Arbeiterfreunde: Soziale Mission im dunklen Berlin 1911-1933 3593397447, 9783593397443

Im Oktober 1911 gingen bildungsbürgerliche Sozialreformer in die Arbeiterviertel im Osten Berlins: eine soziale Mission,

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German Pages 453 Year 2013

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Inhalt
Einleitung
Bildungsbürger als »Arbeiterfreunde«: Thema und Fragestellungen
Quellenmaterial, Forschungsstand und Konzeption der Untersuchung
Methoden und Problemstellungen
Zwischen Mikrogeschichte und historischer Ethnographie
Kulturanalyse der Klassenbeziehungen und des Bildungsbürgertums
Intellektuellengeschichte als Thema der Europäischen Ethnologie?
1. Der Schauplatz Berlin-Ost
Was nicht im Baedeker steht
Stadtlandschaft und soziale Topographie
Das »dunkle Berlin«: Symbolische Topographien
2. Die Settlementbewegung in Berlin 1911–1914
Die Rezeption der Settlementbewegung in Deutschland
Friedrich Siegmund-Schultze und sein soziales Experiment
Das »Convikt«: Erste Jahre in der Friedenstraße
Die »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße
Assoziationsformen: Der Kreis der »Mitarbeiter und Freunde«
Netzwerke und Ressourcen
Nahaufnahme I: Wenzel Holek als Symbolfigur der SAG
3. Two Nations: Zur Gesellschaftsdiagnose der SAG
Die Metapher der two nations
»Das kirchliche Kleid abstreifen«
Berliner Arbeiter und die Grenze der Respektabilität
Von der Klassengesellschaft zur »Sozialen Arbeitsgemeinschaft«
Stadt- und Landdiskurse in der SAG
4. Soziale Mission und das Prinzip der Substitution
Terra Incognita und Altruismus als Abenteuer
Bürgerliche Kultur und soziale Mission
Erich Kocke und das Rettungsparadigma
Kaffeehalle und Festkultur: Substitution als Methode
Mission, Gewissen und Persönlichkeit: Religiöse Kulturmuster
5. Auf der Suche nach dem »wirklichen Leben«
Die SAG als Erfahrungsproduktionsmodell
Eine Generation des Unbedingten
»The Imagination of Powerlessness«
Der Arbeiter als »einfacher, bedeutender Mensch«
»Mit zum Volk gehören!« Eine Studentin in der Schraubenfabrik
Volksnähe als symbolische Ressource
Nahaufnahme II: Johanna Fränkel und die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-West«
6. Angewandte Sozialforschung im »dunklen Berlin«
Die Verhältnisse kennenlernen
Ethnographie der Arbeiterfreizeit: Die »Vergnügungskommission«
Ordnungen des Vergnügens: Das Beispiel Kino
Der Missionar als Feldforscher: Richard Lau
Teilnehmende Beobachtung in der Fabrik
Betriebsforschung und angewandte Sozialwissenschaften
7. Der Führungsanspruch der Akademiker 1914–1922
»Sozial-Soldaten«? Die SAG im Ersten Weltkrieg
»Ver Sacrum«: Friedrich Bredt und Oskar von Unruh
Kriegsende 1918: Masse und Führung
Landadel in der SAG: Die Trieglaffer Konferenzen
»Die Sprache der Höfe verstehen lernen«
Integrative Führung als Programm
8. Die Klubarbeit der SAG im Kontext der Jugendpflege
Jugenddiskurs und Jugendpflege nach 1900
»Geheime Miterzieher«: Die Straße als Gegenspieler
Der Klub als zivilisierte Bande
Gutsherrschaft als soziales Modell: Die Ferienfahrten
Jugend als Problem und Jugend als Bewegung
9. Der lange Abschied von der Mission 1922–1933
Neue Klassenbezüge: Vom Sozialstudenten zum Werkstudenten
Volksbildung als neue Leitidee
Sozialismus und Christentum: Politische Neuorientierungen
Lauenstein: Identitätssuche und sozialpolitisches Engagement
Epilog: Die letzten sieben Jahre der Sozialen Arbeitsgemeinschaft
Nahaufnahme III: Mennicke, Thadden und die Arbeiter: Ein Brief aus dem Jahr 1927
10. Soziale Mission im »dunklen Berlin«: Eine Bilanz
Die Logik der Metaphern: Die SAG zwischen 1911 und 1933
Bildungsbürger und Arbeitermilieu: Eine Beziehungsgeschichte
Von der Bildungselite zur »integrativen Elite«
Emotionen und Interessen
Quellen und Literatur
Dank
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Arbeiterfreunde: Soziale Mission im dunklen Berlin 1911-1933
 3593397447, 9783593397443

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Arbeiterfreunde

Campus Historische Studien Band 67 Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Rebenich, Frank Rexroth und Michael Wildt Wissenschaftlicher Beirat Ludolf Kuchenbuch, Jochen Martin, Heide Wunder

Jens Wietschorke, Dr. phil., ist Assistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.

Jens Wietschorke

Arbeiterfreunde Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933

Campus Verlag Frankfurt/New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39744-3 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2013 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: © Verlag Pharus-Plan; Ausschnitt aus dem Pharus-Plan Berlin 1902 Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Printed in Germany Dieses Buch ist auch als E-Book erschienen. www.campus.de

Inhalt

Einleitung ............................................................................................................... 9 Bildungsbürger als »Arbeiterfreunde«: Thema und Fragestellungen ............. 9 Quellenmaterial, Forschungsstand und Konzeption der Untersuchung ....15

Methoden und Problemstellungen ..............................................................21 Zwischen Mikrogeschichte und historischer Ethnographie .........................21 Kulturanalyse der Klassenbeziehungen und des Bildungsbürgertums........27 Intellektuellengeschichte als Thema der Europäischen Ethnologie? ..........33

1. Der Schauplatz Berlin-Ost.........................................................................36 Was nicht im Baedeker steht ..............................................................................36 Stadtlandschaft und soziale Topographie.........................................................40 Das »dunkle Berlin«: Symbolische Topographien...........................................47

2. Die Settlementbewegung in Berlin 1911–1914 ...................................53 Die Rezeption der Settlementbewegung in Deutschland ..............................53 Friedrich Siegmund-Schultze und sein soziales Experiment ........................62 Das Convikt: Erste Jahre in der Friedenstraße................................................68 Die »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße .........................................................77 Assoziationsformen: Der Kreis der »Mitarbeiter und Freunde« .................83 Netzwerke und Ressourcen ................................................................................88 Nahaufnahme I: Wenzel Holek als Symbolfigur der SAG..........................................................96

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3. Two Nations: Zur Gesellschaftsdiagnose der SAG ........................106 Die Metapher der two nations.............................................................................106 »Das kirchliche Kleid abstreifen«.....................................................................110 Berliner Arbeiter und die Grenze der Respektabilität..................................114 Von der Klassengesellschaft zur »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« .............120 Stadt- und Landdiskurse in der SAG ..............................................................123

4. Soziale Mission und das Prinzip der Substitution ............................128 Terra Incognita und Altruismus als Abenteuer.............................................128 Bürgerliche Kultur und soziale Mission .........................................................135 Erich Kocke und das Rettungsparadigma......................................................139 Kaffeehalle und Festkultur: Substitution als Methode.................................145 Mission, Gewissen und Persönlichkeit: Religiöse Kulturmuster................152

5. Auf der Suche nach dem »wirklichen Leben« ...................................159 Die SAG als Erfahrungsproduktionsmodell..................................................159 Eine Generation des Unbedingten..................................................................166 »The Imagination of Powerlessness« ..............................................................173 Der Arbeiter als »einfacher, bedeutender Mensch« ......................................179 »Mit zum Volk gehören!« Eine Studentin in der Schraubenfabrik.............184 Volksnähe als symbolische Ressource ............................................................193 Nahaufnahme II: Johanna Fränkel und die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-West« .....200

6. Angewandte Sozialforschung im »dunklen Berlin« .........................209 Die Verhältnisse kennenlernen ........................................................................209 Ethnographie der Arbeiterfreizeit: Die »Vergnügungskommission«.........217 Ordnungen des Vergnügens: Das Beispiel Kino ..........................................224 Der Missionar als Feldforscher: Richard Lau ................................................228 Teilnehmende Beobachtung in der Fabrik.....................................................235 Betriebsforschung und angewandte Sozialwissenschaften..........................244

INHALT

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7. Der Führungsanspruch der Akademiker 1914–1922 ......................254 »Sozial-Soldaten«? Die SAG im Ersten Weltkrieg ........................................254 »Ver Sacrum«: Friedrich Bredt und Oskar von Unruh ................................263 Kriegsende 1918: Masse und Führung ...........................................................271 Landadel in der SAG: Die Trieglaffer Konferenzen ....................................278 »Die Sprache der Höfe verstehen lernen« ......................................................286 Integrative Führung als Programm .................................................................296

8. Die Klubarbeit der SAG im Kontext der Jugendpflege ................303 Jugenddiskurs und Jugendpflege nach 1900 ..................................................303 »Geheime Miterzieher«: Die Straße als Gegenspieler...................................313 Der Klub als zivilisierte Bande.........................................................................322 Gutsherrschaft als soziales Modell: Die Ferienfahrten ................................329 Jugend als Problem und Jugend als Bewegung .............................................333

9. Der lange Abschied von der Mission 1922–1933 ............................340 Neue Klassenbezüge: Vom Sozialstudenten zum Werkstudenten ............340 Volksbildung als neue Leitidee.........................................................................350 Sozialismus und Christentum: Politische Neuorientierungen.....................355 Lauenstein: Identitätssuche und sozialpolitisches Engagement .................359 Epilog: Die letzten sieben Jahre der Sozialen Arbeitsgemeinschaft ..........368 Nahaufnahme III: Mennicke, Thadden und die Arbeiter: Ein Brief aus dem Jahr 1927 ........377

10. Soziale Mission im »dunklen Berlin«: Eine Bilanz .........................385 Die Logik der Metaphern: Die SAG zwischen 1911 und 1933..................385 Bildungsbürger und Arbeitermilieu: Eine Beziehungsgeschichte ..............388 Von der Bildungselite zur »integrativen Elite« ..............................................391 Emotionen und Interessen ...............................................................................395

Quellen und Literatur.....................................................................................401 Dank ...................................................................................................................450

Einleitung

Bildungsbürger als »Arbeiterfreunde«: Thema und Fragestellungen Diese Studie nimmt eine Gruppe aus Studenten, Theologen und Pädagogen in den Blick, die sich im Herbst 1911 daran machten, eine zugleich sichtbare und unsichtbare Demarkationslinie inmitten der eigenen Stadt zu überschreiten. Sie zogen auf die andere Seite der deutschen Hauptstadt, in das »dunkle Berlin« um den Schlesischen Bahnhof, in die Straßen und Hinterhöfe zwischen Großer Frankfurter Straße und Spree, zwischen den Gleisanlagen der Ostbahn und der Markthalle in der Andreasstraße, um zu helfen und zu erziehen, um einen Lichtschein von »wahrem Christentum« und einer besseren Welt in den Berliner Osten zu tragen – vor allem aber: um eine Realität kennenzulernen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt geblieben war. Sie versuchten ein Alltagsleben zu verstehen, das sie bislang nur aus Elendsreportagen, Boulevardblättern und der Kriminalstatistik kannten. Sie versuchten Zugang zu einer Jugend zu finden, über die sie durch die Schriften von Ernst Floessel und Clemens Schultz, den Arbeiterfreund und die Innere Mission im Evangelischen Deutschland informiert waren und von der sie bislang nur wussten, dass sie als »gefährdet und verwahrlost« galt – einer Jugend aus »Halbstarken«, »Straßenjungen« und »Herumtreibern«, die nach dem Urteil der einschlägigen Literatur entweder zu Delinquenten oder zu Kommunisten werden mussten. Und trotzdem suchten sie im Berliner Osten auch den »einfachen, bedeutenden Menschen«, der sie aus den Beschränkungen ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und eines vorgezeichneten Akademikerlebens befreien würde. Damit waren sie »Wanderer zwischen den Welten«, die zugleich Vermittler zwischen den Welten sein wollten: zwischen Tiergartenviertel und Schlesischem Bahnhof, zwischen »Gebildeten« und Arbeitern, zwischen bürgerlicher Kultur und proletarischem Alltag. Diese Studie berichtet aber auch von einem weiten Kreis aus Politikern und Juristen, Professoren und Assessoren, Geheimräten und Geheimrats-

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witwen, Landräten und Gutsbesitzern, Superintendenten und Verwaltungsbeamten, Publizisten und Kulturreformern, Musikern und Kunsterziehern, die die Arbeit der »Siedler« finanziell wie ideell unterstützt haben. Viele von ihnen haben die berüchtigte Gegend um den Schlesischen Bahnhof nie selbst betreten, und doch sind sie Teil dieser außergewöhnlichen sozialen Initiative gewesen. Zumindest verbindet sie eines mit den social explorers des Berliner Ostens: Sie alle waren davon überzeugt, dass die inneren Brüche der wilhelminischen Gesellschaft nur durch eine neue, umfassende soziale Bewegung und neue Formen der Verständigung zwischen den alten Bildungseliten und der städtischen Arbeiterbevölkerung zu überwinden seien. Sie gehörten – mit wenigen Ausnahmen – derselben soziokulturellen Formation an: dem protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertum der Übergangszeit zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik, das in diesem Zeitraum gravierende Abstiegserfahrungen und Legitimationskrisen zu bewältigen hatte. Die Expedition in den Berliner Osten hat ganz wesentlich mit diesen Erfahrungen zu tun. Denn in den Arbeiterquartieren des »dunklen Berlin« suchten die »Siedler« nicht nur »the other half«,1 sondern sie suchten vor allem sich selbst und ihre legitime Position in einer sich rapide modernisierenden, aber auch krisenanfälligen Gesellschaft. Das deutsche Bildungsbürgertum des ersten Jahrhundertdrittels ist aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mittlerweile relativ gut untersucht. Über die Bestandsaufnahmen des »Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte« und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur Geschichte des Bürgertums2 hinaus sind zahlreiche Studien erschienen, die sich in Überblicksdarstellungen oder anhand konkreter Gruppierungen, Vereine oder Institutionen mit der sozialen Lage und dem Selbstverständnis dieser – so Hans-Ulrich Wehler – »einzigartigen Sozialformation unter den

—————— 1 Nach dem Titel von Riis, How the Other Half Lives. 2 Vgl. zunächst die vier auf das 19. Jahrhundert bezogenen Sammelbände des »Arbeits-

kreises«: Conze/Kocka, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert; Koselleck, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert; Lepsius, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert; Kocka, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Vgl. des Weiteren die umfassende begriffsgeschichtliche Studie Engelhardt, Bildungsbürgertum. Aus dem Bielefelder Kontext sind zu nennen: Tenfelde/Wehler, Wege zur Geschichte des Bürgertums; Mergel, Zwischen Klasse und Konfession; Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert; Huerkamp, Bildungsbürgerinnen; Lundgreen, »Bildung und Bürgertum«; Hettling, »Bürgerliche Kultur«. Vgl. aber auch die älteren Arbeiten Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund; Vondung, Das wilhelminische Bildungsbürgertum, und Ringer, Die Gelehrten. Kaum brauchbar ist dagegen Glaser, Bildungsbürgertum und Nationalismus.

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westlichen Modernisierungseliten«3 auseinandersetzen.4 Im Fokus vieler Arbeiten steht zwar das bildungsbürgerliche Engagement in Sozialreform und Kunstförderung,5 unterbelichtet geblieben ist dabei allerdings die konkrete Bedeutung des sozialen Engagements für seine Akteure. Das ist doppelt bedauerlich: Zum einen, weil die Diskussion dadurch weitgehend auf programmatische Entwürfe und ideengeschichtliche Linien beschränkt bleibt, zum anderen, weil das für das Verständnis der »klassischen Moderne«6 so wichtige Verhältnis zwischen gebildetem Bürgertum und unterbürgerlichen Schichten nirgendwo so transparent wird wie in der Praxis sozialen Engagements.7 Die vorliegende Untersuchung möchte dazu beitragen, diese Forschungslücke zu verkleinern. Am Beispiel der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« (SAG) wird eine Innenansicht eines sozial- und kulturreformerisch engagierten Vereins zwischen 1911 und 1933 geliefert, die bisherige Forschungsergebnisse zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis in der klassischen Moderne um neue Facetten und eine aufschlussreiche Mikroperspektive ergänzt. Davon ausgehend wird die Konstitution neuer Selbstentwürfe und kultureller Strategien des Bildungsbürgertums beleuchtet, wief sie anhand der SAG manifest werden. In den Blick kommt eine symbolische Ökonomie, die auf neue Allianzen und Kooperationsformen zwischen »Gebildeten« und »Volk« im Sinne »integrativer Führung« setzt und die letztlich als eine Antwort auf die tiefgreifende Statuskrise der klassischen deutschen Bildungseliten zu verstehen ist. Zugleich wird eine kulturanalytisch ausgerichtete Beziehungsgeschichte zwi-

—————— 3 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 294. 4 Vgl. z.B. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde; Graetz/Mattioli, Krisen-

wahrnehmungen; Fattmann, Bildungsbürger in der Defensive; Fuchs, »Vom Segen des Krieges«; Schmidt, Begrenzte Spielräume; Jensen, Gebildete Doppelgänger; Dowe, Auch Bildungsbürger; Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. 5 Vgl. als einige wenige Beispiele: Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform; vom Bruch (Hg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus; Kaiser/Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich; Kocka/Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum; Gaehtgens, Der Bürger als Mäzen; Gaehtgens/Schieder (Hg.), Mäzenatisches Handeln; Frey, Macht und Moral des Schenkens; Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine; Repp, Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity; Lees, Cities, Sin, and Social Reform; vom Bruch, Bürgerlichkeit, Staat und Kultur; Hitzer, Im Netz der Liebe; Pielhoff, »Stifter und Anstifter«. 6 Zu Begriff und Periodisierung der »klassischen Moderne«: Peukert, Die Weimarer Republik, 90; Nitschke/Peukert/vom Bruch, »Einleitung«, S. 9–10; Nolte, »1900«. 7 Zum Begriff der »unterbürgerlichen Schichten« vgl. Kaschuba, Lebenswelt und Kultur, S. 59–61.

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schen Bildungsbürgern und Arbeitern erzählt, wie sie in vergleichbarer Konkretion und empirischer Dichte bislang noch nicht vorliegt.8 Die im Oktober 1911 von Pastor Friedrich Siegmund-Schultze und einigen Studenten unweit des Schlesischen Bahnhofs in Berlin gegründete »Soziale Arbeitsgemeinschaft« verstand sich als eine »Niederlassung Gebildeter in einer armen Nachbarschaft«9 oder – anders formuliert – als eine »Vereinigung von sozial interessierten Persönlichkeiten, die sich im Berliner Osten niedergelassen haben, um deren Lebensverhältnisse zu teilen und kennen und verstehen zu lernen«.10 Nach dem Vorbild der internationalen Settlementbewegung, vor allem des englischen Settlement Toynbee Hall, war es das erklärte Ziel der SAG, »durch eine möglichst enge Berührung mit der Arbeiterbevölkerung des ärmsten Stadtteils von Berlin den Klassenhass zu mildern, allerlei Nöten abzuhelfen und die zu Erreichenden, insbesondere die Jugend, in äusserer und innerer Beziehung zu heben«.11 Gerade diese immer wiederkehrende Formel von der »inneren Hebung« steht paradigmatisch für das Anliegen der SAG, die sich nicht als Wohlfahrtsorganisation sah, sondern mit ihrer Arbeit einen gesamtgesellschaftlichen Erziehungsanspruch verband. Aus dem »sozialen Experiment« im Berliner Osten wurde binnen weniger Jahre eine anerkannte Initiative sozialer Arbeit und eine Schnittstelle sozialreformerischer Strömungen. Im Rahmen der SAG bestanden zeitweise über 30 Kinder- und Jugendklubs, der Verein verfügte über mehrere Gebäude in Berlin-Ost und Wilhelmshagen und unterhielt ein Volkshochschulheim. Durch ihre »akademisch-soziale Arbeit« stand die SAG in lockerer Verbindung mit der Berliner Universität. Sozialforschung in Form statistischer Arbeiten und teilnehmender Beobachtung gehörte zu den Hauptaufgaben der Mitarbeiter. Darüber hinaus erwarb sich das Berliner Settlement einen guten Ruf als informelle Ausbildungsstätte für soziale Berufe. Von Adolf von Harnack und Gertrud Bäumer bis hin zu Friedrich Wilhelm Foerster und Alice Salomon gehörten zahlreiche prominente Wissenschaftler und Reformer zum »Freundeskreis« der SAG; ein weitgespanntes Netzwerk von privaten Unterstützern sorgte für die finanzielle Absicherung der sozialen Arbeit. Doch 1933 en-

—————— 8 Ansätze und Überlegungen zu einer solchen Beziehungsgeschichte bieten die Beiträge

in: Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger, sowie die Studie von Schmidt, Begrenzte Spielräume. 9 Picht, Toynbee Hall, S. 1. 10 SAG an das Landesfinanzamt Berlin, 10. August 1920, in: Evangelisches Zentralarchiv

in Berlin (im Folgenden: EZA) 51/S II f 1. 11 Friedrich Siegmund-Schultze, undatiertes Manuskript, in: EZA 51/S II a 1.

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dete die Geschichte der SAG als unabhängige soziale Einrichtung: Durch die Implementierung der nationalsozialistischen Jugendpolitik wurde ihr die Möglichkeit genommen, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, auch die weiteren Kursangebote wurden gestrichen. Friedrich SiegmundSchultze wurde verhaftet und nach seiner Freilassung ins Schweizer Exil gedrängt. 1940 wurde die SAG endgültig aufgelöst. Diese Untersuchung möchte die Chancen nutzen, welche die kulturelle Konstellation der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« bietet. Anhand bildungsbürgerlicher Praktiken in der Auseinandersetzung mit sozialen Notlagen und klassenkulturellen Traditionen, mit proletarischen Arbeits- und Lebenswelten und urbaner Massenkultur, mit Jugendkulturen, Bildungs- und Freizeitmustern wird versucht, die kulturelle Logik der sozialen Mission im Berliner Osten zu entschlüsseln. Wenn Friedrich Siegmund-Schultze an einer Stelle formuliert: »Wir kommen alle aus verschiedenen Welten, um ein gemeinsames Land zu finden«,12 dann benennt er kulturelle Differenz im ethnologischen Sinne als das zentrale Thema dieser Auseinandersetzung. Er verweist aber auch darauf, dass die Position von Entdeckungsreisenden zwischen eigener und fremder Kultur immer auch prekär ist. Die Angehörigen »verschiedener Welten« treffen sich in einem Zwischenraum, den Justin Stagl in Anlehnung an Robert E. Park als Marginalität beschrieben hat: »Marginalität ist eine Erscheinung des Kulturkontaktes. […] Der entwurzelte und marginale Mensch ist […] darauf verwiesen, über kulturelle Unterschiede und kulturellen Wandel nachzudenken.«13 Dem Quellenmaterial aus dem Umkreis der SAG kommt genau diese Qualität zu. Es erzählt vielstimmig, leidenschaftlich und erfahrungsgesättigt von der Begegnung zweier Kulturen – mehr noch: Der kulturelle Unterschied ist sein eigentlicher Entstehungsgrund. Für eine in Differenzen und Relationen denkende historische Kulturanalyse eröffnen sich hier Möglichkeiten, wie sie aussichtsreicher kaum sein könnten. So lässt sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in drei Punkten zusammenfassen: 1. Zum einen sollen die Handlungsmuster und Wertorientierungen der in der SAG engagierten Bildungsbürger beleuchtet werden. In welchen Selbst- und Fremdbildern und in welchen Praktiken werden sie sichtbar? Welche klassenspezifischen kulturellen Codes trafen im sozialen Labor von Berlin-Ost aufeinander und wo verliefen hier die Bruch- und Konfliktlini-

—————— 12 Friedrich Siegmund-Schultze laut Verhandlungsbericht, in: NSAG 12 (Januar 1919),

S. 13. 13 Stagl, Kulturanthropologie und Gesellschaft, S. 67.

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en? In diesem ersten Schritt ist es das Ziel der Arbeit, den kulturellen Deutungshorizont der bildungsbürgerlichen Akteure gerade im ständigen expliziten wie impliziten Bezug auf »Arbeiteralltag« und »Arbeiterkultur« deutlich zu machen. 2. Im Anschluss daran geht es um eine Rekonstruktion der Bedeutung sozialen Engagements für die Akteure selbst. Was zog die Mitarbeiter der SAG in den »dunklen Osten« Berlins? Was wollten sie dort lernen und welche Rolle spielte die Erfahrung des »wirklichen Lebens« im Arbeiterviertel für ihr Selbstverständnis? Und weshalb setzten sich bürgerliche und sogar adelige Unterstützer und Spendengeber für das Settlement ein? Der eingehende Blick auf Motivationen und Interessen soll dazu beitragen, Einsicht in die symbolische Ökonomie bildungsbürgerlichen Handelns zu gewinnen. 3. Schließlich wird danach gefragt, inwiefern in Teilen des reformorientierten gebildeten Bürgertums zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik ein neues, integratives Konzept gesellschaftlicher Führung entwickelt wurde: Wie bewältigten die Akteure der SAG den Übergang von der relativen Stabilität des späten Kaiserreichs zur Instabilität des Ersten Weltkriegs und der 1920er Jahre sowie den damit verbundenen sozialen Abstieg der Mittelschichten? Wie interpretierten sie ihre eigene Führungsrolle als Akademiker? Und inwiefern wurde gerade die emphatische Hinwendung zu den unteren Schichten zu einem zentralen Element ihres Selbstverständnisses? Das Beispiel der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« weist also in mehrfacher Hinsicht weit über sich hinaus: Es hat Indiziencharakter für zentrale sozialgeschichtliche Transformationsprozesse des Zeitraums von 1911 bis 1933. Dabei kommt nicht nur die allgemeine Geschichte des Bildungsbürgertums und der Klassenbeziehungen in diesem Zeitraum in den Blick, sondern auch der generationelle Übergang innerhalb der wilhelminischen Bildungseliten. Denn die um 1890 geborenen ersten Mitarbeiter der SAG verstanden sich als eine neue Generation, die sich von der etablierten bürgerlichen Kultur der wilhelminischen Epoche distanzierte.14 Ihre Sozialisation war wesentlich von der Jugendbewegung und den um 1900 entstehenden Reformbewegungen geprägt und spiegelt typische Kulturmuster der »Gebildetenrevolte« des späten Kaiserreichs.15 Ein weiterer generationeller Übergang fand in der SAG statt, als dann auch studentische Mitar-

—————— 14 Zum Kontext vgl. den kompakten Überblick vom Bruch, »Wilhelminismus«. 15 Zu diesem Begriff vgl. Linse, »Die Jugendkulturbewegung«, insbes. S. 119–123.

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beiter nach Berlin-Ost kamen, die den Krieg noch nicht an der Front erlebt hatten und die – als Angehörige einer »überflüssigen Generation«16 – den sozialen Verwerfungen und der schwierigen Arbeitsmarktsituation der Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Des Weiteren vollzogen sich im Untersuchungszeitraum auch wichtige Übergänge in der Geschichte der sozialen Arbeit: von den Handlungsmustern kirchlicher und kommunaler Wohlfahrtspflege hin zur modernen Sozialpädagogik und zur Professionalisierung der sozialen Arbeit. Die Geschichte der »Arbeiterfreunde« ist somit auch als ein Stück Gesellschaftsgeschichte im Kleinen zu lesen, als ein Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit, an dem sich auch der Wandel der strukturellen Rahmenbedingungen nachvollziehen lässt.

Quellenmaterial, Forschungsstand und Konzeption der Untersuchung Diese Arbeit stützt sich in erster Linie auf die Bestände EZA 51/S und EZA 626 des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin. Unter der Signatur 51/S sind dort in rund 230 Aktenbänden die Unterlagen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost aufbewahrt, dazu kommt unter der Signatur 626 der Nachlass Friedrich Siegmund-Schultzes, der weiteres umfangreiches Material aus der Arbeit der SAG enthält.17 Beide Bestände sind noch nicht zureichend archivalisch erschlossen, so dass die Recherche selbst über weite Strecken den Charakter einer Entdeckungsreise hat: Die einzelnen Bände sind nur grob verschlagwortet, die einzelnen Blätter nicht paginiert. Viele Aktenbände enthalten regelrechte Sammelsurien, ausgekippte Zettelkästen. Andere Bände enthalten zumindest chronologisch, in seltenen Fällen auch alphabetisch geordnete Korrespondenz mit Mitarbeitern und Freunden der SAG. Generell bilden diese Briefwechsel einen Hauptteil des Archivmaterials. Sie lassen sich in vielen Fällen lückenlos nachvollziehen, da in den Büros der SAG mit Durchschlagpapier gearbeitet wurde und somit auch die versandten Briefe in den Akten enthalten sind. Ein beeindruckend großer Teil der Korrespondenz wurde von Friedrich Siegmund-Schultze selbst geführt – er war für Anfragen von auswärts der zentrale Ansprechpartner und erledigte wichtige Angelegenheiten meist per-

—————— 16 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 26. 17 Zur komplizierten Geschichte dieser Archivbestände vgl. Siegmund-Schultze, »Zur

Einführung«.

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sönlich. Daneben erledigten vor allem Erich Gramm, Hellmut Hotop, Alix Westerkamp und Renate Lepsius die Korrespondenz für die SAG.18 Neben den Briefwechseln Siegmund-Schultzes und seiner Mitarbeiter finden sich in den Akten zahllose andere Archivalien: Berichte von Ferienfahrten und Arbeiterkursen, die für eine Veröffentlichung in den Zeitschriften der SAG vorbereitet werden sollten. Behördliche Schreiben, Finanzierungsanträge und Empfehlungsschreiben an Jugendämter und Sozialfürsorgeeinrichtungen. Dazwischen zahllose Blätter mit Bleistiftnotizen Siegmund-Schultzes, Vortragsskizzen, Postkarten und Fotos, Ergebnisberichte aus den Forschungskommissionen der SAG, Kohlerechnungen, handschriftliche Mitarbeiterlisten, Teilnehmerlisten der Klubs und anderer Veranstaltungen, Manuskripte von Zeitschriftenbeiträgen, Kostenkalkulationen, gereimte Geburtstagsgrüße und andere Gelegenheitsgedichte, Konzepte und gedruckte Programmzettel für Sommerfeste oder Weihnachtsfeiern, Korrekturfahnen, Zeitungsausschnittsammlungen, Bücherlisten für die SAG-Bibliothek, Straßenskizzen und Grundrisse, Adressregister Berliner Fürsorgeeinrichtungen und Aufsatzhefte von Klubmitgliedern. Die Aufzählung ließe sich problemlos verlängern – die Bestände halten gerade hinsichtlich ihrer verschiedenen Sorten von Archivgut ständig neue Überraschungen bereit und erzählen in ihrer ausgeprägten Praxisnähe von Routinen und Arbeitsabläufen im Settlement ebenso wie von außergewöhnlichen Ereignissen, Erfahrungen und Konflikten. Was Alf Lüdtke über den vielfach reichlich trockenen und faden »Geschmack des Archivs« schreibt: »Das Unerwartete und Unbekannte bleibt beim Einheften, Paginieren, Systematisieren auf der Strecke«,19 trifft auf den nur wenig geordneten Nachlass der SAG also kaum zu. Über die genannten Archivbestände hinaus wurden für diese Arbeit die Zeitschriften und Mitteilungsblätter herangezogen, die von Friedrich Siegmund-Schultze im Rahmen der SAG herausgegeben wurden. Dazu zählen vor allem die bei Diederichs in Jena erschienene Akademisch-Soziale Monatsschrift als wissenschaftsnahes Diskussionsforum20 und die Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft als das wichtigste Periodikum für den Kreis der

—————— 18 Da die vorhandenen Durchschläge nicht immer namentlich gezeichnet sind, lässt sich

oft nicht genau bestimmen, von wem die Schreiben stammen. In diesen Fällen ist in den Nachweisen pauschal die SAG als Korrespondenzpartner angegeben. 19 Lüdtke, »Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen«, S. 67. 20 Ab 1928 unter dem Titel Neue Nachbarschaft fortgesetzt, 1930 eingestellt.

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Mitarbeiter und Freunde der SAG.21 Die unregelmäßig ein- bis dreimal im Jahr erscheinenden Nachrichten brachten vor allem Berichte aus der sozialen Arbeit und waren auch darauf angelegt, neue Freunde des Settlement zu akquirieren und Spenden einzuwerben. Des Weiteren erschien in den Jahren 1926 bis 1930 ein SAG-interner Rundbrief des Mitarbeiterkreises der Sozialen Arbeitsgemeinschaft. 1927 kamen schließlich zwei kleine Blätter mit Veranstaltungshinweisen hinzu, die an die Klubmitglieder, Eltern und »Nachbarn« in Berlin-Ost gerichtet waren: das bis 1939 in 149 Ausgaben erschienene Mitteilungsblatt der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost sowie ein Mitteilungsblatt für die SAG-Jugend. Dazu kommen wichtige Einzelpublikationen der SAG, wie der unter dem Titel Ver sacrum erschienene Erinnerungsband an die gefallenen Mitarbeiter22 oder ein programmatischer Sammelband der späten 1920er Jahre.23 Der Forschungsstand zum Thema lässt erkennen, dass die Möglichkeiten, die das reichhaltige Archivmaterial der SAG bietet, bisher kaum genutzt wurden. Zwar zeigen die vorliegenden Arbeiten, dass es sich bei dem Berliner Settlement keineswegs um eine historiographische Neuentdeckung handelt. Allerdings stammen diese Arbeiten fast durchweg aus zwei Fachrichtungen: entweder aus dem Kontext von Theologie und kirchlichem Sozialwesen24 oder aus der Historischen Erziehungswissenschaft und Sozialarbeitsgeschichte.25 Weitere einschlägige Publikationen aus diesem fachli-

—————— 21 Ab 1934 unter dem Titel Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost E.V. fort-

gesetzt, 1939 eingestellt. 22 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum. 23 Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. Eine weite-

re geplante SAG-Grundsatzveröffentlichung scheint leider nicht zustandegekommen zu sein. So ist in einem Brief Hellmut Hotops an Friedrich Siegmund-Schultze von einem »SAG-Buch« die Rede, das Siegmund-Schultze schreibe und auf das der Verlag C. H. Beck schon sehnsüchtig warte: Hellmut Hotop an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. August 1921, in: EZA 51/S II c 25. 24 Vgl. Weyer, Kirche im Arbeiterviertel; Lamer, Kirche im Arbeiterviertel; Smith, »Versöhnung« als Leitgedanke; Schweda, Friedrich Siegmund-Schultze; Bornemann, Albert Schweitzer und Friedrich Siegmund-Schultze; Wilms, Friedrich Siegmund-Schultzes Bedeutung; Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze; Schlösser-Kost, Evangelische Kirche und soziale Fragen, S. 92–97. Vgl. des Weiteren die einleitenden Abschnitte zu den Kapiteln in: Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. 25 Z.B. Dornseifer, Die englische Residential Settlement-Bewegung; Gerth, Bahnbrechendes Modell; Buck, Gemeinwesenarbeit und kommunale Sozialplanung; Schüler, Die internationale SettlementBewegung; Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 125–148. Aus dem Bereich der Erwachsenenbildung sind u.a. folgende Arbeiten zu nennen: Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, S. 76–79 und 96; Ahlheim, Zwischen Arbeiterbildung und Mission, S. 47;

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chen Spektrum gehen auf den engeren Kreis um Friedrich SiegmundSchultze zurück und bieten zusätzliche Informationsquellen, allerdings ohne einen wissenschaftlichen Anspruch erheben zu können.26 Geradezu erstaunlich ist das Desinteresse der Geschichtswissenschaft.27 Dabei macht schon ein flüchtiger Blick in die vorliegende Forschungsliteratur zur Settlementbewegung in England und den USA deutlich, welch ein breites Spektrum historiographischer Fragestellungen hier möglich ist.28 Es ist ein Verdienst des Berliner Kulturwissenschaftlers Rolf Lindner, das Archivmaterial der SAG als einzigartige kultur- und sozialgeschichtliche Quelle erschlossen zu haben. Bereits in einem 1984 erschienenen Aufsatz über das Banden- und Klubwesen im wilhelminischen und Weimarer Berlin bezieht er sich auf die SAG-Klubs im Berliner Osten.29 Aus einem von Lindner Mitte der 1990er Jahre geleiteten Studienprojekt des Instituts für Europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität ging dann ein Sammelband hervor, der ausgewählte Aspekte der SAG-Geschichte beleuchtet. Die vorliegende Untersuchung baut auf einigen Fragestellungen und Erträgen dieses wichtigen Bandes auf,30 geht aber zugleich weit darüber hinaus und versteht sich als problemorientierte Gesamtdarstellung der SAG im sozial-, kultur- und ideengeschichtlichen Kontext. Damit soll eine Lücke geschlossen werden, die trotz der Monographien von Weyer und Gerth sowie der Arbeiten Lindners noch immer besteht.

—————— Jegelka, Paul Natorp, S. 193–197; Schröer, »Soziale Arbeitsgemeinschaften und sozialistische Lebensgestaltung«, S. 90–93; Gängler, »Sozialpädagogisch inszenierte Gemeinschaften«, S. 209–210; Arend, Zwischen Programm und Praxis, S. 97–100. 26 Vgl. Gressel/Kloppenburg (Hg.), Versöhnung und Friede; Reschke (Hg.), Friedrich SiegmundSchultze; Bornemann (Hg.), Lebendige Ökumene; Delfs (Hg.), Aktiver Friede. 27 Eine Ausnahme bildet die Diskussion der SAG im Kontext der internationalen Settlementbewegung bei Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, S. 186–196. 28 Als herausragende Monographien seien genannt: Chambers, Seedtime of Reform; Davis, Spearheads of Reform; Trolander, Settlement Houses and the Great Depression; dies., Professionalism and Social Change; Philpott, The Slum and the Ghetto; Berry, One Hundred Years of Urban Frontiers; Karger, Sentinels of Order; Lissak, Pluralism & Progressives; Carson, Settlement Folk; Bryan/McCree/Davis (Hg.), One Hundred Years at Hull House; Deegan, Jane Addams; Hutchinson Crocker, Social Work and Social Order; Lasch-Quinn, Black Neighbors; Bentley Beauman, Women and the Settlement Movement; Stivers, Bureau Men, Settlement Women. Für die USA liegen sogar eine Spezialbibliographie und ein Handbuch vor, vgl. Barbuto, The American Settlement Movement; dies., American Settlement Houses. 29 Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«. 30 Vgl. auch die aus dem Studienprojekt hervorgegangene Arbeit von Hegner, Die Settlementbewegung.

EINLEITUNG

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An diese Einleitung schließt sich ein weiteres einführendes Kapitel an, das den methodologischen Referenzrahmen und die theoretischen Grundlagen der Arbeit vorstellt. Der darstellende Teil ist dann in zehn Kapitel gegliedert, die einzelne Bausteine zur historischen Kulturanalyse der SAG bilden. Sie führen thematisch vom räumlichen Umfeld des Settlement im Berliner Postbezirk O 17 über das sozialmissionarische Programm und die ethnographischen Erkundungsgänge der SAG bis hin zu ihren Prinzipien der Jugendpflege und der Neuorientierung der sozialen Arbeit in den 1920er Jahren. Drei dieser Kapitel behandeln einen bestimmten Zeitraum und verfolgen damit die Entwicklung des Settlement in ihren Hauptphasen, wobei die Anfangsphase bis 1914, die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit bis 1922 und der weitere Verlauf der 1920er Jahre bis 1933 in den Blick kommen. Die anderen sieben Kapitel sind thematische Überblicksdarstellungen, die sich zum Teil an diesen Zeitschnitten orientieren, im wesentlichen aber auf den gesamten Zeitraum zwischen 1911 und 1933 bezogen sind. Drei »Nahaufnahmen« bieten zusätzliche Einblicke anhand exemplarischer Personen und Situationen. Auf diese Weise ergibt sich eine Mischform aus chronologischer Erzählung und systematischer Analyse, die der Spezifik und dem Wandel der SAG gerecht zu werden versucht. Die einzelnen Kapitel sind insofern in sich geschlossen und separat lesbar, als sie bestimmte Fragestellungen verfolgen und dazu Thesen und Teilergebnisse entwickeln. Im Argumentationsgang der gesamten Arbeit sind sie allerdings eng aufeinander bezogen; aus den unterschiedlichen Facetten setzt sich schließlich ein Gesamtbild der SAG und ihrer Akteure zusammen. Bei alledem geht es nicht nur um die Rekonstruktion einer vergangenen Welt. Mit dem Selbstverständnis und dem kulturellen Orientierungssystem sozial engagierter Bildungsbürger der »klassischen Moderne« kommt vielmehr ein feld- und epochenübergreifendes Problem in den Blick, das sich in zahllosen historischen Varianten – bis in die Gegenwart hinein – immer wieder stellt. Dabei geht es einerseits um die Frage nach der Formierung bürgerlicher Bildungseliten und ihrer gesellschaftlichen Führungsrolle – und verbunden damit um die Frage nach sozialmissionarischen Praktiken, die auf die Verallgemeinerung bestimmter Lebensführungsmodelle zielen. Zum anderen geht es um die Leitbilder, die hinter engagierten und missionarisch strukturierten Diskursen über Armut und Unterschicht, über Deklassierte und Marginalisierte stehen und in denen sich dieses hegemoniale Lebensführungsmodell artikuliert: Wie sehr also ist die Wahrnehmung sozialer Problemlagen vom Problemdiskurs ihrer gebildeten Sachwalter ge-

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prägt? Mit wieviel Respekt und Anerkennung ist der verbessernde und korrigierende Zugriff auf andere Lebenswelten – sei es nun im Rahmen historischer Sozialreformbewegungen, sei es im Rahmen aktueller Einwanderungs-, Integrations- und Sozialpolitik oder Entwicklungshilfe – wirklich verbunden? Und welches verwickelte Verhältnis von sozialem Idealismus und sozialem Interesse ist dabei im Spiel? In diesem Sinne kann der historische Beispielfall der SAG auch zu einem besseren Verständnis der politischen Implikationen und der kulturellen Logik sozialer Reform- und Meliorisierungsinitiativen in der Gegenwart beitragen.

Methoden und Problemstellungen

Zwischen Mikrogeschichte und historischer Ethnographie Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine mikrohistorische Studie, die sich an verschiedenen Ansätzen und Konzepten der neueren Sozial- und Kulturgeschichte sowie Historischen Anthropologie orientiert. Einem mikrohistorischen Paradigma folgt sie insofern, als sie sich auf begrenzte Wirklichkeitsausschnitte sowie die Deutungsmuster und Wertorientierungen der Akteure konzentriert. Zudem bemüht sie sich im Sinne »dichter Beschreibung« um die empirisch gesättigte Vergegenwärtigung von Situationen und Praktiken.1 Mit dieser Zugangsweise ist sie im Schnittfeld von Empirischen Kulturwissenschaften und Geschichtswissenschaften angesiedelt und schließt an historiographische Forschungsrichtungen an, die seit den 1980er Jahren die intensive Auseinandersetzung mit kulturanthropologischen und ethnologischen Arbeiten gesucht haben.2 Zugleich verfolgt sie aber auch einen Anspruch, der im Rahmen der historisch orientierten Volkskunde/Europäischen Ethnologie seit einigen Jahren unter dem Stichwort »historische Ethnographie« diskutiert wird. Bei dieser Debatte geht es ebenso um Fragen der Epistemologie und Methodologie wie um Fragen der Nähe und Distanz der Forschenden zum Gegenstand historischer Forschung: Lassen sich Verfahrensweisen der Gegenwartsethnographie überhaupt auf die historische Forschung übertragen? Und wo liegt der mögli-

—————— 1 Michaela Fenske hat die Forschungsperspektive der Volkskunde/Europäische Ethnolo-

gie – ganz besonders mit Blick auf die historische Forschung im Fach – mit den drei Leitbegriffen »Mikro«, »Makro« und »Agency« treffend charakterisiert: »Mikro meint das zumeist kleinräumige Untersuchungsfeld, Makro dessen Eingebundenheit in überlokale Kontexte sowie das übergeordnete kulturanthropologische Erkenntnisinteresse und Agency die […] kulturellen Praktiken und ihre Akteure.« Fenske, »Mikro, Makro, Agency«, S. 151–152. 2 Als deutschsprachige Überblicksdarstellungen zu diesem Spektrum vgl. u.a. Dressel, Historische Anthropologie; Sokoll, »Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft«; van Dülmen, Historische Anthropologie; Burke, Was ist Kulturgeschichte?

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che heuristische Gewinn einer solchen Übertragung?3 Ich verstehe historische Ethnographie im Rahmen dieser Arbeit nicht als methodisches Konzept, sondern als epistemologische Leitlinie, die dabei helfen kann, das hier zugrundeliegende Quellenmaterial in seiner Vielstimmigkeit und Positionalität aufzuschlüsseln und eine praxeologische Analyseperspektive zu entwickeln. Dabei folge ich unter anderem einigen Überlegungen der australischen Historiker Greg Dening und Rhys Isaac, die sich intensiv mit dem Anspruch einer ethnographischen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt haben.4 Für die exemplarische Mikrogeschichte der Klassenbeziehungen, wie sie hier unternommen werden soll, bieten sie einen wichtigen Orientierungspunkt, ohne dass die Perspektive hier auf ein bestimmtes theoretisches Modell beschränkt werden soll. Vielmehr werden methodologische und epistemologische Zugangsweisen sowie verschiedene »Theorien mittlerer Reichweite« in einer offenen und flexiblen Kombinatorik miteinander verknüpft, wobei stets die Spezifik und die Aussagekraft der vorliegenden Quellen im Zentrum steht.5 Im Folgenden soll kurz versucht werden, die Umrisse und Möglichkeitsbedingungen einer historischen Ethnographie zu skizzieren.6 Jede historische Ethnographie ist mit einem methodischen Problem konfrontiert, das Kaspar Maase veranlasst hat, von einem geradezu »Münchhausenschen Unternehmen« zu sprechen.7 Wenn es nämlich in der Ethnographie, verstanden im Sinne ethnographischer Feldforschung, darum geht, die Alltagshandlungen bestimmter Akteure und Gruppen zu erfassen und ihre kulturelle Logik herauszuarbeiten, dann stellt sich bei einer historischen Ethnographie die grundsätzliche Frage, wie Handlungen auf der Grundlage schriftlicher und bildlicher Dokumente überhaupt untersucht werden können. Dem historisch arbeitenden Ethnographen bleibt die »Schlüsselmethode« der Feldforschung, nämlich teilnehmende Beobachtung als »unmit-

—————— 3 Vgl. dazu Eisch/Hauser, »Erkundungen und Zugänge«; Maase, »Das Archiv als Feld?«;

Fenske, »Mikro, Makro, Agency«; Keller-Drescher, »Die Fragen der Gegenwart und das Material der Vergangenheit«; Wietschorke, »Historische Ethnografie«; Ingendahl/KellerDrescher, »Historische Ethnografie«. 4 Vgl. etwa Dening, »A Poetic for Histories«; Isaac, »Der entlaufene Sklave«; ders., »On Explanation, Text, and Terrifying Power in Ethnographic History«; ders., »Geschichte und Anthropologie«. 5 Als ein Plädoyer für methodische Offenheit in diesem Zusammenhang vgl. Schindler, »Vom Unbehagen in der Kulturwissenschaft«. 6 Für eine ausführlichere Fassung der folgenden Überlegungen siehe Wietschorke, »Historische Ethnografie«. 7 Maase, »Das Archiv als Feld«, S. 262.

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telbare Partizipation […] am alltäglichen sozialen Leben im jeweiligen Untersuchungsfeld«,8 von vornherein verwehrt. Der Historiker kann nicht, »wie der ethnologische Feldforscher, seine eigenen Dokumente produzieren, indem er sich, Notizbuch zur Hand, in seiner Umgebung umsieht. Er muß sich mit den Einträgen aus den ›Notizbüchern‹ begnügen, welche die vergangenen Aufzeichnungssysteme hervorgebracht haben und welche die Zeit überlebt haben; und er muß aus dieser Not eine Tugend machen, indem er die verbliebenen ›Notizen‹ einer äußerst genauen Lektüre unterwirft.«9 Diese genaue Lektüre hat prinzipiell davon auszugehen, dass das konkrete Handeln der Akteure in den Dokumenten präsent ist bzw. durch eine kontextualisierende Untersuchung vergegenwärtigt werden kann; sie muss Strategien finden, um aus den Geschichten und »Ego-Dokumenten«, wie sie das Archiv bietet, Handlungslogiken herauszuarbeiten. Kaspar Maase schreibt dazu: »Historische Ethnographie versucht, im Verhältnis zwischen überlieferten Selbstdeutungen und überlieferten Praxen letztere als Kompass der wissenschaftlichen Expedition zu nehmen. […] Die Logik der Praxen gibt vor, wie die schriftlichen Quellen genutzt werden.«10 Wie aber kann die »Logik der Praxen« ausgehend von den Selbstdeutungen der Akteure freigelegt werden? Wie kommt man von den Texten zu den Handlungen? Als Lösung zu diesem Problem bietet sich die Heuristik einer relationalen Kulturanalyse an, wie sie hier kurz skizziert werden soll.11 Die Texte, die dem Historiker als Quellen zur Verfügung stehen, verweisen letztlich immer auf Handlungen – sie enthalten »Spuren […] von Menschen, die irgendwelche Dinge tun«.12 Rhys Isaac hat in einem an Clifford Geertz orientierten Methodenaufsatz zur historischen Ethnographie empfohlen, mit der »genauen Betrachtung einzelner Handlungsknoten« zu beginnen,13 um von dort aus zur Frage nach der Bedeutung vorzustoßen, die die Handlungen für die beteiligten Akteure hatten. Ich verstehe die von Isaac genannten »Knoten« als kulturelle Konstellationen, in denen sich solche Bedeutungen verdichten und in denen sie greifbar werden. In solchen

—————— 8 Schmidt-Lauber, »Feldforschung«, S. 220. 9 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 173. 10 Maase, »Das Archiv als Feld«, S. 259. 11 Zum Folgenden vgl. v.a. den Aufsatz von Lindner, »Vom Wesen der Kulturanalyse«,

dem meine methodischen Überlegungen viel verdanken. Vgl. darüber hinaus das hervorragende Theoriekapitel zur relationalen Klassenanalyse bei Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller, Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, S. 150–210. 12 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 149. 13 Ebd., S. 173.

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Konstellationen kommen die Wertorientierungen der Akteure gerade in der Konfrontation mit anderen Praxis- und Deutungsmustern zum Vorschein. In ihnen entfaltet sich die Logik der Differenz, der Orientierung an »Nachbarn, Konkurrenten und Vorbildern«, wie Rolf Lindner in seinem Aufsatz zum »Wesen der Kulturanalyse« gezeigt hat.14 So sind – um ein Beispiel aus der vorliegenden Studie zu nennen – die Jugendklubs der SAG nicht zu verstehen, ohne zugleich die kulturellen Formen der Jugendpflege, der bürgerlichen Jugendbewegung, der sozialistischen Jugendarbeit, der »wilden« Bandenbildungen der Berliner Jugend und nicht zuletzt der modernen Massenunterhaltung in Betracht zu ziehen. Erst im komplexen Wechselspiel der Zuordnungen und Abgrenzungen, erst durch die Situierung in einem solchen dynamischen System gegenseitiger Beziehungen wird die soziale und kulturelle Spezifik des Phänomens deutlich. Eben deshalb bieten die von Rhys Isaac genannten »Handlungsknoten« die Chance, die Logik der Praxis in ihr Recht zu setzen: als eine Logik der »praktischen Vernunft«, wie sie Bourdieu nachgezeichnet hat.15 Spätestens hier wird klar, dass es nicht ausreicht, historische Ethnographie nur als empirisch fundierte Rekonstruktion einer bestimmten Innenperspektive auf der Basis von Selbstaussagen zu konzipieren. Vielmehr bedarf diese Innenperspektive, in der Praxismuster und Selbstbilder der Akteure freigelegt werden, der Ergänzung durch relationale Kulturanalyse im Sinne von Feldanalyse. Zum einen ist damit die Analyse dessen gemeint, was Pierre Bourdieu als »Kräftefeld« bezeichnet hat, das im Sinne eines magnetischen Feldes den am sozialen Spiel beteiligten Akteuren ihre »Positionseigenschaften« zuweist.16 Die Felder – etwa das religiöse, künstlerische und ökonomische Feld oder das Feld der Lebensstile – bestimmen die impliziten Regeln des Spiels, dessen Teilnehmer um ökonomische, soziale und symbolische Profite wetteifern. Die Felder verhalten sich dabei in einer »relativen Autonomie« zueinander und ermöglichen so die differenzierte und differenzierende Analyse von Gesellschaft im Sinne des Ineinandergreifens verschiedener Felder.17 Zum anderen verweist die Metapher vom »Feld«

—————— 14 Lindner, »Vom Wesen der Kulturanalyse«, S. 181. 15 Bourdieu, Praktische Vernunft. 16 Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 76. Die Metapher vom Magnetfeld

findet sich etwa zeitgleich auch bei E. P. Thompson, der damit die antagonistischen Beziehungen zwischen Gentry und Plebs in der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts charakterisiert, vgl. Thompson, »Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert«, S. 270. 17 Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, S. 152–157.

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aber auch auf die notwendige Kontextualisierung soziokultureller Phänomene im Rahmen ihrer historischen Epoche. In diesem Sinne bildet nun die Einheit der historischen Zeit das zu untersuchende Feld. Raymond Williams hat darauf hingewiesen, dass es über die kulturellen Muster klassen- und milieuspezifischer Lebensweisen hinaus so etwas wie eine »Gemeinsamkeit der Erfahrung« gibt, auf die sich Lebensweisen beziehen und von der sie wiederum geprägt sind. Williams fasst diese Gemeinsamkeit in den Begriff der »Gefühlsstruktur« (»structure of feeling«) als das »lebendige Ergebnis aller Elemente der allgemeinen Organisation« einer Epoche.18 »Kulturgeschichte« – so Williams – muss deshalb »mehr sein als die Summe der Einzelgeschichten; denn sie beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen ihnen, mit den besonderen Formen der ganzen Organisation«.19 Kulturanalyse in diesem Sinn hat es also mit zwei Klassen von Feldern zu tun: den Bourdieuschen »Magnetfeldern« als den relativ autonomen Teilbereichen von Gesellschaft und der bei Williams beschriebenen »Gemeinsamkeit der Erfahrung«, die besser noch als das Ergebnis »feldübergreifender Effekte« verstanden werden kann und die sich darin äußert, dass es in einer bestimmten historischen Zeit überhaupt gemeinsame Diskurse und Themen gibt, auf die sich – in wie unterschiedlicher Weise auch immer – viele Akteure beziehen.20 Diese Gemeinsamkeit ist es letztlich, die garantiert, »dass etwas mit etwas anderem zusammenhängt«.21 Und diese Zusammenhänge wiederum sind es, welche die Komplexität von Feldern ausmachen und dadurch die Notwendigkeit begründen, einen weiten und selbstverständlich transdisziplinären Blick auf die »allgemeine Organisation« der Epoche und ihre Grundthemen zu entwickeln. Ohne sozial-, kultur- und ideengeschichtliche Verfahren ist die Innenperspektive der Akteure also nicht zu entschlüsseln. Von hier aus kann eine provisorische Antwort auf das oben genannte methodische Problem historischer Ethnographie versucht werden: Es scheint durchaus möglich, von den Texten – den Ego-Dokumenten, Selbstdeutungen, Briefwechseln, Berichten, Erzählungen – zu den Praktiken zu kommen, indem man die spezifischen Felder rekonstruiert, auf die sich die schreibenden Akteure beziehen und deren Praxislogik sie übernehmen. Diese Logik aber kommt in den jeweils vorgenommenen Zuordnun-

—————— 18 Williams, »Theorie und Verfahren der Kulturanalyse«, S. 51. 19 Ebd., S. 50. 20 Vgl. Lindner, »Vom Wesen der Kulturanalyse«, S. 182–183. 21 Ebd., S. 183.

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gen und Abgrenzungen zum Vorschein: in den Äquivalenz- und Differenzbeziehungen, die in den Texten zutage treten. Denn insofern die hier ausgewerteten Quellen »Aufzeichnungen über zwischenmenschliche Begegnungen« sind,22 drücken sich in ihnen immer auch Beziehungen und Unterschiede aus. Kurzum: Relationale Kulturanalyse bringt Texte zum Sprechen, indem sie deren inhärente Unterscheidungslogiken sichtbar macht. Als Brücke zwischen Texten und Praktiken fungiert der soziale Sinn – im Bourdieuschen Original: »le sens pratique«, der die Aussagen bestimmt und durch den sie sich in einem fundamentalen Sinn als praktisch erweisen.23 Vom Standpunkt einer relationalen Kulturanalyse aus ist historische Ethnographie als praxeologisches Forschungsdesign eben deshalb prinzipiell möglich, weil sie davon ausgeht, dass sich in allen Aussagen – und damit auch in schriftlichen Quellen – ein solcher praktischer sozialer Sinn artikuliert, der auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede verweist und sich eben damit »praktisch« zu einem bestimmten Feld verhält. Nur über diese praktische Logik der Differenz ist es möglich, den Praktiken der Akteure auf die Spur zu kommen. Von diesem eng an Bourdieu angelehnten Verständnis von Praxis aus kann das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit allgemein bestimmt werden. Der spezifische Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit, der hier untersucht wird, soll im steten Rückbezug auf die Strukturgeschichte der Gesamtgellschaft »als ein dynamisches Produkt der Handlungen ihrer Mitglieder begriffen werden – und zwar als ein Produkt, das durch die Bilder geformt wird, welche sich die Beteiligten von ihren eigenen und den Tätigkeiten der anderen machen«. Denn »die Beantwortung der Frage, welche Bedeutungen diese Handlungen besaßen und den Beteiligten vermittelten, ist das zentrale Anliegen einer ethnographischen Geschichtsschreibung«.24 Eine als relationale Kulturanalyse angelegte historische Ethnographie versucht daher, das Wechselspiel der Bilder und Vorstellungen zu entschlüsseln, das im vorliegenden Fall die konkrete Wirklichkeit der Akteure in Berlin-Ost – der Arbeiter und der Bildungsbürger – konstituiert hat. Hierin liegt der tiefere Sinn der alten Metapher von »Kultur als Text«. Hans Medick hat in seinem klassischen Aufsatz »Missionare im Ruderboot« auf die »besondere interpretative Dimension« hingewiesen, »die in allen kulturellen und gesell-

—————— 22 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 150. 23 Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn. 24 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 148–149.

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schaftlichen Lebensäußerungen steckt«.25 Kultur als Text zu verstehen, bedeutet somit auch, dass sich Kultur aus Texten entschlüsseln lässt. In den – wie es Geertz einmal formuliert hat – »symbolischen Formen […], mit deren Hilfe sich die Menschen an jedem Ort darstellen (represent), vor sich selbst und vor den anderen«,26 wird ihre Praxis greifbar und verständlich. Das heißt eben nicht, »die Welt als bloßen Text anzusehen« und damit Kultur als bloßes »Produkt« stillzustellen, wie Rolf Lindner in seinen kritischen Bemerkungen zur Metapher »Kultur als Text« schreibt,27 sondern vielmehr die Texte als Dokumente von kultureller Produktion und gesellschaftlichem Handeln zu lesen. Gerade dadurch kann der ethnographische Anspruch auch im historischen Feld eingelöst werden.

Kulturanalyse der Klassenbeziehungen und des Bildungsbürgertums Der Versuch einer historischen Kulturanalyse steht und fällt mit seinem Kulturbegriff. Ich gehe hier von einem Verständnis von Kultur aus, wie es in der Tradition der sozialwissenschaftlich orientierten deutschen Volkskunde seit den 1970er Jahren28 sowie der britischen Cultural Studies im Umkreis des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) zu finden ist.29 Im Zentrum stehen dabei zwei Überlegungen: zum einen die von Raymond Williams 1958 formulierte Bestimmung von Kultur als »a whole way of life«, wie sie sich auch in seiner bekannten Formel »culture is ordinary« niedergeschlagen hat,30 und zum anderen die Einsicht, dass Kultur

—————— 25 Medick, »Missionare im Ruderboot?«, S. 60. 26 Zit. nach ebd. 27 Lindner, »Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts«, S. 79. 28 Zum Kulturbegriff der Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft/Europäischen

Ethnologie vgl. Korff, »Kultur«; Bausinger, »Zur Spezifik volkskundlicher Arbeit«; Lindner, »Zur kognitiven Identität der Volkskunde«; ders., »Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts«, insbes. S. 83–86; Warneken, »Zum Kulturbegriff der Empirischen Kulturwissenschaft«. 29 Als deutschsprachige Einführungstexte vgl. z.B. Lutter/Reisenleitner, Cultural Studies; Marchart, Cultural Studies. Der Ansatz des CCCS ist in diesem Zusammenhang schon allein deshalb so vielversprechend, weil in der britischen Gesellschaft das Verhältnis zwischen »working class« und dominanter Kultur traditionell eine wichtigere Rolle spielt als etwa in Deutschland oder Frankreich, die britischen Cultural Studies mithin – ebenso wie die SAG – von Konstellationen ausgehen, wie sie für kulturell gespaltene Klassengesellschaften charakteristisch sind. Zum Entstehungskontext der britischen Cultural Studies vgl. Lindner, Die Stunde der Cultural Studies. 30 Vgl. Williams, Culture and Society, S. 311; ders., »Culture is Ordinary«.

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und Gesellschaft prinzipiell als zwei Seiten der gleichen Medaille anzusehen sind: Gesellschaft artikuliert sich in den kulturellen Mustern ihrer Akteure, in kulturellen Mustern wiederum sind die gesellschaftlichen Strukturen – und damit die prägenden Faktoren gesellschaftlicher Ungleichheit – präsent. Das bedeutet, dass Kultur als »die Art, wie die Menschen das machen, was auch immer sie machen«,31 stets an deren Position innerhalb der Gesellschaft gebunden ist. Kultur wird zum spezifischen »Ensemble von Dispositionen, Kompetenzen und Praktiken, mit dessen Hilfe soziale Gruppen und gesellschaftliche Individuen mit den je gegebenen natürlichen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen in einer Weise zurechtkommen, die ihnen eine Eigendefinition gegenüber diesen Bedingungen ermöglicht«.32 Soziale Prozesse und symbolische Praxis bleiben so konsequent aufeinander bezogen: Kultur erscheint als »kulturale Verarbeitung des gesellschaftlichen Lebens«.33 Eine als »historische Ethnographie« verstandene Mikrogeschichte lenkt das Augenmerk auf diese kulturale Seite und symbolische Dimension sozialen Handelns. In den Mittelpunkt rücken die symbolische und metaphorische Struktur der von den Akteuren erzählten Geschichten, deren Elemente – auch und gerade in Details – zu Indizien für Weltdeutungen, Sinnkonstruktionen und Praxismuster werden. »This implicit dimension – the study of symbolic practice – is a crucial contribution of ethnography to history, since it brings a nuanced understanding of the role of meaning and motivation to social processes«, so Jean und John Comaroff in ihrer Studie Ethnography and the Historical Imagination.34 Für die hier vorgelegte Geschichte der Klassenbeziehungen am Beispiel der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost ist weiter entscheidend, dass soziale Formationen stets als relationale Größen verstanden werden. In der Tradition der marxistisch orientierten britischen Sozialgeschichtsschreibung finden sich zahlreiche Arbeiten, die an dieser Stelle hilfreich sind, weil sie in ihren Analysen der Konstitution und Reproduktion sozialer Klassen besonders die kulturellen Faktoren und die Relationalität klassenspezifischer Kulturmuster zur Geltung gebracht haben.35 Mit Edward P.

—————— 31 Franz, »Logik der Differenz«, S. 47. 32 Lindner, »Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts«, S. 85. 33 Ebd. 34 Comaroff/Comaroff, Ethnography and the Historical Imagination, S. 35. 35 Vgl. v.a. die klassischen Arbeiten von Thompson, Hobsbawm und Stedman Jones:

Thompson, The Making of the English Working Class; ders., Plebeische Kultur und moralische

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Thompson lässt sich von einem »spezifischen Equilibrium sozialer Beziehungen« sprechen, das den einzelnen kulturellen Phänomenen erst ihre Bedeutung verleiht. So kann »die plebeische Kultur […] nicht unabhängig von diesem Equilibrium untersucht werden, weil sie zu einem gewissen Teil durch die Gegensätze zur Kultur der Gebildeten definiert ist«. Ausgehend davon verweist Thompson auf die elementare Tatsache, »daß jedes Element dieser Gesellschaft, für sich genommen, Vorläufer und Nachfolger haben mag, daß aber alle zusammengenommen eine Summe ergeben, die mehr ist als die einzelnen Teile, nämlich ein strukturierter Zusammenhang von Beziehungen«.36 Für die vorliegende Mikrogeschichte und Kulturanalyse ist diese Einsicht in die relationale Konstitution klassenspezifischer Kultur schon aus einem quellenbezogenen Grund von zentraler Bedeutung. Denn das Material, das die SAG hinterlassen hat, dokumentiert fast ausschließlich die »bürgerliche« Sichtweise. Der Kulturkontakt im Berliner Osten kann nicht – so sehr das auch zu wünschen wäre – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Die Positionen und Reaktionen der Arbeiterschaft sind vielmehr einzig und allein aus den Texten und Selbstdeutungen der SAGler zu entziffern. Diese Schieflage bietet aber auch Chancen. Denn damit ist die besagte Relationalität von Kultur bereits in die Quellen eingeschrieben: Die Bildungsbürger bestimmen ihre eigene Position durchgehend unter Bezugnahme auf die »plebejische Kultur«,37 während die Reaktionen und Verhaltensweisen der Arbeiterschaft immer schon in Bezug auf die bürgerlichen Erziehungspraktiken in den Blick kommen. Die »klassenspezifische Kultur« erschließt sich somit erst von dem Ort aus, den die »andere Kultur« im System des eigenen Diskurses einnimmt. In den Mittelpunkt der Analyse rückt daher das, was man die »Rückspiegelungseffekte« der von den SAGlern produzierten Texte nennen könnte: Deren Erzählungen und Berichte dokumentieren weniger die »Realität« der Klassenbeziehungen vor Ort, sondern vor allem ihre eigene Sichtweise; im Sprechen über die anderen zeigen die Bildungsbürger immer etwas von sich selbst. Mit dem Thema »Bildungsbürgertum« kommen freilich spezifische Probleme ins Spiel, auf die bisher noch nicht ausreichend eingegangen wurde

—————— Ökonomie; Hobsbawm, Labouring Men; ders., Worlds of Labour; Stedman Jones, Outcast London; ders., Languages of Class; ders., »Kultur und Politik der Arbeiterklasse in London«. 36 Thompson, »Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert«, S. 285. 37 Zu diesem Konzept vgl. neben den Aufsätzen von Thompson auch Medick, »Plebejische Kultur«.

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– dieses stellt sich geradezu als ein »sperriges Untersuchungsobjekt« dar.38 Wie vor allem Jürgen Kocka skeptisch angemerkt hat, lässt sich das Bildungsbürgertum kaum als klar umgrenzte Sozialformation beschreiben.39 Zwar gilt für die wilhelminische Gesellschaft durchaus die von Friedrich Paulsen 1895 festgehaltene Beobachtung, die »praktisch wichtige, die entscheidende Einteilung« sei die zwischen Gebildeten und Ungebildeten.40 Die Position des Bildungsbürgertums innerhalb dieser Einteilung bleibt dennoch näher zu bestimmen. Dazu hat der Soziologe M. Rainer Lepsius – im Anschluss an Max Weber – vorgeschlagen, das Bildungsbürgertum im Sinne einer »ständischen Vergesellschaftung« zu verstehen und damit die Fragen nach der Durchsetzung von Geltungsansprüchen und nach einem spezifischen Lebensstil in den Mittelpunkt zu rücken.41 So verstanden, erscheint das Bildungsbürgertum des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als eine über Bildungswissen und Bildungspatente vergesellschaftete und »rekrutierungsoffene« Formation bestimmter Berufsgruppen, die sich in einem besonderen Maße auf einen bestimmten Lebensstil stützten. Dazu gehörten als »typologischer Innenbereich« des Bildungsbürgertums42 vor allem die Ärzte und Pastoren, Rechtsanwälte und Richter, die höheren Beamten und Verleger, Professoren und Lehrer, Schriftsteller und Künstler43 – kurz: Vertreter der staatlichen und freien Berufe, die zumeist akademische Abschlüsse, zumindest aber ein hohes Maß an kulturellem Kapital erforderten. Damit ist das Bildungsbürgertum mehr als andere soziale Formationen über kulturelle Kategorien bestimmt.44 Es stellt sich als ein relativ »geschlossene[s] Kommunikationsfeld«45 und als eine Gruppe dar, de-

—————— 38 Lepsius, »Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung«, S. 8. 39 Kocka, »Bildungsbürgertum«. Vgl. auch die ähnlichen Befunde bei Vondung, »Zur Lage

der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit«, S. 22. 40 Zit. nach Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 245. 41 Lepsius, »Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung«. Klassisch ist die

Bestimmung des historischen deutschen Bildungsbürgertums als »Stand« bei Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, S. 100. Über den »Stand der Gebildeten« heißt es dort: »ein wirklicher Stand einst, mit eigenen Sitten und Konventionen, einer eigenen Lebenseinschätzung und Lebensführung, eine Welt für sich, in breiten Teilen minder begütert als das Besitzbürgertum, aber zu stolz auf seinen geistigen und sozialen Rang, als daß es ›die Geldmacher‹ als Seinesgleichen erachtet hätte.« 42 Vondung, »Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit«, S. 27. 43 Lepsius, »Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung«, S. 8. 44 Vgl. auch Bausinger, »Bürgerlichkeit und Kultur«; ders., »Volkskundliche Anmerkungen zum Thema ›Bildungsbürger‹»; Kaschuba, »Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800«; Lundgreen, »Bildung und Bürgertum«; Hettling, »Bürgerliche Kultur«. 45 vom Bruch, »Streiks und Konfliktregulierung«, S. 253.

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ren soziale Geltung sich auf eine spezifische Kombination aus kulturellem und symbolischem Kapital stützt. So nennt Ulrich Engelhardt in seiner umfassenden begriffsgeschichtlichen Studie folgende Bestimmungselemente des Bildungsbürgertums als Konsens der sozialhistorischen Forschung: dass »die mit Bildungsbürgertum adäquat bezeichenbare Formation substanziell, wenn nicht ausschließlich akademisch patentierte […] Berufsgruppen umfaßte« und dass deren Vertreter »in ein homogenisierendes, allem professionellen Leistungswissen übergeordnetes Bildungswissen und das Credo seiner höchsten Kulturwertigkeit hineinsozialisiert wurden, über einen entsprechenden Kommunikationscode/Bildungsdialekt verfügten und ein statuskonsistentes Diskursmilieu unterhielten« sowie »eine singuläre, gesamtgesellschaftlich verbindende wie verbindliche Sinnstiftungs- und Normsetzungskompetenz samt zugehöriger Sonderschätzung beanspruchten«.46 Im Mittelpunkt dieser Definition steht also – wie auch bei Lepsius’ Modell der »ständischen Vergesellschaftung« – ein spezifischer gesamtgesellschaftlicher Geltungsanspruch, verbunden mit einer darauf bezogenen Mentalität und kulturellen Orientierung.47 Im Zeitraum zwischen spätem Kaiserreich und dem Ende der Weimarer Republik war das Bildungsbürgertum zutiefst von Krisendiskursen geprägt. Man sah die Gesellschaft in der Zerfallskrise, die eigenen Berufsgruppen in der Legitimationskrise.48 Aus einer defensiven Haltung heraus wurden klassische, mit der Vergesellschaftung durch Bildung eng verbundene Werte in Stellung gebracht. Im bildungsbürgerlichen Habitus spielten daher nicht nur bestimmte kulturelle Formen eine Rolle, sondern ein bestimmtes Verständnis von »Kultur« überhaupt. Ihm war ein Verallgemeinerungsanspruch eingeschrieben, der »Kultur« als den Ausweg aus gesellschaftlichen Krisenlagen überhaupt empfahl. Wie der Soziologe Helmuth

—————— 46 Engelhardt, Bildungsbürgertum, S. 212–213. In wesentlichen Punkten übereinstimmend der

Definitionsversuch bei Vondung, »Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit«, S. 25–28. 47 Zu diesem Geltungsanspruch und den damit verbundenen Strategien der Selbstinterpretation und Selbstautorisierung von Intellektuellen vgl. auch die anregenden Überlegungen von Bauman, »Gesetzgeber und Interpreten«. 48 Zum Deutungsmuster der »Krise« im Kaiserreich vgl. Drehsen/Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse; Graetz/Mattioli (Hg.), Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle, v.a. den Beitrag von Blaschke, »Krise als gedachte Unordnung«. Für die Weimarer Republik vgl. die Beiträge in: Föllmer/Graf (Hg.), Die »Krise« der Weimarer Republik, v.a. Föllmer/Graf/Leo, »Einleitung«, und Graf, »Die ›Krise‹ im intellektuellen Zukunftsdiskurs«. Eine klassische Position dazu ist auch die Charakterisierung der Weimarer Zeit als »Krisenjahre der klassischen Moderne« bei Peukert, Die Weimarer Republik.

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Berking schreibt, begründete die mittelständische deutsche Intelligenz »ein Verhältnis sozialer Distanzierung, indem sie sich gegenüber einer Aristokratie, die in ihrem Sinne nichts leistet, selbst in Termini geistiger Produktion interpretiert und legitimiert. Gegen Oberflächlichkeit, Zeremoniell, äußerliche Konversation […] setzt sie die Bildung der Persönlichkeit, die Tiefe des Gefühls, Verinnerlichung, Versenkung ins Buch, kurz, das Reich des ›Geistes‹ als den einzig denkbaren Ort innerer Freiheit.«49 Diese Betonung des Innerlichen war in charakteristischer Weise mit einem Anspruch auf Elitepositionen verbunden.50 »Bildung« fungierte – so Max Weber – als »eine der allerstärksten rein innerlich wirkenden sozialen Schranken«,51 ihre Trägerschicht wurde zur »geistigen Aristokratie« mit einer – wie ebenfalls Weber es formuliert hat – »idealen Begeisterung für sittliche Forderungen«, die nicht zuletzt ein Desiderat für politisches Engagement waren.52 Um die Spezifik der bildungsbürgerlichen Suche nach einem neuen Selbstbild – und das Profil »bildungsbürgerlicher Kultur« generell – analytisch zu fassen, verwende ich in dieser Untersuchung das Konzept der »symbolischen Ökonomie«.53 Es verweist auf Zusammenhänge, in denen symbolische Güter eine besondere Rolle spielen und ist eben dadurch hervorragend geeignet, die soziale Selbstrepräsentation von Bildungseliten zu erfassen, bei der nicht ökonomisches Kapital, sondern der »Verallgemeinerungsprofit« der wichtigste statusbildende Faktor ist.54 Die symbolische Ökonomie des Bildungsbürgertums zu untersuchen, bedeutet dann auch, den symbolischen Gütern nachzugehen, die speziell mit der emphatischen und empathischen Hinwendung zum »einfachen Volk« verbunden waren. Es bedeutet, in den Selbstaussagen und sozialen Ideen der Akteure die subtile Verwertungslogik aufzuspüren, die – sei es bewusst oder unbewusst – für die Umsetzung ihres altruistischen und abenteuerlichen Handelns in symbolische Profite sorgte. Und damit wären wir zurück beim »sens prati-

—————— 49 Berking, Masse und Geist, S. 35. 50 Georg Bollenbeck spricht von der »für das Bildungsbürgertum charakteristischen Ein-

heit von geistigem und sozialem Eliteanspruch«, vgl. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 239. Zur Geschichte der Bildungseliten und ihres spezifischen Eliteverständnisses vgl. z.B. auch Struve, Elites against Democracy; Graetz/Mattioli, Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle; Ecarius/Wigger, Elitebildung – Bildungselite; eine Fallstudie zu britischen und deutschen Studenten nach dem Ersten Weltkrieg bietet Levsen, »Constructing Elite Identities«. 51 Zit. nach Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 246. 52 Zit. nach Berking, Masse und Geist, S. 42. 53 Vgl. zusammenfassend Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 161–197. 54 Ebd., S. 154–157.

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que«, der letztlich allen Handlungen zugrundeliegt und bei der fundamentalen Tatsache, dass »alle allgemeinen Werte in Wirklichkeit verallgemeinerte partikulare […] Werte sind«.55 Die Partikularität der von der Bildungsbürgern vertretenen Werte herauszuarbeiten, ist eines der Ziele dieser Arbeit.

Intellektuellengeschichte als Thema der Europäischen Ethnologie? Zum Schluss noch eine kurze Bemerkung zur fachlichen Verankerung des Themas im Kontext der Volkskunde/Europäischen Ethnologie. Über weite Strecken seiner Wissenschaftsgeschichte hat dieses Fach seinen Forschungsgegenstand geradezu über die Abgrenzung zur Elitenkultur konstituiert und legitimiert. Im Fokus stand die »Volkskultur« und damit der Alltag ländlicher Unterschichten.56 Seit den 1970er Jahren richtete sich der »volkskundliche Blick« dann verstärkt auch auf die Industriearbeiterschaft – in gewissen Kreisen so ausgeprägt, dass Eva Viethen und Konrad Köstlin schon früh davor warnten, die Arbeiter könnten gleichsam zu den neuen Bauern der Volkskunde werden.57 Von hier aus erscheint die Europäische Ethnologie als eine Disziplin, die ihren Gegenstand traditionell im sozialen Unten findet.58 Wenn aber »als Eckpfeiler der Volkskunde die Tendenz zur großen Zahl und die damit verbundene Gravitation nach unten akzeptiert sind«,59 dann mutet die Geschichte eines bildungsbürgerlichen

—————— 55 Ebd., S. 156. 56 Aus der fachgeschichtlichen Literatur greife ich heraus: Bausinger, Volkskunde, S. 12–73;

Sievers (Hg.), Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde; Deißner, Die Volkskunde und ihre Methoden; Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, S. 17–111; WeberKellermann/Bimmer/Becker, Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie; Bagus, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt. 57 »Die Volkskunde, die sich fortschrittlich wähnt, indem sie ihr Interesse von der bäuerlichen Idylle zum rauhen proletarischen Alltag verlagert, läuft Gefahr, den gleichen strukturellen Fehler zu begehen wie ihre heute verpönten Vorgänger. So wie diese der Illusion einer (einheitlichen) ›bäuerlichen Welt‹ erlagen, scheint heute die Versuchung groß zu sein, dem sozialromantischen Mythos ›Das Proletariat‹ aufzusitzen.« Eva Viethen, zit. nach Jacobeit, »Volkskunde und Arbeiterkultur«, S. 12. Vgl. auch Köstlin, »Die Wiederkehr der Volkskultur«. 58 Das Tübinger Ludwig-Uhland-Institut hat 2003 einen Versuch vorgelegt, diese Ausrichtung auf das soziale Unten als fachspezifische Kompetenz stark zu machen, vgl. Maase/ Warneken (Hg.), Unterwelten der Kultur. Zur Kritik an diesem Tübinger Ansatz vgl. Szymanska, »Zwischen Abschied und Wiederkehr«, insbes. S. 84–85. 59 Köstlin, »Grußwort zur Marburger Tagung«, S. 8.

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Vereins als ein zumindest ungewöhnliches Thema an – erst recht, wenn es nicht um die in Historischer Anthropologie und Volkskunde besser erforschte Frühe Neuzeit, sondern um die deutsche Gesellschaft zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik geht. Zwar hat sich die historisch ausgerichtete Europäische Ethnologie dieser Epoche durchaus zugewandt, allerdings ging es dabei nur selten um die Kultur der gesellschaftlichen Deutungseliten – ein Thema, das man bisher weitgehend der Sozialund Ideengeschichte überlassen hat. Demgegenüber möchte ich die Mikrogeschichte der SAG hier auch als ein volkskundliches Thema par excellence vortragen. Denn die Intellektuellengeschichte, die hier erzählt wird, kreist um ein zentrales Motiv: die Hinwendung zum »Volk«. Das Interesse der SAG-Mitarbeiter für die unteren Schichten, ihre Lebenswelt und Kultur, ist daher insgeheim mit der Fachgeschichte einer Disziplin verbunden, die sich seit ihren Anfängen der »Erforschung und Erkenntnis der ›Unterwelt‹ der Kultur« verschrieben hat.60 In diesem Sinne hat das Thema dieser Arbeit elementar mit der Selbstreflexion der Wissenschaften »vom Volk« zu tun: In der Geschichte der SAG werden Probleme bürgerlicher »Volksfreundschaft« verhandelt, wie sie sich auch für die emphatisch an ihrem Gegenstand interessierte Volkskunde stellen.61 Insofern sich aber die Fachgeschichte der Volkskunde nicht zuletzt als eine Beziehungs- und Projektionsgeschichte zwischen Gebildeten und »ihrem« Volk darstellt – Anita Bagus hat dazu eine eingehende Studie vorgelegt –,62 dokumentiert sie die Notwendigkeit von Intellektuellengeschichte als Teil der volkskundlichen Forschung selbst. Die »Gravitation nach unten« wird hier selbst zum Thema und erweist sich als eine intellektuelle Praxis, die sowohl über die gebildeten »Volksfreunde« als auch über das »Volk« Auskunft gibt. So kommt der Ansatz der vorliegenden Arbeit einer Umkehr der klassisch volkskundlichen Blickrichtung gleich, die aber methodisch notwendig ist, um die für beide Seiten konstitutive Beziehung zwischen dominanten und dominierten Kulturmustern zu erfassen. Wenn nämlich die Arbeiterkultur »in den Formen der Aneignung, Neutralisierung und Abweisung dominanter Verkehrsformen nur in Bezug auf die ›tonangebende‹ bürgerliche

—————— 60 Dieterich, »Über Wesen und Ziele der Volkskunde«, S. 176. 61 Vgl. zu diesem Komplex Wietschorke, »Ins Volk gehen!«, sowie Warneken (Hg.), Volks-

freunde. 62 Bagus, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt.

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Kultur zu begreifen ist«,63 dann gilt für die Untersuchung der SAG die umgekehrte Regel: Praxis und Selbstverständnis der Bildungsbürger sind nur in Bezug auf eine Arbeiterschaft zu begreifen, die als Klientel der sozialen Arbeit, als Projektionsfläche neuer intellektueller Selbstbilder und als Legitimationsfigur auf dem Feld innerbürgerlicher Deutungskonkurrenz in den Blick kamen. Das »Volk« erscheint als ebenso konstitutiv für die bürgerlichen Kulturmuster der Sozialreformer wie es die dominante Kultur für die Arbeiterkultur ist. Wenn nun weiter »der Sinngehalt kulturaler Phänomene erst durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts entschlüsselt wird, dem sie ihre spezifische Gestalt verdanken«,64 dann erweist sich die Bezugnahme auf das »Volk« als ein veritabler Schlüssel zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis. Norbert Schindler hat in seinem aufschlussreichen Aufsatz zur Ökonomie des Kulturellen darauf hingewiesen, dass die Volkskulturforschung sich »zugleich auf die Kultur der Eliten und die des Volkes erstrecken« müsse, um dieser Tatsache gerecht zu werden.65 In diesem Sinne trifft das Thema dieser Studie geradezu ins Zentrum einer selbstreflexiven volkskundlichen Forschung. In ihr wird die von bürgerlichen Reformern erworbene »Kunde vom Volk« zum Gegenstand einer relationalen Analyse, die Elitengeschichte und »Arbeiterkultur« stets als miteinander vermittelt denkt und nur dadurch beiden gerecht werden kann.

—————— 63 Lindner, »Vom Wesen der Kulturanalyse«, 179. 64 Ebd. 65 Norbert Schindler, »Jenseits des Zwangs?«, S. 20.

1. Der Schauplatz Berlin-Ost

Was nicht im Baedeker steht Als Alix Westerkamp im Sommer 1910 von Friedrich Siegmund-Schultze gefragt wurde, welche Gegend in Berlin für die von ihm geplante soziale Arbeit in Frage käme, musste sie nicht lange nachdenken: »Ohne einen Augenblick zu zögern, sagte ich: ›Der Schlesische Bahnhof‹.«1 Und auch Ende der 1920er Jahre war dieses Viertel im Berliner Osten ein Inbegriff des »dunklen Berlin«, einer rauhen und unwirtlichen, wenn nicht gar gefährlichen Stadtlandschaft. Eine Mitarbeiterin der SAG schrieb damals: »Wie oft begegnete ich da entsetzten Gesichtern – von denen, die den ›Osten‹ nur aus Zeitungsnotizen kennen, in denen er Schauplatz wüstesten Treibens ist; wie oft auch Mißachtung und Abscheu – von denen, die einmal selbst hindurch gegangen sind, und vor deren Augen bei den Worten ›am Schlesischen Bahnhof‹ nur das Bild von schmutzigen Straßen, zerlumpten blassen Menschen, schreienden Straßenjungen auftaucht.«2 Der so überaus schlechte Leumund dieser Gegend, der wesentlich zur Ansiedlung der SAG beigetragen hat, provoziert die Frage nach dem Ineinander von sozialer und symbolischer Topographie: Wer wohnte in dieser Bahnhofsgegend zwischen Spree und Frankfurter Allee? Und was machte diesen Osten zum »dunklen Stadtviertel«,3 in dem es nicht geheuer war? Die folgende Passage durch das Stralauer Viertel soll zumindest ein wenig Licht ins »dunkle Berlin« bringen. Zuallererst aber soll sie verstehen helfen, warum gerade die Straßen um den Schlesischen Bahnhof zum Schauplatz der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« wurden.

—————— 1 Alix Westerkamp, zit. nach Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«,

S. 85. 2 Ursula Goldscheider, »Kinderlesestube im Osten Berlins!«, in: NN 12. Jg. Heft 7–9

(Juli–September 1929), S. 186–187, hier S. 186. 3 SAG an die Gemeindekörperschaften der Dorotheenstädtischen Gemeinde Berlin,

13. April 1912, in: EZA 51/S I b.

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»Die im Osten von Alt-Berlin gelegenen Stadtteile bieten dem Fremden wenig.«4 So lautete 1908 die lapidare Auskunft von Baedekers Reisehandbuch über die Reichshauptstadt. In dem 240 Seiten starken Werk nehmen die Postbezirke Berlin-Nordost und Berlin-Ost lediglich 37 Zeilen ein; als Sehenswürdigkeiten werden – mangels klassischer Touristenziele – der Volkspark Friedrichshain mit seinem neuen Märchenbrunnen und dem »Kirchhof der 1848er Märzgefallenen«, das unweit davon gelegene städtische Krankenhaus, die Markuskirche von Stüler, der Andreasplatz, der Schlesische mit dem Wriezener Bahnhof sowie der Vieh- und Schlachthof an der Landsberger Allee genannt. Auch der im gleichen Jahr erschienene Stadtführer für die Teilnehmer des »Internationalen Kongresses für historische Wissenschaften«, der im August 1908 in Berlin stattfand, verliert auf seinen 491 Seiten kaum ein Wort über die Gegenden östlich des Alexanderplatzes. Den Kongressteilnehmern werden lediglich zwei Stadt- bzw. Hochbahnfahrten empfohlen, die den Osten leicht touchieren.5 Der 1920 gegründete Berliner Verwaltungsbezirk Friedrichshain setzte sich aus drei Teilen zusammen: aus der Halbinsel Stralau im Südosten, dem Stralauer Viertel mit Boxhagen zwischen Spree und Frankfurter Allee sowie dem nördlich anschließenden Königsviertel, das durch Volkspark und Schlachthofareal gegen Lichtenberg und den Prenzlauer Berg abgegrenzt war.6 Diese Gegend wurde in wenigen Jahrzehnten von einer dörflich geprägten Vorstadt zum Paradebeispiel für das seitens der Sozial- und Wohnungsreform heftig kritisierte »steinerne Berlin«.7 Eine Stadtentwicklungspolitik, welche die Boden- und Bauspekulation stark begünstigte, sowie

—————— 4 Baedeker’s Berlin und Umgebung, S. 161. 5 Vgl. Berlin. Für die Teilnehmer am internationalen Kongress für historische Wissenschaften. 6 Zur Stadtentwicklung in Friedrichshain vgl. als Überblicksdarstellungen Mende/Wer-

nicke (Hg.), Berliner Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg, S. 11–65; Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmaltopographie Friedrichshain, S. 14–45. Eine informative populäre Zusammenstellung zur Geschichte und Gegenwart des Bezirks aus der Weimarer Zeit bietet Gensch/Liesigk/Michaelis, Der Berliner Osten. Vgl. auch das Manuskript aus der SAG unter dem Titel »A. Der Osten Berlins / 1. Abgrenzung«, in dem eine gute Einführung in die Topographie von Berlin-Ost gegeben wird. In: EZA 626/II 20,14. 7 Der klassische Referenztext dieser Kritik am Berliner Städtebau der Gründerzeit und des Wilhelminismus ist Hegemann, Das steinerne Berlin. Hegemann hat den eigentlich nicht ganz korrekten Begriff der »Mietskaserne« geprägt und in Umlauf gebracht. Zur Kritik an der »Mietskaserne« vgl. Bodenschatz, Platz frei für das neue Berlin!, sowie die noch immer unerreichten Materialsammlungen Geist/Kürvers, Das Berliner Mietshaus 1740– 1862; dies., Das Berliner Mietshaus 1862–1945. Einen Überblick über die sozialräumliche Struktur Berlins und die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft gibt auch Fassbinder, Berliner Arbeiterviertel 1800–1918.

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eine rigide Bauordnung hatten in den Berliner Arbeiterbezirken zu einer monotonen Mietshausbebauung entlang gerade angelegter, breit ausgebauter und solide gepflasterter Straßenzüge geführt. Alte Fotografien aus dem Stralauer Viertel zeigen zahllose »Mietskasernen« der Zeit zwischen 1890 und 1914 mit ihren Stuckfassaden aus dem Musterkatalog. Die Bebauungsund Wohndichte war hier besonders hoch: 1920 war der neue Verwaltungsbezirk Friedrichshain mit 35.851 Einwohnern pro Quadratkilometer der dichtestbesiedelte unter den 20 Berliner Bezirken.8 Im Gründungsjahr der SAG 1911 war die Bebauung der innerhalb der Ringbahn gelegenen östlichen Stadtteile weitgehend abgeschlossen – ebenso der infrastrukturelle Ausbau dieses Areals, wobei einige wichtige Verkehrs- und Versorgungsbauten erst nach 1900 entstanden waren. BerlinOst war somit kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein vergleichsweise neues Viertel. Vor allem im Osten des Postbezirks mussten viele Mauern noch »trockengewohnt« werden, die Versorgungsanlagen des Bezirks demonstrierten den neuesten Stand der Stadttechnik. »Schmuckplätze« wie der Boxhagener Platz waren damals noch von kleinen, frisch gepflanzten Bäumen bestanden9 und vermittelten zusammen mit den umstehenden, meist fünfgeschossigen Mietshausneubauten den Eindruck einer erst kürzlich erschlossenen, im Eiltempo bebauten und von ihren Bewohnern noch kaum in Besitz genommenen städtischen Peripherie. Hier, in einem der klassischen Berliner Arbeiterviertel, fanden viele Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten Brandenburgs, Pommerns und Schlesiens ihre erste Bleibe. Wie in vielen anderen europäischen Großstädten wurde »der Osten« zum Inbegriff einer schlechten Gegend, zum Synonym für eine stadträumliche Gemengelage von Industrie, Kleinhandwerk und proletarischem Massenwohnen.10 Von den bürgerlichen Vierteln rund um das alte Berliner Stadtzentrum und die Geschäftsviertel des Westens war dieser Bezirk durch eine soziale und mentale Demarkationslinie getrennt; für das bürgerliche Berlin bildete er damals noch eine regelrechte »terra incognita«. Im europäischen Vergleich hingegen war dieser Osten alles andere als ein finsteres oder gar verruchtes Elendsquartier. So sind französischen Be-

—————— 8 Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmaltopographie Friedrichshain, S. 14. 9 Dazu eine gute Fotografie von 1909 in: Kulturamt Friedrichshain (Hg.), Historische An-

sichten aus Friedrichshain, S. 31. 10 Einige Kindheits- und Jugenderinnerungen vermitteln zumindest für die 1920er und

1930er Jahre einen guten Eindruck vom Alltag im Berliner Osten: Holtz-Baumert, Die pucklige Verwandtschaft; Stave, Stube und Küche; Brust, Kinder der Koppenstraße.

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obachtern wie Jules Huret oder Charles Huard, die mit den Pariser Verhältnissen vertraut waren, in den Berliner Arbeitervierteln vor allem deren solider Standard und kleinbürgerlich-aufgeräumte Atmosphäre aufgefallen. Baufällige Wohnhäuser, die auf eine Zeit vor dem 19. Jahrhundert zurückgingen oder gar bewohnte Baracken, wie sie in englischen oder französischen Vorstädten durchaus vorkamen, gab es hier nicht. Die Beobachtung des Städtereisenden und notorischen Altstadtromantikers Huard war daher nicht zuletzt auf den Norden und Osten der Reichshauptstadt gemünzt: »Berlin ist neu, sauber und ohne Charakter.«11 Ähnlich berichtete der Journalist Jules Huret 1909 über seine Deutschlandreise: »Ich wollte die ganz elenden Winkel Berlins kennen lernen, man konnte mir keine bezeichnen. […] Ich wollte das Whitechapel Berlins oder gewisse Gassen der Butte Montmartre sehen, irgendeine feuchte, schmierige Spelunke, eine Mördergrube, wie es ihrer so manche noch in London, in Paris, in Petersburg oder in Rom gibt. Dergleichen existiert hier nicht. Die Vorstädte sind ebenso sauber gehalten, wie die Straßen inmitten der Stadt, die Läden, ohne gleichen Luxus zu zeigen, haben einen gut bürgerlichen Anstrich. Die Häuser gleichen sich von einem Viertel zum andern, die – auch die ärmsten unter ihnen – anständig gekleideten Leute haben nicht das Verwilderte, Verwahrloste unserer Vagabunden und Bettler.«12

Tatsächlich verschwand mit dem Sanierungsbeginn im Scheunenviertel 1906/07 – also während des Berlinaufenthalts Hurets – das letzte Viertel, das tatsächlich mit Whitechapel und der Butte Montmartre oder den armen jüdischen Quartieren vieler ostmitteleuropäischer Städte verglichen werden konnte.13 Mit dem Outcast-Mythos dieser Orte konnte der Berliner Osten

—————— 11 Huard, Berlin wie ich es sah, S. 33. Huard hatte sich, etwa gleichzeitig mit seinem Lands-

mann Huret, in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 in Berlin aufgehalten. 1907 erschien in Paris sein bissiger Reisebericht Berlin, comme je l’ai vu. 12 Huret, Berlin um Neunzehnhundert, S. 22. 13 Allerdings wurde auch das sanierte Scheunenviertel wenige Jahre später zum Standort eines Settlement, nämlich des Jüdischen Volksheims Berlin. Nach kleineren Initiativen wie der »Jüdischen Toynbee-Halle« in der Kleiststraße und dem von Ernst Joel gegründeten Siedlungsheim Charlottenburg kam es 1916 zur Gründung des Jüdischen Volksheims in der Dragonerstraße (heute: Max Beer-Straße) durch Siegfried Lehmann. Mit Martin Buber, Gershom Sholem, Gustav Landauer und vielen anderen waren weite Teile der damaligen jüdischen Prominenz Berlins direkt an der Gründung und der Arbeit des Volksheims beteiligt. Dieses Settlement war ebenso wie die SAG als eine »Niederlassung Gebildeter im Arbeiterviertel« konzipiert, hier allerdings mit einem deutlichen Akzent auf der kulturellen Begegnung zwischen Ost- und Westjudentum. Vgl. dazu Oelschlägel, »Die Jüdische Settlementbewegung«; Ellger-Rüttgardt, »Das Jüdische Volksheim«; Schäfer, Berliner Zionistenkreise, S. 135–141; Haustein/Waller, »Jüdische Settlements in Europa«.

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nicht konkurrieren, für ein abenteuerliches »slumming« nach dem Vorbild viktorianischer »muckraker« war dieser Stadtteil – allen Schauerballaden über den Schlesischen Bahnhof zum Trotz – kaum geeignet.14 Wenn man in der SAG betonte, dass sich die Bevölkerung und insbesondere die Kneipen des Scheunenviertels nach dessen Teilabriss vor allem im Osten angesiedelt hätten,15 dann geschah dies vielleicht auch, um die dramatische Imagination einer städtischen Unterwelt im Stralauer Viertel aufrecht zu erhalten.

Stadtlandschaft und soziale Topographie Im südlichen Teil des späteren Bezirks Friedrichshain – zwischen Andreasstraße, Frankfurter Allee, Ringbahn und Spree – bestimmten im späten Kaiserreich vor allem die Bahnhöfe und Bahnanlagen das Stadtbild;16 der Bau neuer, privater Eisenbahnlinien ab 1841 hatte die Urbanisierung dieses Gebiets eigentlich begründet. Zuvor waren im Stralauer Viertel vor allem Gartenbaubetriebe und kleinere Nutzgärten angesiedelt – einige Straßennamen wie die Blumen- oder die Fruchtstraße erinnerten noch daran. An der Einmündung des Grünen Wegs17 in die Fruchtstraße, die in Verlängerung der Friedenstraße eine der Nord-Süd-Achsen des Stralauer Viertels bildete, öffnete sich der begrünte Küstriner Platz. Dort lag das breite Empfangsgebäude des ehemaligen Ostbahnhofs: ein Backsteinpalast von 1867, der im Stil zeitgenössischer Kasernen- oder Verwaltungsbauten gehalten war. Der Ostbahnhof war bereits 1882 stillgelegt worden und diente seitdem vor allem als Lagergebäude. Mehrere Versuche der SAG, dieses Gebäude für die

—————— 14 Vgl. dazu v.a. Koven, Slumming. Im Zusammenhang mit der englischen Settlementbewe-

gung spricht Adele Schreiber vom Londoner »Slumfieber«: Schreiber, Settlements, S. 1. 15 Vgl. etwa die Bemerkungen im Manuskript »A. Der Osten Berlins / 1. Abgrenzung« in:

EZA 626/II 20,14, und bei Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch zur Lösung des sozialen Problems«, S. 286. 16 1930 entfielen 12,2 Prozent der gesamten Fläche des Bezirks Friedrichshain auf Eisenbahngelände. Nach Gensch/Liesigk/Michaelis, Der Berliner Osten, S. 317. 17 Ab 1926 Paul-Singer-Straße. 1933 wurde der vormalige »Grüne Weg« in einer unfreiwillig selbstparodistischen Aktion in »Brauner Weg« umbenannt; seit 1947 lautet der Name wieder Singerstraße. Nach: Mende/Wernicke (Hg.), Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg, S. 451–452.

