziten Timotheus Krahl 1 Einleitung Die Visualisierung regionaler Kooperation in Asien nimmt oftmals groteske Züge an, ohne dabei den Betrachtern einen Erkenntnisgewinn zu vermitteln. Ökonomen bedienen sich gerne des Bildes der „noodle bowl“ (Nudelschüssel), um zu beschreiben wie verstrickt, ja verworren die bilateralen und intraregionalen Handelsabkommen der Region sind.1 Dem stehen Schaubilder, welche die Mitgliedschaft einzelner Länder in regionalen Institutionen abbilden – oftmals mit sich überschneidenden Kreisen visualisiert – in nichts nach. Hinzu kommt die Frage, welchen Nutzen ein vielfaches Engagement in den verschiedensten Organisationen und Foren mit sich bringt, da selbst die ASEAN – zentraler Drehund Angelpunkt regionaler Kooperation in Asien – immer wieder ihre Daseinsberechtigung verteidigen muss. Eine Abkürzung, die dabei immer wieder in Erscheinung tritt, ist GMS, die Greater Mekong Subregion – eine Kooperation zwischen Thailand, Laos, Vietnam, Kambodscha, Myanmar und zwei südchinesischen Provinzen.2 Diese Kooperation bringt Länder zusammen, die als das „südostasiatische Festland“ definiert sind und nur bedingt über geopolitischen Einfluss verfügen. Einziges Schwergewicht in den Reihen der GMS Länder ist

1Baldwin 2Yunnan

(2007). und Guangxi.

T. Krahl (*)  TÜV Rheinland InterTraffic GmbH, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2_10

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China, welches mit der Yunnan Province and der Guangxi Zhuang Autonomous Region vertreten ist. Die GMS ist historisch den Entwicklungsregionen zuzuordnen, die auf der Konzeption eines Wachstumsdreieckes aufbauen. Dieser Ansatz war insbesondere Anfang der 1990er Jahre populär, wurde jedoch nur erfolgreich im Rahmen des „SIJORI Growth Triangle“ (Singapur-Johor-Riau Wachstumsdreieck) umgesetzt. Dass die GMS heute bedeutender denn je ist, hat eine Vielzahl an Gründen, gilt sie doch als das erfolgreichste Entwicklungsprojekt der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB).3 Neben dem allgemeinen Überblick über die GMS wird sich dieses Kapitel mit der Frage beschäftigen, inwieweit die GMS – eine der kleineren regionalen Gruppierungen – von Relevanz ist. Um dieser Frage detaillierter nachzugehen, gilt es, kritisch den Erfolg der Region zu hinterfragen und zu klären, ob sie als Gemeinschaft zu werten ist. Basierend auf den Antworten wird es möglich, Implikationen sowohl theoretischer wie auch praktischer Natur für den Regionalismus in Asien abzuleiten.

2 Geschichte und institutionelle Entwicklung der GMS Der Ursprung der GMS ist in vielerlei Hinsicht auf den zeitlichen Kontext der späten 1980er Jahre zurückzuführen. Die persönlichen Interessen und Erkenntnisse einzelner Entscheidungsträger gingen einher mit der politischen und wirtschaftlichen Öffnung der beteiligten Länder, die zeitgleich stattfand. Der prominenteste Beitrag dieser Epoche stammte von dem ehemaligen thailändischen Ministerpräsident Chatichai Choonhavan, der Ende der 1980er Jahre seine Vision artikulierte, die Schlachtfelder Indochinas in die Marktplätze der Zukunft zu verwandeln.4 Seine vielfach zitierte Aussage gab nicht nur den Zeitgeist wieder, sondern baute gedanklich auf der Idee der Handelskammer in Chiang Rai (Thailand) auf, ein „wirtschaftliches Vierecks“, welches Thailands nördlichste und Chinas südlichste Provinz verbinden sollte, zu etablieren.5 Das Fehlen gemeinsamer Grenzen zwischen den beiden Partnern hätte dabei die Einbindung der Staaten Indochinas vorausgesetzt, deren wirtschaftliche Öffnung gefördert und damit ideale Rahmenbedingungen für den von Choonhavan

3Taillard

(2014, S. 23). (1988). 5D. Tan (2014, S. 388–389). 4Yong

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

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erhofften Absatz thailändischer Güter geschaffen. Neben der Bereitschaft einzelner Entscheidungsträger bedurfte es auch der aktiven Zusammenführung der unterschiedlichen Partner, welche durch das Handeln eines ADB Generaldirektors, Noritada Morita, zustande kam. Während eines offiziellen Besuches in Laos in seiner Funktion als ADB-Repräsentant im Jahre 1984 erlebte dieser die angespannte Lage am Mekong-Fluss, als Schüsse eines thailändischen Patrouillenbootes nur knapp sein Hotel verfehlten. Angesprochen von seinen Gastgebern, ob denn die ADB „helfen“ könne, machte er es sich zur Aufgabe, Entwicklungsprojekte anzustoßen, welche als Nebenprodukt auch die Kooperation in der Region fördern sollten.6 Im größeren historischen Kontext der Region markierte die Gründung der GMS, offiziell auf das Jahr 1992 datiert, das Ende einer langen Zeit der Feindseligkeiten in der Region und den Beginn einer Epoche, in der politische Konflikte beigelegt und wirtschaftliche Reformen angestoßen wurden. Nach der Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialherren, die sich in Kambodscha, Myanmar, Laos und Vietnam in der ersten Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzog, sowie der Hinwendung zum Kommunismus in China und Vietnam, folgten langjährige Konflikte.7 Diese wurden entweder von außen in die Region hineingetragen (Vietnam-Krieg), waren innerstaatlicher Natur (z. B. die Roten Khmer in Kambodscha oder ethnischen und politischen Konflikte in Myanmar) oder bestanden in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen (Chinas Invasion in Vietnam 1979). Die angespannte politische Lage äußerte sich in einer Teilung der Region, die dem Eisernen Vorhang in Europa gleich kam: Thailand verfolgte einen pro-westlichen Kurs, Kambodscha, China, Laos und Vietnam waren pro-kommunistisch bzw. enge Verbündete der Sowjetunion, während Myanmar einen neutralen Kurs verfolgte.8 Mitte der 1980er Jahre ebbte die Brisanz der Konflikte ab und mit den wirtschaftlichen Reformen in China und Vietnam begann eine neue Ära. Erste Erfahrungen der Zusammenarbeit wurden bei kleineren gemeinschaftlichen Entwicklungsprojekten gesammelt, auf deren Grundlage Gespräche zur Bildung der GMS aufbauten.9 In mehreren Runden, die erste davon 1992 in Manila, trafen sich die Minister, um die gemeinsamen Ziele zu definieren. Sie

6Rosario

(2014, S. 140). (2013, S. 327 und S. 394–397). 8Than (2005, S. 38). 9Rosario (2014, S. 140–46). 7SarDesai

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erzielten Einigkeit und einigte sich darauf, in den Bereichen Infrastruktur, Transport, Handel, Investition, Energie, Tourismus, Umwelt und Humankapital zu kooperieren.10 Trotz aller Veränderung, sowohl inhaltlich wie institutionell, sind dies bis heute die Kernthemen der GMS-Kooperation. Ein wichtiger Einschnitt für den Kooperationsmechanismus war die Asiatische Finanzkrise im Jahre 1997. Als Reaktion einigten sich die GMS-Staaten während der 8. Ministerkonferenz auf einen neuen und kohärenten Entwicklungsansatz und führten die sogenannten Wirtschaftskorridore ein.11 Ziel war es, die Infrastrukturentwicklung entlang einiger Hauptverkehrsachsen auszurichten. Diese erfolgreiche Neuausrichtung sowie das zehnjährige Bestehen der Organisation wurden im Jahr 2002 mit dem ersten GMS-Gipfeltreffen in Phnom Penh gefeiert. Dabei handelte es sich nicht nur um die erste Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Kooperation, sondern der Gipfel war auch insofern ein Novum, da erstmals Vertreter aus Peking statt aus den chinesischen Provinzen teilnahmen.12 Neben der Symbolik der Anwesenheit der Staats- und Regierungsoberhäupter war der Gipfel ein wichtiger Meilenstein, um die GMS als Institution weiterzuentwickeln – von einem losen Kooperationsmechanismus hin zu festen Arbeitsstrukturen mit regelmäßigen Treffen auf höchster Ebene. Die hieraus resultierende neue Dynamik wurde auch durch die Vielzahl von wegweisenden Entscheidungen während des Gipfeltreffens sichtbar. Besonders erwähnenswert sind hierbei die Definition der elf Kernpunkte des Entwicklungsprogramms13, der „Phnom Penh Plan for Development Management“, sowie das strategische Rahmenprogramm für die Jahre 2002–2012.14 Nguyen Quoc Viet benennt einige weitere Ereignisse, die auf dieser Entwicklung aufbauten; herauszustellen ist dabei die im Jahr 2003 – während der 13. Sitzung der Minister – getroffene Entscheidung den Kooperationsmechanismus gemäß der „Drei Cs“ (Three Cs) zu strukturieren: Konnektivität, Wettbewerbsfähigkeit und Gemeinschaft (connectivity, competitiveness, community).15 Dem ersten erfolgreichen