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soziale Arbeit zu übernehmen, schlugen fehl,18 bis es 1929 schließlich zum Domizil des Varietétheaters »Plaza« wurde. Hinter dem alten Ostbahnhof befanden sich die Anlagen und Werkstätten des Güterbahnhofs der Ostbahn sowie der Schlesischen Bahn. Zur Spree hin schlossen sich die Dienstgebäude und Verladehallen des Postamtes O 17 an, das 1908 fertiggestellt wurde und sich im Folgenden zu einem der bedeutendsten Postämter des Deutschen Reiches entwickelte. Am Spreeufer befand sich eines der beiden ersten, 1847 in Betrieb genommenen kommunalen Gaswerke Berlins; etwas weiter flussaufwärts entstand in den Jahren 1907 bis 1913 der neue Osthafen.19 Die Gewerbelandschaft des Stralauer Viertels war in erster Linie von Klein- und Mittelbetrieben und damit den klassischen Hinterhofindustrien geprägt. Wohn- und Gewerbefunktionen waren hier eng miteinander verzahnt; Wohnhäuser und die in Gewerbehöfen gelegenen »Miethfabriken«20 bildeten dabei ausgedehnte Komplexe, die die erlaubte Bebauungsdichte oftmals voll ausschöpften.21 Mit dem 8.434 qm umfassenden »Andreashof« befand sich der größte Gewerbehof der Gegend mitten im »Kiez« der SAG, zwischen Andreasstraße und Grünem Weg; hier wurden ab 1914 die beliebten Sahnebonbons der Firma Kanold hergestellt.22 Neben den Fabriketagen befanden sich auch Handwerksbetriebe sowie Lagerund Büroräume kleinerer Handelsunternehmen in den Gewerbehöfen; unter anderem bildete die Tischlerei und Holzverarbeitung einen Schwerpunkt im Kleingewerbe zwischen Frankfurter Allee und Spree.23 Heimarbeit, insbesondere im Textilgewerbe, spielte im Stralauer Viertel traditionell eine bedeutende Rolle;24 nach Angaben von Ingrid Thienel wurde hier

—————— 18 Vgl. Hellmut Hotop an Friedrich Siegmund-Schultze, 21. März 1919, in: EZA 51/S II c

28, und Elisabeth Höfert an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. Juni 1928, in: EZA 51/S II e 7. 19 Zur infrastrukturellen Entwicklung vgl. Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmaltopographie Friedrichshain, S. 57–70. 20 Feustel, Verschwundenes Friedrichshain, S. 51. 21 Die Bebauungsdichte im Bezirk war insgesamt sehr hoch: Von 877 ha Bezirksfläche waren im Jahr 1930 50,2 Prozent bebaut; Straßen und Plätze machten 19,8 Prozent aus. Lediglich 8,3 Prozent der Fläche waren Friedhöfe und Parkanlagen. Nach Gensch/Liesigk/Michaelis, Der Berliner Osten, S. 317. 22 Ebd., S. 51–53. 23 Vgl. ebd., S. 342–344. 24 Abraham, Friedrichshainer Unternehmer, S. 14.

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noch in den 1860er Jahren jede vierte Wohnung auch zu Gewerbezwecken genutzt.25 Private Großbetriebe mit über 50 Beschäftigten gab es in Berlin-Ost nur wenige; in erster Linie sind hier die Fabriken von Pintsch und Knorr, die Glühlampenfabrik der Auer-Gesellschaft und die Stralauer Glaswerke zu nennen.26 Julius Pintsch hatte bereits 1843 am Stralauer Platz – zwischen Spree und Schlesischem Bahnhof (damals noch: Frankfurter Bahnhof) – eine kleine Kellerwerkstatt zur Herstellung von Lampen und Laternen eröffnet.27 Später produzierte er nebenan in der Andreasstraße 73 Gasdruckmesser und Gasbeleuchtungsanlagen für die Eisenbahn, ab 1893 auch Torpedorohre für die deutsche Kriegsmarine.28 Nach der Firma OSRAM, die in Nachfolge der Deutschen Auer-Gasglühlichtgesellschaft einen ihrer vier Produktionsstandorte (Werk D) an der Warschauer Brücke hatte, blieb Pintsch bis 1945 der zweitgrößte Glühlampenproduzent Deutschlands.29 Der Bremsenhersteller Georg Knorr – auch er ein wichtiger Zulieferer für die Eisenbahn – kam 1904 nach Boxhagen-Rummelsburg; für sein Unternehmen entstand in den Jahren 1913 bis 1916 unweit der Ringbahn ein stattliches, noch heute erhaltenes Verwaltungsgebäude.30 Mit den Stralauer Glaswerken befand sich seit 1889 im Bereich des alten Dorfkerns von Alt-Stralau im Südosten des späteren Verwaltungsbezirks Friedrichshain ein weiterer bedeutender Arbeitgeber. Hinzu kamen die im Bezirk stark vertretenen Brauereien, so die 1897 von der EngelhardtBrauerei und zum Hauptstandort der Firma ausgebaute Brauerei in Stralau, das Böhmische Brauhaus, das sich nahe der Auferstehungskirche und dem ersten Domizil der SAG in der Friedenstraße befand, sowie vor allem die »Actien-Brauerei-Gesellschaft Friedrichshöhe vorm. Patzenhofer« (ab 1920 Schultheiß-Patzenhofer) an der Landsberger Allee, die 1912 eine neue, in technischer Hinsicht weltweit Maßstäbe setzende Sudhausanlage erhielt.31 Ebenfalls an der Landsberger Allee befand sich der 1881 eröffnete kommunale Vieh- und Schlachthof, zentraler Umschlagplatz für lebende Tiere

—————— 25 Vgl. Thienel, Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß, S. 147. 26 Einen Überblick über die wichtigsten Industrieunternehmen bieten Gensch/Liesigk/Mi-

chaelis, Der Berliner Osten, S. 340–360, und Abraham, Friedrichshainer Unternehmer. 27 Abraham, Friedrichshainer Unternehmer, S. 15–25. 28 Ebd., S. 21. 29 Ebd. 30 Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmaltopographie Friedrichshain, S. 190–193. 31 Abraham, Friedrichshainer Unternehmer, S. 43.

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sowie tierische Produkte aller Art.32 Für die Versorgung der unteren Bevölkerungsschichten spielte die Freibank an der Thaerstraße eine wichtige Rolle, wo Fleisch minderer Qualität zu günstigen Preisen verkauft wurde.33 In der Gegend um den Schlesischen Bahnhof bildete die Andreasstraße eine der Hauptstraßen. Mit dem Andreasplatz lag hier ein wichtiger Knotenpunkt des gesamten Stralauer Viertels; der scheidende Stadtbaurat Hermann Blankenstein hatte noch die Pläne für eine Platzgestaltung vorgelegt, die zwischen 1896 und 1898 ausgeführt wurden. Die skulpturale Ausstattung nimmt – und das ist für das wilhelminische Berlin einzigartig – Bezug auf das soziale Profil dieser Arbeiter- und Handwerkergegend: Zwei Figurengruppen aus Marmor zeigten laut einer 1930 erschienenen Bezirksbeschreibung »zwei freundliche Augenblicke aus dem Familienleben des Arbeiters«34 – eine »Mutter mit Kind« sowie einen »Handwerker mit Sohn«.35 Unweit des Andreasplatzes stand die städtische Markthalle VIII als übergeordnete Versorgungseinrichtung des Stadtteils. Sie besetzte den Baublock zwischen Andreasstraße, Krautstraße und Grünem Weg. Während vier der in den 1880er Jahren errichteten Berliner Markthallen vor 1914 wieder schließen mussten, konnte sich die Andreas-Markthalle relativ lange behaupten und war noch 1938 zu 75 Prozent ausgelastet.36 Konkurrenz boten ihr nicht zuletzt die Lebensmittelabteilungen der großen Warenhäuser: »Hertie« an der Frankfurter Allee und das Warenhaus Jandorf am nördlichen Ende der Andreasstraße, Ecke Große Frankfurter Straße. Das Angebot beider Häuser war besonders auf die kleinbürgerliche Kundschaft des Viertels zugeschnitten; Jandorf wurde 1908 von Leo Colze, dem Autor eines Bandes der »Großstadt-Dokumente«, als »Warenhaus des kleinen Mannes« bezeichnet.37 1926 übernahm »Hertie« den Konkurrenten und stieg damit zum größten europäischen Warenhauskonzern auf.

—————— 32 Schindler-Reinisch, Berlin Central-Viehhof. 33 Schindler-Reinisch, »Strukturen und Instrumente«, S. 114–115. 34 Gensch/Liesigk/ Michaelis, Der Berliner Osten, S. 257. 35 Die Mutter-Kind-Gruppe des Bildhauers Edmund Gomansky wurde 1960 auf das Ge-

lände des Krankenhauses Friedrichshain versetzt. Die von Wilhelm Haverkamp geschaffene Gruppe »Handwerker mit Sohn« befindet sich noch heute in der Andreasstraße. Vgl. Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmaltopographie Friedrichshain, S. 92–93 und 100. 36 Feustel, Verschwundenes Friedrichshain, S. 39–41. 37 Nach Feustel, Verschwundenes Friedrichshain, S. 42, zum Warenhaus Hertie vgl. S. 45–47. Eine anschauliche Episode aus dem Kaufhaus Union, ehemals Jandorf, erzählt Brust, Kinder der Koppenstraße, S. 64–69.

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Weiter östlich bildete die Koppenstraße eine weitere Nord-Süd-Achse des Quartiers. Dort befand sich das Andreas-Realgymnasium mit dem auffälligen, von Ludwig Hoffmann im Stil der italienischen Hochrenaissance gestalteten Rektorenwohnhaus. Waldemar Brust schildert die Koppenstraße in den 1920er Jahren als besonders lebhaft: »Von der Madaistraße bis zur Großen Frankfurter Straße glich sie einem riesigen Markt. Unzählige Geschäfte zeigten ihr umfangreiches Warenangebot. Außerdem wurde die rechte Straßenseite durch eine Vielzahl von ambulanten Händlern bevölkert, die ihre Ware durch lautes Geschrei anboten. Wer es eilig hatte oder kein Geld ausgeben wollte, benutzte die linke Straßenseite.«38 Das Eckgebäude zum Stralauer Platz hin war die II. Handwerkerschule im Stil der Neorenaissance: ein regelrechter »Palast der Arbeit«, wie die Vossische Zeitung zur Einweihung des Neubaus im Oktober 1905 schrieb.39 Dicht daneben befand sich schließlich die frei auf dem Stralauer Platz stehende Andreaskirche.40 Die soziale Topographie des Berliner Ostens lässt sich an den Bewohnern eines Hauses exemplarisch veranschaulichen.41 Das Gebäude Fruchtstraße 63, in dem ab 1913 eine Zweigstelle, später die Geschäftsstelle der SAG untergebracht war, lag im Abschnitt zwischen der Rüdersdorfer und der Großen Frankfurter Straße an der westlichen Straßenseite, dicht am Küstriner Platz und in unmittelbarer Nähe des alten Ostbahnhofs. Es gehörte einem Berliner Bankier namens Georg Blumenfeld, der sein Geschäft – gemeinsam mit Franz Nathan – bis zum Ersten Weltkrieg in der Taubenstraße hatte, also unweit des Gendarmenmarktes im Berliner Stadtzentrum.42 Ab 1915 erscheint Blumenfeld im Berliner Adressbuch mit Sitz in einem eigenen Gebäude Unter den Linden 27 und einer Wohnadresse in einer der besten Gegenden Charlottenburgs, Schlüterstraße 3843 – er scheint demnach mit Kriegsbeginn einen geschäftlichen Aufstieg verzeichnet zu haben. Im Haus selbst wohnten nach Angaben des Adressbuchs

—————— 38 Brust, Kinder der Koppenstraße, S. 5. 39 Nach Feustel, Verschwundenes Friedrichshain, S. 26. 40 Ebd., S, 10–12. 41 Anregende Hinweise zur Benutzung von Adressbüchern als historische Quelle liefert

Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 329–346. 42 Berliner Adressbuch 1911, Band I, S. 239. Georg Blumenfeld gehörte auch zum Unterstüt-

zerkreis der SAG; seit Abschluss des Mietvertrags 1913 spendete er jährlich einen Betrag von 120 M. für die soziale Arbeit, vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an Georg Blumenfeld, 4. Oktober 1913, in: EZA 51/S II i 1. 43 Berliner Adressbuch 1915, Band III, S. 1048.

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1911 32 Mietparteien, die in der Regel mit dem Namen des männlichen Haushaltsvorstands eingetragen wurden. Neben dem Hausverwalter, dem Kriminalwachtmeister J. Kroschinski, waren dies: die Fabrikanten Fischer und Kurzweck, der Privatier Schmidt, der Musiklehrer Brett, die Schneider Clauß, Engelmann, Fast, Rahn und Sandberg, die Tischlermeister Elsholz, Jahnke und Randel sowie die Tischlerei Gießler & Schuppe, die Modistin Krüger, der Eisenbahnbeamte Pannier, der Ober-Postschaffner Willert, der Zimmermann Pitschke, der Fuhrhändler Bonack, der Milchhändler Wettstädt, der Musiker Wendt, der Lackierer Patschka, der Maurerpolier Schiele, der Maurer Kröger, der Kellner Knak, der Bauarbeiter Hahlweg, der Hausdiener Schlegel, der Eisenbahnarbeiter Ziegler, der Gastwirt Grandke, die Witwen Hentschel und Rupp sowie der Invalide Linde.44 Wie weitere Stichproben im Berliner Adressbuch zeigen, war dieser soziale Querschnitt durch das Mietshaus Fruchtstraße 63 durchaus repräsentativ für den Postbezirk Berlin O 17. In dieser Gegend wohnten also in erster Linie kleinere Handwerker, darunter viele Bauhandwerker und Schneider, die ein eher geringes Auskommen hatten. Hinzu kamen Beamte und Arbeiter, die im Eisenbahn- und Postwesen beschäftigt waren. Fabrikarbeiter waren hier weniger stark vertreten als in den Industriequartieren von Moabit, Gesundbrunnen oder Schöneweide, wo regelrechte »Fabrikstädte« mit Zehntausenden von Arbeitern in einem einzigen Betrieb entstanden waren.45 Die in der Fruchtstraße 63 genannten »Fabrikanten« verweisen auf die vielen kleineren Fabriken und Hinterhofbetriebe, die häufig als Familienunternehmen geführt wurden und deren Besitzer in unmittelbarer Nachbarschaft des Betriebs wohnten. Bedenkt man die Spezifik der zitierten Quelle – im Adressbuch sind Angaben festgehalten, die von den Mietern nicht zuletzt im Hinblick auf die damalige Wohnungsvergabepraxis gemacht wurden, dann müssen viele Berufsbezeichnungen mit einer gewissen Vorsicht gelesen werden. So konnte hinter der Angabe »Modistin« durchaus eine alleinerziehende Mutter stehen, die sich und ihre Kinder mit Heimarbeit mehr schlecht als recht durchbrachte. Über den im Adressbuch genannten Musiker Fritz Wendt ist beispielsweise bekannt, dass er 1916 über ein monatliches Einkommen von circa 120 Mark verfügte,46 was angesichts der nach 1914 drastisch steigenden Nominallöhne (bei sinkenden

—————— 44 Berliner Adressbuch 1911, Band III, S. 260–61. 45 Zur Sozialstruktur im Berliner Osten, speziell in der Fruchtstraße, vgl. auch Hochmuth/

Niedbalski, »Kiezvergnügen in der Metropole«, insbes. S. 115. 46 Vgl. die Aufstellung der bedürftigen Familien aus Berlin-Ost in: EZA 51/S II, g 2.

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Reallöhnen) deutlich unter dem Durchschnittsniveau lag.47 Da mit diesem Einkommen fünf Kinder zwischen sechs Monaten und elf Jahren zu versorgen waren, wurde die Familie von der SAG 1916 auf eine Liste bedürftiger Familien gesetzt, die eine offizielle Weihnachtsgabe der Prinzessin August Wilhelm erhalten sollten.48 Hinsichtlich der sozialen Verhältnisse der Gegend um den Schlesischen Bahnhof ist nicht nur aufschlussreich, wer in einem Mietshaus wohnte, sondern auch, wie hoch die Fluktuation war. Von den 32 Mietparteien, die 1911 in der Fruchtstraße 63 ansässig waren, sind im Adressbuch des Jahres 1915 nur noch neun Parteien wiederzufinden. Bis 1920 reduzierte sich die Zahl der seit 1911 noch immer im Haus verbliebenen Mietparteien auf lediglich vier Parteien; nur die Familien des genannten Musikers Wendt, der Tischlermeister Randel und Gießler sowie des Ober-Postschaffners Willert wohnten noch immer in diesem Haus. Im Laufe von neun Jahren waren also sieben Achtel der Einwohnerschaft des Blumenfeldschen Mietshauses ausgetauscht. Die Talfahrt der Reallöhne nach 1914, individuelle Lohnschwankungen, zeitweilige Arbeitslosigkeit und ein nahezu nicht vorhandener Mieterschutz sorgten in Berlin-Ost für eine hohe stadträumliche Mobilität der sozial schlechter gestellten Bewohner, wobei die meisten von ihnen innerhalb des Quartiers umzogen: bei einer günstigeren Lohnsituation in bessere Wohnungen, bei Lohnausfall oder Arbeitslosigkeit wieder zurück in enge, dunkle, unzureichend ausgestattete Unterkünfte in den Hinterhöfen. Im Verwaltungsbezirk Friedrichshain war der Anteil an kleineren Wohnungen überdurchschnittlich hoch, wenn auch bezahlbare Kleinwohnungen Mangelware blieben: Nach einer Zählung von 1925 waren hier 7,8 Prozent aller Wohnungen Einraum- und 42 Prozent aller Wohnungen Zweiraumwohnungen.49 Zudem wohnten 4,8 Prozent der Einwohner im Bezirk als Schlafgänger, die lediglich für ein paar Stunden täglich ein Bett in einer fremden Wohnung gemietet hatten – damit war der zweithöchste Wert unter allen Berliner Bezirken erreicht.50

—————— 47 Zur Orientierung vgl. die Darstellung bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4,

S. 81–86, und Tabelle 47 in: Trapp, Kleines Handbuch der Münzkunde und des Geldwesens, S. 248–49. Nach den Angaben Trapps entsprach das Monatseinkommen von Fritz Wendt 1916 in etwa dem Lohn eines ungelernten Eisenbahnarbeiters. 48 Vgl. die Aufstellung der bedürftigen Familien aus Berlin-Ost in: EZA 51/S II, g 2. Bei der »Prinzessin August Wilhelm« handelt sich um Alexandra von Schleswig-HolsteinSonderburg-Glücksburg, die Ehefrau des Prinzen August Wilhelm von Preußen. 49 Geist/Kürvers, Das Berliner Mietshaus 1862–1945, S. 510. 50 Ebd., 509.

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Grundsätzlich sei aber nochmals an die Beobachtungen der französischen Berlinbesucher erinnert: Mit den Londoner Slums, den Pariser Armenvierteln zwischen Montmartre und Père Lachaise und den Hafenquartieren von Marseille, Neapel oder Odessa war der Osten der deutschen Reichshauptstadt nicht zu vergleichen. Die einst von James Hobrecht für die Berliner Mietshausgürtel intendierte soziale Mischung war hier in Ansätzen durchaus vorhanden: Arbeiter und Handwerksmeister wohnten mit kleinen Beamten und Fabrikanten in den selben Häusern. Was aber auffällt, ist die weitgehende Absenz akademischer Berufe im Viertel. Professoren, Rechtsanwälte, Gymnasiallehrer, Ärzte oder Regierungsbeamte waren in den Wohngebäuden mit den Postkennzeichen »Ost« und »Nordost« nur äußerst selten anzutreffen. Die soziale Segregation zwischen West und Ost erweist sich in diesem Fall vor allem als eine Segregation zwischen den »kleinen Leuten« – kleinbürgerlichen Geschäftsleuten und Dienstleistern, Handwerkern, Arbeitern und Heimarbeitern – auf der einen und dem akademisch gebildeten Bürgertum auf der anderen Seite. Das SAG-Programm eines gegenseitigen Kennenlernens von Akademikern und Arbeitern entsprach somit sehr genau der sozialen Spezifik von Berlin-Ost; hier lag der Ansatzpunkt für Siegmund-Schultzes Diagnose einer »kulturellen Segregation« zwischen gebildeten und unterbürgerlichen Schichten.

Das »dunkle Berlin«: Symbolische Topographien Nicht ohne Grund also wurde »das dunkle Stadtviertel um den Schlesischen Bahnhof«51 zur Wirkungsstätte der SAG. Es lohnt sich an dieser Stelle, der kulturellen Logik der Metapher vom »dunklen Berlin« nachzugehen. Zunächst verweist dieses Etikett – in einem sehr konkreten Sinne – auf die eng verschachtelte Bebauung in den Mietskasernengürteln des Nordens, Ostens und Südostens, die feuchten, vom Tageslicht kaum erhellten Erdgeschoss- oder Kellerwohnungen in den Hinterhöfen und die »Berliner Zimmer«, die über ein einziges schmales Fenster verfügten. Das Viertel um den Schlesischen Bahnhof war mit nur wenigen luftigen Platzanlagen ausgestattet; zwischen Weberwiese, Küstriner Platz, Andreasplatz und Stralauer Platz erstreckten sich schier endlose Hinterhofkomplexe. Auch Brachflächen, über die der Wind streichen konnte, waren dort – anders als nach

—————— 51 SAG an die Gemeindekörperschaften der Dorotheenstädtischen Gemeinde Berlin,

13. April 1912, in: EZA 51/S I b.

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1945 – selten. Ein weder namentlich gezeichnetes noch datiertes Manuskript aus den Akten der SAG entwirft ein beklemmendes Bild: »Berlin-Ost! Steinmassen, Lärm, schmale Kinder, schlechte Musik des Nachts aus den Kneipen, schwangere Frauen, die in Demonstrationszügen mitschreien, Kinder, die sich an einen hängen, das enge farblose Zimmer ohne Sonne, ohne Wind und ohne Himmel, der finstere Korridor, der nie gelüftet ist, in dem man von Schwindel gepackt wird, keine Farbe, keine Sonne, kein Licht. Im Sommer bei grosser Hitze tut sich die ganze Erbärmlichkeit der Großstadt kund, wenn die Dünste aus den Hinterhöfen aufsteigen, Hausbesuche, Winterhilfe! Ekel und Abscheu! Warum? Wozu?«52

Unverkennbar drückt sich in solchen Beschreibungen – und in der Metapher vom »dunklen Berlin« generell – aber auch eine symbolische Ordnung aus. Der Osten erschien als eine Gegend, in der Lärm, schlechte Musik und billige Kneipen die Abwesenheit von Bildung und »Zivilisation« im bürgerlichen Sinne belegten. Das Schlagwort von der »Dunkelheit« beschrieb damit auch einen kulturellen Zustand. Denn »dunkel« war nicht nur die Farbe des Elends, sondern auch des Lasters – das Dunkle war auch das anziehend und abstoßend Fremde,53 den Blicken und der Kontrolle Entzogene: das Nachtleben, das Verbrechen. »Je dunkler die Straßen, um so tiefer erscheint der Abstieg«, schreibt Joachim Schlör in seiner Studie über die Großstadtnacht zwischen 1840 und 1930.54 »Licht« hingegen war nicht nur mit Aufklärung und Zivilisation konnotiert, sondern auch mit der Kontrolle der Autoritäten.55 Der Berliner Osten zeichnete sich durch ein verdichtetes populärkulturelles Angebot aus: Kneipen, Lichtspieltheater und Varietés bestanden dort in hoher Zahl und ermöglichten ein schnell konsumierbares »Kiezvergnügen« im städtischen Nahraum.56 Über den lokalen Zusammenhang hinaus war vor allem das Rose-Theater bekannt, das 1906 als Nachfolgeeinrichtung des auf volkstümliche Stücke spezialisierten Ostend-Theaters eröffnet wurde. Eine zugkräftige Melange aus populärer Unterhaltung und anspruchsvollerem Schauspiel begründete den Erfolg des Hauses – unter an-

—————— 52 Manuskript »Ein Jahr SAG! Ein Jahr Berlin-Ost!« In: EZA 51/S II e 5. 53 Zu diesen Bedeutungsdimensionen des »Dunklen« – in Bezug auf die Rede vom »dunk-

len Afrika« – vgl. etwa Schultz, Wild, irre & rein, S. 49–51. 54 Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 65. 55 Dieser Zusammenhang ist z.B. an der Geschichte der Straßenbeleuchtung aufgezeigt

worden; vgl. Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 60–71; Schivelbusch, Lichtblicke, S. 81– 148. 56 Dazu ausführlich Hochmuth/Niedbalski, »Kiezvergnügen in der Metropole«.

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deren traten hier Asta Nielsen und Claire Waldoff auf.57 Ab 1929 befand sich im alten Ostbahnhof das bereits erwähnte Volksvarieté-Theater »Plaza« mit rund 3.000 Plätzen und einem Tanzsaal mit Restaurationsbetrieb.58 Auch die Lokale in Berlin-Ost entsprachen weitgehend dem sozialen Profil der Gegend. Zwar befand sich an der Ecke Niederbarnimstraße/ Frankfurter Allee – als selbstbewusst-ironisches Gegenstück zum berühmten Café des Westens am Kurfürstendamm – das »Café des Ostens«, das für ein tendenziell bürgerlich-intellektuelles Publikum die ganze Nacht über geöffnet war.59 In erster Linie aber war Berlin-Ost als Bezirk der »kleinen Leute« Standort unzähliger Eckkneipen, Destillen und anderer billiger Lokale. Viele von ihnen lagen im Souterrain der Mietshäuser; im Umfeld der Brauereien gab es zahlreiche Bier- und Gastgärten, in denen »Familien Kaffee kochen« konnten.60 Ein Mitarbeiter der SAG zählte 1925 allein auf der Fruchtstraße 63 »Schankstätten«. Mit der »Eldorado-Diele« in der Nr. 52 und einem weiteren Lokal in der Nr. 53 befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Settlement-Geschäftstelle zwei als »Animierkneipen« registrierte Etablissements.61 Insbesondere über die Gegend um den Schlesischen Bahnhof existierte eine populäre Mythologie, die nicht zuletzt der Abgrenzung eines »dunklen Berlin« gegen die umliegenden »anständigen« Quartiere diente. John Stave, der in den 1920er Jahren in der Zorndorfer Straße aufwuchs – und damit in einer Gegend nördlich der Frankfurter Allee, in der noch »die Arbeiterehre hochgehalten«62 worden sei, schreibt über die Bahnhofsgegend: »Das ist nicht die schönste Ecke des Berliner Ostens. […] Hier wohnen arme Schlucker in den erbärmlichsten Verhältnissen, Arbeitslose und Arbeitsscheue, billigste Nutten mit ihren entsprechenden Zuhältern, Kriminelle, kleine und mittelgroße Gangster.«63 Auf die Spitze getrieben wurde die

—————— 57 Zur Geschichte dieser Bühne vgl. Heinrichs, Das Rose-Theater; Baumgarten/Freydank,

Das Rose-Theater. 58 Vgl. Mende/Wernicke (Hg.), Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg, S. 300; Feustel, Ver-

schwundenes Friedrichshain, S. 48–50. 59 Vgl. eine Werbepostkarte des Cafés von 1907, abgebildet in: Kulturamt Friedrichshain

(Hg.), Historische Ansichten aus Friedrichshain, S. 29. 60 So erinnert sich z.B. Waldemar Brust an den Gastgarten der Löwenbrauerei in der

Landsberger Allee, die nach dem Ersten Weltkrieg zum Böhmischen Brauhaus gehörte. Brust, Kinder der Koppenstraße, S. 14–15. 61 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 109–110. 62 Stave, Stube und Küche, S. 18–19. 63 Stave, Stube und Küche, S. 7. Vgl. zu dieser Wahrnehmung des Viertels auch den Roman von Berstl, Berlin Schlesischer Bahnhof.

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Stigmatisierung des Viertels von den Nationalsozialisten, die in den späten 1920er Jahren ihren Kampf um politische Hegemonie im »roten Friedrichshain« aufnahmen. 1931 warnte der »Angriff« vor Berlin O 17: »Ein graues finsteres Häusermeer. Schlesischer Bahnhof. – Hier hat sich das Untermenschentum eingenistet. Kaschemmen, Verbrecher, Zuhälter, Ringvereine. Hier ist die Berliner Unterwelt.«64 Figuren wie der Serienmörder Carl Friedrich Wilhelm Großmann, der am Schlesischen Bahnhof einen kleinen Wurstverkauf betrieben und in den Jahren 1918 bis 1921 zahllose Frauen umgebracht und regelrecht zerstückelt hatte, schienen solche propagandistisch verzerrten Bilder des Viertels nur zu bestätigen.65 Dagegen hielt beispielsweise der Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Mielitz, der 1932 in einem Rundfunkvortrag den immer wieder bemühten Vergleich mit Chicago auf die Sensationslust der Medien zurückführte.66 So waren die Bilder über den Berliner Osten stets umstritten und erweisen sich nicht zuletzt als interessengeleitete Konstruktionen von Wirklichkeit. Der schlechte Ruf der Gegend um den Schlesischen Bahnhof prädestinierte diese als Schauplatz symbolischer und politischer Kämpfe. Im Saalbau Friedrichshain tobten politische Saalschlachten, und nicht zufällig übernahm Horst Wessel Ende 1928 gerade hier die Führung eines SATrupps – in einer Gegend, die für einen fanatischen jungen Nationalsozialisten, der sich bewähren wollte, eine besondere Herausforderung war.67 Schon für die ersten Mitarbeiter der SAG war dieser Osten eine echte Herausforderung gewesen; so waren in die Bilder vom Osten von vornherein

—————— 64 Der Angriff vom 25. 6. 1931, zit. nach Reschke, Der Kampf der Nationalsozialisten, S. 21. 65 Relativ bekannt ist die Auseinandersetzung Magnus Hirschfelds mit dem Fall Groß-

mann: Hirschfeld, Geschlecht und Verbrechen, S. 209–211; Maria Tatar bezeichnet Großmann als »the Bluebeard of the Silesian Railway«. Tatar, Lustmord, S. 42. Vgl. dazu auch den dokumentarischen Roman Bosetzky, Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof. 66 Vgl. die Notiz bei Hochmuth/Niedbalski, »Kiezvergnügen in der Metropole«, S. 120 (Anm. 51). 67 In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, dass der NS-Märtyrer Horst Wessel aus einem streng nationalistischen protestantischen Pfarrhaus in Bielefeld stammte. Zu Wessels Biographie vgl. Gailus, »Vom Feldgeistlichen des Ersten Weltkriegs zum politischen Prediger des Bürgerkriegs«; Siemens, Horst Wessel. In den Unterlagen der SAG wird Wessel als politischer Lokalmatador des Berliner Ostens nur einmal erwähnt, und zwar in den ungedruckten Lebenserinnerungen Siegmund-Schultzes, wo es ansonsten heißt, dass die SAGler »keinerlei Beziehungen zu den nationalsozialistischen Gruppen, die sich in Berlin bildeten«, gehabt hätten. Allerdings habe es zwei »notorische Nationalsozialisten gegeben, die in unseren Versammlungen zuweilen auftauchten«; mit einem von ihnen habe Siegmund-Schultze hin und wieder im SAG-Lokal Am Ostbahnhof Schach gespielt. EZA 626/270.

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Vorstellungen vom »Fronteinsatz« und einer »Bewährung in Feindesland« eingelassen. Das dunkle Berlin war ein Abenteuerspielplatz für bürgerliche Dissidenten, für »Pioniere« und »Kämpfer«. Aus der Perspektive der SAGMitarbeiter stand der Osten für all das, was vom bürgerlichen Westen verdrängt und vernachlässigt worden war, für die zu entdeckende und zu erobernde Schattenseite der Stadt und der wilhelminischen Gesellschaft überhaupt.68 Berlin-Ost nahm daher in den Berichten der bildungsbürgerlichen Reformer schon aus programmatischen Gründen eine ganz bestimmte Gestalt an. Denn um den richtigen Schauplatz für das grenzenüberschreitende Sozialprojekt der SAG abzugeben, musste es sicherlich als randständiger, heruntergekommener und »dunkler« imaginiert werden, als es wirklich war. Die Grundidee der SAG, auf die andere Seite der Stadt zu wechseln, um soziale und kulturelle Gegensätze zu überbrücken, erforderte ausgeprägte Gegensätze. So wurde der eher harmlose Berliner Osten im Kampf verschiedener politischer und reformerischer Diskurse zu einer Mördergrube aus Prostitution, Verbrechen und Elend erklärt. Eben dies aber machte ihn zur idealen Bühne für Philantropen, Studenten und Radikale, die »wirklichkeitshungrig« waren und sich ausprobieren mussten. Hierin liegt der eigentliche Sinn der Zuschreibungen vom »unzivilisierten Osten« und vom »dunklen Berlin«.69 Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel schrieb 1985 über Kreuzberg als »Porta Orientis« des damaligen Westberlin: »Osten – das ist ja nicht in erster Linie eine Himmelsrichtung oder ein bestimmtes Planquadrat. Der Osten der großen Städte ist eher ein traumatisierendes Gelände. Jede Stadt, die wachsen will, braucht für die Neuankömmlinge eine erste Anlegestelle.«70 Auch der »dunkle« Osten des wilhelminischen Berlin war eine Anlegestelle für Neuankömmlinge. So heißt es in einem Manuskript aus der SAG: »Es gab Zeiten, in denen das Haupteinfallstor des Ostens, nämlich der Schlesische Bahnhof, umgeben war von einem Wohnviertel, das tatsächlich als Einwandererviertel bezeichnet werden konnte. Unmittelbar am Schlesischen Bahnhof, vor allem aber an seiner Südseite lagen Dutzende von Hotels, die von den Ankömmlingen der Ostländer bewohnt wurden.

—————— 68 Ein Beleg dafür ist die metaphorische Verwendung des Begriffs »Osten« in der SAG

selbst. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der mittlerweile als Pfarrer in der Schweiz arbeitete, sprach z.B. von seiner Gemeinde als einer »Fremde« und einem »›Osten‹ des Glaubens«. Ernst Gaugler an Friedrich Siegmund-Schultze, 12. Oktober 1917, in: EZA 51/S II e 2. 69 Zur Imaginationsgeschichte des urbanen Ostens – vom Londoner East End bis zum Schlesischen Bahnhof – vgl. Wietschorke, »Go Down into the East End«. 70 Schlögel, »Kreuzberg, Porta Orientis«, S. 22.

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[…] Dieses engere Wohnviertel der Ausländer am Schlesischen Bahnhof reichte im Norden bis zum Grünen Weg und Küstriner Platz, im Osten bis zur Warschauerstrasse, im Süden bis zur Spree, im Westen bis zur Markusstrasse.«71 Darüber hinaus war dieser Osten auch eine Anlegestelle für die bürgerlichen Reformer, die von hier aus die Versöhnung zwischen den Klassen ins Werk setzen wollten. Aber er war noch weit mehr als das: Der Osten war für sie Metapher, Leitmotiv und Schauplatz einer grundsätzlichen Identitätssuche. Von dieser Suche handelt die vorliegende Arbeit.

—————— 71 Undatiertes Manuskript »A. Der Osten Berlins / 1. Abgrenzung«, S. 5–6, in: EZA

626/II 20,14. Zum Berliner Osten als Migrantenviertel vgl. Hochmuth/Niedbalski, »Kiezvergnügen in der Metropole«, S. 119–120, mit einigen Literaturverweisen.

2. Die Settlementbewegung in Berlin 1911–1914

Die Rezeption der Settlementbewegung in Deutschland Die Anfänge der internationalen Settlementbewegung liegen im Osten Londons. Im Anschluss an Ideen sozialer Idealisten wie Thomas Carlyle, John Ruskin, Arnold Toynbee und Edward Denison – und unter dem Eindruck von Elendsreportagen wie The Bitter Cry of Outcast London des Pfarrers Andrew Means – gründete Canon Samuel Augustus Barnett in seinem Pfarrbezirk in Whitechapel Ende 1884 das erste »Settlement of University Men in Great Towns«.1 Nach seinem kurz zuvor verstorbenen Mitstreiter nannte er es »Toynbee Hall«; ein eigenes, von den Universitäten in Oxford und Cambridge bezuschusstes großzügiges Gebäude nahm die ersten »Settler« aus bürgerlich-akademischen Kreisen auf. Durch Bildungsangebote verschiedener Art sowie »Boys’ Clubs« versuchten die Akademiker, »Unterricht, Erholung und Freude für die Bevölkerung der ärmeren Stadtteile Londons und anderer Großstädte zu verschaffen; Feststellungen über die Lage der Armen zu machen und Pläne zur Verbesserung ihres Lebens zu beraten und zu fördern«.2 Dieses Unternehmen fand schon im gleichen und im darauf folgenden Jahr Nachahmer. Oxford House und Rugby House waren allerdings stärker von religiös-missionarischen Zielsetzungen geprägt als Toynbee Hall.3 1889 gelangte die Settlementidee dann auch über den Ozean und entfaltete dort ihre eigentliche Erfolgsgeschichte:

—————— 1 Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 133; Weber, »Toynbee Hall in London«; Hegner, Die

Settlementbewegung, S. 26–71. Aus der umfangreichen englischsprachigen Literatur seien außerdem genannt: Briggs/Macartney (Hg.), Toynbee Hall; Meacham, Toynbee Hall and Social Reform. Eine kompakte ältere Überblicksdarstellung über die englischen Settlements, die bis in die Gegenwart hinein reicht, bietet Dornseifer, Die englische Residential Settlement-Bewegung. 2 So § 3 der Satzung von Toynbee Hall, zit. nach Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 133. 3 Ebd.

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Ausgehend von der Gründung des Settlement Hull House in Chicago durch Jane Addams und Ellen Gates Starr entstanden bis 1905 226 Niederlassungen in Arbeiter- und Armenvierteln,4 um 1920 waren es bereits 504 solcher Einrichtungen.5 Diese Bewegung war in den USA – anders als in England und später in Deutschland – eng mit der bürgerlichen Frauenbewegung verbunden und erhielt durch die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft eine ganz eigene Prägung.6 So zielten die meisten der nordamerikanischen Settlements nicht nur auf eine Überbrückung der sozialen Klassen, sondern auch auf die Integration von Migrantengruppen im lokalen Rahmen der »neighborhood«. Die Rezeptionsgeschichte des Settlementkonzepts im deutschen Kaiserreich ist vor allem im Kontext zweier Entwicklungen zu sehen. Zunächst einmal stellte sich nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 die soziale Frage aus bürgerlicher Perspektive mit einem neuen Akzent: Wie nämlich war die sozialdemokratische Bewegung, die sich auch und gerade in den Jahren des Vereins- und Versammlungsverbots zwischen 1878 und 1890 weiter im Alltag der Arbeiterschaft verankert hatte, wirksam einzudämmen? Parallel dazu machte sich in Teilen des deutschen Bildungsbürgertums ein schleichendes Krisenbewusstsein hinsichtlich des eigenen sozialen Status und – mehr noch – der eigenen kulturellen Deutungsmacht bemerkbar. Die traditionellen »Kulturträger« sahen sich gegenüber der rasant aufsteigenden »Geldaristokratie« im Hintertreffen; die soziale Öffnung der Universitäten, der Aufstieg der Ingenieure und technischen Angestellten und die sich allmählich etablierende Arbeiterbewegung bedrohten Status und symbolische Ordnungen der klassischen, humanistisch ausgebildeten Intelligenz.7 Die kulturkritische Diagnose einer Nivellierung und Rela-

—————— 4 Vgl. ebd., S. 136. Zu Hull House vgl. Alexander, »Hull House in Chicago«; Hegner, Die

Settlementbewegung, S. 71–114; Bryan/McCree/Davis, One Hundred Years at Hull House, sowie die anschauliche Skizze Gräser, »Demokratie versus Bürokratie«. Zur US-amerikanischen Settlementbewegung insgesamt vgl. Carson, Settlement Folk, das Handbuch Barbuto, American Settlement Houses; dazu die Bibliographie dies., The American Settlement Movement. 5 Vgl. Gräser, »Demokratie versus Bürokratie«, S. 117. 6 Vgl. dazu z.B. Lissak, Pluralism & Progressives, sowie Hegner, Die Settlementbewegung, S. 108–114. 7 Vgl. Ringer, Die Gelehrten; Vondung, »Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit«; vom Bruch, »Gesellschaftliche Rollen und politische Funktionen des Bildungsbürgertums«; Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«; Engelhardt, Bildungsbürgertum, S. 193–200; Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 285–290; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 730–750, und ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 294–

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tivierung kultureller Werte durch Unterhaltungs- und Massenkultur, Pressewesen und Kino – kurz: das schnelle und »billige« Vergnügen – war elementarer Bestandteil dieses Krisendiskurses.8 Die Settlementbewegung verband die beiden genannten Problemkomplexe. Sie war ebenso sehr ein genuin bildungsbürgerliches Unternehmen, in dem die Frage nach Status und gesellschaftlicher Rolle der bürgerlichen Intelligenz verhandelt wurde, wie auch ein Versuch, den Einfluss der Sozialdemokratie zurückzudrängen und eine persönliche »Brücke« zur Arbeiterschaft herzustellen. Durch diese Kombination erhielt die Rezeption der Settlementbewegung in Deutschland ihren spezifischen Charakter. In den 1880er Jahren erschienen in Deutschland die ersten Artikel und Berichte über die englischen Settlements, insbesondere über Toynbee Hall. Vermittler wie Wilhelm Bode oder Gerhart von Schulze-Gaevernitz, die intensiv die Entwicklung der englischen Sozialpolitik und Volksbildungsarbeit verfolgten,9 machten das Programm der University-Extension-Bewegung und der Settlements bekannt. Ein bevorzugter Publikationsort dafür war zunächst das vom »Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen« herausgegebene Blatt Der Arbeiterfreund.10 Weitere frühe Beiträge erschienen im Umkreis der Inneren Mission und des Evangelisch-Sozialen Kongresses,11 andere verstreut in Zeitschriften für Sozialreform und Sozialpolitik, Kunst und Bildungswesen.12 Nach 1900 wurde dann Alice Salomon zu einer der engagiertesten Vorkämpferinnen der Settlementidee, wobei ihre besondere Aufmerksamkeit der von Frauen getragenen Sozialarbeit galt.13 Zwei kleine Monographien von Adele Schreiber und Bruno

—————— 299. Instruktiv ist auch der Überblick über die Strukturbedingungen der »Krise der akademischen Bildung« bei Kampe, Studenten und »Judenfrage«, S. 52–70. 8 Vgl. dazu kritisch und differenzierend Blaschke, »Krise als gedachte Unordnung«; Fallstudien bietet der Sammelband Drehsen/Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Zur Kritik an der Massenkultur in diesem Zusammenhang vgl. Maase, »Krisenbewußtsein und Reformorientierung«. 9 Vgl. das umfassende Werk Schulze-Gaevernitz, Zum socialen Frieden. 10 Z.B. Bode, »Der Volkspalast in Ost-London«; ders., »Toynbee Hall«; Albert Kellner, »Ein Südlondoner Muster-Settlement«. 11 Z.B. N.N., »Toynbee Hall«, und Röthig, »Gründet Settlements!«. 12 Vgl. King, »University Settlements in England«, Gottheiner, »Englische Settlements«, Schreiber, »Englische Settlements«; Gladstone, »Settlements«; Ullmann, »Das Hamburger Volksheim«; Ohlert, »Woodbrooke«; Brinkmann, »Die soziale Wiedergeburt Englands«; Siegmund-Schultze, »Settlements«; ders., »Toynbee Hall«; Katscher, »Ein mustergiltiger ›Settlement‹». 13 Vgl. Salomon, »Die Teilnahme der Frauen an der Settlements-Bewegung«; dies., »Soziale Hilfsarbeit und soziale Frauenbildung«; dies., »Der Volkspalast in Ost-London«; Dies.,

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Rauecker erschienen 1904 und 1913,14 ein Konferenzbericht über Volksheime im Jahr 1907.15 Darüber hinaus veröffentlichten Walther Classen und Werner Picht zwei Bücher zum Thema, die noch lange Zeit als einschlägig galten.16 Und 1911, im Gründungsjahr der SAG, erschienen dann auch zwei Handbuchartikel zur Settlementbewegung – ein Zeichen dafür, dass die Idee endgültig in der deutschen Sozialreformdiskussion angekommen war.17 Der erste Versuch einer Settlementgründung in Deutschland war das 1901 ins Leben gerufene Hamburger Volksheim Walther Classens.18 Der Hamburger Industrielle und Senator Heinrich Traun hatte den jungen Theologen Classen 1899 auf eine Studienreise nach England geschickt, wo er Toynbee Hall besichtigte;19 im Anschluss an diese Reise verfasste Classen sein Buch über Sociales Rittertum in England.20 Mit der kräftigen finanziellen Unterstützung Trauns und in Zusammenarbeit mit dem Amtsrichter und späteren Direktor des Hamburger Jugendamtes Heinrich Hertz sowie dem Regierungsrat im Wohlfahrtsamt Ernst Jaques richtete Classen in den Hafenquartieren Hammerbrook, Billwerder Ausschlag und Rothenburgsort Settlements nach englischem Vorbild ein. Im ersten Geschäftsbericht des »Volksheims« heißt es: »In der zu gründenden Niederlassung wollte man eine Stätte schaffen, wo Angehörige der besser situierten Stände mit den Arbeitern freundschaftlich verkehren könnten; so würden beide Teile sich kennen und schätzen lernen.«21 Gerhard Günther, der bereits in den 1920er Jahren eine Geschichte des Volksheims vorgelegt hat, führt diese

—————— »Settlementsbewegung und Gruppen für soziale Hilfsarbeit«; dies., »Soziale Settlements«; dies., »Die englische Settlementsbewegung«. 14 Schreiber, Settlements; Rauecker, Die Settlementsbewegung. 15 Die Anbahnung und Pflege von Beziehungen zwischen den verschiedenen Volkskreisen. 16 Classen, Sociales Rittertum in England; Picht, Toynbee Hall. 17 Erdberg, »Settlements«; Schreiber, »Settlements«. 18 Vgl. dazu Günther, Das Hamburger Volksheim; Schwarz, Studien zur Geschichte des »Volksheimes« in Hamburg; Lees, City, Sin, and Social Reform, S. 255–286; Kietzell, »Das Hamburger Volksheim«; Jenkins, Provincial Modernity, S. 88–114; dies., »Social Patriotism and Left Liberalism«; Hurd, »Education, Morality, and the Politics of Class«; dies., Public Spheres, Public Mores, and Democracy. Das Archivmaterial des Hamburger Volksheims liegt im Hamburgischen Staatsarchiv unter der Signatur »614 – 1/27 Volksheim«. Zu Walther Classen (der für seinen Namen Walter die Schreibweise »Walther« bevorzugte) vgl. Hering (Hg.), Walter Classen, in dem auch Classens Autobiographie abgedruckt ist, sowie ders., »Christentum, Volkstum und Arbeiterjugend«. 19 Vgl. Günther, Das Hamburger Volksheim, S. 9; Jenkins, Provincial Modernity, S. 92–93. 20 Classen, Sociales Rittertum in England. 21 Bericht des Vereins Volksheim über das erste Geschäftsjahr 1901/1902, Hamburg 1902, S. 6.

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Initiative nicht zuletzt auf die »geschichtliche Struktur dieser eigenartigen Stadt« zurück: auf die durch geographische Lage und Handelsbeziehungen gegebene Nähe zu England sowie eine durch »Hamburgische Freigebigkeit« und »republikanischen Bürgersinn« bezeichnete Fürsorgetradition.22 Der starke Rückhalt in der Bürgerschaft ermöglichte denn auch den Bau eigener, teils stattlicher Volkshäuser – ein Ziel, das man in Berlin-Ost ebenfalls verfolgte, aber nie erreichte. In Wien hatte sich bereits im Februar 1901 – und damit noch vor der Gründung der »Gesellschaft Volksheim« in Hamburg – ein »Verein Settlement« unter dem Vorsitz von Marie Lang konstituiert; im Oktober desselben Jahres konnte in der Friedrich-Kaiser-Gasse im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring das Settlement eröffnet werden.23 Die Wiener Initiative bildet gegenüber dem Hamburger Volksheim und später auch der SAG insofern einen Sonderfall, als sie – hierin vergleichbar mit der US-amerikanischen Entwicklung – im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung entstanden ist und nahezu ausschließlich von Frauen getragen wurde. Mit Marie Lang und Else Federn, Helene und Grete Löhr, sowie Maria Lederer und später Marianne Pokorny waren Vertreterinnen verschiedener politischer und konfessioneller Richtungen, einige aus dem jüdischen Bürgertum, die prägenden Persönlichkeiten des Ottakringer Settlement.24 Einen Sonderfall bildet das Wiener Settlement auch insofern, als es nach seiner Zwangsauflösung im Jahr 1938 und dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet wurde und in Teilen noch bis 2003 Bestand hatte.25 Seine Reichweite in der ersten Gründungsphase blieb relativ gering, auch wenn Teile der Wiener Prominenz aus Wirtschaft und Politik für die Sache des Settlement gewonnen werden konnten. Walther Classen dagegen sorgte mit seinen geradezu ausufernden publizistischen Aktivitäten für eine relativ breite Wirkung seiner Volksheimidee. Die »Hamburger Richtung«, die mit ihm und dem Pastor Clemens Schultz in Verbindung gebracht wurde, war ein fester Begriff in der Jugenddiskussion des späten Kaiserreichs. Laut Werner Picht überschnitten sich im Hamburger Volksheim drei verschiedene Strömungen sozialen Engagements, die den drei Standorten

—————— 22 Günther, Das Hamburger Volksheim, S. 9–10. 23 Malleier, Das Ottakringer Settlement. Die Materialien des Settlement befinden sich heute als

»Privatarchiv Wiener Settlement« in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. 24 Malleier, Das Ottakringer Settlement, S. 33–44. 25 Ebd., S. 91–101.

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des Vereins entsprachen: Während das Volksheim im Hammerbrook in der durch Walther Classen repräsentierten pietistisch-protestantischen Tradition stehe, werde die Zweigstelle Barmbeck von einem liberalen »modernen Pfarrer« geleitet; Rothenburgsort hingegen sei von einem »sozialen Geist« ohne »spezifisch christlichen Beigeschmack« geprägt.26 Picht kritisierte die Hamburger Arbeit dafür, dass dort zuviel an »Organisation« und zuwenig an Bereitschaft vorhanden sei, tatsächlich im Arbeiterviertel zu wohnen.27 In diesem Sinne urteilt Marcus Gräser in seiner Studie Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, »daß hier kein wirkliches »Settlement« entstanden war, vielmehr deutsche Volksbildung angelsächsisch drapiert wurde«.28 Das war in Siegmund-Schultzes »Sozialer Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« von Beginn an anders: Denn die SAG definierte sich geradezu über die Ansiedlung Gebildeter im Berliner Osten und lehnte anfangs auch den Aufbau einer regelrechten »Organisation« ab. Damit entstand im Oktober 1911 am Schlesischen Bahnhof in Berlin die erste soziale Einrichtung, die nach Pichts Kriterien als echtes »Settlement« bezeichnet werden konnte. Auch Siegmund-Schultze selbst sah in seiner SAG die erste Unternehmung in Deutschland, »die auf den historischen Namen eines ›Settlement‹ berechtigten Anspruch machen kann«.29 Nimmt man ihn beim Wort, so hatte es von der Gründung von Toynbee Hall bis zur Gründung der SAG knapp 27 Jahre gedauert, bis die Settlementidee in Deutschland wirklich etabliert war. Dass die SAG und zum Teil auch das Hamburger Volksheim ganz wesentlich von Studenten getragen wurden, verweist auf eine eng verwandte Bewegung, die für die spezifische Vorgeschichte der deutschen Settlements bedeutsam ist. Bereits in den 1890er Jahren, im Kontext des »Neuen Kurses« in der Sozialpolitik,30 entstanden an einigen deutschen Universitäten Sozialwissenschaftliche Studentenvereinigungen, die sich an den laufenden Reformdebatten beteiligten.31 Ein Ergebnis dieses neuen sozialpolitischen

—————— 26 Picht, Toynbee Hall, S. 123. 27 Ebd., S. 120–129. Diesen Punkt hat Walther Classen im Übrigen selbst ähnlich gesehen,

vgl. Walther Classen an Friedrich Siegmund-Schultze, 26. Januar 1915, in: EZA 626/233. 28 Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, S. 186. 29 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 3–6, hier S. 4. 30 Vgl. dazu die kompakte Darstellung bei Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich, S. 138–147. 31 Vgl. Dowe, Auch Bildungsbürger, S. 134.

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Interesses war die Etablierung der Nationalökonomie als Studienfach32 – nicht von ungefähr waren später die Nationalökonomen auch unter den Mitarbeitern der SAG relativ stark vertreten. Nach 1900 waren es dann vor allem freistudentische Kreise, in denen Ansätze zu studentischer sozialer Arbeit entwickelt und weitergeführt wurden. 1909 schlossen sich mehrere lokale Organisationen zu einem »Verband der akademischen Arbeiterunterrichtskurse« zusammen; weitere Schwerpunkte dieses studentischen Engagements lagen in der Jugendgerichtshilfe und der Jugendarbeit generell.33 Zu nennen sind hier unter anderem die sozialen Studienkreise der DCSV, aus denen auch die erste Generation der SAG-Mitglieder rekrutiert wurde;34 die bei weitem bekannteste Initiative sozialstudentischer Arbeit in Deutschland ging allerdings von dem 1907 durch den katholischen Theologen Carl Sonnenschein in M. Gladbach gegründeten »Sekretariat Sozialer Studentenarbeit« aus.35 Dieses katholische Vorbild war auch in protestantischen Kreisen präsent. Von engagierten Pastoren wie Siegmund-Schultze wurde es als Skandal aufgefasst, dass die eigenen sozialstudentischen Bemühungen noch vergleichsweise in den Kinderschuhen steckten.36 Er selbst war einer der ersten protestantischen Sozialpädagogen, die sich explizit auf das Programm sozialer Studentenarbeit beriefen.37 Einzelne Mitarbeiter der SAG hatten

—————— 32 Ebd. Zum Zusammenhang von Nationalökonomie, sozialer Frage und zeitgenössischen

Wertedebatten vgl. Aldenhoff, »Nationalökonomie und Kulturwerte um 1900«. 33 Vgl. Dowe, Auch Bildungsbürger, S. 135, und Amelunxen, Studentische Jugendgerichtshilfe. Zur

sozialstudentischen Arbeit generell vgl. auch die Hinweise bei Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 52–56. 34 Zur Deutschen Christlichen Studentenvereinigung vgl. die beiden Gesamtdarstellungen Kupisch, Studenten entdecken die Bibel, und Hong, Die Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung. 35 Vgl. Dowe, Auch Bildungsbürger, S. 139–145; Thrasolt, Dr. Carl Sonnenschein, insbes. S. 106–156; Krebber, Carl Sonnenschein. Als zeitgenössischen Grundsatztext vgl. Sonnenschein, Die sozialstudentische Bewegung. Zur Rolle und Rezeption Sonnenscheins in der SAG vgl. Emil Feinendegen, »Das Sekretariat Sozialer Studentenarbeit in M.-Gladbach«, in: ASM 1. Jg., Heft 5/6 (August–September 1917), S. 87–90; vgl. auch den kurzen Nachruf »Dr. Carl Sonnenschein †«, in: NN 12. Jg. Heft 3 (März 1929), S. 56. 36 Vgl. die deutlichen Worte in Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 322. 37 Als grundlegenden Text von 1912 vgl. ebd.; als rückblickende Bilanz Ende der 1920er Jahre vgl. Siegmund-Schultze, »Sozialstudentische Arbeit«. Ein Bericht aus der SAG, der über den Kontakt zu anderen sozialstudentischen Kreisen Auskunft gibt, ist: Friedrich Bredt, »Der 1. soziale Studentenkursus in Bethel«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 17– 20.

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bei Sonnenschein gearbeitet, bevor sie nach Berlin-Ost kamen.38 Mit Gottfried Naumann, Paul Natorp und Friedrich Wilhelm Foerster setzten sich bald auch prominente Hochschullehrer für diese Idee ein; in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift veröffentlichten sie programmatische Aufsätze zum Thema.39 Wie schon in der katholischen Sozialarbeit wurde auch hier den Studenten eine besondere Rolle beim Aufbau der neuen »Volksgemeinschaft« zugewiesen. Der Straßburger Theologe Naumann schrieb 1917 dazu: »Die heimkehrenden Studenten aber, denen im Massensterben das Leben im Kampfe für des Vaterlandes Errettung erhalten blieb, und die einmal die geistigen Führer beim Aufbau des Neuen werden können, sind in erster Linie dazu berufen, sich für die innere Einheit unseres Volkes verantwortlich zu fühlen und für sie mit ihren Kräften sich einzusetzen. Die Bahn zu ihr wird aber nur durch die Beseitigung der bewußten und unbewußten Abschließung zwischen unserem arbeitenden Volke und den akademisch Gebildeten gebrochen werden. Die große Masse und die kleine Schar der Intellektuellen müssen zueinander.«40

In ähnlicher Weise äußerte sich 1921 der Philosoph und Pädagoge Natorp: »Geist und Arbeit, Arbeit und Geist müssen sich finden«.41 Als diejenigen, »die die Gegenwart verstehen und die Zukunft hören«,42 sollten gerade die Studenten zu Vermittlern zwischen den Klassen werden; als selbst noch Lernende sollten sie offen genug sein für den Aufbruch ins »unbekannte Land«, während sie doch gleichzeitig fest genug auf dem Boden der klassischen bürgerlichen Kultur standen. Bedenkt man im Hinblick auf die SAG Berlin-Ost die späte Übernahme einer Idee, die aus den 1880er Jahren stammte, und bedenkt man die sozialgeschichtliche Entwicklung, die seither stattgefunden hatte, so muss man Christoph Sachße sicherlich recht geben, wenn er in der SAG etwas

—————— 38 So etwa der Theologiestudent Richard Lau, vgl. Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum,

S. 183–184. 39 Vgl. Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/

Mai 1917), S. 6–11; Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1 (April 1921), S. 1–7; Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38. 40 Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 6–11, hier S. 6–7. 41 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1 (April 1921), S. 1–7, hier S. 5. 42 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 322.

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»eigentümlich Unzeitgemäßes« und die »Spätimplementation eines etwas angegrauten Reformkonzeptes« sieht.43 In der Tat war 1911 die Lage der Arbeiterschaft, gerade auch im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Integration, eine ungleich bessere als noch in den 1890er Jahren und erst recht vor 1890, als noch das Sozialistengesetz galt.44 In der Tat boten die Partei- und vor allem Bildungsarbeit der deutschen Sozialdemokratie Möglichkeiten der Emanzipation und kulturellen Vergesellschaftung, angesichts derer ein Unternehmen wie die SAG als marginal, wenn nicht gar überflüssig erscheinen musste. Und in der Tat griffen – wenn auch im denkbar bescheidenen Rahmen – die sozialpolitisch installierten Sicherungssysteme der wilhelminischen Gesellschaft zumindest soweit, dass ein mit den Verhältnissen im viktorianischen England vergleichbarer Pauperisierungsprozess ausblieb und der Gedanke einer Überbrückung zwischen »arm« und »reich« nicht annähernd so wirkmächtig werden konnte wie dort.45 Auch Marcus Gräser hat der SAG eine bis zur »Belanglosigkeit« schwache Position innerhalb der bürgerlichen Sozialreform ihrer Zeit bescheinigt, deren mainstream das Berliner Settlement weitgehend ignoriert habe.46 Ihre Bedeutung als paradigmatisches Phänomen der deutschen Sozialgeschichte gewinnt die SAG allerdings nicht aus ihrer tatsächlichen sozialpolitischen Reichweite, sondern aus ihrer Funktion als soziales Labor, in dem sich reformorientierte Bildungsbürger um eine kulturelle Erneuerung der Gesamtgesellschaft und eine Neukonzeption ihrer eigenen gesellschaftlichen Rolle bemühten. So verstanden, dokumentiert die SAG vor allem eine bildungsbürgerliche Erfahrungs- und Identitätssuche: eine Suche nach neuen Legitimationsfiguren, neuen Modellen von »Führung«, einem »sozialen Abenteuer« und dem befreienden Eintauchen in eine als authentisch erfahrene Gegenwelt. In all diesen Punkten trägt die SAG ausgesprochen moderne Züge, und in dieser Hinsicht wäre sie ohne die Kulturreformbewegungen der Jahrhundertwende nicht denkbar. Daher verstehe ich die SAG nicht nur als ein Phänomen der bürgerlichen Sozialreform im engeren Sinne, sondern vor allem als eines der sozialpädagogischen Bewegung und »Gebildetenrevolte« nach 1900 und einer protestantisch geprägten, genuin bildungsbür-

—————— 43 Sachße, »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 46 und 48. 44 Zur Lage der Arbeiterschaft vgl. z.B. den weit gespannten Überblick von Brock, Der

schwierige Weg in die Moderne. 45 Vgl. die Hinweise bei Sachße, »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 46–47. 46 Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, S. 189.

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gerlichen Alternativkultur.47 Eben dadurch wird sie zu einem echten, in sich widersprüchlichen und deshalb für die »klassische Moderne« höchst signifikanten Übergangsphänomen, das aus der Perspektive der Sozialpolitik- und Sozialarbeitsgeschichte allein nicht angemessen zu erfassen ist.

Friedrich Siegmund-Schultze und sein soziales Experiment Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost wurde von Friedrich Siegmund-Schultze nahezu im Alleingang gegründet.48 Nach dem Studium in Tübingen, Breslau, Halle, Marburg und Berlin und einem Intermezzo als Hauslehrer in Pommern49 kam der begabte Theologe 1908 an das Berliner Domkandidatenstift, wo er dem damaligen Oberhofprediger Ernst von Dryander auffiel50 und sich auch mit dem damaligen Generalsuperintendenten von Berlin, Friedrich Lahusen, anfreundete. Im Folgenden zeichnete sich eine steile kirchliche Karriere ab: Nach Abschluss seiner Kandidatenzeit als Prediger wurde Siegmund-Schultze an die Hofkirche des Kaisers

—————— 47 Einen vorzüglichen Überblick über dieses Spektrum bietet Kerbs/Reulecke (Hg.), Hand-

buch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Einen guten Abriss zu den sozialpädagogischen Traditionslinien, in denen die Arbeit der SAG stand, liefert darüber hinaus Wendt, Geschichte der sozialen Arbeit, S. 216–241. Als Überblicksdarstellung zur Geschichte bürgerlicher Alternativbewegungen in Deutschland vgl. Conti, Abschied vom Bürgertum. 48 Zu Biographie und Werk Siegmund-Schultzes vgl. Conway, »Friedrich SiegmundSchultze«; Stache (Bearb.), Friedrich Siegmund-Schultze; Rehbein, »Friedrich Wilhelm Siegmund-Schultze«; Bornemann, Albert Schweitzer und Friedrich Siegmund-Schultze, S. 64–106; Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, Krebs, »Friedrich Siegmund-Schultze«, sowie den Anhang in: Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision, S. 390–422. Als knapper Überblick mit weiteren Literaturhinweisen Wietschorke, »Friedrich Siegmund-Schultze«. 49 Davon berichtet seine Tochter, vgl. Hesse, »Der Vater«, S. 396. 50 Vgl. das Zeugnis, das Dryander dem Kandidaten ausstellte, abgedruckt bei Rehbein, »Der Lehrer«, S. 413–414. Laut Grotefeld und Krebs war Dryander sogar der Taufpate Siegmund-Schultzes, vgl. Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, S. 23 (Anm. 4), und Krebs, »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 592. Andererseits findet sich in der Autobiographie Dryanders keine einzige Erwähnung Siegmund-Schultzes, vgl. Dryander, Erinnerungen aus meinem Leben; auch in der opulenten Dryander-Biographie von Bernd Andresen taucht er nicht etwa als Patenkind, sondern lediglich im Zusammenhang der deutschenglischen Friedensarbeit der Kirchen mit auf, vgl. Andresen, Ernst von Dryander. Gegen eine Patenschaft Dryanders spricht m.E. auch der offizielle Ton in den an ihn gerichteten Briefen Siegmund-Schultzes, vgl. z.B. Friedrich Siegmund-Schultze an Ernst von Dryander, 8. April 1914, in: EZA 51/S II c 1,2.

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in Potsdam-Sanssouci berufen.51 Doch seine eigentlichen Pläne sahen anders aus. Seit einer Studienreise nach England im Frühjahr 1908, auf der er die sozialen Verhältnisse im Londoner East End und das dort ansässige Settlement Toynbee Hall kennengelernt hatte,52 suchte er nach einer Möglichkeit, auch in Berlin eine soziale Initiative ins Leben zu rufen. Das alte Scheunenviertel erschien ihm als der geeignete Ort dafür. Sein Vorhaben, sich dort »an einer Straßenecke […] in einem aufgekauften Varieté festzusetzen und dann von dieser Zentralstätte aus mit anderen die Arbeit aufzunehmen«,53 scheiterte an den fehlenden finanziellen Mitteln, nach anderen Angaben Siegmund-Schultzes aber auch daran, dass ihm »das dort vorhandene Arbeitervolk zu alt zu sein« schien, während er in erster Linie an Jugendarbeit dachte.54 Wenig später wurde das Scheunenviertel abgerissen und »verstreute«, so Siegmund-Schultze, »seine dunklen Elemente wie eine Missionsgemeinde des Bösen über den Norden und Osten Berlins«.55 Vor dem Hintergrund der Londoner Eindrücke scheint sich dann der Entschluss gefestigt zu haben, eine ähnliche Einrichtung auch in Berlin ins Leben zu rufen. Dazu kam die Potsdamer Erfahrung, »dass den Gebildeten, und zwar gerade denen der höchsten Gesellschaftsschichten, das soziale Verantwortlichkeitsgefühl meist völlig fehlte«.56 Von Beginn an räumte Siegmund-Schultze diesem Punkt in seinen programmatischen Texten einen zentralen Stellenwert ein: Nicht nur die soziale Hilfeleistung selbst, sondern auch die Erziehung bürgerlicher Kreise zum »sozialen Verantwortlichkeitsgefühl« sei ein wesentliches Motiv für die Gründung der SAG gewesen. Damit deutet sich an, was später zu einem Leitmotiv in Berlin-

—————— 51 Wie Siegmund-Schultze in den Aufzeichnungen zu seiner Autobiographie berichtet, kam

der Kaiser »aufgrund einer Laune oder vielmehr aufgrund einer mißverständlichen Äußerung des Hofpredigers Wendland« nicht zu den Gottesdiensten in Sanssouci. Die Kaiserin hingegen sei mit ihren Töchtern, Söhnen und Schwiegertöchtern oft dort gewesen, vgl. EZA 626/268. 52 Vgl. dazu Lindner, »Vom Besucher zum Nachbarn«; des Weiteren Delfs, »Der Weg der ökumenischen Freundschaftsarbeit«, S. 45, und den Bericht von Maas, Friedrich SiegmundSchultze, S. 3–4. 53 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 286. 54 Friedrich Siegmund-Schultze an Konsistorialrat von Rhoden, 18. Juli 1911, in: EZA 51/S I a. 55 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 286. Der von Siegmund-Schultze angedeutete zeitliche Verlauf ist nicht ganz logisch, da Siegmund-Schultze 1908 ans Berliner Domkandidatenstift kam, der zentrale Bereich des Scheunenviertels jedoch schon bei der Anlage des Bülowplatzes in den Jahren 1906/07 abgerissen wurde. Vgl. Mende/ Wernicke (Hg.), Berlin Mitte, S. 529. 56 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 288.

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Ost werden sollte: das Settlement als Ort, an dem nicht nur Hilfe geleistet wird, sondern an dem vor allem die bürgerlichen »Siedler« ihren Horizont erweitern sollen. Und so kehrte Siegmund-Schultze der aussichtsreichen Stelle an der Friedenskirche in Sanssouci den Rücken. Ganz offen formulierte er im Juli 1911 in einem Brief an Konsistorialrat von Rhoden: »Die Hofluft bedrückt mich, die Potsdamer Damenverehrung […] stört mich und meine eigne Unfertigkeit im Geben, das Tag für Tag verlangt wird, erschreckt mich, wenn ich doch so gerne noch nehmen möchte. […] Mehr als 1 ½ Flitterjahre möchte ich an dieser verwöhnten Stelle nicht zubringen.«57 Dabei hatte sich Siegmund-Schultze in Potsdam durchaus wohl gefühlt und »mit größter Freude gepredigt«; rückblickend schrieb er, er habe dort »wirklich den honeymoon meines Lebens, auch in amtlicher Hinsicht, zugebracht«.58 Bereits vor seiner Kündigung in Sanssouci hatte Siegmund-Schultze erste Vorbereitungen für die Gründung eines Settlement nach englischem Vorbild getroffen.59 In einem Rundbrief vom Frühjahr 1911 skizzierte er sein Vorhaben und warb erste Mitarbeiter an: »Wie bereits gelegentlich auf Versammlungen des DCSV angekündigt worden ist, werden einige entdeckungsfrohe junge Leute sich vom nächsten Wintersemester ab in einem Hause im Osten von Berlin zusammenfinden, um dort der umwohnenden armen Bevölkerung Freundschaft und Hilfe anzubieten und im Verkehr mit Arbeitern und Berliner Jungens zu lernen […]. Als Mitarbeiter sind erwünscht social interessierte Studenten und ältere Männer, die gern einen Teil ihrer Zeit […] für praktische Liebesarbeit hingeben möchten. Billige Wohnung und Pension sind für einige vorhanden; wissenschaftliche Übungen, speciell auf socialem und theologischem Gebiet, werden voraussichtlich eingerichtet werden.«60

Über die organisatorischen Grundstrukturen hinaus gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine programmatische Leitlinie der SAG. Die Initiative Siegmund-Schultzes war zunächst noch als ein offenes Experiment angelegt, dessen konkrete Formen sich erst im Laufe der Zeit herausbilden sollten. Noch kurz vor seiner eigenen Übersiedlung in den Berliner Osten schrieb der Theologe in einem Rundbrief an die künftigen Mitarbeiter, »dass es ein

—————— 57 Friedrich Siegmund-Schultze an Konsistorialrat von Rhoden, 18. Juli 1911, in: EZA

51/S I a. 58 Aufzeichnungen zur Autobiographie, in: EZA 626/268. 59 Zur Gründungsphase der SAG vgl. die Darstellungen Lindner, »Die Anfänge der Sozia-

len Arbeitsgemeinschaft«; Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 24–33; Weyer, Kirche im Arbeiterviertel, S. 19–22. 60 Undatierter Rundbrief, in: EZA 51/S I a.

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Unfug sein würde, die Einzelheiten unserer Arbeit schon jetzt zu bestimmen. […] Ich könnte ein ganz bestimmtes Programm aufstellen, wie ich auch gelegentlich schon getan habe; aber ich würde uns damit etwas von der Freiheit und dem Pfadfindermut rauben, die zu unserer Arbeit gehören.«61 So wurde ein Vorhaben ins Werk gesetzt, über das zunächst nicht viel mehr feststand, als dass »alle Nöte, die uns irgendwie entgegentreten, uns zu irgendeiner Arbeit drängen sollen«.62 In der SAG war Siegmund-Schultze die unumstrittene Führungsfigur. Von ihm war nicht nur die Initiative zu ihrer Gründung ausgegangen, sondern er hielt auch bis zu seinem Exil ab 1933 alle Fäden, die in Berlin-Ost zusammenliefen, fest in der Hand. Im Settlement scheint nahezu nichts ohne seine Kenntnis geschehen zu sein;63 den überwiegenden Teil der SAG-Korrespondenz führte er selbst. Seine persönlichen Kontakte zu einer unüberschaubaren Zahl von Theologen und Kirchenfunktionären, Sozialreformern und Politikern trugen ganz wesentlich zur erfolgreichen Entwicklung der SAG bei – auf diese Weise waren weite Teile ihres personellen und institutionellen Netzwerks aber auch unmittelbar von der Person des Leiters abhängig. Auf zahllosen Vortragsreisen, die SiegmundSchultze quer durch ganz Deutschland und häufig auch ins Ausland führten,64 wurden alte Kontakte gepflegt und neue geknüpft. Als begnadeter »networker« machte er unablässig Werbung für seine sozialen Ideen, sicherte den Spendenfluss für die soziale Arbeit und gewann außerdem ständig neue Mitarbeiter für Berlin-Ost.65 Umgekehrt brachte er durch seine Reisen und Vorträge in vielen Städten soziale Initiativen im Sinne der SAG auf den Weg; sie sollten, wie Siegmund-Schultze 1927 schrieb, »das Land mit einem Netz […] überspinnen, das zu weben uns vorschwebte, als wir

—————— 61 Rundschreiben an die Mitarbeiter vom 25. August 1911, in: EZA 51/S I a. 62 Undatierter Rundbrief, in: EZA 51/ S I a. 63 Dies lässt sich u.a. an zahlreichen Schreiben der im Büro der SAG tätigen Mitarbeiter

ablesen, in denen auch kleinere bis kleinste Entscheidungen von einer Rücksprache mit Siegmund-Schultze abhängig gemacht werden. Auf vielen Dokumenten ist außerdem vermerkt, dass die betreffende Sache dem Leiter der SAG vorzulegen sei; auch dabei geht es oft um Detailfragen. 64 Allein die Einladungen, Berichte und begleitenden Briefwechsel zu den Vortragsreisen Siegmund-Schultzes füllen im Archivbestand der SAG neun Aktenbände. Vgl. EZA 51/ S II d 1–9. 65 Pastor Th. Schmidt bescheinigte ihm denn auch ein »Charisma der Pflege der Freundschaft nach den verschiedensten Seiten hin«, vgl. Th. Schmidt an Friedrich SiegmundSchultze, 13. August 1931, in: EZA 51/S II e 7.

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nach Berlin-Ost gingen«.66 All diese Aktivitäten führten im Herbst 1922 zusammen mit seinem schier unglaublichen Arbeitspensum am Schreibtisch zum gesundheitlichen Zusammenbruch Siegmund-Schultzes, von dem er sich erst wieder im Frühjahr 1923 erholte.67 Der Gründer und Leiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft scheint eine durchaus charismatische Persönlichkeit gewesen zu sein. Zumindest deuten zahllose Zuschriften – vor allem von Frauen – darauf hin, dass er durch eine spezifische Mischung aus sachlicher Autorität, persönlicher Liebenswürdigkeit und religiösem Pathos zu beeindrucken verstand. Minne Müller-Liebenwalde begrüßt ihn in einem Brief mit »Sehr verehrter, lieber Führer« und schließt mit den Worten: »Der lichtvollste Gedanke sind Sie, Ihre so liebe Frau und die Kinder. Und ich danke Ihnen so innig wohl alle Tage dafür.«68 Jenny C.H. Schmuker charakterisiert ihn 1916 so: »Ein guter Mensch, in dessen Nähe man Hütten bauen möchte« – und sie fügt die bemerkenswerte Auskunft hinzu: Ich könnte gut auf einem Sofa oder in der Badewanne schlafen, wenn ich in Ihrer Nähe sein könnte.«69 Ina Post schließlich schreibt 1921 an Siegmund-Schultze: »Ich habe schon lange, lange die große Sehnsucht Sie einmal zu sprechen und wenn es nur für ganz kurz sein könnte. […] Ich habe schon oft Ihre religiöse Kraft gespürt, und glaube bestimmt, wenn es Gottes Wille ist, wird er mich jetzt zu Ihnen führen.«70 Gleichwohl war die Zusammenarbeit mit dem Leiter der SAG keineswegs immer unproblematisch; sein Charisma konnte auch polarisieren. So klagte eine Mitarbeiterin des zur SAG gehörenden Ulmenhofs in Wilhelmshagen: »Ich hätte nicht geglaubt, dass Siegmund Schultze [sic] so mit seinen Untergebenen verfahren würde! Dieser kalte, herrische Ton, die scharfen Augen, welche sich in die meinen bohrten! Mir schien es, als ob ich vor dem Untersuchungsrichter stehe!«71 Carl Mennicke, der sich im

—————— 66 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in:

NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 1–7, hier: S. 6. 67 Das geht vielfach aus den Korrespondenzen der Zeit hervor, vgl. als ein Beispiel unter

vielen: Friedrich Siegmund-Schultze an Wilhelm Spiecker, 27. März 1923, in: EZA 51/S II c 8,2. 68 Minne Müller-Liebenwalde an Friedrich Siegmund-Schultze, undat. (ca. 1914), in: EZA 51/S II 29,1. 69 Jenny C. H. Schmuker an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. Oktober 1916, in: EZA 51/S II c 29,2. 70 Ina Post an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. November 1921, in: EZA 51/S II c 7,2. 71 Frieda Vegehahn an Wenzel Holek, 23. März 1924, in: EZA 51/S II c 15.

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Sommer 1923 aufgrund persönlicher und politischer Differenzen zwischen ihm und Siegmund-Schultze von der SAG trennte,72 zitiert aus dem Brief eines ungenannt bleibenden Autors (oder einer Autorin): »Uns, die wir […] in die SAG kamen, ging es allen so, daß wir bei der ersten Begegnung mit Siegmund Schulze [sic] deutlich merkten: der Mann ist eitel und irgendetwas an ihm ist unecht. So waren wir von vorn herein gegen eine ihm gegenüber unangebrachte schwärmerische Verehrung und Überschätzung geschützt.«73 Insgesamt ergibt sich das Bild eines unermüdlich arbeitenden und autoritär auftretenden Patriarchen, der kaum fähig war, Aufgaben zu delegieren und die Kontrolle über einzelne Vorgänge abzugeben, eines Mannes, der die SAG bis zuletzt als sein persönliches Werk betrachtete und ihre programmatischen Richtlinien nahezu im Alleingang bestimmte. Für das Verständnis der Entwicklung der SAG ist dieser Blick auf die Person Siegmund-Schultzes insofern notwendig, als sich sein autokratischer Führungsstil direkt auf die Wandlungsfähigkeit des Settlement auswirkte. So blieb die interne Dynamik des Vereins in den 1920er Jahren, als der Mitarbeiterstamm fast vollständig ausgetauscht war, durch die Person des Leiters in gewisser Weise blockiert. Trotz diverser Kurswechsel und Lernprozesse blieb die SAG auf gewisse Leitlinien fixiert, mit denen SiegmundSchultze bereits 1911 angetreten war.74 Gleichzeitig blieben seine persönliche Arbeitsleistung und intellektuelle Offenheit bis zuletzt enorm, seine Aktivitäten auf den Gebieten kirchlichen, ökumenischen und pazifistischen Engagements, praktischer sozialpädagogischer Arbeit und wissenschaftlicher Jugendkunde waren ungeheuer weit gespannt.75 Die SAG, deren Geschichte im Folgenden erzählt wird, ist dabei immer sein eigentliches Lebenswerk geblieben.

—————— 72 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Mennicke und Siegmund-Schultze in: EZA 51/S II

e 4. 73 Carl Mennicke an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. Juli 1923, in: EZA 51/S II e 4. 74 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Artikel Siegmund-Schultzes aus dem Jahr

1952, der erkennen lässt, wie wenig der Gründer der SAG seine grundsätzliche Auffassung der Klassengesellschaft und der zu ihrer Überwindung notwendigen Integrationskonzepte über 40 Jahre hinweg verändert hat: Siegmund-Schultze, »Die Eingliederung der Industriearbeiterschaft«. 75 Für einen Überblick über die Aktivitäten Siegmund-Schultzes vgl. die Sammelbände Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision; Tenorth u.a. (Hg.), Friedrich Siegmund-Schultze; Bornemann (Hg.), Lebendige Ökumene; Delfs (Hg.), Aktiver Friede.

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Das »Convikt«: Erste Jahre in der Friedenstraße In den knapp drei Jahren von der Gründung der SAG im Oktober 1911 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erreichten viele Dutzende Zuschriften von Studenten aus verschiedenen deutschen Universitätsstädten den Schreibtisch Siegmund-Schultzes. Die meisten dieser Briefe folgten dem gleichen Muster: Studenten hatten durch Vorträge über soziale Arbeit oder persönliche Kontakte von dem Experiment im Berliner Osten gehört und wollten sich über die Möglichkeiten einer Mitarbeit informieren.76 Hans Einwächter aus Tübingen schrieb im Juli 1913: »Ich komme im Wintersemester nach Berlin und möchte gern an Ihrer ›Sozialen Arbeitsgemeinschaft‹ mitarbeiten. Bei Lau und Engelbert habe ich mich, soweit sie es wußten, darüber genauer erkundigt.«77 Manche Anfragen gingen auch stellvertretend für Bekannte ein: »Haben Sie für das Sommersemester noch ein Zimmer frei in Ihrer Arbeitsgemeinschaft? Ein junger Freund, Student der Nationalökonomie, Wilhelm Adickes, möchte im Sommer nach Berlin. Er hat reges Interesse für soziale Arbeit und ein warmes Herz.«78 Das wichtigste Netzwerk, über das sich der »SAG-Gedanke« verbreitete, war die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV), in der SiegmundSchultze während seines Studiums Mitglied gewesen war. Später übernahm er dort den Posten des Ausländersekretärs und leitete im Berliner Verein Bibelkreise.79 Insbesondere die Tübinger DCSV spielte bei der Rekrutierung der ersten Mitarbeiter eine wichtige Rolle. So kamen mehrere Studenten aus dem dortigen »sozialen Studienkreis«, in dem Siegmund-Schultze als Gastredner vorgetragen und seine Überlegungen zu christlicher Sozialethik und praktischer sozialer Arbeit vorgestellt hatte.80 Auch die DCSV in Halle und Marburg, wo ebenfalls soziale Studienkreise bestanden, waren Knotenpunkte im deutschlandweit entstehenden SAG-Netzwerk. Vermit-

—————— 76 Vgl. die Korrespondenzen in EZA 51/S II c 20, c 21 und c 22. 77 Hans Einwächter an Friedrich Siegmund-Schultze, in: EZA 51/S II c 21. Ganz ähnlich

z.B. Dirk Krafft an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 21. 78 Reinhold Schairer an Friedrich Siegmund-Schultze, 11. Februar 1913, in: EZA 51/S II c

20. 79 Vgl. Hong, Die Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung, S. 135–136. Für die Bedeutung

der DCSV für die Entstehung der SAG spricht, dass dieser in der genannten Arbeit ein eigener Abschnitt gewidmet wurde, vgl. ebd., S. 133–138. 80 Von der Universität Tübingen kamen in den ersten Jahren Fritz André, Friedrich Bredt, Hans Einwächter, Hans Engelbert, Hermann Gramm, Oskar von Unruh, Kurt Wagner und Harald Ziese nach Berlin. Vgl. die Listen und Korrespondenzen in: EZA 51/S II c 21.

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telt über die internationalen Kontakte des SAG-Leiters kamen schließlich sogar Mitarbeiter aus dem Ausland nach Berlin-Ost. Über die ersten Mitarbeiter, die im Oktober 1911 in der Friedenstraße angekommen waren, hielt Siegmund-Schultze in einem rückblickenden Bericht fest: »Die drei ersten Studenten, die sich für Berlin-Ost meldeten, waren Theologen und Mitglieder der Christlichen Studentenvereinigung. Sie waren indessen durchaus nicht die üblichen, theologisch abgestempelten, seelisch gleichgeschalteten Typen. Oskar von Unruh stellte als Sohn des Kommandeurs der Liegnitzer Königsgrenadiere ohnehin einen gewissen Fremdtypus unter den Theologen dar. Armin Kühn war als Thüringer Landwirtssohn und Naturfreund ein ganz eigenartiger Gast des Berliner Ostens. Eduard Bruhn, Schleswig-Holsteiner Pfarrerssohn, wurde von seinem starken Wissenstrieb und seinem Herzen getrieben.«81 In den ersten beiden Jahren blieb die Zahl der festen Mitarbeiter noch sehr überschaubar, wobei aber die Zahl der neu eintreffenden Mitarbeiter von Semester zu Semester stieg.82 Zum Wintersemester 1913/14 traten dann zehn neue Studenten in die SAG ein. Darunter waren mit Friedrich Bredt, Dirk Krafft, Harald Ziese, Rudolf Haberkorn, Hermann Gramm und Hellmut Hotop einige der wichtigsten Mitarbeiter aus der frühen Phase des Settlement83 – Angehörige der ersten SAG-Generation, auf die man sich später immer wieder berief, um an den ursprünglichen »SAG-Geist« zu erinnern. In Berlin-Ost kamen nun Studenten aus DCSV und Wandervogel, Wingolf und Schwarzburgbund zusammen, was nach Siegmund-Schultze nicht selten auch zu kleineren Spannungen führte.84 Besonders die Mitarbeiter, die im Wandervogel aktiv gewesen waren, erschlossen, so Siegmund-Schultze,

—————— 81 Undatiertes Manuskript in: EZA 626/II 29,19. 82 Vgl. die im Winter 1913/14 erstellte Liste der männlichen Mitarbeiter in EZA 51/S II c

27,1. In dieser Liste ist festgehalten, in welchem Zeitraum die als residents geführten Mitarbeiter in Berlin-Ost waren. Demnach sind neu in die SAG eingetreten: WS 1911/12 = 3 Mitarbeiter; SS 1912 = 3; WS 1912/13 = 5; SS 1913 = 7; WS 1913/14 = 10. Die Angaben einer weiteren Mitarbeiterliste weichen in Details davon ab; dort sind folgende Gesamtzahlen der residents pro Semester verzeichnet, die die zahlenmäßige Entwicklung des inneren Mitarbeiterkreises klar machen: WS 1911/12 = 3 Mitarbeiter; SS 1912= 7; WS 1912/13 = 7; SS 1913 = 9; WS 1913/14 = 18; SS 1914 = 15; WS 1914/15 = 16; SS 1915 = 7; WS 1915/16 = 13; SS 1916 = 5; WS 1916/17 = 12; SS 1917 = 11; WS 1917/18 = 14; SS 1918 = 16; WS 1918/19 = 37; SS 1919 = 29; WS 1919/20 = 35; SS 1920 = 35; WS 1920/21 = 37. Liste in: EZA 51/S II f 1. 83 Liste der männlichen Mitarbeiter, in: EZA 51/S II c 27,1. Vgl. auch die Korrespondenzen in: EZA 51/S II c 21. 84 Undatiertes Manuskript in: EZA 626/II 29,19.

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der SAG »neue Kreise« und neue pädagogische Methoden, wie etwa ein im Sommer 1913 in die SAG eingetretenen Literaturstudent, »der Schauspieler werden wollte und diesen Beruf als einen Beitrag zur sozialen Volksbildung auffasste«.85 Von Beginn an wurden in der SAG nach dem Vorbild der englischen Settlements residents und non-residents unterschieden. Während die ersteren vor Ort im Arbeiterviertel wohnten, kamen die non-residents meist aus anderen Teilen der Stadt in den Berliner Osten und arbeiteten dort nur an bestimmten Wochentagen mit. Sie beteiligten sich zwar an einzelnen Arbeitszweigen, nahmen aber in der Regel nicht an den internen Veranstaltungen des engeren Mitarbeiterkreises teil. In einer im Wintersemester 1913/14 angefertigten Mitarbeiterliste der Sozialen Arbeitsgemeinschaft sind 36 residents mit ihren Herkunftsadressen verzeichnet. Dabei handelte es sich fast durchweg um Studenten, darunter 28 Männer und acht Frauen. Die geographische Herkunft war relativ breit gestreut: Aus Berlin selbst stammten nur sechs Mitarbeiter: Kurt Eggers, Theodor Kamlah, Hellmut Hotop, Minne Müller-Liebenwalde, Hedwig Penzig und Margarete Schnaubert. Aus Potsdam kamen Hermann Gramm, Paul Wohlgemuth und Richard Schmidt-Schwarzenberg. Drei Studenten – Friedrich Bredt, Dirk Krafft und Erna Hackenberg – kamen aus Barmen, zwei weitere – Edwin Schultze und Rudolf Kuhlo – aus Halle nach Berlin-Ost. Zwei Geschwister – Armin und Ella Kühn stammten aus Crölpa bei Bad Kösen. Die restlichen Mitarbeiter waren in ganz unterschiedlichen Gegenden Deutschlands aufgewachsen, vier von ihnen kamen aus dem Ausland. In der Liste sind genannt: Oskar von Unruh (Kiel), Eduard Bruhn (Schlamersdorf bei Bad Segeberg), Johannes Spiecker (Essen), Heinrich Dinkelmann (Morkau bei Gollantsch/Posen), Johannes Ehrich (Rehfelde/Mark), Ernst Gaugler (Olten/Schweiz), Karl Gustav Leverkühn (Lübeck), Alexander Deák (Aranyosgyeres/Ungarn), Heinrich Ukena (Burg in Dithmarschen), Johannes Martin (Magdeburg), stud. theol. Pape (Bethel bei Bielefeld), Harald Ziese (Schleswig), Hans Engelbert (Solingen), Hans Einwächter (Karlsruhe), Rudolf Haberkorn (Posen), Kurt Wagner (Liegnitz), John Catchpool (Woodbrooke Settlement/Birmingham), Dorothea von Schweinitz (USA), Ilse Vollert (Vegesack bei Bremen) sowie Maria Schütze (Oels in Schlesien).86 Aus den Zuschriften und Korrespondenzen der Jahre 1913 bis 1914 gehen zahlreiche weitere Namen hervor; die Gesamtzahl der SAG-

—————— 85 Ebd. 86 Mitarbeiterliste, in: EZA 51/S II c 20.

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Mitarbeiter zwischen Oktober 1911 und August 1914 belief sich auf 72 Personen,87 wobei die Fluktuation relativ hoch war und viele Mitarbeiter nur für ein Semester in Berlin-Ost tätig waren. Die Zahl der gleichzeitig in der SAG tätigen residents lag vor Kriegsbeginn bei 15 bis 20.88 Für seine ersten drei Mitarbeiter von Unruh, Kühn und Bruhn richtete Siegmund-Schultze im ersten Stock des »Auferstehungshauses« des Kapellenvereins89 in der Friedenstraße 66 eine Gemeinschaftswohnung ein: das sogenannte »Convikt«.90 Im zweiten Stock nahm Siegmund-Schultze selbst seine Wohnung, zusammen mit seiner Frau, seiner Schwester – beide hießen Maria Siegmund-Schultze – und dem Dienstmädchen Gertrud Heinrich.91 Im Februar 1913 ist dann erstmals von einer Erweiterung der Räumlichkeiten die Rede.92 Es kam eine Wohnung in der Palisadenstraße 60 hinzu, die dann auch für die Klubarbeit genutzt wurde. Allerdings konnten schon bald nicht mehr alle Mitarbeiter in den Wohnungen der SAG untergebracht werden. So suchten sich viele Studenten ein Zimmer in der Nachbarschaft, etwa Harald Ziese, der seine »Bude« in der Palisadenstraße 65 III hatte, oder Hellmut Hotop, der zunächst in der Friedenstraße 54 I wohnte.93 Die Zimmer im »Convikt« kosteten zwischen 10 Mark (bei Mehrfachbelegung) und 30 Mark (für Einzelzimmer) monatlich; die Mahlzeiten wurden von der »Wirtschaftsdame« des Kapellenvereins zubereitet: 30 Pfennig waren für das Frühstück zu bezahlen, 60 Pfennig für Mittagund 40 Pfennig für das Abendbrot.94 Gehalt konnte den Mitarbeitern seitens der SAG nicht ausbezahlt werden; die Kosten für Unterkunft und

—————— 87 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze, »Die neue Generation der Studentenschaft«, in: ASM

8. Jg., Heft 1–6 (April–September 1924), S. 1–7, hier S. 4. 88 Vgl. die nach Semestern gegliederte Mitarbeiterliste in: EZA 51/S II f 1. 89 Der »Kapellenverein« war eine bereits seit vielen Jahren unweit der Auferstehungskirche

in der Friedenstraße bestehende, kirchliche und ausschließlich von Frauen geführte Sozialstation. Vgl. die Korrespondenz mit dem Kapellenverein in: EZA 51/S II n 1. 90 Die Assoziation des Settlement mit einem Kloster und der Mitarbeiter mit Mönchen war sicherlich sehr bewusst gesetzt und taucht schon in vielen Schriften zur englischen Settlementbewegung auf, so etwa bei Classen, Sociales Rittertum in England, S. 20. Sie unterstreicht den Anspruch der »selbstlosen Lebensgemeinschaft«, vgl. dazu den knappen Hinweis bei Meilhammer, Britische Vor-Bilder, S. 100 (Anm. 300). 91 Personenstandsaufnahmebogen für das Veranlagungsjahr 1912, in: EZA 51/S II c 20. 92 Friedrich Siegmund-Schultze an Otto Haas, 24. Februar 1913, in: EZA 51/S II c 20. 93 Vgl. die Schreiben Friedrich Siegmund-Schultze an Hellmut Hotop, 10. März 1914, und Hellmut Hotop an Friedrich Siegmund-Schultze, 12. März 1914, in: EZA 51/S II, c 21. Später wurde üblich, dass die SAG Zimmer bei Familien in der Nachbarschaft vermittelte. 94 Rundbrief an die Mitarbeiter, 29. August 1911, in: EZA 51/S II c 20.

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Mahlzeiten mussten also von den Studenten selbst aufgebracht werden. Erst als während des Krieges ein eklatanter Mitarbeitermangel herrschte, erhielten einzelne Mitarbeiter wie Wenzel Holek ein bescheidenes, aber festes Monatsgehalt. Die Mitarbeiter kamen aus unterschiedlichen Fachrichtungen, wobei die Theologen – vor allem in den ersten Jahren – die bei weitem stärkste Gruppe bildeten.95 Ansonsten waren es vor allem Nationalökonomen und Juristen, aber auch Philologen, Philosophen und Mediziner, die den Weg nach Berlin-Ost fanden. Im Sinne einer breiten Wirksamkeit des von ihm vorgesehenen »sozialen Studiums« achtete Siegmund-Schultze von Beginn an darauf, dass möglichst viele verschiedene Studienfächer in der SAG vertreten waren. So heißt es in einem Schreiben an den Mathematikstudenten Erwin Fues aus dem Jahr 1914: »Für die Zusammensetzung unserer Arbeitsgemeinschaft ist uns lieb ein Mathematiker und ein Techniker. Uns liegt viel daran, dass die Interessierten der verschiedenen Fakultäten sich bei uns zusammenfinden.«96 Besonders erwünscht waren etwa Medizinstudenten, die mit ihrer fachlichen Kompetenz zu den vorgesehenen Untersuchungen über Wohn- und Hygieneverhältnisse beitragen konnten.97 Seine Zielvorstellung eines wechselseitigen Lernprozesses unter den »Siedlern« hatte Siegmund-Schultze bereits im August 1911 in einem Rundbrief an die künftigen Mitarbeiter formuliert: »Auch wird uns allen in unserem späteren Beruf der Blick durch unsere speziellen Interessen und Wirkungskreise verdunkelt: Der Pastor ist durch sein Amt einseitig auf das Seelenheil seiner Mitglieder bedacht, der Jurist auf die Stellung der Menschen zu den Staatsgesetzen, der Mediziner auf das leibliche Wohlergehen, der Philologe auf die intellektuelle Hebung u.s.w. Durch unsere Zusammenarbeit soll unser Wirkungskreis erweitert werden […]. Auch wenn wir anderen wenig helfen können – uns wird geholfen werden.«98

Praktische soziale Arbeit sollte die akademischen Studien ergänzen, die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft der Studenten für einen weiten, quasi transdisziplinären Horizont sorgen. Dieses Studienkonzept überzeugte

—————— 95 Nach der oben zitierten, Anfang 1914 erstellten Mitarbeiterliste waren von 28 genannten

Mitarbeitern 22 Theologen. EZA 51/S II c 27,1. 96 Friedrich Siegmund-Schultze an Erwin Fues, 28. April 1914, in: EZA 51/S II c 21. 97 Vgl. etwa die Briefe Friedrich Siegmund-Schultze an cand. med. Schröder, 15. Juli 1913,

in: EZA 51/ SII c 21 und Friedrich Siegmund-Schultze an den Arzt Richard SchmidtSchwarzenberg, 27. Mai 1919, in: EZA 51/S II c 28. 98 Rundbrief an die Mitarbeiter, 29. August 1911, in: EZA 51/S II c 20.

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nicht jeden Interessierten sofort. So wurden mehrfach dahingehend Bedenken geäußert, dass eine Mitarbeit in der SAG »das Studium nicht unerheblich beeinträchtigen würde«.99 Speziell für die Theologen richtete Siegmund-Schultze daher einen hauseigenen Studienkreis ein, dem bald ein ausgezeichneter Ruf vorauseilte und der das Wohnen im »sozialen Convikt«100 von Berlin-Ost zusätzlich attraktiv machte.101 Generell versuchte Siegmund-Schultze immer wieder mit den praktischen Vorzügen seiner Studenten-Wohngemeinschaft zu werben. In seinem ersten, noch in Potsdam verfassten Rundbrief an die Mitarbeiter schrieb er: »Auch wird mancher, der sich gern an der sozialen Arbeit beteiligen will, es als angenehm empfinden, daß er seinen Eltern oder irgendwelchen zaghafteren Ratgebern gegenüber sagen kann: Das Studium wird dort gefördert, die Möglichkeit eines freien und ordentlichen Lebens wird gewährt, die Unsicherheiten von Wohnung und Essen sind vermieden, ein Verkehr und festes Zusammenhalten mit Gleichgesinnten ist gewährleistet.«102 In diesem Sinne sollte die Etage in der Friedenstraße 66 auch ein fester Ankerpunkt für die Mitarbeiter sein, die zumeist aus der Provinz kamen und kaum Großstadterfahrung hatten.103 Und so freute sich der angehende »Siedler« Friedrich Bredt

—————— 99 Otto Ewald an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. September 1911, in: EZA 51/S II c 20. 100 So bezeichnet in einem Schreiben Friedrich Siegmund-Schultze an cand. theol. Norre-

gaard, 18. Januar 1913, in: EZA 51 S II c 20; vgl. auch Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 323. 101 Vgl. die positive Erwähnung des Studienkreises im Schreiben Otto Haas an Friedrich Siegmund-Schultze, 22. Februar 1913, in: EZA 51/S II c 20. 102 Rundbrief an die Mitarbeiter, 29. August 1911, in: EZA 51/S II c 20. 103 Das wird auch in Zuschriften von Eltern deutlich, die ihre Söhne bei Pastor SiegmundSchultze offensichtlich gut aufgehoben sahen. Vgl. z.B. die Schreiben von Anna Eggers, Mutter des SAG-Mitarbeiters Kurt Eggers aus Hannover, 27. April 1912 und 31. Oktober 1912, in: EZA 51/S II c 20. In letzterem Brief heißt es: »Es ist mir eine Beruhigung, Kurt in Ihrer Nähe zu wissen.« Andere blieben offensichtlich skeptisch, wie etwa die Eltern des Studenten Zimmermann aus Wiesbaden: »Ich kann nicht wieder nach Berlin zurück kommen. Meine Eltern, von denen ich finanziell abhängig bin, haben plötzlich aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten gemacht u. sie sind stärker geblieben als ich.« R. Zimmermann an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. Oktober 1911, in: EZA 51/S II c 20. Richard Schmidt-Schwarzenberg hingegen konnte mitteilen, daß seine Eltern »nach Überwindung oder Beseitigung mehrerer großer Bedenken mir nunmehr die Erlaubnis gegeben haben, bei Ihnen in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin O mit tätig sein zu dürfen.« Richard Schmidt-Schwarzenberg an Friedrich Siegmund-Schultze, 17. August 1913, in: EZA 51/S II c 21.

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auf das »Convikt«: »Eine feste Wohnung gibt gleich eine Art Heimatgefühl.«104 Das unbestrittene Zentrum der Settlementarbeit bildeten die Klubs für Knaben und Jungen, zu denen erst ab 1913 allmählich auch Mädchenklubs kamen. Nach einer Definition von Elisabeth Vedder war ein solcher »Klub« eine »Gemeinschaft von 10 bis 15 möglichst gleichaltrigen Jungen oder Mädchen, die sich wöchentlich einmal mit ihrem Leiter oder ihrer Leiterin in der SAG versammeln zu einem meist zweistündigen Beisammensein, das ganz verschieden gestaltet ist«.105 Erich Gramm schrieb in einem rückblickenden Aufsatz über die Anfänge der Klubarbeit, 1911 habe es »mit Ausnahme der Kinder kaum einen Menschen in dieser Nachbarschaft« gegeben, »der die neuen Nachbarn nicht mit Mißtrauen und Vorurteilen« angesehen habe. Daher sei gerade Kinder- und Jugendarbeit »der natürlichste Weg« zu den Menschen des Berliner Ostens« gewesen.106 So habe die Settlementarbeit überhaupt damit angefangen, dass SiegmundSchultze auf der Friedenstraße einige Jungen angesprochen und ihnen etwas erzählt habe.107 Die Klubs dienten somit vor allem einer grundlegenden »Erschließung« des neuen Geländes im Hinblick auf soziale Arbeit. Denn obwohl der Jugendarbeit von Beginn an ein zentraler Stellenwert eingeräumt wurde, reichte das Spektrum der Settlementarbeit doch weit darüber hinaus. So sollte sich die neue »Nachbarschaft« durch einen umfassenden alltagsweltlichen Kontakt zwischen Arbeitern und Akademikern entwickeln, »auf hundert und tausend Wegen […]: durch das Wohnen in Arbeiterfamilien, durch das Kaufen der Lebensmittel, durch das Zusam-

—————— 104 Friedrich Bredt an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 21. 105 Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«,

in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 1. 106 Erich Gramm, »Aus der Erziehungsarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost

(unter besonderer Berücksichtigung der Klubs für 14 bis 17jährige Burschen)«, in: NN 11. Jg. Heft 8 (August 1928), S. 129–138, hier S. 129. 107 Diese Episode wird in zahlreichen SAG-Darstellungen zu den Anfängen der Klubarbeit erzählt, vgl. etwa Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 88; Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 3; »SAG.-Anfang (Erinnerungen einer Mitarbeiterin)«, in: ASM 6. Jg. Heft 7–9 (Oktober–Dezember 1922), S. 102–105, hier S. 103. Rolf Lindner hat diese Geschichte deshalb zu Recht als die »Kernerzählung der SAG-eigenen Folklore« bezeichnet, Lindner, »Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 88. Vgl. dazu auch Kapitel 8.