10Taillard

(2010, S. 198); Rosario (2014, S. 147–48). (2013, S. 320); Masviriyakul (2004, S. 304); Nguyen (2016, S. 161–62); Ishida and Isono (2012, S. 10). 12Nguyen (2016, S. 160). 13Im Englischen: flagship programs. 14Nguyen (2016, S. 161); ADB (2012b, S. 6). 15Im Englischen Original: Three Cs: connectivity, competitiveness and community. 11Cheng

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

259

Gipfel folgten seitdem weitere im drei- bis vierjährigen Rhythmus.16 Die Bedeutung dieser Zusammenkünfte äußert sich insbesondere durch wegweisende strategische Entscheidungen, wie die Verabschiedung des aktuellen Rahmenprogrammes für die Jahre 2012–2022 beim GMS Summit in 2011.17 Neben der fortschreitenden institutionellen Entwicklung, die sich beispielsweise im Economic Corridors Forum, das im Jahr 2008 ins Leben gerufen wurde, widerspiegelt, machte die GMS auch inhaltlich Fortschritte. Hierzu zählt das Regional Investment Framework (RIF) für die Jahre 2013–2022, sowie verschiedenste Strategien und Aktionspläne für die Schlüsselsektoren – wie das Strategic Framework and Action Plan for Human Resource Development in the Greater Mekong Subregion und das Cross-Border Transport Agreement (CBTA).18 Letzteres gilt als das wichtigste und erfolgreichste subregionale Arrangement unter den GMS-Ländern.19 Diese Zusammenfassung einiger wichtiger Errungenschaften verweist auf die erfolgreiche Entwicklung der GMS von einer losen Form der intergovernmentalen Zusammenarbeit hin zu einem institutionalisierten Kooperationsmechanismus, welcher den Rahmen für eine aktive Gestaltung der regionalen Entwicklung bildet. Nicht ohne Grund bezeichnet Taillard20 die GMS als das erfolgreichste regionale Entwicklungsprogramm der ADB. Wie jedoch ein Repräsentant der ADB gegenüber dem Autor eingestand, muss die Entwicklung in zwei Phasen unterteilt werden:21 die erste mit einem Fokus auf die Entwicklung von physischer Infrastruktur – im Speziellen Straßen und Energie – und die zweite mit einem Schwerpunkt auf den institutionellen Faktoren sowie der Überwindungen von räumlichen Diskrepanzen. Dies verweist auf eine Kluft zwischen den in der ersten Dekade erreichten Zielen einerseits und den Hürden und Problemen, welche als Teil des Prozesses hervorgetreten sind, andererseits.

16Juli

2005 (Kunming, China), März 2008 (Vientiane, Laos), Dezember 2011 (Nay Pyi Daw, Myanmar), Dezember 2014 (Bangkok, Thailand) & März 2018 (Hanoi, Vietnam) (Soong (2016, S. 448); ADB (2014b, S. 8, 2018). 17Soong (2016, S. 448); ADB (2011c, S. 3, 2011b). 18D. Tan (2014, S. 394); ADB (2011a); GMS Secretariat (2014a); ADB (2013). 19Nguyen (2016, S. 161). 20Taillard (2014, S. 23). 21Interview des Autors am 2. Juni 2014 mit einem Repräsentanten der örtlichen ADB Vertretung in Phnom Penh, Kambodscha.

260

T. Krahl

Daher wird sich der nächste Abschnitt damit beschäftigen, inwieweit die GMS tatsächlich als eine Erfolgsgeschichte gewertet werden kann.

3 Die GMS – eine Erfolgsgeschichte? Da die GMS originär als ein Projekt für die Entwicklung der Infrastruktur gilt, wird in einem ersten Schritt der Themenkomplex Konnektivität mit einem Fokus auf der Schaffung von Infrastruktur, den dazugehörigen Instrumenten und ihren Auswirkungen beleuchtet. Des Weiteren gilt es, den Status-quo bei sicherheitspolitischen Fragestellungen in der Region zu analysieren und der Frage nachzugehen, ob und wie die beteiligten Länder in diesem Politikfeld zusammenarbeiten. Dieser ergänzende Aspekt eignet sich, um die Analyse insbesondere bezüglich der GMS als Gemeinschaft abzurunden. Eine der Prämissen der GMS ist es, die Konnektivität und damit einhergehend die Wettbewerbsfähigkeit der Region zu stärken, zusammengefasst ist dies mit den ersten beiden Schlagwörtern des Konzeptes der Drei Cs. Das Ziel, die Konnektivität in der Region zu steigern wird vornehmlich mit der Entwicklung der Verkehrsachsen verfolgt, ist aber nur ein Baustein im Gesamtsystem. Die Grundlage dafür wurde in den späten 1990er Jahren mit der Einführung der Wirtschaftskorridore (Economic Corridors) gelegt, die sich in drei Hauptkorridore gliedern: East–West Economic Corridor (EWEC), North–South Economic Corridor (NSEC) und den Southern Economic Corridor (SEC).22 Dieses anfänglich auf einige Hauptverkehrsachsen beschränkte Fernstraßennetz wurde über die Jahre erweitert und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass eine Region wie die GMS nicht mit wenigen Querverbindungen abgebildet werden kann. Nichtsdestotrotz folgen die Korridore immer noch dem anfänglich gewählten Ansatz der Schaffung dreier Verbindungen: Nord-Süd, Ost- mit Westküste der Region sowie zwischen den süd-östlichen Regionen und der Westküste. Krahl (2017) widmet sich intensiv den Errungenschaften des geschaffenen Straßennetzes, dessen Diskussion über den Rahmen dieses Kapitels hinausgeht. In aller Kürze jedoch sollen die wesentlichen Ergebnisse hier zusammengefasst werden. In allen Ländern mit Ausnahme von Myanmar, welches aus politischen Gründen nur bedingt dazu befähigt war, an der GMS zu partizipieren, wurden die Korridore zu Allwetterstraßen ausgebaut sowie Engpässe beseitigt Letzteres vor allem

22ADB

(2014a).

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

261

durch den Bau von Brücken. Die Autobahnen und genannte Fernverkehrsstraßen sind nur bedingt mit dem westeuropäischen Standard zu vergleichen, jedoch gilt es bei dieser Bewertung zu beachten, dass insbesondere die Straßen in Grenzregionen bisher nicht geteert oder gar befestigt waren und daher regelmäßiger transregionaler Verkehr nicht möglich war. Von potenziellen Einschränkungen in Myanmar abgesehen kann heutzutage jede Hauptstadt der Region von jeder anderen Hauptstadt in der GMS auf direktem Weg auf einer ausgebauten Straße erreicht werden. Einen wichtigen Baustein zur Verbesserung der Konnektivität in der Region ist nicht nur die Schaffung von physischen Verbindungen, sondern auch die Stärkung des institutionellen Rahmens zur Vereinfachung des Austauschs von Gütern und Waren. Hierzu wurde im Jahr 2003 ein grenzüberschreitendes Handelsregime initiiert, das Cross-border trade agreement (CBTA).23 Die Umsetzung erfolgt in mehreren Phasen und hat zum Ziel, sowohl die Handhabung der Güter wie auch die Dokumentation von Im- und Exporten zu vereinheitlichen, um damit die Prozesse und Anforderungen zu vereinfachen, Kosten zu senken und den Warenverkehr zu beschleunigen.24 Kern des CBTA ist das GMSCustom Transit System (GMS-CTS)25, da dieses insbesondere dazu beitragen würde, dass Güter schneller und kostengünstiger an den Grenzen abgefertigt werden. Laut Grimble & Linington26 würde jedoch gerade an dieser Stelle das CBTA nicht seinen Ansprüchen gerecht werden. Sie weisen auf strukturelle Fehler hin und gehen nicht davon aus, dass es umfassend Anwendung für den kommerziellen Warenverkehr findet.27 Die Liste der von ihnen identifizierten Schwachstellen ist lang. Diese beinhaltet u. a. die nicht-elektronische Datenerfassung: So werden für den Transport eines Containers von Vietnam über Laos nach Thailand physische Dokumente im Umfang von 30 Seiten benötigt. Des Weiteren müssen die Transportunternehmen nicht nur registriert, sondern auch für das Transportregime zugelassen sein. Letzteres sei ein aufwendiger und komplizierter Prozess. Darüber hinaus ist das CBTA nur entlang der Transportkorridoren und ihren dazugehörigen Grenzübergängen und nicht in der gesamten

23Deutsch:

Vereinbarung über den grenzüberschreitenden Handel. GMS Secretariat (2014b, S. 3). 24Stone, Strutt, und Hertel (2010, S. 17–18). 25Deutsch: Zollabfertigungs- und Transitsystem. 26Grimble und Linington (2012, S. 80). 27Ebd. S. 77.