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mensein auf der Straße und in Lokalen und auch durch bestimmte Veranstaltungen«.108 Ein Stundenplan vom Mai 1913 macht nicht nur den beträchtlichen Umfang der SAG-Aktivitäten, sondern auch die im Settlement praktizierte enge Verbindung von sozialer Arbeit und theoretischen Veranstaltungen zur Weiterbildung der Mitarbeiter anschaulich. Montags fanden Stenographiekurse statt: von 18 bis 19 Uhr für Knaben und von 20 bis 21 Uhr für junge Männer; ab 20 bzw. 20.30 Uhr standen außerdem das Kegeln des Jugendklubs »Einigkeit« sowie der Unterhaltungsabend der CSV in der Oranienburger Straße 58 auf dem Programm. Dienstags wurde – in Verbindung mit der Berliner Universität – der »Akademisch-Soziale Abend« der SAG abgehalten, zu dem Experten aus Theorie und Praxis der Sozialreform eingeladen wurden.109 Mittwoch morgens veranstaltete Friedrich Siegmund-Schultze eine theologische Übung zum Thema »Der Communismus im Neuen Testament«; nachmittags und abends fanden der Knabenturnklub von Hermann Gramm sowie der Turnabend des Jugendklubs statt, im Vereinszimmer der SAG in der Friedensstraße 67 außerdem der Männerunterhaltungsabend. Der Donnerstag blieb internen Besprechungen und anderen Veranstaltungen für die Mitarbeiter vorbehalten, dazu fuhr man an den Stadtrand: von 16 bis 17 Uhr der »Soziale Kaffee« mit Besprechung von Arbeitsfragen im Restaurant Hirschgarten hinter Köpenick, von 17 bis 19 Uhr »Sports« und »philosophischer Kreis«, ab 19 Uhr dann gemeinsames Abendbrot in der »Ravensberger Mühle« bei Friedrichshagen, anschließend »Aussprache über Lebensfragen«. Freitag nachmittags wurden im Mitarbeiterkreis »soziale Besichtigungen« in Berliner Fürsorgeeinrichtungen und Ämtern durchgeführt, abends fand der »Jungmännerabend« der SAG statt. Der Samstag war in erster Linie den Jugendklubs vorbehalten: Nach einer morgendlichen theologischen Übung über »Die soziale Gesetzgebung

—————— 108 Friedrich Siegmund-Schultze, »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, Sonderdruck

aus Die Tat, ca. 1916, 657–659, 658–659, in: EZA 626/II 30,1. 109 Vgl. dazu die Berichte und Protokolle in: EZA 51/S II f 1, f 3 und f 8. Themen der Aka-

demisch-Sozialen Abende waren z.B. »Die Berliner Jugendfürsorge während des Krieges«, »Das Gemeindeschulwesen Berlins«, »Die Berufsausbildung des Journalisten«, »Regierungs- und Parteipresse«, »Presse im Kriege«, Beeinflussung der Masse durch die Presse«, »Vormundschaft und Pflegschaft«, »Krieg und Miete«, »Englisches und amerikanisches Jugendgericht«, »Die englische Gartenstadtbewegung«, »Carlyle«, »Innere Kolonisation« oder »Wir müssen uns klar machen, was für ein Interesse die Heimarbeiterinnen haben«. Protokolle dazu in: EZA 51/S II f 2.

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des Pentateuch« standen nachmittags zunächst noch zwei von Hellmut Hotop geleitete Bibelkreise für Gymnasiasten auf dem Programm; ab 17 Uhr trafen sich dann die drei Knabenklubs der Leiter Wohlgemut, Hartmann und Delekat sowie der Jugendklub »Einigkeit« unter der Leitung Heinrich Dinkelmanns. Theodor Kamlah gab von 19 bis 20 Uhr Englischunterricht; des Weiteren kam in der Friedenstraße 67 der »Kegelklub der 12er« zusammen. Sonntag schließlich war der vorgesehene Tag für Jugendausflüge.110 Über die im Stundenplan genannten Aktivitäten hinaus sind vor allem die Rechtsberatung und die Schreibstube der SAG zu nennen, in der Hilfestellung im Umgang mit Behörden geleistet wurde. Außerdem übernahm die SAG Aufgaben der Jugendgerichtshilfe wie »Schutzaufsichten« über straffällig gewordene Jugendliche.111 Durch diese unterstützenden Aktivitäten für das 1908 eingerichtete Jugendgericht Berlin-Mitte erhielten die SAG-Mitarbeiter Zugang zu Arbeiterfamilien, die ihnen ansonsten verschlossen geblieben wären.112 In all diesen Arbeitszweigen hatte Siegmund-Schultzes Experiment feste Formen angenommen. Äußerlich schlug sich das unter anderem in der Gründung eines eingetragenen Vereins nieder, der am 22. Februar 1914 seine erste Satzung verabschiedete.113 Bereits 1913 war von SAG-Mitarbeitern ein »Akademisch-Sozialer Verein« an der Friedrich Wilhelms-Universi-

—————— 110 Stundenplan Mai 1913, in: EZA 51/S II, c 20. 111 Vgl. dazu den grundsätzlichen Artikel von Elisabeth Vedder, »Jugendgerichtshilfe«, in:

NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 104–106. Ein exemplarischer Gerichtshilfebericht des SAG-Mitarbeiters Oskar von Unruh über den Arbeiterjungen Max Waldow vom 2. November 1911 ist in den Akten der SAG enthalten: Bericht für das kgl. Amtsgericht Berlin Mitte Jugendabt. 166, in: EZA 51/S II c 19. Im Wiener Settlement war die Jugendgerichtshilfe ein zentraler Arbeitszweig; vgl. dazu Malleier, Das Ottakringer Settlement, 55–67. Im Übrigen findet sich in den Akten auch ein scherzhafter »Schutzaufsichtsbericht« von Hans Engelbert über den SAG-Mitarbeiter Kurt Wagner, der die Vorgehensweise der Schutzaufsicht gleichsam in der Parodie sichtbar macht. Unter dem Aktenzeichen »S.A.G. 22–36/6« wird dort über eine »Strafsache« berichtet: »Verhandlungsbericht. 1 druck des Angeklagten: 1 seitig, 1 gebildet. Körperlich: Gummischuhe. Geistig: --. Verhalten (während der Verhandlung): schwankend, erst ungeberdig, dann bewegt. […] Straftat: widerrechtliche Benutzung einer Decke. Antrag des Amtsanwalts: Geldstrafe von 3 M. Urteil: Stille Zahlung von 3 M. an die SAG zum Besten der Rechtsauskunft.« In: EZA 51/S II c 21. 112 Vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 28. 113 Entwürfe und Satzung in: EZA 51/S I a. Verschiedene Fassungen der Satzung sind abgedruckt in: »Satzungen«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 183–186. Zu den Diskussionen um die Satzung vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 34–35 und Lindner, »Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 92–93.

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tät gegründet worden, durch den die Akademisch-Sozialen Abende stärker institutionalisiert und ausgebaut wurden.114 Die erste Mitgliederliste dieses Vereins verzeichnet 56 Personen.115 Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden auch in anderen Städten Ortsgruppen der SAG, ins Leben gerufen durch Studenten, die ein Semester in Berlin-Ost verbracht und dann die Universität gewechselt hatten. So gab es – neben der von Gotthard Eberlein im Jahr 1912 gegründeten Stettiner Dependance116 – in Halle, Leipzig, Breslau und anderen Städten kleinere SAG-Initiativen, von denen sich einige zu eigenständigen »Sozialen Arbeitsgemeinschaften« entwickelten.117

Die »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße Zu Beginn des Jahres 1913 waren Maria und Maria Siegmund-Schultze – die Ehefrau und die Schwester des SAG-Gründers – noch immer die einzigen Frauen, die im Settlement wohnten. Doch dies sollte sich bald ändern. Während Friedrich Siegmund-Schultze noch im März 1912 betont hatte, »praktische Frauenarbeit« sei im Augenblick »nicht wünschenswert«, da man dem Kapellenverein im gleichen Hause keine »Konkurrenz« machen wolle,118 wurde 1913 eine eigene Wohnung für die Mitarbeiterinnen, als Gegenstück zum rein männlich besetzten »Convikt«, angemietet: die so genannte »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße 63.119 Diese Bezeichnung verweist – wie schon das klösterlich anmutende »Convikt« – auf das semanti-

—————— 114 Vgl. Satzung des Akademisch-Sozialen Vereins, genehmigt durch den Universitätsrichter

am 11. 6. 1913, in: Akte Rektor und Senat Nr. 830, Universitätsarchiv der HU Berlin. 115 Vgl. Mitgliederliste, in: Akte Rektor und Senat Nr. 830, Universitätsarchiv der HU

Berlin. 116 Vgl. dazu Eberlein (Hg.), Bericht der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Stettin. Der von Eberlein

gegründete Verein existierte zunächst unter der Bezeichnung »Freunde der Jugendpflege auf der Lastadie E. V.«, wurde aber 1917 offiziell zu einer Ortsgruppe der SAG BerlinOst und nannte sich ab diesem Zeitpunkt »Soziale Arbeitsgemeinschaft Stettin«. Vgl. ebd., S. 5. 117 Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 33. Vgl. dazu auch folgende Artikel: »Unsere Leipziger Freunde«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914), S. 28–36; »Breslauer Arbeit. Der ›Helferbund am Jugendgericht Breslau‹ (angeschlossen der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft)«, in: NSAG Nr. 3 (Juni 1914), S. 66–70; Maria Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Breslau«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 316–325. Zu entsprechenden Versuchen in Marburg vgl. den Briefwechsel zwischen Friedrich Siegmund-Schultze und Johannes Martin aus dem Jahr 1920, in: EZA 51/S II c 24, 2. 118 Friedrich Siegmund-Schultze an Pastor Scheffen, 21. März 1912, in: EZA 51/S I b. 119 Vgl. den Mietvertrag in: EZA 51/S II i 2,1.

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sche Feld von Mission und »Ostkolonisation« und damit auf die bürgerliche Präsenz im »unbekannten Land« des Berliner Ostens. In der Fruchtstraße wohnten nun die acht festen Mitarbeiterinnen, die in der oben angeführten Liste genannt sind; eine Schlüsselfigur scheint Hedwig Penzig gewesen zu sein, die als Tochter des Stadtrats und Herausgebers der »Ethischen Kultur«, Rudolf Penzig, mit Siegmund-Schultze verwandt war.120 Penzig war maßgeblich am Aufbau der Mädchenarbeit in der SAG beteiligt und verfasste für die Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft auch den ersten Bericht über die Anfänge dieser Arbeit.121 Im Umkreis der »Frauenkolonie« wurden weitere Räume angemietet: im Erdgeschoss des Hauses Fruchtstraße 63 ein Ladenlokal als Lesehalle für Frauen und Mädchen, im Nachbarhaus Fruchtstraße 62 ein Raum für die Klubs.122 Spätestens im Frühjahr 1916 wurde dieser neue Standort zum Sitz der Geschäftsstelle und damit zur Zentrale des Settlement, was auch ein Indiz für die wachsende Bedeutung der von Frauen getragenen Sozialarbeit in der SAG ist. Laut einem Bericht von Elisabeth Vedder sind die Mädchenklubs auf umgekehrte Weise entstanden wie die ersten Jungenklubs. Sie hatten ihren Ursprung nicht in einer präventiven, »aufsuchenden« Jugendarbeit seitens bürgerlicher Pädagogen, sondern bildeten sich »auf ganz natürliche, zwanglose Weise«, nachdem einige Schwestern von Jungen des ersten SAGKlubs »Pfeil« darum gebeten hatten, mit ihren Freundinnen ebenfalls einen Klub gründen zu dürfen.123 Diese Klubs gingen also aus bereits bestehen-

—————— 120 Rudolf Penzig scheint – was durch doppelte Einheirat von Geschwistern in eine Familie

durchaus möglich ist – zugleich ein Onkel und ein Cousin Siegmund-Schultzes gewesen zu sein: Penzig gegenüber bezeichnet Siegmund-Schultze sich selbst als »gehorsamster Neffe und Vetter«; umgekehrt wird Penzig als »verehrter Onkel und Vetter« bezeichnet. Vgl. Briefwechsel in: EZA 51/S I b. Hedwig Penzig wäre demnach eine Cousine des SAG-Leiters gewesen. Zu Rudolf Penzig und der »Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur« vgl. Simon-Ritz, Die Organisation einer Weltanschauung, S. 126–133, für knappe biographische Angaben S. 130–131. 121 Hedwig Penzig, »Unsere beginnende Mädchenarbeit«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914), S. 36–38. Übrigens begann auch im Hamburger Volksheim die Mädchenarbeit mit einer gewissen Verzögerung; von Mädchengruppen ist erstmals im Jahresbericht von 1903/04 die Rede. Vgl. Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das dritte Geschäftsjahr 1903/1904, Hamburg 1904, S. 48–50. 122 Vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 30; die Entwicklung der Frauenkolonie bis 1917 ist dokumentiert in den Akten EZA 51/S II i 1–8. 123 Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 3–4.

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den »Haus- und Straßenfreundschaften« hervor.124 Bei dieser Entstehungsgeschichte ist es kaum verwunderlich, dass die Mädchenklubs – wie Hedwig Penzig an einer Stelle bemerkt – vor allem von Mädchen »aus armen, aber ordentlichen Arbeiterfamilien« frequentiert wurden. Dies unterschied sie denn auch deutlich von den Knaben- und Jungenklubs, wo es mehr gelungen sei, »Jungen heranzuziehen, die keinen rechten Zusammenhalt mehr mit ihren Familien haben, Jungen, die eine Abneigung haben gegen jede Art von autoritativer Organisation«.125 Entsprechend unproblematisch scheint auch die Arbeit in den Mädchenklubs vonstatten gegangen zu sein: »Die noch die Schule Besuchenden sind eigentlich für alles zu haben; am liebsten möchten sie immer spielen! Die Größeren kommen vor allem, um sich zu amüsieren; aber sie sind auch sehr für positives Lernen, besonders von Dingen, die ihnen für ihr äußerliches Fortkommen nützlich sein können, z. B. für Stenographie, Schreibmaschine, Schönschreiben.«126 Während also die Jungenklubs eindeutig an die im Jugenddiskurs der wilhelminischen Pädagogik so sehr problematisierten »Straßenjungen« adressiert waren, richteten sich die Angebote der Mädchenklubs an aufstiegsorientierte Mädchen, denen auf diese Weise der Berufseinstieg erleichtert werden konnte.127 Damit fungierten diese Klubs als eine willkommene Ergänzung der Schule, als eine zusätzliche Ausbildungsstätte, in der Mädchen aus Arbeiterhaushalten Kompetenzen erwerben konnten, welche die Volksschule nicht vermittelte und die sie vor allem für Büroarbeit qualifizierten. Gleichzeitig ging es um eine Erziehung im Sinne klassischer »mütterlicher« Rollenmuster sowie generell darum, »den Mädchen etwas Formgefühl für die Gestaltung des Lebens überhaupt zu geben«.128 Die »Herumtreibernaturen«, wie Penzig das weibliche Pendant zu den Straßenjungen nennt, seien in die Klubs dagegen nur sehr schwer zu integrieren gewesen – »besonders auch, weil die anderen, die ›Ordentlichen‹ recht deutlich ihre Abneigung gegen ein solches Klubmitglied gezeigt haben«. Und gerade auch die Eltern der Mädchen achteten auf die Zusammensetzung der Klubs:

—————— 124 »SAG.-Anfang (Erinnerungen einer Mitarbeiterin)«, in: ASM 6. Jg. Heft 7–9 (Oktober–

Dezember 1922), S. 102–105, hier S. 104. 125 Hedwig Penzig, »Unsere beginnende Mädchenarbeit«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914),

S. 36–38, hier S. 37. 126 Ebd. 127 Auch Gerth verweist darauf, dass in den Mädchenklubs – mehr als in den Jungenklubs –

eine »soziale Auswahl« vertreten war. Vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 83–84. 128 Agnes von Harnack, »Der Mädchenklub ›Fröhliche Jugend‹«, in: NSAG Nr. 7 (1916),

S. 192–198, hier S. 195.

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»Wenn die und die in den Klub kommt, schicke ich meine nicht hin, von der lernt sie ja doch bloß freche Redensarten!«129 Die Frauen- und Mädchenarbeit nahm in der SAG bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen erheblichen Umfang an. So existierten im Wintersemester 1913/14 bereits sechs Mädchenklubs,130 denen lediglich vier Knaben- und Jungenklubs gegenüberstanden.131 Das von Siegmund-Schultze immer wieder lancierte Bild einer »heroisch-männlichen« SAG entsprach also nicht immer den tatsächlichen Verhältnissen – erst recht dann nicht, als im Herbst 1914 die ersten männlichen Mitarbeiter im Kriegseinsatz waren und die soziale Arbeit von Frauen im Settlement eine zentrale Rolle spielte. So sind in den Mitarbeiterlisten gegen Ende des Krieges für manche Semester fast ausschließlich Frauen zu finden.132 Der Fortbestand der Jungenklubs konnte allerdings durch die Festanstellung Wenzel Holeks sowie die Mitarbeit des Missionssekretärs Wilhelm Stein, des Jugendpflegers Hans Windekilde Jannasch und des Juristen und Nationalökonomen Wilhelm Riensberg gesichert werden.133 Im Dezember 1917 zählte man neben acht Knaben- und Jungenklubs sieben Mädchenklubs.134 Nach Kriegsende stiegen die Gesamtzahlen dann sprunghaft an: Im Januar 1919 bestanden

—————— 129 Hedwig Penzig, »Unsere beginnende Mädchenarbeit«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914),

S. 36–38, hier S. 38. 130 »Stundenplan der Mädchenklubs im vergangenen Winter«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914),

S. 38. Hinzu kamen noch ein Turnabend für Arbeiterinnen und Studentinnen sowie ein »geselliges Beisammensein« für 18 bis 20jährige Frauen. 131 »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 6–8. Hier werden über die Jugendveranstaltungen hinaus drei Klubs für ältere Arbeiter genannt. 132 Vgl. die Mitarbeiterliste in: EZA 51/S II f 1. 133 Vgl. die ab 1916 geführten Korrespondenzen mit den genannten Mitarbeitern in: EZA 51/S II c 28. Des Weiteren bemühte man sich in der SAG, neue Mitarbeiter für die Jugendhilfe oder die Jugendarbeit in Berlin-Ost vom Kriegs- oder Garnisonsdienst freistellen zu lassen. Zu einem exemplarischen Fall vgl. den Briefwechsel zwischen Friedrich Siegmund-Schultze und dem Theologen Justus Popp sowie die beiliegende Korrespondenz zwischen der SAG und dem Königlichen Bezirkskommando, in: EZA 51/S II c 23,2 und EZA 51/S II c 28. Während Popp im September 1917 tatsächlich freigestellt wurde, hatten andere Rückstellunggesuche der SAG keinen Erfolg – zumal dann nicht, wenn es sich um voll »verwendungsfähige« Soldaten handelte. Vgl. z.B. Friedrich Siegmund-Schultze an Fritz Wicklein, 8. April 1916, in: EZA 51/S II c 23,2. 134 »Stundenplan«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 336. Angesichts dieser doch recht ausgewogenen Zahlen erstaunt die Feststellung Elisabeth Vedders, die Jungenarbeit der SAG hätte während der Kriegszeit »nur mühsam über Wasser gehalten« werden können, während die Mädchenarbeit sich kontinuierlich fortentwickelt hätte. Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 5.

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in der SAG elf Mädchen- und sechs Jungenklubs;135 im April 1920 lag das Verhältnis von Mädchen- zu Jungenklubs dann bereits bei 15 zu 12.136 Eine detaillierte Aufstellung aus dem Wintersemester 1921/22 verzeichnet schließlich 204 Mädchen, die von der SAG betreut wurden; ihnen standen 142 Knaben und Jungen gegenüber.137 Die Entwicklung der »Frauenkolonie« ab 1914 hing nicht nur aufs Engste mit dem Ersten Weltkrieg und der neuen Bedeutung sozialer Arbeit an der »Heimatfront« zusammen, sondern war auch Teil einer allgemeinen Professionalisierung der Sozialarbeit im späten Kaiserreich.138 In diesem Prozess spielten Frauen die entscheidende Rolle: In den »Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit« in Berlin kristallisierte sich etwa seit der Jahrhundertwende das Berufsbild der Sozialarbeiterin heraus;139 die moderne berufliche Sozialarbeit in Deutschland ist »aus der Verbindung bürgerlicher Sozialarbeit und bürgerlicher Frauenbewegung […] hervorgegangen«.140 Auch der Ausbau der »Frauenkolonie« der SAG vollzog sich in enger Verbindung zur bürgerlichen Frauenbewegung. Ein wichtiges Scharnier war dabei die 1908 von Alice Salomon in Schöneberg gegründete Soziale Frauenschule, mit der die SAG bald einen regelmäßigen Austausch pflegte.141 Daneben bestanden auch zu anderen Einrichtungen gute Kontakte, unter anderem zum Pestalozzi-Fröbel-Haus unter der Leitung Elisabeth Droeschers oder zur Frauenschule der Inneren Mission mit ihrer Leiterin Elisabeth Peters.142 Während der Kriegsjahre wurde die SAG so zu

—————— 135 »Arbeitsberichte aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 48–68, insbes.

S. 58–68. 136 »Berichte aus der praktischen Arbeit«, in: NSAG Nr. 13 (April 1920), S. 53–72. 137 Nochmals differenziert in 85 Knaben und 57 Jungen. Nach: Die praktische Arbeit wäh-

rend des Wintersemesters 1921/22, Aufstellung in den Sitzungsprotokollen der SAG in: EZA 51/S II b 2. 138 Vgl. dazu Sachße, Mütterlichkeit als Beruf; Riemann, »Frauenbewegung und soziale Arbeit«; Lange-Appel, »Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere«; Zeller, Geschichte der Sozialarbeit als Beruf; Amthor, Die Geschichte der Berufsausbildung in der sozialen Arbeit. 139 Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 119. 140 Ebd., S. 9. 141 Als Beleg für den persönlichen Kontakt zwischen Salomon und dem Leiter der SAG vgl. etwa Alice Salomon an Friedrich Siegmund-Schultze, 18. Juni 1925, in: EZA 626/I 21,2, wo es heißt: »Es wäre so schön, Sie einmal wieder in unserem Kreise zu haben.« Salomon nahm auch immer wieder an Tagungen und Konferenzen der SAG teil, so etwa an der Arbeitskonferenz 1918 in Trieglaff. 142 Zu den Biographien von Droescher und Peters vgl. die entsprechenden Einträge in: Maier (Hg.), Who is who der sozialen Arbeit.

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einer Ausbildungsstelle, in der Schülerinnen der sozialen Frauenschulen praktische Erfahrungen in sozialer Arbeit sammeln konnten. Umgekehrt wurde bewährten Mitarbeiterinnen der SAG die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung in den Frauenschulen zu absolvieren. Alice Salomon bot dazu, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, im Mitarbeiterkreis der SAG Stipendien an.143 Unter den Mitarbeiterinnen der SAG, die der bürgerlichen Frauenbewegung nahestanden, sind in erster Linie Alix Westerkamp, Agnes von Harnack und Renate Lepsius zu nennen. Während Harnack – eine Tochter des mit Siegmund-Schultze befreundeten Theologen Adolf von Harnack – nur vorübergehend in der SAG tätig war, bis sie als Referentin ins Kriegsamt und später in die Politik wechselte,144 waren Westerkamp und Lepsius als Büroleiterinnen und »persönliche Referentinnen« Siegmund-Schultzes für lange Zeit entscheidende Stützen des Settlement. Die promovierte Juristin Alix Westerkamp hatte bereits vor der Gründung der SAG mit Siegmund-Schultze zusammengearbeitet, dann von November 1913 bis Mai 1914 im Settlement von Jane Addams in Chicago gewohnt145 und kümmerte sich nach ihrem Eintritt in die SAG besonders um deren internationale Kontakte sowie die Planung von Arbeitskonferenzen. In ihrer ersten, ab April/Mai 1917 erschienenen Artikelserie für die Akademisch-Soziale Monatsschrift berichtete sie in zwölf Teilen ausführlich über die Arbeit der amerikanischen Settlements.146 Renate Lepsius, eine Tochter des Orientmissionars Johannes Lepsius,147 stand bereits seit Frühjahr 1913 in Kontakt mit Sieg-

—————— 143 Alice Salomon an Alix Westerkamp, 15. September 1920, in: EZA 51/S II c 7.2. 144 Zur Biographie vgl. Maier (Hg.), Who is who der sozialen Arbeit, S. 651–652. Ausführlich

dazu die neueren biographischen Darstellungen Cymorek/Graf, »Agnes von Zahn-Harnack«, und Bauer, Kulturprotestantismus und Bürgerliche Frauenbewegung. 145 Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform, S. 216. Ein Kurzabriss zur Biographie findet sich in: Maier (Hg.), Who is who der sozialen Arbeit, S. 625. 146 Vgl. Alix Westerkamp, »Aus amerikanischen Settlements. Briefe und Tagebuchblätter«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 20–24; ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juli 1917), S. 47–52; ASM 1. Jg. Heft 5/6 (August/September 1917), S. 84–87; ASM 1. Jg. Heft 7/8 (Oktober/November 1917), S. 120–123; ASM 1. Jg. Heft 9/10 (Dezember/Januar 1917/18), S. 153–156; ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar/März 1918), S. 184– 187; ASM 2. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1918), S. 27–30; ASM 2. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juli 1918), S. 54–57; ASM 2. Jg. Heft 5/6 (August/September 1918), S. 92–94; ASM 2. Jg. Heft 7/8 (Oktober/November 1918), S. 122–126; ASM 2. Jg. Heft 9/10 (Dezember/Januar 1918/19), S. 158–162; ASM 3. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1919), S. 25–30. 147 Der in der »Deutschen Orient-Mission« tätige Johannes Lepsius, seinerseits ein Sohn des Ägyptologen Carl Richard Lepsius, war u.a. Initiator des Armenischen Hilfswerks und Autor eines der während des Krieges höchst seltenen deutschen Berichte über den tür-

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mund-Schultze,148 versah in den 1920er und 1930er Jahren – gemeinsam mit Erich Gramm – die hauptsächliche Büroarbeit der SAG und blieb ihr bis zu deren Auflösung 1940 als wichtige Mitarbeiterin verbunden.149 Somit spielten in der SAG – obwohl sie 1911 als eine von Männern getragene Vereinigung angetreten war – spätestens seit Beginn der 1920er Jahre Frauen eine ebenso wichtige Rolle wie die männlichen Mitarbeiter: ein Umstand, der sich in der Repräsentation nach außen, den Zeitschriften und Mitteilungsblättern der SAG – und damit leider auch in dieser Untersuchung – nur unzureichend widerspiegelt. Nach der Emigration SiegmundSchultzes 1933 wurde die Arbeit dann fast ausschließlich von Frauen fortgeführt.

Assoziationsformen: Der Kreis der »Mitarbeiter und Freunde« Um die SAG als einen Indikator bildungsbürgerlicher Selbstverständigungsprozesse verstehen zu können, ist es notwendig, deren spezifische Assoziationsformen in den Blick zu nehmen.150 Dem sozialintegrativen Programm nach außen entsprach nämlich innerhalb der SAG eine exklusiv wirkende Betonung der Gesinnungsgemeinschaft und damit eine ganz bestimmte, an der gemeinsamen Idee orientierte Ordnung des Dazugehörens. Von Beginn an unterschied Siegmund-Schultze zwischen den »Mitarbeitern« und den »Freunden« der SAG.151 Während erstere persönlich im Berliner Osten tätig waren, unterstützten die Freunde die soziale Arbeit durch Spendengelder, Hilfeleistungen und Kontakte. Eigentlicher Kern der SAG waren die residents, die sich der gemeinsamen Sache ganz verschrieben hatten. Sie verstanden sich in Abgrenzung zu den Institutionen und Vereinen der bürgerlichen und kirchlichen Sozialfürsorge dezidiert nicht als »Organisation«, sondern als »Gemeinschaft« und darüber hinaus als Teil einer Bewegung. Damit folgten sie einer Vorstellung, wie sie Werner Picht im

—————— kischen Massenmord an den Armeniern, vgl. Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes. 148 Vgl. Renate Lepsius an Friedrich Siegmund-Schultze, 24. April 1913, in: EZA 51/S II 29,1. 149 Die Mitarbeit von Renate Lepsius in der SAG wird kurz erwähnt in: Lepsius, Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende, S. 211. Dort wird auch über die Kontakte der Familie zu Otto Braun und Käthe Kollwitz berichtet. 150 Vgl. ausführlich zu diesem Aspekt Wietschorke, Netzwerke der Liebesarbeit. 151 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 3–6, hier S. 6.

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Hinblick auf das Hamburger Volksheim formuliert hat: Gerade dessen Hang zur »großen Organisation« habe zum Scheitern der Idee einer »Annäherung der Volksklassen« geführt, die nur auf einem Weg der kleinen Schritte und der persönlichen Beziehungen zu erreichen sei.152 »Wer freilich allein oder mit einer Schar von Freunden ins Arbeiterquartier zieht und so im Kleinen den Versuch der Gründung eines Settlements wagt, der wird, wenn er die nötige Opferwilligkeit mitbringt, eines Erfolges fast sicher sein können.«153 Anscheinend kannte Picht zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Dissertation die SAG noch nicht – jedenfalls folgte diese genau seiner Forderung nach einer »stillen« und nicht umfassend organisierten Arbeit. Der spätere SAG-Leiter Konrat Weymann brachte diese Selbstbeschreibung auf den Punkt, als er 1934 – diesmal in Abgrenzung zu den Jugendorganisationen des NS – davon sprach, die »Gemeinschaft« der SAG entspringe »ganz und gar dem persönlichen Leben«, und habe »mit Organisation nichts zu tun«.154 Für die sozial- und lebensreformerischen Bewegungen der wilhelminischen Zeit spielt die Assoziationsform der Mitglieder und Anhänger eine zentrale Rolle. Der in den verschiedensten Vereinen und Reformmilieus, vom »Kunstwart« bis zur Freikörperkulturbewegung, »unübersehbare Drang zur Schaffung einer emotional überhöhten Gemeinschaft«155 äußerte sich in der Entstehung exklusiver Zirkel und alternativer – oft ebenso exklusiver – Lebensformen, die sich meist um die Leitidee einer »kulturellen Erneuerung« herum organisierten. Von den klassischen kulturkritischen Intellektuellengruppen der Zeit nach 1900, denen das Interesse der kultursoziologischen und kunstwissenschaftlichen Forschung ganz besonders gilt,156 ist die Soziale Arbeitsgemeinschaft freilich insofern weit entfernt, als

—————— 152 Picht, Toynbee Hall, S. 124–129. 153 Picht, Toynbee Hall, S. 128. Vgl. auch die Verortung der SAG in Abgrenzung zum Ham-

burger Volksheim bei Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 3–6. 154 »An unsere Freunde«, in: AASAG Nr. 1 (November 1934), S. 1–2, hier S. 2. An einer anderen Stelle heißt es, Soziale Arbeitsgemeinschaften entstünden quasi spontan, durch das »Überspringen des Funkens«, der eine »soziale Energie wachrufe«. Maria SiegmundSchultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Breslau«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 316–325, hier S. 319. 155 Kerbs/Linse, »Gemeinschaft und Gesellschaft«, S. 157. 156 Für einen Überblick über das Feld vgl. Wülfig/Bruns/Parr (Hg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine; Kerbs/Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Als Einführung vgl. auch die instruktive Skizze Eßbach, »Intellektuellengruppen in der bürgerlichen

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sie sich gerade nicht als intellektuelles Projekt, sondern als »sozialpädagogischer Organismus« verstand. Trotzdem lassen sich einige strukturelle Parallelen aufdecken; das berührt dabei nicht zuletzt auch die bereits angesprochenen, spezifischen Formen von »Exklusivität« in einem dem Programm nach radikal nicht exklusiven, sondern integrativen Projekt. Gerade in und um Berlin entstanden zu dieser Zeit Reformvereine, Künstlervereinigungen, Landkommunen und andere esoterische Zirkel, deren Gruppenpraxis mit der SAG in bestimmten Punkten durchaus vergleichbar ist und die unter Umständen sogar als Vorbilder gedient haben könnten. Die an den Friedrichshagener Dichterkreis anknüpfende »Neue Gemeinschaft« um Heinrich und Julius Hart, Gustav Landauer und andere figurierte etwa als »Geistesfamilie« mit reichlich obskurer Zielsetzung, pflegte eine »Sprache des Herzens«, lehnte – wie zunächst auch die SAG – die Form des eingetragenen Vereins ab und differenzierte sich nach dem Anstieg der Mitgliederzahlen Ende 1900 in einen »inneren« und einen »äußeren« Kreis aus.157 Der Eugen Diederichs Verlag in Jena, Sammelbecken zahlreicher reformerischer und neureligiöser Strömungen, wurde nach 1913 zum »heimlich offenen Bund«, in dem »die seit den Bauernkriegen bestehende unglückselige Zweiteilung unseres Volkes in Gebildete und Ungebildete« rückgängig gemacht werden sollte158 und der sich selbst als Avantgarde einer nicht-elitären, »ganzheitlichen« Bildung verstand.159 Nicht von ungefähr kamen viele von Diederichs’ Autoren gerade aus den Kreisen der Reformpädagogik, der Volksbildungs- und der Settlementbewegung.160 Die freie Assoziation der Mitglieder im Sinne einer Gesinnungsgemeinschaft und einer allen gemeinsamen kulturellen Aufgabe ist bei allen programmatischen Differenzen ein Kernstück dieser Bewegungen. »Kreise«, »Gemeinschaften« und »Bewegungen« wurden zu spezifisch bildungsbürgerlichen – beziehungsweise im Spannungsfeld von Bildungsbürgerlichkeit und »Gebildetenrevolte« entstehenden – Widerlagern der Klassengesellschaft, zu künstlerisch und religiös inspirierten Modellversuchen eines »richtigen Lebens« in der hochkapitalistischen Moderne. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Frese fasst zusammen: »Marginale ›Gemeinschaften‹ konstruieren […] ›Gesell-

—————— Kultur«; eine Fallstudie zum George-Kreis bietet Groppe, Die Macht der Bildung; dazu auch Raulff, Kreis ohne Meister. 157 Vgl. dazu Bruns, »Wir haben mit den Gesetzen der Masse nichts zu thun.« 158 Eugen Diederichs, Verlegerische Aufgaben, zit. nach Ulbricht, »Massenfern und klassenlos«, S. 392. 159 Vgl. dazu Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. 160 Vgl. Graf, »Das Laboratorium der religiösen Moderne«, S. 246–247.

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schaft‹ als das große fremde Andere ihrer selbst.«161 Die programmatische Frontstellung zur modernen bürgerlichen Gesellschaft und die Unbedingtheit des gemeinsamen Bekenntnisses sind, so gesehen, Teil der inneren Logik ihrer Assoziationsform. In den Akten der SAG findet sich ein bemerkenswertes Schreiben Siegmund-Schultzes an den Künstler, Lebensreformer und Nudisten Hugo Höppener, alias »Fidus«, in Schönblick-Woltersdorf bei Erkner. Auf stabilen, eigens für die SAG vorgedruckten Karten – im papierarmen Kriegsjahr 1915 ein seltener Luxus – drückt Siegmund-Schultze seine Bewunderung für den von Fidus begründeten »St-Georgs-Bund« aus: »Mit dieser Sache bin ich ganz einig. Vielleicht sah ich daran, daß ich dem Bunde zugehöre. Nicht erst seit gestern und heute – so möchte ich bitten. […] Sie haben mich auch durch ihre Art mir zu begegnen schon immer zu den Ihrigen gezählt.«162 In einer Antwort vom August 1915 bezeichnete Fidus SiegmundSchultze dann tatsächlich als »Bundesfreund« und übersandte ihm kleinere Drucksachen wie die Mitteilungs- und Flugblätter des »St- Georgs-Bundes«.163 Fidus und der Leiter der SAG scheinen also persönlich miteinander bekannt gewesen zu sein; zwischen dem Fidushaus in Schönblick und dem von Siegmund-Schultze 1915 bezogenen Anwesen in Rahnsdorf liegen denn auch nur wenige Kilometer.164 Interessant war das Fidushaus für die SAG auch als Wallfahrtsort der bürgerlichen Jugendbewegung sowie als Ort einer Verbindung von religiöser Erneuerung und Reformpädagogik.165 In einem aufschlussreichen Vergleich bezieht sich Siegmund-Schultze direkt auf die Gemeinschaftsform des »Bundes«, wenn er über seine Schönblicker Eindrücke schreibt: »Ganz überrascht bin ich, daß der St.-GeorgsBund fast ganz gleicht unserem ›Bund der Freunde‹ in der Soz. Arbeitsgemeinschaft. […] Mit Dank und Freude will ich also im St. Georgsbund Bruder sein.«166 Und an anderer Stelle schreibt Siegmund-Schultze etwas

—————— 161 Frese, »Intellektuellen-Assoziationen«, S. 456. 162 Friedrich Siegmund-Schultze an Fidus, 26. März 1915, in: EZA 51/S II e 1. 163 Fidus an Friedrich Siegmund-Schultze, 15. August 1915, in: EZA 626/II 27,3. 164 Von Kontakten zwischen der SAG und dem Fidushaus ist auch die Rede in einem

Schreiben von Katharina Hell an Friedrich Siegmund-Schultze, 20. Februar 1922, in: EZA 51/S II e 2. 165 Vgl. dazu Baader, Erziehung als Erlösung, S. 86–122, zum St. Georgs-Bund S. 105–106; Mogge, »Jauchzend grüßt er die Sonne!«; zur »Irrationalisierung« der Jugendkultur in diesem Zusammenhang vgl. Janz, »Die Faszination der Jugend durch Rituale«. 166 Friedrich Siegmund-Schultze an Fidus, 26. März 1915, in: EZA 51/S II e 1. Fidus, der im Laufe seines Lebens einen seltsamen Weg »vom Jugendstil-Hippie zum Germanenschwärmer« (Jost Hermand) zurücklegte, berief sich mit der Gründung seines »St.-

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rätselhaft über einen namentlich ungenannt bleibenden Bekannten: »Seit ich eine eigentümliche Feier im Herbst 1911 vollzogen habe, gehöre ich mit ihm einem bald daraus entstandenen Bunde an.«167 Zwar bleibt hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung beider Gruppen rätselhaft, weshalb Siegmund-Schultze sich selbst um die »Bundesbruderschaft« des Fidus-Zirkels bemüht hat. Denn die merkwürdige Esoterik dieser Vereinigung und ihres Gründers, dessen »neugermanische« Ästhetik mitten in völkische Ideologien hineinführte, stand dem Programm der Sozialen Arbeitsgemeinschaft eigentlich ausgesprochen fern. Dass der Leiter der ganz anders gearteten SAG trotz alledem vom »St.-Georgs-Bund« fasziniert war, belegt aber die Attraktivität religiös verbrämter Gemeinschaftsmodelle, wie sie die Intellektuellen- und Künstlerassoziationen der damaligen Zeit anboten. Es macht auch den Unbedingtheitsanspruch kenntlich, der mit den Assoziationsformen der »Bewegung« und des »Bundes« eng verknüpft war. Herman Schmalenbach hat 1922 in seiner soziologischen Analyse der Kategorie des »Bundes« dessen »Affinität zum Religiösen« hervorgehoben.168 »Gefühlserlebnisse« seinen konstitutiv für die als Bünde auftretenden Gesinnungsgemeinschaften.169 Diese quasi religiöse Intensität der Gruppenbildung lässt sich auch in der SAG wiederfinden; sie machte für viele Mitarbeiter einen wichtigen Teil der Faszination von Berlin-Ost aus. In der von Jürgen Frese entworfenen Theorie der Intellektuellenassoziation taucht denn auch ein als »mythische Sozialfigur« bezeichnetes Motiv auf, das für die Settlementbewegung zentral war: das Selbstverständnis als eine »Nachbarschaft« und »Genossenschaft von Siedlern«.170 Paradoxer-

—————— Georgs-Bundes« auf den Tod des Pastorensohns Georg Bauernfeind aus Magdeburg, der im Fidushaus 1911 nach über zwei Monaten exzessiven Fastens an Erschöpfung gestorben war. Der zum »St. Georg« geweihte Verstorbene wurde bald darauf zum mythischen Referenzpunkt einer künstlerisch-religiösen Erneuerungsbewegung, die in ihm einen »symbolischen Sieg des Geistes über die Materie« feierte. Schuster, »Fidus und der St. Georgs-Bund«, S. 439. 167 Friedrich Siegmund-Schultze an Rudolf Haberkorn, 10. Februar 1916, in: EZA 51/S II c 23,2. 168 Schmalenbach, »Die soziologische Kategorie des Bundes«, S. 43. Zu diesem Aufsatz im Kontext des zeitgenössischen Diskurses um gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 165–166. 169 Schmalenbach, »Die soziologische Kategorie des Bundes«, S. 59. Vgl. auch die Bemerkungen zur Assoziationsform des »Bundes« im Kontext der Erwachsenenbildungsbewegung der 1920er Jahre bei Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, S. 42– 44. 170 Frese, »Intellektuellen-Assoziationen«, S. 444.

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weise also sorgte schon die spezifische Vergemeinschaftungsform der »Siedler« im Sinne eines »Bundes« oder sogar einer »Gilde«171 dafür, dass Arbeiter und Gebildete in der SAG – entgegen der sozialintegrativen SAGIdee – prinzipiell voneinander unterschieden und damit kategorial getrennt blieben. Die enge Verwandtschaft zur modernen Intellektuellenassoziation zeigt, wie sehr die SAG bis zu ihrem Ende eine Gruppierung von Bildungsbürgern war, in der spezifische Probleme dieser Gruppierung selbst verhandelt wurden. Und die permanente Beschwörung der »Gesinnungsgemeinschaft« schloss tendenziell all jene aus, die nicht ihrer Gesinnung wegen in den Berliner Osten gekommen waren. Der Widerspruch zwischen dieser Assoziationsform des SAG-Kreises und der Idee sozialer Überbrückung blieb bis zuletzt in die Arbeit der SAG eingeschrieben: Die angestrebte Gemeinschaft sollte eine Gemeinschaft zwischen Arbeitern und Akademikern sein, vor allem aber blieb sie eine Gemeinschaft der »Siedler« untereinander.

Netzwerke und Ressourcen Der Kreis der SAG-Freunde war schon zu Beginn der sozialen Arbeit im Berliner Osten weit gespannt. Er reichte von den zahlreichen Theologen, die Siegmund-Schultze von seinen kirchlichen Aktivitäten her kannte, über Vertreter des gehobenen Berliner und Charlottenburger Bürgertums bis hin zu einigen Familien aus dem brandenburgischen und hinterpommerschen Landadel. Durch ihre Geld- und Sachspenden sowie andere Hilfeleistungen ermöglichten sie die Arbeit der SAG, die ansonsten von keiner öffentlichen oder kirchlichen Stelle mitfinanziert wurde. Hin und wieder wurden allerdings einzelne Kirchengemeinden um Spenden gebeten, so etwa die Dorotheenstädtische Gemeinde, der in Aussicht gestellt wurde, dass sie »gleichsam einen Aussenposten im Osten Berlins auf diese Weise errichten könnte«.172 Auf diese Anfrage hin geht immerhin eine »einmalige

—————— 171 Von einer »Gilde« spricht Haberkorn, »Gedanken zur neudeutschen Religion«. Dort

wird der elitäre Gedanke dieser Assoziationsform besonders deutlich, wenn es heißt: »Sie bewahrt das heilige Feuer des neuen Geistes vor der Zudringlichkeit der Masse.« Ebd., S. 155. Der für die SAG im Übrigen eher untypische Text versteigt sich sogar zu der obskuren Gleichung »Gilde=Orden=Gralsburg« und meint damit »eine religiöse Kriegergemeinschaft«. Ebd., S. 156. 172 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an die Gemeinde-Körperschaften der Dorotheenstädtischen Gemeinde Berlin, 11. April 1912, in: EZA 51/S I b. Jahre später überwies die

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Beihülfe von 150 M« ein.173 Häufiger waren es allerdings Einzelpersonen aus kirchlichen Kreisen, welche die Arbeit der SAG unterstützten – eine besonders große Spende dieser Art kam von dem mit Siegmund-Schultze seit ihrer Zusammenarbeit beim Austausch der deutschen und englischen Kirchen 1908 bekannten Eduard de Neufville, der im Frühjahr 1912 2.500 Mark nach Berlin sandte.174 In den ersten Jahren war die SAG zudem besonders auf Sachspenden aller Art angewiesen, um ihre neuen Räumlichkeiten in der Friedenstraße und später in der Fruchtstraße ausstatten und auch schon in Arbeiterfamilien aushelfen zu können: Möbel waren ebenso gefragt wie Bücher, Kleidungsstücke und Lebensmittel. Den königlichen Musikdirektor Heinrich Pfannschmidt aus Neu-Babelsberg bat man 1914 um ein Klavier;175 Pastor von Tippelskirch übereignete der SAG eine eiserne Bettstelle, einen Schrank und einen Teppich, in einer zweiten Sendung außerdem einen Globus, einen Küchentisch, ein Horn sowie verschiedene Bilder.176 Eine besonders bemerkenswerte Sachspende war das blaue Plüschsofa des 1909 verstorbenen ehemaligen Hofpredigers und Leiters der Berliner Stadtmission Adolf Stoecker, das im Februar 1912 von dessen Tochter an die SAG weitergegeben wurde.177 Die SAG-Freunde aus dem landsässigen Adel beteiligten sich vor allem über Landverschickungsaktionen und Ferienaufenthalte der Klubs an der sozialen Arbeit; zuweilen kamen aber auch größere Geldspenden aus Adelskreisen nach Berlin-Ost. So erreichte die SAG 1913 eine Spende von 1.000 Mark aus der Stiftung der Gräfin von Zedlitz-Trützschler, übermittelt durch den ehemaligen preußischen Kultusminister Robert von Zedlitz-Trützschler »für die Rettung der

—————— Gemeinde des mit Siegmund-Schultze befreundeten Pastors Friedrich Rittelmeyer einmal einen Betrag von 700 Mark; vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an Friedrich Rittelmeyer, 6. Oktober 1917, in: EZA 51/S II c 4,2. Insgesamt aber blieben solche Zuwendungen von Kirchengemeinden die Ausnahme. 173 Pfarrer Schiele an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. Mai 1912. EZA 51/S I b. 174 Vgl. die Spendennachweise und Korrespondenz in: EZA/51 S I b. 175 Friedrich Siegmund-Schultze an Heinrich Pfannschmidt, 1. August 1914. EZA 51/S II c 1,2. 176 Vgl. SAG an die Berliner Paketfahrt-Gesellschaft, 10. Mai 1912 (fälschlicherweise auf 1911 datiert), und Friedrich Siegmund-Schultze an Pastor von Tippelskirch, 15. Mai 1912, beide in: EZA 51/S I b. 177 SAG an Frau Mumm, 2. März 1912. EZA 51/S I b. Eine Kuriosität stellt die Nachfrage der SAG zu diesem Sofa dar: »Könnten Sie vielleicht in einem Autogramm von Ihrer Hand beschreiben, was für Beziehungen das Sofa zu D. Stoecker gehabt hat. Das soll dann in unsern Akten aufbewahrt und ausserdem der mündlichen Tradition des Settlements einverleibt werden.« Leider ist in den Akten kein solcher genauerer Hinweis auf die Beziehungen zwischen Stoecker und seinem Sofa zu finden.

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Jugend«,178 und auch später noch wiesen begüterte Adelige wie der Graf Sierstorff aus dem Rheingau größere Summen an.179 Industrielle steuerten dagegen eher selten etwas für die Arbeit der SAG bei.180 Die in Aussicht gestellte immense Spende eines »bekannten Volksfreundes«, von der Siegmund-Schultze an einer Stelle berichtet, scheint der SAG entgangen zu sein, da der Spender vorzeitig verstorben war.181 Trotzdem konnte Siegmund-Schultze im April 1914 über die ausgesprochen günstige Spendenlage in verklärendem Ton feststellen: »Erklärungen genügen nicht. Wir stehen selbst vor einem Geheimnis, das den Knechten der materiellen Welt unverständlich bleiben muß, weil es Erfahrungen einer geistigen Welt einschließt. Unsere Mathematik hat etwas Irrationales: ›So wird Euch solches alles zufallen‹.«182 Die SAG lebte also von den Spenden ihrer »Freunde«, zugleich wurde sie mit steigender Reputation aber auch zu einer Stelle, von der aus zweckgebundene Spendengelder weiterverteilt wurden, die also eine lokale Scharnierfunktion zwischen Stiftern und Empfängern von »Liebesgaben« ein-

—————— 178 Robert von Zedlitz-Trützschler an Siegmund-Schultze, 17. Juni 1913, in: EZA 51/S II c

1,1. 179 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an Graf Sierstorff, 2. Dezember 1921, in: EZA 51/S

II c 7,2. 180 Von Ausnahmen berichten z.B. die Schreiben Eberhard Arnold an Friedrich Siegmund-

Schultze, 21. Januar 1921, und Pfarrer Nithack-Stahn an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. Juni 1921, beide in: EZA 51/S II c 7,1. Dort ist von den Fabrikanten Gustav Epstein und Max Wolf die Rede, die sich gerne unterstützend an der sozialen Arbeit der SAG beteiligen wollten. Ob die Kontakte tatsächlich zustande gekommen sind, lässt sich auf der Basis der Korrespondenzen nicht beantworten. Vgl. außerdem das Schreiben Friedrich Siegmund-Schultze an Paul Lechler jun., 15. Mai 1925, wo es über dessen Vater, den Unternehmer Paul Lechler, heißt, er habe sich immer wieder von den Plänen der SAG berichten lassen und dafür »mehr Verständnis gezeigt, als ich so bei irgend einem Arbeitgeber Deutschlands gefunden habe«. 181 »Ein bekannter Volksfreund hatte mir im Jahre 1909 eine größere Summe (30–40000 RM) versprochen, falls ich selbst den Versuch »Berlin-Ost« machen wollte, an dessen Gelingen er mit brennendem Interesse Anteil nahm. Als ich ihm dann vor drei Jahren mitteilte, daß ich nun bereit sei, in den Osten zu gehen, war er erkrankt, und meine Briefe wurden ihm von seiner Umgebung vorenthalten; er starb, ohne seinen letzten großen Plan mitzuerleben.« Friedrich Siegmund-Schultze, »Unsere Finanzen«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914), S. 39–40, hier S. 39. Leider geht aus den Akten nicht hervor, um wen es sich hier handelte. Die nachgewiesene Spende Andrew Carnegies für die von Siegmund-Schultze herausgegebene ökumenische Zeitschrift »Die Eiche« kann hier allerdings nicht gemeint sein – schon allein deshalb, weil Carnegie noch bis 1919 lebte. 182 Ebd.

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nahm.183 Von Berlin-Ost aus wurden Hilfeleistungen an Arbeiterfamilien und Stipendien an weniger bemittelte Studenten verteilt, und eine beträchtliche Dimension nahm diese Arbeit nach dem Ersten Weltkrieg ein, als internationale Hilfsorganisationen auf »Experten« vor Ort angewiesen waren, die Notlagen richtig einschätzen und vorhandene Ressourcen angemessen einsetzen konnten. Beispielsweise gingen damals Gelder der dänischen und chilenischen Kinderhilfe über den Schreibtisch Friedrich SiegmundSchultzes, der zwischen 1917 und 1919 Leiter des Berliner Jugendamtes gewesen war und dabei seine einschlägigen Kontakte weiter ausgebaut hatte.184 Mit weiteren Hilfsgeldern des holländischen Roten Kreuzes erwarb die SAG 1920 ihre Außenstelle in Wilhelmshagen; in Erkner trafen regelmäßig Extrazüge mit Lebensmitteln aus Holland ein, über deren Weitergabe die SAG zu entscheiden hatte und die auch zahlreiche Plünderer anzogen.185 Die schwierige Aufgabe der Verteilung solcher Unterstützungsleistungen wird deutlich, wenn Siegmund-Schultze einmal über den »große[n] Topf« der Kinderhilfe schreibt: »Schon jetzt beginnt ein wildes Jagen um die Anteile.«186 In einem anderen Fall übersandten im Jahr 1921 Lehrer und Lehrerinnen der Deutschen Schule in Mexiko 250 Mark für eine bestimmte Arbeiterfamilie, nachdem ein studentischer Mitarbeiter der SAG in einem rührenden Text deren Notlage geschildert hatte.187 Angesichts solcher Möglichkeiten, in Einzelfällen auszuhelfen, wurde man in der SAG geradezu »mit Bitten überhäuft«.188 Dabei war man in der Beziehung zu einzelnen Arbeitern in Berlin-Ost immer auch darum bemüht, Unterstützungsleistungen zu verschleiern, um selbst möglichst wenig als Wohlfahrtsorganisation aufzutreten. So sollte beispielsweise die finanzielle Zuwendung an einen jungen Arbeiter, der angeblich eine Stelle als »Privatsekretär«

—————— 183 Vgl. allgemein dazu den anregenden Aufsatz Pielhoff, »Stifter und Anstifter«. 184 Friedrich Siegmund-Schultze an Ernst von Dryander, 8. Januar 1921, in: EZA 51/S II c

7,1. 185 Friedrich Siegmund-Schultze, »Unsere SAG-Außensiedlung in Wilhelmshagen«, in:

NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 3–11, hier S. 4. 186 Friedrich Siegmund-Schultze an Margarete Kurlbaum-Siebert, 15. Dezember 1920, in:

EZA 51/S II c 7,1. 187 Vgl. den Bericht von Fritz Schreiber und das Schreiben des Schuldirektors Traugott

Böhme an Friedrich Siegmund-Schultze, 20. April 1921, beides in: EZA 51/S II c 7,1. 188 Friedrich Siegmund-Schultze an M. Dittmar, Wohlfahrtsstelle im Polizeipräsidium, 23.

Oktober 1923, in: EZA 51/S II e 18.

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in Aussicht hatte und dafür einen Anzug benötigte, »in einer diskreten Form« gewährt werden.189 Die SAG bildete indessen nicht nur einen Knotenpunkt materieller Hilfeleistungen für die Nachbarschaft in Berlin-Ost, sondern auch ein Netzwerk, über das Stellen in Kirche, Erziehungswesen, kommunaler Wohlfahrt und sozialer Arbeit im weitesten Sinne vermittelt und vergeben wurden. Damit erfüllte das Settlement immer auch eine soziale Funktion für die Mitarbeiter und Freunde selbst. So erhielt etwa der SAG-Mitarbeiter Erich Gramm 1911 »auf Veranlassung von Herrn Generalsuperintendent D. Lahusen hin« einen Posten bei der Deutschen Bank in London.190 Nach Gramms kriegsbedingter Rückkehr im Jahr 1914 stellte ihm SiegmundSchultze im Hinblick auf eine ähnliche Stelle bei der Deutschen Bank in Berlin ein Empfehlungsschreiben aus, in dem er betonte, »dass mir Herr Gramm seit Jahren bekannt ist und dass ich mich für seine Ehrlichkeit und seinen Fleiss verbürge«.191 Im Juni 1917 bat Siegmund-Schultze in einem Brief an den einflussreichen SAG-Freund Georg Michaelis – wenige Wochen vor dessen Ernennung zum Reichskanzler – um eine Anstellung des Dichters Gustav Schüler, der unter anderem das »Bundeslied« der SAG verfasst hatte, als »Reiseinspektor«.192 Dass also die sehr weitreichenden Beziehungen Siegmund-Schultzes und anderer SAG-Mitarbeiter auch zur persönlichen Förderung Einzelner innerhalb des SAG-Kreises genutzt wurden, macht eine weitere wichtige Dimension des »Bundes« sichtbar; rund um Berlin-Ost entstand im Laufe der Zeit ein Reservoir von guten Adressen, auf die man in allen nur denkbaren Belangen zurückgreifen konnte. In dieser Hinsicht trifft ein Vergleich, den Ernst Holler einmal zwischen den SAG-Freunden und den »alten Herren« studentischer Kor-

—————— 189 Friedrich Siegmund-Schultze an die Zentrale für private Fürsorge, 10. Dezember 1921,

in: EZA 51/S II c 7,2. 190 Friedrich Siegmund-Schultze an die Direktion der Deutschen Bank, 25. Februar 1914.

EZA 51/S II c 23,1. 191 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an die Direktion der Deutschen Bank, 25. Februar

1914. EZA 51/S II c 23,1, und Friedrich Siegmund-Schultze an Erich Gramm, 2. Februar 1914, in: EZA 51/S II c 21. 192 Friedrich Siegmund-Schultze an Georg Michaelis, 4. Juni 1917, in: EZA 51/S II c 3. Schon 1911 hatte der anscheinend dauerhaft arbeitslose Schüler um Fürsprache beim damaligen Reichskanzler (!) gebeten, um die Leitung der Feuilletonredaktion der »Norddeutschen Allgemeinen« übernehmen zu können. Siegmund-Schultze leitete diese Bitte natürlich nicht an den Kanzler, aber doch immerhin an Generalsuperintendent Lahusen weiter. Vgl. Friedrich Lahusen an Friedrich Siegmund-Schultze, 28. Februar 1911, in: EZA 626 I/21,3.

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porationen zog,193 durchaus einen Teil der Wahrheit. Holler selbst war denn auch von Siegmund-Schultze für verschiedene Positionen in öffentlichen Ämtern vorgeschlagen worden.194 Wenn also für die allmähliche Etablierung der SAG als anerkannte Stelle sozialer Arbeit hin und wieder die Metapher des »Netzes« verwandt wurde, dann sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei diesem Netz immer auch um ein Netzwerk handelte, das den Mitarbeitern und Freunden selbst gute Dienste leistete.195 Das gemeinsame Engagement für das öffentliche Wohl, wie Jürgen Kocka resümiert, stellte nicht zuletzt »eine der Klammern dar, die den Zusammenhang von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bekräftigten und damit den inneren Zusammenhalt des Bürgertums stärkten«.196 In dieses Netzwerk der SAG waren zahlreiche prominente Sozialreformer und Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, Politiker, Pädagogen und Theologen eingebunden. Die Listen der SAG-Freunde lesen sich teilweise wie ein Who is Who der zeitgenössischen reformerischen Kreise. So tauchen in den Korrespondenzen Siegmund-Schultzes und der SAG unter anderem auf: die Gründerin von Hull House Jane Addams, der Begründer der Neuwerk-Bewegung Eberhard Arnold, die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer, der Sozialpolitiker Lujo Brentano, der Leiter des Hamburger Volksheims Walther Classen, der Romanist Ernst Robert Curtius, der Verleger Eugen Diederichs, die Leitfigur der Neulandbewegung Guida Diehl, die Leiterin des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses Lilly Droescher, die Jugendfürsorgerin Frieda Duensing, der Volksbildner und Soziologe Theodor Geiger, die Sozialdemokraten Max Grunwald und Heinrich Peus, der Volkshochschul-Theoretiker Robert von Erdberg, der Politiker und Gewerkschafter Anton Erkelenz, der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster, der Philosoph Theodor Haering, die Volksbildnerin Gertrud Hermes, der Schriftsteller Hermann Hesse, die Künstlerin Käthe Kollwitz, der Herausgeber des »Hochweg« Paul Le Seur, der Reformpädagoge Martin Luserke, die Volksbildner Alfred Mann und Adolf Reichwein, der DCSV-Vorsitzen-

—————— 193 Ernst Holler an Friedrich Siegmund-Schultze, 12. September 1923, in: EZA 51/S II c

25. 194 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an Ernst Holler, 26. Juni 1923, in: EZA 51/S II c 25.

Ähnliche Empfehlungen sind z.B. dokumentiert in den Briefwechseln Siegmund-Schultzes mit Hermann Hublow und Justus Popp, beide in: EZA 51/S II c 25. Vgl. auch das Empfehlungsschreiben für Paul Hoffmann: Friedrich Siegmund-Schultze an Landrat Lindenberg, 25. Juli 1921, in: EZA 51/S II c 25. 195 Vgl. dazu Wietschorke, Netzwerke der Liebesarbeit. 196 Jürgen Kocka, »Bürger als Mäzene«, S. 37.

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de und spätere Reichskanzler Georg Michaelis, der Architekt Hermann Muthesius, die Juristen und Wohlfahrtspfleger Hans Muthesius und Wilhelm Polligkeit, der sächsische Staatsminister Alfred von Nostitz-Wallwitz, der Herausgeber der Ethischen Kultur Rudolf Penzig, der spätere Reichsjustizminister Gustav von Radbruch, die Gründerin der Berliner Sozialen Frauenschule Alice Salomon, der Lyriker Gustav Schüler, die Leiterin der Sozialen Frauenschule der Inneren Mission Bertha von der Schulenburg, der Staatsrechtler Rudolf Smend, die Pädagoginnen Minna Specht und Elisabeth von Thadden, der spätere Kirchentagspräsident Reinold von Thadden-Trieglaff, die Pionierin der sozialen Arbeit Siddy Wronsky und der Reformpädagoge Gustav Wyneken. Dazu kamen bekannte Theologen wie Günther Dehn, Adolf Deißmann, Otto Dibelius, Ernst von Dryander, Birger Forell, Adolf von Harnack, Friedrich Lahusen, Johannes Müller, Gottfried Naumann, Alfred de Quervain, Martin Rade, Friedrich Rittelmeyer, Paul Tillich und Ernst Troeltsch. Und auch mit esoterischen Außenseitern des künstlerischen und akademischen Betriebs wie dem bereits ausführlich erwähnten Fidus oder Rudolf Steiner war Siegmund-Schultze persönlich bekannt.197 Die Liste prominenter Namen ließe sich weiter fortsetzen. Sie zeigt nicht nur die Spannweite des personellen Netzwerks der SAG an – der Verein der SAG hatte im Oktober 1919 rund 800 Mitglieder,198 sondern macht auch deutlich, welche sozialpolitischen, sozial- und kulturreformerischen Ansätze hier zusammenkamen: Traditionen des klassischen Sozialund Kulturprotestantismus sowie der Inneren Mission überkreuzten sich in Berlin-Ost mit der entstehenden Bewegung des Religiösen Sozialismus, ältere Formen der Wohlfahrtspflege trafen auf radikale Neuansätze, dazu kam ein breites Spektrum pädagogischer Ideen von der Reformpädagogik über die Volkshochschulbewegung bis hin zu radikal alternativen Lebensentwürfen. Insgesamt begegnen sich in diesem Feld sehr unterschiedliche Bewegungen, in denen sich auch die Ungleichzeitigkeiten innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft widerspiegeln. Im Hinblick auf die in den 1920er Jahren zunehmenden Schwierigkeiten der SAG, sich auf eine poli-

—————— 197 Diese Reihe von SAG-Freunden und Korrespondenzpartnern ist hauptsächlich zusam-

mengestellt nach den Listen der Freunde in: EZA 51/S II c 6,1 und den Korrespondenzen in: EZA 51/S II c 1–9 und 12–14. Auf Einzelnachweise verzichte ich an dieser Stelle. 198 Vgl. Alix Westerkamp an das Polizeipräsidium Berlin, 23. Oktober 1919, in: EZA 51/S II f 1.

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tische Linie zu einigen, könnte man die Frage aufwerfen, ob hier vielleicht zu unterschiedliche Bewegungen integriert werden sollten. Dass die SAG später selbst zwischen den Stühlen saß und auch intern einige Konflikte auszutragen hatte, mag in dieser sehr offenen Konstellation bereits angelegt gewesen sein.

Nahaufnahme I: Wenzel Holek als Symbolfigur der SAG

Am 10. Mai 1916 kam der zuvor in Leipzig-Großzschocher tätige Jugendpfleger Wenzel Holek nach Berlin-Ost.1 Er bezog eine kleine, von der SAG angemietete Erdgeschosswohnung in der Palisadenstraße und übernahm die Leitung zweier Jungenklubs. Durch Vermittlung des SAG-Freundes Alfred von Nostitz-Wallwitz war Holek nach Berlin geholt worden, um in der durch den Kriegseinsatz der meisten Mitarbeiter stark gefährdeten Jugendarbeit auszuhelfen. Neben Holek und Siegmund-Schultze gehörten damals nur drei Mitarbeiterinnen sowie zwei als Reservisten zurückgebliebene Studenten zum Mitarbeiterstamm der SAG, dazu kam ein in der Inneren Mission tätiger Helfer.2 Mit diesem stark ausgedünnten Personalbestand hielt man die soziale Arbeit in Berlin-Ost aufrecht; zu dieser Zeit vergab man in der SAG erstmals hauptamtliche Stellen in der Jugendpflege und bezahlte an einige Mitarbeiter ein festes Gehalt. Holek erhielt zunächst 200 Mark monatlich und stellte der SAG dafür – so der Arbeitsvertrag vom Juni 1916 – »seine gesamte Arbeitskraft zur Verfügung«;3 eine seiner

—————— 1 Vgl. Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 25. Mittels eines Briefes vom März 1916

nahm Holek erstmals Kontakt mit der SAG auf: Wenzel Holek an Friedrich SiegmundSchultze, 29. März 1916, in: EZA 51/S II c 28. Zu Wenzel Holek im Kontext der SAG liegen drei Aufsätze vor, denen die folgenden Überlegungen wichtige Anregungen verdanken: Vogelsberg, »Wenzel Holek«; Lindner, »Der Vermittler«; Berndt/Scherer, »Wenzel Holek und die Jugendarbeit«. Eine eigentümliche Unkenntnis des Forschungsstandes verrät dagegen das Wenzel Holek gewidmete Kapitel in: Harböck, Stand, Individuum, Klasse, S. 243–262. 2 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 25–26. 3 Vgl. den Arbeitsvertrag vom 7. Juni 1916, in: EZA 51/S II c 15. Einer Gehaltsliste von ca. 1917 zufolge erhielt Holek damit den höchsten Betrag, der überhaupt an einen SAGMitarbeiter ausbezahlt wurde. Vgl. Gehaltsliste in: EZA 51/S II e 13.

WENZEL HOLEK ALS SYMBOLFIGUR DER SAG

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Hauptaufgaben war die Verwaltung des neuen SAG-Gebäudes Am Ostbahnhof 17.4 Wenzel Holek war damals längst kein Unbekannter mehr. 1864 in Nordböhmen geboren, war er seit seinem 10. Lebensjahr als Wanderarbeiter in Ziegeleien, Zucker- und Glasfabriken unterwegs gewesen. 1882 wurde er Sozialdemokrat und beteiligte sich als Versammlungsredner und Redakteur an der Parteiarbeit. Aufgrund dauerhafter Arbeitslosigkeit verließ er Böhmen und arbeitete ab 1904 in Dresdner Ziegeleien und Fabriken. 1909 erschien dann der erste Band von Holeks Autobiographie bei Diederichs in Jena. Herausgegeben von Paul Göhre, machte dieses Buch seinen Autor schlagartig bekannt; insbesondere protestantische sozialreformerische Kreise interessierten sich für diese Lebensgeschichte. Holek selbst erhielt daraufhin eine Stelle als Leiter des Leipziger Volksheims, wo er eine umfangreiche Jugend- und Bildungsarbeit aufbauen konnte. Während des Krieges arbeitete Holek schließlich als staatlicher Angestellter in der Jugendpflege in Leipzig-Großzschocher, bis er 1916 nach Berlin-Ost übersiedelte.5 Dort entstanden zwei weitere Bände seiner Autobiographie; dort sollte er bis zu seinem Tod 1935 wohnen bleiben, als eine der wichtigsten Stützen der SAG – und als zentrale Symbolfigur für deren »klassenüberbrückendes« Wirken. Denn für Siegmund-Schultze war Holek die »Verkörperung unserer Arbeit« und das »Symbol der Volksgemeinschaft in unserer Mitte«.6 Das Leitmotiv von Holeks Lebensbeschreibung ist der soziale Aufstieg durch Bildung und, davon abgeleitet, der Stolz des sozialen Aufsteigers auf seine Bildung.7 Dieser Aufstieg war bei Holek keineswegs fulminant, aus Verhältnissen bitterer Armut und Existenznot führte er aber immerhin in

—————— 4 Friedrich Siegmund-Schultze an Wenzel Holek, 19. Dezember 1916, in: EZA 51/S II c

15. 5 Zur Biographie vgl. den Überblick bei Berndt/Scherer, »Wenzel Holek und die Jugend-

arbeit«, S. 93–99; Emmerich (Hg.), Proletarische Lebensläufe, S. 387–388. Vgl. außerdem die drei Bände von Holeks Autobiographie: Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters; ders., Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher; ders., Meine Erfahrungen in Berlin Ost. 6 Friedrich Siegmund-Schultze, »Vater Holek«, in: MSAG Nr. 95 (März 1935), S. 1–2, hier S. 1. 7 Vgl. dazu auch die Skizze des »proletarischen Bildungsgangs« von Holek bei Schwarzenau, »Die frühen Arbeiterautobiographien«, S. 193–202, und Bollenbeck, Zur Theorie und Geschichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen, S. 190–212, der sich allerdings v. a. mit Holeks Verhältnis zur Sozialdemokratie befasst. Vgl. darüber hinaus den allgemeinen Hinweis auf den Bildungsstolz der sozialen Aufsteiger aus der Arbeiterbewegung in: Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 187.

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eine auf niedrigem Niveau abgesicherte Stellung in der Jugendpflege. Entscheidend war für Holek nicht nur diese materielle Konsolidierung, sondern vor allem die Tatsache, dass er sich aus eigener Kraft eine gänzlich andere Welt erschlossen hatte: eine Welt der Bücher und der Wissenschaften, der philosophischen Betrachtungen und sozialpolitischen Debatten. Sich die Teilhabe an dieser Welt erkämpft zu haben, um seine Erfahrungen in der Jugendarbeit weitergeben zu können, darin sah Holek selbst seine Lebensleistung. Zugleich wurde damit aber auch Holeks ursprüngliche emanzipatorische Idee von Bildung individualisiert und entpolitisiert. Bei ihm, so Angela Federlein in ihrer Studie zur Arbeiterautobiographik, »löst sich das Bildungsbedürfnis allmählich aus seinem politischen Kontext und wird verabsolutiert«.8 Was nun machte gerade Holek zur zentralen Symbol- und Vermittlungsfigur von Berlin-Ost? Die Rezeption seiner Autobiographie in der bürgerlichen Öffentlichkeit gibt einen Hinweis darauf. Thomas Mann erblickte in Holeks zweitem Band eine »pädagogische Tat«; in der MünchenAugsburger Abendzeitung war zu lesen, das »tiefe Erleben des Mannes aus dem Volke« verallgemeinere sich hier zu einem »Kulturbild«, das »sachlich und ruhig die Klassengegensätze mit reiner Menschlichkeit überwinden lehrt«.9 Selbst in der bayerischen Lokalpresse war also angekommen, dass Holek für die bürgerliche Idee einer Überbrückung der Klassengegensätze durch »reine Menschlichkeit« anschlussfähig war wie kein anderer. Seine Bücher wurden zu Vorzeigedokumenten eines »besseren« Proletariats, das für sich selbst Ziele verfolgte, wie sie auch in den bürgerlichen Reformprogrammen standen: Unbedingtes Bildungsstreben, praktisches Christentum, sittliche Strenge und Abstinenz waren die Eckpfeiler seiner Lebensführung, durch die er selbst zum sozialen Aufsteiger wurde und die er dann als Rezept für sozialen Aufstieg pädagogisch konzeptionalisierte. Holeks Lebensgeschichte ist durch und durch geprägt vom Wunsch nach Anerkennung durch sozial Höherstehende – und später dann vom Stolz, dieses Ziel auch wirklich erreicht zu haben.10 So war Holek nicht nur im Kreis der bürgerlichen Kollegen in der SAG ein anerkannter Ratgeber, sondern hatte auch gute Kontakte zu den »Landfreunden« der SAG aus ostelbischem Adel. Bezeichnenderweise stammte denn auch die einzige kritische Rezension des ersten Teils der Holekschen Autobiographie von dem Sozialde-

—————— 8 Federlein, Autobiographien von Arbeitern, S. 241. 9 Beide Zitate nach der Buchanzeige in: Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 329. 10 Vgl. Lindner, »Der Vermittler«, S. 14.

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mokraten Franz Mehring, der von einem »Buch für die Bourgeoisie« sprach,11 während sich die bürgerliche Presse durchweg angetan zeigte.12 Und dass Holeks Lebensbeschreibung in ihren ersten beiden Teilen ausgerechnet bei Eugen Diederichs in Jena erschien, liefert ein weiteres Indiz für die Indienstnahme seiner Biographie durch bürgerliche Kreise. Denn das Verlagshaus Diederichs, das in seiner Ankündigung des zweiten Bandes Holeks »Ringen ums Geistige« hervorhob,13 war selbst ein Brennpunkt der bildungsbürgerlichen Identitätssuche und Kulturreform, ein »Warenhaus für Weltanschauungen«, wie es Max Weber 1917 nannte. Künstlerisch aufbereitete »Authentizität« war Diederichs’ Erfolgsrezept; seine charakteristische »Verlagsreligion« zielte auf die Entfaltung des »neuen Menschen« durch stilisierte Volkstümlichkeit, wodurch er sowohl weite Teile des alternativ orientierten deutschen Kunst- und Religionsmarktes abdeckte als auch die imaginäre Verbindung zum »Volk« herstellte, aus der die gesamte deutsche Kulturreformbewegung einen Gutteil ihrer Legitimation bezog.14 So war auch für die symbolische Ökonomie der SAG von elementarer Bedeutung, dass ein »echter Arbeiter« in ihrer Mitte eine Schlüsselposition einnahm. Und zugleich war Holek – als bekannter Arbeiterautobiograph – nicht irgendein Arbeiter. Er brachte vielmehr eine ebenso authentische wie runde Geschichte mit nach Berlin-Ost, eine Geschichte, die in das Konzept der SAG passte wie kaum eine zweite. Denn sie berichtete von einem Leben zwischen schwierigsten Verhältnissen und einem permanenten Autodidaktentum, das Holek vom Wanderarbeiter zum Redakteur einer kleinen Parteizeitung, vom Redakteur zum Buchautor und vom Buchautor zum Jugenderzieher gebracht hatte. In dieser Geschichte steckte genügend real life, um echte Einblicke in proletarische Milieus zu gewährleisten. Der Herausgeber des ersten Bandes der Autobiographie, Paul Göhre, hatte bereits 1909 geurteilt: »Hier redet das Volk selbst.«15 Gleichzeitig aber dokumentierte Holeks Biographie eine grundlegende Identifikation mit bildungsbürgerlichen Kulturmustern. Für die symbolische Ökonomie des Aufsteigers Holek wie der SAG ergab sich dabei eine regelrechte Win-winSituation: Während Holek im Kreis der SAG-Mitarbeiter endlich die so-

—————— 11 Franz Mehring in der »Neuen Zeit«, zit, nach: ebd., S. 16. 12 Berndt/Scherer, »Wenzel Holek und die Jugendarbeit«, S. 94. 13 Zit. nach der Buchanzeige in: Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 329. 14 Vgl. dazu Graf, »Das Laboratorium der religiösen Moderne«; Werner, »Die Erneuerung

des Lebens durch ästhetische Praxis«. 15 Paul Göhre im Vorwort zu Holeks Buch, zit. nach Lindner, »Der Vermittler«, S. 16.

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ziale Anerkennung fand, die ihm die längste Zeit seines Lebens verweigert worden war, fanden Siegmund-Schultze und seine Mitarbeiter in Holek prinzipielle Anerkennung ihres eigenen sozialpädagogischen Konzepts und damit die exemplarische Akzeptanz ihres Lebensentwurfs durch einen – wenn auch reichlich untypischen – Vertreter der Arbeiterschaft. Der ehemalige Arbeiter Holek gab den Mitarbeitern der SAG also ein praktisches Exempel »kultureller Hebung« durch Bildung und ethische Grundsätze an die Hand, durch das sie ihr Programm bestätigt und umgesetzt sehen konnten. Ein besseres Aushängeschild konnten sie sich nicht wünschen; so wurde Holek zu Siegmund-Schultzes »Paradepferd«16 und zur proletarischen Galionsfigur der SAG. Denn – so Siegmund-Schultze – »er war derjenige unter uns, der als Arbeiter, schon ehe er uns kennen lernte, zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen war wie wir«.17 Wolfgang Emmerich hat in seiner Edition »proletarischer Lebensläufe« auf die Spezifik von Arbeiterautobiographien hingewiesen, die von Aufsteigern aus dem Proletariat verfasst wurden. Diese Texte – Emmerich nennt als Beispiele die autobiographischen Romane von Bürgel, Bröger und Lersch18 – stehen in der Tradition des bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsromans und sind daher »von der Selbstdarstellung des Proletariats als Klasse weit entfernt«.19 Vielmehr steht das Individuum und seine Entwicklung im Zentrum der Darstellung. Holeks dreibändige Autobiographie ist geradezu ein Paradebeispiel für diesen Typ des »proletarischen Bildungsromans«. In ihm spielt, wie Alfred Pfoser bemerkt hat, die »fast religiöse Bedeutung des Lesens mit weitreichenden existenziellen Folgen« eine Hauptrolle.20 Holek scheint ein ganz erstaunliches Lektürepensum absolviert zu haben, das Studium wissenschaftlicher Literatur betrieb er mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Fleiß. So sparte er auch entlegenere Wissensgebiete nicht aus und folgte einem geradezu enzyklopädischen Antrieb: »Von sämtlichen Wissenschaften« – so heißt es im ersten Band seiner Autobiographie – »war ich für die Volkswirtschaftslehre und die Geschichte am meisten eingenommen, obwohl ich alles las, was mir zugänglich war, wenn ich nur freie Zeit dazu hatte. Am schwersten kam mir immer Astro-

—————— 16 So die Formulierung bei Hühne, Thadden-Trieglaff, S. 63. 17 Friedrich Siegmund-Schultze, »Vater Holek«, in: MSAG Nr. 95 (März 1935), S. 1–2, hier

S. 1. 18 Vgl. Bürgel, Vom Arbeiter zum Astronomen; Bröger, Der Held im Schatten; Lersch, Hammer-

schläge. 19 Emmerich, »Einleitung«, S. 25. 20 Pfoser, »Arbeiter lesen«, S. 76.

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nomie und Mathematik an.«21 Und noch in seinen letzten Lebensjahren zeigte er sich als literarischer Omnivore, der sich und seine Aufnahmefähigkeit nicht schonte, wie folgende Stelle aus einem Brief belegt: »Das Studieren der Naturwissenschaften, Wirtschaftslehre, Philosophie und Psychologie geht gut vom Fleck, nur mit der Theologie geht es leider nicht.«22 Die Bildungserfahrung wird in Wenzel Holeks Autobiographie zum echten Erweckungserlebnis: Wie dem Arbeiter, »der die härteste Schule des Lebens durchmachen mußte, beim Eintritt in die philosophischen Betrachtungen des Lebens zumute sein mußte, das zu beschreiben, ist völlig unmöglich, das kann ihm auch keiner nachfühlen, wenn er es selber nicht erlebt hat«.23 Und nur aus dieser Intensität der Bildungserfahrung heraus wird ansatzweise verständlich, was Holek über den Notverkauf seiner mühsam zusammengetragenen kleinen Bibliothek schrieb: »Wenn mir ein Kind starb, fühlte ich mich nicht so schmerzlich getroffen als damals, wo ich die Bücher aus dem Hause tragen musste.«24 Angesichts dieser Biographie und sozialen Laufbahn wird leicht nachvollziehbar, weshalb sich Holek von der SAG angezogen fühlte und im Mai 1916 aus Leipzig nach Berlin wechselte. In den SAG-Mitarbeitern sah er, so Annette Vogelsberg, »nicht nur Verbündete in der Arbeit, sondern auch ideelle Gemeinsamkeit […], die ihm endlich dazu verhelfen wird, sein Vorgehen zu einem Prinzip und seine Ansichten zu einer eigenen Philosophie zusammenzufügen«.25 Kurzum: Der nach Bildung Strebende wird zum Missionar des Bildungsstrebens.26 Von daher ist es auch kaum verwunderlich, dass gerade Holek zu einem der eifrigsten Gralshüter der Gesinnungsgemeinschaft von Berlin-Ost und des »SAG-Geistes« wurde, zu einem Mitarbeiter, der für Siegmund-Schultze vor allem »auf dem innersten Gebiet« wertvoll war.27 In einem Beitrag über Aufgaben und Ziele der Settlements führte Holek aus, dass deren hauptsächliche Bedeutung nicht in der praktischen Arbeit, sondern im »Psychologischen und Ideellen« liege;28 von den Einrichtungen der Volksbildung, der Jugend- und Wohl-

—————— 21 Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 309–310. 22 Wenzel Holek an die SAG, 27. Januar 1927, in: EZA 51/S II c 15. 23 Holek, Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher, S. 103. 24 Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 324. 25 Vogelsberg, »Wenzel Holek«, S. 167. 26 Lindner, »Der Vermittler«, S. 17. 27 Friedrich Siegmund-Schultze an Wenzel Holek, 9. August 1923, in: EZA 51/S II c 15. 28 Wenzel Holek, »Zur Diskussion über die Aufgaben und Ziele der Settlements«, in:

NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 11–16, hier S. 12.

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fahrtspflege sah er die SAG vor allem durch ihre »inneren Beweggründe«29 unterschieden. In dieser Fixierung auf »Innerlichkeit« spiegelt sich – fast im Sinne einer Überidentifikation mit dem bürgerlich-protestantischen Habitus – die ausgeprägte Bildungsorientierung des arrivierten Arbeiters,30 der sich durch philosophische und theologische Schriften hindurch regelrecht »emporgelesen«31 hatte: keineswegs Renegat seiner Klasse, aber doch anfällig für die Programmatik der »inneren Werte«. 1920 rief Holek sogar eine »Gemeinschaft zur Pflege des Innenlebens« ins Leben, deren Treffen eine Zeitlang im Haus Am Ostbahnhof 17 stattfanden. Alix Westerkamp zufolge hat Holek eigens für diese Veranstaltungen Postkarten drucken lassen, auf denen als pädagogisch-ethische Grundsätze Holeks »zehn Sätze standen, Sätze, die in der Tat anklingen an manches, was man in heiligen Schriften liest«.32 In ihnen wurde das alttestamentarische »Du sollst« umgekehrt in ein »Ich will«; nach dem Tod Holeks 1935 wurde dieser Dekalog dann in den Nachrichten der SAG abgedruckt.33 Holeks Fixierung auf die »ideellen Werte« und das Modell des Aufstiegs durch Bildung wird besonders in der Art und Weise deutlich, wie er sich von anderen Angehörigen seiner sozialen Klasse distanziert. Im »Lebensgang« heißt es über die tschechischen Ziegelarbeiter, dass sie bei ihrer schweren Arbeit »für etwas geistig Höheres, Schönes und das Menschenleben Veredelnde keinen Sinn hatten. Und ich, der ich so voll Sehnsucht nach alle dem war, ich mußte nun meine Tage unter ihnen verbringen. […] Jene aber fühlten sich zufrieden.«34 Bei allem Respekt für die schwierige Lage seiner Arbeitskollegen: In der Abgrenzung von »jenen« – Lindner spricht von »ces gens-là«35 – liegt der Schlüssel zu Holeks Lebenshaltung. Sie repräsentieren in seiner Lebensgeschichte die Milieus, denen er entkommen wollte – und entkommen ist. Die Abraumarbeiter von Dux etwa – »die halbnackten, schmutzigen, schwarzen, struppig und versoffen aussehenden Kerle«36 – werden bei Holek zur Negativfolie all der Werte, die er

—————— 29 Ebd. 30 Als »arrivierter Revisionist« wird Holek bezeichnet bei Harböck, Stand, Individuum, Klasse,

S. 243. 31 Pfoser, »Arbeiter lesen«, S. 83. 32 Alix Westerkamp, »Aus dem Erleben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft 1934/35«, in:

AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 5–9, hier S. 5. 33 In: AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 1. 34 Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 280. 35 Lindner, »Der Vermittler«, S. 12. 36 Holek, Lebensgang eines Handarbeiters, S. 115.

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selbst vertrat. Ausführlich werden ihre Dialoge und Zoten wiedergegeben, die freilich Anlass zu interessanten Milieustudien bieten, aber immer auch dem Nachweis dienen, dass »das Arbeiten und Leben unter diesem Gesindel […] unerträglich« gewesen sei.37 Unerträglich, so muss man hinzufügen, für einen bildungshungrigen Arbeiter, der sich später seine Respektabilität durch Parteiarbeit und soziale Arbeit verdiente. Wenn er über das »spröde Material« mancher Berliner Arbeiterjungen schreibt, diese seien nur begrenzt »kultivierungsfähig«,38 so ist das immer auch eine Aussage über eine spezifische Form von »Selbst-Respekt«, der sich in der moralischen Differenzierung der Arbeiterschaft nach den Kriterien von zivilisiert/unzivilisiert bzw. »kultiviert/unkultiviert« niederschlägt.39 Als der ehemalige Wanderarbeiter Holek als Jugenderzieher nach Berlin-Ost kam, war Friedrich Siegmund-Schultze zunächst skeptisch, ob man ihm überhaupt einen Klub würde anvertrauen können. So äußerte er in einem Schreiben vom 19. August 1916 die »Besorgnis, ob ich auch wagen durfte, einen ›Arbeiter‹ als Leiter der Jungen zu […] schicken«. Denn Holek stehe »nicht genug über den Verhältnissen, um immer pädagogisch zu verfahren; besonders fehlt ihm die Disciplin militärischer Art, die unsere bei uns ausgebildeten Jugendleiter meist haben«.40 Diese Sorgen erwiesen sich indessen bald als unbegründet: In den folgenden Jahren wurde »Vater Holek«41 zu einem respektablen SAG-Pädagogen, der ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis zu den Jungen seiner Klubs mit autoritärer

—————— 37 Ebd., S. 119. 38 Zit. nach Vogelsberg, »Wenzel Holek«, S. 170. 39 Vgl. Lindner, »Der Vermittler«, S. 12–14. Charakteristisch für diese Haltung ist z.B. auch

die Äußerung des Arbeiters und Parteiaufsteigers Moritz Bromme, der 1905 in seiner Autobiographie schrieb: »Wie glücklich ist […] der Proletarier, der ein Interesse für Politik, für Kunst und Wissenschaft hat. Leider wird er von den versumpften Lumpenproletariern gewöhnlich verachtet und verspottet. Deshalb ist auch eine tiefe Kluft in dem Proletariat vorhanden: Auf der einen Seite steht die gebildete, nach den höchsten Gütern der Menschheit und nach der Gleichberechtigung mit den herrschenden Klassen strebende Arbeiterschaft, auf der anderen das in Schnaps, Unwissenheit, Not und Elend verkommene Lumpenproletariat, die Hefe der menschlichen Gesellschaft, die […] ohne jede geistige Beschäftigung dahinlebt.« Zit. nach Grüttner, »Arbeiterkultur versus Arbeiterbewegungskultur«, S. 245. 40 Siegmund-Schultze an eine »Landfreundin« in Bagow, 19. August 1916, in: EZA 51/SII c 15. 41 Vgl. dazu Herbert Fenske, »Unser Vater Holek«, in: MSAG Nr. 95 (März 1935), S. 4–5, hier S. 4.

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Strenge verband.42 Im Gegensatz zu seinen studentischen Kollegen griff er zuweilen zu seinem »Karwatsch«, einem eigens aus Lederriemen zusammengebundenen Züchtigungsinstrument. In einer Episode aus dem dritten Band seiner Autobiographie heißt es: »Dann gab ich ihnen zu wissen, dass ich sie nur einmal um Ruhe bitten würde […]. Sie liessen es aber doch hin und wieder darauf ankommen. Da tanzte jedesmal mein Karwatsch ohne Worte, ohne Zögern auf ihren Buckeln. […] Das musste mit einer Entschlossenheit und Furchtlosigkeit geschehen wie beim Blücher, wie es im Volksmunde heisst.«43 Im Kreis der SAG-Klubleiter galt Holek als ein Mann der Praxis, der für seine immense Lebenserfahrung geschätzt wurde – auch und gerade dann, wenn er sich gegen die Ideen der »weltfremden« Theologen unter den Kollegen in der SAG stellte.44 Seine Biographie lieferte weiteren Stoff für das romantische Bild vom einfachen und anständigen Menschen; in Holek spiegelte sich die Sehnsucht vieler SAGler nach dem »wirklichen Leben«. Bei voller Anerkennung des bildungsbürgerlichen Wertekanons und des Aufstiegs durch Bildung stand er für den untrüglichen moralischen Sinn der »kleinen Leute«, für den gesunden Menschenverstand des »Handarbeiters«, der er einmal gewesen war. »Ein feiner Kern in einer rauhen Schale«, so hat ihn Paul Kesselring charakterisiert.45 Hans Windekilde Jannasch, der ihm in den Kriegsjahren als Jugendpfleger zur Seite gestanden hatte, schreibt 1928 in seinen »Papieren eines Helfers«: »Zu seinem Lebenskreis gehören zu dürfen, ist auch für mich Lebensgewinn. Wie überzeugend wirkt dieser sicher in seinem Schicksal ruhende Mann. […] Was ist alle Weisheit der Sozialwissenschaft und -pädagogik gegenüber den Tatberichten erlebten Lebens? Hier lehrt das Leben selber.«46 Und auch Ruth von Kleist-Retzow rühmte in ihrem Nachruf das moralisch sichere, praktisch orientierte Urteil Holeks: »Wenn er sprach, sagte er irgend etwas ganz Entscheidendes, das dazu bestimmt war, die Dinge, die sich etwa verlaufen wollten, wieder zurecht zu rücken.«47 Allerdings hätte diese pädagogische

—————— 42 Zu Holeks Erziehungsmethode vgl. Vogelsberg, »Wenzel Holek«, S. 167–171, und die

ausführliche Auseinandersetzung bei Berndt/Scherer, »Wenzel Holek und die Jugendarbeit«, S. 101–110. 43 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 59. 44 Vgl. Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, 150. 45 Paul Kesselring an Friedrich Siegmund-Schultze, 2. Februar 1923, in: EZA 51/S II e 4. 46 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 14. 47 Ruth von Kleist-Retzow, »Wenzel Holek«, in: AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 2–3, hier S. 3.

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und politische Kompetenz allein nicht ausgereicht, um Holek zu einer Schlüsselfigur der SAG werden zu lassen. Entscheidend blieb die immense symbolische Bedeutung seiner proletarischen Herkunft: Denn erst »dadurch daß er auch in seinem Wesen trotz seines riesigen Wissens und seines scharfen Verstandes den Typus des Handarbeiters festhielt, war er und blieb er für uns der typische Arbeiter, der zur Volksgemeinschaft hingefunden hat«.48 Erst als solcher konnte Holek seine Autorität im SAG-Kreis entwickeln. Sein hartes Urteil über die kirchliche Wohlfahrtspflege und Evangelisation im Arbeiterviertel49 und seine undogmatische sozialdemokratische Einstellung haben wesentlich zur realistischen Haltung und zum politischen Lernprozess vieler SAGler nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen. Auf diese Weise war Wenzel Holek nicht nur die symbolische Integrationsfigur, als die er intern stets gesehen wurde, sondern hat im kleinen Rahmen der SAG auch tatsächlich die Rolle eines Vermittlers zwischen den Klassen gespielt – eine Rolle, in der er sich selbst von Anfang an sah: »Ich will keine andere Rolle in der S.A.G. haben als die, die Verbindung zwischen Akademikern und Arbeitern aufrecht zu erhalten.«50 Kurz gesagt: An allem, was die SAG ab 1916 an greifbaren Erfolgen ihres klassenübergreifenden Versuchs verbuchen konnte, hatte Holek einen entscheidenden Anteil. Mehr als alle anderen Mitarbeiter verkörperte er die Idee der SAG; seine Lebensgeschichte macht aber auch deutlich, was die Reichweite der Settlementarbeit limitiert hat: das ausgeprägte Profil der SAG als eines auf protestantischer Bildungsreligion und zeitweise sektenhafter Gemeinschaftsideologie basierenden Vereins – ein Profil, das in seiner Übererfüllung durch den Bildungsaufsteiger Holek besonders deutlich hervortritt.

—————— 48 Friedrich Siegmund-Schultze, »Vater Holek«, in: MSAG Nr. 95 (März 1935), S. 1–2, hier

S. 1. 49 Seine kirchenkritische Haltung kulminierte in Holeks Austritt aus der Kirche im Jahr

1928. Vgl. Vogelsberg, »Wenzel Holek«, S. 175. 50 Wenzel Holek an die SAG, undat., in: EZA 51/S II c 15. Ähnlich auch: Wenzel Holek

an Friedrich Siegmund-Schultze, 28. Dezember 1928, in: EZA 51/S II c 15. Lindner sieht in Holek einen Gewährsmann, Informanten und »cultural broker«, der »von unten« kommt und eben deshalb über authentisches Wissen verfügt. Seine Stärke ist die Vermittlerposition, sein Dilemma, dass er zuweilen weder in der einen noch der anderen Klasse voll akzeptiert ist. Vgl. Lindner, »Der Vermittler«, S. 16–19.

3. Two Nations: Zur Gesellschaftsdiagnose der SAG

Die Metapher der two nations Die Reise der ersten SAG-Mitarbeiter auf die »andere Seite« der Stadt steht in einer langen Reihe bürgerlicher Entdeckungsfahrten ins Alltagsleben der unteren Schichten. Mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Herausbildung der marktbedingten Klassen und der damit einhergehenden sozialen Segregation in den Städten seit Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen die Lebenswelten der städtischen Industriearbeiterschaft und der bürgerlichen Funktionseliten zunehmend als zwei voneinander getrennte Bezugssysteme. Die klassische Formulierung von den two nations innerhalb eines Staates stammt aus dem 1845 erschienenen Roman »Sybil« von Benjamin Disraeli: »Two nations; between whom there is no intercourse and no sympathy; who are as ignorant of each other’s habits, thoughts, and feelings, as if they were dwellers in different zones, or inhabitants of different planets. […] The rich and the poor.«1 Im selben Jahr bediente sich auch Friedrich Engels dieser Metapher, sprach jedoch nicht von »the rich and the poor«, sondern benannte die »getrennten Welten« genauer: »Die Bourgeoisie hat mit allen andern Nationen der Erde mehr Verwandtes als mit den Arbeitern, die dicht neben ihnen wohnen. Die Arbeiter sprechen andere Dialekte, haben andre Ideen und Vorstellungen, andre Sitten und Sittenprinzipien, andre Religion und Politik als die Bourgeoisie. Es sind zwei ganz verschiedne Völker.«2 Solche Diagnosen lieferten im 19. Jahrhundert den Impuls zu zahlreichen »sozialen Entdeckungsreisen«. Die neu erkundete Welt wurde literarisch ausgeleuchtet – wie etwa in Johann Hinrich Wicherns Hamburgs wahres und geheimes Volksleben (1832/33), Charles Dickens’ Oliver Twist (1837/38), Eugène Sues Mystères de Paris (1842/43), Georg Weerths Skizzen aus dem

—————— 1 Disraeli, Sybil or The Two Nations, S. 96. 2 Engels, »Die Lage der arbeitenden Klassen in England«, S. 351.

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socialen und politischen Leben der Briten (1843/44), Henry Mayhews London Labour and the London Poor (1851ff.), George R. Sims’ How the Poor Live and Horrible London (1889), Jacob A. Riis’ How the Other Half Lives (1889), Charles Booth’ Labour and Life of the People in London (1889), William Booth’ In Darkest England and the Way Out (1890), Paul Göhres Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche (1891) oder Jack Londons The People of the Abyss (1902).3 Schon die Buchtitel zeigen an, wohin die Reise ging: in ein anderes, ein fremdes Land, wo den zivilisierten Besucher nie gekannte Schrecken und Abgründe, aber auch Geheimnisse erwarteten. Die Metapher vom »dunklen Kontinent«, wie sie etwa von George R. Sims verwendet wird,4 verweist auf die Parallele zwischen innerer und äußerer Kolonisation, von Innerer Mission und Heidenmission.5 Im Subtext verweist sie aber auch auf den ethnologischen Charakter der »Fahrt ins Dunkle«6 inmitten der eigenen Gesellschaft – und damit auf ihre doppelte Funktion als Forschungsreise und zivilisatorische Mission.7 In diesem Sinne heißt es bei dem Hamburger Volksheimmitarbeiter Ernst Jaques 1906, die Arbeiterschaft sei für die Gebildeten »noch eine fremde Welt. Wenn wir aber eine fremde Welt, ein anderes Land kennen lernen wollen, so genügt es nicht, nur Bücher und Reisebeschreibungen darüber zu lesen, […] wir müssen hinreisen und uns so lange dort aufhalten, bis wir Sprache und Sitten und Gebräuche verstehen gelernt haben.«8 Die Metapher der two nations hatte also bereits eine lange Geschichte, als 1911 das erste Berliner Settlement entstand. Auch hier stand das Leitmotiv

—————— 3 Zu den frühen »social explorers« in England vgl. u.a. Keating (Hg.), Into Unknown

England; Epstein Nord, »The Social Explorer as Anthropologist«; Lindner, Walks on the Wild Side, S. 32–41; ders. (Hg.), Die Zivilisierung der urbanen Nomaden; Schwarz/Szeless/ Wögenstein (Hg.), Ganz unten. 4 »Ich werde das Ergebnis einer Reise aufzeichnen, welche in eine Gegend führt, die vor unserer Haustür liegt – in einen dunklen Kontinent, der vom Hauptpostamt mit einem kleinen Spaziergang zu erreichen ist.« George R. Sims, How the Poor Live, in Übersetzung zit. nach Lindner, Walks on the Wild Side, S. 33. 5 Vgl. zum Begriff des dark continent im Kontext kolonialer Diskurse Brantlinger, »Victorians and Africans«; Schultz, Wild, irre & rein, S. 49–51. Zu Parallelen zwischen innerer und äußerer Mission in Deutschland vgl. Dießenbacher, »›Kolonisierung‹ fremder Lebenswelten«, und Geisthövel/Siebert/Finkbeiner, »Menschenfischer«. 6 So Paul Göhre in einem Brief vom 9. Juni 1890 an Martin Rade, zit. nach Brenning, Christentum und Sozialdemokratie, S. 5. 7 Vgl. zu diesem Thema auch die anregenden Aufsätze von Bergmann, »Spaziergänge in die Tiefen der Gesellschaft«, und Lüdtke, »Fahrt ins Dunkle?«. 8 Ernst Jaques, »Vom Draußenwohnen«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 16–20, hier S. 18.

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der »getrennten Welten« am Ausgangspunkt der Expedition; auch hier wartete ein »dunkler Kontinent« darauf, entdeckt und erkundet zu werden. Doch während Disraeli und Engels ganz allgemein von »Arm und Reich« oder von »Bourgeosie und Proletariat« gesprochen hatten, ging es in Berlin-Ost konkret um die soziale und räumliche Trennung zwischen Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft. Der Pastor Gotthard Eberlein, der 1912 in der Hafenstadt Stettin eine Soziale Arbeitsgemeinschaft begründete,9 sprach denn auch von den »sogenannten Gebildeten« und den Arbeitern als den »beiden ›Nationen‹ in der Nation«.10 Mit dieser Auslegung des two nations-Motivs folgte die SAG – in Berlin-Ost wie in der Stettiner Lastadie – nicht nur dem Modell der englischen Settlements und des University-Extension-Movement, sondern auch einer spezifisch deutschen Deutungstradition, wie sie etwa von Gustav Schmoller benannt wurde, der den »letzte[n] Grund aller socialen Gefahr […] nicht in der Differenz der Besitz-, sondern der Bildungsgegensätze« sah. Zugleich folgte sie der Forderung Schmollers, die soziale Reform müsse an eben diesem Punkt ansetzen: »Sie muß die Lebenshaltung, den sittlichen Charakter, die Kenntnisse und Fähigkeiten der unteren Klassen heben.«11 Im Sommer 1911 leitete die spätere SAG-Mitarbeiterin Alix Westerkamp in ihrer Funktion als Geschäftsführerin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge die »Berliner Jugendgerichtshilfe«, in der auch Studenten als Helfer eingesetzt wurden. Einer dieser studentischen Mitarbeiter hatte Schwierigkeiten mit seiner Arbeit in der »Schutzaufsicht«, da sich sein Schützling, ein 17 Jahre alter ungelernter Arbeiter, den wohlgemeinten Vorschlägen des Studenten widersetzt hatte. Westerkamp berichtet weiter: »Der Student wendete sich an mich mit dem Ersuchen, dem widerspenstigen Jungen den Standpunkt klarzumachen. Ich bat den Jungen zu mir – von vornherein überzeugt, daß er nicht kommen werde. Aber er kam, wies den ihm angebotenen Stuhl ab und ›lümmelte‹ sich stattdessen an die Wand des Zimmers. Ich fragte ihn, weswegen er den Vorschlag des Studenten abgelehnt habe. Nach einer langen Pause sagte er: ›Was weiß denn der von mir?‹ Wie ein Blitz traf diese Antwort. Als ich meiner Fassung wieder halbwegs sicher war, fragte ich: ›Was wissen Sie von ihm?‹ Seine stockende Antwort: ›So ein Student kann tun, was er will … Er kann so viel

—————— 9 Vgl. Eberlein, Bericht der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Stettin. 10 Ebd., S. 3. 11 Zit. nach Rein, »Schulbildung und Volkserziehung«, S. 466.

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Bier trinken, wie er will … Er kann nachts leben … und bei Tage pennen.‹ Der Junge wohnte in der Koppenstraße.«12

Diese Szene macht bis in die habituellen Feinheiten hinein anschaulich, was die ersten Mitarbeiter der SAG in gewisser Weise fasziniert, vor allem aber schockiert hat: das Zusammentreffen zweier völlig unterschiedlicher sozialer und mentaler Welten in ein und derselben Stadt. Erich Gramm schrieb in seinem Rückblick auf die Anfangszeit der SAG: »Man kann sich heute kaum noch eine Vorstellung davon machen, wie radikal damals die Scheidung zwischen den Lebensräumen der Arbeiterschaft und den bürgerlichen Stadtvierteln sowohl geographisch wie geistig war, wie sehr jede Begegnung, soweit eine solche überhaupt zustande kam, unter dem Schatten des Mißtrauens und der Ablehnung stand.«13 Als Motivation für die Gründung der SAG können solche Erfahrungen gar nicht ernst genug genommen werden. Denn was die Akademiker im Arbeiterviertel besonders verstörte, war die Geringschätzung, wenn nicht sogar Verachtung akademischer Bildung und ihrer Trägerschichten. Dass die Arbeiterschaft ihr Urteil über den Studenten »im allgemeinen nach dem bildet, was Witzblatt und Kino von ihm wissen«,14 und dass man sich als Couleurstudent im Osten und Norden Berlins »nicht unbehelligt sehen lassen«15 konnte, musste Akademiker, die von ihrer moralischen Ernsthaftigkeit und gesellschaftlichen Mission überzeugt waren, tief treffen. Demgegenüber setzte man sich zum Ziel, »dem Volk zu beweisen, dass es ehrenhafte, gerechte, ernste und wahre Menschen unter den oberen Zehntausend gibt«.16 Denn, so Maria Siegmund-Schultze 1929: »Der Arbeiter, der die Studenten und Beamten für Nichtstuer hielt, wird belehrt, wenn er mit ihnen als Nachbar lebt.«17

—————— 12 Alix Westerkamp, »Aus dem Erleben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft 1934/35«, in:

AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 5–9, hier S. 2–3. 13 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 87. 14 Gerhard Schade, »Student und soziale Frage nach der Revolution«, in: ASM 4. Jg., Heft

4/5 (Juli–August 1920), S. 57–61, hier: S. 60. 15 Walter Nell, »Prinzipielles über die Mitarbeit von Korporationsstudenten in der sozial-

studentischen Bewegung«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 9–12, hier S. 12. Obwohl in der SAG die Kritik an den Korporationen überwog, gab es in den ersten Jahren doch auch Mitarbeiter, die farbentragenden Verbindungen angehörten, vgl. Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 1 (Januar 1914), S. 3– 6, hier S. 5. In den Akten findet sich eine 1913 aufgenommene Fotografie des Mitarbeiters Harald Ziese »mit Couleur«, in: EZA 626 II/27,9. 16 Undatiertes Papier in: EZA 626 II 9,14. 17 Maria Siegmund-Schultze, »Die Gemeinschaftsbildung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NN 12. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1929), S. 2–4, hier S. 3.

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Die SAG-Mitarbeiter traten damit als neue soziale Avantgarde auf, die sich – in Abgrenzung gegen »Dünkel und Aufgeblasenheit«18 der alten akademischen Eliten – um einen respektvollen, sensiblen und aufrichtigen Umgang mit dem »Volk« bemühte. Sie kämpften von vornherein um ihre Anerkennung seitens der Arbeiterschaft – und damit um eine Anerkennung, die sie im innerbürgerlichen sozialen Positionskampf dringend benötigten: Während die »Liebe zum Volk« der Ausweis ihrer Ernsthaftigkeit war, sollte ihnen die »Liebe des Volkes« einen entscheidenden symbolischen Vorsprung verschaffen und ihre Position als bürgerliche Avantgarde legitimieren.

»Das kirchliche Kleid abstreifen« Es erstaunt nicht, dass der Theologe Siegmund-Schultze besonders die religiöse und kirchliche Situation vor Ort im Blick hatte. Nach seinen Beobachtungen war besonders der Osten Berlins »in kirchlicher Beziehung tatsächlich verödet«, der Zustand der Gemeinden »im höchsten Maße deprimierend«.19 Insbesondere die Jugend werde von der Kirche nahezu überhaupt nicht erreicht: »Im Alter von zwölf Jahren zirka wenden sich die Jungen des Berliner Ostens von jeden Einfluß sittlicher und religiöser Art ab; sie geraten unter die Herrschaft der gegenwärtig in der Arbeiterschaft am Ruder befindlichen Ideen.«20 Die frühen Stellungnahmen SiegmundSchultzes zu dieser Frage zeigen, dass vor 1914 der Kampf gegen die Sozialdemokratie einen zentralen Stellenwert in der SAG hatte. Besonders zur Kirche wurde sie in allerschärfster Konkurrenz gesehen.21 Für Sozialdemokraten bedeute die Kirche schlicht und einfach »eine Partei« – »der schwarzblaue Block ist für sie der notwendige Ausdruck der längst geschlossenen Ehe zwischen Christentümern und politisch rechts stehenden Parteien. Infolgedessen lehnt der Berliner Arbeiter grundsätzlich alles, was ›kirchlich‹ ist, ab.«22 Doch Siegmund-Schultze sah die Schuld daran vor allem bei der

—————— 18 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 324. 19 Ebd., S. 312. 20 Ebd., S. 314. 21 Zum Problem der »Entkirchlichung« in Berlin zwischen Kaiserreich und 1933 vgl. den

Überblick bei Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 29–40; speziell zur Entkirchlichung im Arbeitermilieu aus Sicht der SAG vgl. auch Lamer, Kirche im Arbeiterviertel, S. 3–15. 22 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 291.

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Kirche selbst, die Gefahr laufe, zu einem reinen »Begräbnis-Betrieb«23 zu verkommen: »Die einzigen Gelegenheiten, bei der man auf den Straßen des Ostens einen Pastor sieht, sind die Beerdigungen.«24 Und allgemein sei man im Berliner Osten ohnehin »der Überzeugung, dass die Stadtmission nur für die Schwachen und Dummen da sei«.25 Angesichts dieser Kommunikationsblockade zwischen Kirche und Arbeiterschaft gehörte es zu den Grundsätzen des Settlement, in keiner Weise als kirchlicher Verein aufzutreten. Unbedingt vermeiden wollte man den Geruch von Suppenküche, Freikirche und Heilsarmee, die außerstande seien, »die eigentliche gesunde Arbeiterschaft zu erreichen«.26 Das zeigt sich bereits an Überlegungen, die das Domizil der SAG betreffen. So schreibt Siegmund-Schultze 1913 in einem Brief an die SAG-Freundin Marie von Kleist über den dringenden Wunsch der SAG, bald aus dem Auferstehungshaus des Kapellenvereins in der Friedenstraße auszuziehen und dann »möglichst in Wohnungen unterzukommen, die nicht schon an sich den kirchlichen Stempel tragen und die sozialdemokratische Bevölkerung gleich von sich fernhalten […]. Um die Arbeiterbevölkerung hier im Osten Berlins wieder für die Kirche zu gewinnen, muss man erst einmal das kirchliche Kleid abstreifen können.«27 Siegmund-Schultze lehnte engere Verbindungen zur kirchlichen Gemeindearbeit auch deshalb ab, »um nicht sogleich wieder für die Leute ›der Pastor‹ zu sein«. Lediglich »als Privatmann« wolle er »mit den Arbeitern jener Gegend verkehren«, wie er im Juli 1911 an seinen damaligen Vorgesetzten von Rhoden schrieb.28 Die Haltung zur kirchlichen Gemeindearbeit war also ambivalent: Während einerseits in der Tradition der Inneren Mission das Ziel ausgegeben wurde, die Arbeiter »wieder für die Kirche zu gewinnen«, schwang in der Diagnose der kirchlichen Verhältnisse ganz deutlich eine Fundamentalkritik an der Amtskirche mit, die mit ihren alten Methoden des »Anpredigens«29 nicht mehr imstande sei, Werte zu vermitteln und der Sozialen Frage zu begegnen. »Bloße

—————— 23 Ebd., S. 299. 24 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 313. 25 Ebd., S. 316. 26 Friedrich Siegmund-Schultze an Dr. Büsching, 22. Januar 1914, in: EZA 51/S II c 21. 27 Friedrich Siegmund-Schultze an Marie von Kleist , 4. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 1,1. 28 Friedrich Siegmund-Schultze an Konsistorialrat von Rhoden, 18. Juli 1911, in: EZA

51/S I a. 29 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 306.

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Evangelisation genügt nicht.«30 Deshalb forderte Siegmund-Schultze eine »Arbeit in der inneren Mission in einem Gewande, das für die Arbeiter unserer Zeit passt«.31 Stets sensibel für kulturelle Differenzen, fragte er dabei nach dem »Habitus« des Vereins, mit dem man versuchte, die Arbeiterschaft zu erreichen. Schon das Etikett »sozial« sei dafür viel geeigneter als ein Auftreten unter dem Namen einer »Mission«.32 In diesem Paradigmenwechsel bildet sich die Strategie einer neuen Generation von Theologen ab, die »in der industriellen Epoche wie kaum ein anderer akademischer Berufsstand sozial in die Defensive« geraten waren33 und nun nach einer neuen Legitimationsbasis suchten. Die Korrepondenzen mit Mitarbeitern und Freunden machen denn auch deutlich, dass die SAG vor allem Theologen anzog, die mit der Amtskirche unzufrieden waren und nach einer neuen, »sozialen« Begründung ihrer Tätigkeit suchten. Das gilt zunächst einmal für Siegmund-Schultze selbst und einige der Studenten, die mit ihm zusammen das Settlement aufgebaut hatten. In den 1920er Jahren kamen dann verstärkt kirchenkritische Theologen nach Berlin-Ost. Hermann Koller schrieb nach Abschluss seines Ersten theologischen Examens an Siegmund-Schultze: »Ob ich in den Dienst meiner Landeskirche passe, weiß ich nicht. Mein Herz zieht mich jedenfalls anderswohin.«34 Gottlob Hammel, der kurz vor seinem theologischen Examen in Koblenz stand, berichtete von seiner »Entfremdung« gegenüber Christentum und Kirche: »Meinem Konsistorium habe ich bereits mitgeteilt, daß ich nicht daran dächte, in den Kirchendienst zu treten. Die furchtbare Not, die ich erlebt habe, […] zwingt mich zu diesem Schritt.«35 Der Pfarrer F. M. Knote aus Bayreuth interessierte sich für die Arbeit im Berliner Osten, nachdem er wegen seiner Kritik am apostolischen Glaubensbekenntnis von der Kirchenbehörde vorübergehend in den Ruhestand versetzt worden war.36 Johannes Naumann fühlte sich durch seine Er-

—————— 30 Ebd., S. 310. Siegmund-Schultze soll sogar einmal gesagt haben: »So lange noch die Ar-

beiter in Wohnlöchern usw. hausen, darf man ihnen mit Bibel und Kirche nicht kommen.« Ilse Ganzert an Friedrich Siegmund-Schultze, 20. Januar 1929, in: EZA 51/S II e 3. 31 Friedrich Siegmund-Schultze an Kurt Eggers, 3. November 1911, in: EZA 51/S II c 20. 32 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 317. 33 Janz, Bürger besonderer Art, S. 83. 34 Hermann Koller an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. Oktober 1920, in: EZA 51/S II c 25. 35 Gottlob Hammel an Hellmut Hotop, 26. Juli 1923, in: EZA 51/S II c 25. 36 Vgl. F. M. Knote an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. Oktober 1925, in: EZA 51/S II 8,1.

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werbsarbeit im Bergbau und in einer Fabrik »ins Soziale gedrängt« und dadurch »der Theologie mehr und mehr entfremdet«.37 Der aus dem Schwäbischen stammende Theologe Unz wollte vor seinem Amtsantritt als Pastor »Pfarramt und Kirche noch einmal von außen her sehen«, um »bestimmte Verhältnisse und Wirklichkeiten […] – die sich dem Einblick und Einfluß des ›Pfarrers‹ meist verschließen – persönlich zu beobachten« und sich »abseits vom offiziellen Christentum« ein Bild der Verhältnisse zu schaffen.38 Und mit dem Kärntner Pfarrer Zeller war es sogar ein aufgrund seiner »abweichende[n] Meinung« von seinem Amt suspendierter katholischer Geistlicher, der sich von der SAG Möglichkeiten zur Mitarbeit und einen kleinen Nebenverdienst erhoffte.39 Diese Außenseiterrolle vieler Theologen innerhalb der SAG hat das von Siegmund-Schultze angelegte Profil als freie, kirchlich wie konfessionell ungebundene Initiative stets unterstrichen. Die soziale Arbeit entspringe – so der Leiter der SAG – zwar »bei vielen oder den meisten ihrer Mitarbeiter aus religiösen Motiven«,40 sie war aber nie darauf festgelegt. Siegmund-Schultze verstand die SAG sogar ausdrücklich als »interkonfessionell«41 und machte die religiöse Dimension der Arbeit nie zu einer zentralen Forderung an seine Mitarbeiter. Dieses klare Bekenntnis zu einer nicht primär kirchlichen Ausrichtung des Settlement hat – ebenso wie die scharfe Kirchenkritik Siegmund-Schultzes selbst – der SAG nicht nur Freunde gemacht. Vor allem nach der »geistigen Mobilmachung« der Theologen bei Kriegsbeginn 1914 distanzierten sich konservative Geistliche wie der Berliner Oberhofprediger Dryander von Siegmund-Schultzes kritischer Haltung und seinen pazifistischen Äußerungen.42 Im Haus des befreundeten Generalsuperintendenten Lahusen wurde Siegmund-Schultze aufgrund seiner gemäßigt pazifistischen Haltung zum Weltkrieg plötzlich »wie ein Fremder behandelt; oder soll ich sagen: wie ein Irrer«.43 Und auch in den 1920er Jahren war die Frage nach dem religiösen Profil für viele Mitarbeiter und Freunde – etwa für einige der

—————— 37 Johannes Naumann an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Juni 1923, in: EZA 51/S II e 18. 38 F. Unz an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. April 1928, in: EZA 51/S II c 26. 39 Fr. Zeller an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. Februar 1926, in: EZA 51/S II e 7. 40 Friedrich Siegmund-Schultze an Heinrich Mensching, 5. September 1919, in: EZA 51/S

II c 24,2. 41 Friedrich Siegmund-Schultze an Heinrich Mensching, 5. September 1919, in: EZA 51/S

II c 24,2. 42 Ernst von Dryander an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. Januar 1915, in: EZA 626/I

21,2. 43 Aufzeichnungen zur Autobiographie, in: EZA 626/268.

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ostelbischen »Landfreunde« wie den späteren Kirchentagspräsidenten Reinold von Thadden – ein Anlass, um sich von der SAG zu distanzieren.

Berliner Arbeiter und die Grenze der Respektabilität Friedrich Siegmund-Schultze hat mehrfach klargestellt, an welche Zielgruppe sich die von ihm initiierte soziale Arbeit im Berliner Osten richtete. Entsprechend seiner scharfen Kritik an der Inneren Mission und der in den »Rettungshäusern« praktizierten kirchlichen Wohlfahrtspflege ging es ihm nicht um das »Aufgreifen« der Armen und Obdachlosen – und damit nicht primär um materielle Hilfe. In der ersten Nummer der Nachrichten heißt es über die Klientel der SAG, es handele sich dabei »nicht um die ganz Heruntergekommenen, die den Asylen und Spelunken anheimgefallen sind, sondern um eine große Masse innerhalb der Arbeiterschaft, die tatsächlich verelendet ist, in körperlicher und geistiger Hinsicht; eine Masse, die sich allein nicht mehr aufraffen kann, zumal ihre Jugend von den tiefsten Schäden des Lebens durchfressen ist. […] Während ein Teil der Arbeiterschaft sich emporgearbeitet hat und zu einer Art von bürgerlicher Existenz aufgestiegen ist, ist die große Masse hauptsächlich der ungelernten Arbeiter in eine Unsicherheit der Existenz hineingeraten, die das Hinabsinken zum fünften Stand fortwährend als Gefahr sie umlauern lässt.«44 Ins Visier kam also ein ganz bestimmter Teil der Arbeiterschaft, der im sozialen Raum zwischen viertem und fünftem Stand, zwischen einer sozial konsolidierten, kleinbürgerlich orientierten Arbeiterschaft und der expliziten Unterschicht angesiedelt war. Hier lokalisierte man die »geistlich Kranken«, denen durch ein Programm der »inneren Hebung« noch zu helfen war. Auf einem Notizzettel des SAG-Mitarbeiters Friedrich Bredt, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg den Knabenklub »Deutsche Treue« leitete, finden sich genauere Informationen über die Elternhäuser, aus denen die Klubjungen kamen. Festgehalten hat Bredt vor allem die Berufe und zum Teil auch die Wochenlöhne der Väter. Diese Notizen geben also ein ungefähres Bild von den Familien, die man über die Klubarbeit erreichen konnte. Zu den Namen der 12 Jungen – allesamt Teilnehmer einer Ferienfahrt nach Gützkow/Mecklenburg – finden sich dort folgende Angaben:

—————— 44 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 1

(Januar 1914), S. 3–6, hier S. 3–4.

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»Kurt Beutler: Arbeiter, Hofaufseher in der Milchzentrale. 26 M. Mutter im Kindergarten tätig. 3 kleinere ? Geschwister. / Walter Brade: Arbeiter, 12-16 M. Mutter Gemüsehandlg., keine Geschwister. / Kurt Müller-Reimann: Omnibusschaffner 25 M. (lebt bei seiner Großmutter.) 2 Geschwister. / Viktor und Konrad Winkler: Schneidermstr. 30-40 M. Bruder 14 J. sucht Lehrstelle. Kleine Schwester. / Martin Kornherr: Schneider, beide Eltern von Geburt taubstumm! Vater Österreicher, Mutter Berlinerin, liegen in Scheidung. Martin lebt bei seiner Großmutter, die vom Vater wöchentlich 5 M. erhält. 5 Geschwister † / Herbert Öhmke: Zigarrengeschäft. Der einzige Sohn, macht jeden Sommer Reise! / Erich Bösel: Schneidermstr. 33 M. 3 kl. Geschwister. / Hans Kitt: Vater Glaser, Mutter geschieden, zukünftiger Vater Redakteur der »Wahrheit«, dessen monatl. Gehalt 200-300 M. Hochfahrende Pläne: Schauspieler. / Karl Hähnel: Hausdiener 25 M. 1 Bruder 1 Schwester ? / Erwin Henatsch: Klaviertischler. 3 Geschwister. 2 verdienen schon. / Kurt Brand: Tischler. 6 Geschwister. 2 verdienen.«45

Soweit diese Aufstellung für die Knabenklubs der SAG repräsentativ ist, lässt sich festhalten, dass die Klubmitglieder in aller Regel aus relativ soliden Elternhäusern kamen. Mit rund 25 Mark Wochenverdienst lagen die Familienväter Kurt Beutlers, Kurt Müller-Reimanns und Karl Hähnels leicht über dem Durchschnittsverdienst von Arbeitnehmern in Industrie, Handel und Verkehr – eine Zahl, die wegen des günstigen Zeitpunkts kurz vor dem Krieg noch leicht zu bestimmen ist.46 Die Schneidermeister Winkler und Bösel hatten bereits deutlich mehr Lohn zur Verfügung, einzig der Vater Walter Brades fällt mit 12 bis 16 Mark wöchentlich deutlich ab, wobei hier das Familieneinkommen durch den Gemüseladen der Mutter gesichert gewesen sein dürfte. Deutliche Ausreißer nach oben sind Herbert Öhmke und Hans Kitt, deren Familienväter offensichtlich relativ wohlhabend waren. Ein etwas unklarer Fall ist lediglich Martin Kornherr, dessen Eltern taubstumm waren und der bei seiner Großmutter aufwuchs. Insgesamt zeigt dieser kleine Querschnitt durch die SAG-Klientel, dass die so entscheidende Respektabilitätsgrenze hier wohl kaum unterschritten wurde: »Die Familien, die der Sozialen Arbeitsgemeinschaft nahe stehen,

—————— 45 Teilnehmerliste der Ferienkolonie Juli 1914 in Gützkow, in: EZA 626/37. 46 Vgl. die Angaben in Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 107. Dort

wird für 1913 ein durchschnittlicher Jahresverdienst von 1083 Mark angegeben. Andere Zahlen liegen leicht darüber, so etwa bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 606, und Trapp, Kleines Handbuch der Münzkunde und des Geldwesens, S. 251, die für das gleiche Jahr übereinstimmend einen Durchschnittswert von 1163 Mark angeben. Berücksichtigt man Schwankungen durch zeitweiligen Arbeits- und Verdienstausfall, so kann man den durchschnittlichen Wochenlohn eines Arbeiters kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf ca. 22–24 Mark beziffern.

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sind im allgemeinen aufsteigende Familien. […] Auch haben sie im allgemeinen den Willen, im Volk und für das Volk ihre Pflicht zu erfüllen.«47 Auch im Hamburger Volksheim standen keineswegs »die Armen« im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, obwohl auch hier zu Beginn noch von dem Gegensatz zwischen »arm« und »reich« die Rede war.48 Walther Classen hatte bei seiner Jugendarbeit im Hammerbrook vor allem »begabte und regsame Arbeitersöhne« im Blick,49 und auch Wilhelm Hertz wies 1906 in einem Rückblick auf die ersten Jahre des Volksheims darauf hin, dass »gerade der aufstrebende Teil der Arbeiterschaft« die klassische Klientel des Volksheims bildete – und er lieferte dazu die Begründung, »die Art und die soziale Natur« der Hamburger Arbeit verlange »eine gewisse Empfänglichkeit für geistiges und gemütliches Leben, die man bei den wirtschaftlich am tiefsten Stehenden doch nur selten findet«.50 Diese Argumentation verrät, wie wenig letztlich das Motiv der rein materiellen Hilfe im Vordergrund stand und wie sehr die soziale Arbeit der deutschen Settlements auf ein kulturelles Erneuerungsprogramm fixiert war, für das man den »Bodensatz« der Gesellschaft nicht brauchen konnte. Hertz führt weiter aus: »Wer es aber bedauert, daß wir nicht bei den tiefsten Schichten unsere Arbeit eingesetzt haben, der verkennt, daß wir nicht nur geben, sondern auch empfangen wollen […]; er verkennt endlich, daß wir nicht eine humane und philanthropische, sondern eine soziale, d.h. gemeinschaftbildende Aufgabe zu lösen haben. Zu dem Zwecke müssen wir uns eben an die Schichten wenden, bei denen der Gemeinsinn Wurzel fassen kann. Dazu gehört eine gewisse Höhe des geistigen und ethischen Zustandes […], die sich nur bei dem von der unmittelbarsten Not nicht bedrohten, aufstrebenden Teil der Arbeiterschaft findet.«51

—————— 47 Undatiertes Manuskript »Grossstadtsterben«, S. 6, in: EZA 626/II 20,14. 48 Bei Gerhard Günther finden wir folgende aufschlussreiche Bemerkung: »Wie aus dem

›Reichen‹ im Sprachgebrauch der Schriftstücke allmählich der ›Wohlhabende‹, der ›Wohlhabendere‹ – ›Bessersituierte‹, allmählich der ›Gebildete‹ und endlich der ›Höhergebildete‹ wird, entwickelt sich der ›Arme‹ zum ›Unbemittelten‹, dieser zum ›Minderbemittelten‹ oder ganz allgemein zum ›Arbeiter‹. Ja, schließlich spricht man hauptsächlich von der Notwendigkeit persönlicher Beziehungen zwischen Höhergebildeten und intelligenten Arbeitern.« Günther, Das Hamburger Volksheim, S. 34. 49 Zit. nach Alix Westerkamp, »Geschichte der Großstadtsiedlung in Deutschland«, in: NN 12. Jg. Heft 5/6 (Mai/Juni 1929), S. 85–107, hier S. 87. 50 Wilhelm Hertz, »Die Entwickelung der Volksheimidee in der Praxis«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 5–15, hier S. 11–12. 51 Ebd., S. 12. Vgl. dazu auch die scharfe Kritik von Picht an der Arbeit des Volksheims: Picht, Toynbee Hall, S. 120–129.

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Grundlage dieses Problemzuschnitts war die Grenzziehung zwischen rough und respectable, so wie sie im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die großstädtische Arbeiterschaft entwickelt und in vielen Bereichen von der Armenfürsorge bis hin zur Volksbildungsbewegung praktisch umgesetzt wurde.52 Diese Grenze trennt – so Michael Vester in einer neueren Überblicksdarstellung zur sozialen Stratifikation und den kulturellen Milieus in Deutschland – »die mittleren von den unterprivilegierten Milieus. Respektabilität wird definiert als Statussicherheit: Es kommt darauf an, eine beständige, gesicherte und anerkannte soziale Stellung einzunehmen, die entweder durch Leistung oder durch Loyalität ›verdient‹ ist.«53 Der britische Historiker Geoffrey Best sieht im Klassifikationsbegriff der Respektabilität sogar eine Schlüsselkategorie für das Verständnis der sozialen Differenzierungsprozesse innerhalb der viktorianischen Gesellschaft: »Here was the sharpest of all lines of social division, between those who were and those who were not respectable; a sharper line by far than that between rich and poor, employer and employee, or capitalist and proletarian.«54 Diesem Hinweis folgend, lässt sich auch die Geschichte der Klassenbeziehungen im wilhelminischen Deutschland besser verstehen, wenn man die konstitutive Rolle des Respektabilitätskriteriums beachtet. Denn dieses Kriterium begründete die moralische Einteilung der Arbeiterklasse in eine »gesunde« und »anständige« sowie eine »heruntergekommene« Arbeiterschaft. »Deserving poor« und »undeserving poor« wurden strikt voneinander unterschieden.55 Auf diese Weise war der bürgerlich-administrative Blick auf die materielle Lage der Arbeiter von Beginn an mit einer moralischen Wertung verknüpft. Freilich war Respektabilität nicht nur ein bürgerliches Klassifikationsmuster, sondern ein zentrales biographisches und politisches Ziel aufstiegs-

—————— 52 Die rough-respectable-Dichotomie ist insbesondere in der angelsächsischen Sozialge-

schichtsschreibung thematisiert worden, vgl. etwa Stedman Jones, »Kultur und Politik der Arbeiterklasse in London«; Bailey, »Will the Real Bill Banks Please Stand Up?«; Ross, »Not the Sort that Would Sit on the Doorstep«. Als Fallstudie zum »Roten Wien« der Zwischenkriegszeit vgl. Robert J. Wegs, »Working Class Respectability«; eine sehr aufschlussreiche gegenwartsbezogene Studie bietet Watt, »Respectability, Roughness and ›Race‹«. 53 Vester, »Milieus und soziale Gerechtigkeit«, S. 148. 54 Zit. nach Bailey, »Will the Real Bill Banks Please Stand Up?«, S. 336. 55 Im Hinblick auf Deutschland ist diese Unterscheidung aus der Praxis der Armenfürsorge seit Einführung des Elberfelder Systems 1853 herzuleiten, dem zufolge die kommunalen Armenpfleger zu prüfen hatten, »ob der Arme ein verschämter oder ein unverschämter Armer ist«. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, S. 23.

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orientierter Arbeiter.56 Insbesondere die Sozialdemokratie lässt sich als eine Bewegung verstehen, die darauf ausgerichtet war, der Arbeiterschaft Respektabilität zu erkämpfen, sie durch Bildung und allgemeine »Hebung des Kulturniveaus« aus der Unterschicht herauzuführen.57 In ihrer Studie über die »Veredelung des Arbeiters« hat Brigitte Emig gezeigt, dass das kulturelle Profil der Sozialdemokratie ganz wesentlich auf einer demonstrativen Ablehnung alles Ungehobelten und Proletenhaften beruhte: »Wer sich aus dem ›Proletendasein‹ herausgekämpft hatte, scheute jede neuerliche Berührung mit einem längst überwundenen Lebens- und Bewußtseinsstand.«58 Schon auf dem Gothaer Parteitag der SPD 1896 wurde eine Debatte um den naturalistischen Roman geführt, in der sich einige Redner energisch gegen Elendsschilderungen in fiktionalen Texten wandten.59 Rebekka Habermas hat darauf hingewiesen, dass der Widerstand gegen den ungeschminkten Naturalismus der »Mutter Bertha« und anderer Romane nicht zuletzt darin begründet lag, »dass man im Sprechen über die Unterschichten diese von dem Platz entfernen wollte, der in einer von Engels und anderen immer wieder heraufbeschworenen Trias von Sexuellem, ›Cacatum‹ und Triebhaftem aufging«.60 Von diesem Standpunkt aus wurde der Realismus der Elendsschilderungen abgelehnt. So wie es eine raison d’être der Sozialdemokratie war, der Arbeiterschaft einen »Platz jenseits des Schmutzes« zu erkämpfen,61 so versuchten die Sozialdemokraten um Richard Fischer, Carl Frohme und Hermann Molkenbuhr – unterstützt von Wilhelm Liebknecht und August Bebel, diesen Schmutz auch symbolisch zu distanzieren. In der identifikatorischen Lektüre des naturalistischen Romans sa-

—————— 56 Vgl. dazu auch die in der älteren britischen Forschung geführte Diskussion über die

»Arbeiteraristokratie«, in der u.a. Fragen nach der »Verbürgerlichung« der Arbeiterklasse behandelt wurden: Hobsbawm, Labouring Men, S. 272–315; ders., Worlds of Labour, S. 214–272; Pelling, Popular Politics and Society, S. 37–61; Gray, The Aristocracy of Labour; Linder, European Labour Aristocracies; Lummis, The Labour Aristocracy, S. 1–24, zur »respectability« ebd. 141–143. 57 Zur »Hebung des Kulturniveaus« in der deutschen Arbeiterbewegung vgl. Groschopp, »Partei der planmäßigen Hebung menschlicher Cultur«. Zur DDR-Kulturpolitik in dieser Tradition vgl. Kühn, »Grenzen der Unterhaltung«, und Ege, »Die Diskothek als moralische Anstalt«. 58 Emig, Die Veredelung des Arbeiters, S. 235. Vgl. dazu auch den Abschnitt zu Wenzel Holek in dieser Studie. 59 Die wichtigsten Debattenbeiträge und Reden sind abgedruckt in: Rüden/Koszyk (Hg.), Dokumente und Materialien, S. 137–177. 60 Habermas, »Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen«, S. 121. 61 Ebd.

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hen sie eine Gefahr für die Schlagkraft der Arbeiterschaft, Liebknecht befürchtete hier den Ruin von »Körper und Geist der Kinder des Proletariats«.62 Auf diese Weise formierte sich die »Kulturbewegung« Sozialdemokratie immer auch über den Ausschluss des gesellschaftlichen Unten, durch den sie den Anspruch auf kulturelle Führungskompetenz legitimieren konnte. Im Unterschied zu vielen Initiativen bürgerlicher Kulturreform ging es ihr aber weniger um eine moralische, sondern vielmehr um eine politische Deutung der Verhältnisse: um die politische Partizipation und kulturelle Vergesellschaftung einer ganzen Klasse.63 Auch in der SAG diente die rough/respectable-Dichotomie dazu, die Notwendigkeit der eigenen Mission zu unterstreichen und die Arbeit an der »inneren Hebung« der Arbeiterschaft zu begründen. Das in düsteren Farben ausgemalte Szenario der moralischen Verwahrlosung ließ den sozialpädagogischen Zugriff als unbedingt notwendig erscheinen und lieferte den steten Verweis auf die sittlichen Gefahren, denen die »gesunde« Arbeiterschaft angeblich ausgesetzt war.64 Zugleich aber ist die soziale Mission der SAG nur aus der spezifischen Konstellation von respektablen Arbeitern und Bildungsbürgern heraus zu verstehen. Konzipiert als eine Schule des »Kulturkontakts« zwischen Akademikern und einem »bildungsfernen Milieu«,65 war das Settlement nicht auf Veränderung, sondern auf Verständigung ausgelegt, um »die Glieder der entgegengesetzten Klassen als solche zusammenkommen und Freunde werden« zu lassen.66 Für einen solchen klassenübergreifenden Lernprozess kamen nur bestimmte Milieus in Frage. Das Programm und das sozialpädagogische Angebot der SAG fungierten daher als ein sozialer Filter, der die Teilnahme von nicht-respektablen Arbeitern verhinderte. Zum anderen blieb natürlich auch die respektable »klassenbewusste« Arbeiterschaft aus, die in die Vereine und Organisationen der Arbeiterbewegung eingebunden war. Die SAG wurde also in erster Linie von konservativen, liberalen und kirchennahen aufstiegsorientierten Arbeitern frequentiert, die sich nicht scheuten, die karitativen und pädagogischen Angebote des Settlement zu nutzen und ihre Kinder in den bürger-

—————— 62 Ebd., S. 120. 63 Vgl. dazu am Beispiel der Jugendschriftenkritik Wietschorke, »Schundkampf von links«. 64 Zum historischen Diskurs über das »Lumpenproletariat« vgl. auch die schöne Antholo-

gie von Stein (Hg.), Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit, S. 21–104. 65 Zur Deutung bürgerlich-proletarischer Begegnungen als »Kulturkontakt« vgl. Lindner,

»Das andere Ufer«; ders., »Einleitung«. 66 So Siegmund-Schultze in seinen einleitenden Bemerkungen zu: »Fabrikarbeiterinnen«, in:

NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 205.

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lichen »Verein« zu geben.67 Ihre Gesellschaftsdiagnose und ihr spezifisches Programm limitierte die Reichweite der sozialen Arbeit erheblich, eben darin werden aber auch die Motivationen und Interessen ihrer Protagonisten deutlich.

Von der Klassengesellschaft zur »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« Schon an der Konzentration auf die »gesunde Arbeiterschaft«, wie Siegmund-Schultze sie nannte, wird deutlich, dass die SAG sich zu Beginn in klarer Konkurrenz zum sozialdemokratischen Vereins- und Bildungswesen sah. Denn die Sozialdemokratie galt als eine Agentur des »Klassenhasses«,68 die mit ihrer Betonung fundamentaler Interessensgegensätze die innere Spaltung der Gesellschaft vorantreibe; in den ersten Jahren war zuweilen sogar von einer »roten Massenerkrankung« die Rede, die in direktem Zusammenhang mit der »geistigen Verarmung« stünde.69 Demgegenüber vertrat Siegmund-Schultze im Rahmen der SAG ein im Kern ständisches Gesellschaftsbild. Gegen das semantische Feld von »Masse«, »Klasse« und »Organisation« setzte man die »inneren Werte« von »Bildung und Kultur«, gegen den »Materialismus« den Reichtum der »Persönlichkeit«, gegen die antagonistische Gesellschaft eine integrative »Arbeitsgemeinschaft« der Klassen.70 Paul Nolte hat in seinem Überblick über die Leitideen gesellschaftlicher Ordnung im Deutschland des 20. Jahrhunderts ausführlich gezeigt, wie dominant das Konzept »Gemeinschaft« im Diskurs des späten Kaiserreichs, vor allem aber der Weimarer Republik war.71 Es gab den unterschiedlichsten »Einheitssehnsüchten« der Zeit einen Namen,72 vor allem aber wurde »Gemeinschaft« in Anlehnung an Ferdinand Tönnies zum »sozialideologi-

—————— 67 Für die Jugendklubs haben diesen Punkt auch schon Gerth und Lindner festgehalten:

vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 30; Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«, S. 374. 68 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze, »Klassenhaß«, in: Evangelisch-Sozial, 9. Jg. (1912),

S. 274–298. 69 Siegmund-Schultze, »Berlin-Ost«, S. 298. 70 Den Begriff der Arbeitsgemeinschaft hat Siegmund-Schultze möglicherweise von seinem

Marburger Lehrer Paul Natorp übernommen, in dessen Denken er bereits seit den 1890er Jahren eine wichtige Rolle spielte. Diese Vermutung äußert Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 20. Zur Bedeutung Natorps für Siegmund-Schultze und die SAG vgl. Jegelka, Paul Natorp, S. 193–197. 71 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 61–77 und 159–187. 72 Ebd., S. 161.

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schen Leitbegriff« einer »reaktionären Opposition gegen die moderne industrielle Gesellschaft«.73 Die damals aufkommende Rede von der »Volksgemeinschaft« war die konservative Antwort auf das Denken in Klassen. In diesem Zusammenhang ist an den bei Fritz K. Ringer beschriebenen Widerstand der deutschen »Mandarine« gegen den Klassenbegriff zu erinnern. Im Gesellschaftsbild der bürgerlichen Intellektuellen dominierten »nichtökonomische Kriterien der gesellschaftlichen Schichtung«,74 und zwar umso mehr, als diese für die Bestimmung ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft zentral waren. Der permanente Rekurs auf ständische, prestigebezogene und damit im Kern kulturelle Bestimmungen sozialer Stratifikation entsprach dem Selbstbild vieler Intellektueller, die nicht zuletzt darin ihren Widerstand gegen die moderne, zunehmend über die marktvermittelte Allokation sozialer Güter organisierte Gesellschaft artikulierten.75 Wenn das Konzept des »Standes« als Beschreibungsmuster gesellschaftlicher Ordnung in besonderer Weise auf Herkunft, Tradition und Bildung beruhte, dann nimmt es nicht wunder, dass gerade dieses Konzept im klassischen bürgerlichen Intellektuellenmilieu eine Hauptrolle spielte. Mehr noch: Die darin zum Ausdruck kommende Weigerung, Interessensgegensätze als solche auch nur zu denken, verweist auf einen bildungsbürgerlichen Habitus, der gerade auf dem Schein von Interesselosigkeit basiert. Nur wer sich den Dingen mit interesselosem Interesse – nicht von ungefähr Kants Formel für ästhetische Erfahrung – nähert, kann Anspruch auf universelle Gültigkeit seiner Erfahrung erheben. Die universelle Gültigkeit der eigenen Erfahrung wiederum begründet, da sie aus Interesselosigkeit hervorgegangen ist, den Anspruch auf kulturelle Hegemonie im Sinne des Gemeinwohls. Dieser Zirkel bildet eine zentrale Denkfigur des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses, er bildet vielleicht das Zentrum bildungsbürgerlicher symbolischer Ökonomie überhaupt. Dass sich nämlich die Interesselosigkeit als Prinzip mit den Eigeninteressen einer bestimmten – für »Interesselosigkeit« sozusagen professionell zuständigen – Sozialformation verbindet, dass mithin der Einsatz für das im Anspruch von »Bildung und Kultur« enthaltene Allgemeine die Spezifik einer besonderen sozialen Gruppe aus-

—————— 73 Riedel, »Gesellschaft, Gemeinschaft«, S. 859; in aller Kürze auch Kerbs/Linse, »Gemein-

schaft und Gesellschaft«. 74 Ringer, Die Gelehrten, S. 165. 75 Vgl. dazu auch die Hinweise auf »Gemeinschaft« als »Standesinteresse« der akademi-

schen Intelligenz bei Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz, S. 120–128, Zitat S. 120.

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macht, ist ein für die gesamte Intellektuellengeschichte aufschlussreiches Paradox. Das spezifisch bildungsbürgerliche ständische Gesellschaftskonzept prägte die SAG bis weit in die 1920er Jahre hinein. Mit ihrem Programm wollte sie »die Erkenntnis fördern, daß in einem Volksorganismus eine Schicht auf die andere angewiesen ist«.76 In diesem Sinne sollten die Settlements, wie es der Hamburger Volksheimmitarbeiter Wilhelm Hertz formuliert hatte, »Grundsteine« sein »zu Pfeilern, die durch die Gesellschaftsschichten hindurchgehen und sich zu einer tragkräftigen Verbindung von Oben und Unten ausbauen lassen«.77 Und noch Ende der 1920er Jahre, als sich viele Mitarbeiter politisch schon deutlich nach links bewegt hatten, war in der SAG die Rede von einem solchen hierarchischen Aufbau im Kleinen und dem Settlement als einer »Vertikalschichtung […], die gleichzeitig Bürgerliche und Proletarier […] umschließt und den Keim zu neuer Volkwerdung in sich trägt«.78 Im Einklang mit dominanten Diskursen der Zeit wurde »Gemeinschaft« als ein »personales Geschehen zwischen Ungleichen« gedacht, in dem sich die »Rückwendung zur Anerkennung der Autorität in Ordnungen« artikulierte.79 Sie wurde – so der Soziologe Theodor Geiger 1931 – »zum Kampfruf jener Elemente des Bürgertums, die der sozialen Revolution mißtrauten, aber der angeblich erstarrten Formen überdrüssig waren, und von der jungen Generation eine Kulturwende erwarteten«.80 So strebten die SAGler etwas an, was Friedrich H. Tenbruck einmal als »kulturelle Vergesellschaftung« beschrieben hat: eine Integrationsleistung durch bürgerliche Kultur, die »über die sozialen Unterschiede hinweg eine, wie immer auch jeweils unsichere, Gemeinschaft schuf«.81 Ihre Zielvorstellung war eine organische, sozialintegrative »Volksgemeinschaft«, in der die Spaltung in two nations endlich überwunden sein sollte.82

—————— 76 Richard Rahn, »Akademisch-Sozialer Verein«, in: NN 11. Jg. Heft 8 (August 1928),

S. 150–152, hier S. 151. 77 Wilhelm Hertz, »Die Entwickelung der Volksheimidee in der Praxis«, in: Das Volksheim

in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, S. 5–15, hier S. 15. 78 Alwin Brockmann, »Das klassenbewusste Proletariat und das Bürgertum« (Stellungnah-

me II.), in: NN 11. Jg. Heft 12 (Dezember 1928), S. 211–214, hier S. 213. 79 Ringeling, »Gemeinschaft«, S. 346–355, hier S. 351–352. 80 Geiger, »Gemeinschaft«, S. 175. 81 Tenbruck, »Bürgerliche Kultur«, S. 272. 82 Vgl. etwa Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«. Gerth

referiert – leider ohne Beleg – Siegmund-Schultze mit der Behauptung, Hitler habe den Begriff »Volksgemeinschaft« von ihm übernommen, nachdem er in den 1920er Jahren einen seiner Vorträge gehört hatte. Beim Hinausgehen habe Hitler zu seinen Begleitern

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Stadt- und Landdiskurse in der SAG Die Großstadt Berlin hatte für Siegmund-Schultze und seine Mitarbeiter nichts Faszinierendes an sich. Vielmehr finden sich bei ihnen zahllose Beege für den seit Wilhelm Heinrich Riehl notorisch wiederkehrenden bildungsbürgerlichen Antiurbanismus.83 Siegmund-Schultze vertrat die Ansicht, »daß die Hohlwege aus Stein […] ein absterbendes Geschlecht bergen«,84 der Jugendpfleger Hans Windekilde Jannasch sah in Berlin »eine Menschenmühle, deren Triebwerke und Mahlgänge Menschenschicksale zermalmen«, 85 und ein anderer SAG-Erzieher registrierte dort nur »giftige Gase« und die »Stickluft des steinernen Meeres«.86 Rudolf Haberkorn schließlich spannte einen suggestiven Gegensatz von verderblicher Stadt und rettendem Land auf: »Wir wollen hinaus aus der Großstadt mit ihrer Geist und Körper aufreibenden Hast und Nervosität und ihrem inneren und äusseren Misch-Masch. Aber wir wollen doch die nicht vergessen, die drinnen bleiben und den verzweifelten Kampf des Ertrinkenden kämpfen. […] So wollen wir zwar hinaus in die freie Natur, um uns dort Kräfte zu schaffen, aber dann immer wieder mit diesen Kräften hineinspringen in die Flut, um andere wertvolle Kräfte herauszuretten.«87

—————— gesagt: »Volksgemeinschaft, ja, das ist es, was wir wollen, der Mann hat ja recht!« Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 98 (Anm. 429). Ganz ähnlich schildert auch Irmgard von der Lühe diese Angelegenheit: von der Lühe, Elisabeth von Thadden, S. 55–57. Angesichts der durchaus weiten Verbreitung dieses Begriffs im politischen Diskurs des Kaiserreichs, insbesondere während des Weltkriegs, erscheint diese Behauptung jedoch reichlich absurd. Vgl. dazu auch Siegmund-Schultzes Bericht über den Besuch Hitlers bei einer seiner Vortragsveranstaltungen im Winter 1921/22 in: EZA 626/270, in dem allerdings nicht vom Begriff »Volksgemeinschaft« die Rede ist. Zur politischen Semantik des Volksgemeinschaftsbegriffs in der Weimarer Zeit vgl. Wildt, »Volksgemeinschaft«. 83 Vgl. dazu allgemein Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft; Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 139–169; Linse, »Antiurbane Bestrebungen in der Weimarer Republik«; Reulecke/Zimmermann (Hg.), Die Stadt als Moloch?; Lees, Cities Percieved; ders., Cities, Sin, and Social Reform, S. 23–48. Einen Überblick bietet auch König, »Großstadt«, S. 42–51. 84 Friedrich Siegmund-Schultze, »Rahnsdorf«, in: NSAG Nr. 5 (März 1915), S. 131–132, hier S. 131. 85 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 45. 86 Paul Hoffmann, »Ein Sonntagsausflug mit Berlin-Ost-Jungens«, in: ASM 5. Jg. Heft 11/12 (Februar/März 1922), S. 172–177, hier S. 177. 87 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 178.

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Die Stadt als Schicksalsmühle, wuchernde Sumpfpflanze und gefährliche Flut: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund sozialhygienischer Vorstellungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde die Großstadt zum paradigmatischen Ort von Desintegration und Degeneration. Zu einer solchen Sichtweise trugen nicht zuletzt die Schriften des Hamburger Volksheimgründers Walther Classen bei, der krude rassistische Theorien von der »Verkümmerung und Entartung«88 deutschen Volkslebens und von den Großstädten als den »Sammelbecken bastardisierter Volksstämme und vergifteter Rassenreste«89 zusammenphantasiert hatte. Zwar wurde Classens eigenwillige »naturgeschichtliche« Stadtethnologie90 in der SAG nicht ausdrücklich rezipiert, allerdings bestanden hinsichtlich der Wahrnehmung der Stadt als Brennpunkt des sozialen und kulturellen Niedergangs gewisse Gemeinsamkeiten.91 Und schließlich war Classens 1901 ins Leben gerufenes Volksheim eines der nächstliegenden Vorbilder für das Settlement in Berlin-Ost gewesen. Für das Verständnis dieser Bilder ist aber nicht nur deren Tradition in der bürgerlichen Kulturkritik entscheidend, sondern – mehr noch – die Funktion dieser Bilder für die Legitimation des reformerischen Zugriffs. Denn die dunkle »Flut« der Städte schien zur Tat aufzurufen und unterstrich den missionarischen Anspruch der Seelenretter. Als Gegensatz zur Großstadt wurde das Landleben als Ideal einer gemeinschafts- und naturverbundenen Existenz propagiert. In Kooperation mit den Landfreunden der SAG wurden ab 1914 Landverschickungsaktionen durchgeführt, die den Stadtkindern des Berliner Ostens das als »in-

—————— 88 Classen, Das stadtgeborene Geschlecht, S. 35. 89 Ebd., S. 45. 90 Classen verstand seinen Ansatz als »Naturgeschichte des Großstadtvolkes« und be-

schrieb die Bevölkerungsstruktur Hamburgs aus streng »rassenkundlicher« Sicht. Vgl. Classen, Großstadtheimat. Als Vorläufer der nationalsozialistischen Rassenlehre ist Classen meines Wissens bisher eher wenig beachtet worden. Dabei fand seine mehrbändige deutsche Geschichte, in der er unter dem Titel »Das Werden des deutschen Volkes« seinen rassengeschichtlichen Ansatz durchbuchstabierte, eine relativ weite Verbreitung. 91 In den 1920er Jahren gab es in der SAG immerhin einige Stimmen, die im großstädtischen Leben auch kulturelle Fortschritte – eine tendenziell demokratische Entwicklung, eine Erweiterung der individuellen Möglichkeiten – sehen konnten. Vgl. dazu die exemplarische Gegenüberstellung zweier Positionen in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift: »Vom Menschen in der Großstadt«, in: ASM 5. Jg., Heft 4/5 (Juli–August 1921), S. 58– 68. Unter diesem Titel sind zwei Texte von Elisabeth Sackermann (»Großstadtverneinung«) und Luise Stöckert (»Großstadtbejahung«) zusammengefasst, die klassische Argumente für bzw. gegen »die Großstadt« entwickeln. Eine generelle Tendenzwende in der Beurteilung der Großstadt lässt sich in der SAG bis 1933 jedoch nicht ausmachen.

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nerlich gesünder«92 qualifizierte Landleben nahebringen sollten. In den 1920er Jahren versuchte man dann im Anschluss an Bodenreform- und Freilandideen,93 adelige Grundbesitzer für die Ansiedlung von Arbeitern auf dem Land zu gewinnen – ein Plan, der sich vor allem aufgrund der reservierten Haltung der Landfreunde nie verwirklichen ließ.94 Als ein besonderer Erfolg wurde hingegen die Fertigstellung der »Siedlung Ulmenhof« in Wilhelmshagen gefeiert. Auf dem Grundstück des SAG-Kinderheims entstanden bis zum September 1928 zehn Doppelhäuser mit Nutzgarten, in die dann Arbeiterfamilien aus Berlin-Ost einzogen.95 Unschwer lässt sich hinter dieser Siedlung für einige wenige Familien die nostalgische Idee einer »Rückkehr der Industriekultur zur Handwerks- und Kleinbauernkultur« erkennen.96 Wenn auch der Impuls zur Verbesserung der desolaten Wohnverhältnisse von Arbeitern und Arbeiterfamilien anerkannt werden muss: Die Alternativen zeugen kaum von einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Großstadt als vielmehr von einer eskapistischen und konservativ-kulturkritisch gefärbten Landideologie. Wenn die Wilhelmshagener Siedlung 1928 als eine »Arbeiter-Nachbarschaft« am Stadtrand konzipiert war, so stammt doch das Konzept der Nachbarschaft aus der sozialen Arbeit in der Stadt. Dieser Begriff nimmt

—————— 92 Stellungnahme von Anna Maria Karg, vgl. Sitzungsprotokoll vom 8. April 1924, in: EZA

51/S II b2. 93 Für einen Überblick über diese Reformideen vgl. Feuchter-Schawelka, »Siedlungs- und

Landkommunebewegung«; Meyer-Renschhausen/Berger, »Bodenreform«; Hartmann, »Gartenstadtbewegung«, jeweils mit weiterführender Literatur. 94 Die SAG hatte auch Kontakt zu bestehenden Siedlungsprojekten, vgl. z.B. den Briefwechsel mit Margarete Schüssler von der Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg in: EZA 51/S II c 4,1. Siegmund-Schultze zeigte sich hier von der Freilandidee »in allerhöchstem Maße« interessiert: Friedrich Siegmund-Schultze an Margarete Schüssler, 4. September 1918, in: EZA 51/S II c 4,1. 95 Zum Entstehungsprozess der Siedlung Ulmenhof vgl. folgende Beiträge und Berichte: Renate Lepsius, »Siedlung Ulmenhof, Wilhelmshagen«, in: RMSAG Nr. 5 (September 1926), S. 1–3; Friedrich Siegmund–Schultze, »Unsere SAG–Außensiedlung in Wilhelmshagen«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 3–11; Erich Gramm, »Siedlung Ulmenhof«, in: RMSAG Nr. 23 (Mai 1928), S. 1–2; »Siedlung Ulmenhof. Soziale Arbeitsgemeinschaft Wilhelmshagen«, in: NSAG Nr. 22 (Dezember 1928), S. 25–32; Lina Goebel, »Die Anstalten der Siedlung Ulmenhof in Wilhelmshagen«, in: NSAG Nr. 26 (Dezember 1931), S. 22–24; Karl Bätz, »Drei Jahre Siedlung Ulmenhof«, in: NSAG Nr. 26 (Dezember 1931), S. 24–26; Lina Goebel, »Siedlung Ulmenhof«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 4–5; »Zehn Jahre Siedlung Ulmenhof«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 14–23. 96 Zur sozialreformerischen Siedlungsidee als Gegenentwurf zur Großstadt vgl. Wietschorke, »Die Straße als Miterzieher«, S. 228–233, mit zahlreichen Literaturhinweisen.

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im Denken der SAG eine Schlüsselstellung ein. Er bezeichnete einen vor Ort und im Kleinen zu realisierenden Gegenentwurf zur urbanen Klassengesellschaft, der als eine der zentralen Metaphern für das Anliegen der SAG diente – wenn er auch erst gegen Ende der 1920er Jahre zu einem programmatischen Schlagwort wurde.97 Dieser Schlüsselbegriff hatte zwei Seiten. Zum einen war er eng auf die Idee christlicher Nächstenliebe bezogen: Der Nachbar war der Nächste, welcher der persönlichen Hilfe des anderen bedarf. Zum anderen aber ging es dabei immer auch um die soziale Organisation des städtischen Nahraums.98 Das Stadtquartier sollte nach dem Vorbild der dörflichen Nachbarschaft als solidarisches Netzwerk aufgebaut werden, als ein »sozialer Organismus« inmitten des Berliner Ostens. Mit diesem Plan wollte man der »innerlich sterbenden Großstadtbevölkerung«99 etwas von dem wiedergeben, was im Prozess der Urbanisierung angeblich verloren gegangen war: Heimat und gemeinschaftliches Leben.100 Exemplarisch formulierte Friedrich Wilhelm Foerster die Zielvorstellung, dass den Arbeitervierteln der Großstädte ausgehend von den Settlements »die intime und geschlossene Zusammengehörigkeit der alten Dorfgemeinschaft zurückgegeben würde«.101 Mit der Nachbarschaftsidee wollte man also »an den bedrohtesten Punkten der großstädtischen Kultur« ansetzen102

—————— 97 Zu Beginn des Jahres 1928 wurde die Akademisch-Soziale Monatsschrift in Neue Nachbar-

schaft umbenannt, vgl. dazu Friedrich Siegmund-Schultze, »Neue Nachbarschaft«, in: ASM 11. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1928), S. 1–7. Zwei neue Rubriken dieser Zeitschrift waren mit »Aus der Nachbarschaftsarbeit« und »Wo treffe ich meinen Nachbar?« überschrieben, vgl. die Ausgaben der Neuen Nachbarschaft ab Ausgabe 11. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1928). Folgerichtig lautet auch der Titel der 1929 in Buchform veröffentlichten »Programmschrift« der SAG: Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Hg.), Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. 98 Zur Geschichte des Nachbarschaftskonzeptes im Kontext von Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie vgl. Wietschorke, »Ist Nachbarschaft planbar?«, zur Settlementbewegung insbes. S. 96–105. 99 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 246. 100 Im Kreis der SAG war der ehemalige Arbeiter Wenzel Holek wieder einmal einer der wenigen, die romantische Konstruktionen wie das dörfliche »Gemeinschaftsleben« durchschauten. In einem ausführlichen Rezensionsaufsatz von Wilhelm Flitners Buch Laienbildung hält er Flitners Beschwörungen der Dorfidylle eigene Erfahrungen entgegen: »In Wirklichkeit ist das nur eine Feierabendstimmung. Ist man längere Zeit auf dem Lande, so erkennt man, daß in den Seelen auch hier der Teufel wütet wie in den Städten«. Wenzel Holek, »Laienbildung«, in: ASM 6. Jg. Heft 1 (April 1922), S. 8–15, hier S. 12. 101 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 34. 102 Friedrich Siegmund-Schultze an Landrat Lindenberg, 9. Juni 1925, in: EZA 51/S II c 25.

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– eine Formulierung, die den räumlichen Ansatz der SAG deutlich macht und damit nicht zuletzt auch an spätere Diskurse um »soziale Brennpunkte« erinnert.103 Als eine Kontinuitätslinie der Settlements bin in die Gegenwart hinein lässt sich denn auch die Gemeinwesenarbeit bzw. das Stadtteiloder Quartiersmanagement bestimmen, die »benachteiligte« Viertel in den Blick nehmen und daher einen stadträumlichen Zugang repräsentieren.104 Für die SAG als einen ihrer Vorläufer war »Nachbarschaft« ein emphatischer Begriff, mit dem sie ihr Modell einer neuen Gesellschaftsordnung durchspielten. Die Nachbarschaft um die Fruchtstraße im Berliner Osten bildete aber auch ein Experimentierfeld dafür, wie sich aus dem lebensweltlichen Kontakt zwischen Arbeitern und Akademikern ein neues, tragfähiges Konzept gesellschaftlicher Führung gewinnen ließ. Auf diese Weise bleibt auch die sozialharmonische Vorstellung nachbarschaftlichen Lebens zurückgebunden an die Rolle der Bildungsbürger, ihre Wertorientierungen, Hoffnungen und Projektionen.

—————— 103 Peter Niedermüller hat darauf hingewiesen, dass der Diskurs um soziale Brennpunkte

»soziale Probleme territorialisiert« und die Bewohner bestimmter Stadtviertel »pathologisiert«, vgl. Niedermüller, »Einleitung«, S. 7–8. Dabei wird klar, dass die Konstruktion und mediale Repräsentation solcher »Problemzonen« auch dazu dient, stadtpolitisches Eingreifen zu rechtfertigen. Mit ihren moralisierenden Berichten aus dem »dunklen Berlin« trug auch die SAG zu einer solchen Territorialisierung sozialer Problemlagen bei; die Rede von den »bedrohtesten Punkten« einer Gesellschaft suggerierte Handlungsbedarf und erklärte den Berliner Osten zum Paradebeispiel eines »absinkenden« Stadtteils. 104 Als neuere Überblicksdarstellungen zur sozialräumlich orientierten sozialen Arbeit vgl. Krummacher, »Stadtteil- bzw. Quartiermanagement«; Biesel, Sozialräumliche Soziale Arbeit; Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel (Hg.), Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit.

4. Soziale Mission und das Prinzip der Substitution

Terra Incognita und Altruismus als Abenteuer Ganz im Sinne des Leitmotivs der »getrennten Welten« war die Expedition in den Berliner Osten von einer binnenkolonialistischen Metaphorik begleitet. Die SAG-Mitarbeiter sahen sich als einen »Vortrupp« der bürgerlichen Welt,1 der einen ersten »Vorposten«2 auf fremdem Territorium errichtete – und damit, wie es Horst Groschopp für Toynbee Hall formuliert hat, als eine »Bastion philanthropischer, abenteuerfreudiger, reformwilliger und studierender Männer inmitten unwirtlicher Arbeiterquartiere«.3 In militärischer Diktion berichtete der Leiter der SAG 1916: »Die Pioniere, die sich an die Arbeit machten, eine Brücke zu schlagen, stürzten sich wagemutig, wie es deutschen Soldaten geziemt, in den Strom – galt es doch zunächst am anderen Ufer einen Brückenkopf zu bauen. Das Hinüberschwimmen war leicht; auch die Anlage des Brückenkopfes gelang. Der Bau der Brücke aber stieß, wie zu erwarten war, auf Schwierigkeiten.«4 Aus der Sicht dieser »Pioniere« war der Osten ein fremdes, unerschlossenes und daher auch unsicheres Gelände. Werner Picht sprach von der »Unterwelt, in welche die Siedelungen vorstießen«,5 Siegmund-Schultze von der »Wüste des Ostens von Berlin«, weshalb er im gleichen Atemzug forderte: »Es müssen solche Furchen gezogen werden, die in die Wüste hineinreichen.«6 Auch Walther

—————— 1 Gramm, »Soziales Schauen und Schaffen«, S. 23. 2 Vgl. den Aufruf »Wer hilft dem Vorposten?« im Reichsboten vom 12. April 1912. 3 Groschopp, Dissidenten, S. 332. 4 Friedrich Siegmund-Schultze: »An die Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916),

S. 203. 5 Picht, »Settlement und Volkshochschule«, S. 65. 6 Siegmund-Schultze, »Berlin-Ost«, S. 301. Auch die Inversion der Bewässerungsmetapher

war möglich; so bezeichnete es Oskar von Unruh als ein Ziel der Settlements, »im harten

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Classen, der Gründer des Hamburger Volksheims, bediente sich der Brückenmetapher;7 er bezeichnete seinen Settlementbezirk sogar als ein »noch gar nicht berührtes Gebiet mit gewaltigen Massen von Arbeitern«. Und er fügte hinzu: »Mein Neffe Ernst Holler war ganz angetan von dem Gedanken, sich in diese gewaltige Arbeiterschaft […] hineinzusetzen«8 – eine Formulierung, an der sich der kolonisierende Zugriff klar ablesen lässt. Mit dieser Rede vom dunklen und wüsten Teil der Stadt schrieben die Vertreter der deutschen Settlements ein Leitmotiv der »social explorers« des 19. Jahrhunderts fort. So heißt es bei dem Sozialphilosophen Thomas Carlyle, auf den sich die Gründer von Toynbee Hall bezogen haben: »Wir führen euch an die Küste eines ungeheuren Festlandes und fragen euch, ob ihr es nicht mit eigenen Augen sehen könnt, ob ihr nicht durch fremdartige Anzeichen wahrnehmt, wie massig dunkel, unerforscht, unvermeidlich es daliegt. Ihr müßt es betreten!«9 Das Pathos und der Unbedingtheitsanspruch der Expedition ist hier deutlich zu spüren: Das Dunkle und Unerforschte ist zugleich »unvermeidlich«, man »muss es betreten«. Damit ist auch die missionarische Intervention der bürgerlichen Reformer legitimiert. Durch die Metaphorik, die den Berliner Osten zur »Wüste« und die Arbeiterquartiere des neuen Hammerbrook in Hamburg zu einem »noch gar nicht berührten Gebiet« degradiert, werden ganze Stadtbezirke zur terra incognita und tabula rasa, der zivilisatorische Standards und bürgerliche Kultur erst noch eingeschrieben werden müssen.10 Dass der Osten zusätzlich noch als ein besonders gefährliches Gelände imaginiert wurde – nach einem Hinweis von Elisabeth Meilhammer spielten die zeitgenössischen Texte zu Toynbee Hall immer wieder darauf an, dass sich das Settlement in genau der verruchten Gegend befand, in der Jack the Ripper sein Unwesen

—————— Ringen dem stürmenden Meer den väterlichen Boden abzuringen«. Vgl. undatierte Abschrift in: EZA 626/134. 7 Vgl. dazu Walther Classen, »Die Brücke«, Das Volksheim, 17 (1917), Heft 1, S. 11–12. 8 Walther Classen an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Februar 1921. 9 Zit. nach Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 130. 10 Vgl. auch die anschauliche Formulierung von Else Federn, der Leiterin des Wiener Settlement, aus dem Jahr 1903: »›Settlement‹ heißt Niederlassung, Niederlassung in einem fremden Lande. Das war die neue Erkenntniß, […], dass nicht nur jenseits des Oceans ›Neues Land‹ der Niederlassung wartet, sondern ganz nahe des Stätten der höchsten Civilisation das öde Land beginnt, das noch bewohnbar gemacht werden muß, obgleich zu Viele dort wohnen.« Zit. nach Malleier, Das Ottakringer Settlement, S. 22.

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trieb,11 verlieh der Expedition den Charakter einer Bewährungsprobe und eines veritablen sozialen Abenteuers Das andere Ufer lag vor der eigenen Haustür; der Graben, den es hier zu überbrücken galt, war nicht sehr breit, sondern vor allem tief. Der Moabiter Pastor Günther Dehn schrieb 1912: »Es gibt Gegenden in Berlin, die kennt man einfach nicht. Wann kommt der normale Gebildete, der im bayerischen Viertel in Schöneberg wohnt, und tagtäglich in die Leipzigerstraße fährt, wo sein Bureau liegt – wann kommt der einmal nach Neukölln oder Lichtenberg oder in die riesigen Arbeiterviertel des Nordens? Die Wahrscheinlichkeit, daß er einmal nach Spanien oder Afrika kommt, ist vielleicht größer als die, daß er mit eigenen Augen sieht, wie eine Stunde weiter östlich oder nördlich seine Mitbürger durch das Leben kommen.«12 Ganz ähnlich schreibt ein Hamburger Volksheimmitarbeiter in einem Brief an einen fiktiven Freund: »Nun wohl, Verehrtester, Sie sind bis Westindien gekommen und haben mir von dort Briefe über ›Land und Leute‹ geschrieben, die ein scharfes Auge verraten. Aber verzeihen Sie eine Frage: Kennen Sie den – Billwärder Ausschlag oder das Arbeiterleben an irgend einem anderen Punkte der Peripherie Ihrer Vaterstadt?«13 Rolf Lindner hat darauf hingewiesen, dass es genau dieses Beschreibungsmuster sozialer Segregation war, das den Impuls zu den sozialen Entdeckungsreisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gegeben hat. »Die um die Jahrhundertwende gebräuchliche Metapher vom ›anderen Ufer‹ bringt die Dialektik von Nähe und Fremdheit unmittelbar zum Ausdruck; sie setzt aber auch die Imagination in Gang, daß es einer Reise bedarf, um sich des nahen Fremden zu bemächtigen.«14 Dass der dunkle Kontinent nur einen Steinwurf vom Stadt-

—————— 11 Meilhammer, Britische Vor-Bilder, S. 272 (Anm. 1247). Dabei ist nicht uninteressant, dass

es – wie Lindner in Anlehnung an Judith R. Walkowitz berichtet – auch Vermutungen gab, Jack the Ripper sei »entweder ein wahnsinniger Doktor, ein religiöser Fanatiker, ein manischer Triebtäter aus der Oberschicht oder ein Sozialwissenschaftler« gewesen. Lindner, Walks on the Wild Side, S. 214 (Anm. 27). Diese Geschichte belegt, dass die Imagination des Londoner Ostens nicht nur von einem verarmten Proletariat, sondern ganz besonders von gescheiterten bürgerlichen Existenzen bevölkert war. Ob man den Sozialwissenschaftler prinzipiell zu letzteren mit hinzu zählen muss, bleibt allerdings unklar. 12 Günther Dehn, »Berliner Jungen«, Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 7 (1912), S. 97–104, hier S. 97. 13 E. F., »Unsere Aufgabe«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das dritte Geschäftsjahr 1903/1904, Hamburg 1904, S. 5–8, hier S. 6. Das Motiv der »Afrikareise« ins Innere der eigenen Gesellschaft findet sich auch bei Günther, Das Hamburger Volksheim, S. 10. 14 Lindner, »Das andere Ufer«, S. 298.

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zentrum entfernt liegt, wie es bei dem Begründer der Heilsarmee, William Booth, exemplarisch heißt,15 ist also nicht nur ein Spannung und Schauder erzeugender literarischer Kunstgriff, sondern begründet die Notwendigkeit der Forschungsreise.16 Doch vielfach war die andere Seite der Stadt längst keine wirkliche »terra incognita« mehr, sondern längst – wie Lindner in Anlehnung an Peter J. Keating schreibt – ein »Tummelplatz für Heilsarmisten, Menschenfreunde und Siedler, Sozialforscher, Journalisten und Voyeure«.17 Die Metaphorik des »dark continent« ist daher nicht als Wirklichkeitsbeschreibung zu lesen, sondern vielmehr als eine Legitimationsfigur der Sozialmissionare, die ihr eigenes Heil auf der anderen Seite der Stadt suchten und einen möglichst dunklen Kontinent brauchten, um ihr eigenes Licht umso heller strahlen zu lassen. Auf diese Weise war der Osten mit diffusen Phantasien befrachtet und galt als Inbegriff eines unsicheren und gefährlichen Ortes. Der Eintritt in die SAG und die damit verbundene Übersiedlung nach Berlin-Ost war denn auch für viele angehende Mitarbeiter ein gravierender Schritt, bei dem Schwellenängste überwunden werden mussten. Gerade die sensibleren unter den interessierten Studenten taten sich schwer mit der Vorstellung, tatsächlich eine Wohnung unweit des berüchtigten Schlesischen Bahnhofs

—————— 15 »As there is a darkest Africa is there not also a darkest England? Civilization, which can

breed ist own barbarians, does it not also breed ist own pygmies? May we not find a parallel at our own doors, and discover within a stone’s throw of our cathedrals and palaces similar horrors to those which Stanley has found existing in the great Equatorial forest?« William Booth, In Darkest England and the Way Out (1890), zit. nach Keating (Hg.), Into Unknown England, S. 145. 16 Das Motiv des nur einen »Steinwurf« weit entfernten Elends ist auch heute noch vielfach zu finden. So etwa in einem Text des Journalisten Winfried Roth, der bis in einzelne Formulierungen hinein dem Stil und der Rhetorik der viktorianischen Elendsreporter folgt: »Nur einige hundert Meter vom Bundeskanzleramt und vom Schloß Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, entfernt, in Moabit, beginnen die Berliner Slums. […] Auch von der Konsummeile am Potsdamer Platz sind es nur wenige Minuten bis zu Gegenden mit Ghettoatmosphäre wie der Dennewitz- oder der Bülowstraße.« Roth, »Slums«, S. 881. In einem anderen Kontext erscheint das Motiv der »nahen Fremde« z.B. in einer Aussage von Cevriye Güler, Mitarbeiterin der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, über das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken im Kölner Norden: »Es war eine große Leistung, dass wir Menschen den Mond betreten haben, aber wir schaffen es nicht, die fünf Schritte zum Nachbarn zu machen.« Zit. nach Graalmann, »Ein Kulturkampf mit dem Zollstock«, S. 3. 17 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 98. Auch für Stedman Jones gehörte das religiöse und wohltätige Eingreifen der Heilsarmee und der Armenpfleger »zum alltäglichen Bild der Londoner Armenviertel«. Stedman Jones, »Kultur und Politik der Arbeiterklasse in London«, S. 328.

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zu beziehen – zumal, wenn es sich auch noch um eine Unterkunft bei einer Arbeiterfamilie handelte. Nicht selten wurden diese persönlichen Bedenken offen formuliert; so schrieb der Schweizer Ernst Gaugler im September 1912 an Siegmund-Schultze: »Ich bin etwas zwiespältiger Natur. Einerseits drängt es mich, mit ganzer Seele mich Ihrer Sache zu widmen, denn sie kann mir wohl mehr sagen als viel theoret. Kleinkram in doppelter Zeit. Aber andererseits bin ich etwas unerfahren und deshalb noch ängstlich und bitte Sie deshalb, mir mitzuteilen, ob das Quartier in dem die Friedensstr. liegt zu den guten – Sie wissen in welchem Sinne ich dies meine – gehöre?«18 Eigentlich hatte Gaugler mit dieser Frage schon das zentrale Motiv der Settlementbewegung – das »Draußenwohnen«19 – missverstanden. Vor allem aber dokumentiert der Brief, welche Vorstellungen er sich in der fernen Schweiz vom »dunklen Berlin« machte. Um sich etwas sicherer fühlen zu können, legte Gaugler Wert auf einen gewissen, wenn auch bescheidenen Wohnstandard: So bat er darum, ihm »ein reinliches Zimmer zu suchen und ja keines, das auf einen Hof hinausgeht«.20 Denn der Hinterhof – so möchte man ergänzen – stand geradezu für den unausweichlichen persönlichen Kontakt mit der Arbeiterbevölkerung. In ähnlicher Weise wünschte sich eine Theologiestudentin aus Bückeburg für ihren Aufenthalt in Berlin-Ost Verhältnisse, wie sie sie als »gut bürgerlich erzogener Mensch« gewohnt sei21 – daraufhin versuchte ihr Alix Westerkamp nahezulegen, »dass eine ausserordentlich stählende Kraft darin liegt, wenn man

—————— 18 Ernst Gaugler an Friedrich Siegmund-Schultze, 29. 9. 1912, in: EZA 51/S II, c 20. 19 Mitarbeiter des Hamburger Volksheims haben diesen Begriff geprägt und bezeichneten

ihre residents dementsprechend als »Draußenwohner«, vgl. Ernst Jaques, »Vom Draußenwohnen«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 16–20, und Wilhelm Hertz, »Die Entwicklung der Idee und der Praxis des Volksheims«, in: Volksheim Hamburg. Zehnter Jahresbericht 1910–1911, Hamburg 1911, S. 41–59, insbes. 48–50. 20 Ernst Gaugler an Friedrich Siegmund-Schultze, 29. 9. 1912, in: EZA 51/S II, c 20. Gaugler zog im Folgenden seine Teilnahme an der SAG zurück (»Ich durfte mich nicht dazu entschließen, bei Ihnen zu wohnen«), um wenige Tage darauf doch zuzusagen: »Ich habe mich nun doch entschloßen, bei Ihnen zu wohnen. […] Auch wird sich ja alles machen laßen, wenn wir in einem Convikt zus. leben.« Wiederum einige Tage später kündigte er sein Kommen mit einer quasi militärischen Formulierung an, die etwas von dem oben geschilderten Pioniergeist verrät: »Ich werde voraussichtlich Mittwoch den 23ten einrücken.« Ernst Gaugler an Friedrich Siegmund-Schultze, 24. September 1912, 6. Oktober 1912, 12. Oktober 1912, alle in: EZA 51/S II c 20. 21 Alix Westerkamp an A. Bergemann, 19. September 1919, in: EZA 51/S II, c 31.

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einmal ›ganz etwas anderes‹ tut«.22 Der »ausgesprochene Kleinstädter« Hanns Eyferth deutete an, dass er mit dem »Leben mitten in den Großstadtmauern« womöglich nicht zurechtkommen werde.23 Dem angesichts der schwierigen Versorgungslage und der angespannten politischen Situation in Berlin um seine Gesundheit besorgten Studenten Otto Müller aus Zürich24 musste Siegmund-Schultze beschwichtigend schreiben: »Jedenfalls scheint es mir für junge Männer, die ohne Familien hier in Berlin sein werden, jederzeit möglich, etwaige Gefahren zu vermeiden, sei es durch Abreise oder sonstige Massnahmen.«25 Und auch Otto Heinrich Zeeb, der sich ebenfalls für eine Mitarbeit in Berlin-Ost interessierte, meldete Bedenken an: »Als vorsichtiger Grübler wollte ich aber nicht gleich mit beiden Füßen in die Sache hineinspringen. […] Ich bin zunächst wegen meiner reflektierten, etwas weltfremden u. menschenscheuen Art nicht besonders geeignet für die Arbeit bei Ihnen, aber ich hoffe, daß das zu überwinden sein wird.«26 Tatsächlich scheint, wie Alix Westerkamp berichtet hat, nicht jeder der neuen residents mit den Lebensverhältnissen am Schlesischen Bahnhof zurechtgekommen zu sein: »Wir erleben es immer wieder, dass die jungen Akademiker, die für ein Semester nach Berlin-Ost kommen, mit dem Leben hier nicht fertig werden.«27

—————— 22 Ebd. 23 Hanns Eyferth an Alix Westerkamp, 1. Oktober 1920, in: EZA 51/S II c 24,1. 24 Vgl. Otto Müller an Friedrich Siegmund-Schultze, 29. September 1919, in: EZA 51/S II,

c 24, 2. 25 Friedrich Siegmund-Schultze an Otto Müller, 18. Oktober 1919, in: EZA 51/S II, c 24,

2. 26 Otto Heinrich Zeeb an Friedrich Siegmund-Schultze, 15. Januar 1926, in: EZA 51/S II,

c 26. 27 SAG an Kurt Altenmüller, 18. Dezember 1920, in: EZA 51/S II c 24,1. Ein exempla-

rischer Fall ist der des Schweizers Werner Marti, der während des Ersten Weltkriegs nach Berlin-Ost kam, um in den Jugendklubs – namentlich dem »Pfeil« – auszuhelfen. Marti hatte in der SAG eine mit 100 Mark monatlich bezahlte Stelle, litt aber offensichtlich sehr unter den Verhältnissen des Hungerwinters 1916/17 und kündigte am 3. März 1917 fristlos und gegen alle Vereinbarungen seine Mitarbeit. Die Beurteilung dieses Vorgangs seitens der SAG schwankte zwischen dem »Eindruck, dass Marti nicht ganz normal ist« und der Einsicht, dass es »für ein freies Kind der Schweizer Berge« eben schwer sei, die Berliner Kriegsverhältnisse zu ertragen: »So zu leben wie die ärmeren Arbeiter von Berlin-Ost […], hatte er nicht genug Opferwilligkeit.« Friedrich SiegmundSchultze an D. Mahling, 4. März 1917, in: EZA 51/S II c 23,2. Vgl. dazu auch die beiden Briefe Friedrich Siegmund-Schultze an Werner Marti vom 10. März 1917 und 4. April 1917, in: EZA 51/S II c 23,2.

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Für die meisten angehenden Mitarbeiter der SAG bot der Berliner Osten aber vor allem eine reizvolle und mit Spannung erwartete Herausforderung. Hartmut Dießenbacher hat in einem bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel »Altruismus als Abenteuer« auf die Rolle der Abenteuerlust als Motivation für praktische soziale Arbeit hingewiesen. Am Beispiel von William Booth, Friedrich von Bodelschwingh, Thomas John Barnado und Henry Dunant zeigt er, dass die heroischen bürgerlichen Altruisten des 19. Jahrhunderts auch ein gewisses »Fernweh« befriedigten: »Sie entdecken das in der Heimat Verborgene, das Unheimliche, das öffentlich Verdrängte.«28 Diese »Polarität von bürgerlicher Heimat und unbürgerlicher Fremde« versteht Dießenbacher als die »Bedingung abenteuerlichen Handelns«29 und die Motivation für den persönlichen Einsatz in den Stadtvierteln der Armen. Unverkennbar spielte dieses Abenteuermotiv auch in den deutschen Settlements eine wichtige Rolle – die Exploration eines unbekannten Milieus war für viele der jungen Studenten ein veritables soziales Abenteuer. Denken wir an Siegmund-Schultzes Formulierungen von den »Pionieren«, die sich »wagemutig in den Strom« stürzten oder von »der Freiheit und dem Pfadfindermut […], die zu unserer Arbeit gehören«.30 Denken wir an den SAG-Mitarbeiter Rudolf Haberkorn, der das Ziel der SAG – schon unter dem Einfluss der Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg – so beschrieb: »In der Wildnis wollen wir Kulturzentren schaffen durch gemeinschaftliche Siedelung und gemeinschaftlichen Kampf.«31 Und auch beim späteren Rückblick auf die ersten Jahre des Settlement spielte dieses Leitmotiv von Aufbruch und Abenteuer eine zentrale Rolle, etwa bei Elisabeth Benzler, die 1928 in einem Vortrag von den damals gebauten »Brücken zwischen Wirklichkeit und Romantik«32 sprach und die Initiative der SAG einmal mehr im Sinne einer Expeditionsreise deutete: »Die Übersiedlung ins Arbeiterviertel wurde uns eine Entdeckungsfahrt in ein noch unbekanntes Land. Als jugendliche Träumer zogen wir aus.«33 Die von Dießenbacher genannte »Polarität von bürgerlicher Heimat und unbürgerlicher

—————— 28 Dießenbacher, »Altruismus als Abenteuer«, S. 282. 29 Ebd., S. 279. 30 Rundbrief an die Mitarbeiter, 29. August 1911, in: EZA 51/S II c 20. 31 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 182. 32 Elisabeth Benzler, »Großstadtsiedlung und Jugendbewegung«, in: ASM 11. Jg. Heft 10/11 (Oktober–November 1928), S. 178–188, hier S. 183. 33 Ebd., S. 185.

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Fremde« war für die SAG konstitutiv. Ohne diese Polarität wäre weder die ausgeprägte Kritik vieler SAGler am bürgerlichen Wertesystem, noch deren Suchbewegung hinsichtlich neuer Lebens- und Gesellschaftsentwürfe zu verstehen. Ihr Selbstverständnis als »frontier pioneers« im Grenzland der Klassengesellschaft begründete die Forderung nach einem »Totaleinsatz«, wie er »dem klassischen wie altruistischen Abenteurer abverlangt« wird.34 So prägte die Logik der Entdeckungsreise in vielfacher Weise die Vorstellungen vom Eigenen und vom Fremden mit – genauer: Sie gab diesen Vorstellungen einen Rahmen, innerhalb dessen sie eine bestimmte Funktion zu erfüllen hatten.

Bürgerliche Kultur und soziale Mission Aufbruch und Abenteuer also bestimmten die Selbstwahrnehmung der ersten SAG-Siedler am Schlesischen Bahnhof; im Gedanken einer Zivilisierungsmission von Westen nach Osten sahen sie eine ihrer Hauptaufgaben. So versuchten sie, die Menschen in Berlin-Ost »für ein höheres Leben zu gewinnen«,35 ihnen einen »Zugang zu dem inneren Leben des deutschen Volkes«36 zu verschaffen und als Sendboten einer besseren Welt »in dieses heimatlose Leben etwas hineinzutragen von den reichen Kräften des deutschen Lebens, das nicht mehr bis an die von der Scholle der Heimat Gelösten heranströmen konnte«.37 Mit diesem Versuch zogen sie die Konsequenz aus der Diagnose, der zufolge die Gesellschaft längst in zwei getrennte Welten zerfallen war. Von dieser Diagnose aus bestimmten sie ihre eigene Rolle als Kulturträger und Kulturvermittler, als durch Herkunft und Bildung Privilegierte, die von Haus aus Erfahrungen mitbrachten, die die Arbeiter ihrerseits nie hatten machen können. Aus der Sicht SiegmundSchultzes bedeutete die soziale Segregation in den Städten eine »Abschneidung der Arbeiterschaft von allen Quellen der Kraft, die uns durch die Erfahrungen unseres inneren Lebens bekannt waren. […] Die Brücken zwischen dem geistigen Besitz der Vergangenheit und der großstädtischen Arbeiterschaft waren abgebrochen.«38 Alice Salomon definierte auf einem

—————— 34 Dießenbacher, »Altruismus als Abenteuer«, S. 280. 35 Friedrich Siegmund-Schultze an Wilhelm Sehrt, 27. Juli 1911, in: EZA 51/S I a. 36 »An die Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 203–204, hier S. 204. 37 Erich Gramm, »Volkshaus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 19 (April 1926), S. 17–18, hier

S. 17. 38 »An die Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 203–204, hier S. 203.

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SAG-Abend 1914 das Settlement als eine Einrichtung, in der die Siedler die Arbeiter kennen lernen und ihnen »von ihrer Kultur etwas geben können«.39 Mit diesem Programm sollten die Akademiker in die Pflicht genommen werden, eine »Siedlung des Reichtums und der Fülle in Arbeiter- und Armenvierteln« zu begründen.40 Siegmund-Schultze sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer »Blutübertragung vom Stärkeren auf den Schwächeren«.41 Auf diese Weise sollte die Arbeiterschaft an die Schaltkreise bürgerlicher Kultur angeschlossen werden, denn – wie Siegmund-Schultze nach dem Kapp-Putsch des Jahres 1920 resigniert schrieb: »Großstadtmenschen sinken, vom Geistigen getrennt, schnell zu tierhaftem Vegetieren herab.«42 Es erstaunt nicht, dass in diesem Zusammenhang immer wieder Parallelen zwischen innerer und äußerer Mission auftauchen – personifiziert etwa in dem SAG-Mitarbeiter Richard Lau, der zugleich Vorsitzender des »Studentenbundes für Mission« war und der Missionar in China oder Indien werden wollte.43 An einer 1913 in Halle abgehaltenen Missionskonferenz des »Studentenbundes« nahmen Lau und Siegmund-Schultze teil; der kurz darauf erschienene Konferenzband trägt den Titel Aus der Werkstatt des Missionars und enthält auch kurze Beiträge der beiden SAGVertreter. Dass sich Siegmund-Schultze in diesem Zusammenhang für eine »Ostasiatenmission in Deutschland selbst« einsetzte,44 hat für die SAG vor 1914 ebenso Indiziencharakter wie die Titel benachbarter Beiträge: etwa »Wie unsere Missionsstation die heidnische Umgebung beeinflußte« oder »Wie die Mission ein Negervolk zur Arbeit erzog«.45 Die Parallele zwischen

—————— 39 Nach dem Protokoll des Akademisch-Sozialen Abends am 18. Juni 1914, in: EZA S II f

1. 40 Maria Siegmund-Schultze, »Die Wohlfahrtspflege im Rahmen der Großstadtsiedlung«,

S. 41. 41 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in:

NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 1–7, S. 4. 42 Friedrich Siegmund-Schultze, »Wer soll herrschen?« In: ASM 4. Jg. Heft 1/2 (April/Mai

1920), S. 1–12, hier S. 6. 43 Zu Laus Tätigkeit in der SAG und seinem Entschluss, sein »Leben für die Mission zu

geben«, vgl. Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 175–192, insbes. S. 182, und die kleine Gedenkschrift Siegmund-Schultze, Richard Lau. Dieser Gedenkschrift ist auch zu entnehmen, dass Lau bereits im Jahr 1910 an einem sozialstudentischen Kursus Carl Sonnenscheins in Köln teilgenommen hatte. Ebd., S. 24. 44 Siegmund-Schultze, »Ausländische Studenten und Mission«, S. 10. 45 »Wie unsere Missionsstation die heidnische Umgebung beeinflußte«; »Wie die Mission ein Negervolk zur Arbeit erzog«.

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Heidenmission und Arbeitermission gehörte denn auch zu den rhetorischen Figuren einer ganzen Generation von Sozialreformern, die den »dunklen Kontinent« inmitten der eigenen Gesellschaft erschließen wollten.46 Über Lau schrieb Siegmund-Schultze einmal, dessen Leben zeige die »enge Verknüpfung Innerer und Äußerer Mission: beide sind demselben Motiv entsprungen«.47 Und Friedrich Bredt schrieb vor 1914: »Die Arbeit der S.A.G. […] ist Missionsarbeit, Pionierarbeit. Vergleich mit der Methode der Heidenmission: Langsam-geduldiges Erwerben des Vertrauens«.48 Richard Lau war indessen nicht der einzige Mitarbeiter der SAG, in dessen Biographie auch die äußere Mission eine Rolle spielte. Hans Windekilde Jannasch, der während des Krieges nach Berlin-Ost kam, war Sohn eines Missionars und verfasste später ein Buch über das Leben seines Vaters mit dem vielsagenden Titel »Unter Hottentotten und Eskimos«.49 Der Student Dirk Krafft war der Sohn eines Missionsinspektors der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen, und mit Renate Lepsius, deren Vater Johannes Lepsius an prominenter Stelle in der »Deutschen Orient-Mission« tätig war, kam sogar eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen Siegmund-Schultzes aus einem Missionarshaushalt.50 Solchen persönlichen Verbindungen zwischen innerer und äußerer Mission entsprach ein Programm, das beide Initiativen ideologisch eng miteinander verknüpfte. Bezeichnend dafür ist, wie Siegmund-Schultze in seiner Schlussrede auf einer Missionskonferenz in

—————— 46 Vgl. Geisthövel/Siebert/Finkbeiner, »Menschenfischer«. Eine weitere Fallstudie zu die-

sem Thema bietet Conrad, »Eingeborenenpolitik«. Vgl. des Weiteren die Studien von Susan Thorne, »The Conversion of Englishmen«; dies., Congregational Missions; Hall, Civilising Subjects; Comaroff/Comaroff, Of Revelation and Revolution. Als Forschungsüberblick und Problemskizze zur Missionsgeschichte generell Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«. 47 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 175. 48 »Einige Aufzeichnungen und Briefe F. Bredts«, S. 17. Fast gleichlautend beschrieb später die Mitarbeiterin Gustel Begemann die Arbeit der SAG als »Missionsarbeit«, vgl. Gustel Begemann, »Liebe SAGer!« In: RMSAG Nr. 5 (September 1926), S. 3–5, hier S. 3. 49 Jannasch, Unter Hottentotten und Eskimos. Der 1883 geborene Jannasch war nach seiner Zeit in der SAG Lehrer an Herrnhuter Schulen und Landerziehungsheimen tätig. Von 1930 bis 1953 lehrte er Praktische Pädagogik in Altona, Hirschberg und Göttingen. Vgl. den Eintrag in: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, begründet von Wilhelm Kosch, Achter Band, Bern und München 1981, Sp. 505–506. Vgl. auch seine Autobiographie Jannasch, Pädagogische Existenz. 50 Johannes Lepsius’ Mutter Elisabeth wiederum war eine Freundin und Mitarbeiterin Johann Hinrich Wicherns gewesen, des Begründers des »Rauhen Hauses« in Hamburg und der Inneren Mission in Deutschland. Vgl. Lepsius, »Bildungsbürgertum und Wissenschaft«, S. 326.

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Freudenstadt »Osten« und »Westen« hinsichtlich des innerstädtischen wie auch des globalen sozialen Gefälles aufeinander bezog: »Im Blick auf die ganze Welt konnten wir sehen, wie die Kräfte des Ostens und Westens zueinander kommen. Japan, dessen Missionar zu uns redete, wird unser Arbeitsgebiet; Indien, von dem ein anderer erzählte, wird unser Feld. Das Königreich Christi dehnt sich über die ganze Erde aus. Aber wie keine äussere Mission grössere Wirkungen aufweisen wird, wenn die Heiden, die zu uns kommen, heidnische Zustände im christlichen Lande vorfinden und sich mit Schrecken davon abwenden, so gehört zur Versöhnung von West und Ost auch die gleiche Arbeit zwischen Westen und Osten in unseren Grossstädten. Aeussere und Innere Mission gehören zusammen.«51

Noch 1929 bemühte Siegmund-Schultze den griffigen Vergleich mit der »Heidenmission« – obwohl Berlin-Ost zu diesem Zeitpunkt längst keine »terra incognita« mehr war. In einem Brief bat er nämlich den Tropenmediziner und späteren Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer darum, einen Vortrag in Berlin-Ost zu halten und dabei gerade auf die Parallelen zwischen innerer und äußerer Mission zu sprechen zu kommen: »Wenn Sie ein Thema wählen, das die Aufgaben im ›dunkelsten‹ Afrika und im ›dunkelsten‹ Berlin etwa gleichartig sieht, dann ließe sich die ganze Veranstaltung unter einen Gesichtspunkt stellen, der auch die interessierten Kreise der Mission und der Sozialarbeit in gleicher Weise packte.«52 Die Parallele zur Heidenmission drängte sich auch aufgrund der räumlichen Situation des Settlement als »Vorposten der Zivilisation« auf, wo die »Zivilisierten« dicht bei den »Unzivilisierten« wohnten, um schon durch ihre schiere Präsenz auf sie einzuwirken. So heißt es in einem Artikel über die Soziale Arbeitsgemeinschaft Breslau, das Entscheidende am Settlementgedanken sei »die örtliche und persönliche Konzentration« der Mitarbeiter, denn: »Die Persönlichkeit des Settlementsarbeiters wirkt auf das ganze Stadtviertel.«53 Nicht von ungefähr erinnert diese Formulierung an die Erfahrung der Südwestafrika-Missionarin Irle, »daß unser Vorbild lauter zu den Leuten redete als unsere Lehren«.54 Darin zeigt sich, dass die so-

—————— 51 Schlussrede der Freudenstädter Konferenz, undat. Manuskript in: EZA 626/I 19 A, 8,

S. 2. 52 Friedrich Siegmund-Schultze an Albert Schweitzer, 8. Februar 1929, in: EZA 51/S II e

3. 53 Artikel »Settlements« in den Breslauer Akademischen Blättern vom 30. Januar 1917, zit.

nach Maria Siegmund-Schultze, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Breslau«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 316–325, hier S. 320. 54 »Wie unsere Missionsstation die heidnische Umgebung beeinflußte«, S. 58–59.

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zialmissionarische Arbeit der SAG einem impliziten wie expliziten Diffusionsmodell folgte, in dessen Zentrum die emphatische »Persönlichkeit« stand. In diesem Motiv verbanden sich Evangelisation, soziale Mission und bildungsbürgerliches Selbstbewusstsein zu einer Pathosformel, die den Transfer von »innerem Reichtum« zu garantieren schien. Was Max Scheler in seiner 1911 begonnenen und dann unvollendet gebliebenen Schrift über Vorbilder und Führer als »Vorbildwirksamkeit« bezeichnete – nämlich, dass die schöpferischen Intellektuellen »Menschen zu sich hinziehen, die ihnen aus einem echten Bildungserlebnis heraus ähnlich werden wollen«,55 das war für die SAGler ein ungeschriebenes Gesetz dessen, wie soziale Arbeit vor sich gehen müsse. Von hier aus glaubte man, die Arbeiterschaft – wie Christoph Sachße über die SAG schreibt – »an den Segnungen der bürgerlichen Kultur teilhaben« lassen zu können.56 Zugleich wird soziale Mission als Paradigma der sukzessiven Durchdringung von Raum kenntlich: Der Entdeckung und Erschließung des »dunklen Berlin« folgte die gleichsam natürliche Ausstrahlung und Durchsetzung des Guten in einer Welt des Bösen.57 Dass aber gesellschaftlicher Fortschritt – wie Bernd Jürgen Warneken einmal formuliert hat – »eben nicht so geschieht, daß man erst sich kultiviert, sein Alltagsleben in Ordnung bringt, und diese kultivierte Lebensweise nun Kreise ziehen läßt«58 – das war für die SAGler weitestgehend erst ein Lerneffekt der 1920er Jahre.

Erich Kocke und das Rettungsparadigma Friedrich Siegmund-Schultzes in drei Teilen veröffentlichter Lebensbericht über den Berliner Arbeiter Erich Kocke ist sozusagen der »negative Bildungsroman« der SAG. Er sollte dokumentieren, dass »Tausende […] zu einem langsamen Sterben verurteilt sind, wenn sie nicht durch stärkere und lebenskräftigere Elemente des Volkes in ein Aufwärtsstreben und neues Leben hineingezogen werden«.59 Siegmund-Schultze berichtet ausführlich von Kockes Lebensgeschichte: von den schwierigen Familienverhältnissen

—————— 55 Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz, S. 52. 56 Sachße, »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 37. 57 Zur räumlichen Dimension sozialer Mission vgl. Wietschorke, »Die Stadt als Missions-

raum«. 58 Warneken, »Nachsätze eines später Hinzugekommenen«, S. 107. 59 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921),

S. 19–27, hier S. 27.

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und dem Konfirmandenunterricht, über den er später nur noch wusste, »daß es manchmal furchtbar ulkig und laut gewesen war«,60 von seinen verschiedenen Arbeitsstellen in einer Klavierfabrik, einer Grammophonund einer Möbelfabrik, bei einem Töpfermeister, einer Korrespondenzagentur und einer Verlagsbuchhandlung sowie von seiner Tätigkeit als Erntearbeiter auf einem mecklenburgischen Gut. Diese Stelle war ihm durch die SAG vermittelt worden, zu der er spätestens seit 1914 »engere Beziehungen« aufgebaut hatte.61 Von seinen Kriegserfahrungen berichten 34 an Siegmund-Schultze gerichtete Feldpostbriefe, die im Rahmen des Lebensberichts in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift abgedruckt wurden.62 Nach Kriegsende geriet Kocke verschiedentlich in Schwierigkeiten: zuerst durch eine gerichtlich anerkannte – wenn auch möglicherweise nur angehängte – Vaterschaft, die ihn zu Unterhaltszahlungen zwang, später durch seine Komplizenschaft in einem kleinkriminellen Unternehmen. Zwischendurch aber erhielt er immer wieder in der Fruchtstraße Kost und Logis und erwies sich den SAG-Mitarbeitern gegenüber als echter Freund und »der höflichste und ritterlichste Helfer, der sich denken läßt«.63 Kurz vor seiner geplanten Heirat mit einer Neuköllnerin – in den ersten Tagen des März 1920 – wurde er in der Potsdamer Straße von Gewehrsalven der am Kapp-Putsch beteiligten Marinebrigaden tödlich getroffen. Ein Ende, das von Siegmund-Schultze über seine zufällige Komponente hinaus als paradigmatisch dafür angesehen wurde, »daß Tausende von jungen Menschen in Berlin-Ost in ganz ähnlicher Weise wie Erich Kocke aufwachsen und in ganz ähnlicher Weise wie er ihr Leben verlieren. Wenn niemand da ist, der sie in ein ganz anderes Leben hineinzieht, müssen sie immer tiefer in ihr Verhängnis hineingleiten.«64 Die im Rahmen des Lebensberichts abgedruckten Kriegsbriefe Kockes zeigen diesen als einen devot und bittend auftretenden Arbeiter, der Siegmund-Schultze und die SAG offensichtlich als sein bescheidenes soziales Netzwerk nutzte – und als eine Quelle kleiner Zuwendungen in Form von Tabak, Seife, Zeitungen oder einmal einer Uhr. Sprache und Stil der Briefe

—————— 60 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (I)«, in: ASM 4. Jg. Heft 10 (Januar 1921),

S. 165–172, hier S. 165. 61 Ebd., S. 165–170. 62 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (II)«, in: ASM 4. Jg. Heft 11/12

(Februar/März 1921), S. 189–206. 63 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921),

S. 19–27, 23. 64 Ebd., S. 26.

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– »teile Ihnen hierdurch ergebenst mit« ― »sage ich Ihnen für Ihre große Liebenswürdigkeit, die Sie an mich getan haben, meinen allerherzlichsten Dank« ― »sehr geehrter Herr Doktor, sind Sie doch bitte so freundlich und senden mir mal wieder etwas Marmelade« ― »wollte Sie höflich bitten, ob Sie so liebenswürdig sein würden« und so weiter65 – spiegeln nicht nur die erhebliche, von Kocke vorauseilend akzeptierte soziale Distanz zwischen ihm und dem »geehrten Herrn Doktor«, sondern machen auch anschaulich, wie die »Freundschaft« zwischen Bildungsbürgern und Arbeitern im Berliner Osten vielfach ausgesehen haben mag: dass sie trotz aller Beteuerungen seitens der SAG ein Arrangement war, in dem sich Bittsteller und Helfer, um ihre Existenz kämpfende Arbeiter und bürgerliche Wohltäter gegenüberstanden.66 An Kockes Biographie zeigt Siegmund-Schultze exemplarisch die Durchlässigkeit der Grenze zwischen rough und »respectable« auf: die Verkettung unglücklicher Umstände, die in eine durch und durch unsichere Existenz hinein führt, vor allem aber das quasi naturhaft ablaufende »Schicksal« junger Leute, »die keine feste Hand über sich haben«.67 Wir finden hier, wie Mark Pittenger dieses Deutungsmuster einmal genannt hat, »the characteristic image of the impoverished as sliding helplessly down the evolutionary scale«.68 Dabei ergreift Siegmund-Schultze leidenschaftlich Partei für Kocke, der »stets die Methode befolgt hatte, auf jeden Mitarbeiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft die größte Rücksicht zu nehmen« und der nie »ein unanständiges oder anstößiges Wort« aussprach.69 So wird Erich Kocke als der Prototyp eines im Grunde ehrlichen und anständigen Menschen geschildert, der aber durch den Druck der Verhältnisse, schlech-

—————— 65 Alle Zitate aus: Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (II)«, in: ASM 4. Jg. Heft

11/12 (Februar/März 1921), S. 189–206. 66 Vgl. dazu auch die Feldpost von Berliner Arbeitern an den Leiter der SAG, die zu

weiten Teilen ebenfalls eine relativ devote Haltung gegenüber dem »Herrn Doktor« verrät, in: EZA 626/Karton 263; einige Briefe daraus sind abgedruckt in: »Feldbriefe von Berliner Arbeitern«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 15–20. Vgl. des Weiteren die Briefe von Arthur Scherf an Friedrich-Siegmund-Schultze, 3. Februar 1916, und Richard Lindner an Friedrich Siegmund-Schultze, 22. Februar 1916, beide in: EZA 626/II 29,4. Scherf redet Siegmund-Schultze bezeichnenderweise sogar mit »Hochwohlgeboren« an. 67 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (I)«, in: ASM 4. Jg. Heft 10 (Januar 1921), S. 165–172, hier S. 165–166. 68 Pittenger, »A World of Difference«, S. 53. 69 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921), S. 19–27, hier S. 23.