262

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Region a­ nwendbar. Diese Liste ist nicht abschließend und weitere Punkte werden von den Autoren benannt. Jedoch lässt sich ihre Kritik am besten wie folgt zusammenfassen: Die Förderung von grenzüberschreitendem Handel setzt eine Vereinfachung der Prozesse, eine Harmonisierung der Daten, eine Reduktion der offiziellen Dokumente auf ein absolutes Minimum, die Anwendung eines Risikomanagements und den Einsatz moderner Technologie zur Sicherstellung der Lieferkette voraus – all dies ist laut Grimble & Linington28 so nicht umgesetzt. Neben all den Hindernissen hin zu einem grenzübergreifenden Zoll- und Transportregime, welches einen echten Mehrwert beisteuert, sei angemerkt, dass die GMS die Schwächen der Umsetzung erkannt hat und pro-aktiv daran arbeitet, dem entgegenzuwirken.29 Dies spiegelt sich auch im aktuellen Aktionsplan wieder, welcher sich dem Ausbau der Transport- und Verkehrsrechte, der Vereinfachung und Modernisierung der Zollverfahren, sowie der Stärkung der Gesundheits- und Pflanzenschutzbehörden (im Rahmen der Einfuhrkontrolle) widmet.30 Trotz aller Defizite in der Umsetzung des CBTA haben Untersuchungen ergeben, dass die Kosten zur Abfertigung an den Grenzen entlang des EWEC, dem CBTA-Pilotkorridor, im Vergleich zu den anderen Grenzübergängen niedriger sind.31 Dies führt direkt zu der Frage, inwieweit die von der GMS durchgeführten Maßnahmen zur Verbesserung der Konnektivität beitragen. Eine Bewertung ist unter Rückgriff auf den Logistics Performance Index (LPI)32 möglich, welcher – basierend auf Umfragen innerhalb der Logistikbranche – die Entwicklung der folgenden Faktoren untersucht: • Zoll bzw. die Effektivität der Zollabfertigung • Infrastruktur bzw. die Qualität der Infrastruktur • Internationale Sendungen bzw. wie einfach oder schwierig es ist, einen wettbewerbsfähigen Preis für diese zu erzielen • Logistik (Qualität & Kompetenz) bzw. die Qualität der Dienstleistung • Nachverfolgung bzw. inwieweit es möglich ist, Sendungen nachzuverfolgen • Pünktlichkeit bzw. inwieweit Sendungen innerhalb des von dem Transportdienstleister angegeben Zeitfensters zugestellt werden.

28Ebd.

S. 94. 2016. 30GMS Secretariat 2015. 31Banomyong 2014, S. 100. 32Deutsch: Index der Logistikleistungsfähigkeit. 29ADB

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

263

Wichtig bei der regionalen Betrachtung ist, dass es sich hier um eine nationale Erhebung handelt, welche die Interaktion mit dem Ausland immer auf einer globalen Ebene bewertet. Im globalen Vergleich von 160 Ländern würde sich die GMS im Jahr 2018 zwischen Brasilien (56.) und Ruanda (57.) einordnen und ihr Wert von 2,98 entspricht 61,78 Prozent des Höchstwertes (für 2018 hatte diesen Deutschland mit 4,20 Punkten inne). Eine detailliertere Betrachtung zeigt auf, dass die Region als Ganzes kontinuierlich ihre Logistikleistungsfähigkeit verbessern konnte, einzig und alleine im Jahr 2016 sank der Index um 0,05 Punkte ab (siehe Abb. 1). Selbst Länder wie Laos oder Myanmar, die von hoher Volatilität ihrer Logistikleistungsfähigkeit geprägt sind, haben diese im Durchschnitt um 0,09 Punkte pro Erhebung verbessern können. . Neben den Logistik-Indikatoren geben Studien einen Aufschluss über die konkreten Kosten- und Zeitersparnisse, welche durch die Entwicklung der Korridore und den Ausbau des Straßennetzwerkes erzielt wurden (bzw. antizipiert werden). Tab. 1 listet einige der Ergebnisse auf, wie beispielsweise die Messung eines Zeitersparnisses u. a. entlang des East–West Economic Corridors (EWEC) von bis zu 75 Prozent. Ausführliche Arbeiten zu diesem Thema stammen u. a. von Banomyong, der sich intensiv mit dem North–South Economic Corridor (NSEC) beschäftigt hat und dabei bereits für eine frühe Phase (zwischen den

.

Abb. 1   Logistics Performance Index, GMS-Länder. (Quelle: The World Bank 2018)

264

T. Krahl

Tab. 1   Kosten- und Zeitersparnisse entlang einiger ausgewählter Korridore Korridor Route

Kosten Zeiterspar Anmerkungen Quellen ersparnisse nisse

Zentral- Vientiane–Laem korridor Chabang

40 %

43 %

Potenzielle Ersparnisse

(Stone and Strutt 2010, 170)

EWEC

Bangkok-Hanoi

34 %

Potenzielle Ersparnisse

(Isono 2010, S. 344)

EWEC

Danang–Mukdahan 50 %

63 %

Potenzielle Ersparnisse

(Stone and Strutt 2010, 170)

EWEC

Dansavanh-Lao Bao (Grenzkontrolle)

66 %

(ADB 2009, S. 89)

EWEC

Route in Laos Route in Vietnam (NR9/Highway 1)

75 % 25 %

(ADB 2008b, S. 19)

SEC

Phnom Penh-Ho Chi Minh City

54 %

(ADB 2008a, S. 12)

EWEC: East–West Economic Corridor; SEC: Southern Economic Corridor Quelle: Überarbeitete Tabelle von Krahl 2011, S. 17

Jahren 2000 und 2006) Kosten- und Zeitersparnisse von ca. einem Drittel nachweisen konnte.33 Ein weiterer Ansatz zu überprüfen, wie sich die Konnektivität in der Region entwickelt hat, ist unter Zuhilfenahme von Daten möglich, welche die Interaktion der Bevölkerung widerspiegeln. Hierzu können Tourismus- sowie Migrationsströme untersucht werden.34 Im Nachfolgenden werden die Ergebnisse von Krahl35 in Bezug auf den intraregionalen Tourismus kurz wiedergegeben, bevor näher auf die intraregionalen Migrationsströme eingegangen wird. Krahl36 vergleicht die GMS

33Für eine detaillierte Diskussion der Ergebnisse von Banomyong (2007, 2008), siehe Krahl (2017, 127–129). 34Capanelli et al. (2009); Krahl (2017, S. 94 und S. 103–108). 352017, S. 104–106. 36Krahl (2017, S. 104–106).

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

265

mit anderen sich integrierenden Regionen37 und hat dabei festgestellt, dass die GMS in den Jahren 1995 bis 2014 die niedrigsten intraregionale Tourismusquote hatte. Diese lag im Jahr 2014 bei sieben Prozent, was signifikant niedriger war als z. B. der Wert für ASEAN von 52 Prozent. Nichtsdestotrotz sind die intraregionalen Tourismusströme innerhalb der GMS in den Jahren 1995 bis 2014 im Schnitt um 17 Prozent gewachsen – der höchster aller Werte der untersuchten Regionen. In Bezug auf die intra-regionale Migration im Vergleich zur Gesamtzahl der Migrantinnen und Migranten weist die GMS einen sehr hohen Anteil an intraregionalen Migration auf. Für das Jahr 2015 betrug die Quote 79 Prozent. Dies entspricht 4,1 Mio. intra-regionale Migrantinnen und Migrantinnen (von 5,1 Mio. insgesamt) und folgt damit einem langanhaltenden Trend von hoher Mobilität. Dies spiegelt bereits die intra-regionale Migrationsquote für 1990 wider, die damals bei 59 Prozent lag und seitdem kontinuierlich zunahm. Im Vergleich zu anderen sich integrierenden Regionen ist die GMS seit 2005 die Region mit der höchsten intraregionale Migrationsquote.38 (s. Abb. 2).

4 Der Beitrag der GMS zur regionalen Sicherheit Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass die GMS-Initiative einen wichtigen Beitrag zur Kohäsion leistet. Darüber hinaus wirkte sich die steigende Konnektivität des Potenzials positiv auf das wirtschaftliche Wachstum der Region aus. Eine weitere wichtige Determinante ist jedoch, dass der einheitliche Lebensraum von Frieden und Sicherheit geprägt ist. Dabei geht die heutige Definition von Sicherheit über den klassischen Ansatz von der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden hinaus und bedient sich der Sammelbegriffe von „traditioneller Sicherheit“ und „nichttraditioneller Sicherheit“. Traditionelle Sicherheit ist dabei ein Zustand, in dem kein Krieg bzw. keine militärische Auseinandersetzung stattfindet. Der Begriff der nicht-traditionellen Sicherheit baut auf der Definition der menschlichen Sicherheit auf, welche im Human Development Report (HDR) von 1994 des United Nations Development Program (UNDP) definiert wurde.39 Dieser benennt die folgenden Sicherheiten: wirtschaftliche Sicherheit, Ernährungssicherheit, gesundheitliche Sicherheit, Umweltsicherheit, persönliche Sicherheit, gesellschaftliche Sicherheit

37ASEAN,

ASEAN + 3, BIMSTEC, EU15, EU28, Integrated Asia (ASEAN + 3 mit Hong Kong, Indien und Taiwan) und NAFTA. 38Krahl (2017, S. 106–108). 39UNDP (1994, S. 25–32).

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Abb. 2   Entwicklung der intra-regionalen Migration in der GMS. (Quelle: Eigene Berechnungen des Autors auf der Grundlage von UN (2015))

und politische Sicherheit. Im Folgenden gilt es zu analysieren, ob die Region Sicherheit – in ihren verschiedenen Ausprägungen – erlebt und ob die GMS als Institution einen Beitrag dazu leistet, dass die Region als sicher gewertet werden kann. Mit Blick auf den Themenkomplex harte oder traditionale Sicherheit ist zunächst festzustellen, dass seit der Gründung der GMS nur ein bilateraler Konflikt zwischen den GMS-Mitgliedsländern ausgetragen wurde.40 Dieser ist allerdings als „minor armed conflict“41 klassifiziert. Hierbei handelt es sich um die Auseinandersetzung am Preah Vihear Tempel zwischen Thailand und Kambodscha, die in den Jahren 2008 und 2011 34 Todesopfer forderte.42 Jedoch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass es 85 lokale Konflikte43 in den

40Krahl

(2017, S. 134–136). die Klassifizierung siehe, 3.11, UCDP/PRIO Armed Conflict Dataset Codebook (UCDP und PRIO 2016, S. 8). 42Wagener (2011, S. 31–32). 4363 der 85 der lokalen Konflikte fanden oder finden noch auf dem Territorium von Myanmar statt. 41Für

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

267

­ itgliedsländern gab bzw. gibt. Eine wichtige Erkenntnis darüber hinaus ist, dass M die Region in den Jahren vor der Gründung der GMS von zwei Konfliktdekaden geprägt war, die nun überwunden sind: Die erste während des Vietnamkriegs von 1965 bis 1975 und die zweite, geprägt von Grenzkonflikten und kleinen Scharmützeln, von 1975 bis 1988. Des Weiteren stellt sich die Frage des militärischen Aufrüstens bzw. inwieweit ein Wettrüsten stattfindet. Allgemein lässt sich, sofern Kennzahlen vorliegen,44 feststellen, dass sich die Ausgaben für Militär und Rüstung in den letzten 25 Jahren innerhalb der Region nach ähnlichen Mustern entwickelt haben. Bis auf Myanmar, wofür nur bedingt Daten vorhanden sind, haben die Mekongländer im Schnitt zwei Prozent des BIP für ihr Militär ausgegeben – die magische Kennzahl, welche immer wieder von der NATO postuliert wird. Die Frage, ob ein oftmals diskutiertes Wettrüsten stattfindet,45 wird von Bitzinger verneint.46 Er kommt zu dem Schluss, dass es sich nicht um einen „echten Rüstungswettlauf“ handelt, sondern um einen normalen Prozess der wiederkehrenden rollierenden Rekapitalisierung und spricht daher von einer „Bewaffnungsdynamik“.47 Bitzinger definiert diese Dynamik als eine Reaktion auf das militärische Erstarken Chinas mit dem Ziel, nicht zu sehr ins Hintertreffen zu geraten.48 Ein weiterer Hinweis, wie es um die traditionelle Sicherheit der Region bestellt ist, lässt sich anhand des Umgangs mit Grenzstreitigkeiten feststellen. In dem für die Region äußerst problematischen Bereich ungeklärter Grenzdemarkationen gelang es den Mekongländern in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte zu erzielen, eine Vielzahl von Streitigkeiten beizulegen und sich auf gemeinsame Grenzlinien zu einigen.49 Als Erfolgsgeschichte in diesem Kontext ist die Wiederannäherung und Festlegung der gemeinsamen Grenze zwischen China und Vietnam zu erwähnen – Staaten, deren zwischenstaatlichen Beziehungen stark unter den Folgen des Krieges im Jahr 1979 gelitten hatten. Trotz der beachtlichen Entwicklung ist jedoch festzustellen, dass die GMS bis heute als eine Region gilt, die nicht frei von (potenziellen) Konflikten traditioneller Art ist. Die a­ usführlichere

44Dies

ist für Myanmar nur bedingt gegeben. und Job (2007); Hashim (2016); C. Tan (2013); The Economist (2012); Pilling (2014); Bitzinger (2010); Huxley (2011); Le Mière (2014). 46Bitzinger (2010, S. 59–60). 47Im englischen Original: arms dynamic. 48Bitzinger (2010, S. 16). 49Krahl (2017, S. 147–154). 45Hartfiel

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Darstellung der Entwicklung von traditioneller Sicherheit in der GMS soll die Gewichtigkeit von nicht-traditionellen Herausforderungen nicht mindern. Hierunter fallen u. a. der Anbau und Schmuggel von Drogen50 und die Zerstörung der Umwelt51 bzw. des natürlichen Lebensraums von Menschen, Tieren und Pflanzen und insbesondere des Mekong-Flusses.52 Basierend auf dem Hintergrund der Existenz von sowohl traditionellen wie auch nicht-traditionellen Unsicherheiten stellt sich die Frage, inwieweit die GMS im Kontext von Sicherheit zu einem einheitlichen Lebensraum beiträgt und daher als eine „Erfolgsgeschichte“ gewertet werden kann. Hierzu sollen im Folgenden zwei Projekte – das eine mit Bezug zur traditionellen Sicherheit, das andere aus dem Bereich der nicht-traditionellen Sicherheit – vorgestellt werden, die entweder strukturell auf der Konzeption der GMS als Region aufbauen oder Teil des GMS-Entwicklungsprogramms sind. Basierend auf der Prämisse einer einheitlichen Region, welche sich gemeinsam den Herausforderungen stellt, schlossen sich im Jahr 1993 im Rahmen des Memorandum of Understanding on Drug Control fünf Mekongländer zusammen,53 um gemeinsam die Drogenproblematik zu bekämpfen.54Aus der Projekterfahrung heraus ergab es sich, dass zur besseren Zusammenarbeit der Beamten sogenannte Border Liaison Offices (BLO) entlang der Grenzen eingerichtet wurden.55 Nach ersten Versuchen stieg die Zahl dieser grenzüberschreitenden Kooperationsbüros signifikant, sodass heute insgesamt 76 BLO entlang der Grenzen innerhalb der Mekong-Region existierten.56 Ziel der BLO ist es, den Austausch von Informationen sowohl national wie auch bilateral zu beschleunigen und dabei hierarchischen Strukturen zu überwinden. Insbesondere der direkte Austausch zwischen Beamten unterschiedlicher Länder ist ein Novum in der Region.57 Letzteres ist nicht selbstverständlich, denn es handelt sich bei polizeilichen Informationen oftmals um Daten, denen eine Bedeutung

50Chin (2009, S.  117); Finckenauer und Chin (2006, S. 27); Windle (2012, S. 429); Bonanno (2012, S. 99 und 101); Kneebone und Debeljak (2010, S. 138); Jayagupta (2009, S. 235); Sauterey (2008, S. 10). 51R. Cronin (2009, S. 153); R. P. Cronin (2011, S. 159). 52R. Cronin (2009, S. 149). 53Vietnam trat diesem wenig später bei. 54UNODC (2013c, S. 32). 55UNODC (2013a, S. 4; 2009, S. 6). 56UNODC (2009, S. 5; 2013b, S. 20). 57Liu, Somboon, und Middleton (2016, S. 229).

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

269

für die nationale Sicherheit zukommt. Trotz des Ansatzes, der im Rahmen einer solch pluralistischen Region als fortschrittlich gewertet werden muss, ergibt eine detaillierte Auswertung der Projektveröffentlichungen auch, wie schwierig die Umsetzung einer effektiven bilateralen Zusammenarbeit ist58: Der BLOMechanismus ist oftmals noch auf die finanzielle Hilfe des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) angewiesen, die anvisierten regelmäßigen Treffen zwischen den Beamten der kooperierenden Büros finden nur sporadisch statt und die Arbeit wird wenig bis gar nicht von den Beamten vor Ort dokumentiert. Jedoch kann der BLO-Mechanismus ganz konkret auf Erfolge verweisen, z. B. bei der erfolgreichen Bekämpfung des Drogenschmuggels und Menschenhandels.59 Ähnlich wie beim Cross-Border Transport Agreement gibt es jedoch auch beim BLO-Mechanismus Defizite in der praktischen Umsetzung. Im Rahmen der nicht-traditionellen Sicherheit ist die GMS in vielen Bereichen aktiv, jedoch werden sich die Ausführungen im Folgenden auf die Überwindung der Risiken von nicht-registrierter Arbeitsmigration im Niedriglohnsektor beschränken. Die Mekongregion weist, wie bereits dargestellt, eine überdurchschnittlich mobile Bevölkerung auf, von denen sich die Mehrzahl der Menschen in Richtung Thailand bewegt, ein Phänomen, das auch als „hub-oriented migration“ definiert ist.60 Die Problematik der Migration im Niedriglohnsektor ergibt sich nicht aus dem Sachverhalt selbst, sondern aufgrund der Tatsache, dass Migrantinnen und Migranten Gefahr laufen, dass ihre Rechte missachtet werden. Die Gründe und Ausprägungen sind vielfältig: Sie reichen von vorsätzlichem Menschenhandel bis dahin, dass sich Migrantinnen und Migranten wegen der monetär lukrativeren Entlohnung selbst den Gefahren eines nicht legitimierten Aufenthaltes aussetzen. Darüber hinaus sind die Risiken nicht nur auf den Prozess der Migration sowie die teilweise unsichere rechtliche Situation der Migrantinnen und Migranten an ihrem Zielort beschränkt, sondern ergeben sich auch aus dem nicht rechtskonformen Verhalten der Arbeitgeber und der prekären Arbeitssituation.61 So üben Migrantinnen und Migranten im ­Niedriglohnsektor

58Krahl

(2017, S. 159–161). (2013, S. 128); UNODC (2011, S. 3); UNODC (2009, S. 9 und S. 11); Krahl (2017, S. 162). 60Krahl (2017, S. 169–180); UN (2015). 61NERI (2012, S.  193); Bonanno (2012, S. 99 und 101); Jayagupta (2009, S. 235); Kneebone and Debeljak (2010, S. 138); Sauterey (2008, S. 10); Bouapao (2013, S. 154). 59Shih