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te Einflüsse und mangelnde soziale Netzwerke »in sein Verhängnis hineingleiten muss«. Damit aber wird seine Biographie zur pädagogischen Exempelgeschichte. Sie war für die SAG deshalb so sehr von Bedeutung, weil sich an ihr demonstrieren ließ, welche Rolle die klassenübergreifende »Freundschaft« von Berlin-Ost für einen ansonsten sozial isolierten Menschen spielen konnte.70 Die SAG-Mitarbeiter erscheinen in dieser Geschichte als die einzigen Freunde des Protagonisten, die »alles zu tun versuchten, um das Unrecht, das die Gesellschaft an ihm begangen hatte, das ihr stolzen Deutschen an ihm begangen hattet! – wieder gutzumachen und mit ihm gemeinsam neue Wege zu finden«.71 Die Mitarbeiter begleiteten ihn auf seiner Stellensuche und waren, wie Siegmund-Schultze schreibt, zeitweise fast jeden Abend mit ihm zusammen: »Er ist sowohl in seine Tanzlokale begleitet worden, wie er uns zu ernsten Versammlungen begleitet hat.«72 Zwar waren die Versuche der SAG gegenüber den »Lockungen der Schlafstellen, Straßen und Tanzlokale« und einer »immer wieder fordernden und versuchenden Umgebung«73 letztlich erfolglos; trotzdem aber dokumentiert die Kocke-Geschichte aus ihrer Sicht die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Arbeit und die Gültigkeit dessen, was Walther Classen in seinem Buch »Großstadtheimat« festgestellt hatte: »Nein, unser Volk ist nicht schlecht. Es fehlt ihm nur der richtige Freund.«74 Der »richtige Freund« – in der Auffassung der Settlementbewegung war das ein mutiger Grenzgänger zwischen den Klassen, ein freundlicher Lotse durch die dunkle Welt der urbanen Verlockungen und Vergnügungen, kurz: durch das Dickicht der Städte, in dem sich die »schwachen Naturen«75 – wie es über Erich Kocke hieß – heillos verfangen mussten. Dieses Selbstbild der »Arbeiterfreunde« spiegelt sich in zahlreichen Äußerungen aus der SAG. Elisabeth Vedder schrieb in einem Bericht über die Schutzaufsichten: »Durch unsere Arbeit schauen wir tief hinein in die schlimmsten Verhältnisse in Berlin-Ost, tiefer als es sonst wohl der Fall ist. Wir ler-

—————— 70 So sind die Aufzeichnungen über Erich Kocke nicht nur in der Akademisch-Sozialen Mo-

natsschrift, sondern auch als Sonderdruck erschienen; vgl. die Anzeige in: ASM 5. Jg. Heft 7 (Oktober 1921), Rückseite des Heftes. 71 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921), S. 19–27, hier S. 22. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 21–22. 74 Classen, Großstadtheimat, S. 65. 75 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921), S. 19–27, hier S. 22.

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nen die Jungen und Mädchen aus ihren Verhältnissen heraus verstehen und beurteilen. Manche scheinen zum Verbrechen geboren zu sein, aber es sind auch viele andere da, in denen trotz ihrer Umgebung, trotz ihrer vernachlässigten Erziehung ein tüchtiger Kern steckt. Und das noch vorhandene Gute in ihnen herauszufinden und zu pflegen, soll ja die Aufgabe des Helfers sein.«76 Ganz ähnlich formulierte es eine Fortbildungsschullehrerin, die der Auffassung war, daß in Arbeiterkreisen »manches Goldkörnchen an Rechtlichkeit […] zu finden ist, wenn nur erst geschürft wird«77 – eine Wendung, die an die »Goldkörner der Volkskultur« erinnert, die einem Vertreter der volkskundlich orientierten katholischen Landcaritas-Bewegung zufolge »nicht verschüttet werden« dürften.78 Die SAGlerin Gertrud Warnecke sprach davon, sie habe »immer wieder in der Volksseele dies gleiche Sehnen nach Verständnis, Befriedigung, nach sicherem Halt gelesen, das so oft auf falsche Pfade geriet, weil es nicht rechtzeitig gestillt werden konnte«.79 Und selbst »in dem Angesicht eines Irrsinnigen oder Verbrechers« mochte Rudolf Haberkorn »nach mühsamer, aber liebevoller Arbeit den Lichtschein eines göttlichen Funkens […] aufstrahlen sehen«.80 Bis in die Nachkriegszeit hinein war die soziale Arbeit im Berliner Osten von dem beherrscht, was ich als »Rettungsparadigma« bezeichnen möchte: Der Arbeiter erscheint als der Irregeleitete, der auf den richtigen Weg gebracht werden muss; der Helfer erscheint als Retter aus einer anderen Welt, der ihn »in ein ganz anderes Leben hineinzieht«, wie SiegmundSchultze über den Fall Kocke schrieb. In dieser Konstellation bleibt der »pädagogische Bezug«, wie er etwa bei Herman Nohl skizziert wird, intakt: »Die Grundlage der Erziehung ist das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen«.81 Insofern dieser pädagogische Bezug in den ersten Jahren der SAG die Haltung gegenüber dem

—————— 76 Elisabeth Vedder, »Jugendgerichtshilfe«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 104–106,

hier S. 106. 77 »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 1, in: ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar–

März 1918), S. 174–184, hier S. 183. 78 So Otto Maucher in seinem Beitrag »Die Pflege der Volkskunde als Unterbau für die

Dorfcaritas« von 1927, zit. nach Korff, »Folklorismus und Regionalismus«, S. 44. 79 Gertrud Warnecke an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. November 1915, in: EZA 51/S

II e 5. 80 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 178. 81 Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland, zit. nach Puch, Inszenierte Gemeinschaften, S. 185 (Anm. 57).

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Arbeitermilieu insgesamt prägte,82 wird deutlich, dass der Alltag im Berliner Osten fast ausschließlich aus dem »Defizit-Blickwinkel« betrachtet wurde. Der Status von »Kultur« wurde ihm dabei durchweg abgesprochen. Sozialistische Akademiker – so Siegmund-Schultze – neigten dazu, von einer eigenständigen »proletarischen Kultur« zu sprechen, während es in Wirklichkeit keine Kultur gebe, »die nicht auf Kultur baut«.83 Und für diese gelte letztlich, so der Student Richard Rahn, dass »alle Kultur […] als solche bürgerlichen Charakter« trägt, »das liegt in ihrer Natur«.84 Dagegen konnte man »keine Komponenten geistiger Faktoren im Arbeiterviertel« entdecken – und daher nichts, »was mit den Faktoren bürgerlicher Kultur auf einen Nenner gebracht werden könnte«.85 Auch der Bildungsaufsteiger Wenzel Holek lehnte den Gedanken einer proletarischen Kultur ab; wirkliche »Kultur« sei für die Arbeiter nur dann erreichbar, wenn diese »an den Bestand der vorhandenen Kulturgüter anknüpfen«. Denn – so Holeks aufschlussreiche Aufzählung von Elementen »proletarischer Kultur« – »Sandale, Kniehose, Windjacke, Bubikopf usw. sind noch lange keine Kulturgüter!«86 Und Hans Windekilde Jannasch, der während der Kriegsjahre in Berlin-Ost mitarbeitete, hatte für das sozialistische Schlagwort von der »proletarischen Kultur« ebenfalls kein Verständnis. Er sah »in dieser proletarischen Welt kaum etwas Positives«, sondern nur »Reste, Fetzen und Zerrbilder bürgerlichen Lebens«.87 Diese Diagnose bildete den Hintergrund der kulturmissionarischen Haltung vieler SAGler der ersten Jahre. So sehr sie den »tüchtigen Kern« der einfachen Leute zu schätzen wussten – von »Kultur«, und selbst von »Arbeiterkultur«, schienen ihnen die Be-

—————— 82 Christian Marzahn hat auf das »latente Gewaltverhältnis des professionellen Bezugs: die

komplementäre Verteilung eines positiven Helfer- und eines negativen Klientenstatus« hingewiesen. Er kommentiert: »Stets kümmerte sich die Sozialpädagogik nicht nur um die anderen, sondern die Andersartigen, um die Fremden, als welche die verwilderten Kinder, die verderbten Jugendlichen, die unordentlichen Familien der unteren sozialen Klassen, die Armen, Kranken und Verbrecher zutiefst erlebt wurden. Das Moment der Bedrohlichkeit, ja Angst, das sich durchgängig mit dieser Konfrontation verbindet, wird gebannt durch jene Zivilisations-, Assimilations- und Bildungstheorien, durch welche sich die Vernunft das Unvernünftige ähnlich machen will.« Marzahn, »Nichts als eine modische Metapher?«, S. 131. 83 Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«, S. 353. 84 Richard Rahn, »Akademisch-Sozialer Verein«, in: NN 11. Jg. Heft 8 (August 1928), S. 150–152, hier S. 151. 85 Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«, S. 353. 86 Wenzel Holek, »Zur Diskussion über die Aufgaben und Ziele der Settlements«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 11–16, hier S. 14–15. 87 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 39.

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wohner des Berliner Ostens weit entfernt zu sein.88 In dieser Wahrnehmung und Kartierung einer quasi »kulturlosen« Landschaft zeichnet sich deutlich das Vorbild der äußeren Mission ab; diese lieferte die Bilder und Vorstellungen vom Nullpunkt der Zivilisation im »tiefsten Afrika« und im »dunkelsten Berlin«. Und eben dieses Wahrnehmungsmuster bildete eine der Voraussetzungen des bürgerlich-pädagogischen Eingreifens. Erst die Fiktion einer »kulturlosen« Arbeiterschaft, die über kein eigenes kohärentes Wertesystem verfügte, machte die Arbeiter gleichsam zur passiven Klientel von Erziehungsakten. Hendrik de Man, einer der genauesten Beobachter der klassenkulturellen Dynamik zwischen Gebildeten und Arbeitern, hat diesen Punkt bereits klar benannt. Er schrieb 1927: »Es gibt sozialistische Ästheten, die […] ihre Hoffnung einer kommenden radikalen Kulturerneuerung deshalb auf das Proletariat setzen, weil es ihnen in kultureller Hinsicht als ein unbeschriebenes Blatt erscheint. […] Aber ganz gleich wie man sich zu der allgemeinen grundsätzlichen Frage des kulturellen Neuanfangs stellt, man braucht in der heutigen Welt nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, daß das unbeschriebene Blatt der Arbeiterkultur nur eine theoretische Fiktion ist.«89

Kaffeehalle und Festkultur: Substitution als Methode Die sozialpädagogische Arbeit der SAG setzte direkt an dem an, was Jannasch als die »Reste, Fetzen und Zerrbilder bürgerlichen Lebens« bezeichnet hatte: an der als defizitär betrachteten Alltags- und Freizeitpraxis Berliner Arbeiter. In den Blick der Pädagogen kamen insbesondere die Formen urbanen Vergnügens der unteren Schichten – der Gang ins Kino und in die Kneipe, auf den Tanzboden und den Rummelplatz, der Sonntagsausflug in den Brauereigarten, der Genussmittelkonsum und die billige Lektüre, sowie, allgemein gesprochen, die proletarische als die Nachfolgerin der

—————— 88 Diese Sichtweise dominiert auch in der zeitgenössischen Soziologie: So heißt es etwa in

der »Gesellschaftslehre« Alfred Vierkandts über den Arbeiterstand (bezeichnenderweise spricht Vierkandt von »Stand« und nicht von »Klasse«): »Was seine Angehörigen geistig verbindet, ist weniger eine eigene Kultur als eine Kulturlosigkeit und damit zusammenhängend eine erbitterte Kampfstellung gegen die bürgerliche Welt.« Vierkandt, Gesellschaftslehre, S. 458. Auch Alfred Weber vertrat einen Kulturbegriff, der »Arbeiterkultur« schon der Definition nach als einen Widerspruch erscheinen ließ. Von »Kultur« könne nämlich erst die Rede sein, »wenn das Leben von seinen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu einem über diesen stehenden Gebilde geworden ist«. Alfred Weber 1912, zit. nach Lepenies, »Arbeiterkultur«, S. 134. 89 De Man, Zur Psychologie des Sozialismus, S. 194.

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»plebejischen Öffentlichkeit«, die stets so eng mit expressivem und exzessivem Konsum verbunden war.90 Einige dieser Aspekte werden später im Zusammenhang mit der SAG-Sozialforschung aufgegriffen werden; an dieser Stelle soll es zunächst nur um die Einrichtung eines alkoholfreien Lokals im Berliner Osten sowie die SAG-Festkultur gehen, die beide als Gegenmodelle zu den Schenken, Destillen und Vergnügungslokalen der Umgebung stets ein wichtiges Anliegen der SAG waren. Daran nämlich lässt sich ein Grundzug der praktischen sozialen Arbeit im Settlement überhaupt skizzieren: die Arbeit mit Surrogaten und Substituten popularer Kultur, die als die wirkungsvollsten Mittel im Kampf gegen die »schlechten Einflüsse« angesehen wurden. »Der Straßenabschnitt, an dem unser Haus steht, enthält nur vier Häuser, in denen sich keine Destille befindet. Unter diesen Verhältnissen versteht sich von selbst, daß Mittel und Wege gefunden werden müssen, die viel tiefer in das Leben der betreffenden Straße, ja des betreffenden Hauses eingreifen, in dem die Destille ihre unglücklichen Opfer anzieht, als nur verlachte Vereine. Es genügt nicht, daß auf irgend einer entfernten Straße sich ein Schild befindet: ›Hier Blau-Kreuz-Verein‹, sondern es müssen sich Menschen finden, die imstande sind, mit den Besuchern der Kneipen in nähere Beziehung zu treten. Auch hierbei genügt nicht etwa eine einmalige Ansprache oder ein gelegentliches Wort nur, sondern erst bei näherer persönlicher Bekanntschaft lässt sich etwas erreichen.«91

Soweit Siegmund-Schultzes Beobachtungen im Jahre 1912. Etwa zeitgleich wurde im Nachbargebäude des »Auferstehungshauses« in der Friedenstraße eine eigene Kaffeehalle der SAG eingerichtet, die dem Zweck dienen sollte, »den Mitbürgern zu einer besseren Lebensführung zu verhelfen«.92 Möbliert und ausgestattet war dieses Lokal ganz wie die Kneipen der Umgegend, bewirtet wurden die Gäste allerdings von »möglichst einem Volltheologen als Budiker«, wie Erich Gramm einmal schrieb.93 Im April 1916 – mitten im Krieg – musste dieses Lokal wieder aufgegeben werden. Als die SAG dann allerdings ein eigenes Haus Am Ostbahnhof 17 erwerben

—————— 90 Vgl. dazu Medick, »Plebejische Kultur«. Einen leicht zugänglichen Überblick über die

Freizeitkultur der Arbeiter im Kaiserreich bietet Böhm/Gößwald (Hg.), Anfänge der Arbeiterfreizeit. 91 Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studentenarbeit«, S. 305. 92 Wenzel Holek, »Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 298–303, S. 299. Zur Kaffeehalle oder auch »Kaffeeklappe« der SAG vgl. Hetscher/Steigerwald, »Die Kaffeeklappe der SAG«. 93 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 93.

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konnte, wurde dort wieder ein neues Lokal eingerichtet,94 das vom Ehepaar Holek bewirtschaftet wurde. Zu günstigen Preisen wurden dort Kaffee und Apfelsprudel, aber auch andere alkoholfreie Getränke sowie einfaches Gebäck angeboten. Diese Kaffeehalle oder auch »Kaffeeklappe« war, wie Wenzel Holek es einmal formuliert hat, »ein psychologisches Laboratorium und als solches eigentlich eingerichtet« worden.95 Über das Publikum seines Lokals schreibt er: »Unsere in der Gaststube verkehrenden Gäste sind meist jugendliche Arbeiter und Lehrlinge. Die besser geratenen schließen sich einem Klub an, der ›Bruch‹, wie wir sie nennen, bleibt in der Gaststube.«96 Hier begegnen wir einmal mehr dem bekannten rough-respectableGegensatz, der hier aber gleichsam in einen Dreierschritt aufgelöst wird. Denn die ganz »Heruntergekommenen« nutzten die Einrichtungen der SAG ohnehin nicht, blieben also von der sozialen Arbeit ausgeschlossen. Eine Stufe höher war der »Bruch« angesiedelt, der noch zu ungebärdig für die Klubs war, aber zumindest in der Gaststube aufgefangen werden konnte. Für die »besser Geratenen« schließlich war die Gaststube nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in die Jugendklubs der SAG. Dieses Modell verrät außerordentlich viel über den quasi zivilisationstheoretischen Rahmen der SAG: über die natürliche Stufenleiter von der Unterschicht zur Respektabilität, so wie man sie sich auf bürgerlicher Seite vorstellte, über den Umgang mit all denen, die in unverhüllt abwertender Weise als »Bruch« bezeichnet wurden, und denen man zumindest ein Surrogat für ihre niedrigen Bedürfnisse anbieten wollte. Durch diesen sich stufenweise vollziehenden Auswahlprozess sollten letztlich, so eine Zielvorstellung Holeks, »die Begabten aus den niederen Volksschichten gerettet« werden.97 Unverkennbar ging es bei der Einrichtung alkoholfreier Lokale durch bürgerliche Sozialreformer auch darum, mit dem Wirtshaus einen zentralen Ort proletarischer Gegenöffentlichkeit zu bekämpfen.98 Wenzel Holek versuchte dagegen, an die Funktion des Wirtshauses für die nachbarschaftli-

—————— 94 Wenzel Holek, »Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember

1917), S. 298–303, hier S. 299. 95 »Verhandlungsbericht«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 11–48, hier S. 34. 96 Wenzel Holek, »Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember

1917), S. 298–303, hier S. 299. 97 Wenzel Holek, »Deutsche Settlements«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 224–228,

hier S. 226–227. 98 Zur Funktion der Kneipe innerhalb der »sozialräumlichen Nahbereichsstruktur« im Ar-

beiter- und Angestelltenmilieu vgl. Dröge/Krämer-Badoni, Die Kneipe, S. 100–138, und Roberts, »Wirtshaus und Politik«.

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che Kommunikation anzuknüpfen. Gerade der ehemalige Arbeiter Holek kannte das Potential der Gastwirtschaft als sozialer Mittelpunkt des Stadtquartiers. Er bezeichnete die Kneipe einmal sogar ganz konträr zur üblichen bürgerlichen Lesart als »Familienheim«, den »Gastwirt und seine Frau« als »gute Nachbarn«. Die Kneipen seien nicht nur »zu einem sozialen Bedürfnis in den Arbeitervierteln geworden«, sondern sogar zu »Settlements«, von denen man wohl noch einiges lernen könne.99 Damit war Holek einer der wenigen in der SAG, die sahen, wie absurd ein im Namen der »Nachbarschaft« geführter Kampf gegen die Arbeiterkneipe war, die doch als soziale Institution der Nachbarschaft schlechthin gelten musste. Er knüpfte direkt an den vorhandenen Bedürfnissen und Alltagspraktiken der Kneipenbesucher an und betrieb die SAG-Gastwirtschaft Am Ostbahnhof 17 als eine – wenn auch alkoholfreie – Variante des klassischen Arbeiterlokals. Das Beispiel der Kaffeehalle führt ins Zentrum der SAG-Pädagogik, die sich insgesamt als eine Pädagogik der Substitution oder des Surrogats charakterisieren lässt.100 Anknüpfend an die gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensivierten sozialreformerischen Bestrebungen zur »Veredelung der Volkserholung«,101 arbeitete man an einer »inneren Hebung« der Arbeiter auf ein höheres Niveau. Entscheidend war dabei, dass man – mehr als in der älteren Sozialreform – von der lebensweltlichen Realität der Arbeiterschaft ausging, um dort »zivilisiertere« Formen zu implementieren. So wurden die Unterhaltungsangebote der Großstadt mit eigenen Angeboten beantwortet, die sich aber eng daran anlehnten. Der Kneipe wurde die Kaffeehalle entgegengesetzt, der wilden Jugendbande der Jugendklub, dem Kino der lehrreiche Lichtbildvortrag. Wenzel Holek hat dieses Substitutionsprinzip beispielhaft zusammengefasst: »Man soll nur nicht Leuten das aufzwingen, was sie nicht mögen. Es wäre wohl besser, diese Leute in ihrem Betätigungstrieb und ihren Neigungen ratend und helfend zu unterstützen, sie zu höheren und edleren Formen anzuleiten, als sie es oft in

—————— 99 Wenzel Holek, »Deutsche Settlements«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 224–228,

hier S. 227–228. 100 Entwickelt und an zahlreichen Beispielen belegt haben diese These Rolf Lindner und die

Autorinnen und Autoren seines 1997 erschienenen Sammelbandes über die Settlementbewegung. Vgl. Lindner, »Einleitung«; Sabelus, »Gefahr und Gefährdung«; Hegner, »Der Knabenklub«; Färber, »Vergnügen versus Freude?«, Hetscher/Steigerwald, »Die Kaffeeklappe der SAG«. 101 Vgl. Reulecke, »Veredelung der Volkserholung«.

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ihrer Hilflosigkeit vermögen.«102 Während der Ansatz bei den Praxisformen der Arbeiterschaft eine gewisse soziale Sensibilität der SAG verrät, so zeigt das Substitutionsprinzip, dass man diese Praxisformen zugleich durch bürgerliche Modelle ersetzen wollte. »Reform« war für dieses Prinzip der treffendste Ausdruck: Wie schon mit der Kaffeehalle – so Holek – eine »Reform« der Eckkneipe gelungen sei, strebte man auch eine Reform der Tanzsäle und des Kinowesens an.103 Nicht von ungefähr war gerade Holek ein Hauptvertreter des Substitutionsprinzips, denn wie gesagt bildete seine eigene Biographie ein glückliches Exempel von Aufstieg durch Bildung und »innere Hebung«. Im Sinne dieser »inneren Hebung« lehnte man in der SAG das »Vergnügen« als oberflächlich ab und setzte ein bestimmtes Modell von »Freude« und »Feierlichkeit« dagegen. So vermisste Siegmund-Schultze zu Weihnachten 1918, ganz unter dem Eindruck von Kriegsende und Revolution, die innere Haltung, die zum bürgerlichen Weihnachtsfest dazugehörte: »Der Kurfürstendamm sucht sich seinen ›Kriegsersatz‹ für Freude. Der Besuch der Vergnügungslokale ist stärker als je zuvor in Berlin. Die nächtlichen Veranstaltungen sind Orgien des Genießens. Ist das Freude? Ekel! […] Auch die Straße sucht sich ›Freude‹: Lärm der Kinder, die ›Revolution spielen‹. Toben der Halbwüchsigen. Ulk der Rotbebänderten. Witze der Wachmannschaften. Alberne Neugier der Frauen. Wüstes Frohlocken der Pelzverkäufer auf der Schönhauser Straße. Grinsen der Matrosen in den Kriegsautos. Taumelnde Herrschgewalt in einigen Ministerien. Hie und da auch befriedigte Rache. Aber Freude? Wer hätte Freude gesehen in diesen Tagen? […] Die Freude ist tot.«104

Feste und Feiern, bei denen diese »Freude« wieder entstehen sollte, spielten denn auch in Berlin-Ost eine wichtige Rolle.105 Sie erforderten, so Alexa Färber, eine »stete Gratwanderung zwischen dem bürgerlich normierten Verhalten der MitarbeiterInnen und dem als ausschweifend empfundenen Freizeitverhalten der Arbeiterschaft«.106 In ihnen wurde immer wieder aufs Neue der Gemeinschaftsgedanke der SAG inszeniert und zelebriert, und zwar sowohl, was den Zusammenhalt der klassenübergreifenden »Nach-

—————— 102 Wenzel Holek, »Deutsche Settlements«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 224–228,

hier S. 226. 103 Wenzel Holek, »Die soziale Aufgabe der Gastwirtschaft«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember

1917), S. 298–303, hier S. 303. 104 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 1–2,

hier S. 1. 105 Vgl. dazu ausführlich Färber, »Vergnügen versus Freude?«. 106 Ebd., S. 129–130.

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barschaft«, als auch den des internen SAG-Mitarbeiterkreises angeht. Größere Feste wie das Sommerfest in Wilhelmshagen, aber auch kleinere Feiern in Berlin-Ost wie zu Advent107 oder Erntedank108 sowie die späteren »Feierabendstunden« der SAG waren zugleich als dezidierte Gegenveranstaltungen zu den Angeboten der Unterhaltungsindustrie angelegt. Durch sie wollte man, so Irm Gramm 1925 über das Sommerfest vor den Toren der Stadt, »freiwerden von der Scheinwelt des Großstadtvergnügens, um hinzufinden zu schlichtem, ernstem Feiern«.109 Bei den Feiern der SAG stand in der Regel das Repertoire der bürgerlichen Hochkultur im Mittelpunkt, um »ein Aufatmen im Reich der edelsten Kunst nach der Arbeit der Woche« zu ermöglichen.110 Eine im Oktober 1921 im kleinen Saal des Lokals »Ostbahnhof« abgehaltene Feier für die aus der Schule entlassenen Klubmitglieder der SAG etwa bot eingangs das Schubertlied »Die Allmacht«, gefolgt von Auszügen aus Violinsonaten von Mozart und Beethoven und einer Ansprache Siegmund-Schultzes. Den Abschluss bildete das gemeinsam gesungene Lied »Hab Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit«.111 Ab Mitte der 1920er Jahre wurde für Feierstunden dieser Art das Löffler-Quartett herangezogen, das unter anderem eigene geistliche Kompositionen Max Löfflers aufführte. Die Titel dieser Kantaten lauteten etwa »Selig sind, die aus Erbarmen sich annehmen fremder Not« oder »Nun bitten wir den heiligen Geist um den rechten Glauben«.112 Hans Windekilde Jannasch hat die Grundhaltung all dieser Feiern sogar in Verse gefasst: »Wenn wir Euch heut zur Feier eingeladen, / So sollt Ihr wissen, was wir damit wollen. / Wir folgen nicht den ausgetretnen Pfaden, / Um der Vergnügungssucht den Zins zu zollen. / Denn Tanz und Taumel werden da nur schaden, / wo echte Freuden wahrhaft segnen wollen.«113

—————— 107 Vgl. dazu Irm Gramm, »Adventfeiern in Berlin-Ost«, in: AASAG Nr. 5 (November

1938), S. 1–4, und Friedrich Siegmund-Schultze, »Warten«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 6–8. 108 Vgl. Amalie Ulrich, »Erntedankfest und unsere Arbeit im Frauennähbund der der SAG«, in: RMSAG Nr. 29 (November 1928), S. 1–2. 109 Irm Gramm, »Unsere Feste«, in: NSAG Nr. 17 (April 1925), S. 13–15, hier S. 14. 110 Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das zweite Geschäftsjahr 1902/03, Hamburg 1903, S. 21. 111 Programmzettel zur Feier für die im Herbst aus der Schule entlassenen Klubmitglieder am 2. 10. 1921 nachmittags, in: EZA 51/S II e 2. 112 Programm zu einer »musikalischen Feierstunde« in: EZA 51/S II c 8,2. Vgl. auch die Korrespondenz zwischen der SAG und Max Löffler in: EZA 51/S II c 8,2. 113 Hans Windekilde Jannasch, Vorspruch zum Aufführungsabend am 17. September 1919, in: EZA 51/S II g 1.

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Die religiöse Konditionierung dieser Vorstellung von Freude und Feierlichkeit liegt auf der Hand. Maxa Harden gab an, dass man in ihrem Freundeskreis auf die Frage nach »feierlichen« Erlebnissen »sofort mit gottesdienstlichen Eindrücken reagierte«.114 Und Erich Gramm sah im Männerabend der SAG »die Vorstufe […] zu der Gemeinde, die einmal in unserm Volkshaus mit uns nach gemeinsamer Arbeit feiern und vielleicht auch einmal beten könnte«.115 Eine herausgehobene Rolle spielte aber auch das Volkslied. Zum Singen bekannter Volkslieder wurden die Jungen und Mädchen der SAG an ihren Klubabenden und natürlich auf Wanderungen immer wieder angehalten. Sie gehörten wesentlich zum kulturellen Repertoire der bürgerlichen Jugendbewegung und wurden im Sinne der SAGSubstitutionspädagogik gegen die im Berliner Osten gesungenen Schlager, »Gassenhauer« oder derb-parodistischen Kontrafakturen bekannter Lieder aufgeboten. Der Klubleiter Harald Ziese vermerkte einmal sogar als »sehr erfreulich«, dass seine Jungen gegen einige Operettenschlager protestierten, die ein neues Klubmitglied auf dem Klavier darzubieten versuchte.116 Irm Gramm bemerkt an einer Stelle ebenso erfreut, die Balladen und Legenden aus dem »Zupfgeigenhansl« trügen »sogar den Sieg davon über die Schlager, die diesen Großstadtkindern im Blute liegen«.117 Und auch Elisabeth Vedder versuchte auf den Singabenden der SAG die von den Mädchen gesungenen Lieder durch »andern ›Stoff‹« zu ersetzen.118 Hier waren Vorstellungen vom reinen »Volksgut« präsent, das durch seine Ursprünglichkeit ein Gegenmodell zum »gemachten« Vergnügen der urbanen Unterhaltungskultur darstellte. Gegen Ende der 1920er Jahre war es vor allem der Musikerzieher Walther Hensel, der solche Vorstellungen in Berlin-Ost umzusetzen versuchte.119 Bis zur Auflösung der SAG im Jahre 1940 gehörten

—————— 114 Maxa Harden, »Feierlichkeit im Leben des Kindes«, in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–

September 1923), S. 19–24, hier S. 22. 115 Erich Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. August 1922, in: EZA 51/S II e 1. 116 Harald Ziese, »Ein Abend im Jugendklub ›Einigkeit‹«, in: NSAG Nr. 4 (November

1914), S. 91–93, hier S. 92. 117 Irm Gramm, »Vom Singabend«, in: AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 18–19, hier

S. 18. 118 Elisabeth Vedder, »Akademisch-Soziale Abende«, in: RMSAG Nr. 2 (Juni 1926), S. 4–5,

hier S. 5. 119 Walther Hensel, eigentlich Julius Janicek (1885–1956), kam aus Prag und gehörte zu den

Gründern der großdeutsch-nationalistisch orientierten »Böhmerlandbewegung«. Erstmals 1923 veranstaltete er »Singwochen«, bei denen die »gemeinschaftsbildende Kraft der Musik« zur Geltung kommen sollte. In der Einladung zur ersten Singwoche in Finkenstein/Mähren hieß es, diese solle »ein begeisterter Anfang sein zur Befreiung des Ur-

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seine »Singwochen« dort zu den regelmäßigen Veranstaltungen. Hensel studierte mit seinen Chören zumeist selbst komponierte, »volkstümliche« Sätze ein, die mit zur »Volk-Bildung« beitragen sollten. Gleichsam im Sinne einer »angewandten Volkskunde« setzte er seine Überzeugung um, »daß unser Volk die eigenen Lieder nicht mehr kennt, sie erst suchen und dann wieder erobern muß«.120 Ein Helfer aus der SAG kommentierte: »Singwoche im Berliner Osten muß etwas anderes sein als nur abendfüllende Unterhaltung, nur Vergnügen neben anderen auch, sondern […] muß den Weg zur vielfach verschütteten Seele wieder aufgraben und dort die Anknüpfung suchen an reinste und tiefste Kräfte, die in jedem Menschen noch lebendig sind.« Und auch hier fehlte nicht der kontrastierende Hinweis auf die Massenkultur, denn: »Diesen Weg kann der moderne Schlager da er nicht aus der uns eigenen Seele entstammt, sondern ihr aufgepfropft war, nicht finden. Daß jedoch das echte deutsche Volkslied in seiner ganzen Naivität den Großstädter des Berliner Ostens noch bis ins Innerste treffen kann, war für jeden, der bis dahin noch keine Singwoche der SAG hatte mitmachen können, ein großes Erlebnis.«121

Mission, Gewissen und Persönlichkeit: Religiöse Kulturmuster Sämtliche der in diesem Kapitel behandelten Aspekte – das missionarische Auftreten der SAG im »unbekannten Land«, das Rettungsparadigma, die moralisierende Kritik am popularen Vergnügen, der pädagogische Einsatz von Kaffeeklappe und ernster Feierlichkeit – verweisen auf die religiöse Dimension der sozialen Arbeit in Berlin-Ost. Rebekka Habermas hat kürzlich dafür plädiert, die Rolle genuin religiöser Semantiken für den Diskurs um soziale Ordnungen weitaus ernster zu nehmen als es bisher geschehen ist. Ausgehend von der Geschichte der äußeren und inneren Mission im Deutschland des 19. Jahrhunderts wirft sie die grundsätzliche Frage nach der Prägekraft religiöser Deutungsmuster auf: »Was bedeutete es für die

—————— deutschen, des Göttlichen in uns, vom Schutte der Unkultur durch die schöpferische Gemeinschaftsarbeit der Musik«. In die nationalsozialistische Gemeinschaftsideologie fügte sich Hensels konservatives Programm bruchlos ein. Vgl. dazu Kolland, »Jugendmusikbewegung«, insbes. S. 388–390, dort auch das Zitat. 120 Fritz Hinkelmann, »Unsere Singwoche«, in: MSAG Nr. 104 (Dezember 1935), S. 1–3, hier S. 2. 121 Volkmar Steinbrink, »Unsere diesjährige Singwoche vom 31. Oktober bis 6. November unter Walther Hensel«, in: MSAG Nr. 68 (Dezember 1932), S. 1–2, hier S. 1.

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Erfahrung und Erklärung der drängenden sozialen Probleme der entstehenden Industriegesellschaft, wenn diese analog zu den außereuropäischen Gesellschaften und ihren Problemen gesehen wurden? Wie sahen Analysen des ›Wohnungselends‹ oder des ›Prostitutionsproblems‹ aus, wenn diese sich in einem genuin religiösen Deutungsrahmen bewegten?«122 In der Tat bestimmten das missionarische Paradigma und ganz allgemein die religiöse Weltauslegung ganz wesentlich die Logik der bürgerlichen Expedition ins Arbeiterviertel und die Erziehungspraktiken der SAG mit. Genauer gesagt: Die SAG lässt sich anhand der Leitmotive ihrer Arbeit als ein durch und durch protestantisches Unternehmen verstehen. Protestantische Religiosität war nicht nur vielfach der Antrieb für die soziale Arbeit im Sinne christlicher Nächstenliebe, sondern auch eine identitäre Klammer des sozial engagierten, gebildeten Bürgertums und der Garant des inneren Zusammenhangs zwischen persönlichen Bildungswegen, Weltbildern und Praktiken im Umgang mit den anderen. Sie bildete einen »Deutungscode«, der auf das »Ganze« der Wirklichkeit und damit immer auch auf ein System der Lebensführung abzielte.123 Friedrich Wilhelm Graf hat vier Dimensionen dieses Deutungscodes herausgearbeitet, die in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung sind: Erstens entfaltete der Protestantismus von Beginn an ein besonderes Verhältnis zur »Innerlichkeit« des Individuums. Zweitens kultivierte er eine Art von »Weltfrömmigkeit«, die im Alltag den »entscheidende[n] Ort christlichen Lebens« sah. Drittens betrieb er eine konservativ gerahmte »Moralisierung des Politischen«, und viertens trat er explizit wie implizit als eine »Bildungsmacht« auf.124 Mittels dieser Säkularisate begründete der Protestantismus ganz wesentlich den charakteristischen universalistischen Anspruch des Bildungsbürgertums, die Modelle der eigenen Sozialmoral und Lebensführung auch als Modelle für andere zu begreifen. Um der »aktiven Dimension von religiöser Sprache und damit Erfahrung«125 in der SAG auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, noch einmal auf die zu Beginn dieses Kapitels beschriebene Semantik der Kulturmission zurückzukommen. Die Vorstellung von der »terra incognita«, der »Wüste« des Berliner Ostens, wie sie in Anlehnung an außereuropäische Schauplätze christlicher Mission entwickelt worden ist, verweist nämlich auf ei-

—————— 122 Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 666. 123 Vgl. Graf, Die Wiederkehr der Götter, S. 111–116. 124 Graf, Der Protestantismus, S. 70–105. 125 Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 676.

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nen bestimmten Modus der Diagnose und Remedur sozialer Problemlagen. Sie dokumentiert eine grundsätzliche Nicht-Anerkennung von Differenz und die dementsprechende Auffassung, es gebe für die gesamte Gesellschaft lediglich einen einzigen, verbindlichen Weg zum Heil. Dieser Totalitätsanspruch der eigenen Weltsicht, wie er in der SAG zu finden ist, ist durch und durch religiös motiviert: Die Heilsgeschichte lässt nämlich keine verschiedenen Wege zu – ein Befund, der sich durch einen Seitenblick auf die protestantische Bildtradition der »Zwei-Wege-Bilder« trefflich illustrieren lässt.126 Nur der beschwerliche schmale Weg – so die Logik dieses pietistischen Genres – führt ins Himmelreich, während der bequemere breite Weg mit Vergnügungen aller Art, mit Tanzsälen, Theatern und Lusthäusern gepflastert ist. Darstellungen dieses breiten Weges erinnern in frappierender Weise an das in der SAG vorherrschende Bild von den sittlichen Gefahren und, vereinfacht gesagt, der Sündhaftigkeit der Welt; die klare Trennung der »richtigen« von der »falschen« Lebensführung entspricht der klaren Alternative der »zwei Wege«.127 Zentrales Element dieser bildhaften Logik ist auch, dass es nur wenige sind, die den schmalen Weg gewählt haben. Eben dies qualifiziert sie als Gesinnungsgemeinschaft des richtigen Lebens, des pro bono contra malum.128 In diesem Sinne hat Rebekka Habermas von dem »heroischem Narrativ« der Missionsgeschichte gesprochen.129 Der Missionar ist entsprechend diesem Narrativ stets auf sich allein gestellt; er ist ein Held, dessen Scheitern die Bedeutung seines Tuns noch unterstreicht, weil es den Hinweis auf die Einsamkeit des schmalen Weges enthält. Dazu gehört immer auch die Forderung nach Selbstdiszipli-

—————— 126 Diese Bildtradition stützt sich auf Matthäus 7, 13–14: »Gehet ein durch die enge Pforte.

Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind ihrer, die ihn finden.« Vgl. dazu Scharfe, »Zwei-WegeBilder«. 127 Interessant ist dazu auch, dass eine im Zusammenhang mit William Booth’ In Darkest England and the Way Out entstandene Illustration sich ebenfalls des Wegmotivs bedient: Der Leuchtturm der »Salvation« weist den Weg aus dem dunklen England – und auch hier gibt es zunächst nur einen einzigen Weg zum Heil. Am Horizont ist schon »the Colony across the Sea« zu sehen, für die das Programm der Heilsarmee im Prinzip ebenso gilt. Auf diese Weise verklammert das Bild christliche Heilsgeschichte, innere und äußere Mission in exemplarischer Weise. Abgebildet in: Geisthövel/Siebert/Finkbeiner, »Menschenfischer«, S. 29. 128 Wie es bei Siegmund-Schultze einmal heißt: »Hasset das Arge, hanget dem Guten an!«. Friedrich Siegmund-Schultze, »Den Mitarbeitern und Freunden der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 14 (April 1922), S. 1–5, hier S. 3. 129 Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 632–636.

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nierung, die der inneren Verpflichtung des »Helden« entspricht: »Sich selbst überwinden, den vielen sinnlichen Verführungen widerstehen, nicht den leichteren Weg gehen, […] dem unbedingten Anspruch des Gewissens folgen.«130 Dass sich der Missionar sich trotz aller Anstrengungen in einer Welt der Sünde nicht durchsetzen kann, wird dabei zu einem Ausweis seiner dramatisch gesteigerten Autorität des Guten.131 Insofern die missionarische Tätigkeit als Kampf in unwirtlichem Gelände verstanden wird, generiert sie ein ganz bestimmtes Selbstbild des Missionars: »Erstens kämpft der Missionar gegen Heiden, um diese zu bekehren; zweitens kämpft er gegen sich selbst und sein Ungenügen, die immer dramatischer erlebten Anfechtungen und Versuchungen; drittens muß gegen eine europäische Welt gekämpft werden, die als von Sünden erfüllt und deswegen dem Untergang geweiht dargestellt wird – eine Welt der Großstädte, die angefüllt ist mit Branntwein trinkenden Männern, fleischlich sich vermischenden Menschen sowie Horden von bettelnden und stehlenden Kindern. Genau dieser dreifache Kampf bildet das heroische Narrativ der Missionsgeschichtsschreibung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dieses macht den Missionar zu einem einsamen Helden, der, allein auf sich und Gott gestellt, in keinerlei Beziehung zu seiner europäischen oder auch außereuropäischen Umwelt steht.«132

Was lässt sich nun aus diesem missionarischen Narrativ für die Geschichte der SAG lernen? Zum einen wird deutlich, dass mit dem Bild des »Vorkämpfers« und »Pioniers« im Arbeiterviertel immer auch eine »machtvolle Selbstinszenierung« vorgenommen wurde, die den Akteuren der SAG Autorität verlieh.133 Dieses Bild entsprach der Situation reformorientierter Akademiker, die neue Wege abseits ihrer vorgezeichneten bürgerlichen Laufbahnen gehen und ihren Ideen durch das persönlich durchlebte Abenteuer eine zusätzliche symbolische Bedeutung verleihen wollten. Ihre Mission wird zum »Modus des ›empowerment‹, in dem mittels religiöser Sprache Autorität und Legitimität erstellt wird, womit das Beschriebene eine höhere Wertigkeit erhält«.134 Zum anderen aber belegt der missionarische Zugriff der SAG, gleichsam ex negativo, dass deren Mitarbeiter selbst Suchende waren, die sich und ihr moralisches Wertesystem »draußen« erproben mussten, um sich ihrer selbst zu vergewissern.

—————— 130 Graf, Der Protestantismus, S. 83. 131 Vgl. Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 676–677. 132 Ebd., S. 633–634. 133 Ebd., S. 676. 134 Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 678.

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Was nun die religiöse Sprache angeht, in der das Programm der SAG formuliert ist, so kommen darin durchgehend Ideologeme zum Vorschein, die in der Geschichte protestantischer Frömmigkeit eine zentrale Rolle spielen. Friedrich Wilhelm Graf zufolge sind gerade Begriffe wie »Gewissen«, »innerer Mensch«, »Innerlichkeit«, »ganzer Mensch« und »Persönlichkeit« – um nur einige zu nennen – im protestantischen Deutschland zu »Leitbegriffen eines Anthropologiediskurses« geworden, »in dessen Zentrum eine religiös fundierte innerweltliche Transzendenz des Individuums stand«.135 Nicht die Gesellschaft als der Ort unterschiedlicher, miteinander auszuhandelnder Interessenslagen, sondern das Individuum als der Ort persönlicher Überzeugung und Gesinnung war stets der Mittelpunkt protestantischer Reflexion über Kultur, Ethik und Politik.136 Daraus ergab sich – insbesondere im Pietismus – eine ausgeprägte Kultur der Selbstthematisierung, die in der SAG deutlich nachwirkt. Wenn die Notizen des im Krieg gefallenen Mitarbeiters Friedrich Bredt unter dem Titel »Aufzeichnungen und Briefe F. Bredts zu seiner inneren Geschichte« veröffentlicht wurden,137 dann ist das ein sprechendes Indiz für die Auffassung, die entscheidenden Dinge spielten sich im Arkanum des »inneren Menschen« ab. Die Spezifik der überlieferten Quellen aus der SAG, die zahllose »Ego-Dokumente« enthalten, erklärt sich nicht zuletzt aus dieser protestantisch-pietistischen Fixierung auf »Innerlichkeit«. Gleichzeitig wird deutlich, dass das als radikal individuell gedeutete soziale Gewissen und die Gemeinschaftsform der SAG stets eng aufeinander bezogen waren; innere Überzeugung des Einzelnen und Gruppenethos, persönliche Begegnungen »von Mensch zu Mensch« und Gemeinschaftsbildung bilden zwei Seiten einer Medaille. Zusammengenommen, bildeten diese Denkfiguren ein Wertesystem, das die Beurteilung der sozialen Wirklichkeit durch und durch bestimmte. Graf hat darauf hingewiesen, dass gerade der protestantische »Individualismus« zu einer Vorstellung von der »Aristokratie einer Elite religiös-sittlicher Persönlichkeiten« führte, der gegenüber die »Masse« als das Übel schlechthin erscheinen musste.138 Daher kommt an dieser Stelle wieder die eingangs gestellte Frage von Rebekka Habermas nach der Rolle religiöser

—————— 135 Graf, Der Protestantismus, S. 72–73. 136 Vgl. dazu auch Graf, »Rettung der Persönlichkeit«, insbes. S. 128–132. 137 »Einige Aufzeichnungen und Briefe F. Bredts«. 138 Graf, Der Protestantismus, S. 78–79. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Hin-

weise Otto Baumgartens auf die protestantischen Traditionslinien in der Volksbildungsbewegung, vgl. Baumgarten, »Protestantismus und Volksbildung«.

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Deutungsmuster für die Debatte um gesellschaftliche Ordnungen ins Spiel. Der protestantische Individualismus, wie er in der Sprache der SAG exemplarisch vorgeführt wird, war nur in einer »Volksgemeinschaft« zu verwirklichen, niemals in einer pluralistischen und antagonistischen Gesellschaft. »Persönlichkeit« war dabei geradezu eine Chiffre für die Rolle von Führungskräften in dieser Gemeinschaft. Insofern die von Scheler auf den Begriff gebrachte »Vorbildwirksamkeit« eine zentrale Denkfigur der Mission überhaupt war, waren auch die Kolonisierungsakte, mit denen man den Arbeiteralltag »veredeln« wollte, ein Ausdruck dieses zutiefst religiösen Verständnisses von Persönlichkeit. Von hier aus waren viele SAG-Mitarbeiter nur sehr begrenzt fähig, sich auf die Vielfalt klassenspezifischer Kulturmuster, auf die Pluralität und Diversität soziokulturell gebundener Wertesysteme einzulassen, so wie sie ihnen in der Großstadt entgegentraten. Religion war für sie die »wichtigste Triebfeder moralischen Handelns«;139 der religiöse Deutungshorizont verengte aber die Sicht und führte zu einem prinzipiell antidemokratischen, ständischen Gesellschaftsbild. In der heroischen Figur des Missionars verbirgt sich schließlich die Vorstellung von der Führungsrolle der Gebildeten, die die Gesellschaft – innerhalb wie außerhalb des eigenen Landes – zu deren Wohl mit ihren Ideen durchdringen wollten. An diesem – und nicht nur an diesem – Beispiel zeigt sich, dass »Missionsgeschichte als zentraler Teil der sogenannten allgemeinen Geschichte«140 in der Tat ernstgenommen werden sollte. Denn »Mission« wird auf diese Weise als eine Struktur gesellschaftlicher Problembehandlung überhaupt sichtbar: als eine Ordnungsvorstellung, die sich auf das konstitutive Außen einer Gesellschaft richtet, es versteh- und kontrollierbar macht und damit den »Zivilisierten« und den »Primitiven« ganz spezifische Funktionen zuweist.141 Zugleich ermächtigte gerade ihre demonstrative Selbstdisziplin die Missionare zur Disziplinierung der anderen. In diesem Sinne hat Hartmut Dießenbacher den umfassenden Anspruch und die universelle Wirkung der neuzeitlichen Sozialdisziplinierung als deren »vielleicht typischste Eigenschaft« bezeichnet: »Armenbesucher und Stadtmissionare sind selbst einer unerbittlichen Ausbildungs- und Berufsdisziplin unterworfen; diese ist Voraussetzung zur Disziplinierung beider Seiten: einerseits ihrer Gönner und Nutznießer, des wohlhabenden Bürger-

—————— 139 Graf, »Rettung der Persönlichkeit«, S. 122. 140 Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert«, S. 631.

141 Vgl. dazu Wietschorke, »Die Stadt als Missionsraum«.

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tums, wie auch andererseits der Objekte ihrer Tätigkeit, der Armen.«142 Damit wird der Missionar zu einer paradigmatischen Figur des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts, insofern er seine Autorität nicht so sehr durch sozialen Status oder Deutungsmacht, sondern vor allem durch persönlichen Einsatz, abenteuerliches Handeln und Selbstdisziplin erwirbt. Ein stärkeres Begründungskonzept für die protestantische Ethik der Disziplinierung ist schwer vorstellbar.

—————— 142 Dießenbacher, »Der Armenbesucher«, S. 237.

5. Auf der Suche nach dem »wirklichen Leben«

Die SAG als Erfahrungsproduktionsmodell Für die Studenten und Theologen, die ab 1911 in den Berliner Osten zogen, »um dort Arbeiterfreundschaft zu suchen«,1 war die SAG nicht nur eine Initiative sozialer Arbeit, sondern vor allem ein Erfahrungsproduktionsmodell. Hier kamen Akademiker als Suchende und Lernende ins Arbeiterviertel, sie sammelten dort Erfahrungen, die nirgendwo sonst möglich waren. Schon den Gründern des Hamburger Volksheims galt das Settlement als eine Schule des Lebens, die zuallererst dem »Gebildeten« klar machen wollten, »dass er selbst im Verkehr mit Arbeitern unendlich viel lernen und empfangen kann, dass er Gelegenheit suchen soll zur Selbsterziehung in einem wichtigen und doch so arg vernachlässigten Punkte«.2 Im vorliegenden Kapitel wird diesem Motiv nachgegangen: Was konnten die »Siedler« – in Hamburg wie in Berlin – vom »wirklichen Leben« lernen? Ihre Suche nach Realität führt ins Zentrum der Frage nach Spezifik und Wandel bildungsbürgerlicher Selbstverständnisse zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik. Mehr als bisher in dieser Arbeit wird es daher nötig sein, auch angrenzende Felder »volksfreundschaftlichen« Engagements zur Kenntnis zu nehmen. So wird über die Kulturanalyse der SAG hinaus deutlich, dass die klassischen Bildungseliten das »Volk« und dessen »wirkliches Leben« benötigten, um ihre eigene Position innerhalb einer sich modernisierenden Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Am Beginn der Hinwendung zum »einfachen Volk« steht die Abwendung vom eigenen Milieu, zumindest aber der Wunsch, sich abseits der

—————— 1 Gramm, »Soziales Schauen und Schaffen«, S. 22. 2 Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das dritte Geschäftsjahr 1903/04, Hamburg 1904,

S. 8. Bei Siegmund-Schultze kehrt diese Formulierung dann fast wörtlich wieder, vgl. Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 288.

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vorgezeichneten bürgerlichen Sozialisation neue Erfahrungsräume zu erschließen. Der Mitarbeiter Rudolf Haberkorn spricht in diesem Zusammenhang sogar von »Flucht«: »Wir begannen mit einer negativen Tat: Flucht vor der Unwahrheit und Verlogenheit der gesellschaftlichen Zustände.«3 Ein Hauptmotiv der Settlementbewegung ist denn auch in der ostentativen Ablehnung einer »verlogenen« bürgerlichen Kultur zu sehen, der Kritik am traditionellen Bildungsbetrieb und der unverantwortlichen Haltung der »Gebildeten« insgesamt. Die Selbstgefälligkeit und der »Kastengeist« der etablierten Akademiker, das männerbündisch-elitäre Auftreten der korporierten Studenten und eine lebensferne und abstrakte Wissenschaft hätten – so der Vorwurf an das eigene Milieu – den »Klassenhass« der Arbeiterschaft mit hervorgerufen und sogar mehr zur Dissoziation der Gesellschaft beigetragen als die Sozialdemokratie.4 Der theoretische Diskurs der akademischen Theologie und selbst der politischen Wissenschaften schien auf die Probleme der Gegenwart immer weniger vorzubereiten. Der Theologiestudent Hans Gallwitz fragte sich: »Wozu sitze ich hier Jahr um Jahr hinter den Büchern? Das Leben erfordert nachher etwas ganz anderes.« Gallwitz wollte nach Berlin-Ost gehen, »um zu sehen, ob Bücher und Leben tatsächlich so gegensätzlich sind, wie sie mir jetzt erscheinen«.5 Der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster schätzte die soziale Arbeit der Settlements denn auch vor allem als »Gegengewicht gegen eine schwere Gefahr des akademischen Studiums«. Denn – so Foerster weiter: »das einseitige Bücherstudium schafft nur zu leicht abstrakte und lebensfremde Köpfe, denen jeder Wirklichkeitssinn, jede Fähigkeit zu psychologischer Menschenbeurteilung abgeht. Der Einblick in die ganze dunkle Seite des Menschenlebens, das Sichhineinleben in die Daseinsgewohnheiten, Bedürfnisse und Gedanken einer ganz anderen Klasse – das alles wirkt dieser Gefahr gegenüber als ein starker Faktor der ›realistischen‹ Bildung. Und weit entfernt, dem Studium zu schaden, geben solche Eindrücke auch den Schlüssel zu tieferem Verständnis vieler Studiengebiete, die mit der Wirklichkeit des Menschenlebens zu tun haben.«6

Ganz ähnlich schrieb der Fürsorgewissenschaftler Wilhelm Feld 1924 in einem Brief an Siegmund-Schultze: »Was nutzen all die gelehrten Untersu-

—————— 3 Haberkorn, »Gedanken zur neudeutschen Religion«, S. 154. 4 Exemplarisch für diese Argumentation: Siegmund-Schultze, »Aus der sozialen Studen-

tenarbeit«, S. 321. 5 Hans Gallwitz an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Juli 1920, in: EZA 51/S II c 24,1. 6 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in:

ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 37.

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chungen der verschiedenen Fakultäten wenn sie von abstrakten Intellektuellen gemacht werden und nicht von Menschen die mit ganzer Seele im ›Volk‹ leben.«7 Eine solche Kritik an einem abstrakten »Bücherstudium«, das die Distanz zum »einfachen Volk« vergrößert, wurde auch von einem Mitarbeiter des Hamburger Volksheims formuliert, dessen erste pädagogische Versuche fehlgeschlagen waren: »Ich merkte nun wohl, was mir die Jungen fremd machte: daß ich in einer Welt von Büchern lebte und keine Beziehung fand zu Menschen, die nichts gelesen hatten. […] Bildung und Erziehung können vom Volke entfernen; aber man fühlt, daß es mit der Bildung, die so wirkt, nicht seine Richtigkeit haben kann.«8 Der SAG-Mitarbeiter Walther Brackhahn hat beschrieben, wie ihm seine ganze bisherige Bildung ein ganz anderes »Kulturbild« vermittelt habe als es dann die Wirklichkeit von Berlin-Ost tat.9 Und ein namentlich nicht genannter Mitarbeiter der SAG sah in seinen eigenen Ansichten »das Urteil eines Menschen, der in langer Kindheit bleiben durfte, in Ausgeglichenheit und Harmonie, und dem eine Ahnung von dem Leben des Grossstadtproletariats aufgegangen ist. Denn niemals können wir uns ihnen gleichstellen, wenn wir unser ganzes Leben in Berlin-Ost, Hinterhof, zubringen. Unsere Kindheit, unsere Schule, die Freiheit uns zu entwickeln können wir ihnen nicht geben. Und deshalb, wenn sie nicht zu uns kommen können, dann müssen wir zu ihnen gehen. Dann müssen wir versuchen, sie zu verstehen, vielleicht ist dann auch erst unser Hiersein gerechtfertigt. Dann kann ich es erst verantworten, einen Klub zu führen, wenn ich gesehen habe und es verstehen will: so leben sie also, so lieben sie, so leiden sie, so feiern sie Feste, so denken sie, so kleiden sie sich, so schelten sie, so neiden sie, so freuen sie sich.«10

Von dieser Einsicht sind zahllose Zuschriften angehender Mitarbeiter an die SAG geprägt. Bertha Brenner etwa wollte »in die Arbeiterviertel gehen nicht um dort zu arbeiten, sondern nur um zu sehen«.11 Johannes Martin kam nach Berlin-Ost, um »die Lebensverhältnisse einer Großstadt, wie sie wirklich sind, aus eigener Anschauung kennen zu lernen«.12 Sein bisheriges

—————— 7 Wilhelm Feld an Friedrich Siegmund-Schultze, 9. Dezember 1924, in: EZA 51/S II e 18. 8 Hermann Dorn, »Gedanken über die staatsbürgerliche Erziehung der Freiergestellten«,

in: Volksheim Hamburg. Bericht Elftes Geschäftsjahr 1911–1912, S. 21–27, hier S. 22. 9 Walther Brackhahn an Friedrich Siegmund-Schultze, 5. August 1922, in: EZA 51/S II e

1. 10 Manuskript »Ein Jahr SAG! Ein Jahr Berlin-Ost!« In: EZA 51/S II e 5. 11 Bertha Brenner an Alix Westerkamp, 23. Juni 1924, in: EZA 51/S II c 32,1. 12 Johannes Martin an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. August 1913, in: EZA 51/S II c

21.

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Wissen darüber stammte – so Martin selbst – aus einem Freudenstädter Vortrag Siegmund-Schultzes, aus Hermann Poperts Kultroman »Hellmut Harringa«, aus Schriften von Walther Classen und Friedrich Wilhelm Foerster und »ich darf doch wohl sagen, auch aus dem Neuen Testament«.13 Johannes Spiecker ging es darum, »nach einer Zeit des fruchtlosen und zerreibenden Umherirrens in den öden Feldern der grauen […] Theorien mal inmitten der wuchtigen Realitäten des Lebens meinen Standort zu nehmen und praktische Wahrheiten zu lernen«.14 Richard Hoppe war daran interessiert, »die Seele der Großstadt u. des Proletariats aus eigener Erfahrung möglichst genau kennen zu lernen«;15 Ernst Jansen wünschte sich »möglichst vielseitige Einblicke in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der dortigen Bevölkerung«.16 Und selbst der adelige »Landfreund« von Wedemeyer schrieb, ihn »würde gerade der Verkehr mit einem Menschen aus ganz anderen Schichten und von ganz anderer Gesinnungsart besonders reizen«17 – eine Formulierung, in der das Abenteuermotiv des Eintauchens in ein anderes Milieu sichtbar wird. Zuweilen ging es auch explizit darum, Einblicke in sozialistische Kreise zu gewinnen. Der Student Heinrich Dinkelmann wollte in erster Linie die Sozialdemokratie kennen lernen,18 und der Bayreuther Pfarrer Knote schrieb, ihm liege »sehr am Herzen, […] großstädtischen Proletariern innerlich nahe zu kommen vor allem auch dadurch, daß ich wenn irgend möglich in sozialistischer Arbeiterumgebung und wenn möglich auch in einer sozialistischen Familie wohne. Je weiter links diese Leute stehen, um so lieber ist es mir.«19 Die Reihe einschlägiger Belegstellen könnte fast beliebig verlängert werden. Dabei wird deutlich, dass der vielfach vorgetragene Wunsch, »mit Arbeitern in Berührung zu kommen«,20 »die Arbeiter-Welt kennenzuler-

—————— 13 Johannes Martin an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. August 1913, in: EZA 51/S II c

21. Wie in den Schriften Walther Classens wird auch in Poperts »Hellmut Harringa«, einem Kultbuch der bürgerlichen Jugendbewegung, die neue pädagogische Figur des »Halbstarken« beschrieben. Vgl. Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften, S. 87; siehe dazu auch Kapitel 8. 14 Johannes Spiecker an Friedrich Siegmund-Schultze, Poststempel vom 8. Oktober 1912, in: EZA 51/S II c 20. 15 Richard Hoppe an Friedrich Siegmund-Schultze, 30. November 1918, in: EZA 51/S II c 24,1. 16 Ernst Jansen an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. Februar 1928, in: EZA 51/S II c 26. 17 Von Wedemeyer an Friedrich Siegmund-Schultze, 30. April 1921, in: EZA 51/S II c 7,2. 18 Heinrich Dinkelmann an Friedrich Siegmund-Schultze, 22. Juli 1912, in: EZA 51/S II c 19 F. M. Knote an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. Oktober 1925, in: EZA 51/S II c 8,1. 20 K. Schlegtendal an Friedrich Siegmund-Schultze, 22. März 1921, in: EZA 51/S II c 25.

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nen«,21 dadurch den eigenen Horizont zu erweitern und »im zwanzigsten Jahrhundert arbeiten [zu] lernen und denken [zu] lernen«,22 das wohl wichtigste Motiv für den Eintritt in die SAG war.23 Auch wenn manche nur vor hatten, wenigstens einmal während ihres Studiums »zum Ländle hinaus zu kommen«, wie es der Stuttgarter Ewald Schmid von sich sagte,24 war es immer wieder der Gegensatz zwischen bürgerlicher Langeweile und »grauer Theorie« einerseits und dem aufregenden »wirklichen Leben« andererseits, der sich in den Zuschriften und Berichten der Mitarbeiter niederschlug.25 Damit ahnten sie auch etwas von der Grundvoraussetzung echten Verstehens, wie sie Gertrud Hermes einmal exemplarisch formuliert hat: »Wer nie draußen gestanden hat, außerhalb der bürgerlichen Welt in irgendeiner Weise […], der wird den Arbeiter kaum jemals verstehen.«26 Wenn Hermann Gramm also 1922 schrieb: »Ich kenne […] nur ein Ideal: Auge in Auge mit der nacktesten Wirklichkeit stehen!«,27 dann versuchte er, genau diesen Standpunkt »außerhalb« einzunehmen – Werner Picht sprach von den Siedlern als den »outsidern im slum«.28 Aus diesem Grund sollte der Student »im Volke leben«:29 Weil er nur aufgrund dieser Volksnähe imstande sein würde, die eigene Herkunft zu relativieren und zu einer wirklichen Einsicht in die Verhältnisse zu kommen. Und daher empfahl der Theologe Gottfried Naumann, »daß es zu jedem ordentlichen Studium gehört, eine Zeitlang im Arbeiterviertel mitgelebt und sozial mitgearbeitet zu haben«.30

—————— 21 Bernhard Schmaltz an Friedrich Siegmund-Schultze, 17. September 1925, in: EZA 51/S

II c 25. 22 Wilhelm Bollmann an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. Oktober 1925, in: EZA 51/S II

c 25. 23 Auch der Chicagoer Soziologe Burgess hat diesen Aspekt hervorgehoben: »The resi-

dents of the settlement were brought at once into touch with social reality, with the concrete facts of human life.« Burgess, »Can Neighborhood Work Have a Scientific Basis?«, S. 142. 24 Ewald Schmid an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Juli 1923, in: EZA 51/S II c 25. 25 Vgl. zur Metapher des »wirklichen Lebens« in diesem Zusammenhang Lindner, »Wer wird Ethnograph?«. 26 Hermes, Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters, S. 11. Hermes hatte nach eigenen Angaben fast gleichzeitig mit Siegmund-Schultze und seinen Mitarbeitern im Berliner Osten »gesiedelt«, ohne damals aber von der SAG zu wissen. Vgl. ebd., S. 10. 27 Hermann Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 16. November 1922, in: EZA 51/S II e 4. 28 Picht, Toynbee Hall, S. 115. 29 Hermann Gramm an Kurt Erlacher, 27. Oktober 1928, in: EZA 51/S II c 26. 30 Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 6–11, hier S. 8.

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An dieser Stelle setzte der integrative Erziehungsgedanke der SAG-Pädagogik an. Er folgte Paul Natorps Überzeugung: »Jeder muß unausgesetzt an sich selber erziehen und andere an sich erziehen lassen, vor allem die arbeitende Schicht, durch stete Berührung mit ihr.«31 Die »wirklichen Volksfreunde« – so die Essenz dieser Pädagogik – lassen sich vom »Volk« erziehen. Dazu gehörte eine ostentativ bescheidene Haltung. Das »Heruntersteigen« sollte – wie Siegmund-Schultze forderte, »bei den äußerlichsten Dingen« anfangen: »Wir müssen wieder Handarbeiter werden.«32 Die Gebildeten müssten, um das »neue Deutschland« mit aufzubauen, »voll Ehrerbietung und Dankbarkeit zu den Stätten körperlicher Arbeit pilgern« und »dort im engsten Verkehr und in Bescheidenheit um die Freundschaft derer bitten, die durch ihrer Hände Arbeit dem geistigen Leben eine Existenz bieten«.33 Pointierter lässt sich dieses Motiv, das in den Programmen der Settlements von Anfang an enthalten war, kaum ausdrücken. Dabei verrät gerade die Rede vom Pilgern, dass der Erfahrung der Realität und dem Nachvollzug des Lebens der anderen eine quasi spirituelle Dimension zukam: die Grenzüberschreitung wurde zum »Trip im übertragenen Sinne des Wortes«, der sowohl »Befreiung von irdischen Übeln als auch eine quasireligiöse Gemeinschaft« verspricht.34 Das Pilgern wurde zum Grenzgang zwischen den Klassen, der angetan war, den Hochmut und Bildungsdünkel des eigenen Milieus zu kurieren, durch die Entdeckung des »Authentischen« und »Einfachen« in neue Erfahrungsdimensionen vorzustoßen. Damit war auch eine elementare Selbsterfahrung gemeint, wie sie der Ethnologe Michel Leiris in seinem Buch über das »Auge des Ethnographen« beschrieben hat. Zur leidenschaftlich betriebenen Ethnologie gehöre, »sich am Beispiel einer fremden Welt auf sich selbst einzulassen«, wobei die Ethnologen und Missionare »ihre ›Manieren der Weißen‹ vergessen und auch das vergessen, was sie sich unter ihrer Identität als Intellektuelle vorstellen«.35 Tatsächlich wird an vielen Briefen und Berichten von SAG-Mitarbeitern deutlich, dass der Kontakt mit einer »fremden Welt« wesentlich

—————— 31 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1

(April 1921), S. 1–7, hier S. 7. 32 Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«, S. 363. 33 Friedrich Siegmund-Schultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2

(April/Mai 1918), S. 1–4, hier S. 2. 34 Lindner, »Ganz unten«, S. 25. Lindner weist bei dieser Gelegenheit auch darauf hin, dass

der Wiener Sozialreporter Max Winter seine Erkundungsgänge in den Arbeiterbezirk Favoriten als »Pilgergang« in den 10. Bezirk bezeichnet hat. 35 Leiris, Das Auge des Ethnographen, S. 35.

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dazu beigetragen hat, eigene Identitätsentwürfe zu revidieren. Bei aller Kritik am missionarischen Gestus der SAG muss festgehalten werden, dass diese ein legitimer und wichtiger Ort kulturellen »Hinzulernen[s] durch Naherfahrung« war.36 Der Volksbildner Alfred Mann hat einmal davon berichtet, was er auf einem nächtlichen Spaziergang durch die Stadt von einem im Arbeitsdienst beschäftigten Erwerbslosen über dessen Tätigkeit – das Schneeräumen – erfahren hat: »Es war eine ganze Physik und Soziologie und Philosophie des Schneehaufens und der Schneeschipperarbeit, die er mir da entwickelt hat.« Und Mann hörte dem Arbeiter – als einem Kenner und Lehrer »auf seinem Gebiete« – gebannt zu, »weil sich mir in dieser Nacht […] wirklich ein Stück für mich neuer Welt erschloß: ich habe viel gelernt dabei!«37 In diesem Sinne schrieb auch ein im Volksheim tätiger Jurist über die Arbeit im Lehrlingsverein: »Darum dünke sich keiner zu erhaben, im Lehrlingsverein zu helfen […], er kann hier vieles, vieles sehen und lernen, was in keinem Buche geschrieben ist, […] er wird Einblicke in die großstädtischen Verhältnisse gewinnen, wie sie sich bisher keinem Gebildeten so unmittelbar geboten haben.«38 Durch Einblicke und Erfahrungen dieser Art konnte das »soziale Studium« in Berlin-Ost und anderswo »uns für unser Leben reich machen«,39 wie es Marianne Kappler einmal ausdrückte, und Grete Laaman wollte dafür »der ganzen S.A.G., ja dem ganzen Berliner Osten danken«.40 Erst wenn man diese befreiende und sogar beglückende Erfahrung von Alterität in Rechnung stellt, lässt sich die

—————— 36 Warneken, Die Ethnographie popularer Kulturen, S. 46. 37 Alfred Mann, »Neue deutsche Volksbildungsarbeit in ihren Grundzügen«, in: NN 12.

JG. Heft 5/6 (Mai/Juni 1929), S. 127–138, hier S. 135–136. Was Mann hier berichtet, entspricht ziemlich genau dem, was Mann in seinen Überlegungen zur Volksbildung als »volkhaftes Denken« beschrieben hat – eine Idee, die im Hinblick auf den symbolischen Stellenwert des »Volkes« in der damaligen Bildungskritik und Volksbildung aufschlussreich ist. Vgl. Mann, Denkendes Volk – volkhaftes Denken; dazu in aller Kürze: Olbrich, Geschichte der Erwachsenenbildung, S. 204; Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, S. 18; Reichling, Akademische Arbeiterbildung in der Weimarer Republik, S. 72–74. 38 P. B., »Schafft Jugendrichter! (Volksheimgedanken eines Juristen)«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das sechste Geschäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 19–25, hier S. 25. 39 Marianne Kappler, »Der Studierende und die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NN 11. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1928), S. 26–28, hier S. 27. 40 Grete Laaman an Friedrich Siegmund-Schultze, 7. September 1917, in: EZA 51/S II e 2. Ein ähnlicher Dankesbrief ist z.B. Anne Marie Karg an Friedrich Siegmund-Schultze, 4. Juli 1923, in: EZA 51/S II e 4. Auch Heinz Marr, Mitarbeiter des Hamburger Volksheims, sprach vom beglückenden »Erlebnis der Vorstadt«: Marr, Proletarisches Verlangen, S. 3.

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kulturelle Logik der Immersion ins »wirkliche Leben« angemessen verstehen.

Eine Generation des Unbedingten Der ungeheure Hunger nach persönlicher Erfahrung, wie er uns bei vielen Mitarbeitern der SAG begegnet, ist ganz wesentlich auf ein generationsspezifisches Moment zurückzuführen. Die angehenden Studenten der Jahre 1911 bis 1914 – geboren in den Jahren 1889 bis 1894 – blickten auf eine behütete und krisenarme Kindheit zurück, vielfach bestimmt von einer autoritären Erziehung durch ihre wilhelminischen Väter.41 Die »Generation von 1914« war auch aus diesem Grund anfällig für den pathetischen Aufbruch in eine »neue Zeit« – sei es in den zahllosen Erneuerungsbewegungen der akademischen Jugend, sei es in der fatalen kollektiven Begeisterung der Studenten für den Weltkrieg.42 Siegmund-Schultzes Angebot, den bürgerlichen Westen zu verlassen und hinaus in den proletarischen Osten zu ziehen, traf also auf viele junge Männer, deren Lebensgefühl von einem Leiden an Erfahrungslosigkeit bestimmt war und die wohl etwas von dem empfanden, was Gertrud Bäumer einmal folgendermaßen formuliert hat: »Der Kulturmensch ist ein so kompliziertes Gebilde, daß er alles ursprüngliche Fühlen noch einmal auf eine künstliche, literatenhafte Art – aus zweiter Hand – besitzt.«43 Nicht zuletzt war Siegmund-Schultze selbst – als Angehöriger des Jahrgangs 1885 – Teil dieser Generation. Seine Entscheidung gegen die gefestigte Position an der Potsdamer Friedenskirche und für den Aufbruch ins Arbeiterviertel richtete sich, so gesehen, auch schon gegen die bürgerliche Saturiertheit der Wilhelminer.44

—————— 41 Vgl. zu dieser Vätergeneration ausführlich Doerry, Übergangsmenschen. 42 Vgl. dazu auch die klassische generationengeschichtliche Untersuchung von Wohl, The

Generation of 1914, S. 42–84. Zur Rolle der Akademiker im Weltkrieg vgl. Kapitel 7 und die dort angegebene Literatur. 43 Bäumer, Die »Intellektuellen«, S. 171. 44 Diese Entscheidung trug ihm denn auch besonders die Hochachtung derer ein, die – etwa als Gelehrte alten Schlages – sich selbst nicht hätten vorstellen können, ins »dunkle Berlin« zu ziehen. So etwa der Romanist Ernst Robert Curtius, der aus den Vorträgen und Texten Siegmund-Schultzes zwar viel »an Belehrung & innerer Orientierung« gewann, aber nach eigener Aussage doch »zu den für das Praktische verdorbenen Professoren« gehörte, »die in äusserster Verlegenheit wären, wenn man sie mit dem Arbeiter zusammenbände«. Ernst Robert Curtius an Friedrich Siegmund-Schultze, 26. Mai 1921,

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Von hier aus ist die SAG-spezifische Sprache des »Unbedingten«,45 der existenzielle Tonfall vieler Stimmen aus der SAG zu verstehen. Viele der »Pioniere« begriffen ihre Mission im Arbeiterviertel pathetisch als eine Möglichkeit, Erfahrungen aus erster Hand zu machen und beschworen diese Erfahrungen etwa im Sinne der Rilke-Verse, die eine SAG-Mitarbeiterin im Jahr 1929 zitierte: »Laß dir alles geschehn, Schönheit und Schrecken, du mußt nur gehen.«46 Existenzielle Rhetorik prägte vor allem die Briefe und Berichte der ersten SAG-Generation. Rudolf Haberkorn etwa betrachtete seine Erziehungsarbeit im Osten »durchaus als kriegerische Tätigkeit«.47 Vor seinem Eintritt in die SAG zum Wintersemester 1913 schrieb er an Siegmund-Schultze: »Ich freue mich schon ordentlich auf die praktische Arbeit. Da steht man doch in unmittelbarer Verbindung mit einer großen Idee, und kann etwas von sich aus dazu geben. Beides bringt Sinn in das Leben. Hier in dem ideallosen Posen wird es mit jedem Tage langweiliger.«48 Erst recht betont wurde diese »kämpferische« Haltung der ersten Generation, als sie schon zu einem SAG-Mythos geworden war. So sprach etwa Hellmut Hotop im Rückblick auf fast 25 Jahre SAG davon, dass damals »ein wahrhaft revolutionäres Erleben, ein Zurückgeworfensein auf die letzten Urkräfte des Lebens den im Osten arbeitenden Menschen die unabweisli-

—————— in: EZA 51/S II e 1. Zu Curtius in diesem Zusammenhang vgl. auch Bock, »Die Politik des ›Unpolitischen‹«, und ders., »Ernst Robert Curtius und die Aporien«. 45 Michael Wildt hat diesen Begriff ins Zentrum seiner großen Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes gestellt. Er zeichnet den Weg seiner Protagonisten von den generationellen Prägungen der um 1900 geborenen Akademiker über deren politische Radikalisierung bis hin zu ihrer Rolle als RSHA-Führer nach. Dabei zeigt er, wie gerade der emphatische »Entwurf einer neuen Welt«, der mit der »Jugend« im frühen 20. Jahrhundert verknüpft war, die »Unbedingtheit ihres Anspruchs« auf Weltanschauung und Herrschaft begründete. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 849. Auch die Studie von Ulrich Herbert über Heydrichs Stellvertreter im RSHA befasst sich mit der generationellen Prägung und dem weltanschaulichen Unbedingtheitsanspruch eines um 1900 geborenen und früh radikalisierten Akademikers: Herbert, Best. 46 Zit. nach Irmgard Norden, »Großstadtsiedlung und Siedler«, in: NN 12. Jg. Heft 2 (März 1929), S. 49–53, hier S. 50. In den Lebenserinnerungen des SAGlers Carl Mennicke findet sich übrigens die interessante Randbemerkung: »Ich würde mich anheischig machen, ein Phänomen wie Rilke und dessen merkwürdig tiefgehende Wirkung auf aristokratische und großbürgerliche Kreise unter interessensoziologischen Gesichtspunkten zu untersuchen, und ich bin überzeugt, daß man über die Resultate frappiert sein würde.« Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals, S. 123. 47 Haberkorn, »Gedanken zur neudeutschen Religion«, S. 163. 48 Rudolf Haberkorn an Friedrich Siegmund-Schultze, 15. September 1913, in: EZA 51/S II c 21.

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che Bindung auferlegte, die zum Erwachen gekommenen Kräfte ihres eigenen Lebens in die Nachbarschaft einströmen […] zu lassen«49 und durch »Einsatz ihres Lebens der selbst erlebten inneren Revolution zur Auswirkung […] zu verhelfen«.50 Maria Siegmund-Schultze machte anlässlich eines »Einführungsabends in die praktische Arbeit« den neuen Mitarbeitern deutlich, »daß das Hinausziehen in den Osten nicht einem modernen sozialen Betätigungsdrang entsprang, sondern daß kühne, aufbrausende Kraft und der Wille zum Dienen […] die ersten Pioniere […] beseelten«.51 Diese SAG wollte – so hieß es 1931 im Mitteilungsblatt – »eine Armee freiwilliger Kämpfer werden, die zu Felde zieht gegen die furchtbare Gefahr der Verzweiflung und Vereinsamung« vieler Menschen im Berliner Osten.52 In der Selbstdarstellung der »Kämpfer« basierte ein solcher Feldzug nicht etwa auf rationalen Überlegungen, sondern auf einer unentrinnbaren inneren Verpflichtung. Gotthard Eberlein schrieb über seinen Stettiner SAG-Versuch: »Uns treibt ein inneres Motiv, ein irrationales Etwas, ein nicht klar zu deutendes ›Muß‹.«53 Und auch der Hamburger Theologe und Volksheimaktivist Ludwig Heitmann meinte: »Was uns hineintreibt in die Gruppen, in denen wir arbeiten, ist in keiner Weise nur eine persönliche Neigung, sondern es ist etwas Unbedingtes.«54 Für die ersten residents der SAG gilt also durchweg, was Robert Wohl für die deutsche »Generation von 1914« skizziert hat: »Youth suggested poetry, purity, friendship, creativity, Sturm und Drang, the blue flower of endless seeking, the striving for final ends, the search for the whole rather than the part, and early, hence unblemished, death.«55 Die »Siedler«, die sich damals »hinausbegeben haben, sich ganz einsetzten«,56 suchten die Verbindung mit einer »großen Idee« und eine neue Welt abseits der bür-

—————— 49 Hellmut Hotop in: ders./Erich Gramm, »Warum Berlin-Ost?« In: AASAG Nr. 2 (No-

vember 1935), S. 24–27, hier S. 24. 50 Ebd., S. 25. 51 Nach Hellmut Hotop, »Einführungsabende in die praktische Arbeit der Sozialen Ar-

beitsgemeinschaft«, in: ASM 3. Jg. Heft 11/12 (Februar/März 1920), S. 184–186, hier S. 184. 52 »An unsere Nachbarn«, in: MSAG Nr. 55 (November 1931), S. 1. 53 Gotthard Eberlein, »Die Krisis in der Jugendklubarbeit«, in: ASM 4. Jg. Heft 7 (Oktober 1920), S. 140–154, hier S. 146. 54 Ludwig Heitmann, »Die Wandlungen des sozialen Gedankens unter dem Einfluß der Revolution«, in: Das Volksheim. Mitteilungen des Hamburger Volksheims, erschienen im November 1919, S. 157–166, hier S. 165. 55 Wohl, The Generation of 1914, S. 42. 56 Ernst Gaugler an Friedrich Siegmund-Schultze, 12. Oktober 1917, in: EZA 51/S II e 2.

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gerlichen Konventionen. Ihr Aufbruch, der von den Leitmotiven des Wirklichen, Reinen, Ganzen und der Gemeinschaft lebte, war vor allem gegen ihre Herkunftsmilieus gerichtet. Vom »ideallosen Posen« oder den Tübinger Hörsälen aus erschien der Berliner Osten erst recht als das Terrain der großen Ideale, als Bewährungsprobe und Labor des »wirklichen Lebens«. Dass es zuweilen weniger die soziale Arbeit selbst, sondern vielmehr dieser fast schon antibürgerliche Impuls war, der viele Mitarbeiter für die SAG begeisterte, stellte Haberkorn selbst bereits 1914 in einer selbstkritischen Bilanz fest. »Mitgearbeitet, wirklich gearbeitet habe ich eigentlich nicht. Ich habe die S.A.G. genossen. Der ganzen innern und äußeren Entwicklung folgte ich mit atemloser Spannung, mit der man ein großes Drama über die Bühne gehen sieht; & ich genoß die Gemeinschaft von Menschen, in der ich mich erholen konnte von dem packenden […] Kampf gegen ein Milieu, das die Verhältnisse für unabänderlich, jeden Kampf dagegen für nutzlose Kraftverschwendung hält.«57 Die SAG als großes Drama: In dieser treffenden Formulierung ist die Faszination festgehalten, welche die ersten residents an den Berliner Osten band. An anderer Stelle gab Haberkorn denn auch zu, dass das »Opfer an Bequemlichkeit«, das die Studenten mit ihrem Umzug nach Berlin-Ost zu bringen hatten, durch ein »Äquivalent an Erfahrung und Sensation« ausgeglichen würde. »Die große Neugier, die wir alle haben, so lange wir jung sind, würde mir als Motiv zu einem Aufenthalt im Arbeiterviertel völlig genügen.«58 Und auch wenn sich dieses eng mit der Frontgeneration verbundene Motiv in der weiteren Entwicklung der SAG deutlich abschwächte, gab es auch in den 1920er Jahren noch viele Mitarbeiter, die sich nach einem kämpferischen Einsatz abseits des trockenen Bücherstudiums und den Sensationen des »wirklichen Lebens«, sehnten. Auch die Studenten der neuen Generation fühlten sich vielfach »unfertig« und »unsicher, bestimmt von Theorien, die noch nicht genügend von der Erfahrung gestützt bzw. abgeschliffen werden konnten«, so der Student Gerhard Schade.59 Marianne Kappler beschrieb 1928 in einem kleinen Text, wie sich Studenten durch ihre lange Studienzeit »abgesondert und nutzlos« vorkamen und sich auch einmal »in das Ganze hineinstellen«

—————— 57 Rudolf Haberkorn an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. März 1914, in: EZA 51/S II c

18. 58 Rudolf Haberkorn, Rezension zu Werner Picht, Toynbee Hall und die englische Settlement-

bewegung und Das Problem der Settlementbewegung, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 31–32, hier S. 31. 59 Gerhard Schade, »Student und soziale Frage seit der Revolution«, in: ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920), S. 57–61, hier S. 61.

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wollten.60 Und eine weitere Studentin betonte, mit ihrem Engagement in der SAG »einen Strich unter das, was bisher mein Leben war«, gesetzt zu haben.61 So setzten viele SAG-Mitarbeiter ganz bewusst um, was Alix Westerkamp – um diesen Satz noch einmal anzuführen – geschrieben hatte: »dass eine ausserordentlich stählende Kraft darin liegt, wenn man einmal ›ganz etwas anderes‹ tut«.62 Auch an den Berichten aus dem Hamburger Volksheim wird deutlich, wie sehr das »Draußenwohnen« und der Kontakt zum »wirklichen Leben« als eine Befreiung aus den engen Strukturen bildungsbürgerlicher Sozialisation und akademischer Ausbildung empfunden wurde. Ein Theologiestudent aus Heilbronn, der zeitweise im Volksheim tätig war, hat eindrücklich – wenn auch sprachlich etwas wirr – beschrieben, was ihn in die schlechten Hafenquartiere Hamburgs gezogen hatte. Er nennt das Vorbild Paul Göhres und schwärmt davon, »wie ein unreifes, aber mächtiges Tugendsehnen im Zusammenleben mit dem hartarbeitenden Volk seine Läuterung und Verwertung erfährt, das Verlangen des seiner Einseitigkeit bewußten Büchermenschen mit seiner Weltfremdheit, Unfruchtbarkeit nach schlichter, nutzbringender Handarbeit, das Streben aus der Sphäre der Überkultur in die herbe, frische Luft des täglichen Existenzkampfes«.63 In diesem Bericht sind die sozialromantischen Töne nicht zu überhören, im Idealbild der »schlichten, nutzbringenden Handarbeit« ebensowenig wie in der Formulierung von der »herben, frischen Luft des täglichen Existenzkampfes«. Die Erfahrungen des Zusammenlebens mit dem »hartarbeitenden Volk« werden hier theologisch aufgeladen und ganz offen mit einer klassisch bildungsbürgerlichen Denkfigur verbunden: Letztlich dienen sie nämlich vor allem der »Läuterung« der eigenen Tugendideale, die in der »Überkultur« der »Büchermenschen« nicht mehr zum Ausdruck zu bringen waren. Arbeitswelt und Arbeitermilieu erfahren dabei eine ungeheure symbolische Aufwertung: Sie erscheinen nicht als sittlich verkehrt, als schmutzig und belastend, sondern als ein notwendiger Baustein zur eigenen Persönlichkeitsbildung. Die Identität des weltfremden Akademikers erfährt dabei ihre eigentliche Komplettierung; Hermann Bausinger hat diesen Gedanken in einer

—————— 60 Marianne Kappler, »Der Studierende und die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: NN 11.

Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1928), S. 26–28, hier S. 27. 61 »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 1, in: ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar–

März 1918), S. 174–184, hier S. 177. 62 Alix Westerkamp an A. Bergemann, 19. 9. 1919, in: EZA 51/S II, c 31. 63 O. G., »Was das Volksheim für mich bedeutet?« In: Das Volksheim in Hamburg. Bericht

über das sechste Geschäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 7–10, hier S. 9.

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verblüffenden Parallele einmal für den Folklore-Tourismus benannt: »Der Tourist läßt sich von einer höheren Entwicklungsstufe herab und vervollständigt seine Persönlichkeit, indem er vorübergehend in jene frühere Schicht hinabtaucht.«64 Die »frühere Schicht« war in diesem Sinne unabdingbar für die angestrebte Ganzheit der Person; gegen die »geflickte Halbnatur« der akademischen Sozialisation – so Gertrud Bäumer 1919 – half nur »das Leben selbst, […]: die reale Aufgabe, die echte, gestaltende zugreifende Arbeit«.65 Und so beobachtete der genannte Heilbronner Theologe in Hamburg an sich selbst einen bemerkenswerten Veränderungsprozess: »Von Haus aus bin ich eigentlich ein herzlich unsozialer Mensch, und es ist ein Stück Zeitgeschichte im Kleinen, wie heutzutage aus einem aristokratischen Bücherwurm ein praktischer Volksfreund wird.«66 Die kulturelle Logik der Settlementbewegung ist also nur zu verstehen, wenn man deren Akteure selbst als Dissidenten ihrer eigenen Klasse versteht. Sie standen nicht, wie das Motiv der »Kulturmission« zunächst nahelegt, auf dem Boden einer selbstsicheren bürgerlichen Kultur, sondern stellten diese Kultur in Frage. Die impulsgebende Rolle der bürgerlichen Jugendbewegung für die innere Motivation vieler Mitarbeiter liegt hier auf der Hand.67 Die SAGlerin Elisabeth Benzler ist 1928 anlässlich einer Tagung auf Burg Lauenstein auf die besondere Affinität zwischen Settlementund Jugendbewegung eingegangen und hat festgestellt, »daß gerade Menschen der Jugendbewegung zur SAG kommen mußten«.68 Viele Briefe und Berichte sprechen denn auch unverkennbar die Sprache der Jugendbewegung und lassen die Arbeit in Berlin-Ost geradezu als zwingende Fortsetzung von Naturerlebnis und »großer Fahrt« erscheinen, wie etwa in einem Manuskript eines unbekannten Autors, der über seinen Entschluss zur Mitarbeit in der SAG schreibt: »Dort musst Du hingehen! – Dieser Augenblick war ein Geschenk, das mir draussen in der Natur wurde. Wir waren wieder einmal ausgerissen aus dem Grossstadtlärm, und noch war das Gefühl der Nacht in uns, als wir Winden lauschten und Sterne flimmern sahen, noch leuchtete und loderte die Welt im Herbstbrand in

—————— 64 Bausinger, Volkskunde, S. 165. 65 Bäumer, Die »Intellektuellen«, S. 171. 66 O. G., »Was das Volksheim für mich bedeutet?« In: Das Volksheim in Hamburg. Bericht

über das sechste Geschäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 7–10, hier S. 7. 67 Zum dissidenten Potential der Jugendbewegung und v.a. der Freideutschen Jugend vgl.

Preuß, Verlorene Söhne des Bürgertums. 68 Elisabeth Benzler, »Großstadtsiedlung und Jugendbewegung«, in: ASM 11. Jg. Heft

10/11 (Oktober–November 1928), S. 178–188, hier S. 182.

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uns, das Bild vom ›heiligen Stuhl‹ brannte in unseren Herzen, ›Wind ging wie Wellen über die Welt unter Wogen‹, da kehrten wir heim in die Stadt. Hinaus waren wir geflohen, hinein kamen wir mit dem Bewusstsein, dass wir hineingehörten. Eine gewaltige Sprache hatte die Natur gesprochen. Sie hatte uns gelehrt, dass wir uns und jeder Einzelne für sich zu beugen hatten vor den grossen Wellen, die in unserer Zeit über die Erde gehen.«69

Das pathetische Engagement der SAGler ist aus einer generationellen Dynamik heraus zu begreifen, die bestimmte Themen – Aufbruch, Jugend, Abenteuer, existenzielles Erleben – in den Vordergrund rückte. Mehr noch: Wenn »Generation« – vor allem in der Weimarer Republik – als ein »entökonomisierter Konterbegriff zu ›Klasse‹« verstanden werden muss,70 erweist sich das klassenübergreifende Experiment der SAG als ein generationelles Unternehmen, das der trennenden Kraft der Klassengesellschaft mit neuen, gerade auf die »Jugend« zugeschnittenen Bindungen entgegenwirken wollte. Hinter der in Berlin-Ost entstehenden »Urzelle des neuen Deutschland«71 stand somit eine Strategie der Formierung einer neuen Generation durch pädagogische Arbeit und »soziale Arbeitsgemeinschaft« von Akademiker- und Arbeiterjugend. Gerade die Herausbildung einer klassenübergreifenden, im persönlichen Kontakt entstandenen Kultur diente in der SAG als Modell für gesellschaftliche Erneuerung: »Erst wenn über alle sozialen Fragen im Landtag und im Reichstag eine Generation zu entscheiden hat, die selbst zwischen den Arbeitern gewohnt hat […], wird eine durchgreifende Besserung der Verhältnisse stattfinden.«72

—————— 69 Undatiertes Manuskript »Ein Jahr SAG! Ein Jahr Berlin-Ost!«, in: EZA 51/S II e 5. 70 Rusinek, »Krieg als Sehnsucht«, S. 129. 71 Friedrich Siegmund-Schultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2

(April/Mai 1918), S. 1–4, hier S. 2. Zum Gemeinschaftsbegriff im sozialpädagogischen Diskurs zwischen 1890 und den 1920er Jahren vgl. Henseler/Reyer, »Zur Einleitung«, 4–10, und Gängler, »Sozialpädagogisch inszenierte Gemeinschaften«. Über die zahllosen »Arbeitsgemeinschaften« und Bünde« der 1920er Jahre heißt es bei Veraguth: »Daß […] jede Gruppe, mit Ausnahme der marxistisch gerichteten, vom Idealziel des einen Volkes sprach und dieses in ihrer eigenen ›Zellenbildung‹ bereits ›vorweggenommen‹ sah, bestätigt nur das Wesen der pluralitären Gruppen, die sich je als Repräsentanten des Ganzen verstehen.« Veraguth, Arbeiterbildung zwischen Religion und Politik, S. 42. 72 Siegmund-Schultze, »Klassenhaß«, S. 296.

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»The Imagination of Powerlessness« Für sein Vorhaben suchte Siegmund-Schultze Mitarbeiter, »die freiwillig ihr reiches Leben aufgeben und etwa überschüssige Kräfte in den Dienst des Volksaufbaus stellen«.73 Dieses Motiv der Aufgabe eigener Privilegien spielte in der SAG eine wichtige Rolle – Rudolf Haberkorn sprach sogar davon, »sich selbst [zu] schenken«.74 Neben dem unentgeltlichen Einsatz der SAG-Mitarbeiter in der sozialen Arbeit war damit vor allem gemeint, dass mit der Übersiedlung in den Osten auch die Annehmlichkeiten eines bürgerlichen Lebens abgelegt werden sollten, dass die residents, wie es in der Vereinssatzung vom Februar 1914 heißt, »die […] notwendigen Opfer eines auf Verantwortungsgefühl und Einfachheit gegründeten nachbarlichen Zusammenlebens mit der ärmeren Bevölkerung bringen«.75 Erst recht forderte man in den Kriegsjahren »Opferbereitschaft« und »gemeinsames Tragen der Lasten des Volkes«.76 Durch diesen Verzicht auf Annehmlichkeiten des eigenen Herkunftsmilieus wollte man ganz »Mensch unter Menschen sein«,77 wie es der SAG-Mitarbeiter Hans Windekilde Jannasch formulierte. Siegmund-Schultze sah in der »Bereitschaft zum Mittragen der Not« einen entscheidenden Angelpunkt für Veränderungen in Wirtschaft

—————— 73 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921),

S. 19–27, hier S. 27. 74 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 182. Der Opfergedanke ist auch in einem ähnlichen, reichlich wirren Manuskript Haberkorns ausgeführt, in: EZA 51/S II c 19. Dort heißt es wörtlich: »Der Gebildete, Besitzende... kommt zu dem Armen im Volk und schenkt sich selbst.« Manuskript, S. 4. Diese Idee folgt im Übrigen einem Leitsatz Arnold Toynbees, demzufolge nicht Geld, sondern die eigene Persönlichkeit gegeben werden solle. Nach: Meilhammer, Britische Vor-Bilder, S. 55. Oder, wie es bereits in der 1869 gegründeten »Charity Organization Society« hieß: »Not alms, but a friend«. Zit. nach Lindner, »Vom Besucher zum Nachbarn«, S. 23. 75 »Satzungen«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 183–186, hier S. 184. 76 Friedrich Siegmund-Schultze, »Akademisch-Soziale Monatsschrift«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April–Mai 1917), S. 2–5, hier S. 2. 77 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 40. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 1–7, hier S. 7. Von Wenzel Holek stammt der Satz: »Wo der Mensch nicht mehr sein will als Mensch, da fängt die Gemeinschaft an«. Zit. nach dem Nachruf von Alix Westerkamp, »Unserem Mitarbeiter«, in: MSAG Nr. 94 (Februar 1935), S. 7.

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und Gesellschaft.78 In einem Brief an den SAG-Mitarbeiter Heinrich Dinkelmann geht er sogar soweit auszusprechen, »wie notwendig wir Not brauchen«.79 In dieser Idee der Kondeszendenz80 spiegelt sich die Sehnsucht bürgerlicher »Abtrünniger« nach dem »einfachen Leben«, aber auch eine Strategie zur Aneignung des spezifischen symbolischen Profits, den die Not – als Garant für Authentizität und den Kontakt zum wirklichen Leben – einbringen konnte. Die »Not des Proletariats« wurde im Kontext dieser genuin bildungsbürgerlichen symbolischen Ökonomie gleichsam zu einer Pathosformel, die den Unbedingtheitsanspruch der eigenen Position begründete. Das damit verbundene Spiel von Nähe und Distanz hat Bourdieu in einem anderen Zusammenhang einmal genauer benannt. Er spricht von »Strategien der Kondeszendenz, mittels deren Akteure mit einer höheren Position innerhalb einer der Hierarchien des objektiven Raums symbolisch die – gleichwohl noch weiterbestehende – soziale Distanz negieren und sich damit zusätzlich jene Profite sichern, die daraus erwachsen, daß die anderen die rein symbolische Neigung der Distanz anerkennen […], darin zugleich aber auch die Distanz selbst […]. Kurz: Man kann sich der objektiven Distanzen so bedienen, daß man von Nähe und Distanz gleichermaßen profitiert, das heißt von der Distanz und der Anerkennung der Distanz, die die symbolische Negierung der Distanz verschafft.«81

Dass die SAG also »Not brauchte«, lässt sich in diesem Lichte als Strategie des symbolischen Profits beschreiben. Wenn, wie der Theologe Paul Tillich einmal schrieb, durch die Not des Proletariats Fragen aufgeworfen wurden, die »in die Tiefe der menschlichen Existenz verwiesen«,82 musste all denen gerade recht kommen, die ihrerseits nach existenzieller Tiefe suchten und darüber einen neuen Selbstverortungsdiskurs initiierten. Damit soll nicht die prekäre materielle Situation vieler SAG-Studenten in Frage gestellt werden – in einigen Fällen aber kann von »Not« kaum die Rede sein. Die persönlichen Lebensumstände Friedrich Siegmund-Schultzes lassen ahnen, dass man bei allem Pathos des »Sich-Selber-Schenkens« über die eigenen

—————— 78 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Not«, in: NSAG Nr. 26 (Dezember 1931), S. 1–3,

hier S. 2. 79 Friedrich Siegmund-Schultze an Heinrich Dinkelmann, 21. Oktober 1924, in: EZA 51/S

II c 25. 80 Zu diesem Begriff vgl. Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, S. 52–54, ähnlich Weyer,

Kirche im Arbeiterviertel, S. 98–100. Vgl. des Weiteren den Abschnitt zur »Inkarnation als Strukturprinzip« bei Siegmund-Schultze in: Lamer, Kirche im Arbeiterviertel, S. 29–32. 81 Bourdieu, »Sozialer Raum und symbolische Macht«, S. 140. 82 Zit. nach Nowak, »Religiöse Sozialisten – Deutsche Christen«, S. 169.

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Privilegien eher vornehm schwieg. So berichtet Elisabeth Hesse in ihren Erinnerungen über den Umzug der Familie Siegmund-Schultze in einen von Freunden bezahlten [!] Neubau in Rahnsdorf: »Für uns Kinder war der Umzug in dieses Haus mit dem großen Garten ideal. […] Auch der Vater liebte sein Rahnsdorf und atmete jedes Mal die gute Waldluft tief ein, wenn er, aus Berlin-Ost kommend, aus dem Zug ausstieg.«83 Vor dem Hintergrund solider finanzieller Verhältnisse und eines so großzügigen Refugiums hatte das »Herabsteigen« in den »dunklen Osten« nur vorübergehenden Charakter – was für die vielen studentischen Mitarbeiter ohnehin gilt, die nur ein oder zwei Semester in der Fruchtstraße verbrachten und dann oftmals in ihre Studienorte zurückkehrten. Seitens vieler Beobachter wurde aber gerade der angebliche Verzicht der Mitarbeiter auf alle Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens betont, so etwa bei Gotthard Eberlein – selbst ein Freund der SAG und Leiter einer settlement-ähnlichen Einrichtung in Stettin, der 1923 schrieb, Siegmund-Schultze habe »Gehalt und Sicherungen« aufgegeben, um ins Arbeiterviertel zu ziehen: »Hier […] wohnte die kleine Schar, Flur an Flur mit Arbeitern, schlief auf Matratzen und lebte einfach proletarisch, um dem Arbeiter wieder Bruder zu sein.«84 Das asketische »einfache Leben« war geradezu der Nachweis der Ernsthaftigkeit, die das gesamte Vorhaben der SAG trug – die Fiktion des echten Eintauchens in das proletarische Milieu diente also nicht nur der Öffnung neuer Erfahrungshorizonte, sondern auch der Selbstlegitimation als Bewegung. Die »Lebenshingabe«,85 von der Siegmund-Schultze sprach, war Teil der Semantik des Unbedingten, der Selbstüberwindung und Bewährung, die radikale – reformerische und revolutionäre – Bewegungen konstituiert, strukturiert und die Regeln des Dazugehörens bestimmt. Auch wenn in den 1920er Jahren viele Mitarbeiter kaum mehr zum Leben hatten als der durchschnittliche Arbeiter – davon wird im neunten Kapitel noch ausführlich die Rede sein, blieb das »einfache proletarische« Leben immer auch ein soziales Abenteuer und identitäres Spiel, dessen Effekte man als Erfahrungsschatz für die eigene Selbstsuche brauchte. Der Soziologe Robert Michels hat sich in seiner Soziologie des Parteiwesens mit der Problematik von »Arbeiterfreunden« bürgerlicher Herkunft ausein-

—————— 83 Hesse, »Der Vater«, S. 403. 84 Eberlein, Die verlorene Kirche, S. 24. 85 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in:

NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 1–7, hier S. 4.