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oftmals Tätigkeiten aus, die im Englischen als „3D-Jobs“ bezeichnet werden – dreckig (dirty), gefährlich (dangerous) und erniedrigend (demeaning). Das Wissen um die Risiken ist weit verbreitet und daher wäre zu erwarten, dass Migrantinnen und Migranten sich für „sichere Migrationswege“ entscheiden, sprich offizielle Kanäle, die formale Ansprüche erfüllen, um zu garantieren, dass die Migrantinnen und Migranten sowohl im Prozess der Migration wie auch an ihrer Destination geschützt sind. Jedoch zeigt die Praxis, dass diese Verfahren kaum Vorteile bieten. Dies liegt u. a. daran, dass es auch bei der Nutzung offizieller Verfahren zu Verletzungen der Rechte des/der Einzelnen kommt, rechtliche und finanzielle Hürden zu nehmen und diese mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden sind. Insgesamt resultiert dies in einem für Migrantinnen und Migranten unattraktiven Angebot, sodass viele potenzielle Migrantinnen und Migranten sich für einen Migrationsweg entscheiden, der ihnen keine rechtliche Sicherheit bietet.62 Die GMS kooperiert mit einer Reihe von internationalen Organisationen, um dem Ziel der „sicheren Arbeitsmigration“ näher zu kommen. Eines dieser Projekte, welches in Kooperation mit der International Labour Organization (ILO) umgesetzt wurde, ist die Tripartite Action to Protect Migrant Workers within and from the Greater Mekong Subregion from Labour Exploitation63 oder in kurz GMS TRIANGLE. Hierbei handelt es sich um eine überregionale Initiative, die stark in den einzelnen Ländern verwurzelt ist. Wie der Name tripartite andeutet, versucht die Initiative drei Gruppierungen – Regierungsvertreter, Arbeitgebervertreter und Arbeitnehmervertreter – zusammen zu bringen, um gemeinschaftlich zu einer Lösung der Probleme beizutragen.64 Die erste Phase des Projektes lief von 2010 bis 2015 und fünf von sechs Mekongländer waren beteiligt, als sechstes Land partizipierte Malaysia, eine wichtige Destination für Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus der Mekongregion. Die Ziele von GMS TRIANGLE können wie folgt zusammengefasst werden: Verbesserung von rechtlichen Rahmenbedingungen, Weiterbildung und Sensibilisierung von (potenziellen) Migrantinnen und Migranten und Arbeitgebern, Koordinierung zwischen den Beteiligten, welche Migrationspolitik mitgestalten, Unterstützung

62Marks

and Olsen (2015, S. 114); Molland (2012, S. 128–129). der Arbeitsmigrantinnen und -migranten von und in der GMS vor Ausbeutung durch eine Zusammenarbeit der drei beteiligten Parteien. 64GMS Secretariat (2013, S. 27); ILO (2017). 63Schutz

Die Greater Mekong Subregion: Eine wirtschafts …

271

von Familien der Migrantinnen und Migranten durch die Bereitstellung von Informationen und einer Sensibilisierung für die Gesamtsituation.65 GMS TRIANGLE kann u. a. Erfolge bei der Mitgestaltung des rechtlichen Rahmens vorweisen. So erfolgte in Kambodscha ein aktiver Dialog mit der Regierung und es wurde ein wesentlicher Beitrag zur Erarbeitung der Policy on Labour Migration für die Jahre 2015 bis 2018 geleistet.66 Des Weiteren war GMS TRIANGLE erfolgreich, die verschiedenen Akteure in der Region in den Diskurs bezüglich der Migration im Niedriglohnsektor einzubinden. Darüber hinaus hat die Initiative auf vielfältige Art und Weise gewirkt, sei es durch Schulungen von Beamten, Informationsveranstaltungen und Trainings für potenzielle Migrantinnen und Migranten oder die Einbindung von Gewerkschaften.67 Gleichzeitig ist jedoch anzumerken, dass die hier beschriebene – zweifelsohne wichtige – Initiative im übergeordneten Kontext der nicht-traditionellen Sicherheit nur einen sehr kleinen Schritt darstellt.

5 Zwischenfazit Als Zwischenfazit lässt sich die GMS als Erfolgsgeschichte mit Defiziten beschreiben. Die Beispiele im Bereich der Konnektivität zeigen auf, dass die GMS pro-aktiv mitwirkt, diese zu fördern. Insbesondere ist dies im Straßenbau durch die Etablierung der Korridore gelungen. Daneben verfolgt die GMS das Ziel, die institutionellen Rahmenbedingungen für den Warenverkehr zu verbessern, wobei jedoch einige Schwächen des etablierten Systems identifiziert wurden. Insbesondere das Ziel, die Prozesse zu vereinfachen und damit die Straßenkorridore gegenüber dem klassischen Transportweg Seecontainer attraktiver zu gestalten, wurde noch nicht erreicht. Jedoch wirken sich die Veränderungen ganz praktisch auf die Bedingungen vor Ort aus. Nicht nur der LPI belegt, dass sich die Bedingungen im Logistiksektor der Region stetig verbessern, sondern auch Vor-Ort-Studien zeigen, dass sich effektive Kosten- und Zeitersparnisse konstatieren lassen. Darüber hinaus ist die Region von einem regen Austausch der Menschen untereinander gekennzeichnet, seien es die realen Zuwächse an intra-regionalem Tourismus oder der über-

65ILO

(2017). und AusAID (2015, S. 2); MoLVT und ILO (2014). 67ILO (2015, S. 2). 66ILO

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durchschnittlich hohe Anteil an intra-regionaler Migration. Allerdings sollte man nicht den Fehler begehen, diese Entwicklungen singulär auf die Errungenschaften der GMS zurückzuführen. Nationalen Reform- und Entwicklungsprozessen in den einzelnen Mitgliedsstaaten kommt eine ebenso bedeutsame Rolle zu. Im Bereich der Sicherheit zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die GMS gilt insbesondere im Rahmen der traditionellen Sicherheit als Erfolgsgeschichte. Wie dargestellt, sind die konfliktreichen Dekaden überwunden, die Rüstungsausgaben bzw. die Ausgaben für das Militär befinden sich auf einem gesunden Niveau und ein Wettrüsten findet nicht statt. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl der in der Region existierenden Grenzstreitigkeiten jüngst beigelegt. Die Region stellt sich ihren gemeinsamen Herausforderungen und findet Mittel und Instrumente, um die grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen und zum Wohle der Arbeitsmigrantinnen und -migranten beizutragen. Trotz vieler guter Ansätze ist die Umsetzung jedoch problembehaftet, und die Effektivität der Vorhaben muss als begrenzt gelten. Hierbei soll jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die GMS fortlaufend grenzüberschreitende Probleme identifiziert und darauf basierend dann gemeinschaftlich aktiv wird. Aus Letzterem ließe sich ableiten, was viele Autoren immer wieder diskutieren, nämlich die Möglichkeit, dass die GMS als Gemeinschaft zu Frieden und Sicherheit in der Region beiträgt – oder in anderen Worten eine Sicherheitsgemeinschaft ist.68

6 Die GMS – eine Gemeinschaft? Die Klärung der Frage, ob oder inwieweit die GMS eine Gemeinschaft darstellt, wird im Folgenden unter Rückgriff auf einen der prägenden Autoren der Nachkriegsjahre und des Diskurses zu Integration, Karl W. Deutsch, diskutiert und sich auf den unter seiner Federführung entwickelten Ansatz einer Sicherheitsgemeinschaft beziehen.69 Ein entscheidender Eckpfeiler seiner Theorie ist dabei der Transaktionalismus, der u.a. davon ausgeht, dass die Intensivierung grenzüberschreitender Interaktionen im Bereich von Kommunikation und Wirtschaft die Gemeinschaftsbildung – konkret die Entstehung einer Sicherheitsgemeinschaft – unter den betiligten Staaten forciert.70 Diese Grundannahme bietet im Kontext

68Summers

(2008); Schmeier (2009); Dosch und Hensengerth (2005); Goh (2007); Dosch (2003). 69Deutsch et al. (1957). 70Koschut (2014, S. 522); Caporaso (1998, S. 2); Dosch (1996, S. 62).

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der GMS einen idealen Startpunkt. Die GMS, die sowohl die wirtschaftliche wie auch gesellschaftliche Entwicklung – definiert im Rahmen der Drei Cs – als Prämisse ihres Handelns hat, bietet hierfür geeignete Bedingungen zur Anwendung dieses Ansatzes. Innerhalb einer Organisationsstruktur, in der die Einzelnen ihre Souveränität wahren und eine zentrale, jedoch externe, Instanz (die ADB) koordiniert, können die Beziehungen der Mitglieder zu- und untereinander gestärkt werden und so zur Entstehung einer Gemeinschaft führen.71 Karl W. Deutsch und seine Kollegen definierten in den 1950er Jahren die Grundzüge einer multilateralen Sicherheitsgemeinschaft, die dazu beitrage, bilaterale und kontinentale Konflikte zu überwinden:72 Eine SICHERHEITSGEMEINSCHAFT ist eine Gruppe von Menschen welche sich „integrierte“. Mit INTEGRATION meinen wir die Errungenschaft eines „Gemeinschaftsgefühls“ sowie Institutionen und Gewohnheiten welche stark und verbreitet genug sind um „langfristige“, verlässliche Erwartungen des „friedlichen Wandels“ innerhalb der Bevölkerung eines Territoriums zu haben. Mit dem GEMEINSCHAFTGEFÜHL meinen wir den Glauben der Einzelnen in der Gesellschaft, dass man zumindest über den einen Punkt zur Übereinkunft gekommen ist, dass gemeinsame soziale Probleme durch „friedlichen Wandel“ gelöst werden können und müssen. Mit FRIEDLICHEM WANDEL meinen wir die Lösung sozialer Probleme durch institutionelle Prozesse und ohne die Anwendung von physischer (bzw. militärischer) Gewalt.

Basierend auf dieser Definition lassen sich drei Kernthemen aufgreifen: Integration, Gemeinschaft und die friedvolle Überwindung von Problemen und

71ADB

(2012a, S. 5). et al. (1957, S. 5); übersetzt aus dem Englischen, Hervorhebungen wie im Original. Im englischen Original: A SECURITY-COMMUNITY is a group of people which has become „integrated.“ By INTEGRATION we mean the attainment, within a territory, of a „sense of community“ and of institutions and practices strong enough and widespread enough to assure, for a „long“ time, dependable expectations of „peaceful change“ among its population. By SENSE OF COMMUNITY we mean a belief on the part of individuals in a group that they have come to agreement on at least this one point that common social problems must and can be resolved by processes of „peaceful change.“ By PEACEFUL CHANGE we meant the resolution of social problems, normally by institutionalized procedures, without resort to large-scale physical force.

72Deutsch

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Streitigkeiten. Ausgehenden von Deutsch und unter Berücksichtigung des aktuellen Diskurses entstand das Konzept der „Three Pillared Security Community“73, das eine Brücke baut zwischen dem Ansatz von Deutsch und einer auf Normen und Identitäten ausgerichteten Sichtweise, wie sie von den Sozialkonstruktivisten postuliert wird.74 Hierzu wird das Konstrukt einer Sicherheitsgemeinschaft in drei Säulen organisiert: a) Kollektiv, b) (wirtschaftliches) Wachstum und Interaktion sowie c) Sicherheit. Die erste Säule bezieht sich im Rahmen des Kollektivs auf regionale Identität sowie die institutionellen Strukturen der Gemeinschaft. In der GMS äußert sich dies u. a. in einem zusammenhängenden Territorium, der gemeinsamen Geschichte und Parallelen in der Entwicklung der Nationalstaaten, aber auch in einer Überschneidung des Sprach- und Kulturraums.75 Darüber hinaus haben die obenstehenden Ausführungen auf die institutionellen Strukturen der GMS hingewiesen. Diese mögen im Vergleich zur EU oder ASEAN als lose bezeichnet werden, haben sich jedoch über die Jahre stetig entwickelt und sind mittlerweile die gefestigten Mechanismen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die zweite Säule widmet sich dem (wirtschaftlichen) Wachstum und der Interaktion. Ausführlich wurden hierfür die Errungenschaften der GMS in Bezug auf die Schaffung von Konnektivität diskutiert, ein wichtiger Beitrag zur Interaktion und damit dem kybernetischen Grundgedanken von Deutsch. Die dritte Säule schließlich kennzeichnet den Beitrag der potenziellen Gemeinschaft zu regionaler Sicherheit. Auch hierauf wurde oben näher eingegangen. Als Region ist die GMS durch Frieden und Sicherheit charakterisiert, als Akteur trägt sie aktiv dazu bei, den gemeinsamen Lebensraum so zu gestalten, dass dieser ein sicherer und damit lebenswerterer ist.

7 Die GMS – ein relevanter Beitrag zur Entwicklung und Sicherheit in Südostasien Die Bedeutung der GMS im globalen und regionalen Kontext erschließt sich auf den ersten Blick. Mit ihrem Fokus auf eine kleine Gruppe an Staaten innerhalb des ASEAN-Kontextes zuzüglich der beiden chinesischen Provinzen scheint sie vordergründig keine signifikanten Wirkungen auf die Beziehungen in der Region und darüber hinaus zu entfalten. Die Mitgliedsländer der ASEAN sowie China

73Zu

Deutsch: Dreisäulige Sicherheitsgemeinschaft  siehe Krahl (2017, S. 36–46). und Barnett (1998); Acharya (2009); Collins (2013). 75Krahl (2017, S. 63–74). 74Adler

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sind mehrheitlich in einer Vielzahl regionaler Foren organisiert, in denen sie regelmäßig im Dialog und Austausch miteinander stehen. Als Beispiele hierfür seien ASEAN + 3 oder der East Asia Summit genannt. Dennoch zeigen die Ausführungen dieses Kapitels, worin der relevante Beitrag der GMS besteht. Die GMS mit ihrer Geschichte und den sich daraus ergebenden Herausforderungen sowohl gesellschaftlicher wie auch wirtschaftlicher Art ist trotz aller Unterschiede eine in vielen Belange homogene Region, welche durch eine Stärkung nach innen ihre Entwicklung auf ein breiteres Fundament stellt. Dabei lässt sich argumentieren, dass innerhalb der ASEAN – der die Mehrzahl der GMS-Staaten angehört – die GMS-Kooperation einen wichtigen Beitrag zur Stärkung derjenigen Länder leistet, welche unter den aktuell zehn Mitgliedern noch die größten Entwicklungsdefizite aufweisen (Myanmar, Kambodscha, Laos). Der Aufbau der regionalen Infrastruktur wird der Region langfristig nicht nur von ökonomischem Mehrwert sein, da durch die Schaffung von physischen Verbindungen, der Anpassung von Regularien (dies geht über das CBTA hinaus, z. B. im Bereich der Landwirtschaft, etc.) und generell durch gemeinsame Initiativen vielschichtige Netzwerke entstehen, die auch in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht ihre Wirkung für eine Stärkung des regionalen Zusammenhalts entfalten werden. Dabei gilt es, die Region als einen gemeinsamen Raum wahrzunehmen und zu gestalten. Letzteres fördert die GMS proaktiv, selbst wenn die Umsetzung, wie gezeigt, eine Erfolgsgeschichte mit Makeln ist. So sendet der gemeinsame Diskurs, z. B. über Fragen der Migration oder die Zusammenarbeit an den Grenzen, trotz aller Hindernisse und Kleinteiligkeit das Signal aus, dass gemeinsam Probleme identifiziert und kollektive Lösungsansätze gesucht werden. Somit leistet die GMS einen relevanten Beitrag zur Entwicklung einer wichtigen Einheit im Puzzle des asiatisch-pazifischen oder – um die inzwischen gängigere Bezeichnung zu verwenden – indo-pazifischen Raums. Eine Fortführung dieses Gedankens ist, dass basierend auf dem Ansatz einer Sicherheitsgemeinschaft, wie er in seinen Grundzügen von Deutsch entwickelt wurde, der GMS eine friedensstiftende Funktion zugesprochen werden kann. Dabei wäre die Frage, was am Anfang stand – Kooperation oder Frieden – ein klassisches Henne-Ei-Problem, da sich die beiden Phänomene gegenseitig bedingen. Es steht jedoch außer Frage, dass die GMS einen wichtigen Beitrag zur Interaktion der regionalen Akteure leistet, sie für ihre gemeinsame Zukunft sensibilisiert und damit zum Frieden in der Region und darüber hinaus in Südostasien beiträgt. Neben dem originär regionalen Nutzen der GMS ist sie auch ein gutes Beispiel für den Mehrwert von subregionaler Kooperation, welche in Anlehnung an Karl W. Deutsch als Sicherheitsgemeinschaft identifiziert wird. Die GMS

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zeigt dabei auf, wie regionale Entwicklung und Kooperation wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte verbinden kann. Die Grundlage der GMS war immer die wirtschaftliche Entwicklung, dies spiegeln auch die Drei Cs wider, jedoch bildet ein holistischer Ansatz der regionalen Entwicklung die Grundlage, die ökonomische Dimension um gesellschaftliche Themen zu ergänzen und damit zur Sicherheit beizutragen. Dieses Modell leistet, wie von Deutsch postuliert, über die Interaktion einen Beitrag zu Frieden und Sicherheit und ist dabei übertragbar auf andere Regionen dieser Welt. Dabei nimmt es Abstand von den hochgesteckten Zielen, wie sie von der EU und in Teilen von ASEAN ausgegeben werden, und erlaubt eine schrittweise Annäherung unter den Mitgliedsstaaten. Diese Herangehensweise eröffnet insbesondere dann neue Möglichkeiten, wenn die Kooperation wie im Falle der GMS nicht nur auf die Themen der wirtschaftlichen Entwicklung beschränkt ist, sondern sich darüber hinaus für gesellschaftliche Fragen einer Region öffnet, ohne die Bürde einer umfassenden Institutionalisierung mit sich zu bringen.

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Dr. Timotheus Krahl  ist bei der TÜV Rheinland InterTraffic GmbH beschäftigt und war zuvor als Projekt- und Forschungsmitarbeiter am Asia-Europe Institute der University of Malaya in Kuala Lumpur tätig. Nach dem Bachelor- und Master-Studium in Bremen bzw. Leeds, Großbritannien, promovierte er 2017 an der Monash University Malaysia mit einer Dissertation zum Thema Analyzing the Achievements of the Greater Mekong Subregion (GMS): The Impact of Subregional Cooperation on Security & Peace.