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andergesetzt und in diesem Zusammenhang auch den russischen »Narodnitschestwo« angeführt. Er zitiert Bakunin mit folgender Passage: »Will der in bürgerlicher Umgebung Geborene und Erzogene wirklich ein ehrlicher und wahrhafter Arbeiterfreund […] werden, so gibt es für ihn nur einen Weg: allen Gewohnheiten und Eitelkeiten des bourgeoisen Lebens ein für allemal zu entsagen, sich bedingungslos auf die Arbeiterseite zu schlagen und der Bourgeoisie ewige Feindschaft anzusagen.«86

Das »Bad im Volksleben« – mehr noch: »la vie même du peuple«, das von Bakunin und den »Narodniki« gefordert wurde,87 wird aber von Michels kritisiert: Keineswegs nämlich könne auf diese Weise ein »wirkliches Aufgehen in der Gedanken- und Tatsachenwelt der Masse« erzielt werden.88 Was er über die »freiwillige Deklassierung« schreibt, die Bakunin für eine »psychologische Notwendigkeit für die sozialistische Aktion aller NichtGeburtsproletarier« hielt, enthält einen wichtigen Hinweis auf die symbolische Dimension des Hinabsteigens. Die »freiwillige Deklassierung« nämlich erzwingt, so Michels, »als Beweis hohen Opfersinns und gründlichster Überzeugungstreue Achtung«.89 Das »Postulat der Entsagung«, wie es hier im Hinblick auf sozialistische Arbeiterführer bürgerlicher Provenienz beschrieben wird, erscheint somit als Legitimationsfigur von Führerschaft. Für das Verständnis des in der SAG immer wieder geforderten »einfachen Lebens« in Berlin-Ost liefert dieser Zusammenhang ein wichtiges Interpretament.90 In noch einem anderen, grundsätzlicheren Sinn ist das »Hinabsteigen« zu den Deklassierten als »symbolisch« zu verstehen. Carolyn Betensky hat in einem lesenswerten Aufsatz über »pleasure and the imagination of po-

—————— 86 Zit. nach Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 325. 87 Ebd., S. 325–326. 88 Ebd., S. 328. 89 Ebd., S. 327. 90 Bei Wenzel Holek findet sich denn auch der Vergleich von sozialistischen Arbeiter-

führern aus der Oberschicht und den SAG-Mitarbeitern: »Saint Simon, ein Graf, Kropotkin, ein Fürst, Marx, Lasalle [sic], Owen, Abbe und viele andere stammten aus wohlhabenden Familien. Sie haben keine materielle Not und aus ihr entspringendes Unrecht erfahren und sich doch der Armen, Unterdrückten und Entrechteten angenommen. […] Die Zahl der Intellektuellen, die für eine Erneuerung des Lebens fühlen, denken und handeln, wird immer größer. Dazu gehört auch der S.A.G.-Kreis, alle, die schon durch die S.A.G. gegangen, noch hier sind und noch kommen werden.« Und als eines der Motive dieser Dissidenten nennt Holek: »Sie treibt der seelische Prozeß […], das Leben aus unmittelbarer Nähe kennenzulernen.« Wenzel Holek, »Zur Diskussion über Aufgaben und Ziele der Settlements«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 11–16, hier S. 13.

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werlessness« gezeigt, dass das vorübergehende Eintauchen bürgerlicher Beobachter in die Lebenswelten der unteren Schichten vielfach auch die Funktion erfüllte, eine emotionale Identifikation zu etablieren, die – als sincere surplus feeling – die eigene soziale Identität stärkt, ohne dabei auf strukturelle Veränderungen zu zielen. »Instead of facing the pain of the other as the pain of the other, the dominant-class subject looks within to locate it in himself.«91 Obwohl sich Betenskys Studie auf einen anderen Zusammenhang bezieht, ist sie im Hinblick auf die SAG aufschlussreich. Sie macht noch einmal darauf aufmerksam, dass gerade dort, wo es am meisten um die Empathie für »die anderen« geht, auch die Problematik der eigenen sozialen Identität am stärksten hervortritt. Im persönlichen Nachvollziehen des »pain of the other« wird ein Spiel der Emotionen und Interessen sichtbar, das empathische und selbstbezogene Züge kombiniert. Vor allem aber zeigt Betensky, wie schon Robert Michels, dass mit dem Anspruch, die »Not wirklich zu teilen«, ganz bestimmte symbolische Werte verbunden waren. Das für die gesamte Settlementbewegung zentrale Motiv, weder durch administrative Hilfe noch durch politische Parteinahme, sondern nur über den eigenen Einsatz vor Ort – durch eine »radikale Tat«92 – in die Verhältnisse einzugreifen, wird als Strategie kenntlich, durch authentische Erfahrungen die eigene Position zu legitimieren. Wenn sich also Walther Classen »die letzte Berührung mit der Mutter-Erde, d.h. mit dem handarbeitenden Volkstum […] in der Wirklichkeit«93 wünschte, dann lässt diese Formulierung ahnen, welche enormen symbolischen Effekte mit dieser »Berührung der Mutter-Erde« verbunden waren, mit der erfahrungsbildenden Berührung einer »Wirklichkeit«, die nur auf dem Weg über das »handarbeitende Volkstum« möglich schien. Betensky zeigt, wie diese Form der Erfahrungsaneignung mit einem Ausschluss des Anderen einhergeht. Durch die Reklamation einer echten Innenperspektive und einer totalen Immersion ins Volk wird nämlich vor allem die bürgerliche Sprechposition gestärkt: »the dominant class lays claim to the ›experience‹ of the dominated and incorporates it into the bourgeois repertoire.«94 Eine solche Aneignung der immensen symbolischen Werte, die mit der Nähe zum

—————— 91 Betensky, »Princes as Paupers«, S. 152. 92 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 179. 93 Walther Classen an Friedrich Siegmund-Schultze, 5. Mai 1923, in: EZA 626/233. 94 Betensky, »Princes as Paupers«, S. 152.

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Volk verbunden sind, macht den Kern bürgerlicher Strategien der »Volksfreundschaft« aus. »The voluntary and heroic submission of the bourgeois subject«95 eröffnet den Raum für die Selbstinszenierung und Selbstpositionierung der sozialen Missionare. Die durch das Wohnen der SAGler im Arbeiterviertel ermöglichte persönliche Identifikation mit den Anderen ist aus dieser Perspektive also auch als spezifische Form von Selbstermächtigung zu lesen.96 SiegmundSchultze bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt, wenn er 1918 schreibt: »Die Höherstehenden verzichten auf alle Vorrechte und übernehmen damit die geistige Führung im Volke.«97 Deutlich wie selten ist hier benannt, welchen Anspruch die Settlementmitarbeiter letztlich aus ihrer Expedition ableiteten: den Anspruch nämlich, sich gerade durch das »demütige Herabsteigen« und den Totaleinsatz für die anderen die Kompetenz und das Recht zur »geistigen Führung« zu erwerben. In seinen Ausführungen zum »Elitenproblem« hat Arnold Gehlen nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die asketische Haltung des Verzichts als eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimität von Eliteansprüchen verstanden werden muss: »Eine Minorität hat offenbar nur dann die Chance, eine Elite, gleich welcher Art, zu werden, wenn sie sich innerlich davon frei gemacht hat, ihre Wünsche an die traditionellen Vorbildschemata zu hängen. […] Ein Eliteanspruch muß also stets durch eine Askeseforderung legitimiert sein, oder er dringt nicht durch.«98 Für die Analyse des sozialen Engagements der SAG ist diese Einsicht entscheidend: Ihr Reformansatz vereinte demütige »Nächstenliebe« mit bürgerlichen Führungsansprüchen, die ernsthafte Suche nach dem »wirklichen Leben« mit bürgerlicher Kulturmission. Gerade diese Kombination an sich heterogener Motive war es, mit der das reformorientierte deutsche Bildungsbürgertum die eigene soziale Position mit universellen und »authentischen« Werten anzureichern und damit sich selbst neu als Führungsschicht zu definieren versuchte. Damit aber erweist sich die »imagination of powerlessness« paradoxerweise als eine Denkfigur,

—————— 95 Ebd., S. 151. 96 Siegfried Mattl hat am Beispiel Max Winters darauf hingewiesen, dass die Sozialreporta-

ge »durch die Figur des souveränen Reporters auch Methoden des Kontrollzugewinns« und »die flexiblen Eigenschaften des Elends als Thema der Literatur« aufzeigt. Demnach muss die Allianz des Reporters mit dem Elend nicht zuletzt im Zusammenhang mit staatlichen Zugriffstechniken betrachtet werden. Mattl, »Das wirkliche Leben«, S. 114. 97 Friedrich Siegmund-Schultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2 (April/ Mai 1918), S. 1–4, hier S. 1. 98 Gehlen, »Das Elitenproblem«, S. 108.

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in der sich kulturelle Hegemonie artikuliert: Herrschaft im »Reich des Geistes« wird zum logischen Komplement der Machtlosigkeit.

Der Arbeiter als »einfacher, bedeutender Mensch« In den emphatischen Beschreibungen ihrer Sehnsucht nach der »nacktesten Wirklichkeit« lassen die Siedler ahnen, dass der Arbeiter für sie nicht nur Teil einer stumpfen und degenerierten Masse, sondern durchaus auch eine anziehende Figur war. Der oben bereits zitierte Heilbronner Theologe, der als Jugendpfleger im Hamburger Volksheim mitgearbeitet hatte, berichtet von dem »Zauberschlag«, der ihm dort durch den »erfrischenden Anblick der urwüchsigen jungen Menschenkinder« versetzt worden sei.99 Das engere Zusammensein mit Hafenarbeitern oder Lehrlingen hätte ihm »tiefere Blicke in den Volksgeist und das Volksgemüt als je zuvor« ermöglicht.100 Ein weiterer Volksheimmitarbeiter hat in einem stimmungsvollen Text das durch und durch romantische Arbeiterbild beschrieben, das sich viele jugendbewegte Kulturreformer als Projektion ihrer Zukunftshoffnungen zurecht gelegt hatten: »Im Anblick der düsteren Silhouette der Großstadt, die sich vor unseren Dachfenstern weithin am abendlichen Horizonte abhob, fühlten wir ›Mut zur neuen Zeit‹ und Begeisterung für das Gewaltige des modernen Arbeiterlebens.«101 Und er fügte das selbstkritische Geständnis hinzu: »Weil es uns ästhetisch und intellektuell befriedigte, waren wir ›sozial‹, wir fühlten uns damit im Besitz der Parole der Jugend.«102 Angesichts solcher hohen Erwartungen musste die »wirkliche Wirklichkeit« im Arbeiterviertel enttäuschen, wie die folgende bemerkenswerte Passage zeigt: »Zwar entsprach der feuchte Keller, in dem damals das Volksheim hauste, durchaus unseren merkwürdig rauhen Ansprüchen an Volkstümlichkeit. Aber die Menschen, die dort ein- und ausgingen, die waren offenbar nicht die ›richtigen‹! Ich kann nicht genau sagen, was eigentlich ich an ihnen vermißte. Vermutlich den Zug zum Elementaren, Derben, Grandios-Groben, den wir mit unseren Vorstellungen vom Arbeiterleben zu verbinden pflegten. Seitdem wir uns für Constantin Meunier begeisterten, stellten wir ja in dieser Hinsicht gewisse Mindestforderungen an die Er-

—————— 99 O. G., »Was das Volksheim für mich bedeutet?« In: Das Volksheim in Hamburg. Bericht

über das sechste Geschäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 7–10, hier S. 7. 100 Ebd., S. 8–9. 101 M., »An einen gelehrten Freund«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das sechste Ge-

schäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 25–32, hier S. 25. 102 Ebd., S. 26.

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scheinung des modernen Arbeiters. […] Vergeblich suchte ich in den Gesichtern des herben Trotz des selbstbewußten Proletariers, vergeblich nur einen Hauch jenes aufgährenden Geistes, der unserer Meinung nach in jedem Arbeiter lebte. Gerade auf diesen Geist hatte ich mich ja gerüstet, ich brannte, mit ihm zusammenzustoßen, seine Flammen in nächster Nähe zu sehen! […] Daß wir – nebenbei bemerkt – durch unsere Einsicht in die Psyche der Arbeiterbewegung […] das Zeug dazu hätten, gerade den ›Arbeiter‹ richtig zu nehmen, vielleicht sogar zu packen, darüber waren wir ja nicht im Zweifel.«103

Beispielhaft wird in diesem Text deutlich, was einige Settlementmitarbeiter – in Hamburg wie in Berlin-Ost – von ihrer Arbeiterklientel erwarteten: Sie suchten geradezu nach einem Typus, der im Hinblick auf ihr eigenes pathetisches Programm anschlussfähig war.104 Im Sinne von »Aufbruch und Abenteuer« wollten sie mit einem »aufgährenden Geist« zusammenstoßen und sich selbst als Führungspersönlichkeit ausprobieren, die den Arbeiter »packen« könne. Tatsächlich zeigte sich auch Friedrich Siegmund-Schultze immer wieder von der »Geschlossenheit und Festigkeit von Arbeitertypen« fasziniert,105 die einem primitivistischen Bild entsprachen. In einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Freundschaft mit Arbeitern« erzählte er 1916 von seiner Begegnung mit »Freund Schwalbe«, einem Berliner Holzarbeiter, den er vom Männerabend der SAG her kannte. »Das war wirklich ein Prachtmensch. Bombenstark. Streitlustig. Redegewaltig. Klotziggrob. Auch in der Unterhaltung manchmal wie ein Ungewitter.«106 Es ist aufschlussreich, wie Siegmund-Schultze in diesem Text seine Freundschaft mit dem Arbeiter Schwalbe in Szene setzt: »Die Zartheit der wachsenden Freundschaft hatte bei diesem kraftstrotzenden Holzarbeiter etwas geradezu Rührendes.«107 Schwalbe wird als ein handwerkliches »Universalgenie« vorgestellt, der aber innerhalb seiner Familie als gnadenloser Tyrann auftrat. Seine Frau schlug er regelmäßig, »bis sie wieder einen blutigen Kopf« hatte, und »wenn dieser wuchtige Kerl, unangekränkelt von der Nervosität der Zeit, seinen Bierkrug ansetzte, wer wollte ihm dann in den Arm fallen mit

—————— 103 Ebd., S. 27–28. Der Autor fügt noch den bemerkenswerten Kommentar hinzu: »Daß ich

mich, von solchen Empfindungen geleitet, für den weiblichen Teil und die Jugend des Volksheimpublikums nicht sonderlich interessierte, ist wohl erklärlich.« Ebd., S. 28. 104 Zum monumentalen Arbeiter-Typus nach Meunier vgl. auch Thiel, »Von Meuniers ›Mensch der Zukunft‹«, S. 63–66. Siehe auch die dort angegebene umfangreiche Literatur zu Meunier und seinen Arbeiterdarstellungen. 105 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 288. 106 Siegmund-Schultze, »Freundschaft mit Arbeitern«, S. 219. 107 Ebd.

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der Behauptung, das könne ihm schaden!«108 Wenn er Fragen stellte, dann waren es keine Fragen, »wie sie so das gesellschaftliche Leben unserer ›gebildeten Schicht‹ ergibt, sondern wuchtige Arbeiterfragen«.109 Alles in allem: Schwalbe war der Prototyp eines selbstbewußten »Proletariers«, wie ihn sich der Heilbronner Theologe O. G. gewünscht hatte und im Hamburger Hafen nicht finden konnte. Zugleich aber – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – war Schwalbe eben deshalb ein »Prachtmensch« und ein »echter Freund«, weil er Siegmund-Schultzes Position nicht in Frage stellte: Denn »es gab Fragen, in denen er meine Autorität anerkannte«.110 Damit wurde Schwalbe zu einer Figur, die bei aller Roheit und Widerständigkeit perfekt in das Programm gegenseitiger Erziehung zwischen Bildungsbürgern und Arbeitern passte: »Er hat um die neue Weltanschauung, die den Arbeitern werden muß, gerungen.«111 Und in Verbindung mit diesem »Ringen« werden Roheit und Widerständigkeit aufgewertet: Sie erscheinen nicht mehr als Defizit, sondern als ungeschminkte Natur, als Elemente von Authentizität. In einem anonymen Text über die soziale Arbeit im Settlement heißt es: »Wenn man einmal die Frage: Wie leben die Menschen hier in Berlin-Ost trotz aller Not? gestellt hat, und man findet die Antwort: ›Heroisch‹, dann hat man Berlin-Ost lieb.«112 In Arbeitertypen wie Schwalbe und im Alltag des Berliner Ostens generell sah man ein »schlichtes Heldentum des täglichen Lebens«.113 Diese Rede vom »Heroischen« dokumentiert die oben genannten »merkwürdig rauhen Ansprüche an Volkstümlichkeit« und einen sozialromantischen Blick auf die Arbeiterschaft, wie wir ihn bei vielen SAGlern finden. In seinem Bericht über Erich Kocke teilt SiegmundSchultze mit, im Umkreis der SAG gebe es Arbeiter, »zu denen unsere Mitarbeiter aufschauen als zu Männern, die trotz aller Schwierigkeiten das Leben sieghaft meistern«.114 1922 heißt es dann, im »täglichen Verkehr« zwischen Akademikern und Arbeitern werde »die Gestalt des Arbeiters erst deutlich für den ge- und verbildeten Menschen: jener ist nicht der stets

—————— 108 Ebd., S. 221. 109 Ebd., S. 224. 110 Ebd., S. 221. 111 Ebd., S. 228. 112 Manuskript »Ein Jahr SAG! Ein Jahr Berlin-Ost!« In: EZA 51/S II e 5. 113 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die früheren Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 27

(September 1932), S. 1–2, hier S. 1. 114 Friedrich Siegmund-Schultze, »Erich Kocke (III)«, in: ASM 5. Jg. Heft 2 (Mai 1921),

S. 19–27, hier S. 27.

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hassende, streikende, organisierte, klassenkämpfende, wie ihn die bürgerliche Presse schildert; überhaupt nicht der fremde Mensch. Im Gegenteil: er ist der einfache, fleißige, bedeutende Mensch, der jedem kernhaften Menschen im Grunde viel näher steht als der durch Wissen und soziale Bildung verrenkte und komplizierte Frack-Europäer.«115 Paul Nolte hat gezeigt, wie der Arbeiter in der Weimarer Republik zu einem Idealtyp und einer »Metapher für die Einheit des Volkes« gemacht wurde – diese »Universalisierung des Proletariats« spiegelte die gesellschaftliche Situation der Zeit, vor allem aber die Agonie des klassischen Bürgertums und dessen Suche nach Leitbildern, welche die eigenen Werte transportieren konnten.116 In Büchern wie Ernst Jüngers »Arbeiter« kulminierte diese Sichtweise, in der sich – so Nolte – »die Selbstkritik des Bürgertums mit einer Haßliebe auf seinen sozialen Widerpart verknüpfte«.117 Zu einem solchen »klassentranszendierenden Sozialtypus«118 aber konnte der Arbeiter nur im Rahmen eines genuin bildungsbürgerlichen Deutungsmusters werden: Die einschlägigen Formulierungen aus der SAG machen vor allem deutlich, dass die »Gestalt des Arbeiters« als eine argumentative Stütze bürgerlicher Bildungskritik fungierte, als ein Reservoir für Authentizitätswerte, die im innerbürgerlichen Kampf um kulturelle Leitbilder benötigt wurden. In der nunmehr positiv aufgeladenen »Gestalt des Arbeiters« spiegelten sich die Werte und alternativkulturellen Selbstentwürfe bürgerlicher Dissidenten: Die »schlichten, unverfälschten Berliner des Ostens«119 standen für den »einfachen« und »echten«, den »bedeutenden« und »kernhaften« Menschen, der das Ideal der bürgerlichen Reformbewegungen bildete; hier suchte und fand man den »echten Freund«, der wie Wenzel Holek, Erich Kocke oder der Holzarbeiter Schwalbe zur Idee klassenübergreifender Gemeinschaft stand. All diese Charakterisierungen folgen der kulturellen Leitfigur des »neuen Menschen« im Sinne der »Gebildetenrevolte« nach 1900.120 Sie erfüllen das »Postulat der Materialechtheit«, das Oswald Brüll als einen Grundzug des modernen Intellektualismus gekennzeichnet hat und das insbesondere den Zugang der bürgerlichen Reformbewegungen auf den Punkt bringt.121 »Materialechtheit« wurde denn auch von den Mitarbeitern der SAG verlangt, wie es

—————— 115 Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«, S. 354. 116 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 92-95. 117 Ebd., S. 94. 118 Ebd., S. 95. 119 Jannasch, Pädagogische Existenz, S. 271. 120 Vgl. dazu Küenzlen, Der neue Mensch. 121 Brüll, »Die Erprobung der Intellektuellen«, S. 75.

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bei einem Diskutanten der Arbeitstagung von 1919 anklingt: »Wir aus der Jugendbewegung verlangen restlose Opferbereitschaft. […] Wir selbst müssen Proletarier werden, wenn wir den Proletariern helfen wollen, müssen uns wie Gleichgeordnete an seine Seite stellen, müssen für uns selbst auf alle Bequemlichkeiten verzichten. […] Zu solcher Tat bereite Menschen sind die Herben, Unerbittlichen, denen es ernst ist um das Opfer, die Seite an Seite mit dem handarbeitenden Bruder stehen wollen und müssen.«122 Bei alledem wurde die klassenübergreifende Gemeinschaft aber auch als eine Rückkehr zur Naivität gedeutet. Paul Natorp zufolge war »im Arbeiter […] Gott sei Dank noch ein Stück Naivität lebendig«.123 Ganz ähnlich sah auch der Hamburger Volksheimmitarbeiter Ludwig Heitmann »in den aufstrebenden Schichten unserer Vorstadtbevölkerung […] etwas Jugendfrisches, Unverdorbenes, Naturhaftes uns entgegensprudeln. Eben dies ist es, zu dem wir uns immer wieder hingezogen fühlen.«124 Hier zeigen sich die sozialromantischen Züge der Settlementarbeit. »Naivität« und »Wurzelhaftigkeit«125 der Arbeiterschaft fungierten als Werte, auf denen die imaginierte Volksgemeinschaft der Zukunft errichtet werden sollte. Nach Rolf Lindner ist das Konzept des »Naiven« und »Einfachen« ein Schlüssel für das Verständnis des kulturellen Exotismus und der Suche nach »Wirklichkeit«, weil er gerade »den Gegenpol zum Schlüsselwort der modernen Zivilisation, pretence, Verstellung und äußerer Schein, bildet«.126 Bei der bürgerlichen Suche nach dem »Einfachen« diente der romantisierte Arbeiter als Projektionsfläche bestimmter Vorstellungen. In einer erstaunlichen und geradezu konstruktivistischen Wendung hat Paul Natorp selbst auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Das Programm, »sich von dem Arbeiter erziehen [zu] lassen« beziehe sich nämlich nicht auf »jeden beliebigen Arbeiter, dem wir begegnen, sondern den Arbeiter in der Idee. […] Wir kommen nicht weit mit dem, was uns gerade vor Augen ist, sondern müssen immer auf

—————— 122 Zit. nach den Diskussionsprotokollen in: »Die Arbeitskonferenz der Sozialen Arbeitsge-

meinschaft Berlin-Ost vom 16.–19. September 1919«, S. 17–49, hier 39–40. 123 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1

(April 1921), S. 1–7, hier S. 2. 124 Ludwig Heitmann, »Die Wandlungen des sozialen Gedankens unter dem Einfluß der

Revolution«, in: Das Volksheim. Mitteilungen des Hamburger Volksheims, erschienen im November 1919, S. 157–166, hier S. 161. 125 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1 (April 1921), S. 1–7, hier S. 3. 126 Lindner, »Wer wird Ethnograph«, S. 102.

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die Idee zurückgreifen.«127 Für die SAG-Mitarbeiter, die »von dem Arbeiter etwas lernen wollten«, wurde dieser also zu einem »Symbolsubjekt«, das als Träger ganz bestimmter Werte fungierte.128 Diese Werte waren notwendig komplementär zu den Werten ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und ihrer vorgezeichneten beruflichen Laufbahn. Gerade in der Unvoreingenommenheit, die sich in dem Wunsch ausdrückt, die »nackte« Wirklichkeit kennen lernen zu wollen, wie sie »tatsächlich« ist, kommt also eine spezifische Erwartungshaltung der Bildungsbürger zum Vorschein: Denn ihr Wunsch nach »ungeschminkter Wirklichkeit« ist von einem ganz bestimmten sozialen Standort aus formuliert, in ihm artikuliert sich eine Sehnsucht nach Komplementärerfahrung, nach dem, was eben »anders« ist. Auf diese Weise schleicht sich gleichsam durch die Hintertür eine authentifizierende Denkfigur ein: Gerade die Unvoreingenommenheit erweist sich letztlich wieder als eine Form von Voreingenommenheit. So ist die Suche nach Authentizität nur denkbar als der Versuch einer »Selbstfindung durch den anderen«,129 bei der vom anderen erwartet wird, dass er authentische Erfahrungen liefert. Und wie so oft bestimmt die innere Logik der Suche all das mit, was gefunden wird.

»Mit zum Volk gehören!« Eine Studentin in der Schraubenfabrik Für das geradezu schwärmerisch positive Arbeiterbild und die identifikatorische Haltung vieler SAG-Mitarbeiter ist ein längerer Bericht charakteristisch, den die Studentin Lisel Disselnkötter während des Ersten Weltkriegs angefertigt hat. Zusammen mit einer anderen Studentin arbeitete sie vier Monate lang in einer Metallschraubenfabrik im hessischen Offenbach. Für den tatsächlichen Kontakt zwischen Bildungsbürgern und Arbeitern im Rahmen der SAG sind diese Aufzeichnungen kaum repräsentativ. Allerdings verraten sie einiges über die spezifische Befriedigung, die Akademiker aus ihren Entdeckungsreisen ins Leben der unteren Schichten und aus der Freundschaft mit Vertretern des »einfachen Volkes« zogen. So ist der zeitweilige Fabrikaufenthalt der SAG-Studentin einerseits als soziales

—————— 127 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1

(April 1921), S. 1–7, hier S. 2. 128 Den Begriff »Symbolsubjekt« übernehme ich von Lindner, »Arbeiterkultur und Authen-

tizität«, S. 76. 129 Vgl. Koepping, »Authentizität als Selbstfindung durch den anderen«.

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Abenteuer und lustvolle »Ersatz-Abweichung«,130 andererseits als ebenso lustvolle, romantische Immersion in das zu lesen, was die zeitgenössischen Volkskundler als »vulgus in populo«, das »Elementare« oder die »Volksseele« bezeichnet haben.131 Bezeichnend ist schon der begeisterte Tonfall, mit dem der Bericht beginnt: »Wenn ich nur alles so recht erzählen könnte, wenn ich nur etwas wiedergeben könnte von dem herrlichen, tiefen Gefühl, das jeden Tag reich machte: Mit zum Volk zu gehören! Da war kein breiter Graben mehr zu überspannen, keine Kluft mehr zu überbrücken, ich stand nicht allein auf einer Seite, nein, ich gehörte nun ganz und gar mit zu den Vielen, Vielen, zu den Massen, die alltäglich beim Morgengrauen in die riesigen Fabriktore einströmten, und wie glücklich war ich, dass ich zu ihnen gehören durfte. […] Vielleicht war es die reichste, innerlichste Zeit meines Lebens, jedenfalls eine Steigerung von Berlin-Ost, wie ich sie mir schöner gar nicht denken könnte.«132

»Ganz und gar« mit zu den »Massen« zu gehören – diese Erfahrung der communitas war für eine ganze Reihe bürgerlicher »down-and-outers«133 ein zentraler Topos.134 Der – im Übrigen durchaus ungewöhnliche – Werkstudent Alexander Graf Stenbock-Fermor machte diese Erfahrung ebenso wie die völkische Schriftstellerin Maria Kahle,135 und schon bei Jack London finden wir die Beschwörung des »Einsseins mit der Masse«: »Als ich endlich nach East End gelangte, stellte ich erfreut fest, dass die Angst vor der Masse mich verlassen hatte. Jetzt gehörte ich selbst zur Masse. Das unermessliche, übelriechende Meer war über meinem Kopf zusammengeschlagen, oder ich war sanft hinein geglitten, und es hatte nichts Fürchterliches an sich.«136 Wer diesen Initiationsritus einmal überstanden hatte, dem standen neue Erfahrungen offen, die als ungeheuer befreiend erlebt werden konnten. Von hier aus erschloss sich erst die Faszination des neuen Ortes und seiner Menschen, wie in Disselnkötters Bericht deutlich wird:

—————— 130 Vgl. Lindner, »Wer wird Ethnograph?«, S. 104–106. 131 Zum fachgeschichtlichen Kontext dieser Begriffe vgl. die prägnanten Zusammenfassun-

gen Jeggle, »Volkskunde im 20. Jahrhundert«; Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, S. 57–65; Weber-Kellermann/Bimmer/Becker, Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie, S. 80–106. 132 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 1, in: EZA 626/II 20,6. 133 So die Formulierung von Pittenger, »A World of Difference«, S. 40, die er vermutlich von Cecil Fairfield Lavells Feldbericht mit dem Titel Letters of a Down-and-Out übernommen hat. 134 Vgl. Lindner, »Ganz unten«, S. 24. 135 Vgl. dazu Wietschorke, »Entdeckungsreisen in die Fabrik«. 136 Jack London 1902, zit. nach Lindner, »Ganz unten«, S. 24.

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»Das war gleich so herrlich, als ich am ersten Tag in die Fabrik kam, in einen großen Lärm und Staub erfüllten Maschinensaal, voll hastender, schaffender Menschen, da überkam mich so ein wunderbares Glücksgefühl: So drehen sich hier also Tag und Nacht die Räder und Spindeln und all diese Menschen lassen ihre Maschine und Arbeit nicht im Stich, sie schaffen mit alles Hingebung und können noch lächeln – und ich sah gleich ein paar Gesichter, denen man Herz und Charakter anfühlte – das ist also unser Volk. Ich habe dann 4 Monate lang mit Leib und Seele ganz zu diesem Volk gehört und fühle mich noch immer zugehörig und dort in den lärmenden Maschinensälen eng und ewig beheimatet.«137

Die bürgerliche Herkunft der beiden neuen Kolleginnen war den Arbeiterinnen und Arbeitern der Schraubenfabrik bald bekannt, und gerade diese Offenheit war Disselnkötter »tausendmal lieber, als die Rolle eines Dienstmädchens spielen und ständig vor dem Sich-Verraten Angst haben zu müssen«.138 Damit setzte sie sich ab von anderen »Feldforschern« der SAG, die sich dem fremden Milieu lieber in einer Inkognito-Beobachterhaltung näherten.139 Mit den Arbeiterinnen, die die Studentinnen bei ihrer Arbeit an der Drehbank und in der Kontrollabteilung näher kennenlernten, ergaben sich immer wieder Gespräche über Alltagsfragen, wobei Disselnkötter ganz besonders die geschmacklichen Differenzen hervorhebt, die dabei zutage traten – etwa, als ihr ein Buch mit dem Titel Ein Frühlingstraum geborgt wurde, das sie für »ganz schauderhaft sentimentales Zeug« hielt. Die »mühsam zurechtgelegten Gründe«, die die Studentin gegen das Buch vorbrachte, seien aber von den Arbeiterinnen sicher nicht verstanden worden; ebenso erging es ihr mit dem Geschmacksurteil über eine Reihe von bunten Karten, die »griechisch kostümierte schmachtende Liebespaare« zeigten und die die Arbeiterinnen »einwandfrei für ›scheen‹« erklärten: »Da wusste ich mir einfach nicht zu helfen, was soll man da denn nur sagen?«140 Solche Episoden dienten nicht zuletzt einer ostentativen kulturellen Grenzziehung zwischen gutem und schlechtem Geschmack und verwiesen damit auf die Naivität der Arbeiterinnen, die für die bürgerliche Beobachterin aber gerade etwas Liebenswertes an sich hatte. So heißt es über den Kontakt zu den Arbeiterinnen generell: »Mit einigen von ihnen waren wir bald angefreundet und unser Verhältnis war so furchtbar nett, so herzlich und voller Vertrauen, wie ich’s gar nicht beschreiben

—————— 137 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 2, in: EZA 626/II 20,6. 138 Ebd. 139 Vgl. dazu Kapitel 6. 140 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 6–7, in: EZA 626/II 20,6.

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kann. Gleich vom ersten Tage an war ich ganz überwältigt und gerührt, wie hilfsbereit sie alle waren. […] Es klingt vielleicht anmassend, wenn ich das sage, aber ich bin so felsenfest davon durchdrungen, dass man die Fabrik überhaupt nicht schöner erleben kann, nicht tiefer und glücklich machender, als es mir geschenkt worden ist.«141

Der gesamte Fabrikbericht lebt denn auch von der Begeisterung über die Wesensart der »einfachen Leute«. Die Schlosser hatten »lauter gescheite und scharfe Gesichter«, und im allgemeinen hatte die Studentin angesichts der in der Fabrik geleisteten Arbeit »ein Gefühl grenzenloser Hochachtung und Bewunderung«.142 Selbst die Sozialdemokraten, deren Zahl sie mit 200 bis 250 unter circa 1.000 Arbeitern insgesamt angibt, seien dort stets »ruhig-vernünftig« geblieben und hätten während der Streiks in Offenbach kein einziges Flugblatt verteilt.143 Besonders hatte die Studentin eine junge Arbeiterin namens Line ins Herz geschlossen, die sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnete. Disselnkötter fand sie zunächst »entsetzlich schmutzig [!], aber klug«, wobei sie allerdings ihre politische Haltung offenbar wenig ernst nahm, vielleicht auch wenig ernst nehmen konnte: »Ich durfte mal ihre ›Parteigedichte‹ lesen, die waren rasend komisch, aber hie und da sehr tiefe Gedanken.« Im Kontakt zu Line, so wie er im Bericht beschrieben wird, schlägt ganz besonders das SAG-Motiv der »inneren Hebung« durch, die Vorbildwirkung, die sich die bürgerlichen Missionare im Arbeitermilieu so gern selbst zuschrieben. »Was diese Line mich alles gefragt hat und was wir alles besprochen haben, das ist fabelhaft. […] Das weiss ich auch ganz bestimmt, dass ich dieser Line etwas gewesen bin, im Anfang, als wir da waren, konnte sie oft noch so schmierig lachen und so eklig mit den Jungens anbandeln, und dann wurde sie von Woche zu Woche netter, und jetzt schreibt sie uns so furchtbar liebe Briefe.«144 Ganz deutlich scheint hier das Zivilisierungsmodell der SAG durch, das die Stufenleiter vom »schmierigen und ekligen« bis hin zum »netten und lieben« Sozialverhalten vorgibt und dessen zentraler Impulsgeber der bürgerliche Helfer aus einer besseren Welt ist. Dieses Beispiel kann freilich vor allem deshalb so genüsslich erzählt werden, weil hier die Anerkennung und Bestätigung der bildungsbürgerlichen Identität von seiten der Arbeiterschaft ständig mitgeliefert wird, etwa in folgender Aussage der Arbei-

—————— 141 Ebd., S. 7. 142 Ebd., S. 9. 143 Ebd., S. 13. 144 Ebd., S. 14.

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terin Line: »Ach Lisel, ich könnt Ihne ewig zuhöre, wenn Sie sich unterhalte, ich kann mir nix lieberes in der Welt denke, und grad über lauter so Sache.«145 Und auch der »Fabrikheiratsantrag«, den die Studentin von einem Arbeiter erhielt und von dem sie mit unverhohlenem Stolz berichtet, dokumentiert, wenn auch in ganz eigener Weise, die Anerkennung der Akademikerin im Arbeitermilieu.146 Genau in diesem Motiv liegt ein Schlüssel zum Verständnis ihrer Begeisterung. Denn hier tritt klar zutage, dass die Freude, »mit zum Volk zu gehören«, nicht zuletzt an eine ganz spezifische Bestätigung der sozialen Position der »Gebildeten« gebunden war. Besonders deutlich zeigt das die Begegnung der Studentin mit dem Meister H., der – wie berichtet wird – sich vom einfachen Arbeiter zum Meister und Teilproduktionsleiter hochgearbeitet hatte, den sie bewunderte und für den sie beinahe sogar »geschwärmt« habe. H. war, so könnte man leicht ironisierend sagen, ein Prachtexemplar des »edlen Arbeiters«, sozusagen das Pendant zum »edlen Wilden« der frühen Ethnologie: »Wunderschöne dunkle Augen hat er unter einer prachtvollen hohen Stirn; ich wusste es gleich, das ist der allernetteste Mann in der Fabrik, ein Mensch im tiefsten Sinn. Es klingt so lächerlich pathetisch, aber ich musste ihm in Gedanken immer das Prädikat ›Anmut und Würde‹ beilegen.«147 H. war nun nicht nur ein wahrer Meister seines Fachs, der durch die praktische Art, die Produktion im Griff zu haben, beeindruckte, sondern er zeigte sich auch besonders aufgeschlossen für das Anliegen der Studentin im Sinne der SAG. Einmal habe er zu ihr gesagt: »Als ich gehört hab, da wären 2 Studentinnen, 2 gebildete Froileins in unsern Betrieb neingekommen, da hab ich mich so arg gefreut, des kann ich Ihne gar net sage, dass mal jemand von dene Gebildete zu uns verachtete Arbeiter sich herablasse und unsere Arbeit mitmachte [sic]!«148 Disselnkötter ihrerseits »war so begeistert davon, wie die Leute solche SAG-Gedanken vorbrachten«, dass sie »gar nicht anders konnte als von Berlin-Ost erzählen. Wären wir nur noch länger dageblieben, wieviel Pläne hatten wir noch! Gemeinsame Sonntagsspaziergänge, ein Leseabend, Liederabende mit den Mädchen – beglückend schöne Aussichten. Mir ist ja noch nie ein Abschied so schwer gefallen wie

—————— 145 Ebd., S. 16. 146 Ebd., S. 18. 147 Ebd., S. 10–11. 148 Ebd., S. 8.

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der aus der Fabrik.«149 Die Art und Weise nun, in der der Meister H. auf diese »beglückend schönen Aussichten« einging, lieferte der Studentin die wohl beste Bestätigung ihrer eigenen Rolle als SAGlerin: »Des wär doch scheen und so müsst es sein, dass so an irgend einem Abend in der Woche die Gebildete mit dene Arbeiter sich gemütlich zusammensetzte, und denn dürfte wir frage, und die würden uns was abgeben von ihrem Wissen.«150 Was also den Meister H. zu einem »Menschen im tiefsten Sinn« machte, das war nicht zuletzt die Akzeptanz sozialer und kultureller Hierarchien, wie sie in seinen Formulierungen greifbar wird: »Die würden uns was abgeben von ihrem Wissen.« In diesem Sinne könnte man sagen, dass gerade die Annerkennung des Bildungsgefälles – das ursprünglich geradezu eine raison d’être der SAG war – durch die Arbeiter der Schraubenfabrik die identifikatorische Emphase der Studentin ermöglichte: Denn hier schien ein Eintauchen ins Volk möglich, das die eigene Position nicht in Gefahr brachte, ein imaginärer Schulterschluss mit einer durch und durch edlen und respektablen Arbeiterschaft, bei dem sich die Irritationen auf einige wenige Geschmacksfragen beschränkten. In dieser Form war das Leben »down and out« eine zeitweilige Praxis, welche die Identität der bürgerlichen Entdeckungsreisenden stützte, wie Carolyn Betensky prägnant schreibt: »In short, it offers them a different way of being themselves – without ceasing to be themselves.«151 Auf diese Weise also geriet Disselnkötter in Offenbach in eine paradigmatische Versuchsanordnung im Sinne der SAG hinein, traf sie auf Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf die klassenübergreifende Arbeitsgemeinschaft nur gewartet zu haben schienen und die sie ohne Umschweife und nahezu reibungslos als Führungspersönlichkeit anerkannten. H. wurde für sie zu einem Symbolsubjekt par excellence, zum überhöhten Idealfall einer »Wirklichkeit«, wie sie genau ins Konzept der Bildungsbürger passte, zur Essenz des Volkes im Sinne der Kulturreformer. Freilich erinnern H.s Formulierungen so sehr an den Überbrückungsgedanken der SAG, dass die Zitate fast schon verdächtig erscheinen. Und auch die Abschiedsszene ist so märchenhaft, dass man kaum glauben möchte, es sei wirklich so und nicht anders zugegangen. Auf jeden Fall aber präsentiert diese Szene ein »einfaches Volk«, das voll und ganz nach dem Geschmack der akademischen Arbeiterfreunde war:

—————— 149 Ebd., S. 12. 150 Ebd. 151 Betensky, »Princes as Paupers«, S. 150.

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»Man kann es gar nicht schön genug erzählen. Am vorletzten Morgen rief mich plötzlich das Sannchen von meiner Maschine weg nach hinten, ich sollte ›bei die Marie‹ kommen. […] Und als ich nun zur Marie komme, erstaunt, was sie wohl von mir will, da kommt von hinten die Käthe, in jeder Hand ein braunes Paket: ›So, jetzt horcht amol, ihr Zwa; wir Mädchen hier, wir wolle Euch zum ewigen Andenken das hier schenken, dass Ihr uns auch gar net vergesst.‹ Wir standen beide wie versteinert und hätten auch kein Wort sagen können, so stiegen die Tränen hoch. Und da standen alle die lieben Mädchen um uns herum mit selig frohen Augen, sich an unserer Rührung freuend. Nun mahnte die Käthe: ›Na da macht doch mol uff, guckt doch mol was es is’, ob’s Euch gefällt, so, und hier is auch en Gedicht dabei.‹ Da hielten wir beide eine reizend hübsche Schreibtischstanduhr in der Hand und ein ganz rührendes Gedicht, das immerzu von Wiedersehn sprach. Ich hab mich nie in meinem Leben so gefreut, wie über die Uhr, vielleicht können Sie’s ein bisschen nachfühlen. Am andern Tag kamen dann noch Geschenke von 2 Abteilungen und ein sehr kunstvolles Gedicht. […] Unser letzter Nachmittag, an dem wir nicht mehr arbeiteten, sondern herumgingen bei unsern Hunderten Bekannten und Abschied nahmen, war direkt ein Ereignis für die Fabrik. Alle, alle, waren so herzlich, Leute, mit denen man kaum gesprochen, drückten einem die Hand und wünschten uns alles Gute. Sie zeigten alle eine so herzliche Trauer, dass wir nun wieder gingen, dass ›man sich nun nicht mehr so scheen unterhalten könne‹, dass es beinah an meinen Schmerz heranreichte. Aber der war doch grösser. […] Die Mädchen auf der Kontrolle sangen uns noch ein sentimentales Abschiedslied und dann streichelte man nochmal seine Maschine, grüsste die lieben Räume, und zuletzt kam der Abschied von Herrn H. Das war das schönste. ›Ja, es is schad’, dass Sie wieder gehn’ sagte er, ›es war so etwas Aufrichtiges und Menschliches zwischen uns‹.«152

Und als Fazit der vier Monate in der Schraubenfabrik heißt es dann: »Hier fühlte ich mich nun zugehörig, ich liebte diese Menschen, in ihrer Offenheit, Zutraulichkeit, in all ihren guten und schlechten Seiten, hier konnte man sich ganz geben, wie man war, und nun musste ich wieder fort; weniger denn je fühlte ich meine Berufung zum Studium und zur Wissenschaft. […] Nie, nie wieder kommt solche Zeit – nie, nie wieder werde ich so Seite an Seite mit den verachteten Arbeitern im Arbeitskittel stehen.«153

Es ist hier nicht angebracht, die Echtheit der in der Schraubenfabrik entstandenen Freundschaften und die aufrichtige »Liebe zum Volk« anzuzweifeln. Im Gegenteil: Die erzählten Begebenheiten werden sich tatsächlich so oder ähnlich zugetragen haben, mit all den wechselseitigen Sympathien und emotionalen Bindungen, von denen hier die Rede ist. Eben deshalb aber

—————— 152 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 19–20, in: EZA 626/II 20,6. 153 Ebd., S. 20–21.

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interessieren hier die »Rückspiegelungseffekte« des Textes aus der SAG: Weshalb lösten die Freundschaften zu Offenbacher Arbeitern bei der Studentin Disselnkötter eine solche Begeisterung aus? Welche Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen sprechen daraus, wenn sie ganz beseelt schreibt: »Das ist also unser Volk?« Und was bedeutet es, wenn die Fabrik dabei zu einem »Erlebnis« wurde, angesichts dessen sie überzeugt war, »dass man die Fabrik überhaupt nicht schöner erleben kann, nicht tiefer und glücklich machender, als es mir geschenkt worden ist«?154 Einen Schlüssel zum Verständnis dieser Episode liefert die Aussage der SAGlerin: »Hier konnte man sich ganz geben, wie man war.« Denn diese Aussage verweist auf den Kern aller bürgerlichen Vorstellungen von der Authentizität des wirklichen Lebens: die Suche nach dem »Eigentlichen« und einer Unmittelbarkeit abseits der eigenen Sozialisation.155 Allerdings: So sehr die Arbeiterfreundschaft als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Einfachen verstanden werden muss, so sehr wird der Arbeiter in diesem Kontext auch zu einem Medium bürgerlicher Identitätsbildungsprozesse. Wenn es richtig ist, was die Anglistin Diana Fuss in in ihren Identification Papers schreibt – »Identification is the detour through the other that defines a self«,156 dann stecken in »Herz und Charakter«, in der Offenheit und Hingabe der Offenbacher Arbeiterschaft spezifische Wertvorstellungen der SAG-Mitarbeiterin selbst. Dass es dabei eben nicht darum ging, sich »so zu geben wie man war«, wird schon daran deutlich, dass Disselnkötter dezidiert versuchte, alles »einfach und schlicht und möglichst im Offenbacher Dialekt (den zu beherrschen ich bald sehr stolz war)« zu sagen.157 Diese versuchte Anpassung ans Milieu macht schlagartig den symbolischen Stellenwert des Einfachen als Remedium gegen das Komplizierte sichtbar – die besondere Pointe daran ist, dass gerade die bewusste Mimikry, Verstellung und Maskerade, die der Gebrauch des an sich fremden Idioms bedeutet, paradoxerweise als eigenes authentisches Verhalten ausgegeben wird, als Ausdruck dessen, »wie man war«. Und dass die Studentin nach ihrem Fabrikaufenthalt weniger denn je ihre »Berufung« zur Wissenschaft fühlte, ist ein sprechendes Indiz dafür, dass bei dem Spiel der identitären Spiegelung im »Anderen« auch die Abgrenzung von der eigenen Herkunft und von Vertretern der eigenen Klasse entscheidend war. Carolyn Betensky

—————— 154 Ebd., S. 7. 155 Vgl. allgemein dazu: Lindner, »Arbeiterkultur und Authentizität«. 156 Fuss, Identification Papers, S. 2. 157 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 16, in: EZA 626/II 20,6.

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schreibt dazu: »The bourgeois self that seeks to pass for poor defines itself against the bourgeois other, the not-I, the disavowed self – the self that doesn’t care – in a temporary bond with the oppressed other. The dominant other effectively becomes a sort of decoy other who facilitates a narcisstic dialogue.«158 Zu der lustvollen Überschreitung von Klassengrenzen, dem »pleasurable feeling of identity-flux«,159 kommt daher der Effekt einer Solidarisierung mit der Arbeiterschaft, der das Alleinstellungsmerkmal sozial engagierter Bildungsbürger und Kulturmissionare bildet und sich damit immer auch gegen konkurrierende Gruppen bürgerlicher Deutungseliten richtet. Mark Pittenger hat anhand von Beispielen aus der US-amerikanischen Literatur die Frage nach der Formierung bürgerlicher Identität durch die mimetische Annäherung an den proletarischen Alltag aufgeworfen: »In constituting the otherness of the lower classes through directly and ›authentically‹ experiencing their lives, did these investigators establish more firmly their own middle-class, gendered, professional, distinctively ›modern‹ identities?« Und seine Antwort enthält einmal mehr den wichtigen Hinweis auf die Außenseiterrolle der bürgerlichen Entdeckungsreisenden: »Most were old-stock Americans with reason to be uncertain of their social and professional locations in a rapidly-shifting social milieu: journalists with serious literary aspirations, sociologists who sought the cachet of science for their professionalizing discipline, and reformers seeking new modes of social reconciliation in a divided society.«160 Man wird dieser knappen Liste von Motiven der »Arbeiterfreundschaft« weitere Motive hinzufügen müssen – allein schon um die leidenschaftliche Suche nach echten Freundschaften, wie sie aus dem hier vorgestellten Text der SAG-Mitarbeiterin Disselnkötter spricht, ernstzunehmen. Als sicher kann aber gelten, dass die klassenübergreifende Freundschaft auf die spezifische symbolische Ökonomie des Bildungsbürgertums zurückverweist: In den Arbeitern von Offenbach spiegelt sich der Wertekatalog einer neuen Generation von Sozialstudenten und gebildeten Volksfreunden.

—————— 158 Betensky, »Princes as Paupers«, S. 133. 159 Ebd., S. 149. 160 Pittenger, »A World of Difference«, S. 29.

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Volksnähe als symbolische Ressource Im »dunklen Osten« befriedigten die Siedler nicht nur ihre Sehnsucht nach dem »wirklichen« – und das heißt aus ihrer spezifischen Perspektive: nach einem anderen – Leben. Sie eigneten sich dabei auch symbolische Ressourcen an, die sie im innerbürgerlichen Kampf um Deutungsmacht und gesellschaftliche Schlüsselpositionen benötigten. Die Erfahrungen, die sie vor dem Hintergrund ihres Leidens an Erfahrungslosigkeit suchten, wurden auf diese Weise zu einem symbolischen Kapital, das im intellektuellen Feld gewinnbringend einsetzbar war. Hartmut Dießenbacher, der über die abenteuerlichen Züge des bürgerlichen Altruismus im 19. Jahrhundert nachgedacht hat, stellt die in diesem Zusammenhang bedenkenswerte Frage, ob sich der altruistische Abenteurer – der soziale »frontier pioneer« – wirklich auf die von ihm eroberte Fremde einlassen könne. »Die Antwort lautet: Nein! Zu stark ist der Held mit seiner Herkunft, den Normen und Gewohnheiten seiner Heimat verbunden. Aus ihnen bezieht er die Kraft, der unbürgerlichen Fremde letztlich seine bürgerlichen Gesetze aufzuzwingen, denn die Rückkehr in die Heimat darf er sich nicht verbauen, als gefeierter Held will er zurückkehren, Ruhm erheischen, er, der sich in der Fremde so tapfer geschlagen hat.«161 In diesem Sinne ist nun danach zu fragen, was es genau war, was die Pioniere der Settlements von ihrer Expedition zum einfachen Volk gleichsam nach Hause mitbrachten: Wie also ließ sich die Volksnähe in symbolisches Kapital ummünzen? Ein Seitenblick auf eine andere historische Konstellation kann helfen, den Zusammenhang von Volksnähe und der Konstitution einer »Bewegung« besser zu verstehen. Denn auch eine ganz andere »soziale Avantgarde« von Studenten stützte sich auf die symbolische Identifikation mit der Arbeiterschaft: Der Reichsführer des NS-Studentenbundes Baldur von Schirach, seinerseits Student der Germanistik, propagierte in der Studentenzeitung Die Bewegung den »Gedanken des in Reih-und Glied-Stehens mit dem deutschen Arbeiter«.162 Auch hier stand, wie Götz Aly in seinem prekären Vergleich zwischen 1968er-Bewegung und NS-Studentenschaft gezeigt hat, ein antibürgerlicher Impetus im Zentrum. Auch die jungen Nationalsozialisten versuchten, den »akademischen Dünkel« hinter sich zu lassen und forderten einen »Übergang von der Ich- zur Wir-Zeit« sowie eine

—————— 161 Dießenbacher, »Altruismus als Abenteuer«, S. 281. 162 Zit. nach Aly, Unser Kampf, S. 171.

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neue Verbindung von Theorie und Praxis.163 Adolf Hitler hatte bereits 1923 Reden zum Thema »Deutscher Student und deutscher Arbeiter als die Träger der deutschen Zukunft« gehalten; Joseph Goebbels folgte ihm mit seiner Prophezeiung »Studenten und Arbeiter werden das Deutschland der Zukunft aus der Taufe heben«.164 Gerade der promovierte Germanist Goebbels, der mit seinem 1929 veröffentlichten Roman Michael den Schulterschluss zwischen Werkstudenten und Arbeiterschaft feierte,165 sah aus der Verbindung von »Gebildeten und Volk«, von »Geist und Arbeit«, die neue Volksgemeinschaft entstehen. Hitler wiederum wünschte sich Studenten, die »in die Masse hineinzugehen verstehen und lebendigen Anteil nehmen am Massenkampf«.166 Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, Parallelen zwischen dem Programm der »Volksgemeinschaft« in SAG und Nationalsozialismus zu ziehen. Es geht einzig um den Befund, dass die »Volksnähe« junger Akademiker – ihr dezidiertes »Unter-das-Volk-gehen«167 – eine zentrale Legitimationsfigur avantgardistischer Bewegungen war. Der nationalsozialistischer Anwandlungen gewiss unverdächtige Theologe Paul Tillich schrieb 1922: »Nur wer die revolutionäre Kraft der Masse in sich mitschwingen fühlt, kann ihr Bildner sein.«168 Über genau dieses Motiv versahen Akademiker verschiedener Couleur ihr eigenes politisches oder soziales Programm sozusagen mit der Schwungmasse des Proletariats. Die Bezugnahme auf das »Volk« wurde – zunächst gleichgültig, ob mit einer völkischen, sozialistischen oder sozialstudentischen Programmatik – zu einem zentralen Argument im Anerkennungskampf sozialer Bewegungen. Gleichzeitig diente diese Bezugnahme auf die »Massen« auch dem Nachweis der eigenen Ernsthaftigkeit, des unbedingten Einsatzes. Denn für bürgerlich sozialisierte Akademiker war das »Ins-Volk-gehen« immer auch ein Abenteuer in unbekanntem Gelände. Die reklamierte Volksnähe brachte also gleich zwei Distinktionsgewinne mit sich: die symbolische Identifikation mit der – wie auch immer verstandenen – »Volksgemeinschaft« und die Auszeichnung, wie sie den Helden zukam, die sich »draußen« bewährt hatten.

—————— 163 Ebd., S. 173–175. 164 Zit. nach ebd., S. 179. 165 Goebbels, Michael; vgl. dazu Poore, The Bonds of Labor, S. 91–97. 166 Zit. nach Aly, Unser Kampf, S. 179. 167 So die nationalsozialistischen Studenten der Filmhochschulen, zit. nach Aly, Unser Kampf,

S. 176. 168 Tillich, Masse und Geist, S. 33.

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Doch zurück zu den Settlements und ihrer Version dieses Motivs. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels ausführlich gezeigt, war »draußen« zu wohnen nicht nur eine Bewährungsprobe, sondern auch die Voraussetzung, um überhaupt in intensiven Kontakt zum »wirklichen Leben« zu kommen. Der Hamburger Jurist und Volksheimmitarbeiter Ernst Jaques 1906 legte seinen Mitstreitern mittels einer geradezu poetischen Szene nahe, nach Rothenburgsort zu ziehen, denn: »Manchem unserer Draußenwohner hat sich das Herz des Arbeiters offenbart, wenn er mit ihm nächtlicher Weile auf dem Deiche gewandert ist, mit ihm zusammen dem Rauschen der Elbe gelauscht, den funkelnden Sternenhimmel bewundert hat. Dann ist ihm auch die Poesie der Vorstadt, der Terrassen und Höfe aufgegangen, und ihn werden die verpönten Düfte der Blutmelasse oder der Heringssalzerei und die qualmenden Schornsteine da draußen in Rothenburgsort nicht mehr abstoßen, sondern ihn immer wieder hinausziehen in Erinnerung an die Zeit, in der es ihm vergönnt war, einen Blick zu tun in das Seelenleben der Arbeiter. In welchem Maße kann außerdem der Draußenwohner unter der Arbeiterschaft für den Besuch des Volksheims wirken! Wie leicht wird es dem Draußenwohner hier und da im Vorübergehen die Wohnung einer befreundeten Arbeiterfamilie zu betreten, und wie gern kommen namentlich die jungen Leute zu ihm in die Wohnung, um sich von ihm belehren zu lassen und Rats von ihm zu holen! Wieviel zwangloser kann der Draußenwohner die Volksversammlungen im Arbeiterviertel besuchen, um die politische Urteilsfähigkeit unseres Volkes zu studieren; mit wieviel Freude wird er auf den Turn- und Tanzfesten der Vorstadt empfangen, und welchen Einblick in das Gemüt des Arbeiters gewähren ihm gerade solche Feste!«169

Bemerkenswert scheinen mir an diesem Text nicht nur die Wendungen über die »Poesie der Vorstadt«, sondern auch das Selbstbild des vor Ort stationierten Feldforschers und Missionars, der beobachtend und studierend, aber auch helfend und eingreifend tätig ist und sich so das Vertrauen des von ihm gleichsam betreuten Volkes erwirbt. In paternalistischer Manier tritt der resident als »Seelsorger« und »Seelenkundler« in einem auf, als Sozialarbeiter und zugleich als Ethnograph, der sich »um so leichter in die Sitten und Gebräuche eines fremden Landes einlebt«, als er dort eigene Wege geht und sich von seinen »Landsleuten« – den Angehörigen seiner Klasse – fernhält.170 Die Versammlungen und Feste, von denen Jaques spricht, verraten einen geradezu folkloristischen Blick auf die Vorstadt, die – ganz im Sinne des Nachbarschaftsbegriffs – als ein Dorf inmitten der

—————— 169 Ernst Jaques, »Vom Draußenwohnen«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte

Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 16–20, hier S. 19. 170 Ebd.

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Stadt vorgestellt wird: mit seiner eigenen Poesie und sinnlichen Qualität. Und das Bild von der Einbindung des Settlementmitarbeiters ins »Volksleben«, von seiner Rolle als eigentlicher »Führer« der vorstädtischen Nachbarschaft kann kaum verbergen, welcher paternalistisch-romantischen Phantasie es entstammt: Denn wohl kaum – so steht zu vermuten – dürften die jungen Leute beim Volksheim angeklopft haben, um sich vom bürgerlichen Volkserzieher »belehren zu lassen«, wohl kaum dürfte er ein ausschließlich mit »Freude« empfangener Ehrengast der Turn- und Tanzfeste gewesen sein.171 Um der Bedeutung der in diesen Passagen suggerierten »Nähe zum Volk« im zeitgenössischen Diskurs auf die Spur zu kommen, ist ein weiterer Seitenblick nützlich, und zwar auf die Frühgeschichte jener Disziplin, deren Vertreter sich in besonderer Weise als Experten für das »einfache Volk« verstanden haben: der Volkskunde. Anita Bagus hat in ihrer Studie Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt gezeigt, dass die Volkskunde in ihrer ersten Institutionalisierungsphase um 1890 nicht zuletzt das Produkt eines »Krisenmanagements«172 der Philologen und generell einer auf bildungsbürgerliche Problemwahrnehmungen zugeschnittenen Legitimationsstrategie war. Wie die Mitarbeiter der SAG setzten auch die frühen Volkskundler bei der Diagnose einer Kluft zwischen »Gebildeten« und »Volk« an und untermauerten ihr Engagement für die Volkskunde als Wissenschaft durch die Fundamentalkritik an einer humanistischen Bildung, die – wie Eugen Mogk 1899 schrieb – »auf volkstümliche Sitte und volkstümlichen Brauch von oben herabschaut«.173 Die Philologen versuchten – als »Modernisierungsverlierer«174 des späten Kaiserreichs – gerade durch »soziale« Bildungskritik wieder an Boden zu gewinnen: Darin liegt der Kern des Vergleichs zwischen SAG und der frühen Volkskunde. Viele Stellungnahmen aus der Volkskunde der Jahrhundertwende erinnern denn auch an die zu Beginn dieses Kapitels zitierte innerbürgerliche Kritik an einer abstrakten und lebensfernen Wissenschaft. Albrecht Dieterich reklamierte 1902 in seinem Grundsatzartikel über »Wesen und Ziele der Volkskunde« die Nähe zum Volk als eine spezifische Kompetenz der

—————— 171 Dr. Ernst Jaques war Oberregierungsrat in Hamburg und leitete im Volksheim Rothen-

burgsort einen Lehrlingsverein. Schon seine Erzählperspektive legt nahe, dass er selbst nie »Draußenwohner« war; seine idyllische Schilderung der Vorstadt bestätigt es. 172 Bagus, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt, S. 294–305. 173 Ebd., S. 312–322, Zitat 313. 174 Ebd., S. 274–280.

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wirklich Gebildeten: Denn »gerade der aristokratische und am selbständigsten gebildete Mensch wird dem Volke sich immer näher fühlen als der ›Bildungspöbel‹; der Parvenu ist dem Volke immer am fernsten«. Gerade die »Besten unseres Volkes« – so Eugen Mogk – hätten diese Problematik voll erkannt.175 Bagus erkennt in diesen Formulierungen Dieterichs und Mogks zu Recht eine »altruistisch verbrämte Selbstaufwertung« der Volkskundler und weist einmal mehr darauf hin, dass in deren Hinwendung zum »Volk« vor allem Statusprobleme der Bildungsbürger sichtbar werden. Gleichzeitig zielte diese Neuorientierung der Gebildeten aber auch auf die Anerkennung höherer Bildung durch die »einfachen Leute«. Volkskunde lehre nämlich nach Eugen Mogk »den Boden kennen, auf dem allein die individuelle Begabung und Ausbildung auf Erfolg rechnen kann. Denn kein Talent hat Erfolge, wenn seine Ideen nicht Anerkennung, nicht ein Echo in der Seele seines Volks finden.«176 Dass die Volkskunde dazu beitragen konnte, »die Kluft sozialer Gegensätze zu überbrücken«,177 das nützte also vor allem den Volkskundlern selber. Sie entdeckten die »andere Seite« der »eigenen Kultur«,178 um sich die einzig mögliche Grundlage wahrer Bildung zu verschaffen. Und sie benötigten das »Echo des Volkes«, um sich selbst aus einer tiefgreifenden Legitimationskrise der alten Bildungseliten heraus zu manövrieren. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt den volkskundlichen Diskurs kurz vor dem Ersten Weltkrieg, so rückt eine Strömung in den Vordergrund, die im Schnittpunkt von praktischer Theologie und Volkskunde anzusiedeln ist: die sogenannte »Religiöse Volkskunde«.179 Volkskundlich interessierte Theologen wie Friedrich Niebergall oder Paul Drews nämlich zählten die Volkskunde zu den »wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie«.180 Ihre Aufgabe – so Niebergall – sei es, »die Seele und das geistige Leben unserer handarbeitenden Volksgenossen überhaupt kennen zu lernen«,181 wobei im Gegensatz zur klassischen Volkskunde nicht

—————— 175 Beide zit. nach ebd., S. 325. 176 Zit. nach ebd., S. 329. 177 Zit. nach ebd. 178 Vgl. ebd., S. 382–391. Einen hervorragenden Überblick über dieses primitivistische Pa-

radigma der Volkskunde bietet Warneken, Die Ethnographie popularer Kulturen, S. 17–90. Vgl. auch ders., »Volkskundliche Kulturwissenschaft als postprimitivistisches Fach«. 179 Vgl. dazu Scharfe, »Prolegomena zu einer Geschichte der Religiösen Volkskunde«. 180 Zit. nach Bagus, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt, S. 336. 181 So Niebergall in seiner Abhandlung über »Das geistige und seelische Leben der Fabrikarbeiter«, zit. nach ebd., S. 336.

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nur die Bauern, sondern explizit auch die städtischen Industriearbeiter in den Blick kommen.182 Der symbolische Zugriff auf die »Wirklichkeit« des »einfachen Volkes« erhält damit eine neue Dimension; zugleich leitet dieses Thema wieder über zur SAG. Was Bagus für die Philologen des deutschen Kaiserreichs zeigt – nämlich dass sie sich in einer tiefgreifenden Statuskrise befanden, aus der sie sich mit einer neuen Konzeption »volkstümlicher« und volkskundlicher Bildung zu befreien suchten, das lässt sich in ganz ähnlicher Weise für die Theologen sagen, die in der ersten Generation der SAG die prägende Rolle spielten. Für beide akademischen Berufsgruppen führte der Weg zu neuer kultureller Hegemonie über die symbolischen Werte von Wirklichkeit und Volksnähe. Während sich aber die volkskundlich interessierten Philologen ganz auf die Bauern konzentrierten, rückten bei den Theologen nicht zuletzt aus berufspraktischen Gründen die Arbeiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit ihnen hatten sich die Seelsorger in den Städten auseinanderzusetzen; sie waren die eigentlichen Repräsentanten der neuen Zeit, in der die Bildungseliten einen eigenen und herausgehobenen Platz finden wollten. An beiden Beispielfeldern aber wird deutlich, dass der »neue« Intellektuelle in seiner symbolischen Ökonomie auf bestimmte, den unteren Schichten zugeschriebene Potentiale und Werte angewiesen war. Diese bildeten symbolische Güter, die er sich aneignen und aus denen er einen spezifischen Profit schlagen konnte. Der SAG-Mitarbeiter Richard Rahn schrieb, »die Kultur« – und damit meinte er explizit die bürgerliche Kultur – müsse »ihre stete Erneuerung durch die ungebrochenen, ungestalteten Kräfte der Volksmasse empfangen«.183 Die gleiche Zielvorstellung hatte auch der Rechtshistoriker und Pädagoge Eugen Rosenstock, der 1912 darauf hinwies, dass der Intellektuelle »der unbeirrten Gesundheit des schlichteren Volksgenossen nicht weniger zum Gedeihen des eigenen Lebenswerkes bedarf, als dieser des Geistes und der Übersicht des sorgfältiger Gebildeten«.184 Auf diese Weise wurde die Begegnung zwischen den Klassen als Win-win-Situation ausgegeben. Dieses Motiv finden wir also nicht nur in dem Konzept eines gegenseitigen Lernprozesses zwischen den Klassen, wie es die Settlementbewegung entwickelt hatte, sondern auch im Feld der entstehenden Volkskunde und Volksbildung.

—————— 182 Zur Rolle der Volkskunde in der praktischen Theologie zwischen Kaiserreich und NS

vgl. die eingehende Studie von Treiber, Volkskunde und evangelische Theologie. 183 Richard Rahn, »Akademisch-Sozialer Verein«, in: NN 11. Jg. Heft 8 (August 1928),

S. 150–152, hier S. 151. 184 Rosenstock, »Ein Landfrieden«, S. 4.

AUF DER SUCHE NACH DEM »WIRKLICHEN LEBEN«

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Die »Entdeckung der Wirklichkeit« lässt sich von hier aus als ein zentrales Thema innerhalb des reformorientierten deutschen Bildungsbürgertums nach 1900 begreifen. In den nächsten Kapiteln wird deutlicher werden, welche Art von Wissen über die unteren Schichten dabei entstand und welche Praktiken von Menschenführung mit diesem Wissen offen oder insgeheim verknüpft waren.

Nahaufnahme II: Johanna Fränkel und die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-West«

Die Episode, über die im Folgenden berichtet wird, hatte für die Entwicklung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost keine nennenswerten Folgen. Trotzdem vermittelt sie einen instruktiven und dabei amüsanten Einblick in die Praxis privater Wohltätigkeit im wilhelminischen Berlin. Sie verdeutlicht, mit welchen Formen bürgerlicher »Volksfreundschaft« sich die SAGler nebenbei auseinanderzusetzen hatten. Der vorliegende Fall steht damit exemplarisch für eine Minderheit des SAG-Freundeskreises aus dem bürgerlichen Westen der Stadt, die dem eigentlichen Settlementgedanken eher fern stand und in der SAG vor allem eine klassische Initiative christlicher »Liebesarbeit« sah. Im April 1921 bot Johanna Fränkel, geborene Benary, aus der vornehmen Charlottenburger Fasanenstraße dem Leiter der SAG ihre Mitarbeit an. Ihr Schreiben war der Auftakt zu einer lebhaften Korrespondenz zwischen Fränkel und der SAG, in der sich zwei Auffassungen von den Methoden und Zielen sozialer Arbeit abzeichneten. Schon der Gestus, in dem sich Fränkel bei Siegmund-Schultze vorstellte, verrät eine Art von bürgerlichem Selbstbewusstsein, von der die meisten SAG-Mitarbeiter weit entfernt waren: »Ich bin 64 Jahre alt, aber in voller geistiger, seelischer, körperlicher Frische und Leistungsfähigkeit u. entbrannt in herzlichster Liebe zu unserem armen Volk. Gelegentlich meiner wirtschaftlichen Besorgungen, die ich alle selber mache, habe ich vielfach Gelegenheit diese lieben Menschen, so ganz wie von selbst, näher zu sprechen, u. ich kann fast sagen: ich sehe in ihre Seele hinein, u. ich alter mütterlicher Mensch geniesse meist das vollste, wärmste Vertrauen, was mich sehr beglückt. […] Ich möchte Ihnen, hochverehrter Herr Pastor, so von Herzen gern mit meinen hierzu glücklichen Anlagen dienen – denn mir scheint es oft fast wie ein Wunder, wie ein Segen von oben: wie ich die Herzen unseres armen, lieben Volkes gewinne, ihnen Trost, Stärkung u. Anregung – ich meine auch geistiger Art – brin-

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ge – ich fühle es kommt nicht allein von mir, sondern ich bin auch von oben wunderbar gesegnet.«1

Johanna Fränkel hatte über einen Göttinger Vortrag Siegmund-Schultzes, von dem ihr ihre Kinder berichtet hatten,2 von der sozialen Arbeit am Schlesischen Bahnhof erfahren. Daraufhin plante sie – in völligem Missverstehen der Settlementidee – der SAG Berlin-Ost eine »Westgruppe« hinzuzufügen und bat Siegmund-Schultze, er möge ihr doch zu diesem Zweck eine Mitarbeiterin, eine »jüngere, sympathische Dame«,3 zur Seite stellen. Der kommenden Arbeit sah sie mit Vorfreude entgegen: »Ich bin schon ganz beglückt in dem Gedanken, den armen Menschen-Brüdern und Schwestern edle Freude, Sonnenschein in ihr strenges Leben bringen zu dürfen!«4 Zugleich brachte sie Siegmund-Schultze eben jene Art von schwärmerischer »Damenverehrung« entgegen, über die sich dieser als junger Prediger im bürgerlich-aristokratischen Potsdam so bitter beklagt hatte: »Es ist zu schön – ja herrlich, dass es noch solche Menschen giebt wie Sie u. Pfarrer Rittelmeyer – es stärkt den Glauben an die Menschheit – es gibt eine so unendliche hohe Freude, wenn das Göttliche auf Erden wandelt – Ein sichtbarer Beweis für die Gottheit selbst – ein Licht, weithin leuchtend und erwärmend. – Welch ein unbeschreiblicher, unfassbarer Segen geht von solchen Gottesmenschen aus – Man freut sich an ihnen – man holt Kraft zu eigenen Werken aus ihnen – Sie sind die von Gott gesegneten, die Seinen Segen auf die Welt den armen Menschenkindern bringen – Heil ihnen selbst.«5

Am 21. Mai 1921 bat Fränkel den Leiter der SAG, für ihre neu zu gründende Arbeitsgemeinschaft im Westen die »Weihe am Dienstag, den 31. Mai gütigst zu vollziehen«.6 In der SAG reagierte man sehr zurückhaltend auf diese Anfrage; insbesondere der Umstand, dass Fränkel ihre Gruppe mit aller Selbstverständlichkeit zur »Westsektion« der SAG, kurz darauf dann sogar zur »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-West«7 erklärte, stieß in der Fruchtstraße auf Ablehnung. So schrieb Alix Westerkamp, zu dieser

—————— 1 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 21. April 1921, in: EZA 51/S II g 7. 2 Fränkels Sohn Hermann Ferdinand war nach dem Ersten Weltkrieg Privatdozent und

Extraordinarius an der Universität Göttingen. Vgl. dazu den Nachruf Pearson/Raubitschek/Whitaker, Memorial Resolution Hermann Ferdinand Frankel (1888–1977), online unter: http://histsoc.stanford.edu/pdfmem/FrankelH.pdf (Zugriff am 01.09.2012). 3 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 30. April 1921, in: EZA 51/S II g 7. 4 Ebd. 5 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 11. Juni 1921, in: EZA 51/S II g 7. 6 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 21. Mai 1921, in: EZA 51/S II g 7. 7 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 26. Mai 1921, in: EZA 51/S II g 7.

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Zeit Schriftführerin der SAG, am 25. Mai an Johanna Fränkel: »Ich habe sicher am Telefon mein Erstaunen darüber, dass Sie Ihr Unternehmen mit solcher Sicherheit als seine [Siegmund-Schultzes] Gruppe bezeichneten, nicht ganz verbergen können. […] Ich kann mir indessen nicht denken, dass D. Siegmund-Schultze hinsichtlich Ihrer Gruppe zu ganz festen Abmachungen gekommen ist.«8 Unmittelbar nach dem von Westerkamp erwähnten Telefonat schrieb Fränkel einen weiteren Brief an SiegmundSchultze, bekräftigte ihre Pläne, berichtete ausführlich von den Vorbereitungen zur Einweihung ihrer Gruppe und sprach von einem schweren »Gegenschlag« von seiten Westerkamps, die sich auf ihre Anfrage betreffs einer Einweihungsrede Siegmund-Schultzes hin nur unverbindlich und ausweichend geäußert hatte. »Mir entfuhr es: ›Was, keine Zeit, um seine neue Gruppe einzuweihen, auf die er sich so freut – solch eine Rede schüttelt doch solch ein Mann aus dem Ärmel!«9 Des Weiteren beklagte sich Fränkel bitterlich über die »Auffassung« ihrer »Persönlichkeit« durch Westerkamp,10 um im gleichen Atemzug die ganze Angelegenheit für ein Missverständnis zu erklären, das sie selbst in ihrer Antwort an die Schriftführerin der SAG bereits aus dem Weg geräumt habe: »Hab auch in meiner Antwort […] eine goldne Brücke des Friedens gebaut.«11 Über die Festvorbereitungen schrieb sie dann: »Ich hoffte Ihnen hiermit eine Freude zu machen – wozu ich ja nach unserer letzten Aussprache berechtigt war, die damit schloss, dass Sie, hochverehrter Herr Licentiat, zu mir sagten: ›Ich freue mich so über die neue Gruppe‹ u. ich darauf ganz glückselig: ›Und ich freue mich so Ihnen eine Freude machen zu dürfen.‹ So war alles wunderschön. Die Werbung auf Ihren teuren Namen ging herrlich von statten. […] Mein Neffe W. Abraham – der so schön spricht (ich erzählte Ihnen ja davon) sagte kleinlaut: ›Ach am 31. ist ja gerade mein Geburtstag.‹ Ich: ›Ja u. etwas Schöneres kannst du auch gerade an deinem Geburtstag nicht tun als solch ein schönes Liebeswerk für solch einen Mann – bring doch […] die Deinigen mit!‹ […] Ich gewann vortreffliche Künstler – da ich bei den einfachen Leuten keine Kinder auftreiben konnte, die gut singen […] so begab ich mich in die zuständige Gemeindeschule zum Rector, setzte ihm Ihre S. Gemeinschaft auseinander, fand das freundlichste Entgegenkommen – der Gesanglehrer wurde gerufen, der gewillt war meinen Wunsch zu erfüllen. 3 Schülerinnen mit wundervollen Stimmen singen das

—————— 8 Alix Westerkamp an Johanna Fränkel, 25. Mai 1921, in: EZA 51/S II g 7. 9 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 26. Mai 1921, in: EZA 51/S II g 7. 10 Ebd. 11 Ebd.

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von mir erbetene Engel-Terzett: Hebe deine Augen auf, das sie bereits […] bei der Luther-Feier sehr schön sangen. Der Gesanglehrer will sie begleiten.«12

Fränkels Briefe liefern Paradebeispiele für den selbstreferentiellen Charakter dieser Spielart von bürgerlicher Wohltätigkeit: Nahezu jedem Satz lässt sich ablesen, wie wenig es um die einfache Bevölkerung des Berliner Westens ging; wie in einem Spiegel wird diese Wohltätigkeit als bürgerliche Selbstinszenierung sichtbar, die einzig und allein auf die – wie Georg Simmel in seiner Analyse der christlichen Armenfürsorge schreibt – »Bedeutung des Gebens für den Gebenden« zurückverweist.13 Wenn Fränkel ihre »glücklichen Anlagen« zu sozialem Engagement hervorhebt, ihre Art, »wie ich die Herzen unseres armen, lieben Volkes gewinne«, dann schreibt sie sich ihre bürgerliche Wohltätigkeit selbst als symbolisches Kapital gut.14 Und wenn sie immer wieder durchblicken lässt, wie sehr es letztlich darum geht, gegenüber dem von ihr verehrten Siegmund-Schultze ein gutes Werk zu tun – ein »Liebeswerk für solch einen Mann«, wie es verräterisch heißt, dann ist das ein weiteres Indiz für einen religiös verbrämten Narzissmus der »guten Werke«, wie man ihn in der SAG immer abgelehnt hat. Die Aufführung des Mendelssohnschen Engelsterzetts bei der Einweihungsfeier, für das die Kinder der »einfachen Leute« nicht gut genug singen konnten, führt diesen Narzissmus exemplarisch vor: Hier bleibt sogar die eigentliche Zielgruppe der sozialen Arbeit vom Spiel ausgeschlossen; die Veranstaltung reduziert sich gleichsam auf das bloße Ritual bürgerlicher Philanthropie – von bürgerlichen Akteuren für ein bürgerliches Publikum auf die Bühne gebracht. Im Anschluss an die Einweihung der »SAG Berlin-West«, zu der Siegmund-Schultze allem Anschein nach nicht erschienen ist, veranstaltete Fränkel eine Reihe von sogenannten »Abenden für Volksgemeinschaft«,

—————— 12 Ebd. 13 Simmel, Soziologie, S. 516. 14 Das Beispiel der Professorengattin Fränkel zeigt, dass kirchliches oder soziales Engage-

ment der Ehefrau in gehobenen bildungs- und teilweise auch besitzbürgerlichen Haushalten zum guten Ton gehörte, wobei dieses Engagement in vielen Fällen als eine Erweiterung der »sentimentalen Auffüllung des innerfamiliären Bereiches« und damit als genuin weibliche Kompetenz verstanden wurde. Vgl. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, S. 107. Privatwohltätigkeit gehörte also nicht nur wesentlich zum traditionellen Selbstverständnis des gehobenen Bildungsbürgertums mit hinzu, sondern stützte auch die klassische Geschlechterordnung innerhalb der Familie; zugleich aber war gerade »Wohltätigkeit […] eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, eine aktive Rolle in der Öffentlichkeit einzunehmen«. Kocka/Frey, »Einleitung und einige Ergebnisse«, S. 14.

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deren Programme auch an die SAG versandt wurden. Sie fanden im Gasthof »Stadtpark Wilmersdorf«, Kaiserallee 51, statt; die hauptsächlichen Programmpunkte waren belehrende Vorträge, Gedichtdeklamationen und musikalische Darbietungen. Am 21. Juni etwa gab es einen Vortrag über »das Indianerdorf Schingu« – ein Thema, zu dem Siegmund-Schultze riet, nachdem ihm Fränkel ihren ehrgeizigen Plan mitgeteilt hatte, an mehreren Abenden die Odyssee zu behandeln.15 Außerdem wurden Gedichte von Ernst Curtius und Ferdinand von Freiligrath vorgetragen. An einem anderen Abend, im Oktober 1921, stand ein Referat von Eva Berg über »das Leben der Griechen« auf dem Programm – vermutlich handelte es sich dabei um eine Studentin von Fränkels Ehemann, des Altphilologen und Bibliothekars der königlichen Museen Professor Max Fränkel.16 Über das Publikum dieser Abende heißt es an einer Stelle: »Es ist nicht möglich, ›noch ärmere Kreise hinzuzuziehen‹, da wir sie, hier im Westen, nicht haben. Alle sind verhältnismässig Besitzende – allerdings mehr oder weniger.«17 Zu Fränkels Veranstaltungen erschienen daher vor allem Leute »aus allen Läden, in denen ich hier kaufe u. die Handwerker, die ich gelegentlich beschäftige«.18 »Den ärmsten Menschen seelisch zu helfen«, wie Fränkel das Ziel der SAG in eigenen Worten zusammenfasste,19 war somit schon aufgrund der sozialen Spezifik der neuen Westbezirke Charlottenburg und Wilmersdorf unmöglich, was wiederum deutlich macht, wie absurd der Gedanke war, die Settlementidee auf den Berliner Westen übertragen zu wollen. In den Monaten Mai und Juni 1921 schrieb Fränkel zahlreiche, zum Teil über 20 Seiten lange Briefe an Siegmund-Schultze, mit denen sie sich um einen engeren Kontakt zur SAG Berlin-Ost bemühte. Siegmund-Schultze war von Fränkels Plänen zwar nach wie vor wenig angetan, gab sich jedoch durchaus diplomatisch, war mit helfenden Hinweisen für die Vortragsabende zur Stelle und versuchte freundlich abzuwiegeln: »Ab und zu könnten vielleicht solche, die im Westen wohnen, an den Veranstaltungen teilnehmen. Unsere Ostarbeiter hier sind meist zu sehr belastet, als dass sie

—————— 15 Abendprogramm des »Abends für Volksgemeinschaft« am 21. Juni 1921; Friedrich Sieg-

mund-Schultze an Johanna Fränkel, 16. Juni 1921. Beides in: EZA 51/S II g 7. 16 Abendprogramm des »Abends für Volksgemeinschaft« am 13. Oktober 1921, in: EZA

51/S II g 7. 17 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. Juni 1921, in: EZA 51/S II g 7. 18 Ebd. 19 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 30. April 1921, in: EZA 51/S II g 7.

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zu den vielen Veranstaltungen des Ostens noch die einer Westgruppe hinzunehmen könnten. […] Ich selbst bin […] schon am Ende aller persönlichen Möglichkeiten angelangt, es sei denn, dass Sie mir den Tag um 48 Stunden verlängern. Indem ich Ihnen für die nächsten Monate guten Erfolg für alle in unserem Sinne zu tuende Arbeit wünsche, bin ich mit besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener Friedrich Siegmund-Schultze.«20

Immerhin vermittelte Siegmund-Schultze eine freie Mitarbeiterin der SAG, Dr. Emma Keller, als Mitorganisatorin der »Abende für Volksgemeinschaft« an Fränkel. Keller war für diese Aufgabe prädestiniert; sie hatte 1920 in Tübingen über das Thema »Arbeiterbildung als Selbsthilfe« promoviert und war damit eine Expertin auf dem Gebiet der Volksbildung.21 Siegmund-Schultze dürfte sie für diese spezielle Aufgabe nicht zuletzt eingesetzt haben, um die problematische Herangehensweise der »SAG BerlinWest« zu korrigieren.22 Denn auf Hilfe zur Selbsthilfe war die im »Stadtpark Wilmersdorf« praktizierte Volksbildung ganz gewiss nicht ausgerichtet. Während man in der SAG stets versuchte, an den Alltagspraktiken der Arbeiterschaft anzusetzen und diese Praktiken durch Neutralisierung der »schlechten Einflüsse« und Substitution kultureller Formen in andere Bahnen zu lenken, beschränkten sich die »Abende für Volksgemeinschaft« auf das bloße Aufpfropfen von Hochkultur auf »unsere lieben einfachen Leute«.23 Dieser Gefahr war freilich auch die Arbeit in Berlin-Ost ständig ausgesetzt; auch dort war – wie für die Festkultur der SAG gezeigt wurde – die Bildungsarbeit mit Goethe oder Schubert durchaus üblich. Insbesondere die schon in den ersten Monaten der SAG regelmäßig stattfindenden »Volks-Unterhaltungs-Abende« folgten einem solchen Muster.24 Hans Windekilde Jannasch berichtet denn auch kritisch und mit feinem Humor vom Vortrag eines Schriftstellers, der in Berlin-Ost stattfand: »Ein vielgenannter Dichter hatte darum gebeten, im Kreise unserer Arbeitsgemeinschaft zu einfachen Fabrikarbeiterinnen sprechen zu dürfen. Nicht, daß er ihnen aus den eigenen Werken vorzulesen gedachte, er wollte ihnen Ewiggültiges, das ihm am wertvollsten Scheinende, bieten. Über Goethe wollte er zu ihnen reden. – Neulich hat er seinen Vortrag bei uns gehalten. Er hatte eine Sängerin mit-

—————— 20 Friedrich Siegmund-Schultze an Johanna Fränkel, 16. Juni 1921, in: EZA 51/S II g 7. 21 Vgl. auch Keller, »Volksbildung und Arbeiterschaft«. Diesem Aufsatz habe ich auch den

Hinweis auf Kellers Dissertation entnommen. 22 Unklar bleibt allerdings, ob es tatsächlich zu einer Zusammenarbeit zwischen Keller und

Fränkel gekommen ist; die Unterlagen der SAG geben darüber keinen Aufschluss. 23 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 21. Mai 1921, in: EZA 51/S II g 7. 24 Programme z.B. in: EZA 51/s I a Bl. 99–111.

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gebracht, die eingangs und am Ende Goethesche Balladen in Reichardscher [sic] Vertonung sang. Es waren erfreulich viel Arbeiterinnen erschienen. Der Dichter, ein massiger Mann, hatte sich hinter dem Vortragstischchen aufgebaut und sprach mit leiser Stimme und feinen Handbewegungen davon, wie Goethe sein Leben planmäßig gestaltete, im Anschluß an dessen Wort von der ›Pyramide seines Lebens‹. Er wies sehr ernst und eindringlich darauf hin, daß jeder von uns die Verantwortung zu solcher Lebensgestaltung trüge. Diese Rede war für uns Gebildete ein erlesener Genuß, für die Arbeiterinnen war sie nichts. Der Dichter spürte offenbar gar nicht die gähnende Kluft, die sich zwischen ihm und seinen Zuhörerinnen auftat. Was war diesen vom Arbeitstag Zermürbten dieser übermenschliche, sich vollendende Goethe! Ihre stumpfen Gesichter verrieten keine Anzeichen von innerer Bewegung, aber sie hörten geduldig zu und kämpften wacker mit der aufsteigenden Müdigkeit, denn sie spürten wohl, daß der Mann da vorn ihnen etwas Feines geben und ihnen Gutes tun wollte. […] Dann war die Veranstaltung fürs ›Volk‹ zu Ende, und wie meist in solchen Fällen fand man sie im allgemeinen ›wohlgelungen‹. Als ob der gute Wille allein schon genüge!«25

Das Ende der »Abende für Volksgemeinschaft« wurde Friedrich Siegmund-Schultze in einem Brief vom 1. Dezember 1921 mitgeteilt. Die Gründe, aus denen die Veranstaltungen aufgegeben wurden, sagen nochmals einiges über Fränkels Vorstellungen von sozialer Arbeit aus: »Mit schwerem Herzen komme ich heute mit der Erklärung, dass es unter den jetzt waltenden Verhältnissen einfach nicht möglich ist unsere VolksgemeinschaftsAbende zu halten. […] Am letzten Abend […] war der Besuch sehr spärlich, und mein Freund ›Theophilus‹ (der Markthändler) – ein warmer Anhänger und Werber der ›Volksgemeinschafts-Abende‹ erklärte mir: ›Der Kampf um die eigene Existenz ist jetzt zu hart – wir können jetzt nicht kommen!‹ So muss ich mich denn den Verhältnissen fügen, und nur der eine Gedanke ist ein Trost – so schmerzlich er auch an sich ist: dass die Sache selbst Segen versprechend war und nur äussere Verhältnisse, die so aussergewöhnlich aufregende, unglückliche Zeit – das Hindernis sind.«26

Noch einmal wird hier deutlich, mit welchen romantischen Projektionen die Volksbildungsarbeit im Gasthof »Stadtpark Wilmersdorf« verbunden war. Ein Indiz dafür ist die Figur des Markthändlers, der als Vorzeigeexemplar des »einfachen Volkes« fungierte und dem die Altphilologengattin Fränkel ausgerechnet den antikisierenden, klassisch pietistischen Namen »Theophilus« verliehen hatte. »Theophilus« wurde gleichsam als der leben-

—————— 25 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 24–25. 26 Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 1. Dezember 1921, in: EZA 51/S II g

7.

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de Beweis für das »vollste wärmste Vertrauen« vorgeführt, das Fränkel angeblich beim einfachen Volk besaß – so wie auch in den Berichten aus der SAG immer wieder einzelne Arbeiter als Symbolfiguren in diesem Sinne auftauchen, die die Funktion erfüllen, das Programm der »Arbeiterfreunde« zu legitimieren. Die bittere Pointe, dass Fränkel genau an dem Punkt aufhörte, wo man eigentlich hätte beginnen müssen, nämlich dort, wo der Existenzkampf der kleinen Handwerker und Angestellten härter wurde, dürfte in Berlin-Ost allerdings mit einiger Verärgerung hingenommen worden sein. Und so verlieren sich nach 1921 die Spuren der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-West«. Was bleibt, ist eine schmale Akte aus dem Nachlass des Settlement in der Fruchtstraße.27 Im Hinblick auf Methodik und Reflexionsgrad sozialer Arbeit war man in der SAG solchen Versuchen »innerer Hebung« durch intellektuelle Zufuhr von außen weit voraus. Die bissigen Bemerkungen, mit denen sich bereits Walther Classen über eine solche Form philanthropischer Volksbildung amüsierte, treffen daher die Initiative Johanna Fränkels sehr genau: »Selbst der Philister hat allmählich so viel vom Geist der Zeit begriffen, daß er zu Volksunterhaltungen mithilft. Man nimmt einen großen Saal, rezitiert Schiller oder Reuter – je nach den mehr sentimentalen oder humoristischen Neigungen des jeweiligen Komitees – und fährt heim mit dem schönen Gefühl, wieder einmal ein Opfer für das Volk gebracht zu haben. Hernach verdrießt es, wenn das ›liebe Volk‹ auf so bequeme Weise weder sich veredeln noch auch nur von der bösen Sozialdemokratie abbringen läßt. Dies Volksbildungsstreben gleicht einer Dame, die in seidenen Kleidern auf den Acker geht, um Kartoffeln aufzunehmen. Ihre größte Sorge ist dabei, die herbstlich duftende Erde nicht zu berühren.«28

Die von Classen angebotene Metapher bildet indessen den Ausgangspunkt für eine der zentralen Fragestellungen der nächsten Kapitel: Weshalb nämlich – und in welcher Weise – fühlten sich die akademischen Arbeiterfreun-

—————— 27 Laut einem Brief an Siegmund-Schultze vom Dezember 1922 hat Johanna Fränkel ihre

»Liebesarbeit« später noch einmal aufgenommen: »Aus übervollem glücklichen Herzen drängt es mich eine sehr freudige Mitteilung zu machen. Die im Juni vorigen Jahres unter Ihrer geistigen Leitung, mit Ihrem Segensspruch gegründete Volksgemeinschaft-Wilmersdorf – die schon fast dem ewigen Schlaf verfallen schien – sie ist wieder aufgelebt – ist wiedergeboren u. gestern haben wir ihre Wiedergeburtsfeier in unserem Hause, verbunden mit einer kleinen musikalischen Weihnachtsfeier, gehabt.« Johanna Fränkel an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. Dezember 1922, in: EZA 51/S II c 8,1. Den Anstoß dazu gab laut Fränkel der Wunsch einer 17-jährigen Hausangestellten aus der Fasanenstraße 63, »doch einmal etwas von Schiller, von Goethe zu hören«. Für die Zeit danach ist allerdings kein Beleg mehr für die Wilmersdorfer »Volksgemeinschaft« zu finden. 28 Classen, Großstadtheimat, S. 103.

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de vom »einfachen Volk« angezogen? Welche symbolischen Besetzungen waren dabei im Spiel, wenn der Kontakt mit der Arbeiterschaft des Hamburger und des Berliner Ostens als erfrischende Berührung der »herbstlich duftenden Erde« erschien? Welche Wirklichkeit – und wessen »wirkliches Leben« – suchten die Akademiker in den Arbeitervierteln? Und welche Funktion hatte diese Suche nach dem wirklichen Leben für die Akademiker selbst?

6. Angewandte Sozialforschung im »dunklen Berlin«

Die Verhältnisse kennenlernen Die Sehnsucht bürgerlicher Reformer nach der Erfahrung des »wirklichen Lebens« und ihr Programm, das großstädtische Arbeitermilieu kennenzulernen, führten in der SAG zu einer systematisch betriebenen Stadt- und Sozialforschung.1 Diese Funktion des Settlement war schon in den Gründungsprogrammen angelegt: Wie die Basislager der Missionare und Ethnologen wurde auch der bürgerliche »Vorposten« im Arbeiterviertel als Forschungsstation genutzt, denn »zur Eroberung des fremden Landes gehört die Erforschung des fremden Landes […] unlösbar hinzu«.2 Dabei folgte man unmittelbar den englischen Vorbildern. Mitarbeiter von Toynbee Hall hatten sich bereits in den 1880er Jahren an der Erstellung von »social surveys« beteiligt. So hatte Charles Booth bei den Recherchen für sein Werk über »Life and Labour of the People in London« mit Beatrice Webb zusammengearbeitet.3 In Deutschland verstand der Pionier »sozialstudentischer Arbeit« Carl Sonnenschein die »Erzeugung sozialen Wissens« als eines der Hauptziele der von ihm angeregten Arbeit.4 Auch das Hamburger Volksheim fungierte als eine Art »soziologische Beobachtungsanstalt«,5 in der beachtliche ethnographische Texte und Milieustudien ent-

—————— 1 Vgl. dazu Lindner, Walks on the Wild Side, S. 97–111, und Wietschorke, »Stadt- und So-

zialforschung«. Spezielle Aspekte der SAG-Forschungen über Popularkultur behandeln Sabelus, »Gefahr und Gefährdung«, und Weisz, »Großstadtdrama«. 2 Dießenbacher, »Kolonisierung fremder Lebenswelten«, S. 208. 3 Booth, Life and Labour of the People in London. Vgl. dazu Lindner, Walks on the Wild Side, S. 77–78. Zum Kontext vgl. Lewis, »The Place of Social Investigation«. In der SAG hat man die Arbeiten von Booth und Webb nachweislich rezipiert. Vgl. Spinner, »Forschungs- und Ausbildungsarbeit«, S. 62–63. 4 Zit. nach Thrasolt, Dr. Carl Sonnenschein, S. 108. 5 Günther, Das Hamburger Volksheim, S. 10.

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standen.6 In Berlin-Ost sah man in der »gründliche[n] Forschungsarbeit« die notwendige Voraussetzung, »um planvoll im Arbeiterviertel wirken zu können«.7 So war man sich auf der IV. Internationalen Settlementkonferenz 1932 darüber einig, »daß keine Arbeit so tiefe Einblicke in die soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Struktur der Nachbarschaft und in die allgemeinen Verhältnisse des Arbeiterviertels ermöglicht, wie gerade die Arbeit des Settlements. Die so erworbenen Kenntnisse sind von höchster sozialpädagogischer, sozialpolitischer und wirtschaftlicher Bedeutung und müssen durch wissenschaftliche Bearbeitung den in Frage kommenden Stellen zugänglich gemacht werden.«8 Bereits in den ersten Jahren der SAG entstanden kleine statistische Untersuchungen, die von den als residents in Berlin-Ost tätigen Studenten durchgeführt wurden. Ein Brief an den SAG-Mitarbeiter Karl Gustav Leverkühn, der sich der »Beobachtung« und dem »Studium des Proletariats« widmen wollte,9 macht beispielhaft anschaulich, wie die Erkundung des Arbeiterviertels vor sich gehen sollte und wie die Forschungsaufgaben in die soziale Arbeit eingebettet waren: »Über die […] Einteilung Ihrer Zeit würde ich etwa folgende Vorschläge machen: Sie übernehmen für die Ferien einen unserer Knabenklubs, der regelmässig am Sonnabend von 5-7 Uhr tagt, in dem Sie also Gelegenheit haben, mit Berliner Jungens von 12-14 Jahren zusammenzukommen. […] Ausserdem würden wir Ihnen etwa jede Woche eine Jugendgerichtssache und einige andere Familiensachen übergeben, durch die Sie Gelegenheit hätten, in die Familien zu kommen […]. Inbezug auf Ihre theoretische Arbeit schlage ich Ihnen vor, einmal genau die Wohnungsverhältnisse auf einigen von mir hier zu nennenden Strassen zu untersuchen, und womöglich während der Wochen Ihres Hierseins einige im wesentlichen statis-

—————— 6 Vgl. z.B. die kleine, nicht namentlich gezeichnete Studie: »Tageslauf eines Hafenarbei-

ters«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das siebente Vereinsjahr 1907–1908, Hamburg 1908, S. 30–39, oder den Aufsatz von Heinz Marr, »Zur Psychologie des Gelegenheitsarbeiters«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das achte Vereinsjahr 1908–1909, Hamburg 1909, S. 26–43. Vom »Feldforschungsprogramm« des Hamburgers Ernst Jaques war im vorhergehenden Kapitel bereits die Rede: Ernst Jaques, »Vom Draußenwohnen«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 16–20. 7 Protokoll des Mitarbeiterstudienkreises der SAG vom 19. Juni 1926, zit. nach Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 9. 8 Nach: Alix Westerkamp, »IV. Internationale Settlement-Konferenz«, in: NSAG Nr. 27 (September 1932), S. 2–13, hier S. 10. 9 Karl Gustav Leverkühn an Friedrich Siegmund-Schultze, 9. Januar 1913, in: EZA 51/S II c 20.

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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tische Arbeiten darüber anzufertigen, die für Ihr sonstiges Werk hier von grossem Nutzen sein könnten.«10

Hellmut Hotop gab rückblickend auf die Zeit vor 1914 an, »wissenschaftliche Forschung« über die »Quellen der Widerstände« in der Arbeiterschaft sei eines der Ziele der ersten Studentengeneration in der SAG gewesen.11 Gemeint war damit zunächst der diagnostizierte Widerstand der Arbeiter gegen die Kirche und die kirchlichen Institutionen – ein Problemkomplex, der den Alttestamentler Bernhard Duhm schon 1889 mit dazu veranlasste, auf die zentrale Bedeutung von »Ethnologie, Sociologie, Statistik« für die moderne Theologie hinzuweisen und der deren teilweise Öffnung hin zu den Sozialwissenschaften erzwang.12 Dieser Frage war denn auch eine der ersten kleinen Forschungsarbeiten gewidmet, die in der SAG entstanden: eine Erhebung von Harald Ziese über den Kirchenbesuch in Berlin-Ost.13 Auf der Arbeitskonferenz 1917 wurde dieses Thema breit abgehandelt;14 in den 1920er Jahren wurde es wieder aufgegriffen, als eine eigens gegründete »Kirchenkommission« der SAG Studien über die »Entkirchlichung« des Arbeiterviertels in Angriff nahm.15 Dabei sollte es nicht nur um die Verhältnisse innerhalb der evangelischen Kirche gehen, sondern – ersten Forschungsskizzen zufolge – dezidiert auch um die katholische Kirche sowie kleinere Sekten und Religionsgemeinschaften.16 Während diese Pläne anscheinend liegen blieben, wurden unter der Leitung Gerhard Spinners

—————— 10 Friedrich Siegmund-Schultze an Karl Gustav Leverkühn, 11. Januar 1913, in: EZA 51/S

II c 20. 11 Hellmut Hotop in: ders./Erich Gramm, »Warum Berlin-Ost?« In: AASAG Nr. 2

(November 1935), S. 24–27, hier S. 24. 12 Zit. nach Graf, »Rettung der Persönlichkeit«, S. 120. 13 Vgl. Harald Ziese, »Zur Statistik des evangelischen Kirchenbesuchs in Berlin-Ost«. In:

NSAG Nr. 2 (April 1914), S. 24–26. 14 Vgl. dazu den Diskussionsbericht: »Aus ›Arbeiterschaft und Religion‹«, in: NSAG Nr. 10

(Dezember 1917), S. 285–291. 15 Vgl. Tula Simons, »Kirchenkommission«, in: RMSAG Nr. 11 (April 1927), S. 2–3, und

den kurzen Abschnitt von Gerhard Spinner im Artikel »Grüße aus der S.A.G.-Arbeit«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 20–36. Zur »Kirchenkommission« der SAG und ihren Untersuchungen von 1926/27 vgl. ausführlich Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 3–15. 16 Vgl. die Forschungsskizzen: »Richtlinien zur Arbeit des Studienkreises über die Lage der Kirchen und religiösen Gemeinschaften in dem Bezirk Friedrichshain im Jahre 1926«, »Richtlinien zur Erforschung der katholischen Kirchengemeinden« und »Richtlinien zur Erfassung von Sekten, religiösen Gemeinschaften«, alle in: EZA 626/10. Vgl. auch Friedrich Siegmund-Schultze an Dr. Kurt Betzbach und Dr. Kuhn, 16. November 1926, in: EZA 51/S II c 26.