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

1. Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) 08.08.1967

Gründung der ASEAN in Bangkok durch Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand; Bangkok Deklaration: Betont die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht

27.11.1971

Beschluss über die Zone des Friedens, der Freiheit und der Neutralität (Zone of Peace, Freedom and Neutrality/ZOPFAN): Propagiert eine Region frei von externer Involvierung im Allgemeinen und Militärbasen extraregionaler Mächte im Besonderen

24.02.1976

Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit (Treaty of Amity and Cooperation/TAC): Leitlinien für das Management der intraregionalen Beziehungen, einschließlich des Mechanismus der Konfliktlösung Erklärung zur Eintracht der ASEAN (Declaration of ASEAN Concord): Versuch einer politischen Identitätsfindung der ASEAN; konkretisiert die Agenda regionaler intergouvernementaler Kooperation und normiert als eine prioritäre Zielsetzung von Kooperation die Herstellung und Sicherung politischer Stabilität

08.07.1977

ASEAN und die Europäische Gemeinschaft (EG) vereinbaren die Aufnahme formaler Kooperationsbeziehungen. Die EG wird damit zu einem der ersten offiziellen Dialogpartner der ASEAN – nach Australien (1974), Neuseeland (1975) und Japan (1977)

08.01.1984

Brunei tritt der ASEAN bei

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Dosch und L. Lutz-Auras (Hrsg.), Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20552-2

283

284

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

28.01.1992

Singapur-Deklaration: Wesentlicher Bestandteil ist die Vereinbarung über die sukzessive Errichtung einer ASEAN Freihandelszone (ASEAN Free Trade Area) mit dem Hauptziel, die globale Wettbewerbsfähigkeit der ASEAN als Produktionsbasis durch die Reduzierung von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen zu steigern. Geplant war es, die Zölle im intraregionalen Handel über einen Zeitraum von 15 Jahren (beginnend mit dem 1.1.1993) auf 0–5 % zu senken

22.07.1992

Deklaration zum Südchinesischen Meer (Declaration on the South China Sea) unterstreicht die Notwendigkeit, alle die Souveränitäts- und Rechtsfrage betreffenden Probleme im Südchinesischen Meer mit friedlichen Mitteln zu lösen und fordert alle beteiligten Parteien auf, „Zurückhaltung mit der Absicht zu üben, ein positives Klima für die letztendliche Lösung aller Dispute zu schaffen“

24.07.1994

Erste Zusammenkunft des ASEAN Regional Forum (ARF): von der ASEAN initiiertes asiatisch-pazifisches Dialogforum, das der Konsultation zu politischen und sicherheitspolitischen Fragen dient und zur Vertrauensbildung sowie präventiven Diplomatie in der Region beitragen möchte. Neben den 10 ASEAN-Staaten hat das ARF inzwischen 17 weitere Mitglieder, darunter China, Japan, die USA, Russland und die EU (vertreten durch die Europäische Kommission)

28.07.1995

Vietnam tritt der ASEAN bei

15.12.1995

Vertrag über die südostasiatische atomwaffenfreie Zone (Treaty on the Southeast Asia Nuclear Weapon Free Zone/SEANWFZ), auch als Bangkok Vertrag bezeichnet: Wechselseitige Verpflichtung der ASEAN-Staaten, keine Atomwaffen zu entwickeln, einzusetzen oder sich mit deren Einsatz zu bedrohen

1997/98

Asienkrise: Im März 1997 beginnende massive Finanz-, Währungs- und Wirtschaftskrise, von der in Südostasien vor allem Thailand und Indonesien betroffen waren, die sich aber substanziell auf die gesamte ASEAN auswirkt

23.07.1997

Laos und Myanmar treten der ASEAN bei

15.12.1997

ASEAN Vision 2020: Bekräftigung des Stabilitätsstrebens und der Zielsetzung einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und weitergehender ökonomischer Integration sowie Verpflichtung zu gesellschaftlich verantwortlichem Handeln

30.04.1999

Kambodscha tritt der ASEAN bei

1999

ASEAN + 3 gegründet als Dialogforum für eine verstärkte Zusammenarbeit der ASEAN-Staaten mit China, Japan und Südkorea

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

285

06.05.2000

Chiang Mai Initiative (CMI): Netzwerk von bilateralen Währungsswap-Vereinbarungen zwischen den Zentralbanken Chinas, Indonesiens, Malaysias, Japans, der Philippinen, Südkoreas, Thailands, Singapurs, um Liquidität im Falle kurzfristiger Zahlungsbilanzkrisen zu schaffen

23.07.2001

Hanoi Erklärung zur Überwindung von Entwicklungslücken für eine engere Integration der ASEAN (Hanoi Declaration on Narrowing Development Gap for Closer ASEAN Integration): Normierung der Absicht, die Entwicklungsunterschiede zwischen den ASEAN-Staaten (vor allem den alten ASEAN-6 Mitgliedern und den neueren Mitgliedsstaaten Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam) sowie zwischen der ASEAN und dem Rest der Welt zu verringern

5.11.2001

ASEAN-Erklärung über die Gemeinsame Aktion zur Bekämpfung des Terrorismus (ASEAN Declaration on Joint Action to Counter Terrorism): Unter dem Eindruck der Terroranschläge in New York und Washington vom 11.09.2001 bekräftigen die ASEAN-Staaten ihre Absicht, nationale, regionale und internationale anti-Terrorismus Maßnahmen zu intensivieren und zu koordinieren

4.11.2002

Erklärung zu einem Verhaltenskodex der Parteien in der Südchinesischen See (Declaration on the Conduct of Parties in the South China Sea): Danach verpflichteten sich alle Konfliktparteien (China, Brunei, Malaysia, Philippinen, Vietnam), ihre territorialen und rechtlichen Dispute durch friedliche Mittel zu bearbeiten

07.10.2003

Erklärung zur Eintracht der ASEAN II (Declaration of ASEAN Concord), auch als Bali Concord bezeichnet, formuliert das grundsätzliche Vorhaben, eine ASEAN-Gemeinschaft basierend auf den drei Säulen politische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziokulturelle Zusammenarbeit zu etablieren

29.11.2004

Rahmenabkommen zur umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der ASEAN und der Volksrepublik China (Framework Agreement on Comprehensive Economic Co-Operation Between ASEAN and the People‘s Republic of China): Vereinbarung, innerhalb von 10 Jahren eine ASEAN-China Freihandelszone zu bilden. Nach der Unterzeichnung weiterer Verträge in den folgenden Jahren tritt das Freihandelskommen am 1.1.2010 in Kraft

14.12.2005

Erster Ostasien-Gipfel (East Asian Summit): von den ASEAN-Staaten, Australien, China, Indien, Japan, Neuseeland und Südkorea gegründetes Dialogforum (2011 traten die USA und Russland bei) zur Intensivierung der Zusammenarbeit in wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen; potenzielle Vorstufe zu einer ostasiatischen Gemeinschaft

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Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

20.11.2007

Unterzeichnung der ASEAN-Charta: Die Charta stellt die ASEAN auf eine neue institutionelle und rechtliche Basis und benennt die Stärkung von Demokratie, Good Governance, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte als eine zentrale Aufgabe regionaler Zusammenarbeit. Außerdem gibt die Charta die Etablierung einer sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Gemeinschaft bis 2015 vor und schreibt die Gründung einer Menschenrechtskommission (ASEAN Intergovernmental Commission on Human Rights/AICHR) fest. Die Charta tritt am 15.12.2008 in Kraft; die AICHR nimmt im Oktober 2009 ihre Tätigkeit auf

27.02.2009

Unterzeichnung des Abkommens über die ASEAN-Australien-Neuseeland-Freihandelszone (Agreement Establishing the ASEAN-Australia-New Zealand Free Trade Area/AANZFTA)

24.03.2010

Ausweitung der Chiang Mai Initiative zur Chiang Mai Initiative Multilateralization (CMIM): Beitritt der übrigen ASEAN-Staaten Brunei, Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam

Nov 2011

Verabschiedung der Deklaration zur ASEAN Gemeinschaft in einer Globalen Gemeinschaft der Nationen (Declaration on ASEAN Community in a Global Community of Nations, Bali Concord III): Versuch, die Koordinierung von Positionen der Mitgliedsstaaten in internationalen Fragen voranzutreiben und die Stellung der ASEAN auf der globalen Bühne zu stärken

18.12.2012

Unterzeichnung der ASEAN-Menschenrechtsdeklaration: Erstes gemeinsames Dokument der ASEAN, das sich mit den Rechten der Bürgerinnen und Bürger befasst

12.11.2014

Die Nay Pyi Taw Deklaration zur Vision der ASEAN-Gemeinschaft nach 2015 (Nay Pyi Taw Declaration on the ASEAN Community's Post2015 Vision) umreißt die zwischen 2016 und 2025 geplanten nächsten Intergrationsschritte

27.04.2015

Verabschiedung der Erklärung zur bürgernahen und bürgerzentrieren ASEAN (Kuala Lumpur Declaration on a People-Oriented, People-Centred ASEAN): Konkretisierung der in Art 1.13 der ASEAN Charta normierten Forderung, wonach die Menschen „aller Gesellschaftssektoren aufgefordert sind, am Prozess der ASEAN-Integration und Gemeinschaftsbildung zu partizipieren und von diesem profitieren sollen.“

31.12.2015

Inkrafttretens der ASEAN-Gemeinschaft

07.09.2016

Verabschiedung der ASEAN Connectivity 2025: Hohe Investitionen sollen getätigt werden, um gemeinsam ein stärkeres Wirtschaftswachstum und eine starke Infrastruktur zu schaffen