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zehn evangelische Gemeinden des Stadtbezirks Friedrichshain relativ eingehend untersucht. Von Juni 1926 bis August 1927 befassten sich 33 Mitglieder der SAG mit dem Gottesdienstbesuch in diesen Gemeinden, wobei 121 Stichproben gemacht wurden. Ergänzend dazu wurden Interviews mit Pfarrern und Gemeindehelfern durchgeführt.17 Diese Erhebungen, so hieß es damals in den Nachrichten, wurden »unter vorwiegend soziologischen Gesichtspunkten« durchgeführt – mehr noch: »Geplant ist, durch verschiedene Arbeiten dieser Art, vornehmlich mit studentischer Hilfe, eine ›Soziologie des Berliner Ostens‹ zustande zu bringen.«18 So strebte man eine umfassende, methodisch über Statistiken und Fragebogenerhebungen hinausgehende wissenschaftliche Arbeit an,19 »die von einem lokal-begrenzten Bezirk aus doch wenigstens etwas zur Kenntnis der ganzen Lage beitragen könnte«.20 Neben Gerhard Spinner, Carl Sonnenschein und den alten SAG-Mitarbeitern Wenzel Holek und Hellmut Hotop wurde der Moabiter Pastor Günther Dehn, ein alter Freund Siegmund-Schultzes,21 zum wichtigsten Mitarbeiter der Kirchenkommission, der auch in methodischer Hinsicht entscheidende Weichenstellungen vornahm.22 Nachdem sich aber Siegmund-Schultze im November 1926 gegen die Publikation von Forschungsergebnissen durch Dehn gewandt hatte, kam es zu einem Streit innerhalb der Kirchenkommission, der zum Austritt zahlreicher Mitarbeiter führte. Die Arbeit der Kommission wurde in kleinerem Umfang weitergeführt – der Pfarrer der Samaritergemeinde und völkisch eingestellte Kirchenbuchexperte Karl Themel, der einige Jahre später in die NSDAP eintrat und dort zu einem fanatischen »Sippenforscher« wurde, war dabei Siegmund-Schultzes wichtigster Helfer.23

—————— 17 Vgl. Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 3–4. 18 »Grüße aus der S.A.G.-Arbeit«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 20–36, hier S. 22.

Siehe dazu auch: »Zur Soziologie des Berliner Ostens«, in: RMSAG Nr. 11 (April 1927), S. 1–3. 19 Vgl. den Brief Friedrich Siegmund-Schultze an Gerhard Spinner, 5. März 1927, in: EZA 51/S II c 26, in dem Siegmund-Schultze fordert, die Sache methodisch »noch radikaler« anzupacken. 20 Gerhard Spinner an Carl Mennicke, 25. September 1926, zit. nach Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 9. 21 Vgl. Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, S. 138–139. 22 Vgl. Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 10. 23 Vgl. Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 10–12. Zu Themels Rolle im Nationalsozialismus vgl. Gailus, »Vom evangelischen Sozialpfarrer zum nationalsozialistischen Sippenforscher«; ders., »Hier werden täglich drei, vier Fälle einer nichtarischen Abstam-

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Im Zusammenhang mit der Jugendgerichtshilfe und den Schutzaufsichten für Jugendliche wurden in der SAG vor dem Ersten Weltkrieg auch schon kleinere Studien über die Wohnverhältnisse im Berliner Osten durchgeführt, die dann – ganz ähnlich wie im Falle der »Kirchenkommission« – von einer eigens eingerichteten »Wohnungskommission« der SAG fortgesetzt wurden. In dieser Kommission waren Ende 1920 vor allem die drei Politikwissenschaftler Hoffmann, Krukenberg und Baenisch federführend. Sie knüpften mit ihren Untersuchungen direkt an die Struktur der Nachbarschaft rund um das Settlement an: So beschränkten sie sich auf ihre angestammte »social area«, das Viertel zwischen Großer Frankfurter Straße, Warschauer Straße, Markusstraße und Spree, wo sie in Absprache mit dem Städtischen Wohnungsamt »nicht nur unsere Freunde und etwa hilfsbedürftige Familien besuchen«, sondern auch »in einigen Fällen sämtliche Wohnungen einen Hauses besuchen« wollten.24 Auf diese Weise entstanden kleinere Berichte über einzelne Häuser des Berliner Ostens,25 vor allem aber kamen SAG-Mitarbeiter mit ausführlichen Fragebogen in die Wohnungen und hielten die entsprechenden Angaben der Bewohner fest.26 Die Arbeiten der Wohnungskommission sind schon vom Umfang her bemerkenswert: Aus der Zeit zwischen März 1927 und Juli 1928 sind mindestens 374 jeweils achtseitige, ausgefüllte Fragebogen der SAG erhalten, die genaueste Auskunft über Lage und Zustand der Wohnungen, Wohnverhältnisse und Nutzung des Wohnraums, Anzahl, Alter, Herkunft und Tätigkeit der Bewohner sowie ihre Vorfahren bis hin zu den Urgroßeltern geben.27 Für sozialhistorische Studien zum Arbeiterwohnen in Berlin-Ost

—————— mung aufgedeckt.« Ein kurzer biographischer Abriss findet sich bei Treiber, Volkskunde und evangelische Theologie, S. 402–403. 24 Friedrich Siegmund-Schultze an Direktor Laporte (Städtisches Wohnungsamt), 26. November 1920, in: EZA 51/S II c 7,1. 25 Vgl. etwa die kurzen Berichte von Richard Rahn und Luise Lehmann über die Häuser Langestraße 87 und Friedenstraße 43, in: EZA 626/II 20,13. 26 Terminpläne für die Hausbesuche befinden sich in: EZA 626/II 20,5. 27 Vgl. das umfangreiche Material in: EZA 626/II 30,1–3. Die Gesamtzahl der Fragebogen lag indessen höher. Vereinzelte Bogen finden sich verstreut in anderen Akten; Luise Lehmann berichtet für den August 1928 von bis dahin ca. 600 ausgefüllten Bogen. Vgl. Notiz von Luise Lehmann über ihre Mitarbeit in der Wohnungskommission, 13. August 1928, in: EZA 626/II 20.14. Ein kurzes Merkblatt mit Richtlinien zum Vorgehen bei der Recherche befindet sich in: EZA 626/II 20,5. Dort wird auf die Notwendigkeit verwiesen, »dass der Bearbeiter bei Aufnahme der Angaben in einer Familie mit dem grössten Takt verfährt«, und dazu wird gewarnt: »Vorsicht bei H 4!« – einer Frage nach Fehlund Totgeburten in der Familie.

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würde dieses Material eine aufschlussreiche Grundlage bieten, zumal die Mitarbeiter unter der Rubrik »Besondere Nöte und Umstände« in vielen Fällen persönliche Randbemerkungen zur Wohnsituation oder auch zur Wohnungseinrichtung mitgeliefert haben. Besonders detailliert sind die Angaben auch im Hinblick auf die Herkunft und die Migrationsbewegungen der Familien. So wurde sogar noch bei den Urgroßeltern nach deren Herkunft und Zuzug nach Berlin gefragt.28 Beeindruckend sind auch die nach Konfessionen aufgegliederten Tafeln zur statistischen Auswertung dieses Materials, die von Mitarbeitern angefertigt wurden und denen sich gute Angaben zur Soziographie von Berlin-Ost entnehmen lassen.29 Dass es nicht zuletzt darum ging, die Reichweite der SAG im Stadtviertel zu dokumentieren und natürlich auch auszubauen, zeigen die ersten beiden Fragen des Bogens: »Welche Beziehungen der Familie bestehen zur SAG?« und »Wer hat uns [die SAG] in die Familie eingeführt?«. Eine Durchsicht dieser Rubrik ergibt, dass von den 374 besuchten Familien ganze 235 Familien irgendeine Verbindung zur SAG hatten – sei es, dass die Ehefrau früher einmal ein Klubkind gewesen war, dass Kinder oder Enkel Veranstaltungen der SAG besuchten oder dass man über Fürsorgeinitiativen in Kontakt gekommen war. Auf dieser Grundlage lässt sich die Verankerung der SAG in Berlin-Ost gegen Ende der 1920er Jahre in etwa abschätzen: Wenn man in Rechnung stellt, dass die Wohnungskommission in erster Linie die Familien aus dem Umkreis der SAG besucht haben dürfte, zu denen sie ohnehin leichten Zugang hatte, so ist die Breitenwirkung des Settlement bei mindestens 235 Familien der näheren Umgebung nicht ganz unerheblich, nach über 15 Jahren sozialer Arbeit vor Ort aber auch nicht überwältigend. Was die Angaben zu Beruf und sozialer Lage der Bewohner angeht, so bestätigt sich auch für die 1920er Jahre das Bild, dass sich die SAG-Klientel in erster Linie aus den Familien kleiner Handwerker und gelernter Arbeiter zusammensetzte. Vereinzelt werden auch Beamtenfamilien und kleine Kaufleute genannt. Bereits an den Untersuchungen der Kirchen- und der Wohnungskommission wird deutlich, wie sehr die Sozialforschung und die soziale Arbeit

—————— 28 Bemerkenswert ist, dass dieser Wohnungsfragebogen auch von einigen residents der SAG

selbst ausgefüllt wurde, wenn auch die Angaben dabei weit spärlicher ausgefallen sind als bei den meisten Arbeiterfamilien; vgl. die Fragebögen in: EZA 626/II 20,5. In Siegmund-Schultzes Fragebogen heißt es etwa über den Beweggrund, im Jahr 1907 nach Berlin zu ziehen: »Um Berlin zu studieren«. Unter »Stand und Arbeit des Mannes« ist angegeben: »Sozialarbeiter«. 29 Materialien in: EZA 626/II 20,13.

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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der SAG von einem territorialen Prinzip ausging. Die Erkundung des städtischen Nahraums, der genaue Blick auf das popularkulturelle Profil der Gegend und die Fokussierung auf die »nachbarschaftlichen« Zusammenhänge ermöglichen sogar – bei allen gravierenden Unterschieden in Referenzrahmen und Zielvorstellung der Forschungsarbeit – den punktuellen Vergleich mit sozialökologischen Arbeiten der Chicago School um Park, Burgess und McKenzie.30 Tatsächlich steht die Sozialforschung der SAG in einigen ihrer Aspekte für eine Form der Stadtforschung, wie sie in Deutschland damals noch kaum praktiziert wurde: mit Ansätzen von Feldforschung und teilnehmender Beobachtung, einem breiten Interesse für Aspekte des Alltagslebens und einem sensiblen Blick für einen bestimmten Ausschnitt der Stadt. Damit positioniert sie sich zwischen den sozialkritischen Reportagen etwa Paul Göhres oder Max Winters,31 den zeitgenössischen arbeiterpsychologischen Studien,32 den Forschungsarbeiten zur Arbeiterreligion aus dem Umkreis des Religiösen Sozialismus33 und den statistischen Untersuchungen der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege.34 Unverzichtbare Basis dieser Arbeit war der langfristige Aufenthalt der residents im Berliner Osten, die mit ihrer Forschungsarbeit immer auch einen melioristischen, auf die Verbesserung der Verhältnisse ausgerichteten Ansatz verbanden. Diese Form einer auf pädagogische und fürsorgerische Praxis ausgerichteten Sozialforschung wurde, ausgehend von der SAG, auch an der Berliner Universität weitervermittelt. Friedrich Siegmund-Schultze, der dort 1926 zum Honorarprofessor für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt ernannt wurde,35 ließ nicht nur im Rahmen der von der SAG durchgeführ-

—————— 30 Vgl. Lindner, Walks on the Wild Side, S. 111. 31 Zur Geschichte der Sozialreportage vgl. u.a. Brenning, Christentum und Sozialdemokratie;

Geisler, Die literarische Reportage in Deutschland; Haas, »Die hohe Kunst der Reportage«; ders., Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Wien, Köln und Weimar 1999; Poore, The Bonds of Labor; Schwarz/Szeless/Wögenstein (Hg.), Ganz unten. 32 Zur Geschichte der arbeiterpsychologischen Forschung vor 1914 vgl. Oberschall, Empirische Sozialforschung in Deutschland; im Hinblick auf die 1920er Jahre noch immer nützlich: der zeitgenössische kritische Überblick von Geiger, »Zur Kritik der arbeiterpsychologischen Forschung«. 33 Vgl. Kniffka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost, S. 16–36. 34 Vgl. Asmus (Hg.), Hinterhof, Keller und Mansarde; Kern, Empirische Sozialforschung, S. 67– 113; Gorges, Sozialforschung in Deutschland; dies., Sozialforschung in der Weimarer Republik. 35 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze, »Professur für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt an der Universität Berlin«, in: NSAG Nr. 20 (Dezember 1926), S. 16–19. Dazu auch Te-

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ten »Akademisch-Sozialen Abende«, sondern auch in seinen Lehrveranstaltungen Seminararbeiten verfassen, die auf kleinen Feldstudien basierten und zum Teil durchaus stadtethnologischen Charakter hatten. So entstanden im Sommersemester 1930 in einem Seminar zur »Psychologie der Großstadtjugend« Arbeiten über »eine Woche mit der Großstadtjugend auf dem Sportplatz Friedrichshain« oder »botanische Kenntnisse bei Proletariermädchen von 6-14 Jahren«. Andere Seminararbeiten trugen Titel wie »Die Familienfürsorge im Bezirk Friedrichshain«, »Bericht über das Jugendheim Koppenstr. 5«, »Die Wärmehallen und öffentlichen Speisestuben in Berlin-Ost«, »Proletarierjugend und Konfirmandenunterricht« oder »Religion und Weltanschauung in der proletarischen Großstadtjugend, vom Christentum aus betrachtet«.36 Damit wurde die in der SAG gewonnene problem- und praxisorientierte Forschungsperspektive auch in den akademischen Bereich übertragen und trug im bescheidenen Rahmen zur Etablierung einer wissenschaftlichen »Jugendkunde« mit bei.37 Des Weiteren spielte Sozialforschung auch im Rahmen des »Akademisch-Sozialen Vereins« eine Rolle, der als eine Schnittstelle zwischen sozialpädagogischer Theorie und Praxis konzipiert war. Dort fanden thematisch gebündelte Veranstaltungsreihen für Studierende statt – so etwa im Wintersemester 1928/1929 zum Thema »Der Arbeiter und seine Arbeit«.38

—————— north, »Friedrich Siegmund-Schultze«. Siegmund-Schultzes Antrittsvorlesung trug den Titel »Einführung in die Jugendwohlfahrt« und ist als Manuskript im Nachlass enthalten, in: EZA 626/II 20,9. 36 Die genannten Seminararbeiten befinden sich in: EZA 626 II/21,3. Eine ähnliche kleine Feldstudie ist z.B. auch die vor dem Krieg entstandene kleine Arbeit von Dirk Krafft über das Herbergswesen in Berlin-Ost: Dirk Krafft, »Über die Berliner Herbergen«, in: NSAG Nr. 9 (April 1917), S. 253–256. Weitere Seminararbeiten über verschiedene Einrichtungen der Berliner Jugendwohlfahrt sind enthalten in: EZA 626/II 11,14. 37 Peter Dudek, der die Wissenschaftsgeschichte der Jugendforschung zwischen 1890 und 1933 nachgezeichnet hat, erwähnt Siegmund-Schultzes Engagement allerdings nur am Rande, vgl. Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften, S. 183. Zu den Gründen für diese nur spärliche Rezeption vgl. Tenorth, »Friedrich Siegmund-Schultze«, S. 80–83. 38 Richard Rahn, »Der Akademisch-Soziale Verein Berlin im Wintersemester 1928/29«, in: NN 12. Jg. Heft 4 (April 1929), S. 73–74.

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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Ethnographie der Arbeiterfreizeit: Die »Vergnügungskommission« Im Fokus der Stadt- und Sozialforschung in Berlin-Ost stand insbesondere das populare Vergnügen und die Freizeitgestaltung der Arbeiterschaft.39 Mit diesen Fragen befasste sich eine eigene »Vergnügungskommission« der SAG, deren Aufgabenstellung mit am stärksten in die Richtung einer ethnographischen Stadtforschung weist. Eine in den Akten erhaltene Forschungsskizze dieser Kommission dokumentiert, wie umfassend und genau die popular- und populärkulturelle Landschaft des Berliner Ostens ausgeleuchtet werden sollte. Es lohnt sich, diese vermutlich Ende der 1920er Jahre entstandene Skizze hier vollständig wiederzugeben, weil sie in ihrem geradezu enzyklopädischem Umfang zeigt, wie ernst man das Programm einer Soziographie und Ethnographie des Stadtquartiers nahm und welche Alltagsphänomene dabei in den Blick kamen: »Einleitung: Umfang des Bezirks, Charakter des Bezirks. Bevölkerungsschichtung und -dichte. Lebens- und Arbeitsweise. Wohnungsverhältnisse. I. Materie: A. Lokale: 1. gesellige Lokale: Cafés mit und ohne Musik Cafés mit Tanz Cafés mit Kabarett Kneipen Weinlokale mit Kabarett (Dielen) Tanzlokale 2. verborgene Lokale: Animierkneipen homosexuelle Cafés und Tanzlokale Kokainhöhlen B. Kino- und Theatervorführungen: Kino Kino mit Bühnenschau Revue Varieté und Kabarett Circus

—————— 39 Als Überblicksdarstellung zur modernen Massen- und Vergnügungskultur vgl. Maase,

Grenzenloses Vergnügen.

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Theater (Rose-, Residenz- und Wallnertheater) Konzerte Sonstige Vorführungen: Sport usw. C. Rummelplätze D. Feste und Feiern: 1. Familienfeste: Taufe, Konfirmation, Verlobung, Hochzeit, Begräbnis, Jugendweihe, Geburtstage, Weihnachten, Sylvester. 2. Vereinsfeste: politische (Reichsbanner, Rotfront, Parteifeste), Sparverein, Kegelklub, Gesangv., Theaterver., Turnver., Schwimmver., Geselligkeitsverein. 3. Hoffeste (Erntefest), Laubenfeste 4. Ausflüge, Partien (Herrenpartien), Badepartien. 5. Stralauer Fischzug usw. 6. Kirchliche Feste (vgl. mit Kirchenkommission) 7. Gelegenheitsfeste, einzelne Tage Hausbau Geschäftsabschluss E. Die Strasse: 1. Fliegende Händler: a. Lebensmittel (Eis, Würstchen, Waffeln usw.) b. Nepp (Wahrsagen, Horoskope, Zauberer, Spielzeug usw.) 2. Anpreisungen, Reklame: Anzeigen für Vergnügungen usw. F. Der Hof: A. Musik: 1. Recitationen (Cabarettcharakter; mit und ohne Musik) 2. Gesang 3. Instrumente Orgel, Harmonium, Ziehharmonika (Bandonion), Mundharmonika, Geige, Cello, Guitarre, Mandoline, Harfe, Horn, Jazz, Ein-Mann-Orchester einzelne und mehrere B. Ausrufer: 1. Händler

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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2. Handwerker 3. politische und andere Ankündigungen C. Vorführungen: 1. Tierstimmenimitator 2. Sportliche Vorführungen: Akrobatik, Expandor usw. G. Radio mit der Post sich in Verbindung setzen H. Wettannahmen/Rennen I. Konfitürenläden K. Das Kind und seine Vergnügungen Strassenspiel (Verwechselt, verwechselt das Bäumelein, Ostseedünen, Sandspielen zwischen den Steinen usw) mit Schulen in Verbindung setzen, durch Aufsätze etwas erfahren II. Materie nach statistischen Gesichtspunkten 1. 2. 3. 4.

Aufzählung der Lokalitäten und Verteilung auf die Strassenzüge Anzahl der Besucher, resp. Zuschauer (Alter; Geschlecht; Jugend) Organisation der Betriebe Anzahl der ständigen Veranstaltungen

III. Materie nach soziologischen Gesichtspunkten: 1. Von welchen Schichten werden die einzelnen Veranstaltungen getragen? (Teilnahme und Einfluss der Landbevölkerung?) 2. Einfluss der Klassen- und Berufspsyche auf Wahl und Gestaltung 3. Zusammensetzung der Besuchergruppen (Familien, Männer, Frauen, usw.) 4. Teilnahme der Kinder 5. Fluktuieren von Lokalen und Veranstaltungen IV. Milieuschilderungen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Vorwiegender Charakterzug der Darbietungen Künstlerische Aufmachung Niveau Modeeinflüsse Programm Publikum

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7. Atmosphäre 8. Räumlichkeiten.«40

Dieser Plan, über dessen Urheber wir leider nichts wissen, ist zwar weit von dem entfernt, was in der SAG tatsächlich erkundet und erforscht wurde. In seinem sehr breit angelegten Zugang zur popularen Kultur ist er allerdings schon als Entwurf hochinteressant, wobei insbesondere das soziologische Interesse an Fragen der »Klassen- und Berufspsyche« sowie das quasi ethnographische Programm der Milieuschilderungen hervorzuheben sind. Stellt man diese Skizze neben die statistischen Umfragen der Wohnungs- und der Kirchenkommission, so ergibt sich das Bild eines sehr umfassend gedachten, quantitative und qualitative Methoden kombinierenden Forschungsdesigns, das umso erstaunlicher ist, als nur wenige ausgebildete Sozialwissenschaftler daran beteiligt gewesen sein können. Vielmehr ergab sich dieses Programm empirischer Sozialforschung aus dem alltagsorientierten Zugriff bürgerlicher Sozialpädagogen, die die ganze Komplexität des Lebens im Berliner Osten kennenlernen, verstehen und systematisch für die eigene soziale Arbeit erschließen wollten. Offensichtlich war sogar ein umfassendes Werk über Berlin-Ost in Planung, worauf eine in zwei Teilen aufgestellte »Disposition« in den Akten hindeutet: Während der erste Teil »Berlin-Ost als Typus grossstädtisch-proletarischer Kultur oder Unkultur« vorstellen und dabei Demographie, Wohnungswesen, Wirtschaft und Verkehrsverhältnisse miteinbeziehen sollte, war der zweite Teil ganz den »Vergnügungen des Ostens« gewidmet. In acht Kapitel gegliedert, sollte die Darstellung den Verkauf von Genussmitteln und Alkohol (auch den »Luxus in den Läden von Berlin-Ost«), die Gaststätten, die »Vorführungen« und Kinos sowie die »Volksvergnügungen« und Feste umfassen.41 Es bleibt angesichts der exzellenten Kenntnisse der SAG-Mitarbeiter über ihren Bezirk sehr zu bedauern, dass es zu diesem Buch nie gekommen ist.42 Über die in der Forschungsskizze genannten Lokale in Berlin-Ost wurden einige kleinere Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse in den Akten dokumentiert sind.43 Dabei schreckte man keineswegs vor dem Be-

—————— 40 Manuskript »Vergnügungskommission« in: EZA 626 II/20,4. 41 Vgl. Disposition I und II, in: EZA 626/II 20,14. 42 Die Akten enthalten lediglich das Manuskript zu einem einleitenden Abschnitt über die

räumliche Abgrenzung des Berliner Ostens; vgl. »A. Der Osten Berlins / 1. Abgrenzung« in: EZA 626/II 20,14. 43 Vgl. zum Folgenden auch Lindner, Walks on the Wild Side, S. 106–111, und Hochmuth/ Niedbalski, »Kiezvergnügen in der Metropole«, S. 110–121.

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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such anrüchiger Etablissements zurück. So ist in einem Manuskript Siegmund-Schultzes von Streifzügen die Rede, welche er bereits 1911 mit einigen Mitarbeitern »durch die Animierkneipen unserer Strassen« unternommen hatte, um Genaueres über die Herkunft der Mädchen und das Publikum der Lokale zu erfahren.44 Frühe Aufzeichnungen existieren auch für solche Sorten von Lokalen, denen die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Sozialreform ansonsten eher weniger sicher war, wie etwa der »Schokoladenläden« in der Fruchtstraße, worunter insbesondere Konfitürengeschäfte und Bäckereien fielen.45 Laut einer Kneipenkarte, die Gustav Leverkühn 1912 von der Koppenstraße angefertigt hatte, kamen auf 105 Häuser 52 Kneipen, davon 14 Großdestillen.46 In den 1920er Jahren schließlich wurden im Rahmen einer »Schankstättenkommission« wiederum mehrere Recherchearbeiten zu den Lokalen der im Quartier der SAG gelegenen Straßen durchgeführt. Maria von Damm hat die Ergebnisse ihrer zusammen mit zwei weiteren Studenten unternommenen »Kneipenenqête« von 1921 in einem kleinen Manuskript zusammengefasst, das anschauliche Beschreibungen der besuchten Lokale und Notizen zum Kontakt mit den dort verkehrenden Publikum enthält. So heißt es etwa unter dem Datum des 7. Oktober: »Koppenstr. 63: 7 Uhr Abds. 6 Tische. 6 Arbeiter. 1 Betrunkener redet Herrn G. [einen der SAG-Studenten, JW] mit ›Herr Nachbar‹ [an] und fragt nach der Uhr. Wirt u. Wirtin bedienen. Es wird Schnaps getrunken. Bier: nur von der Löwenbrauerei. Ich trinke Selter. Abendessen: Reis mit Gänsebrust, reichlich, 5 M. 1 Kind vom Wirt (kl. Mädchen von 6 Jahren) trinkt ein großes Glas helles Bier !!!!, wird um ¾ 8 zu Bett gebracht. Arbeiter erzählen sich laut von Tisch zu Tisch Träume.«47

Ottheinrich Zeeb und Walther Gonser untersuchten das »Schankstättenwesen« in der Fruchtstraße,48 und in der Langestraße erfasste eine kleine Enquête sämtliche Lokale, die im entsprechenden Bericht einzeln kurz

—————— 44 Friedrich Siegmund-Schultze, undatiertes Manuskript »Unsere Schuld«, S. 18, in: EZA

626/II 29,8. 45 Vgl. die Aufstellungen »Schokoladenläden« von Elisabeth Vedder, 9. Mai 1916, und die

»Schokoladenstatistik«, beides in: EZA 626/II 20,6. 46 Friedrich Siegmund-Schultze, undatiertes Manuskript »Unsere Schuld«, S. 17–18, in:

EZA 626/II 29,8. 47 Maria von Damm, Manuskript »Kneipenenquête«, Sept./Okt. 1921, in: EZA 626/II

29,7. 48 Vgl. das kleine Schulheft mit den Feldnotizen von Zeeb und Gonser, in: EZA 626/II

29,7.

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charakterisiert werden. Auch hier scheuten sich die Forscher nicht vor einem Besuch der Animierkneipen und persönlichen Gesprächen mit den Angestellten, wie folgende Passage über das Lokal Langestraße Nr. 61 zeigt: »No. 61. Animierkneipe. Besuch 21. 10. 21. 10.30-11.00 in Begleitung von Herrn Lic. Siegmund-Schultze und Pfarrer Meyer. Wirtin Mitte 30, unverheiratet, gesundes Aussehen, Beamtentochter aus der Nähe von Luckenwalde, evang., angeblich Monarchistin […] verwehrt sich entschieden dagegen, ihr Lokal als eine Art Bordell zu betrachten. […] 2 weibl. Angestellte, die eine hat angeblich Ausgang, ist aber vielleicht in den hinteren Räumen; die andere Mitte 20, ziemlich dirnenhaft gekleidet, freches Lachen, verdient nach eigener Angabe 100 M monatlich und hat freies Essen. Wohnung bei den Eltern, die aber von dem Charakter der Kneipe angeblich nichts wissen. […] 1 Becher Bier 2 M, ein Cognak 4 M, eine Fl. Sekt 60 M. Stammgäste, meist Geschäftsleute, wenig Arbeiter. ›Animieren‹ darf nur die Wirtin u. ihre Verwandten, nicht die Angestellten. Bett und Chaiselongue sind verboten.«49

Eine andere Feldforschung führte zwei Mitarbeiter der SAG ebenfalls in reichlich zweifelhafte Etablissements; Edgar Jungs Bericht darüber dokumentiert eine erstaunlich offene, fast naive und vom moralisierenden Ansatz vieler Sozialreformer weit entfernte Forschungshaltung – wenn nicht sogar eine Haltung auf dem schmalen Grat zwischen Forschung, Selbstexperiment und heimlichem Vergnügen. Über den Besuch des Gasthauses Serowka heißt es bei Jung: »Ziemlich verkleidet machten wir uns nach 10 Uhr abends auf den Weg. Das Vorderzimmer war gut besetzt durch stehende und sitzende Leute. Wir gingen gleich ins Hinterzimmer und ließen uns da nieder. Es war mässig besetzt ca. 15 Personen, darunter etwa 5 Dirnen. Im Laufe des Abends kamen dann noch etwa 5 Dirnen, während andere wieder gingen. Die Leute sassen zum Teil mit den Dirnen auf den Sofas herum. Alles kannte einander auf Du und du. In einer Ecke erwachte eben ein Mann mit wildem Haar, offenem Nachthemd, schwarzen Hosen und Frack. Er gesellte sich dann zu den Gästen im Vorderraum und unterhielt sie mit seinen Sprüchen. Der Hinterraum leerte sich allmählich. Wir setzten uns darauf zu einem Paar auf das Sofa. Die Dirne sprach etwas mit uns und trank uns dann unser (beider!) Bier aus. Sie ging dann weg. Der Versuch meinerseits mit einer anderen anzubändeln wurde zurückgewiesen. Wir schienen jedenfalls zu wenig bekannt. […] Nach 1 Uhr verliessen wir das Lokal und versuchten unser Glück in der AmorDiehle [sic]. Das Lokal war nur noch vorn erleuchtet. Die hinteren Teile, die man durch Vorhänge schliessen kann waren leer. Wir wurden gleich bedient von einem

—————— 49 H. Goßlau an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. Oktober 1921, in: EZA 626/II 29,7.

ANGEWANDTE SOZIALFORSCHUNG IM »DUNKLEN BERLIN«

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Mädchen von ca. 17 bis 19 Jahren. Es forderte für sich sofort Likör, da es für sie zuwenig sei Bier zu trinken. Sogleich gab sich dann auch ein Mädchen gleichen Alters mit uns ab. Auch sie wollte erst zu trinken. Da wir aber kein Geld mehr hatten bekam sie nichts. Sie fragen uns dann lange nach Geld. So schamlos frech hat mir noch niemand Geld abzapfen wollen! Die Preise waren übersetzt, 1 Fl. Wein 7-8 Mark, Sekt 15 Mark! Die Mädchen machten beide einen hübschen und frischen Eindruck.«50

Der SAG-Mitarbeiter Hans Rücker schließlich , der sich 1925 mit den Lokalen der Fruchtstraße befasste, hat die dortige Kneipentopographie auf einer handgezeichneten Karte präzise festgehalten, wobei er die unterschiedlichen Lokaltypen mittels kleiner Piktogramme verzeichnete.51 Auf der Grundlage einer Haus-zu-Haus-Begehung erstellte auch Rücker stichwortartig komprimierte Beschreibungen der vorgefundenen Etablissements. »Gäste: Verkommene Arbeitslose; verschmutzter Boden; junges Gigerl bedient am Schanktisch; ärmliche Musik«, so heißt es etwa über die GroßDestille »Zur Sonne« in der Fruchtstraße. Aus dem offensichtlich seinem seriösen Namen nicht ganz entsprechenden »Hotel Rheinischer Hof« in der Madaistraße wird berichtet: »Ein Kartenleger bereichert sich durch die Besoffenheit der Gäste. Junger Wirt, unsaubre Bude«. Und das im eben zitierten Bericht Edgar Jungs beschriebene Gasthaus Serowka wird gar charakterisiert als »Kellerkneipe, 8 finstre Gesellen sitzen u. liegen herum; laute Musik; polnische Wirtsleute, die ihre Landsleute zu Stammgästen haben; diese z.T. besoffen, werden vom Wirt ausgepumpt. Verbrecher? Unterirdische Notausgänge.«52 Treffend kommentiert Lindner diese Protokolle mit dem Hinweis auf die Ikonographie des Abgründigen: »Ob sich hier zeitgenössische Filmbilder vor das Auge des Betrachters geschoben haben, kann nur gemutmaßt werden.«53

—————— 50 Edgar Jung, Bericht über einen Besuch bei der Kneipe der Frau Sorofka [sic] am Schlesi-

schen Bahnhof, und der Amor-Diehle [sic] an der Langen Strasse. Freitag, den 4. November 1927, in: EZA 626/29,7. 51 Karte »Die Kneipen an der Fruchtstrasse«, in: EZA 626/II 29,7. 52 Hans Rücker, Eine Übersicht über die Kneipen der Fruchtstraße, Madaistraße u. der Straße »Am Schles. Bahnhof«, mit Plan, Beschreibung u. Statistik. Sommersemester 1925, in: EZA 626/29,7. 53 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 110.

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Ordnungen des Vergnügens: Das Beispiel Kino Tatsächlich gehörte die Aufmerksamkeit der SAG-Sozialforscher auch den Bildern, die im Berliner Osten tagtäglich über die Leinwände der Kinematographentheater flimmerten.54 Schon zu Beginn der Settlementarbeit, im Jahr 1912, hatten Mitarbeiter Siegmund-Schultzes systematisch Kinovorstellungen im Berliner Osten besucht und Berichte darüber angefertigt. Dabei dominierte noch ganz die Perspektive des Jugendschutzes und des Schundkampfes gegen »Schmutz und Geifer«, wie es in einem Bericht über die zotigen Kommentare der »Erklärer« heißt. »Da z. Teil heruntergekommene Elemente sich unter den Leuten befinden, so ist gerade diese Art der Einwirkung auf das Volk und besonders auf die Kinder von grossem Schaden und darum ebenso sehr wie die Schundfilms zu bekämpfen.« Zum Schluss allerdings scheint das Interesse des unbekannten Berichterstatters – möglicherweise Eduard Bruhn – erlahmt zu sein; so heißt es an einer Stelle: »Was gegeben wurde, erinnere ich nicht mehr. Doch wird es anständig gewesen sein.« Und der Bericht vom 4. August 1912, der darauf hätte folgen sollen, ist – so der lapidare Hinweis im Manuskript – »leider verloren gegangen«.55 Solche Berichte folgten ganz der Perspektive des Zensors, Herausgebers der »Hochwacht« und wohl prominentesten preußischen Schundkämpfers Karl Brunner, der 1912 ebenfalls Kinovorstellungen im Berliner Osten besucht hatte,56 und mit dem Siegmund-Schultze in persönlichem Kontakt stand.57 Sie dienten nicht zuletzt der Kontrolle des Kinowesens im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes durch »freiwillige Unterstützung aller Kreise«, so wie sie auf einem Flugblatt der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge erbeten wurde.58 So machte man seitens der SAG bei Brunner Meldung, wenn man der Ansicht war, in Filmen und – mehr noch – den beigefügten Texten und Kommentaren würde »Klassenhass gepredigt« und versucht, »unsittliche Empfindungen zu erregen«.59 Andere Berichte

—————— 54 Vgl. dazu Weisz, »Großstadtdrama«. Als der Klassiker der frühen Kinoforschung sei an

dieser Stelle genannt: Altenloh, Zur Soziologie des Kino. 55 Vgl. Manuskript mit »Vorbemerkungen für die Berichte über meine Kinematographen-

theaterbesuche«, in: EZA 626/II 29,9. 56 Vgl. Brunner, Der Kinematograph von heute, S. 15–16. 57 Vgl. das Schreiben von Karl Brunner an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. Januar 1913,

sowie die Schreiben von Friedrich Siegmund-Schultze an Karl Brunner vom 14. Februar 1913 und 12. November 1913, alle in: EZA 626/II 29,9. 58 Drucksache in: EZA 626/II 29,9. 59 Friedrich Siegmund-Schultze an Karl Brunner, 14. Februar 1913, in: EZA 626/II 29,9.

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gehen allerdings über die rein inhaltliche Beurteilung der Filme hinaus und beziehen auch Informationen über Spielstätten, soziale Zusammensetzung des Publikums und Publikumsverhalten mit ein. Ein gutes Beispiel dafür liefern die Notizen über die Kinos in der Münzstraße – also nicht im Berliner Osten, sondern im Bereich des Scheunenviertels, die von einem ungenannten Mitarbeiter der SAG erstellt wurden. So wird vermerkt, dass sich etwa vor dem »Biographtheater« ein »verdächtiges Publikum« herumtreibe; im Kino selbst beobachtete der Verfasser genau das Verhalten des Publikums, etwa wenn er »gegenseitige Unterhaltung auch während des Spiels« registriert, während – so ein anderer Bericht – das kleinbürgerliche Publikum des »Film-Stern-Palastes« auf der Großen Frankfurter Straße dem Gebotenen »still u. genießend« folgte, »ohne laute Äußerungen irgendwelcher Art«.60 Beispielhaft für diese genaue Beobachterhaltung ist im Übrigen auch der gute Bericht eines Mitarbeiters über das Wallnertheater in der gleichnamigen Straße unweit der Jannowitzbrücke.61 Wie schon im Falle der Kneipenforschungen lieferten die Sozialforscher zu ihren Beobachtungen genaue Straßenskizzen mit der Lage der entsprechenden Etablissements. So ist in den Akten eine sehr exakte, mit Wasserfarben ausgemalte Karte des Berliner Ostens erhalten, in der die Standorte von 29 Theatern und Kinos verzeichnet sind.62 Das Kartieren kann somit geradezu als ein elementares methodisches Verfahren der SAG-Sozialforschung bezeichnet werden, was wiederum auf die topographisch-territoriale Herangehensweise hindeutet, auf den sozialräumlichen Ansatz bei der unmittelbaren Nachbarschaft, die man in der Rolle als »Quartiersmanager« möglichst genau kennen musste. Rolf Lindner, der vor allem die Kneipenforschung der SAG im Kontext der statistischen und ethnographischen Stadtforschung ausführlich gewürdigt hat, leitet diese kartographische Methode von den drink maps der englischen Temperenzbewegung sowie der Boothschen Sozialenquête her,63 auf die man sich in der SAG explizit bezog.

—————— 60 Manuskript »Die Kinos auf der Nordseite der Gr. Frankfurterstraße«, in: EZA 626/II

29,8. 61 Manuskript mit der Bleistiftnotiz »Hirth« in: EZA 626/II 29,8. Dieser wohl um 1930

entstandene Bericht ist besonders interessant, weil das Wallnertheater als das Arbeitertheater des Berliner Ostens stets im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen stand. So wird eindrucksvoll darüber berichtet, wie das einst von Nationalsozialisten dominierte Theater von der »Piscatortruppe« übernommen und zu einem »Parteitheater« der KPD gemacht wurde. 62 Karte in: EZA 626/II 29,8. 63 Vgl. Lindner, Walks on the Wild Side, S. 110.

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Einen ausgesprochen genauen und vor allem kenntnisreichen Blick auf die Kinolandschaft des Berliner Ostens während des Krieges verrät ein Text Elisabeth Benzlers, der als Manuskript vorliegt und damals vermutlich aus kriegsbedingtem Geld- und Papiermangel nicht in Druck gegangen ist.64 Benzler zeigt sich außerordentlich informiert über die Hintergründe der Filmwirtschaft und deren Einfluss auf das Programm der einzelnen Theater. Vergleiche zwischen französischen und deutschen Verhältnissen, die dominante Rolle der »Filmfabriken« und damit des Großkapitals im Kinowesen, die Modalitäten der Filmzensur in Preußen und andere Aspekte werden vorgestellt und kritisch betrachtet.65 Bemerkungen zum Konsumverhalten und Publikumsgeschmack der unteren Schichten66 führen dann hin zum Hauptteil des Berichts, der eingehenden soziologischen Betrachtung des Kinopublikums sowie der Spielstätten und Filmprogramme des Berliner Ostens. Der hohe Reflexionsgrad von Benzlers Text zeigt sich an der Art und Weise, wie die gegebenen Analysen von Inhalt und Dramaturgie der Programme mit milieukundlichen Beobachtungen verknüpft werden. Der Kinobericht schließt – wenig erstaunlich – mit dem Hinweis auf die Arbeit der »inneren Hebung«, die gerade an diesem Punkt noch zu leisten sei. Gleichzeitig aber werden die materiellen Verhältnisse der Arbeiterschaft als das Problem angegeben, an dem die Reform anzusetzen habe – gegenüber einer rein moralischen und moralisierenden Perspektive vertritt Benzler damit auch einen dezidiert sozialen Standpunkt: »Will man […] das Kinowesen im Osten heben, so sind die Lebensbedingungen zu beseitigen, in denen es wurzelt. Eine allgemeine Hebung der sozialen Lage, eine weitgreifende Volksbildung kann allein dem Geschmack des Kinopublikums eine neue Richtung geben. Bei der Erziehung des Volkes ist einzusetzen. Eine langsame stufenweise Emporentwicklung muß stattfinden. Hier kann auch die Soziale Arbeitsgemeinschaft wirken. Wenn wir versuchen die Schätze der Schönheit, die im deutschen Bild, in deutscher Erzählungskunst, in deutscher Landschaft umschlossen sind, unserer Großstadtjugend zugänglich zu machen […], so helfen wir an unserem Teil mit, die Kritiklosigkeit und Gleichgültigkeit der Masse zu vermindern und den Begriff Kino im Osten mit einem neuen Inhalt zu füllen.«67

Das Ziel, »das Kinowesen im Osten [zu] heben«, verweist auf den Kontext bürgerlicher Auseinandersetzungen mit der modernen Massenkultur gene-

—————— 64 Vgl. das Manuskript von Elisabeth Benzler, Kino im Osten, in: EZA 626/II 29,8. 65 Ebd., S. 4–20. 66 Ebd., S. 20–26. 67 Ebd., S. 74.

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rell. Die im Kaiserreich entstandene Bewegung gegen »Schmutz und Schund«, die eine dezidierte Kritik am sittlichen Niveau sowohl der Kinovorführungen als auch der Jugendliteratur vertrat, ist mittlerweile in zahlreichen Studien behandelt und auch im Zusammenhang mit spezifisch bildungsbürgerlichen Selbstbildern und Problemwahrnehmungen analysiert worden.68 Gedeutet wurde sie als Selbstermächtigung »volkserzieherischer Aktivgruppen«,69 als »Mittel zur Förderung des bürgerlichen Selbstverständnisses«,70 und als Versuch, »die eigene Position im kulturellen Raum zu stabilisieren oder zu verbessern«.71 Die Diskussion um Jugendliteratur gehörte zu den Standards einer bürgerlichen Pädagogik, die das »Niedere« zum Schutz des »Höheren«, das Unkontrollierte im Namen der Kontrolle, die Warenform der »geistigen Nahrung« im Namen des pädagogischen Zugriffs bekämpfen wollte. Der Schundkampf diente damit der Eingrenzung eines Bereichs, in dem die kulturelle Hegemonie des Musters von »Bildung und Kultur« prinzipiell legitimiert war. Schon die frühen Auseinandersetzungen um die »ästhetische Erziehung« der Jugend, wie sie etwa von den Hamburger Schundkämpfern um Heinrich Wolgast geführt wurden,72 dienten unverkennbar dazu, die Arbeiterfrage zu kulturalisieren – und das hieß: auf ein Feld zu überführen, für das die Bildungsbürger wie niemand sonst Kompetenz und Deutungshoheit reklamieren konnten. In der Unterscheidung zwischen »Schundliteratur« und »guter Literatur« spiegelt sich einmal mehr die rough-respectable-Dichotomie, wie sie für Generationen von Sozialreformern und Sozialarbeitern handlungsleitend war. Sie diente dazu, eine Welt des Schmutzes symbolisch zu bannen und als einen Bezirk der »niederen Instinkte« auszuweisen.73 Gerade Bewegungen, die sich – mit welcher politischen Zielsetzung auch immer – um die Herausbildung des

—————— 68 Vgl. u.a. Schenda, »Schundliteratur und Kriegsliteratur«; Peukert, »Der Schund- und

Schmutzkampf als ›Sozialpolitik der Seele‹«; Jäger, »Der Kampf gegen Schmutz und Schund«; Springman, »Poisoned Hearts«; Maase, »Die soziale Konstruktion der Massenkünste«; ders., »Die soziale Bewegung gegen Schundliteratur«; Reuveni, »Der Aufstieg der Bürgerlichkeit«. Speziell zur frühen Kinokritik vgl. Maase, »Massenkunst und Volkserziehung«; Müller, »Der frühe Film«. 69 Maase, »Schundkampf und Demokratie«, S. 9. 70 Reuveni, »Der Aufstieg der Bürgerlichkeit«, S. 142. 71 Maase, »Krisenbewußtsein und Reformorientierung«, S. 340. 72 Zu Wolgast vgl. Maase, »Kunst für die Kinder des Volkes«. 73 Zum kulturkritischen Widerstand gegen die Massenkünste generell vgl. auch Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 159–179. Bollenbeck weist dezidiert auf die Rolle des symbolischen »Unten« hin, durch das die Bildungsbürger ihre kulturelle Hegemonie unterminiert sahen. Ebd., S. 162.

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»neuen Menschen« bemühten, bedienten sich dieser Abgrenzungsgeste.74 Zugleich spiegelt sich in der Definition von Schundliteratur als einem »derjenigen Faktoren der Umwelt, die erziehungswidrig wirken«,75 das Reiz-Reaktions-Schema, dem die Wohlfahrtspflege des Kaiserreichs und der Weimarer Republik weitgehend folgte und nach dem es – im Sinne des Rettungsparadigmas – darum ging, die Jugendlichen von schlechten Einflüssen von außen zu schützen. Die SAG hatte sich diese Sichtweise zu eigen gemacht und engagierte sich auf dem Feld des »Schundkampfes«. Die einschlägigen Diskussionen wurden genau verfolgt: eine Akte aus dem SAG-Nachlass enthält zahlreiche Zeitungsausschnitte und Drucksachen zum Thema.76 Darin findet sich beispielsweise auch eine detaillierte Liste der in Groß-Berlin vertriebenen »billigen Schundheftreihen«, die der SAG vom »Groß-Berliner Ausschuss zur Bekämpfung der Schundliteratur und des Kinounwesens« zugesandt wurde.77 Bei der Arbeit in den Klubs waren die SAG-Mitarbeiter mit diesem Thema ebenso konfrontiert wie bei der Zusammenstellung der Bibliothek in der eigenen Lesehalle.78 Wie auch immer die Erfahrungen und Erkenntnisse im Umgang mit dem niederen »Klassengeschmack« letztlich gewertet wurden – in jedem Fall dokumentieren sie einer intensive und ernsthafte Auseinandersetzung mit der Rolle populärer Ästhetik im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung.

Der Missionar als Feldforscher: Richard Lau Die empathische Forschungshaltung der SAG lässt sich am besten an einzelnen Feldforschungen nachvollziehen, bei denen sich Mitarbeiter in Berlin-Ost, aber auch in anderen Städten für eine gewisse Zeit einem anderen Milieu ausgesetzt haben. Ein Vorbild für diese Feldforschungen war die Entdeckungsfahrt durch den Londoner Osten, die Friedrich SiegmundSchultze im Jahr 1908 unternommen hatte. »Ziehen Sie sich Ihren schlechtesten Anzug an«, hatte ihn sein Begleiter damals angewiesen, »und neh-

—————— 74 Vgl. dazu Wietschorke, »Schundkampf von links«. 75 Hellwig, »Schund und Schmutz«, S. 568. 76 Vgl. EZA 51/S II n 6. 77 Liste der gegenwärtig in Gross-Berlin vertriebenen billigen Schundheftreihen und -zei-

tungen, in: EZA 51/S II n 6. 78 Vgl. z.B. Magda Rohkohl, »Klub Cäcilie«, in: NSAG Nr. 13 (April 1920), S. 60–61, und

Wenzel Holek, »Was Kinder lesen«, in: ASM 5. Jg. Heft 8/9 (November/Dezember 1921), S. 125–133.

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men Sie so wenig wie möglich mit, damit wir besser durchkommen.«79 Siegmund-Schultze hielt sich an diesen Rat und legte eine typische »ethnologische« Verkleidung an: »Die Krempe eines breitrandigen Strohhuts bog ich nach unten, einen Knüppel besorgte ich mir. Mit einem kleinen Bündel in der Hand trat ich an dem verabredeten Nachmittag bei Bahnhof Liverpool Street an.«80 Rolf Lindner hat diese Verkleidungssequenz aus Siegmund-Schultzes sozialem Reisebericht kommentiert und darauf hingewiesen, daß das Elendskostüm, in das die bürgerlichen Forscher schlüpfen, eben nicht nur ein Kostüm ist, sondern in einem aufschlussreichen Rückspiegelungseffekt auch den »Anderen« sichtbar macht, so wie ihn sich die Forscher vorstellen. Der »Andere« kann – das gibt schon die Logik der Reise ans »andere Ufer« der Gesellschaft vor – »nur als leibgewordene Antithese des bürgerlichen Beobachters« imaginiert werden – und damit notwendigerweise als derb und schmutzig.81 Wenn Siegmund-Schultze also auf seinem Gang ins Londoner East End einen Knüppel mit sich führte, so ist dieser als die symbolische Inszenierung einer Gewalt zu verstehen, die zu seinem Bild vom East End gehörte.82 Entsprechend der Grundidee der SAG, dass bürgerliche Akademiker am Alltagsleben der Arbeiterschaft des Berliner Ostens teilnehmen sollten, war auch ihre Sozialforschung weitgehend nach dem Muster einer teilnehmenden Beobachtung angelegt: »Wirklich in die Tiefe führende Einblicke schaffen beim Menschen nicht die Bücher und nicht die Beobachtungen mehr aus der Ferne, sondern die persönlichen Berührungen, das wirkliche Zusammenleben.«83 Eine Studentin aus der SAG, die für einige Wochen in einer Pulverfabrik tätig war, gab denn auch als ihr Ziel an, »Welt und Geschehen aus einer anderen Perspektive als der gewohnten zu betrachten«, worin sie »die Vorbedingung für ein Sicheinfühlen in die Arbeiterseele« sah.84 Die aus der Ethnologie hinlänglich bekannte »Befremdung der ei-

—————— 79 Siegmund-Schultze, »Eine Nacht im Osten von London«, S. 210. 80 Ebd. 81 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 99; vgl. auch ders., »Vom Besucher zum Nachbarn«,

S. 18–19. 82 Zu den Rückspiegelungseffekten der ethnologischen Verkleidung vgl. auch Schocket,

»Undercover Explorations«; ders., Vanishing Moments, S. 105–142; Lindner, »Ganz unten«, S. 23–25; Wietschorke, »Entdeckungsreisen in die Fabrik«, S. 47–49. 83 Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 6–11, hier S. 8. 84 »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 1, in: ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar– März 1918), S. 174–184, hier S. 178.

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genen Kultur«85 taucht hier als epistemologisches Prinzip der Arbeiterforschung auf. Überhaupt wurde das Studium der »Wirklichkeit des Menschenlebens« in Analogie zum universitären Studium verstanden. So sprach der Theologiestudent und angehende Missionar Richard Lau, der vor seinem Eintritt in die SAG an der sozialstudentischen Arbeit Carl Sonnenscheins im Rheinland mitgewirkt hatte, von der jahrelangen Arbeit, die nötig sei, um sich »in die Kultursphäre des klassischen Altertums etwas ›einfühlen‹« zu können – und er setzte hinzu: »Viele lange Mühe kostet es auch, bis wir uns in die Kulturwelt des Arbeiters […] einleben können.«86 Dass die »Kulturwelten« des klassischen Altertums und der Arbeiterschaft hier in einem Atemzug genannt werden, macht anschaulich, dass das Eintauchen ins Arbeitermilieu für die Akademiker immer auch ein Bildungserlebnis war. Entscheidend war dabei das bereits mehrfach genannte Motiv des »Sicheinfühlens«, das geradezu den Kern der Methode teilnehmender Beobachtung ausmacht. Wie sich Richard Lau dieses »Einfühlen« und »Einleben« in den Alltag der unteren Schichten vorstellte, machen seine Feldnotizen aus einem Kölner Gesellenheim anschaulich.87 Offensichtlich hatte sich Lau zusammen mit anderen Studenten in das katholische Heim eingeschleust, um dort Beobachtungen zu machen, vor allem aber, um eine echte Innenansicht der Verhältnisse zu gewinnen – eben sich »einzufühlen«. In den Feldnotizen heißt es beispielsweise: »Unsere Betten sind sehr hart. Man ist früh recht steif, wenn man aufsteht. Ich glaube, dass viel von dem inneren Menschen im Gesellen dadurch entsteht, dass er so hart schläft. Ein klein wenig kommt bei diesem Gefühl auch so in uns hinein. Ebenso werden wir dem Gesellen innerlich ähnlicher, wenn wir mit ihm zusammen essen.«88 Diese Formulierungen sind im Hinblick auf die Identifikationsperspektive der bürgerlichen Entdeckungsreisenden höchst aussagekräftig. Lau folgte nämlich ganz der »erfahrungswissenschaftlichen Regel«, die besagt: »to understand one, one has to become one«.89 Erst darin, dass er

—————— 85 So der Titel des Sammelbandes Amann/Hirschauer (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kul-

tur. 86 Richard Lau, »Auch eine ›soziale Arbeit‹«, S. 193. 87 Er selbst zitiert hier aus seinen »tagebuchartigen Aufzeichnungen«, vgl. Richard Lau,

undatiertes Manuskript, S. 3, in: EZA 51/S II c 18. 88 Ebd. 89 Lindner, »Ganz unten«, S. 23. Formuliert wurde diese Regel z.B. auch von dem amerika-

nischen Schriftsteller Stephen Crane, der sich 1894 im Elendskostüm ins Landstreicher-

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dem Gesellen »innerlich ähnlicher« würde, sah er eine Möglichkeit, dessen »Kulturwelt« zu verstehen. Dabei ging es explizit darum, die Perspektive der anderen nicht etwa nur auf der Basis von Beobachtungen zu rekonstruieren, sondern durch körperliche Erfahrungen – das Schlafen auf harten Betten, das gemeinsame Essen – zu inkorporieren.90 Damit zeigte Lau, dass er eine wichtige Dimension des Klassenhabitus im Sinne Bourdieus verstanden hatte: die Tatsache nämlich, dass klassenspezifische Kulturmuster ganz wesentlich mit körperlichen Erfahrungen zu tun haben und nicht zuletzt aus ihnen heraus verstanden werden müssen. So wie Loïc Wacquant erst durch das Boxen im »gym« zu einem wirklichen Verständnis des »Lebens für den Ring« im Chicagoer Ghetto gelangt ist,91 so waren die harten Betten des Kölner Gesellenheims für Lau ein Schlüssel zum Verständnis des »inneren Lebens im Gesellen«. Und als Ergebnis seiner Studien hält Lau fest: »Man weiss jetzt viel mehr von den anderen, dadurch wird wohl auch indirekt manches zum sozialen Frieden beigetragen. Man kann nicht kontrollieren, wie wie sehr das eigne Gefühl verändert ist durch diese Studien, aber irgendwie muss sich das auswirken…«92 Im Zentrum dieser Forschung stand also die Veränderung des »eigenen Gefühls« – und damit vertrat Lau eine Konzeption von Feldforschung, bei der nicht nur die Beobachtung der anderen, sondern auch der Effekt des Forschungsprozesses auf die eigene Person für die Datengewinnung genutzt wird. Gleichsam nebenbei entdeckte er hier die »teilnehmende Beobachtung als Interaktionsprozeß«93 für sich. Denn anstatt sie zu verschleiern, legte Lau seine Position als Student und Forscher offen, wie aus den Notizen über die Kölner Feldforschung hervorgeht: »Die andern Studenten sind irgendwie aus kleinen Städten, für sie ist der Besuch in Köln schon deshalb ein Ereignis, und sie können sich deshalb nicht bloss auf die Gemeinschaftsarbeit beschränken, sondern auch das sonstige Grossstadtleben gehört zu ihrem Studium. Dem widmen sie die Abende. Ich gehe dagegen immer möglichst früh in die Klappe, vorgestern schon etwa um 9. Um ½ 10 kam unser Schneider. Dann redeten wir noch allerlei. Ich bemerkte, dass ich von dem Herumlaufen in der Stadt müde wäre. ›Hast du denn noch keine Stellung gefunden?‹ Da sagte ich ihm gleich, was ich wäre, und dass wir Studenten hier zusammen die

—————— milieu begab: »You can tell nothing of it unless you are in that condition yourself«, zit. nach Schocket, »Undercover Explorations«, S. 109. 90 Vgl. dazu auch Schocket, »Undercover Explorations«, S. 109–112. 91 Vgl. Wacquant, Leben für den Ring. 92 Richard Lau, undatiertes Manuskript, S. 3, in: EZA 51/S II c 18. 93 Vgl. dazu Lindner, »Die Angst des Forschers vor dem Feld«.

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Stadt studierten. Freilich, dass ich evangelischer Theologe sei, habe ich nicht verraten. Das Staunen wäre bei ihm doch zu gross gewesen. […] Ich denke, dass wir auch durch das Dienen den andern zeigen müssen, dass wir gar nicht alle stolz uns zurückgezogen sind. So habe ich an jenem Abend statt seiner das Licht ausgemacht, d.h. ich bin aus dem Bett gestiegen, bin unsere lange Treppe hinuntergestiegen, bin dann im Dunkeln wieder heraufgegangen und in mein Bett gekrochen.«94

Jenseits aller bloßen Beobachtung und Beschreibung der Verhältnisse ging es hier also um die Interaktion selbst und ihre kulturelle Dynamik – mehr noch: es ging ganz explizit auch um »die Symmetrie der Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem als wechselseitige Beobachtung«,95 wobei im Falle Laus natürlich auch mit kalkulierten Gesten versucht wurde, das Bild von »den Studenten« zu beeinflussen. Lau zeigt sich als genauer Protokollant seiner eigenen zunächst reservierten, dann offeneren Haltung dem »Feld« gegenüber, wenn er festhält, wie er sich »erst allmählich aus der Schüchternheit zur passiven Receptivität, dann zur aktiven Receptivität im Verkehr mit Gesellen entwickelte«.96 Für viele Feldforscher aus der SAG – ein weiteres Beispiel wird uns im Folgenden noch beschäftigen – spielte also die Selbstbeobachtung im Feld eine wichtige Rolle. Denn aus ihrer Perspektive ging es von vornherein um einen Selbstversuch im »unbekannten Land« des Berliner Ostens, um den Kontakt mit dessen Bewohnern und damit um die Relationalität sozialer Positionen. Zugleich erprobte hier der angehende Missionar Lau ein Auftreten, das für seine Berufspläne in Afrika oder Ostasien entscheidend war; dazu gehörte insbesondere die genuin missionarische Haltung des »Dienens«, die als Geste der Selbstlegitimierung und der Gewinnung der Seelen verstanden werden muss. Laus »Hinuntersteigen« aus dem Schlafsaal, um das Licht zu löschen, bildete – während es eigentlich eine banale Selbstverständlichkeit war – für ihn das symbolische Hinuntersteigen zum einfachen Volk ab, durch das sich die Missionare ihren Erziehungsanspruch erwerben wollten. Dabei erweist sich aber gerade Lau als erstaunlich sensibler und selbstkritischer Missionar, der den Kulturkontakt und den Respekt vor den anderen ins Zentrum seiner Überlegungen stellte. Ein andermal indessen scheint eine Feldforschung Laus gescheitert zu sein, eben weil er sich inkognito ins Feld begeben hatte. Über diesen Forschungsversuch unterrichtet uns lediglich ein von Freunden verfasstes

—————— 94 Richard Lau, undatiertes Manuskript, S. 4, in: EZA 51/S II c 18. 95 Lindner, »Die Angst des Forschers vor dem Feld«, S. 54. 96 Richard Lau, undatiertes Manuskript, S. 4, in: EZA 51/S II c 18.

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Scherzgedicht, das – sicherlich mit einem Schuss genrespezifischer Übertreibung darin – die ganze Problematik der ethnologischen Verkleidung verdeutlicht: »Um’s Volk noch besser zu belauschen, / Tat er sein Kleid mit Lumpen tauschen, / Zog Stiefeln an mit großen Löchern / Draus sahn hervor ganz nackt und knöchern / An jedem Fusse je zwei Zehen. / Auch liess den Bart er lange stehen / Dass seinem zarten Angesicht / An Struppigkeit es fehlte nicht. / Stülpt seinen runden schwarzen Hut / Auf seinen Kopf und denkt: ‘s ist gut. / Geht so in’s Obdachlosenhaus / Und forscht des Volkes Seele aus. / Jedoch – hier ging die Sache schief, / Denn ach – ein Schutzmann plötzlich rief, / Er sollt’ die Ausweiskarte zeigen. / Da liess sich’s länger nicht verschweigen, / Dass nur verkappt hier ein Student / Im Obdachlosenhause pennt.«97

Der Clou dieser kleinen gereimten Geschichte ist, dass die Verkleidung des bürgerlichen Kundschafters offensichtlich nicht gut genug ausgefallen war. Lau hatte das »dressing down« – oder, um es mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Eric Schocket zu sagen, den »Klassen-Transvestitismus«98 – übertrieben und sich so sehr in Lumpen geworfen, dass er selbst im Obdachlosenheim als verdächtige Gestalt auffiel und eben deshalb kontrolliert wurde. Er hatte sich, wie schon Siegmund-Schultze 1908 im East End, ganz nach seinen Erwartungen an das zu erforschende Milieu gekleidet; an seinem eigenen Erscheinungsbild war daher abzulesen, wie es um seine Vorstellungen von den Obdachlosen stand.99 Mit seinem beabsichtigt schmutzigen, struppigen und zerlumpten Aufzug aber passte er sich gerade nicht an die anderen an, sondern gab ein irritierendes, weil übertriebenes und unstimmiges Bild ab – erfahrene Beobachter wie der diensthabende Schutzmann entlarvten solche Versuche sofort. Dass das »ethnographische Wissen« der SAG100 und ihre Expertise in Fragen der »Arbeiterforschung« durchaus anerkannt und gefragt war, zeigt ein im Mai 1916 verfasster Brief des Berliner Soziologen Alfred Vierkandt an Friedrich Siegmund-Schultze. Darin äußert Vierkandt – seit 1913 ordentlicher Professor für Soziologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität und später Herausgeber des einflussreichen »Handwörterbuchs der Sozio-

—————— 97 »Bruder Lau«, Manuskript S. 5, in: EZA 51/S II c 18. 98 Schocket, »Undercover Explorations«. 99 Eine ähnliche Episode berichtet Elisabeth Gnauck-Kühne, die sich 1895 für ihre Inkog-

nitoforschung in einer Berliner Kartonfabrik ebenfalls unpassend – nämlich unter dem Standard der Arbeiterinnen – zurechtgemacht hatte. Vgl. dazu Wietschorke, »Entdeckungsreisen in die Fabrik«, S. 48–49. 100 Vgl. dazu Wietschorke, »Soziales Settlement und ethnografisches Wissen«.

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logie« – die »Bitte um eine Auskunft aus dem Schatz Ihrer praktischen Erfahrungen«. Seine soziologischen Studien hätten ihn »vor die Frage gestellt, ob ein besonders hohes Mass von gegenseitiger Hilfsbereitschaft bei unserer heutigen Fabrikarbeiterbevölkerung vorhanden ist«, ob man sogar, »psychologisch ausgedrückt«, von einem »Instinkt der Hilfsbereitschaft« sprechen könne und ob persönliche Hilfeleistungen unter Arbeitern prinzipiell gegenseitig seien. Über die Befunde aus der wissenschaftlichen Literatur hinaus benötige er »genaue Feststellungen« und »gute sichere Beobachtungen, wie Sie vermutlich im Kreise Ihrer Helfer schon öfter gemacht sind oder gemacht werden können«.101 Unverkennbar befasste sich Vierkandt zu diesem Zeitpunkt schon mit den in seiner 1923 erschienenen »Gesellschaftslehre« behandelten Fragen nach den »sozialen Anlagen des Menschen«. Über die Antwort aus der Fruchtstraße ist leider nichts bekannt, aber in einem Abschnitt der »Gesellschaftslehre« über den »Hilfsund Pflegetrieb« heißt es dann, »alle zuständigen Beurteiler« seien sich »darin einig, daß sich bei den sogenannten kleinen Leuten ein großes Maß gegenseitiger Hilfswilligkeit zeigt«102 – eine Feststellung, wie sie dem Soziologen Vierkandt sicherlich auch aus Berlin-Ost bestätigt wurde. Generell liefert Vierkandts Soziologie einen weiteren Beleg dafür, dass arbeiterpsychologisches und ganz allgemein angewandtes sozialwissenschaftliches Wissen zunehmend gesellschaftlich relevant wurde. Das 1924 in Berlin gegründete »Institut für angewandte Soziologie«, in dem neben Praktikern aus »allen Ständen« auch Wissenschaftler – darunter Alfred Vierkandt – tätig waren, macht die neue paradigmatische Verschränkung von Sozialforschung und Volkserziehung deutlich;103 die Anfrage Vierkandts bei der SAG belegt, dass den damals vornehmlich theoretisch arbeitenden Soziologen vor allem konkrete Felderfahrungen fehlten. Und Beiträge aus der angewandten Soziologie wie derjenige Theodor Geigers über eine »Studienreise nach Finnland mit Proletariern« zeigen, wie sehr die Untersuchung des »Gruppenlebens« mit praktischen Fragen der Menschenführung – gerade auch im Kontext von sozialer Arbeit und Volksbildung – verbunden war.104 Damit erweist sich die Sozialforschung der SAG als Moment eines

—————— 101 Alfred Vierkandt an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. Mai 1916, in: EZA 51/S II c 7, 1. 102 Vierkandt, Gesellschaftslehre, S. 70. 103 Vgl. Berking, Masse und Geist, S. 173. Zur angewandten Soziologie vgl. das ab Juli 1928

als Zweimonatsschrift erscheinende, von Karl Dunkmann herausgegebene Archiv für angewandte Soziologie, das vor allem Beiträge zur Theorie und Praxis des »Gruppenlebens« versammelte. 104 Geiger, »Eine Studienreise nach Finnland mit Proletariern«.

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neuen und breit angelegten sozialwissenschaftlichen Interesses für die Arbeiterschaft. In Teilaspekten, etwa was die herausgehobene Rolle der teilnehmenden Beobachtung angeht, kann sie aber durchaus den Rang eines unorthodoxen Vorreiters beanspruchen.

Teilnehmende Beobachtung in der Fabrik Über den bereits ausführlich vorgestellten Offenbacher Bericht der Studentin Lisel Disselnkötter hinaus entstand im Kontext der SAG-Sozialforschung auch eine Reihe kleinerer Feldstudien, die SAG-Mitarbeiterinnen in den Fabriken des Berliner Ostens durchführten. Einige von ihnen ließen sich dezidiert zu Forschungszwecken in einem Betrieb beschäftigen, andere arbeiteten während des Ersten Weltkriegs als Munitionsarbeiterinnen und stellten bei dieser Gelegenheit Beobachtungen im Arbeitermilieu an.105 Auf diese Weise wollten viele SAGler nicht nur das Familienleben und Freizeitverhalten im Arbeiterquartier, sondern auch die Produktionsstätten und den Betriebsalltag des Berliner Ostens genauer kennenlernen.106 Hermann Gramm wollte – auch wenn es ihm nicht möglich sei, Arbeiter im eigentlichen Sinne zu werden – in einer Fabrik mitarbeiten.107 Eine Theologin im 7. Semester wandte sich an Siegmund-Schultze, da ihr Ideal »eine Arbeit unter Fabrikmädchen« sei.108 Der katholische Ordensgeistliche Zimmermann aus Freiburg wollte »im strengen incognito als Arbeiter in irgendeinem grösseren Betrieb leben […], um an mir selbst zu erfahren, wie es in

—————— 105 Vgl. folgende Berichte: »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916),

S. 204–223; »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 1, in: ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar–März 1918), S. 174–184; »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 2, in: ASM 2. Jg., Heft 1/2 (April–Mai 1918), S. 20–26, »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 3, ASM 2. Jg. Heft 3/4 (Juni–Juli 1918), S. 49–53; Gertrud Ihme, »Studentische Fabrikarbeit«, in: NN 11. Jg., Heft 12 (Dezember 1928), S. 217– 218. 106 Vgl. etwa Walter Baum an Friedrich Siegmund-Schultze, 24. Juli 1920; Hans Gallwitz an Friedrich Siegmund-Schultze, 29. Juli 1920; Kurt Altenmüller an Friedrich SiegmundSchultze, 8. November 1920, alle in: EZA 51/S II c 24,1. 107 Hermann Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 17. Juni 1914, in: EZA 51/S II c 23,1. Der Hinweis darauf, doch nie ganz zum Arbeiter werden zu können, gehörte sozusagen zu den Standards des Genres, wie Mark Pittenger für die USA festhält: »Downand-outers routinely acknowledged that they could not truly ›become‹ workers«. Pittenger, »A World of Difference«, S. 46. 108 Paul Th. Biermann an Friedrich Siegmund-Schultze, 1. Oktober 1913, in: EZA 51/S II c 21.

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unseren Zeiten dem Arbeiter zumute ist« und »die Psyche des Arbeiters (besonders des radikalen) gründlich kennen & verstehen zu lernen«.109 Dora Putlitz, die bereits eine Ausbildung in der Sozialen Frauenschule Alice Salomons hinter sich hatte und in Stuttgart in der Jugendarbeit tätig gewesen war, wünschte sich ebenfalls einen solchen authentischen Einblick in den industriellen Alltag: »Am liebsten würde ich in irgend einer Fabrik selbst eine Zeitlang arbeiten und ganz als Arbeiterin wohnen. Ich weiss nur nicht, wie ich das anfangen soll.«110 1922, als viele Studenten ihren Lebensunterhalt in der Fabrik verdienen mussten, entstand in der SAG das Schlagwort vom »sozialen Werkstudenten«.111 Und auch später noch, im Jahr 1930, beschreibt eine Mitarbeiterin ihren Wunsch, das Leben der anderen möglichst authentisch nachzuvollziehen: »Ich will wissen, wie die Mehrzahl meines Volkes lebt und denkt, ob ich ihnen später einmal helfen kann oder nicht; und da ich nicht zu ihnen gehöre, versuche ich jetzt eine Zeitlang möglichst so zu leben, wie sie: ich gehe in eine Fabrik und arbeite mit denen, die ich kennen lernen will.«112 1916 ließ sich eine nicht namentlich genannte Mitarbeiterin der SAG vorübergehend in einer Glühlampenfabrik beschäftigen,113 um dort aus nächster Nähe das Verhalten und die alltagsbezogenen Anschauungen der Arbeiterinnen zu beobachten.114 Gleichzeitig wollte sie in einer Art Selbstversuch die physischen und psychischen Belastungen der Akkordarbeit kennenlernen. Von einem Werksdirektor, an den sie sich mit ihrem Vorhaben wandte, erhielt sie die Erlaubnis, für den Zeitraum von zwei Wochen in der Fabrik zu arbeiten und dort ihre sozialen Studien zu betreiben. Ihre Arbeitsaufgabe bestand darin, kleine Glühlampen mit einem Schraubsockel zu versehen und dabei den Kupferdraht der Lampen zu verlöten. In einem etwa 20-seitigen Tagebuch hat die Studentin ihre Erfahrungen niedergelegt.115 Dieser Text ist für das Verständnis des SAG-Ansatzes enorm

—————— 109 Zimmermann an Friedrich Siegmund-Schultze, 23. Februar 1920, in: EZA 51/S II c

24,2. 110 Dora Putlitz an Friedrich Siegmund-Schultze, 25. Februar 1915, in: EZA 51/S II c 29,1. 111 »Werkstudent«, in: ASM 6. Jg. Heft 5/6 (August/September 1922), S. 85. 112 »Arbeiter und Student«, in: NN 13. Jg. Heft 5 (Mai 1930), S. 65–78. 113 Vermutlich handelte es sich bei dieser Fabrik um das Glühlampenwerk der Auer-Gas-

glühlichtgesellschaft an der Warschauer Brücke, das spätere OSRAM- bzw. NARVAWerk. 114 Vgl. zu diesem Feldbericht bereits meine knappen Darstellungen in: Wietschorke, »Stadt- und Sozialforschung«, S. 56–60 und ders., »Entdeckungsreisen in die Fabrik«. 115 Das originale Feldtagebuch ist im Bestand EZA 626/44 leider nur unvollständig erhalten. Allerdings wurden beim Abdruck in den Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft

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aufschlussreich, denn er dokumentiert exemplarisch den Lernprozess einer Mitarbeiterin zwischen sozialer Mission und der Erfahrung des »wirklichen Lebens« in der Fabrik. Im Folgenden soll das Tagebuch ausführlich vorgestellt und dabei explizit als Feldforschungsbericht gelesen werden. Denn gerade diese Perspektive liefert einen Schlüssel zu seinem Verständnis: Die Art und Weise, wie sich die bürgerliche Autorin als Feldforscherin verhielt, spiegelt die kulturelle Logik ihres Blicks auf die Arbeiterinnen in der Glühlampenfabrik und legt wechselseitige Vorstellungen von klassenspezifischer Kultur offen.116 Die SAG-Mitarbeiterin hatte sich – anders als Lisel Disselnkötter in Offenbach oder Richard Lau in Köln – für eine verdeckte Feldforschung entschieden und war daher mit spezifischen Problemen des Feldeinstiegs und der eigenen Positionierung im Feld konfrontiert.117 Interessant sind zunächst die Versuche der Studentin, sich an die neue Umgebung anzupassen. In einer besonders subtilen Art von »dressing down« wollte sie den Stil ihrer Arbeitskolleginnen treffen, indem sie eine »Rosenbroche aus Seidenbändchen« anlegte.118 Doch mehr noch – die Mimikry reichte sozusagen bis in die körperlichen Feineinstellungen hinein: Am ersten Arbeitstag mischte sich die Studentin mit einem absichtlich »etwas patzigen Gesicht« in den »Strom dunkler Großstadtmenschen«119 und stellte sich einem Meister »schüchtern und bescheiden, mit gesenktem Kopf« vor.120 Zudem versuchte sie, zu »berlinern« und damit absichtlich die bürgerliche Sprachnorm zu verfehlen,121 was ihr allerdings nicht recht gelungen zu sein scheint: »Einmal von rechts die Frage, ob ich aus Westfalen sei, wegen der Sprache, wobei ich mich im Laufe des Gesprächs zu der Frage aufschwang, ob das denn ‘ne Stadt sei.«122 Dieser Versuch, die eigene Herkunft und Bildung zu kaschieren, war Programm, die gewählte Rolle die des unerfahrenen, naiven Dienstmädchens, das lediglich um des höheren Verdienstes

—————— laut Siegmund-Schultze lediglich eine Einleitung der Autorin und einige allgemeine Bemerkungen über die SAG weggelassen. 116 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Alf Lüdtke, der den sozialen Reisebericht Paul Göhres aus dem Jahr 1891 als ethnologischen Feldforschungsbericht gelesen hat: Lüdtke, »Fahrt ins Dunkle?«. 117 Als einen neueren Feldforschungsbericht zum Vergleich vgl. Senft, »Feldforschung in einer deutschen Fabrik«. 118 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 207. 119 Ebd., S. 206. 120 Ebd. 121 Vgl. dazu auch Bausinger, »Unter der Sprachnorm«. 122 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 209.

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willen in die Glühlampenfabrik gewechselt sei. Über ein Gespräch mit ihrer Vorarbeiterin notierte sie: »Ich stellte mich möglichst kindlich […]. Allen Verdacht versuchte ich – da ich mich im Wesen möglichst wenig verstellte und nur manchmal zu gebildete Bemerkungen unterließ – zu unterdrücken, indem ich mich ängstlich besorgt um den Lohn zeigte.«123 In ihrem Feldbericht zeigt sich die Forscherin durchaus fasziniert von der für sie fremden Arbeitswelt mitsamt ihren technischen Abläufen.124 »In der Mittagspause ging ich durch alle Höfe und las verschiedene Türschilder, sah auch in einen Maschinenraum. Es faßte mich eine riesige Begierde, alles kennen zu lernen, die ganze Entstehungsgeschichte meiner Glühlämpchen und all der andern Lampen und Beleuchtungsgegenstände.«125 Damit verrät sie das gleiche Interesse für die gewaltigen Zusammenhänge der industriellen Welt, wie sie schon bei Disselnkötter zu beobachten war: »Das war gleich so herrlich, als ich am ersten Tag in die Fabrik kam, in einen großen Lärm und Staub erfüllten Maschinensaal.«126 Bei beiden ist geradezu mit Händen greifbar, was die befreiende Erfahrung ausmachte, einmal etwas ganz anderes zu erleben und die fremde Welt der Industrieproduktion von innen kennen zu lernen. Doch die Arbeit mit den Glühlampen selbst löste eher zwiespältige Gefühle aus. Schon am ersten Tag war der SAGlerin »deswegen recht miesepetrig zu Mute und ein gelindes Grausen packte mich, da ich das Gleiche 14 Tage lang machen will«.127 Am Arbeitsplatz und in der Kantine versuchte die Forscherin in erster Linie, Gespräche mitzuverfolgen oder selbst anzuknüpfen. Dabei verschleierte sie zwar prinzipiell ihre soziale Position im Feld durch das Rollenspiel als ehemalige Dienstbotin, trotzdem versuchte sie immer wieder, die Arbeiterinnen ganz vorsichtig mit ihrer eigenen Sichtweise zu konfrontieren, um so einen präzisen Einblick in deren Wertorientierungen zu gewinnen. Ein vielbesprochenes Thema war dabei die Einstellung zur Ehe. Unter dem 12. März 1916 findet sich dazu folgende Notiz: »Die Mittagspause war hochinteressant. Das ältere Mädchen (vom Donnerstag) Fräulein B. blieb nach dem Essen mir gegenüber sitzen. Ich sagte, daß ich mal in

—————— 123 Ebd., S. 207. 124 Einblicke in diese Arbeitswelt vermittelt übrigens eine kleine Studie, die Briefe von Ar-

beiterinnen aus der Berliner Glühlampenproduktion des OSRAM-Konzerns auswertet: Dietrich, »Mit Freude und Stolz habe ich meine Arbeit gemacht…«. 125 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 208. 126 Lisel Disselnkötter, undatiertes Manuskript, S. 2, in: EZA 626/II 20,6. 127 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 207.

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das Mädchenheim der … gesellschaft gehen wolle, da ich hier ja allein wäre. Ob ich denn keinen ›Herrn‹ hätte, mit dem ich gehen könnte. Da merkte ich, wenn ich jetzt keinen habe, bin ich in den Augen der Mädchen klein und dumm, und sie erzählen mir nicht wie ihresgleichen, wie wenn ich ihnen auch in diesen Dingen gleichstände. Also griff ich, obgleich ich mich jetzt garnicht wohl dabei fühle, einen meiner Leute im Felde heraus und machte ihn zu dem schrecklichen ›Herrn‹. Als ich dann sagte, jetzt ginge ich mit keinem andern, das täte doch ein anständiges Mädchen nicht, war sie sehr erstaunt, aber faßte gleich Vertrauen zu mir. Sie wollte mir zwar nicht recht glauben, daß meiner ›mit keiner andern ginge und nie gegangen wäre‹ und führte mir ein Gegenbeispiel an. Dann erzählte sie mir auch von sich selbst.«128

Ganz ähnlich verlief ein Pausengespräch am 17. März: »Als wir von den drei Daseinsmöglichkeiten: Fabrik, Stellung und Ehe sprachen, und ich auf irgend etwas hin sagte: ›Aus der Fabrik kann man gehen, die Stellung kündigen, aber wenn man verheiratet ist, ist man für immer gebunden‹, da war man höchst erstaunt und wies mich auf die vielen Scheidungen und Getrenntlebenden hin, und daß das leicht durchzuführen sei. Ich möchte ja diese schreckliche Laxheit nicht verallgemeinern, aber gerade weil diese Menschen einen ganz netten Eindruck machen, muß ich doch fürchten, daß es schlimm um die Allgemeinheit steht.«129

Hier ist sehr schön zu sehen, wie die Inkognito-Forscherin einerseits ihre eigenen Meinungen und Wertvorstellungen bewusst dazu benutzte, Widerspruch herauszufordern und so etwas über die Haltung der Arbeiterinnen zu verschiedenen Fragen des Alltagslebens herauszubekommen. So verteidigte sie einmal die Studenten – und damit verdeckt auch sich selbst – gegen Vorurteile der Arbeitskolleginnen, da diese von sich aus »kein Verständnis für geistige Arbeit«130 hätten: »Ich erzählte ihr auch heut von meiner Herrschaft (Familie W.): ›Das älteste Fräulein, det studiert‹. Das wäre sehr interessant, aber furchtbar anstrengend. Ich mußte doch die geistige Arbeit mal würdigen.«131 Auf der anderen Seite aber passte sie sich – wie die Episode mit dem »Herrn« zeigt – auch behutsam an Konventionen des Milieus an, um nicht als »klein und dumm« aufzufallen, als »Ihresgleichen« behandelt zu werden und so mehr Auskünfte zu erhalten. Die Anerkennung als vollwertige Akteurin im Feld erschien damit als die Voraussetzung einer erfolgreichen Forschung. So notierte sie in ihrer Zwischenbilanz nach

—————— 128 Ebd., S. 214. 129 Ebd., S. 221. 130 Ebd., S. 217. 131 Ebd.

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der ersten Woche in der Fabrik, am Sonntag, den 12. März: »Das Dasein der Gemeinschaft empfand ich zunächst darin, daß ich nicht drin war; man wächst erst durch sein längeres Dortsein hinein. Ich hatte zuerst instinktiv das Gefühl, daß die andern dachten: Na, wat will’n die, die hat hier doch noch jarnischt zu sagen, wenn ich etwas erzählte. Angeredet wurde ich überhaupt kaum. Jetzt passiert mir das manchmal zu meiner großen Freude.«132 Und am Dienstag, den 14. März, heißt es bereits: »Heut war es nett, besonders beim Arbeiten, während in den Pausen nicht viel los war. Man wird eben so allmählich eine ›Alte‹, wird den andern gleich.«133 Allerdings war ständig auch die Angst präsent, das ethnologische Rollenspiel könnte scheitern und die Studentin gleichsam enttarnt werden: »Heute morgen war ich wieder erschrocken vor der Wut gegen die ›Reichen‹, die alle über einen Kamm geschoren werden. Ich glaube sie würden über mich herfallen wie die Wilden, wenn sie erführen, daß ich auch zu den Verhaßten gehöre. Mein Spiel, je notwendiger es mir erscheint, desto gefährlicher kommt es mir vor.«134 Und am letzten Tag ihres Fabrikaufenthalts zeigte sich die Forscherin geradezu erleichtert, »da meine Verstellung mir gefährlicher und unangenehmer wurde«.135 In methodischer Hinsicht sind auch einige Passagen aufschlussreich, in denen die Forscherin durch subtile Selbstbeobachtung demonstriert, wie sie Lebensgefühl und Lebenslage der Arbeiterinnen sozusagen mimetisch nachzuvollziehen und am eigenen Leib zu erfahren versuchte. Das begann natürlich bei der Arbeit selbst: »Ich merke an mir selber, daß die Arbeit einen Teil der Nerven so in Anspannung versetzt, daß man sich in andern Dingen wieder gehen läßt. Nicht nur, daß es mir angenehm ist, mich in den Pausen möglichst bequem (faul) hinzusetzen; es fällt mir schon schwer, meine Rolle weiter zu spielen. Das Berlinern lasse ich schon ziemlich, und

—————— 132 Ebd., S. 213. 133 Ebd., S. 216. 134 Ebd., S. 217. Rolf Lindner hat im Anschluss an Georges Devereux darauf hingewiesen,

dass gerade die »Störungen«, die sich aus dem Eindringen des Forschers ins Feld ergeben, eine Datenquelle ersten Ranges sind. Vgl. Lindner, »Die Angst des Forschers vor dem Feld«, S. 61. Vor allem im Lichte dieser Überlegung erscheint die Inkognitoforschung als unproduktiv, da sie das Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichem sozialem und kulturellem Hintergrund nicht bewusst für die Datenerhebung nutzt. Die in der zitierten Passage offen eingestandene Angst der SAG-Studentin vor den Arbeiterinnen und ihre Anpassungsversuche ans Feld sind auf jeden Fall »Ausdruck von dem Bild, das sich der Forscher von dem Bild macht, das sich die designierten Forschungsobjekte vom Forscher machen.« Ebd., S. 54. 135 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 221.

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auf die ja doch nur bröckchenweise zu verstehenden Unterhaltungen horche ich mit viel weniger Eifer.«136 Auch dass man in den Pausen vielfach zu müde und zu »stumpf« war, um überhaupt Gespräche zu führen, hielt sie in ihrem Feldtagebuch als eigene Erfahrung fest: »Ich merk’ das an mir selber.«137 Und über den Mittwoch, den 8. März 1916, berichtete sie dann: »Als ich um 6 bei klarem Wetter heimging und garnicht müde war, war ich in einer Stimmung, um noch etwas Wildes, Ungewöhnliches zu unternehmen: der Kinobesuch und allerlei anderes der Mädchen lässt sich daraus in gewisser Weise begreifen.«138 Bemerkenswert ist hier die Reklamation einer Innenperspektive, die es erlaubt, die Gefühlslagen und Bedürfnisse der anderen am eigenen nervlichen und psychischen Apparat zu verspüren. Solche Passagen verleihen dem Bericht aber auch die Authentizität des Selbsterlebten und sind daher nicht zuletzt als Ergebnisse einer Schreibstrategie zu verstehen, mit der die Autorin die symbolische Identifikation mit den Arbeiterinnen zu unterstreichen versuchte.139 Für die moralisch-melioristische Perspektive der SAGlerin ist charakteristisch, dass sie verhältnismäßig klare Grenzziehungen zwischen rough und respectable, zwischen sittlich anständigem und unsittlichem Verhalten vornimmt. Verstöße gegen bürgerliche Verhaltensstandards werden kritisch registriert, etwa wenn sie sich in der Kantine »entsetzt« zeigt »über die Art zu essen: beide Ellbogen aufgestützt, das Nichtaufessen, das Beiseitewerfen der Pflaumenkerne, das Zusammentun der Reste«.140 So musste die Forscherin oftmals »Menschenkenntnis mit einem Gefühl des Ekels erkaufen«.141 Die derbe Ausdrucksweise vieler Arbeiterinnen wird noch entschuldigt durch den Verweis auf deren ländliche Herkunft – manchmal aber »klingt das Lachen mir gemein, und ich mag ihre Gesichter dann nicht ansehen. Wie ein paar vorgestern nach dem Mittagessen ihren dicken Bauch belachten und beklopften, schienen mir doch etliche Vorhänge fortgezogen zu werden.«142 In anderen Fällen aber – und diese bilden gewissermaßen das notwendige Komplement der sittlichen Entrüstung – kommt eine romantische Zuneigung zum »einfachen Volk« und dessen Lebens-

—————— 136 Ebd., S. 212. 137 Ebd., S. 210. 138 Ebd., S. 208. 139 Vgl. hierzu Wietschorke, »Entdeckungsreisen in die Fabrik«, S. 58–62. 140 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 208. 141 Ebd., S. 220. 142 Ebd., S. 222.

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klugheit zum Vorschein, wie sie für Lisel Disselnkötters Offenbacher Bericht charakteristisch war. So in einer kurzen Schilderung der Kollegin W.: »Links habe ich meine Freude an Frl. W. Sie steckt voll von Geschichten, kennt so viel Lebensschicksale, obgleich sie behauptet, der anderen Leute Angelegenheiten interessierten sie garnicht – sie ist auch nicht neugierig –, ihr ähnlich müssen die Leute gewesen sein, die die isländischen Sagas erzählten. Es ist genau dieselbe Art. Dieses, die Edda, die Volkslieder, das gehört alles zusammen.«143

Die klassische und aus der Volkskunde sattsam bekannte bildungsbürgerliche Empathie für die Liedersänger und Geschichtenerzähler aus dem Volk taucht hier an einer Stelle auf, an der man sie eigentlich nicht erwartet hätte; eben dies ist aber höchst bezeichnend und zeigt noch einmal überdeutlich die scharfe Grenze zwischen dem »gemeinen Lachen« der Unterschicht und dem »guten Kern« des Volkes, den es aus Sicht der SAG zu entdecken und zu bewahren galt. Erst die ausdrückliche und mit Ekelbekundungen unterstrichene Distanzierung des moralisch Verwerflichen machte es möglich, auch den »guten« Arbeiter in den Blick zu nehmen. Was demgegenüber aus dem Blickfeld verschwand, waren die sozioökonomischen Verhältnisse. Mit Rebekka Habermas lässt sich das hier betriebene »Othering« als ein Verfahren begreifen, »das die Untersuchungsobjekte« – und um solche handelt es sich hier ausdrücklich – »fein säuberlich aus ihren jeweiligen Bezügen herauslöst, sodass jeder Kontext jenseits eines essenzialistisch gefassten Moralisch-Sittlichen […] ausgespart bleibt«.144 Dass die klaren Zuordnungen von sittlich/unsittlich in Einzelfällen auch kippen konnten, beweist eine Bemerkung über die »ausgesprochene Sozialdemokratin« M., die davon sprach, bei einer möglichen Rebellion durchaus dabeisein zu wollen, wären da nicht da die fünf Kinder eines Witwers, den sie demnächst heiraten würde. An dieser Stelle nämlich berichtet die Forscherin: »Und merkwürdig ihr Gesicht, das mir sonst fahl und häßlich, gewöhnlich und ein wenig lauernd erschienen war, erhielt einen Zug von Güte, und irgendwo aus diesem grauen Gesicht mit der klumpenartigen Nase schaute die Liebe zu fünf kleinen Kindern, denen sie die Mutter sein will.«145 Das vormals eindeutige Urteil über die Kollegin M. wird zwar revidiert, die Formulierung aber legt die Logik des kolonisierenden Blicks offen: die imaginäre Verbindung zwischen dem Hässlichen und Lauernden

—————— 143 Ebd., S. 220. 144 Habermas, »Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen«, S. 116. 145 »Fabrikarbeiterinnen«, in: NSAG Nr. 8 (Dezember 1916), S. 204–223, hier S. 222.

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mit der Sozialdemokratie und der »Zug von Güte«, der erst in dem Moment sichtbar wird, in dem »zivilisierte« Wertemuster und mütterliche Liebe durchscheinen. In ihrem Resümee am Schluss des Feldtagebuchs zeigt die Studentin, dass sie – auf der Grundlage ihrer Erfahrungen aus zwei Wochen – den Umfang einer echten Feldforschung durchaus realistisch einschätzte: »Überhaupt bin ich viel zu kurz in der Fabrik gewesen, um mehr als einen ziemlich oberflächlichen Einblick bekommen zu haben. Man müßte ein Jahr lang etwa mit den Arbeitern zusammen leben, um ihr Leben wirklich zu erleben und ihr Denken zu verstehen.«146 Zum Schluss ergab sich noch ein »fast zärtlicher Abschied von den näheren Bekannten«,147 dann folgte noch eine kurze Unterredung mit einem der Direktoren des Werks. Der Bericht darüber sei an dieser Stelle zitiert, weil er die Feldforschung noch einmal aus einer anderen Perspektive zeigt, nämlich aus der des Betriebsleiters, der an einer Verbesserung der Arbeitszufriedenheit und Effizienz in der Fabrik interessiert war. Nebenbei hat die Studentin festgehalten, wie der Direktor über seine Belegschaft sprach: »Ich war kurz vor Schluß nach Abholung meines Lohnes noch bei Dir. K. Er hat wohl den Eindruck, daß ich an die ›Richtigen‹, d.h. die ganz Schlimmen, nicht herangekommen bin, und erzählte mir mit Abscheu von den Verhandlungen, die die er mit ihnen hatte, denn bei ihm werden alle Streitigkeiten ausgetragen: Der gemeinste Mann aus Weißensee und aus Gesundbrunnen gebrauche nicht solche Ausdrücke wie die, mit denen sie sich bewürfen. Davon habe ich allerdings wenig gehört, wenn auch etwas verspürt, ich merkte z. B. bei Frl. B., daß sie bei mir nicht das ganz Gemeine, das ihr selbst als gemein bewußt war, aussprach. K. meinte: Die Leute merken ja garnicht, wie stumpf ihre Arbeit ist. Ich brauchte nun wirklich keine moralischen Bedenken zu haben, daß ich vor ihnen solch große Komödie gespielt habe, man brauche doch nicht jedem auf die Nase zu binden, wer und was man sei. Ich äußerte mein Erstaunen über die Gutmütigkeit der Frauen und Mädchen. Doch er war von ihrem Neid überzeugter. ›Sie hätten man nur einen Pfennig mehr verdienen sollen als ihre Nachbarin, dann hätten Sie aber ihren Neid spüren können‹. Er fragte mich nach verschiedenen Einrichtungen: Ob es nicht sauber sei, ob die Luft nicht ganz gut? Wie ich die Staffelung fände? Daß man anfangs 60, dann 50, zuletzt 40 Pfg. für 100 Lampen bekäme usw.? Er empfahl mir zuletzt noch die Wohltätigkeitsdame der Fabrik, Frl. T. und deren Freundin, die Assistentin des Gewerbeinspektors, wenn ich noch mehr über die Leute wissen wolle.«148

—————— 146 Ebd., S. 223. 147 Ebd. 148 Ebd.

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Betriebsforschung und angewandte Sozialwissenschaften Friedrich Siegmund-Schultze hat die Forschungsperspektive seiner Mitarbeiterin mit deutlichen Worten kritisiert. Leicht – so schreibt er in einem einführenden Abschnitt zum Feldtagebuch – gerate man »in Gefahr, sich mit der Psyche des Arbeiters wie mit einem Objekt zu befassen, anstatt daß man sein ganzes Leben dahineingibt. Auch die Romantik einer Entdeckungsfahrt ins Arbeiterleben hat ihre Schattenseiten.«149 Insbesondere lehnte Siegmund-Schultze das von der Studentin praktizierte Rollenspiel ab, da – wie er betonte – »wir den Arbeitern gegenüber bleiben müssen, was wir sind«. Und in diesem Sinne stellte er die Frage in den Raum: »Verträgt sich eine angenommene Rolle mit der Achtung, die wir vor dem Nächsten haben? Ist nicht unsere Wahrhaftigkeit gegenüber der Arbeiterklasse gefährdet, wenn wir ihr irgendwo und irgendwann unter Verstellungen gegenübertreten? Sind uns nicht die wertvollsten Möglichkeiten des Austausches verschlossen, wenn wir uns selbst aufgeben?«150 Mit einem ganz ähnlichen Tenor hatte schon Richard Lau seine Forschungen im Kölner Gesellenheim reflektiert und sich ebenfalls gegen die Inkognitoforschung ausgesprochen: »Ich weiss nicht, wie die andern [die anderen studentischen Sozialforscher, JW] im allgemeinen ihre Stellung zu den Gesellen aufgefasst haben. Von einigen weiss ich, dass sie gern so lange wie möglich ihr Incognito wahrten. Ich habe immer bei der ersten besten Gelegenheit den Gesellen gesagt, dass ich Student bin. Mir wäre es am gemässesten, z. B. beim Essen ein Gespräch einfach so einzuleiten: ›Sehen Sie, ich bin Student; ich und viele andre Studenten finden es schade, dass wir all den andern so fremd sind; nun sind wir hier zusammen; da wollen wir uns doch ein bisschen kennen lernen.‹ Wenn einer vom andern weiss, wen er vor sich hat, ist der Geselle vielleicht nicht mehr ganz so ehrlich; oder das Verhältnis wird natürlicher und wir Studenten hören nicht das, was für unsere Ohren nicht bestimmt ist, haben nicht mehr das Gefühl, dass man uns vielleicht als Spione ansehen könnte.«151

Über die hier artikulierte Forderung nach »Wahrhaftigkeit« im Umgang mit den anderen hinaus gab es auch immer wieder Stimmen, die sich gegen die identifikatorische Perspektive der »down-and-out«-Feldforscher überhaupt richteten. An dieser Stelle ist an die bekannte Kritik Theodor Geigers zu erinnern, der über die arbeiterpsychologische Forschung und damit die

—————— 149 Friedrich Siegmund-Schultze in seiner Einleitung zum Feldtagebuch, in: ebd., S. 205. 150 Ebd., S. 205. 151 Richard Lau, undatiertes Manuskript, S. 6, in: EZA 51/S II c 18.