13.11.2017

Verabschiedung des ASEAN Consensus on the Protection and Promotion of the Rights of Migrant Workers: Verbesserung der Lebensbedingungen und der Rechte der in den ASEAN-Staaten lebenden Arbeitsmigrantinnen und -migranten

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen 28.04.2018

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Einführung des ASEAN Smart City Network (ASCN) zur Verbesserung der Zusammenarbeit bei der erforschung der intelligenten Stadt der Zukunft Verabschiedung der ASEAN Leaders’ Vision for a Resilient and Innovative ASEAN: Eine tiefere Integration der Staaten wird langfristig angestrebt, um die Herausforderungen der Zukunft besser bewältigen zu können

2. South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) 08.12.1985

Gründung und Unterzeichnung der Charter (in Dhaka) von den acht Mitgliederstaaten, Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka

1986

2. Gipfeltreffen (Banglore, Indien): Vereinbarung über die Gründung eines gemeinsamen Sekretariats

17.01.1987

Einrichtung des SekretariatsderSAARC in Kathmandu

1987

Einigung auf eine Lebensmittelreserve

1987

Einführung einer regionalen Konvention gegenterroristischeUnterdrück ung (Regional Convention on Suppression of Terrorism/RCST)

1990

Einführung der Konvention gegen narkotisierende Drogen und Psychopharmaka

1993

SAPTA-Vertrag (South Asian Preferential Trade Arrangement)

2004

Annahme einer SozialenCharter für Belange von Frauen, Kinder und Jugendlichen sowie Menschen mit Behinderung

2004

Beschluss zum SAFTA -Abkommen, tritt 2006 in Kraft (South Asian Free Trade Area)

2004

SAARC erhält Beobachterstatus beiderUN

2005

Einführung eines Schiedsgerichtes Verbot der doppelten Besteuerung und gegenseitige administrative Hilfe in Steuerangelegenheiten gegenseitige administrative Hilfe im Bereich des Zolls China und Japan erhalten Beobachterstatus

2006

USA,Südkorea und die EU erhalten Beobachterstatus

2007

Etablierung der SAARC Food Bank (SFB) zur Sicherstellung der Nahrungssicherheit in Südasien

2007

Aufnahme Afghanistans als Mitgliedstaat Iran und Mauritius erhalten Beobachterstatus

288

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

2008

Einführung der SARSO (South Asian Regional Standards Organisation) Australien und Myanmar erhalten Beobachterstatus

2008

Einführung einer Konvention für gegenseitige Hilfe in Kriminalfällen

2010

Eröffnung der SouthAsianUniversity (SAU) in Indien

2010

Etablierung eines Dienstleistungsabkommens

2014

18. und bisher letztes SAARC-Gipfeltreffen (Kathmandu, Nepal) Vereinbarung über Zusammenarbeit im Energie Sektor (Elektrizität)

3. Greater Mekong Subregion (GMS) 1992

Mit Unterstützung der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) beschließen die sechs Staaten China, Kambodscha, Laos, Vietnam, Myanmar und Thailand ein Programm zur subregionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zur Förderung der Wirtschaftsbeziehungen, Greater Mekong Subregion (GMS)

1994

Die ADB genehmigt die ersten Projekte, wie z. B. das Theun Hinboun Wasserkraftprojekt  in Laos

1994

Zum ersten Mal findet ein Treffen der Mitglieder in einem Mitgliedsland (Vietnam) statt. Die beiden Treffen zuvor wurden in Manila abgehalten

1996

Telekommunikation wird als ein Bereich der gemeinsamen Kooperation hinzugefügt

1998

Das achte GMS-Ministertreffen bestätigt ein Konzept zur Förderung der Wirtschaftskorridore

1999

Unterzeichnung eines grenzübergreifenden Verkehrsabkommens zwischen Laos, Thailand und Vietnam

2000

Etablierung des GMS Geschäftsforums

2001

10. Treffen der Mitgliedsländer in Yangon. Agrarwirtschaft wird ein weiterer Bereich der gemeinsamen Zusammenarbeit. Ziel ist es, die Agrarwirtschaft der Mitgliedsländer zu fördern

2002

Erstes Treffen zwischen den Regierungschefs der GMS Mitgliedsländer in Kambodscha. Unterzeichnung des ersten GMS Strategiepapieres für ein Entwicklungsmanagement (Phnom Penh Plan) Hierbei werden die 3Cs als Ziel gesetzt (enhance connectivity, improve competitiveness, and build a strong sense of community). Des Weiteren wird ein Zehnjahresprogramm zur Wachstumsförderung der Region formuliert

2003

Inkrafttreten des Abkommens zur Regelung des Warenverkehrs an den Grenzen

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

289

2004

Die autonome Provinz Guangxi Zhuang (China) wird Teil der GMS

2005

Vereinbarung zur Durchführung eines Umweltprogrammes. Kurz darauf wird auf dem zweiten Treffen der Regierungschefs der Plan zur Errichtung eines Schutzkorridors zur Erhaltung der Biodiversität verabschiedet. Unterstützt wird das Programm von der ADB

2006

Einrichtung eines Umweltcenters und eines Tourismuscenters für die Region Mekong in Bangkok

2007

Die Agrarminister der GMS-Länder verabschieden das Core Agriculture Support Program zur Förderung einer umweltfreundlichen Landwirtschaft. Das Projekt ist für die Jahre 2006 bis 2010 angesetzt

2008

Einrichtung des Forums für Wirtschaftskorridore (ECF). Ziel ist die Errichtung und Förderung von grenzübergreifenden Wirtschaftskorridoren

2009–2010

Einleitung zur Vorbereitung eines neuen Zehnjahresprogrammes. Der Kooperationsagenda sollen neue Themenfelder hinzugefügt werden, z. B. Schienenverkehr

2011

Beim vierten GMS-Gipfel wird das neue Zehnjahresprogramm verabschiedet. Es soll zwischen 2012 und 2022 realisiert werden. Inbegriffen sind neue Sektoren, wie der Tourismus oder der Umweltschutz

2012

Zehnjähriges Bestehen der GMS

2017

Evaluierung des Zehnjahresplans nach der Hälfte der Zeit führt zum Ha Noi Action Plan, welcher für die restliche Zeit von 2018–2022 greifen soll, um die Zusammenarbeit zu verbessern und die Wirtschaft noch effektiver zu stärken

31.03.2018

Beim 6. GMS-Gipfel wird der Ha Noi Action Plan verabschiedet

4. Eurasian Economic Union (EAEU) 29.03.1994

Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew äußert beim Besuch an der Lomonossow-Universität zum ersten Mal die Idee einer Eurasischen Union

Juni 1994

Zum ersten Mal wird in einem offiziellen Dokument von der Eurasischen Union gesprochen

20.01.1995

Russland, Belarus und Kasachstan unterzeichnen einen Vertrag zur Bildung einer Zollunion. Ziel ist es, Handelshemmnisse zu beseitigen und die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu fördern

29.03.1996

Die Präsidenten Russlands, Belarus, Kasachstans und Kirgisistans unterzeichnen in Moskau einen Vertrag zur weiteren Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen

290

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen

1998

Tadschikistan tritt dem Abkommen bei

26.02.1999

Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisistans und Tadschikistan unterzeichnen den Vertrag zur Bildung einer gemeinsamen Zollunion und eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes

10.10.2000

Gründung der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft durch ­Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisistans und Tadschikistan

19.09.2003

Die Ukraine, Belarus, Kasachstan und Russland vereinbaren die Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes

August 2006

Die Staats- und Regierungschefs der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft beschließen, dass Belarus, Kasachstan und Russland ihre Arbeit zur Schaffung einer Zollunion intensivieren sollen. Kirgisistan und Tadschikistan sollen folgen, sobald sie den wirtschaftlichen Anglich vollzogen haben

16.10.2007

Vertrag über die Schaffung eines Zollgebiets und die Gründung der Zollunion zwischen Belarus, Kasachstan und Russland. Ziel ist die Gewährleistung des freien Warenverkehrs und die Förderung günstiger Handelsbedingungen zwischen der Zollunion und Drittländern

Januar 2010

Die Zollunion zwischen Belarus, Russland und Kasachstan tritt in Kraft. Zollformalitäten und Zollkontrollen an den Binnengrenzen werden aufgehoben, und der freie Warenverkehr innerhalb der drei Staaten wird etabliert

Oktober 2010

Start der Beitrittsverhandlungen Kirgisistans zur Zollunion

November 2010

Die Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft erklären die Errichtung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes als nächstes Ziel

Januar 2012

Einheitlicher Wirtschaftsraum im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft tritt in Kraft; Mitgliedsstaaten sind Belarus, Russland und Kasachstan

Januar 2015

Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion durch Armenien, Belarus, Kasachstan und Russland

12.08.2015

Kirgistan tritt dem Abkommen bei

05.10.2016

Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Vietnam; gleichzeitig erstes gemeinsames Freihandelsabkommen der Eurasischen Wirtschaftsunion mit einem Drittstaat

01.01.2018

Gemeinsamer Zollkodex tritt in Kraft und löst damit den alten Zollkodex der Eurasischen Zollunion ab

17.05.2018

Interimsabkommen mit dem Iran über Schaffung eines Freihandelsabkommens bis 2021

Anhang: Chronologie der asiatischen Regionalismen 14.05.2018

Die Republik Moldau erhält Beobachterstatus

2019

Aufbau des gemeinsamen Energiemarktes beginnt

12.03.2019

Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Serbien

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