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Versuche bürgerlicher Feldforscher, das Arbeiterleben am eigenen Leib nachzuvollziehen, urteilte: »Ist nämlich auf der einen Seite das industrielle Arbeitsschicksal für den Intelligenzbürger ganz bestimmt, so lange er es trägt, physisch eine schwerere Last, als für den geborenen Proletarier, so bleibt doch auf der anderen Seite für ihn das wohltuende Bewußtsein, diese Situation brauche nicht länger ertragen zu werden, als er selber will. Allein schon dies Wissen, das als Episode und Abenteuer stempelt, was anderen unausweichliches Schicksal ist, bedeutet eine Veränderung der Situation, die es fraglich erscheinen läßt, wie hoch der Einsichtswert dieses soziologischen Experiments zu schätzen ist. Es liegt offenbar hier dieselbe Kategorienvertauschung vor, die wir sonst in der Literatur zur Psychologie des Industriearbeiters häufig finden: der Angelpunkt zum Verständnis der Arbeiterpsyche wird immer wieder zu sehr bei der eigentlichen Arbeitstätigkeit gesehen, die man als Experiment wohl auf sich nehmen kann, doch wird darüber die Bedeutung des gerade wesentlichen Moments der sozialen Lage übersehen, die niemand künstlich und willentlich für sich schaffen kann. Es ist nicht die Maschinenarbeit tagaus – tagein, es ist nicht die Monotonie, es ist nicht die Kargheit der Lebensführung, sondern es ist die durch die sozialen Verhältnisse gegebene schicksalhafte Unentrinnbarkeit aller dieser einzelnen Momente in ihrer Gesamtheit, durch die das Wesen des Industrieproletariats als eines soziopsychischen Typus bestimmt ist. Diese Situation kann nicht einfühlend nacherlebt, noch kann sie experimentell für den Klassenfremden geschaffen werden.«152

Mit dieser Argumentation erteilte Geiger implizit auch dem Kondeszendenzgedanken und den Identifikationsversuchen der SAG eine deutliche Absage – und damit all denen, die geglaubt hatten, sich durch das Liegen auf harten Betten oder durch Fabrikarbeit in die Situation der Arbeiter »einfühlen« zu können.153 Dagegen hielt Geiger die Behauptung – und, wie

—————— 152 Geiger, »Zur Kritik der arbeiterpsychologischen Forschung«, S. 167. Vgl. auch die ganz

ähnliche Feststellung bei Gertrud Hermes: »Nur der wird den Arbeiter verstehen, der irgendwie durch Schicksal ihm verbunden ist. […] Wer nie draußen gestanden hat, außerhalb der bürgerlichen Welt in irgendeiner Weise, sei es als Verarmter, als Deklassierter, als Jude, oder, wie der Arbeiter, als Objekt ihres Willens ohne Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur, der wird den Arbeiter kaum jemals verstehen; seine Gefühle für ihn werden günstigenfalls in Mitleid ausklingen.« Hermes, Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters, S. 10–11. 153 Vor dem Hintergrund seines Konzepts des Klassenhabitus hat Pierre Bourdieu seinerseits die Problematik der »Narodniki aller Zeiten und Länder« beschrieben und so die Kritik Theodor Geigers weitergedacht: »Es ist gar nicht die Frage, ob das unerträgliche Bild, das der Intellektuelle von der Welt der Arbeiter entwirft, wahr oder falsch ist: der Intellektuelle, versetzt in die Welt eines Arbeiters, faßt die Lage der Arbeiter nach Wahrnehmungs- und Wertungsschemata auf, die nicht die sind, nach denen die Angehörigen

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er sagt, den »Wahrheitsbeweis« dafür, dass »solche Einfühlung immer ein etwas ›fühlsames‹ Ergebnis haben wird, empfindsam und insoweit nicht tatsachentreu«.154 »Fühlsam« – das heißt hier wohl so viel wie sentimental im Sinne bildungsbürgerlicher Projektionen des »einfachen Lebens«. Allerdings trifft Geigers Kritik die Sozialforschung der SAG nur bis zu einem bestimmten Punkt, an dem das »Einfühlen« nicht ausschließlich Forschungszwecken dienen, sondern die Grundlage für den persönlichen Kontakt zwischen Akademikern und Arbeitern sein sollte. Insofern nämlich Forscher wie Lau und Disselnkötter den »Angelpunkt zum Verständnis der Arbeiterpsyche« weniger im Nachvollziehen der Arbeitstätigkeit, sondern in der bewussten Konfrontation klassenspezifischer Wertemuster gesehen haben – kurz: insofern sie echte und bis zu einem gewissen Grad auch selbstreflexive Feldforscher waren –, gingen sie über die von Geiger kritisierte Arbeiterpsychologie hinaus. Ihr aus der Programmatik der SAG abgeleiteter Versuch, den Arbeitern als Akademiker entgegenzutreten, wurde somit zum Ausgangspunkt für eine erstaunlich offene und respektvolle Forschungshaltung, die tatsächlich zu Einsichten in die Komplexität des »wirklichen Lebens« führte. Die SAGlerin Gertrud Ihme, die sich ebenfalls eine Zeitlang in den Fabrikalltag begeben hatte, schrieb: »Wir haben ja im allgemeinen keine Ahnung von dem, was die Leute in der Fabrik denken und treiben, und wenn man auch nicht ganz unvorbereitet ist – die Wirklichkeit ist doch ganz anders, als man sich vorstellen kann: besser, schlechter, liebenswerter, verabscheuungswürdiger, erfreulicher, niederschmettern-

—————— der Arbeiterklasse selber urteilen; dieses Bild ist in Wahrheit die Erfahrung, die ein Intellektueller, der sich provisorisch und dezisionistisch in die Lage der Arbeiter versetzt, von dieser Welt gewinnen kann, und sie mag statistisch wahrscheinlicher werden, wenn (wie das gegenwärtig der Fall zu werden beginnt) die Anzahl derer wächst, die in die Lage der Arbeiter geraten, ohne über deren Habitus zu verfügen, der aus den Anpassungsprozessen hervorgeht, denen ›normalerweise‹ die zu dieser Lage Verurteilten ausgesetzt sind. Populismus ist stets nur Ethnozentrismus mit umgekehrten Vorzeichen, und wenn die Beschreibungen der Arbeiter- und der Bauernschichten fast immer schwanken zwischen Elendsschilderung und prophetischer Emphase, so liegt dies daran, daß sie von der inneren Beziehung zur Klassenlage, die zur vollständigen Definition dieser Lage gehört, abstrahieren, und daran, daß es nicht ganz so leicht ist, die Beziehung zur beschriebenen Lage zutreffend zu bezeichnen (was nicht unbedingt voraussetzt, daß man sie nachempfinden kann), als die eigene Beziehung zu dieser Lage in die Beschreibung zu projizieren – und sei es nur darum, weil die trügerische Identifizierung mit dieser Lage und die Empörung über sie allen Anschein von Legitimität für sich haben.« Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 585-587. 154 Geiger, »Zur Kritik der arbeiterpsychologischen Forschung«, S. 153.

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der, einfacher und komplizierter.«155 In einem weiteren Schritt aber stellt sich die Frage nach der Verwertungslogik des bei diesen Forschungen gewonnenen Wissens und nach den Kontexten, in denen die Kompetenzen der »sozialen Werkstudenten« nutzbar gemacht werden konnten. Schließlich rief die Tatsache, dass in den Settlements immer auch anwendungsorientiertes Wissen entstand, schon früh Kritiker wie Werner Picht auf den Plan, der 1913 auf die Gefahr hinwies, »die rein menschliche Seite der Tätigkeit mehr und mehr fallen zu lassen und im Settlement vor allem eine einzigartige Gelegenheit zum Anschauungs-Unterricht und Experimentieren für angehende Sozialwissenschaftler und Verwaltungsbeamte zu sehen«.156 Schon der abschließende Kommentar des Direktors K. aus dem Berliner Glühlampenwerk hat gezeigt, wie durchlässig die Grenzen zwischen ethnographischer Feldforschung in der Fabrik und einer auf Rationalisierung orientierten Betriebswissenschaft waren. So kamen einige Fabrikforscherinnen der SAG mit »Forschungsfragen« ins Feld, deren betriebswirtschaftlicher Sinn offen zutage liegt: »Ich habe die Denkweise und die Anschauungen des arbeitenden Volkes kennen gelernt, und über viele Fragen denke ich eingehender nach als vorher […]. Warum z. B. liebt der Arbeiter den Arbeitgeber oft so gar nicht? – Inwiefern können die bemittelten Stände dazu beitragen, die Kluft zwischen beiden auszugleichen?«157 Hinzu kamen allgemeine Hinweise darauf, wie man sich als Vorgesetzter verhalten dürfe und wie nicht, um nicht das Vertrauen der Belegschaft zu gefährden.158 Zunehmend interessierte man sich in der SAG für Fragen, wie sie auch für die Herausbildung der Betriebswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtig waren: für Arbeitssituation und -zufriedenheit, Motivation und »Arbeitsfreude«, Formen von Führung und Kooperation im Betrieb, die sozialen und kulturellen Folgen der Industriearbeit für den einzelnen Arbeiter und den Interessensgegensatz von Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie dessen Moderation.159 Damit ist die SAG – wenn auch

—————— 155 Gertrud Ihme, »Studentische Fabrikarbeit«, in: NN 11. Jg., Heft 12 (Dezember 1928),

S. 217–218, hier S. 218. 156 Picht, Toynbee Hall, S. 115. 157 »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 2, in: ASM 2. Jg., Heft 1/2 (April–Mai

1918), S. 20–26, hier S. 26. 158 Ebd. 159 Vgl. Rummler, Die Entstehungsgeschichte der Betriebssoziologie, S. 129. Vgl. des Weiteren Hin-

richs, Um die Seele des Arbeiters; im Hinblick auf die 1920er Jahre auch ders./Lothar Peter, Industrieller Friede.

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gleichsam auf Umwegen und in unorthodoxer Weise – Teil der Geschichte industrieller Sozialforschung geworden.160 Dass solche Ideen bereits bei der Gründung der Settlements eine Rolle spielten, belegt etwa der »Klappentext« in den monatlichen Mitteilungen des Hamburger Volksheims bis 1919, der darüber Auskunft gibt, dass das Volksheim auch angetreten sei, um »den Unternehmer mit dem Arbeiter zur Pflege gemeinsamer Volksgüter« zusammenzuführen.161 Wenn Paul Natorp von den Settlements als den »Probefabriken« der Gesellschaft spricht,162 lässt sich das also in einem ganz wörtlichen Sinne lesen; der betriebswirtschaftliche Nutzen der »Versöhnung zwischen den Klassen« liegt hier auf der Hand. Einen Schlüssel zu diesen wirtschaftlichen Aspekten der Settlementarbeit bietet schon der Begriff der »Arbeitsgemeinschaft«, der nach 1918 vor allem in zwei Zusammenhängen einen zentralen Stellenwert erhielt: zum einen in der Volksbildungsbewegung, wo er laut Eugen Rosenstock-Huessy zum »wichtigsten Wort« der ersten beiden Nachkriegsjahre wurde,163 zum anderen im Hinblick auf die »wirtschaftsfriedliche« Sozialpartnerschaft zwischen Industrie und Arbeitnehmern. Im November 1918 wurde dieser Begriff in die aus der Organisation der Kriegswirtschaft hervorgegangene »Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer« übernommen und erhielt damit eine ganz konkrete politische Bedeutung.164 Nach dem Austritt des ADGB und der Auflösung der »Zentralarbeitsgemeinschaft« näherten sich über das Ar-

—————— 160 Zum Übergang zwischen der frühen industriellen Sozialforschung und der angewandten

Betriebswissenschaft vgl. Rummler, Die Entstehungsgeschichte der Betriebssoziologie, S. 128– 241. 161 »Was will das Hamburger Volksheim?« In: Das Volksheim. Mitteilungen des Hamburger Volksheims, abgedruckt auf der Umschlaginnenseite der Ausgaben der Kriegsjahre bis Januar 1919. Für die Ausgabe Nr. 11/12 des 19. Jahrgangs (Februar/März 1919) wurde der Text geändert. 162 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1 (April 1921), S. 1–7, hier S. 4. 163 Rosenstock, »Die Ausbildung des Volksbildners«, S. 163. Werner Picht gab unter dem Titel Die Arbeitsgemeinschaft ab 1919 eine Monatsschrift für das gesamte Volkshochschulwesen heraus, was die Bedeutung dieses Begriffs im Kontext der Erwachsenenbildung belegt. Eine breit angelegte, aber leider unübersichtliche begriffsgeschichtliche Abhandlung bietet Wunsch, Die Idee der »Arbeitsgemeinschaft«, insbes. S. 28–45 und 59–75. Knappe Hinweise finden sich auch in: Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, S. 27– 32; Reichling, Akademische Arbeiterbildung in der Weimarer Republik, S. 77–79; Faulenbach, »Erwachsenenbildung und Weimarer Demokratie«, S. 19–20; für das Ende der Weimarer Republik vgl. auch Arend, Zwischen Programm und Praxis, S. 186–197. 164 Vgl. dazu Feldman/Steinisch, Industrie und Gewerkschaften.

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beitsgemeinschafts-Konzept vor allem Positionen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und der christlichen Gewerkschaftsbewegung aneinander an. Auf der Basis einer »aus dem Innern kommenden Gemeinschaftsgesinnung« sollten »starke Führungspersönlichkeiten« beider Seiten unter »Ablehnung des Klassenkampfes zwischen unten und oben« für die Ideale von »Volksgemeinschaft« und »Gewerbesolidarität« eintreten.165 Auf der Mikroebene der sozialen Beziehungen im Betrieb wurde der Begriff »Arbeitsgemeinschaft« ebenfalls verwendet: Bereits vor dem Krieg taucht er in der betriebswissenschaftlichen Diskussion auf.166 In den 1920er Jahren wird auf die »Arbeitsgemeinschaft« meist in Verbindung mit dem Begriff der »Werkgemeinschaft«167 oder sogar im Sinne des Betriebes als »geistige Gemeinschaft« eingegangen.168 In all diesen Konzepten wurde sozusagen die Grundidee der SAG ins Betriebswirtschaftliche und Wirtschaftspolitische übersetzt. Und tatsächlich befasste man sich in der SAG zunehmend auch mit solchen Fragen. Bereits auf der Arbeitskonferenz in Trieglaff 1918, von der im nächsten Kapitel ausführlich die Rede sein wird, diskutierte man das schwierige Verhältnis zwischen Gutsherrschaft und Landarbeitern. Walther Classen nannte in seinem Referat das »Einanderdienen« und den »Friedensvertrag zwischen Arbeiterschaft und Arbeitgeber« als Ziele der sozialen Arbeit in Stadt und Land. Später wurde die Entwicklung betriebswissenschaftlicher Ansätze stets mit Interesse verfolgt. So schrieb die SAG-Mitarbeiterin Martha Richter 1927 in einem Kongressbericht zum Thema »Menschliche Beziehungen in der Industrie«, die Arbeiterfürsorge sei mittlerweile »zur Betriebswirtschaftsfrage geworden«. Die neue »industrielle Philosophie« sei »im Grunde nur ein Ausleben des Gemeinschaftsgedankens« – »wissenschaftliche Betriebsführung«, Fabrikpflege und Sozialpolitik folgten allesamt einem »neuen Geist«, der letztlich auf

—————— 165 Alle Zitate nach dem kritischen Referat von Erdmann, »Zum Problem der Arbeitsge-

meinschaft«, S. 316. 166 Vgl. etwa Ehrenberg, »Das Arbeitsverhältnis als Arbeitsgemeinschaft«; ders., »Schwäche

und Stärkung neuzeitlicher Arbeitsgemeinschaft«. Vgl. außerdem das Kapitel »Betrieb als Arbeitsgemeinschaft« in: Dietrich, Betrieb-Wissenschaft. Für einen soziologiegeschichtlichen Überblick vgl. Oberschall, Empirische Sozialforschung, und Rummler, Die Entstehungsgeschichte der Betriebssoziologie, insbes. S. 102–127, zum Begriff der »Arbeitsgemeinschaft« S. 113–121. 167 Vgl. etwa Winschuh, »Die psychologischen Grundlagen der Werksarbeitsgemeinschaft«. Vgl. dazu Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters, S. 155–163. 168 Vgl. Fischer, »Der Betrieb als geistige Gemeinschaft«.

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ein »organisches Verschmelzen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer« gerichtet sei.169 Willa Meier, die den Hinweis auf die SAG von dem Frankfurter Sozialpädagogen Christian Jasper Klumker erhalten hatte, wandte sich im März 1925 mit einem dezidiert »betriebswissenschaftlichen« Anliegen an Siegmund-Schultze: »Ich habe den Wunsch, für ½ Jahr nach England zu gehen, eine Stellung als Fabrikarbeiterin anzunehmen, um ganz intensiv die dortigen Arbeits- und Lebensverhältnisse kennenzulernen und den Einfluß der Settlement-Arbeit, um diese Studien zu verarbeiten und sie in meiner späteren Tätigkeit in der Industrie verwerten zu können. Schon einmal bin ich, 1922, ein volles halbes Jahr als Arbeiterin in der Schokoladenindustrie (Theodor Reichert Wandsbek) tätig gewesen, und halte diese Zeit ziemlich für die lehrreichste.«

Und das, möchte man hinzufügen, wollte schon etwas heißen, denn Meier hatte nach ihrem Lyzeumsabschluss nicht weniger als das Examen als Haushaltungslehrerin, die staatliche Prüfung als Krankenpflegerin, einige Semester Volkswirtschaft und Jura, das Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin sowie Berufspraxis als »Industrieschwester« in Böhmen und Fürsorgerin in Troppau hinter sich gebracht.170 Die Antwort aus Berlin-Ost verweist auf die damals im Entstehen begriffenen fabrikpflegerischen Neuansätze: »Ich habe« – so wahrscheinlich Alix Westerkamp oder Erich Gramm – »gehört, dass zur Zeit in mehreren Fabriken Bielefelds Frauen gesucht werden, die als Arbeiterinnen in den Betrieb eingestellt werden, diese ihre Stellung aber zugleich als Fürsorgerin für den Kreis ihrer Mitarbeiterinnen ausfüllen sollen. Es ist dies eine neue Art sozialer Arbeit, die mir ausserordentlich glücklich zu sein scheint.«171 Diese neue Form der Fabrikpflege wurde in den späten 1920er Jahren, vor allem in einem Kreis um Ilse Ganzert in Bielefeld,172 unter dem Schlagwort der »sozialen Betriebsarbeit« propagiert;173 ganz im Sinne der SAG wurde hier die Mitarbeit und

—————— 169 Martha Richter, »Menschliche Beziehungen in der Industrie. Kongress Blissingen 1925«,

in: ASM 10. Jg. Heft 10–12 (Januar–März 1927), S. 132–133, hier S. 132. 170 Willa Meier an Friedrich Siegmund-Schultze, 1. März 1925, in: EZA 51/S II e 17. 171 SAG an Willa Meier, 27. März 1925, in: EZA 51/S II e 17. 172 Vgl. Ganzert, »Soziale Betriebsarbeit«, Sonderdruck aus Die Frau (März 1929), Exemplar

in: EZA 51/S II e 3. 173 Zur Entwicklung dieses Konzepts vgl. etwa Wunderlich, Fabrikpflege; kritisch dazu z.B.

Hanna, »Fabrikpflege«. Zur Geschichte der »Fabrikinspektion« durch Sozialarbeiterinnen und Sozialforscherinnen vgl. McFeeley, Lady-Inspectors; Meyer-Renschhausen, »Frauen in den Anfängen der empirischen Sozialforschung«, und die Hinweise bei Michelle

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Forschung in der Fabrik mit sozialpädagogischem Eingreifen verbunden. Dabei ist bezeichnend, dass die soziale Betriebsarbeit zuweilen in exakt derselben Sprache und Terminologie beschrieben wurde, wie wir sie auch aus der Settlementbewegung kennen. So heißt es etwa im Schreiben eines Fabrikanten oder leitenden Angestellten der Bielefelder Plüschweberei Bertelsmann & Niemann aus dem Jahr 1930: »Ich halte die Soziale Betriebsarbeit für ausserordentlich wichtig und notwendig. Der wirtschaftliche Druck, dem unser Volk ausgesetzt ist, wird die sozialen Spannungen in der nächsten Zeit bis an die Grenze der Erträglichkeit steigern. Schon heute stehen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie zwei feindliche Völker gegenüber, die eine verschiedene Sprache sprechen und von gegenseitigem Mißtrauen erfüllt sind. Wandlung kann hier nur in den lebendigen Zellen des Volkskörpers, in den Betrieben selbst geschaffen werden.«174 Von der Diagnose der two nations über die Metapher der verschiedenen Sprachen bis hin zu den »lebendigen Zellen des Volkskörpers« könnten diese Formulierungen auch aus Berlin-Ost stammen – was beim Versöhnungsprogramm der SAG auf die Gesamtgesellschaft bezogen wurde, erscheint hier als Spiegelbild im Kleinen, angewandt auf den sozialen Frieden im einzelnen Betrieb. Frappierend ist aber noch eine weitere Parallele: In all diesen von der SAG mitgetragenen und propagierten Ansätzen – von der Werks- und Arbeitsgemeinschaft über Fabrikpflege und »soziale Betriebsarbeit« bis hin zur angewandten Arbeiterpsychologie und Betriebswissenschaft – kam gerade den Akademikern eine entscheidende Rolle zu. Sie waren die prädestinierten Vermittler zwischen Arbeitgeber und Arbeitern.175 In ihrer Doppelrolle als Berater der Betriebsführung und Arbeitnehmer wurde eine Chance zur »psychologischen« Beeinflussung der Arbeiter gesehen;176 aus dieser Position heraus sollten sie in der Betriebsvertretung bei Streitigkeiten »ausgleichend« wirken177 und überhaupt »entscheidenden Einfluß auf den Ton in der Fabrik ausüben«.178 Ein Vertreter des »Bundes

—————— Perrot, »Ausbrüche«, S. 507–513, die die Settlementbewegung als einen Ausgangspunkt »sozialer Frauenberufe« nennt und aufzeigt, wie gerade Frauen durch die soziale Arbeit in Fabriken und Wohltätigkeitsorganisationen zunehmend zu Expertinnen für das Sozialwesen wurden. 174 Abschrift eines Schreibens von Dr. jur. Meyer zu Schwabedissen von der Firma Bertelsmann & Niemann, 13. Januar 1930, in: EZA 51/S II e 3. 175 Höfchen, »Soziale Aufgaben der Akademiker im Betriebe«, S. 291. 176 Ebd. 177 Ebd., S. 294. 178 Undatierte Abschrift eines Schreibens von Herbert Delius, in: EZA 51/S II e 3.

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der angestellten Chemiker und Ingenieure« in Elberfeld leitete daraus eine besondere »soziale Pflicht« der Akademiker in den Betrieben ab. Ihre Erfüllung erfordere »Persönlichkeiten mit sicherem Taktgefühl und der Gabe der Menschenbehandlung«. Und – so schließt der Autor seinen Artikel – diese Pflicht dürfe nicht von Einzelpersönlichkeiten ausgeübt, sondern »von der Gesamtheit der angestellten Akademiker als Standespflicht erkannt« werden.179 Die vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost geleistete Sozialforschung trägt noch ganz die Handschrift einer »evangelikalen Soziologie«, die – als »Big C-Sociology« im Sinne von charity, crime, correction180 – von den sozialen Problemen des Stadtquartiers ausging, um Lösungsansätze zu entwickeln. Gleichzeitig aber wollten die SAGler Menschen und Verhältnisse kennenlernen, die ihnen bis dahin gänzlich unbekannt waren. Dementsprechend überlagern sich in dieser Stadt- und Sozialforschung zwei unterschiedliche Motive: der leidenschaftliche Wunsch vieler Mitarbeiter, sich persönlich in die unbekannten Lebenswelten des Berliner Ostens hineinzubegeben, und das Vorhaben einer gründlichen und systematischen Inspektion der Verhältnisse als Grundlage sozialpolitischer und sozialarbeiterischer Interventionen. Nach 1918 steht die Sozialforschung der SAG dann vor allem im Kontext der Volksbildungsbewegung sowie der »angewandten« Sozialwissenschaften und damit einer genuin praxisbezogenen Forschungsarbeit, wie sie im Umfeld der frühen Sozialpädagogik, aber auch der Massenpsychologie und der Betriebswissenschaft sowie in Randbereichen der Soziologie und Volkskunde konzipiert wurde.181 Zu einem Zeitpunkt, als die Arbeiterschaft aufgrund neuer politischer Konstellationen und signifikanter Verschiebungen in der Sozialstruktur verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, wurden Kenntnisse über Arbeits- und Freizeitverhalten unabdingbar. Der Aufstieg vieler neuen Formen von empirischer Sozialforschung in Deutschland verweist auf diese gesellschaftliche Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs182 und auf den Krisendiskurs der akademischen Intelligenz, der nach

—————— 179 Höfchen, »Soziale Aufgaben der Akademiker im Betriebe«, S. 298. 180 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 217 (Anm. 48). 181 Zur sozialwissenschaftlichen Orientierung der Sozialarbeit in den 1920er Jahren vgl. Ute

Leitner, Sozialarbeit und Soziologie in Deutschland, insbes. S. 93. 182 So schreibt Howard S. Becker über das »plötzliche Erscheinen« der akademischen So-

ziologie in Deutschland nach 1918: »This effect of sudden emergence was intensified by the new problems thrust upon the German and Austrian peoples by the collapse of the Empire and the Dual Monarchy, the framing of new constitutions, the rise of the Social-

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der Revolution eine ganz besondere Schärfe gewann und den wir im Laufe des nächsten Kapitels genauer verfolgen werden.

—————— Democratic parties to power, the Spartacist revolt, and the ferment of the Youth Movement. Topics that had long before run through the mill of public discussion in other countries became questions of the hour in postwar Germany and Austria, and to many of these questions not even the hitherto omniscient professors of philosophy and the Staatswissenschaften could return satisfying answers. Sociologists, spurious and genuine, began to be accorded a respectful hearing.« Howard S. Becker/Harry E. Barnes, Social Thought from Lore to Science (1938), zit. nach Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 170–171. Und tatsächlich ist auch der Aufschwung der akademischen und mehr noch der außerakademischen Volkskunde in den 1920er Jahren aus dieser Situation heraus zu begreifen; auch sie wurde zunehmend zu einer angewandten Wissenschaft, von der man sich wichtige Erkenntnisse über die unteren Schichten und neue Konzepte zur Volksbildung und -erziehung versprach. So nahm es Hans Naumann 1922 »nicht Wunder […], wenn die Volkskunde gerade jetzt anfängt, eine ›interessante‹ Wissenschaft zu werden«. Naumann, Grundzüge der deutschen Volkskunde, S. 8.

7. Der Führungsanspruch der Akademiker 1914–1922

»Sozial-Soldaten«? Die SAG im Ersten Weltkrieg Für die SAG bedeutete der Kriegsbeginn im August 1914 in mehrfacher Hinsicht einen tiefen Einschnitt.1 Zunächst musste die soziale Arbeit im Berliner Osten neu organisiert werden, da sich fast alle der männlichen Mitarbeiter schon in den ersten Kriegsmonaten als Freiwillige an die Front meldeten.2 Dafür aber kamen das vielbeschworene »Augusterlebnis« und der »Geist von 1914« dem sozialharmonischen Programm der SAG sehr entgegen.3 Was der Soziologe Emil Lederer 1915 über das »Augusterlebnis« schrieb – »daß sich am Tage der Mobilisierung die Gesellschaft, die bis dahin bestand, in eine Gemeinschaft umformte«,4 das musste aus Sicht der SAG weitreichende Hoffnungen im Hinblick auf die ersehnte klassenübergreifende »Volksgemeinschaft« auslösen. In einem Artikel über die Lage in Berlin-Ost während der ersten Kriegsmonate heißt es, die Bevölkerung sei gerade damals »so formsam« und offen für religiöse Beeinflussung gewe-

—————— 1 Die folgende Abschnitt stellt die überarbeitete und gekürzte Fassung eines bereits ver-

öffentlichten Beitrags dar: Wietschorke, »Der Weltkrieg als ›soziale Arbeitsgemeinschaft‹«. 2 Vgl. die Liste der Kriegsfreiwilligen aus den Reihen der SAG in: EZA 51/S II c 22. Zu den Motiven der kriegsfreiwilligen Akademiker vgl. Ulrich, »Kriegsfreiwillige«; Jarausch, Students, Society, and Politics, S. 394–399; ders., Deutsche Studenten, S. 106–115; Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, S. 181–206; Fiedler, Jugend im Krieg, S. 35–70; Gestrich, »Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben«; Ulrich/Ziemann, »Das soldatische Kriegserlebnis«, insbes. S. 128–132. 3 Zum »Geist von 1914« vgl. Mommsen, »Der Geist von 1914«; Verhey, »Der Geist von 1914«; Rotte, Die »Ideen von 1914«; Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Schöning, Versprengte Gemeinschaft. 4 Zit. nach Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 71.

DER FÜHRUNGSANSPRUCH DER AKADEMIKER 1914–1922

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sen.5 So resümierte Siegmund-Schultze, der in der kirchlichen Zeitgeschichte zumeist als entschiedener Pazifist bewertet worden ist,6 wenige Wochen nach Kriegsbeginn: »Der Krieg hat uns ja mit einem Schlage eine schnelle, wenn vielleicht auch nur kurze Erfüllung unserer tiefsten Wünsche gebracht: ein einiges Volk, Verschwinden aller harten Standesunterschiede, die Hohen zwischen den Niedrigen, die Studenten im engsten Verkehr mit den Arbeitern, alle bereit, Opfer zu bringen, ja ihr Leben hinzugeben, Verantwortungsgefühl für Nachbar und Freund, Liebe zum Nächsten, Rückkehr zu Gott. Die ersten Kriegswochen haben lauter Wunder gewirkt. Alle Menschen hatten plötzlich in sozialen Fragen ganz dieselben Anschauungen wie wir.«7

Über die »Einigkeit von Hoch und Niedrig im Felde« sollte also der zentrale Gedanke der Settlementbewegung auch im Krieg weitergeführt und umgesetzt werden;8 der Krieg selbst erschien als Chance zu einer neuen »sozialen Arbeitsgemeinschaft« zwischen den Klassen. So wurde das »Schützengrabenerlebnis« für viele Mitarbeiter zu einer »direkte[n] Fortsetzung ihrer Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost, Breslau oder Leipzig«.9 An einer Stelle spricht Siegmund-Schultze sogar von »Sozial-Soldaten«,10 ohne sich weiter an den inneren Widersprüchen dieses Begriffs zu stören. Und noch 1924 forderte er angesichts der Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Gruppierungen eine »Schützengrabengemeinschaft der Klassen«.11 Auf diese Weise gingen in der SAG sozusagen die »Ideen von 1911« nahtlos in die »Ideen von 1914« über. Der freiwillige Einsatz der SAGler am »anderen Ufer« der Stadt fand seine Parallele in deren ebenso freiwilligem Einsatz im Stellungskrieg. Das Standquartier wurde zum neuen »Berlin-Ost«, in das man zog, um soziale Versöhnungsarbeit zu leisten: »Wie unsere Akademiker jetzt draußen im Feld im ›Arbeiterquar-

—————— 5 »Haltung und Stimmung in Berlin-Ost während der ersten Kriegsmonate«, in: NSAG

NR. 5 (März 1915), S. 113–117, hier S. 127. 6 Zur Frage nach Siegmund-Schultzes Pazifismus vgl. Gressel, »Friedrich Siegmund-

Schultze«; Demke, »Friedrich Siegmund-Schultze«; differenzierend Conway, »Friedrich Siegmund-Schultze«, und ders., »Between Pacifism and Patriotism«. 7 Friedrich Siegmund-Schultze, »Krieg«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 77–79, hier S. 77. 8 Siegmund-Schultze, »Die Einigkeit von Hoch und Niedrig im Felde«. 9 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die neue Generation der Studentenschaft«, in: ASM 8. Jg., Heft 1–6 (April–September 1924), S. 1–7, hier S. 4. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 7.

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tier‹ wohnen und alles mit dem ›Mann aus dem Volke‹ teilen, so müssen auch weiterhin alle Deutschen sich verpflichtet fühlen, die ›soziale Arbeitsgemeinschaft‹ des Krieges fortzusetzen und so das geeinte Deutschland aus dem Kriege erstehen zu lassen.«12 Ähnlich umschrieb auch der Begründer der katholischen sozialstudentischen Arbeit, Carl Sonnenschein, seine Vision von den sozialen Wirkungen des Kriegserlebnisses: »Aus den Schützengräben kommen nach dem Kriege ausgesprochene Konvertiten sozialer Verständigung zu uns zurück.«13 In geradezu verblüffend konsequenter Weise ließen sich die Metaphorik und das heroische Narrativ von Berlin-Ost auf den Krieg übertragen. Dieser erschien im Sinne dieser Logik nun paradoxerweise als das »wirkliche Leben«. Der SAG-Mitarbeiter Constantin von Zastrow etwa sah einen wesentlichen »Kriegsgewinn« darin, »daß unsere Theologen im Felde ganz anders als bisher mit der Wirklichkeit des Lebens Fühlung bekommen«14 – was wiederum einen Beleg dafür liefert, dass das »wirkliche Leben« letztlich nichts anderes als eine Metapher für den ersehnten Ausbruch aus dem allzu eng begrenzten bürgerlichen Leben war.15 Und auch das wohlbekannte Motiv der Bewährung im »unbekannten Land« gewann plötzlich eine neue Dimension und verband nunmehr die Schauplätze in Berlin-Ost und an der Front. So ging in den Nachrichten vom November 1914 folgende Botschaft an die Mitarbeiter im Felde: »Wir fühlen, daß wir mit Euch dort draußen in einer Schlachtreihe stehen und daß wir uns in derselben Gemeinschaft wie früher mit Euch vereinigen.«16 Umgekehrt blieb auch Berlin-Ost für die kriegsfreiwilligen Mitarbeiter ein »Vorposten«

—————— 12 Friedrich Siegmund-Schultze, »Akademisch-Soziale Monatsschrift«, in: ASM 1. Jg., Heft

1/2 (April–Mai 1917), S. 2–5, hier S. 3. 13 Carl Sonnenschein 1915 in den »Sozialen Studentenblättern«, zit. nach Fuchs, Vom Segen

des Krieges, S. 202. 14 Constantin von Zastrow, »Von der Seelsorge am Feldsoldaten«, in: ASM 2. Jg. Heft

9/10 (Dezember/Januar 1918/19), S. 146–150, hier S. 150. 15 Der Industrielle und Literat Oswald Brüll sprach – stellvertretend für viele – von der

»Erprobung der Intellektuellen« im Kriegseinsatz, der einem grundlegenden Bedürfnis in den Bildungsschichten entgegenkam: »Denn mit unserer um das Banner des Geistes gescharten Jugend war es so bestellt, daß sie ihr Leben in Taten zu erfüllen gierte; je mehr sie sich, Taten nachsinnend, in Selbstbetrachtung verlor und von der Wirklichkeit abrückte, um so größer ward ihre Sehnsucht nach dieser Wirklichkeit.« Die »Kriegserprobung« habe daher »die Intellektuellen dem erstrebten Vollmenschentum – dem Geistund Tatmenschentum – angenähert«. Brüll, »Die Erprobung der Intellektuellen«, S. 73 und 77. 16 Friedrich Siegmund-Schultze, »Krieg«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 77–79, hier S. 79.

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in schwierigem Gelände. Georg Saar, vor dem Krieg Leiter des Knabenklubs »Pfeil«, schrieb aus Russland: »Sollte es so Gottes Wille sein, werde ich nach dem Kriege wieder nach Berlin gehen und draußen bei Ihnen wohnen.«17 »Draußen« zu sein – das war in der SAG die Chiffre für den persönlichen Einsatz in einem zu erobernden Land, für die Abenteuer, die es in den Arbeiterquartieren des Berliner Nordens und Ostens ebenso zu bestehen galt wie in Nordfrankreich oder Russland. »Draußen« zu sein, bedeutete aber auch, die Privilegien und Schutzräume des eigenen Herkunftsmilieus zeitweilig hinter sich zu lassen und damit symbolisch – und im Falle des Krieges auch ganz real – das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. »Sich selbst schenken«18 nannte das Rudolf Haberkorn, und es liegt auf der Hand, dass dieses sozial gedachte Motiv mit den Anforderungen des Kriegseinsatzes und dem soldatischen Opfermythos mühelos kompatibel war.19 Was der Lyriker Gustav Schüler20 in seinem schon vor dem Krieg für die SAG geschriebenen »Bundeslied« formuliert hatte – »Jetzt gilt es draußen, wo Notsturm braust«, das ließ sich problemlos auf das Kriegserlebnis beziehen. Und Schülers Gedichtschluss griff nochmals das religiös unterfütterte Motiv des »Selbstopfers« auf, mittels dessen im Diskurs der SAG Settlement und Kriegseinsatz in eins gesetzt wurden: »Dann sagt, ihr hättet euch selbst gewagt, / Wenn der König der Liebe nach Liebe fragt.«21 Das zentrale Thema, über das die SAGler in ihren Feldbriefen immer wieder berichteten, waren die persönlichen Beziehungen zu den einfachen Soldaten. Hier war eine eine Hürde zu überwinden, die durch die innere Struktur des deutschen Heeres vorgegeben war. Denn dort war die viel beschworene Einheit der Klassen ganz und gar nicht angelegt: Erhebliche Unterschiede in der Besoldung und den Unterstützungsgeldern für die Familien sowie vor allem die Regel, nach welcher der Aufstieg ins Offizierskorps weitestgehend den »Einjährig-Freiwilligen« mit höherer Schulbildung vorbehalten blieb, führten zu einem regelrechten Zwei-Klassen-System im

—————— 17 Zit. nach Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 243. 18 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 182. 19 Zum Opfermythos vgl. z.B. Behrenbeck, »Heldenkult und Opfermythos«. 20 Gustav Schüler war Autor mehrerer Bände mit Kriegsgedichten, vgl. dazu v.a. die ältere Darstellung von Knevels, Gustav Schüler als religiöser Dichter. 21 Aus dem Bundeslied von Gustav Schüler, zit. nach NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 79.

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Felde.22 Bereits im Dezember 1914 sah der SAGler Edwin Schulze in den Munitionskolonnen die »Standesunterschiede« deutlich zum Vorschein kommen: »Man hat Zeit zum Überlegen, und so sieht man neidvoll auf die Offiziere, die alles reichlich haben sollen.«23 Was sein Mitstreiter Dirk Krafft noch am 24. August begeistert berichtet hatte – »Die ganzen Gegensätze zwischen Hoch und Niedrig sind ausgeschaltet; im kleinen spiegelt sich das bei uns wider, wo wir Einjährige und Mannschaften zusammen sind«,24 war als Zustandsbeschreibung nicht lange aufrecht zu erhalten. Anfang 1915 überwog bei den meisten SAG-Studenten die Skepsis, wenn es um die klassenversöhnende Wirkung der »Schützengrabengemeinschaft« ging. Auch unter den Berliner Arbeitern, denen die SAG zu Weihnachten 1915 ein Päckchen ins Feld gesandt hatte und die zugleich aufgefordert worden waren, ihre Eindrücke von der »Einigkeit der Klassen« an der Front zu schildern, war von solchen Hoffnungen auf Gleichstellung kaum die Rede: »Ich glaube kaum, daß die Einigkeit der Klassen besser werden, im Gegenteil noch verschlechtern; denn ich kann es keinem verdenken. Ich muß offen gestehen, wer in diesem Krieg nicht schlau geworden ist, der lernt es nie.«25 Der SAGler Kurt Wagner, der eigentlich als Diakon nach Cölleda gehen wollte,26 dann aber wieder einen Gestellungsbefehl nach Altenburg erhielt, schrieb im August 1917 aus einem Soldatenheim an der Ostfront einen Brief an die SAG, in dem es um eben diese Frage nach der Gleichstellung zwischen Akademikern und Arbeitern im Felde geht. Sein Wunsch

—————— 22 Vgl. Mertens, »Bildungsprivileg und Militärdienst im Kaiserreich«; ders., »Das Einjährig-

Freiwilligen-Privileg«; Ulrich/Ziemann, »Das soldatische Kriegserlebnis«, S. 145–147; Mommsen, »Kriegsalltag und Kriegserlebnis« im Ersten Weltkrieg, insbes. S. 140; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 104–106. Nach Hettling und Jeismann wurde ein Leutnant mit über 300 Mark im Monat besoldet, während einfache Soldaten lediglich ca. 15 Mark erhielten, vgl. Hettling/Jeismann, »Der Weltkrieg als Epos«, S. 184. Damit schlug sich die generell zu konstatierende Verschärfung der Klassengegensätze im Ersten Weltkrieg auch an der Front nieder, vgl. allgemein dazu noch immer Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, insbes. S. 96–105. 23 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 228. 24 »Aus Dirk Kraffts Briefen«, S. 64. 25 A. H. an Friedrich Siegmund-Schultze, in: »Feldbriefe von Berliner Arbeitern«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 15–20, hier S. 17. Siegmund-Schultze hat, wie an dem Zitat deutlich wird, die Feldbriefe im Hinblick auf Grammatik und Orthographie nicht redigiert – womöglich, um einen besonders authentischen Eindruck zu vermitteln. 26 Vgl. Kurt Wagner an Friedrich Siegmund-Schultze, 28. Juni 1917, in: EZA 626/Karton 263.

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nach Freundschaft mit den Arbeitern macht die Übertragung des SAGProgramms auf die soldatische »Gemeinschaft« nochmals anschaulich: »In Altenburg hatte ich gute Gelegenheit, unter meinen Kameraden im Sinne der S.A.G. zu leben. Das ganze Verhältnis war viel erfreulicher als seiner Zeit beim Res. Inf. Reg. 226, wo wir fast ein Drittel Akademiker und Gymnasiasten waren. Damals entstand von vorherein eine ungesunde Klikenbildung [sic], und bei der sozialen Verständnislosigkeit meiner Standesgenossen war meine Stellung so erschwert, daß es mir nicht gelungen ist, wirklich mit einem Arbeiter Freundschaft zu schließen. Ich kam damals in dieser Hinsicht sehr deprimiert aus dem Felde zurück. In Altenburg war die Sache insofern günstiger, als ich dort der einzige Akademiker war und so diese Vorbelastung durch die eigenen Standesgenossen wegfiel. Dort bin ich den Leuten meiner Korporalschaft wirklich nahe gekommen, so daß nach meinem Weggange die meisten den Wunsch äußerten, mit mir in Verbindung zu bleiben. Mit einigen habe ich auch bereits Briefwechsel begonnen.«27

Sein Mitstreiter Eduard Bruhn, Pfarrerssohn aus Schleswig-Holstein, hatte sich am 2. August in Kiel als Kriegsfreiwilliger gemeldet, konnte dort jedoch nicht mehr aufgenommen werden und versuchte daraufhin in Lübeck drei weitere Male »anzukommen«. Bei einer Infanteriemusterung wurde Bruhn schließlich »gezogen«.28 Gerade damit verband er zunächst Hoffnungen im Hinblick auf den sozialen Ausgleich in der Truppe: »Nun gehe ich freudig, weil ich weiß, daß ich für eine gerechte Sache kämpfen werde. Und daneben werde ich in eine soziale Arbeitsgemeinschaft kommen, wie sie inniger kaum gedacht werden kann! Denn jetzt, wo mir als bloßem ›Gezogenen‹ die Vorrechte eines Kriegsfreiwilligen und gar die eines ›Herren Einjährigen‹ wegfallen, bin ich ganz gemeiner Rekrut neben meinen anderen Kameraden, die hoffentlich aus recht verschiedenen Schichten kommen; um so besser wird dann die S.A.G..«29

Die Vorstellung, »in Reih und Glied, als gemeiner Mann mitein[zu]treten«,30 sollte nun also auch den Kern der »SAG im Felde« ausmachen. Diese Argumentationsfigur ist bereits aus den Briefen vieler Mitarbeiter, die sich in Berlin-Ost ins »wirkliche Leben« begeben wollten, bekannt. Doch bereits im März 1915 hatten sich Bruhns Hoffnungen zerschlagen, und er

—————— 27 Kurt Wagner an Friedrich Siegmund-Schultze, 9. August 1917, in: EZA 51/S II c 28. 28 »Kriegsbriefe unserer Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 79–89, hier

S. 81. 29 Ebd., S. 82. 30 Rudolf Haberkorn, »Die großstädtische Siedlung in den Massenquartieren der modernen

Industriearbeiter als Bedingung für die neue deutsche Einheitskultur«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 177–182, hier S. 182.

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zeigte sich vom »krassen Egoismus« innerhalb der Truppe enttäuscht.31 Auch wenn ihr Wunschbild von der klassenübergreifenden Kameradschaft im Felde zusehends weniger der Realität entsprach, erblickten viele SAGMitarbeiter in den nachhaltigen Eindrücken, welche die »Schützengrabengemeinschaft« zuweilen vermitteln konnte, den einzigen wirklichen Sinn dieses Krieges. An Dreikönig 1915 schrieb der Theologiestudent Friedrich Bredt aus La Russie nach Berlin-Ost: »Jetzt beim Geschütz in der Feuerstellung möchte ich laut jubeln. Unsere Leute sind doch meist prächtige liebe Kerle, die zu allem zu haben sind und nur angefaßt sein wollen. Ich habe den Eindruck, daß die Verantwortung für die soziale Einigung ganz bei uns Studenten liegt. Die Arbeiter wollen gern die Kameradschaft halten und sind treu. Nur wir Studenten – von uns hängt es ab. Wir müssen mit dem festen Willen zur Einigkeit an unsere Kameraden herantreten ohne Aufdringlichkeit, und der Gedanke vom einigen Brudervolk zündet. Parteihader ist allen übersatt geworden. Darum ist jetzt Erntezeit mehr denn je. Und das macht froh.«32

Auch Oskar von Unruh erlebte im Krieg Tage »voll höchster Energiespannung und sozialen Geistes«.33 Ein anderer Mitarbeiter hielt etwas nüchterner fest: »Gelegenheit zu ›sozialer Arbeit‹ gibt es hier genug. […] Kameradschaft, die bei der Feldflasche und dem Tabak anfängt, aber hoffentlich noch weiter trägt, die bindet vorläufig in einigen Korporalschaften Arbeiter und Akademiker.«34 Und der Jurastudent Arthur Zimmer, der 1915 zum Oberleutnant befördert worden war, zog in einem Feldpostbrief Bilanz: »Ich glaube nicht an einen dauernden Segen des Krieges, ich glaube vielmehr an stille, ernste Friedenserziehung der Menschheit und an ein Verschwinden des Krieges in der Zukunft. […] Was meiner Tätigkeit im Felde, wie ich hoffe, den höheren Schwung verleihen wird, das ist der Gedanke, daß es an mir liegt, den Mannschaften den Krieg zu einem großen Erlebnis für ihr ganzes Leben werden zu lassen […]. Der einzelne Mann kämpft und stirbt nicht für das Vaterland, sondern für seinen Vorgesetzten, seinen Führer. Wenn es dem gelingt, die Liebe und Verehrung des Untergebenen zu gewinnen und sie dann davon zu überzeugen, daß er selbst den Krieg zwar für etwas Ernstes, aber auch für etwas Notwendiges, bei dem Großes auf dem Spiel steht, hält, dann müßte es sonderbar hergehen, wenn die Leute nicht mit Begeisterung, zwar nicht für das Vaterland, sondern für ihren

—————— 31 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 101. 32 »Feldbriefe F. Bredts an den Leiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 35. 33 »Kriegsbriefe unserer Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 79–89, hier

S. 84. 34 Ebd., S. 85. Ähnliche Stimmen aus der katholischen sozialstudentischen Bewegung zi-

tiert Fuchs, »Vom Segen des Krieges«, S. 201–207.

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Führer kämpfen, und wenn sie durchkommen, nicht eine erhebende Erinnerung für ihr ganzes Leben mit nach Hause bringen sollten.«35

In all diesen Textpassagen wird deutlich, dass hinter der von den sozial engagierten Akademikern ersehnten »Schützengrabengemeinschaft« letztlich das Ziel persönlicher Autorität und Einflussnahme stand. Zahlreiche Stellen aus anderen Feldpostbriefen erhärten diesen Befund. Eduard Kirschsieper wünschte sich: »Ich möchte gerne mehr auf die Leute einwirken. […] Man muß das Vertrauen der Leute gewinnen.«36 Der als Garnisonshilfsprediger tätige Birger Forell schrieb im Juni 1916 aus Villon an Siegmund-Schultze: »Soviel Männer wie jetzt, auch gerade soviel Berliner Proletarier werde ich wohl nie wieder unter m. seelsorgerischen Einfluss bekommen.«37 Oskar von Unruh kommentierte seine Beförderung zum Kompanieführer im März 1917: »Ich habe es lange erhofft: nicht um des Lobes willen, aber um der Liebe willen: jetzt heißt es wieder S.A.G.-Welt voran.«38 Und in einem Brief des Theologiestudenten Walter Ludwig, der im November 1914 zum Leutnant und Zugführer befördert worden war und seine Führungsverantwortung ganz im Sinne der SAG interpretierte, heißt es: »Ich freue mich der überreichen Gelegenheit, in Ihrem Sinn zu lernen und zu arbeiten, die sich mir als Leutnant und Zugführer bietet. Sie wissen, welch enge Gemeinschaft sich bei uns bilden kann, und ich sag’ Ihnen, solche Leute! Ich bin stolzer auf sie als je und gern bei ihnen. Seit einem halben Jahr stehe ich hier bei ihnen in den Argonnen, und ich habe alle letzten Stürme mit ihnen gemacht, freilich wie vielen von ihnen, und gerade vielen der Besten, nach dem Sieg die Grabrede gehalten. Die letzten Eisernen Kreuze holten wir uns bei der Abwehr der großen Offensive in der Champagne. […] Der Krieg weckt und zeigt, was in uns steckt.«39

Zum einen dokumentieren die zitierten Briefe eine grundlegende Identifikation mit den von deutschen Deutungseliten gelieferten Begründungsmustern des Ersten Weltkriegs: Selbstverständlich sah man das Deutsche Reich in der Defensive, selbstverständlich galt der Krieg mit seinen vielfältigen sozialen, kulturellen, politischen und militärischen Mobilisierungseffekten als »groß und wunderbar«, wie Max Weber stellvertretend für viele

—————— 35 Zit. nach Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 117. 36 Zit. nach ebd., S. 238. 37 Birger Forell an Friedrich Siegmund-Schultze, 27. Juni 1916, in: EZA 626/Karton 263. 38 Zit nach Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 211. 39 Zit. nach ebd. S. 241.

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andere formuliert hatte.40 Vor allem aber spricht aus den Briefen die Überzeugung der SAGler, dass Gemeinschaft der Führung bedarf; und wirkliche Führung konnte ihnen zufolge nicht durch Appelle und abstrakte Gedankengebäude der »Intellektuellen«, sondern nur im persönlichen Kontakt von Mensch zu Mensch erprobt und realisiert werden. Hier setzte für den Offizier Arthur Zimmer eine grundlegende »Friedenserziehung« an, hier arbeitete er für die »Liebe und Verehrung« seiner Untergebenen. Hier meinte Friedrich Bredt zu spüren: »Nur wir Studenten – von uns hängt es ab.« In der »sozialen Arbeit« in feldgrau verfestigte sich also für die SAGMitarbeiter die Idee von der persönlichen Verantwortung, die gerade die Akademiker für die »Volksgemeinschaft« übernehmen müssten.41 Ganz im Sinne des Kondeszendenz-Gedankens schwärmte ein Student, »wie wertvoll das für den inneren Menschen ist, mit der Not eines Volkes dem Tod ins Gesicht zu sehen«.42 Hier setzte sich also fort, was schon im Zentrum der Settlement-Programmatik stand: Erst durch die reale Erfahrung der Verhältnisse am »anderen Ufer« der Gesellschaft war es möglich, diese Verhältnisse angemessen zu begreifen. Und erst durch die solidarische Teilnahme am Alltagsleben der Arbeiterschaft und das »Mittragen der Not« in Berlin-Ost wie an der Front waren die engagierten Akademiker in der Lage, ihre angestrebte Funktion als Führungspersönlichkeiten und Garanten der Gemeinschaft zu legitimieren. So wurde, wie Jenö Kurucz gezeigt hat, der freiwillige Einsatz der Frontstudenten zu einem neuen Ausgangspunkt für den »Glauben der Akademiker, zur politischen Führung charismatisch ermächtigt zu sein«.43 Im Falle des genannten SAGlers Walter Ludwig verbanden sich militärische Führung und »Stolz« auf die Leute auch mit der theologischen Deutungshoheit: So machte der Zugführer »alle Stürme« mit seinen Untergebenen und hielt seinen Gefallenen die Grabreden. Exemplarisch ist hier das Selbstverständnis zusammengefasst, das für viele Akademiker dieser neuen Generation bezeichnend war: die spezifische Mischung

—————— 40 Zit. nach Mommsen, »Kriegsalltag und Kriegserlebnis«, S. 138. Zur Haltung des deut-

schen Bildungsbürgertums im Ersten Weltkrieg generell vgl. u.a. Vondung, »Deutsche Apokalypse«; Koester, Literatur und Weltkriegsideologie; Ringer, Die Gelehrten, S. 169-185; Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg; ders., »Deutsche kulturelle Eliten im Ersten Weltkrieg«; Beßlich, Wege in den »Kulturkrieg«; Flasch, Die geistige Mobilmachung. 41 Vgl. dazu auch Levsen, »Der ›neue Student‹ als ›Führer der Nation‹«, S. 105–120 und 106–109. 42 »Kriegsbriefe unserer Mitarbeiter«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 79–89, hier S. 86. 43 Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz, S. 132.

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aus einer symbolischen Gleichstellung mit dem Volk, einer auf dieser Entsagungsgeste gegründeten »inneren Autorität« und einer geistigen – und geistlichen – Führungskompetenz. Der Krieg wurde somit für die SAGler zu einem Experimentierfeld für konkrete Formen der Menschenführung.

»Ver Sacrum«: Friedrich Bredt und Oskar von Unruh Im folgenden Abschnitt sollen zwei studentische Mitarbeiter der SAG nochmals näher beleuchtet werden, deren Weg nach Berlin-Ost eher ungewöhnlich war und die nach ihrem Tod an der Front beide auf ihre Weise zu einem Kernstück des SAG-Mythos der ersten Generation wurden. Zudem repräsentieren beide – entsprechend ihrer eigenen sozialen Herkunft – ein spezifisches Modell von »Führungskultur«: Friedrich Bredt als Sohn einer rheinischen Industriellenfamilie, Oskar von Unruh als Mitglied einer traditionsreichen niederschlesischen Militärdynastie. Ihre Haltung zur sozialen Arbeit und zum Weltkrieg macht noch einmal exemplarisch den in der SAG bedienten Diskurs um den Führungsanspruch der klassischen Eliten deutlich. Gerade in der Kombination unterschiedlicher Elitetraditionen aus Unternehmertum, Militär und Akademie wird sichtbar, wie zentral das Thema gesellschaftlicher Führung in der SAG war. Der Theologiestudent Friedrich Bredt gehörte, wie oben erwähnt, zu einer Gruppe von Mitarbeitern Siegmund-Schultzes, die im Wintersemester 1913/14 in den Berliner Osten gekommen war. 1893 geboren, wuchs er in einem großbürgerlichen Haushalt in Barmen als Sohn eines Fabrikanten auf. Am 10. Mai 1910 verkündete er seinen Entschluss, Pastor zu werden. Im September desselben Jahres gründete er in Barmen einen Knaben-Verein, der Sonntag abends stattfand und an dem er laut einem Lebensbericht der Mutter viel Freude hatte.44 Dieses frühe soziale Engagement Bredts steht in gewisser Weise in der patriarchalen Tradition des rheinischen Unternehmertums. Er selbst verweist darauf, dass er bereits als Kind »arme Familien« der Gemeinde besucht habe und auch die Mutter damals einen Konfirmandenverein leitete.45 Damit repräsentiert Bredt einen Zugang zur sozialen Arbeit, wie er innerhalb der SAG eher selten war. Der Zusammenhang mit religiös motivierter betrieblicher Sozialpolitik erklärt aber die Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit, mit der sich gerade Bredt den

—————— 44 Nach dem handschriftlichen Lebenslauf der Mutter, Manuskript in: EZA 626/37. 45 Vgl. Friedrich Bredt an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 21.

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Aufgaben des Berliner Ostens zuwandte. Sein Studium begann er zunächst in Tübingen; angeregt durch einen Vortrag Siegmund-Schultzes im Sommer 1913,46 wechselte er dann an die Berliner Universität.47 Unmittelbar vor seinem Umzug nach Berlin, vom 19. bis 22. Oktober 1913, besuchte er den ersten »sozial-studentischen Kursus« der evangelisch-sozialen Schule in Bethel. Am 23. Oktober bezog er dann zwei Zimmer bei einer Vermieterin namens Marggraf in der Friedenstraße 53. In die SAG trat er gemeinsam mit seinem Jugendfreund, dem Pastorensohn Dirk Krafft ein, den er seit 1909 kannte.48 Die Mutter berichtet in ihren Notizen zu Bredts Lebenslauf: »Sehr glücklich in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft, bald innig befreundet mit P[astor] S[iegmund]-S[chultze] u. mehreren Helfern. Leiter des Turnklubs u. eines Kegelabends, Teilnehmer am ›Othello‹, Lesekränzchen. Vorträge, Besichtigungen neben den Kollegs bei Seeberg, Deißmann, Harnack etc.«49 Vor allem in der Arbeit mit erwachsenen Arbeitern gehörte Bredt zu den aktivsten SAGlern, was aber auch für die Jugendarbeit gilt: so arbeitete Bredt mit einem Knabenklub ausdauernd und erfolgreich am Bau einer Hütte in der Laubenkolonie.50 Bredt, der von Siegmund-Schultze als ein Prototyp des »Arbeiterfreundes«51 beschrieben und einmal sogar als sein »Stellvertreter« bezeichnet wurde,52 hat zahlreiche Aufzeichnungen hinterlassen, die dann als Dokumente zu seiner »inneren Geschichte« in einer Ausgabe der Nachrichten und dann im Erinnerungsbuch der SAG Ver Sacrum abgedruckt wurden. Über den Ertrag seiner Studien im Wintersemester 1912/13 notierte Bredt in aller Kürze und mit Hinweis auf Friedrich Wilhelm Foerster und Adolf Schlatter: »›Harte Wirklichkeit‹, Realismus, Objektivität kontra Subjektivismus, […] der Realismus verdrängt den Sozialismus und den Idealismus.«53 Ein ebenfalls in Ver Sacrum abgedruckter Bericht über eine »Walze« von

—————— 46 Vgl. den biographischen Abriss von Bredts Mutter, in: Siegmund-Schultze (Hg.), Ver

Sacrum, S. 14. 47 Zu seiner Tübinger Zeit vgl. die aufschlussreichen Notizbücher und Mitschriften in:

EZA 626/36. 48 Handschriftlicher Lebenslauf der Mutter, Manuskript in: EZA 626/37. Zum Betheler

Studienkurs vgl. auch das blau eingebundene Notizbuch Bredts in: EZA 626/37. In Bethel hörte Bredt u.a. zwei Vorträge über »die sozialen Motive im Alten und Neuen Testament« und »die Arbeiterbewegung«. 49 Handschriftlicher Lebenslauf der Mutter, Manuskript in: EZA 626/37. 50 Gute Fotos vom Bau der Laube sind enthalten in: EZA 626/36. 51 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 11. 52 Notizen in: EZA 626/37. 53 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 15.

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Berlin nach Stettin, die Bredt zusammen mit einem »Nachbarn« aus BerlinOst unternommen hatte, liest sich vor diesem Hintergrund wie eine Versuchsanordnung in »harter Wirklichkeit«. So berichtet Bredt nicht etwa über die auf der Wanderung gesehenen Orte und Landschaften, sondern hebt vor allem die sparsame und spartanische Haushaltsführung während der Wanderung hervor: »Auf der Walze pro Tag 50 Pf. im Durchschnitt. Viele Servusbrüder leben üppiger, Tag 70-80 Pf.«54 Des Weiteren werden sorgfältig die Beschwernisse der Landstraße und der Übernachtung dokumentiert. Über das Nachtlager in Angermünde heißt es: »Dunkler, dumpfer Raum, Öllämpchen, 2 kl. Fenster, große Pritsche (6 Mann). Tisch, Stuhl, Schemel. Alles voll besetzt, 9 Mann (wir eingeschlossen). Neben mir ein Betrunkener. Quer über der Pritsche. Ich umgekehrt. Schuhe aus. Auf Weste und Jacke als Kopfkissen. Hart. Knochenecken. Wenig Schlaf. Mordgestank und Radau. Stöhnen, Schimpfen, Schnarchen, Husten. 4.00 Schuhe wieder an. Salbe an einen Kunden gegenüber geliehen. Früh 6.00 verächtlich freche, grobe Wirtsfrau ›Marsch raus, daß ihr eure Papiere bekommt!‹ Verlesung der Namen, Verteilung der Papiere. Pumpe. Raus!«55

Der eigentliche Sinn der Wanderung wird bei der Lektüre dieses Berichtes deutlich. Der Unternehmersohn Bredt führt hier nämlich eine spezifische Aneignung des »einfachen Lebens« vor; die »Walze« erscheint geradezu als eine Art Initiationsritus in den »Realismus« und die »harte Wirklichkeit«, die er in seinem theologischen Studium als ethische Forderung kennengelernt hatte. Diese »imagination of powerlessness«, um noch einmal den Titel Carolyn Betenskys aufzugreifen, war offensichtlich eine Voraussetzung für die Rolle als echter »Arbeiterfreund«. Gleichzeitig sind Bredts Aufzeichnungen echte Feldnotizen, die den Gestus des Feldforschers verraten. Ihr parataktischer Stil ist geradezu als Versuch zu lesen, die Härte der Wirklichkeit auch im Schreiben einzuholen. In ähnlicher Absicht wie Bredt war übrigens 1913 bereits ein anderer Mitarbeiter der SAG, Heinrich Dinkelmann, zu einer Tour über die Landstraßen aufgebrochen, die ihm »interessante Einblicke in die Arbeitslosigkeit« ermöglichte.56 Beide Exkursionen

—————— 54 Ebd., S. 25. 55 Ebd., S. 26. 56 Heinrich Dinkelmann an Friedrich Siegmund-Schultze, 24. August 1913, in: EZA 51/S

II c 21. Zur Haltung des »Vagabunden unter Vagabunden« lohnt sich ein Seitenblick auf den interessanten Fall Hans Ostwalds, der über ein Jahr lang als Landstreicher unterwegs war. Vgl. dazu Thies, Ethnograph des dunklen Berlin, S. 10–13 und 43–58. Ein persönlicher Kontakt zwischen SAG-Mitarbeitern und Ostwald, bei dem es anscheinend um

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in das Leben der »outcasts« folgten einem Motiv, das für viele SAGler zentral war und das der US-amerikanische Schriftsteller Walter Wycoff in eine treffende Wendung gekleidet hat: »An Experiment in Reality«.57 Im August 1914 meldete sich Friedrich Bredt als Freiwilliger zum FeldArtillerie-Regiment Nr. 7. In seiner Haltung zum Krieg lässt sich – als weiterer Beleg für die kulturelle Homologie zwischen Settlementbewegung und Kriegseinsatz – eine Fortsetzung dessen sehen, was schon ein Leitmotiv der »Walze« nach Stettin gewesen war. Auch hier nämlich begibt sich der bürgerliche »Arbeiterfreund« Bredt ins Volk hinein, um sich dort zu bewähren: »Mir ist es soziale Pflicht, mit unserem Volk mich zusammenzuschließen und, wenn es sein muß, auch eine Volksschuld mit zu tragen.«58 Und auch hier finden sich wieder die bereits geschilderten Erwartungen an den Krieg als Katalysator einer solidarischen Nachkriegsgesellschaft: »Die Einheit von Volk und Führer bahnt sich an. Ich hoffe von dieser schweren Zeit eine soziale, vielleicht auch eine christliche Neugeburt des deutschen Volkes. Wenn nur im Glück hält, was in der Not zusammenstand.«59 Oskar von Unruh hingegen gehörte bereits zu den ersten drei »Pionieren« der SAG, die im Oktober 1911 nach Berlin-Ost gegangen waren. Als Sohn des Kommandeurs der Liegnitzer Königsgrenadiere am 21. Mai 1891 in Berlin geboren, schlug der Theologiestudent und »Pasterling« in dieser traditionsreichen Offiziersfamilie einen durchaus ungewöhnlichen Lebensweg ein.60 In seiner Haltung verbanden sich indessen militärisches, missionarisches und soziales Denken wie bei kaum einem anderen Mitarbeiter. So berichtete Unruh über einen Abend bei Walther Classen im Hamburger Volksheim in einer durchweg kriegerischen Sprache und mit dem ständigen Verweis auf das Verhältnis zwischen Führer und Gefolgschaft: »Wir erlebten eine Führer-Konferenz des Lehrlingsvereins. Wetterharte Leute scharten sich um ihren Feldherrn; kampferprobte wie Herr Sperling es hoffentlich werden wird. Sie waren’s gewohnt, wie die Halligenfriesen, im harten Ringen dem stürmenden Meer den väterlichen Boden abzuringen. Fuss für Fuss mit fröhlichem Mut und mit klarem Blick. Dazu hatten sie ihrem Führer Gefolgschaft gelobt und sich fest zusammengeschlossen in deutscher Mannestreue. Mitten unter ihnen sass

—————— Siedlungsprojekte ging, wird beiläufig erwähnt in einem Schreiben von Erna Hackenberg an Maria Siegmund-Schultze, 1. April 1914, in: EZA 51/S II i 1. 57 Wycoff, The Workers. Vgl. dazu ausführlich Pittenger, »A World of Difference«. 58 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, 30. 59 Ebd. 60 Oskar von Unruh an Friedrich Siegmund-Schultze, 29./30. September 1912, in: EZA 626/134.

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der Führer mit seiner kleinen gedrungenen Gestalt, mit der angeborenen volkstümlichen Art. Im starken Willen die Lippen aufeinander gebissen, so leitete er das ›Ding‹. […] Classen ist doch ein herrlicher Mann! Ich wollte ihn nicht aburteilen. Er hat sein Leben gegeben für seine Brüder.«61

In einer so stark militärisch geprägten Familie wie der Familie von Unruh wurde das Fronterlebnis natürlich selbst zu einer Art Familienereignis: »Gestern waren Vater und ich in schwerem Artilleriefeuer.« – und: »Fein, dass Onkel Lothar mitmachen kann.«62 Soldatische Tapferkeit und »Heldentum« gehörten in dieser Familie zur mentalen Grundausstattung: »Direkt bei Vater ist eine Granate eingeschlagen; wie er sagt, flog sie so nahe an seinem Kopf vorbei, dass er vom Luftdruck umgerissen wurde; dicht neben ihm tötete sie Herrn von Brembsen; beraubte Guldenfennig beider Augen, tötete noch zwei Leute und verwundete zwei. Wie ein Wunder Gottes ist es anzusehen, dass Vater so gnädig behütet wurde. Ihm ist Sand oder sonstige Splitterchen in die Augen geflogen. Die Augen sind aber so wenig verletzt, dass er sofort anschliessend in die Schützenlinie vorstürmte, um den etwas stockenden Angriff vorwärts zu bringen. […] Die Soldaten sind alle begeistert von seiner Tapferkeit.«63

Gleichzeitig aber stehen Teile der Familie von Unruh auch für den Bruch mit der militärischen Tradition: Der Schriftsteller Fritz von Unruh, Sohn des Generals Karl von Unruh, wurde durch seine Kriegserfahrungen zum entschlossenen Pazifisten, dessen Bruder Kurt von Unruh ging nach seiner Offiziersausbildung an die Berliner Kunstakademie und wurde Kunstmaler. Mitte der 1920er Jahre gestaltete er nach szenischen Vorlagen seines Bruders Fritz den Volkshochschulsaal der SAG auf dem Ulmenhof in Wilhelmshagen.64 Auch wenn die genauen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen dem SAG-Mitarbeiter Oskar von Unruh und den beiden genannten Künstlern unklar bleiben,65 sind die Lebenswege dieser drei in gewisser

—————— 61 Zit. nach einer undatierten Abschrift in: EZA 626/134. 62 Oskar von Unruh an seine Mutter, 25. August 1914, Abschrift in: EZA 51/S II c 18. 63 Oskar von Unruh an seine Mutter, 18. September 1914, Abschrift in: EZA 51/S II c 18. 64 Vgl. die Erwähnung des Auftrags in: Friedrich Siegmund-Schultze an Frau Generalkon-

sul Schwabach, 18. Februar 1926, in: EZA 51/S II c 8, 2. Die Entwürfe Unruhs für Wilhelmshagen sind enthalten in: EZA 51/S II k 11. 65 Leider ist es mir auch nach gründlicher Durchsicht der einschlägigen Ahnentafeln nicht gelungen, Oskar von Unruh im Genealogischen Handbuch des deutschen Adels ausfindig zu machen. Zur Familie von Unruh vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Uradeligen Häuser, S. 825–858. Zumindest lässt sich ein nahes verwandtschaftliches Verhältnis ausschließen, da Fritz und Kurt von Unruh an der angegebenen Stelle verzeichnet sind. Unklar bleibt auch das Verhältnis des Malers Kurt von Unruh zur SAG; angesichts des anhaltenden Kontakts Siegmund-Schultzes zur Familie Oskars ist jedoch

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Weise charakteristisch für die Selbstzweifel und Neuorientierungsprozesse einer neuen Generation innerhalb der alten Eliten, die deren Führungsanspruch auf einem anderen, nämlich einem ästhetisch-moralischen Gebiet artikulierten. Oskar von Unruhs Briefe sind aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie sehr die Kriegserfahrung – auch, um sie überhaupt aushalten zu können – religiöse Deutungsmuster beförderte. Ende August 1914 schrieb er an seine Mutter: »Ich hab’ Dir sonst nie ›fromm‹ geschrieben. Jetzt aber wird’s Dir schon an meinen Karten aufgefallen sein, wie tief ich von diesem Erleben der Heilandshilfe des Herrn ergriffen bin.«66 Zugleich wird hier noch einmal deutlich, wie sehr das Motiv des »Kampfes in Feindesland« die SAG im Osten Berlins mit dem Einsatz an der Front verband. Wenn es in einer Randbemerkung aus den Notizen Unruhs lapidar heißt: »Also angreifen gilt es«,67 dann ist das die Formel für eine Haltung, die sich gleichermaßen auf den inneren wie den äußeren Kampfschauplatz bezog. In eigentümlicher Weise wurde dabei der Tod zum legitimierenden Fluchtpunkt der »Friedensarbeit«: »Weshalb nahmen wir Gottes Ruf zur Friedensarbeit nicht an. Tausendfältig hat er uns entgegengeklungen aus den Elendsvierteln der Grossstädte, aus den toten, goldübertünchten Salons der Kapitalisten. Nun liegen wir unter der Sünde Fluch mit blutigen Händen und können’s kaum tragen, das schwere eiserne Kreuz der Menschheitsnot. […] Das haben wir vor Euch hier draussen voraus, dass wir die grosse Stimme Gottes hören und die Geschichte machen, während ihr doch wieder nur zuseht – das ist schliesslich auch nicht zu teuer bezahlt mit harten Opfern an Gut und Blut, an Leib und Leben.«68

Friedrich Bredt erlag im Januar 1915 im nordfranzösischen Wicres einem Lungenschuss; Oskar von Unruh starb im Juni 1918 an einer Wirbelsäulenverletzung.69 Von den insgesamt 72 Mitarbeitern, die 1914 auf den Listen der SAG gestanden hatten, starben 57 im Krieg,70 viele davon bereits in den ersten Kriegsmonaten oder bald darauf, im Stellungskrieg in Flandern

—————— zu vermuten, dass das Wilhelmshagener Engagement im weitesten Sinn über familiäre Verbindungen zustandekam. 66 Oskar von Unruh an seine Mutter, 31. August 1914, Abschrift in: EZA 51/S II c 18. 67 Undatiertes Manuskript in: EZA 626/134. 68 Oskar von Unruh an seine Mutter, 21. September 1914, Abschrift in: EZA 51/S II c 18. 69 Vgl. Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 45 und 217–219. 70 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die neue Generation der Studentenschaft«, in: ASM 8. Jg., Heft 1–6 (April–September 1924), S. 1–7, hier S. 4. Nach den Angaben der Liste der Kriegsfreiwilligen in EZA 51/S II 22 hatten sich 1914/15 genau so viele Mitarbeiter als Einjährig-Freiwillige zum Kriegseinsatz gemeldet.

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und Frankreich. Nur ganz wenige der vor 1914 in der SAG tätigen Mitarbeiter kehrten zurück und konnten auch in den 1920er Jahren an der Arbeit des Settlement mitwirken. Während bereits das in den Zeitschriften der SAG inszenierte Nebeneinander von abgedruckten Feldbriefen der Mitarbeiter und Berichten aus der sozialen Arbeit einer »Verklärung des Krieges als Gemeinschaftshandeln von Front und Heimat« gedient hatte,71 sollte nun die Erinnerung an die gefallenen Mitarbeiter erst recht die interne Gemeinschaft stärken und zugleich die Ideen der SAG einer weiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Zunächst erschienen zwei Ausgaben der Nachrichten als »Gedächtnisblätter« für Friedrich Bredt und Dirk Krafft; Anfang 1920 kam dann im Berliner Furche-Verlag ein Erinnerungsbuch der Sozialen Arbeitsgemeinschaft heraus: »Ver Sacrum. Was die im Kriege gefallenen Mitarbeiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft dem deutschen Volk zu sagen haben.«72 Hier dominierte nun vollends die Deutung des Weltkriegs als Friedensdienst. Siegmund-Schultze schrieb als Herausgeber in seiner Einleitung: »Das Große dieses Krieges ist, daß einige Menschen in ihn hineingegangen sind nicht als Knechte des Krieges, sondern als Boten des Friedens. Das Wort von der Versöhnung hatte sie ergriffen, das trugen sie im Herzen. Sie kämpften nicht einen Krieg gegen Feinde, sondern sie kämpften um den Frieden im eigenen Volk.«73 Damit eng verbunden war ein regelrechter Opfermythos von der »ersten Generation«, die den Überlebenden durch ihren Tod eine bestimmte Verpflichtung auferlegt hätten.74 Schon 1915 war im Gedächtnisblatt für Bredt zu lesen gewesen: »Wir warten darauf, daß unsere Toten erwachen, daß ihr Geist sich regt in unserer Arbeit und das Feld befruchtet. Wir wissen, daß im rechten Sterben Lebenskräfte verborgen sind. Es gibt eine Lebensgemeinschaft durch den Tod.«75

—————— 71 Buschmann, »Der verschwiegene Krieg«, S. 214. 72 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum. »Ver sacrum« – »heiliger Frühling« – war im Ge-

fallenenkult der Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit eine häufig gebrauchte Formel. Generell zu diesem Kult vgl. etwa Mosse, »Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt«; Hettling/Jeismann, »Der Weltkrieg als Epos«; Levsen, »Heilig wird uns Euer Vermächtnis sein!«; Kaiser, Von Helden und Opfern. 73 Siegmund-Schultze (Hg.), Ver Sacrum, S. 4. Vgl. auch den Beitrag von Hermann Gramm, »Ver Sacrum«, in: ASM 3. Jg. Heft 11/12 (Februar–März 1920), S. 161–163. 74 Vgl. zu diesem Mythos für Großbritannien Winter, »Die Legende der ›verlorenen Generation‹«; zur Rolle des »Geistes von 1914« in der Erinnerungskultur der Weimarer Zeit vgl. Verhey, »Der Mythos des ›Geistes von 1914‹«. 75 »Ein Gedächtnisblatt für Friedrich Bredt«, in: NSAG Nr. 6 (September 1915), S. 141– 144, hier S. 143.

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Bei alledem hatte das Erinnerungsbuch »Ver Sacrum« auch die Funktion, die SAG als eine verstärkte Gesinnungsgemeinschaft zu begründen. Das »Vermächtnis« der Gefallenen wurde – immerhin in einer Auflage von dreitausend Exemplaren – auch als Wewrbemittel für die gemeinsame Sache an die Öffentlichkeit getragen. Und tatsächlich hat kein Aufruf, keine Veröffentlichung der SAG ein solches Echo bewirkt wie »Ver Sacrum«. In den folgenden Monaten und Jahren erreichten zahlreiche Spendengelder von Lesern des Erinnerungsbuchs den Berliner Osten. Allein im November 1919 übersandten beispielsweise der Reichsgerichtspräsident von Delbrück, Ruth von Kleist-Retzow, das Elisabeth-Lyceum, Landrat von Bismarck, Bürgermeister Willigmann aus Niederschöneweide sowie Elise Koenigs aus Charlottenburg teils beträchtliche Geldsummen.76 Somit profitierte die SAG auf ihre Weise vom damals populären Gefallenenkult. Aus dem Kriegstod derer, die »das Examen des Lebens als ein Held bestanden« hatten,77 leitete sie neue Ansprüche von Solidarität und unbedingtem Einsatz ab. Als im Mai 1925 der SAG-Mitarbeiter Walter Knapp auf einer Klubwanderung in der »Großen Plötze« bei Neuendorf ertrank, wurde dieses Motiv aus »Ver Sacrum« wieder aufgegriffen. Der banale Schwimmunfall wurde zum Opfertod stilisiert: »Vielleicht« – so heißt es in einem Brief an den Vater Walter Knapps – »hat er dadurch unserer Sache wirklich einen grossen Dienst geleistet, dass er viele unserer älteren und jüngeren Mitarbeiter daran erinnert hat, dass manche um der Versöhnungsarbeit willen gern bereit sind, ihr Leben zu geben.«78 Die reichlich bittere Pointe all dieser Formulierungen – nämlich dass die Idee »sozialer Arbeitsgemeinschaft« zwischen den Klassen anscheinend nur im Tod zu verwirklichen war – scheint man damals kaum so empfunden zu haben.

—————— 76 Diese Spenden werden in den Antwortschreiben der SAG genannt; vgl. SAG an Del-

brück, 18. November 1919; SAG an Kleist-Retzow, 18. November 1919; SAG an das Elisabeth-Lyceum, 18. November 1919; SAG an Bismarck, 28. November 1919; SAG an Koenigs, 29. November 1919. Alle in: EZA 51/S II c 5,2. Vgl. auch weitere Zuschriften und Spendenquittungen in: EZA 51/S II c 6, c 7 und c 8. 77 Manuskript über Martin Rohkohl für Ver Sacrum, undat., in: EZA 51/S II c 19. 78 Friedrich Siegmund-Schultze an Robert Knapp, 17. Juli 1925, in: EZA 51/S II c 25.

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Kriegsende 1918: Masse und Führung Im Hinblick auf den Diskurs über die innere Ordnung der deutschen Gesellschaft markiert das Ende des Ersten Weltkriegs eine wichtige Zäsur.79 Mit einem Mal wurde der Begriff der »Masse« zum alles beherrschenden Thema.80 Nachdem sich die erhoffte »Volksgemeinschaft« des Krieges als Illusion erwiesen hatte, wurde die Kluft zwischen Bildungsbürgern und Arbeiterschaft neu problematisiert und nun in Leitbegriffen wie »Masse und Führung« oder »Masse und Geist« reformuliert.81 Aus der vor 1914 diskutierten sozialräumlichen Trennung zwischen two nations war damit ein vollkommen anderes Problem geworden: das Problem einer als unübersichtlich und chaotisch erfahrenen Nachkriegsgesellschaft sowie der Führungsrolle von Bildungseliten in der entstehenden Massendemokratie. Arbeiter und Gebildete standen sich nun nicht mehr – wie in den Versuchsanordnungen der SAG von 1911 – als kategorial »Fremde« gegenüber, sondern waren sich in sozialer Hinsicht näher als es die Reformer des späten Kaiserreichs jemals erwartet hatten. Die katastrophale wirtschaftliche Situation der Nachkriegszeit und die Nivellierungseffekte durch politische Partizipation und neue Formen kulturellen Konsums sorgten dafür, dass sich eine verarmende Bildungsschicht und eine zu relativer Respektabilität aufsteigende und politisch konsolidierte Arbeiterschaft im sozialen Raum und vielfach auch in konkreten Lebenswelten begegneten. Gleichzeitig erschien die Gesellschaft der Weimarer Republik wiederum zunehmend gespalten – und zwar nicht nur nach Klassenlagen, sondern auch nach sozialmoralischen Milieus und politischen Optionen.82 Damit wurde das in der Vorkriegs-SAG dominierende Bild einer vertikal und quasi ständisch gegliederten Gesellschaft abgelöst von dem einer kulturell fragmen-

—————— 79 Grundsätzlich dazu vgl. den vorzüglichen Überblick bei Nolte, Die Ordnung der deutschen

Gesellschaft, S. 61–77. 80 Die zeitgenössische Fachliteratur zu den Konzepten von »Masse« und »Führung« ist

kaum zu überblicken. Gute knappe Bilanzen bieten die in Alfred Vierkandts »Handwörterbuch der Soziologie« publizierten Artikel von Colm, »Masse«, und Geiger, »Führung«. 81 Zum sozialwissenschaftlichen Massediskurs der 1920er Jahre vgl. Berking, Masse und Geist; Möding, Die Angst des Bürgers vor der Masse; Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, 118–127. Zum Begriff der »Masse« allgemein vgl. die anregende Analyse von Williams, Gesellschaftstheorie und Begriffsgeschichte, S. 356–359. 82 Zum Begriff der »sozialmoralischen Milieus« vgl. den klassischen Aufsatz Lepsius, »Parteiensystem und Sozialstruktur«.

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tierten und politisch gespannten Gesamtsituation.83 Unbestimmt und unsicher schien dabei vor allem die Position der »kulturellen Trägerschicht« in dieser Gesellschaft.84 Dazu eine kurze sozialhistorische Skizze: Nach 1918 befanden sich die bildungsbürgerlichen Berufsklassen und Funktionseliten »in einem Zustand fataler Schwächung und tiefreichender Verstörung«.85 Der Ruin der Sparguthaben durch Kriegsanleihen und Inflation sowie der drastische Rückgang der Realeinkommen der höheren Beamten nahmen dem Bildungsbürgertum seine materielle Basis und damit seine »Fähigkeit zur ritualisierten Praktizierung sozialer Distanz«.86 Durch ihr entschiedenes Eintreten für den Krieg und ihre Kollaboration mit der gescheiterten Generalität waren weite Teile der Bildungseliten tief diskreditiert;87 der endgültige Sturz der Monarchie in der Novemberrevolution entzog ihnen eine entscheidende politische und symbolische Stütze.88 Wenzel Holek kommentierte diese Situation lapidar und aus seiner typischen distanzierten Beobachterrolle heraus: »Das Bürgertum, gewöhnt an geistige Führung und an den Schutz des Staates, stand da wie ohne Kopf.«89 Zudem behinderte die mit Kriegsende stark einsetzende »Vermassung, Überfüllung und Proletarisierung« der Hochschulen, in der soziale Öffnungsprozesse des Kaiserreichs kulminierten,90 die Möglichkeiten der alten Bildungseliten zur symbolischen Vergesellschaftung. Als Kompensation entstanden neue Interessensvertretungen – vom »Reichsbund der höheren Beamten« über den »Reichsausschuß akademischer Berufsstände« bis hin zur Gründung eines – wenn auch kurzlebigen – »Schutzkartells der leidenden geistigen Schichten Deutschlands«.91 Die fortgesetzte Konkurrenz der technisch-industriellen Funkti-

—————— 83 Vgl. dazu die treffende Analyse bei Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz, S. 155–

168. 84 Dazu in aller Kürze Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 267–268. 85 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 294. 86 Ebd. 87 Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«, S. 190. 88 Vgl. dazu auch die sehr persönlichen Beurteilungen Siegmund-Schultzes, die er in Form

eines mit eigenen Gedichten angereicherten Tagebuchs in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift veröffentlicht hat: Friedrich Siegmund-Schultze, »Revolutionstagebuch November–Dezember 1918«, in: ASM 3. Jg. Heft 1/2 (April–Mai 1919), S. 1–16. 89 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 105. 90 Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«, S. 191; ders., Deutsche Studenten, S. 129–140. Zum »Reichsbund« vgl. die Studie von Fattmann, Bildungsbürger in der Defensive. Zur Beamtenschaft vgl. auch Föllmer, Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. 91 Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«, S. 195.

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onseliten und der Aufstieg des »neuen Mittelstandes« bedrohten den sozialen Status und das Selbstbild des humanistisch orientierten deutschen Bildungsbürgertums.92 Zudem sah sich der staatsnahe preußische Protestantismus durch den Untergang des Kaiserreichs geradezu traumatisiert.93 So führten die Erfahrungen von Demobilisierung und Revolution, die »Komplikation in der gesellschaftlichen Mitte«94 sowie die Formierung politischer Massenorganisiationen – 1920 waren knapp über acht Millionen Arbeiter im »Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund« organisiert95 – zu einer heftigen »psychischen Deflation«96 und einer bis zur Agonie gesteigerten defensiven Grundhaltung gegen die moderne Massengesellschaft. Dabei standen zwei ausgemachte Gegenspieler der symbolischen Vergesellschaftung durch Bildung im Vordergrund: der Markt und die Demokratie. An diesem Punkt setzten neue kulturelle Strategien an, mit denen man dem Problem von »Masse und Führung« begegnen wollte. In der raschen Entwicklung der Volksbildungsbewegung, der fortschreitenden Expansion und Ausdifferenzierung der Jugendbewegung, den Konzepten angewandter Wissenschaft in Volkskunde, Soziologie und Psychologie, der frühen Sozialpädagogik und Programmen wie dem der SAG lassen sich allesamt Versuche erkennen, das Gespenst der »Masse« zu bannen und der Massengesellschaft kulturelle Widerlager einzupflanzen, die den Einfluss der degradierten Bildungseliten auf die gesellschaftliche Entwicklung sichern sollten. Gleichzeitig setzen all diese Konzepte auf neue Modelle direkter Menschenführung durch persönlichen Kontakt: in den »Arbeitsgemeinschaften« der zeitgenössischen Erwachsenenbildung ebenso wie in den Jugendvereinen, in der sozialen Betriebsarbeit ebenso wie in den angewandten Sozialwissenschaften oder der Erziehungswissenschaft, die als angewandte Wissenschaft sui generis entstanden ist und immer auch auf spezifischen Formen von Praxisforschung basierte. Selbstverständnis und so-

—————— 92 Vgl. die einschlägigen Darstellungen Ringer, Die Gelehrten; Vondung, »Die Lage der

Gebildeten in der wilhelminischen Zeit«; Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz; Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«; vom Bruch, »Gesellschaftliche Rollen und politische Funktionen des Bildungsbürgertums«; Hübinger, »Politische Werte und Gesellschaftsbilder des Bildungsbürgertums«; Bollenbeck, Bildung und Kultur. Vgl. ergänzend Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 198–279. 93 Vgl. Kuhlemann, »Protestantische ›Traumatisierungen‹«, S. 45–78, zum Ersten Weltkrieg insbes. S. 54–58. 94 Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 200. 95 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 314. 96 Ebd., S. 224.

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ziale Arbeit der SAG in den 1920er Jahren sind ohne diesen Kontext nicht zu begreifen. Wenn die Reklamation von »Volksnähe« als eine kulturelle Strategie der älteren Reformer und Bildungskritiker verstanden werden kann – die SAG vor 1914 liefert dafür ebenso einen Beleg wie die frühe Volkskunde –,97 dann muss das Paradigma von »Masse und Führung« als eine Fortsetzung dieser Strategie in einer neuen Zeit und mit anderen Mitteln gelten. In der SAG hatte sich diese Verschiebung hin zum Führungsparadigma schon zu Beginn des Weltkriegs angedeutet; in den Kriegsjahren 1917 und 1918 erreichte der akademische Diskurs von »Masse und Führung« dann endgültig auch Berlin-Ost. Im März 1920 marschierte die Brigade Erhardt mit der Unterstützung von Truppen des Generals Lüttwitz in Berlin ein und leitete damit den sogenannten »Kapp-Lüttwitz-Putsch« ein. Dieser Staatsstreich der militanten Rechten wurde durch einen von SPD, USPD, Gewerkschaften und nach einigem Zögern auch der KPD initiierten Generalstreik abgeblockt, worauf der Putsch in einen Aufstand der enttäuschten Linken überging.98 Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und einer politisch äußerst angespannten Situation veröffentlichte Siegmund-Schultze in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift einen Aufsatz unter der Leitfrage »Wer soll herrschen?«. In diesem Aufsatz sprach Siegmund-Schultze von den »sich tagtäglich erneuernden Eindrücken der Wucht der Massen« und beschrieb diese als eine Signatur der neuen Zeit: »Was sieht man in der Großstadt anderes als Massenartikel? Versinken nicht die Menschenmassen in den Gesteinsmassen?« Die Einzelnen wurden in dieser Zeitdiagnose zu »atomisierten Massenteilchen«, die »in ihrem materialistischen Zerfall« nicht einmal bemerkten, »daß die Masse ohne Geist ein Nichts ist«.99 Und Siegmund-Schultze zog aus den Erfahrungen des März 1920 den Schluss: »Die Kunst der Volksführung beruht auf der richtigen Einschätzung der Masse. […] Nur wenn diejenigen, die über dem Durchschnitt stehen, die Führung haben, führt der Weg höher. Anders ausgedrückt: Hebung ist nur möglich durch Höherstehende.«100

—————— 97 Vgl. dazu Wietschorke, »Ins Volk gehen!« 98 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 401–403; Winkler, Deutsche Geschichte,

S. 409–416. 99 Friedrich Siegmund-Schultze, »Wer soll herrschen?« In: ASM 4. Jg. Heft 1/2 (April/Mai

1920), S. 1–12, hier S. 5. 100 Ebd., S. 5–6. Meines Wissens ist bisher noch nicht dezidiert darauf hingewiesen worden,

dass die Volkskunde Hans Naumanns und seine Theorie vom »gesunkenen Kulturgut« aus genau dieser zeitspezifischen Haltung der frühen 1920er Jahre heraus zu erklären

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Diese Formulierungen markieren ein neues Kapitel in der SAG, was die Deutung der klassenübergreifenden sozialen Arbeit angeht. Zwar waren solche Töne auch schon während des Weltkriegs zu hören gewesen, insgesamt aber verschob sich die Rhetorik nun deutlich in Richtung einer neuen Führerschaft des »Geistes« in einer als bedrohlich und unsicher erfahrenen Massengesellschaft. Die Kultur- und Bildungskritik, die 1911 im Zentrum des SAG-Programms gestanden hatte, machte einer verschärften antidemokratischen Tendenz Platz.101 In diesem Sinne nannte Siegmund-Schultze die Masse »ein Ungeformtes, das erst durch Führung Form erhalten soll. […] Erst der Geist, der ihr übergeordnet ist, bildet sie aus einem Nichts zu einem Wesenhaften. Wenn Geist sie regiert, ist sie nicht mehr Masse, sondern Volk.« Die großstädtische Bevölkerung sah er »zu tierhaftem Vegetieren« und in eine »furchtbare Proletarisierung« hinabsinken: »Das ist das Ergebnis der Massenbewegung.«102 Auf diese Weise wurde auch seitens der SAG der »Führer« als die Figur konstruiert, die – wie es Nori Möding für den sozialwissenschaftlichen Diskurs der 1920er Jahre formuliert hat – der Masse »die ideelle Leitung in Richtung auf ›Gemeinschaft‹« geben und ihr eine Form verleihen sollte.103 Im Zeichen dieser Gesellschaftsdiagnose steht auch eine Reihe weiterer Aufsätze, die zwischen 1917 und 1920 in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift erschienen sind.104 Sie alle befassten sich mit möglichen Wegen aus

—————— sind. Naumann setzte sich gerade deshalb vom romantischen Paradigma der Volkskunde ab, weil er dem dominanten Diskurs um »Masse und Führung« folgte. Seine Auffassung, dass alles, »was die Oberschicht tut […], sein Echo findet in der Unterschicht« diente in diesem Zusammenhang dem Nachweis, dass trotz aller Kreativität der »primitiven Gemeinschaftskultur« die wahre Gestaltung stets »von oben« komme: »Geist steht über der Masse, und den Fortschritt erringen im Zwiespalt mit der Gemeinschaft nur Persönlichkeit, Gewissen und Geist, die aber Produkte der Oberschicht sind und diese zur Oberschicht machen.« »Gemeinschaft« dagegen »zieht herab und ebnet […] ein«. Naumann, Grundzüge der deutschen Volkskunde, S. 11–12. Von hier aus wird der durch und durch elitäre Zug der Naumannschen »Grundzüge« kenntlich; verräterisch ist vor allem die abwertende Rede über die »Primitiven«. Die schreckliche und berüchtigte Passage über die litauischen Bauern gehört mit in den Zusammenhang zeitgenössischer Massenkritik: »Sie denken in Rudeln und sie handeln in Rudeln.« Ebd., S. 57. 101 Zum Kontext dieser Entwicklung vgl. noch immer Struve, Elites against Democracy. 102 Friedrich Siegmund-Schultze, »Wer soll herrschen?« In: ASM 4. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1920), S. 1–12, hier S. 6. 103 Möding, Die Angst des Bürgers vor der Masse, S. 81. 104 Vgl. insbesondere die Aufsätze von Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 6–11; Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917),

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einer Krise, die dadurch entstanden sei, dass die »sogenannten Gebildeten« nunmehr »die Führung über unser Großstadtvolk« verloren hätten.105 So forderte der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster eine umfassende »soziale Schulung« der Studenten, »weil die wachsende Abschaffung aller Klassenprivilegien, die unaufhaltsame Verwirklichung demokratischer Ideale, ganz neue Anforderungen an die führenden Kreise stellen wird«.106 Foerster stellte diese soziale Schulung in den Rahmen des Masse-Führung-Diskurses: »Je mehr Demokratie zum Durchbruch gelangt, desto mehr Aristokratie, d. h. desto mehr geistig-sittliche Führungskunst ist notwendig, um die großen Massen, die nicht mehr ausgeschaltet oder vergewaltigt werden können, in der richtigen Weise zu überzeugen, ihr Vertrauen zu erwerben und ihre kollektiven Entscheidungen vor der Gefahr der Ochlokratie zu bewahren. Das aber ist nur möglich, wenn die neue Generation von Anfang an in ein vertrautes menschliches Verhältnis zum Volke tritt. Die soziale Arbeit der Studierenden gehört also auch in das große und wichtige Kapitel: ›Erziehung zum Führer‹.«107

In einem »Aufruf« der Akademisch-Sozialen Geschäftsstelle vom Sommer 1920 heißt es dann: »Der Student muß zu dem Arbeiter zuerst als Lernender, als Empfangender kommen, ehe er Führer werden kann.«108 Die Agonie des ständisch vergesellschafteten Bildungsbürgertums, deren Beginn mit guten Gründen auf das Kriegsende 1918 datiert werden kann,109 ging also einerseits mit einer umso nachdrücklicheren Betonung der »Geistes-

—————— S. 33–38; August Nuß, »Quo Vadis?« In: ASM 1. Jg. Heft 5/6 (August/September 1917), S. 65–68; Friedrich Siegmund-Schultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1918), S. 1–4; Karl Bernhard Ritter, »Masse und Führung. Die persönlichen Voraussetzungen der Führerschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 6 (September 1920), S. 89–97. 105 Friedrich Siegmund-Schultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2 (April/ Mai 1918), S. 1–4, hier S. 1. 106 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 37. 107 Ebd. 108 »Aufruf«, abgedruckt auf der Einbandinnenseite der Ausgaben ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920) und ASM 4. Jg. Heft 6 (September 1920). 109 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 294, und die Darstellung von Jarausch, der das Bildungsbürgertum der 1920er Jahre im Spannungsfeld von sozialen Abstiegserfahrungen und »Selbstreformbestrebungen« sieht. Zur Auflösung des Bildungsbürgertums habe dann erst die »mehrdimensionale Endkrise der Weimarer Republik« geführt. Jarausch, »Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums«, S. 196. Zum Kontext dieses Auflösungsprozesses vgl. auch Mommsen, »Die Auflösung des Bürgertums«, S. 11–38.

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aristokratie« einher, andererseits aber wurde diese Aristokratie neu definiert: nämlich als eine Führungskunst, die auf der Kenntnis und dem Vertrauen des Volkes beruht. Bereits 1911 hatte der Hamburger Volksheimmitarbeiter Hermann Dorn gefordert, immer wieder neu zu »erproben, wie weit unsere Bildung uns befähigt, auf Menschen einzuwirken, die wir weder durch äußere Zwangsmittel beherrschen noch durch materielle Wohltaten an uns fesseln können. Nur wenn die Gebildeten im Verkehr mit den übrigen Volksschichten ihre ganze Persönlichkeit einsetzen, machen sie ihre Bildung nutzbar.«110 Diesem Selbstbild als »Führer« des Volkes stand komplementär ein Bild vom Arbeiter als dem »Geführten« gegenüber, der durch die Ernsthaftigkeit und vor allem die »Persönlichkeit« des Sozialstudenten beeindruckt werden wollte. Ein Mitarbeiter formulierte seine diesbezüglichen Erwartungen: »Ein Verwundern wird in dem Proletarier anheben; er wird fragen: Warum kommt ihr zu uns in den Osten? Dann muss eine Sehnsucht in ihm wach werden, nach etwas, das ihm fehlt und das er bei uns spürt. Dann wächst vielleicht einmal die Autorität von innen her, die wir brauchen und die sich gründet auf das Erlebnis von einem Menschen zum anderen: Du kannst mich führen, du führe mich.«111

Interessant ist, wie hier die Rolle der Kulturmissionare legitimiert wird: Die Autorität »von innen her« basiert nach dieser Denkfigur nämlich darauf, dass »der Proletarier« sich geradezu nach Führung sehnt – »nach etwas, was ihm fehlt und was er bei uns spürt«. Auch der zeitweilige SAG-Mitarbeiter Carl Mennicke verstand den Proletarier »nicht von seiner unzulänglichen Erscheinung, sondern von ›seiner Sehnsucht‹ her«.112 Aus dem Krieg schrieb Friedrich Bredt nach Berlin-Ost: »Ich liebe diese grübelnden Arbeiter, die ihrem Ideal nachjagen, die suchen u. nicht finden, noch nicht gefunden haben.«113 Erst durch dieses »Suchen« waren sie wirklich anschlussfähig an die Alternativkultur einer bürgerlichen Generation, die sich selbst als »auf der Suche« begriff. Der skizzierte Zusammenhang macht sichtbar, dass »Masse und Führung« schon im bürgerlichen Diskurs des Kaiserreichs, in zugespitzter

—————— 110 Hermann Dorn, »Gedanken über die staatsbürgerliche Erziehung der Freiergestellten«,

in: Volksheim Hamburg. Bericht Elftes Geschäftsjahr 1911–1912, S. 21–27, hier S. 25. 111 Stellungnahme des Mitarbeiters Mensching laut Konferenzprotokoll 1920, in: EZA 51/S

II b 9. 112 Nach Eberlein, Die verlorene Kirche, S. 25. 113 Abschrift eines undatierten Schreibens von Friedrich Bredt, in: EZA 626/36.

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Form aber nach 1918, eine Formel war, die soziale Bedrohungserfahrungen thematisierte, dabei aber stets funktionalen und handlungsleitenden Charakter hatte. Die damit verknüpfte »Krise der Individualität« wurde deshalb zu einem zentralen Topos der politischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik,114 weil »Bildung«, »Individualität« und »Persönlichkeit« die Werte waren, mit denen die alten Bildungseliten unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen noch aufwarten konnten. Mittels dieser Werte versuchten sie, ihre gesellschaftliche Führungsrolle auf eine neue Basis zu stellen: auf die Basis direkter Ansprache, konkreter Erfahrungen und persönlicher charismatischer Führung. Darin artikulierten sie noch einmal ihre gleichsam aus dem Kaiserreich mitgebrachte antidemokratische Grundhaltung, bevor sie unter dem Druck der neuen Verhältnisse in eine neue Richtung gedrängt wurden. Denn mit dem Moment, »als Männer der Arbeiterschaft die Regierung übernahmen«, musste in der SAG die Aufgabe der Vermittlung zwischen den Klassen zurücktreten.115 Daraufhin hatte man sich mit den Bedingungen der Massendemokratie auseinanderzusetzen und auch in gewisser Weise abzufinden. Am Beispiel der adeligen »Landfreunde« in der SAG lässt sich dieses Thema noch einmal von einer anderen Seite beleuchten; mit dem ostelbischen Landadel kommt nämlich eine weitere soziale Formation den Blick, die vom Kriegsende 1918 in seiner ökonomischen Position und ständischen Legitimation schwer getroffen wurde. Seine Anpassungsbereitschaft an die neuen Verhältnisse erwies sich indessen – bei allem guten Willen zur »sozialen Verständigung« – als stark limitiert.

Landadel in der SAG: Die Trieglaffer Konferenzen In den Jahren 1918 bis 1920 fanden drei große Arbeitskonferenzen der SAG auf dem Landgut der Familie von Thadden im hinterpommerschen Trieglaff statt.116 Bereits vor dem Krieg hatte Siegmund-Schultze die Thad-

—————— 114 Siemens, »Vom Leben getötet«, S. 328. 115 Friedrich Siegmund-Schultze, »An die Freunde der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in:

NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 1–7, hier S. 2. 116 Der folgende Abschnitt basiert auf Wietschorke, »Defensiver Paternalismus«. Dort sind

nicht nur die Konferenzen selbst, sondern auch die Reaktionsmuster des hinterpommerschen Adels auf Revolution und Nachkriegszeit ausführlicher behandelt. Zu den Trieglaffer Konferenzen der SAG vgl. auch Hühne, Thadden-Trieglaff, 62–63; von der Lühe, Elisabeth von Thadden, 46–67; Smith, »Versöhnung« als Leitgedanke; Thadden, »Herkunfts-

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dens im Kreis um den damaligen DSCV-Vorsitzenden und späteren Reichskanzler Georg Michaelis kennengelernt;117 für die in den Kriegsjahren durchgeführten Landverschickungsaktionen für Kinder aus Berlin-Ost war Trieglaff die wohl wichtigste Anlaufstelle.118 Für viele Arbeiterkinder gewann dieser Ort »einen Klang wie früher etwa das Wort ›Paradies‹«.119 Mit den Konferenzen, deren treibende Kraft auf pommerscher Seite Elisabeth von Thadden war,120 wurde der Kontakt für einige Jahre sehr eng; Elisabeths Bruder Reinold von Thadden trat zu Beginn der 1920er Jahre sogar für einige Monate als Mitarbeiter in die SAG ein und beteiligte sich an der Arbeit in der Jugendgerichtshilfe.121 Im Hinblick auf die Frage nach der Situation nach Kriegsende 1918 und dem Führungsanspruch der alten Eliten ist die Geschichte der Trieglaffer Konferenzen außerordentlich aufschlussreich. Denn mit reformorientierten Bildungsbürgern und adeligen Gutsbesitzern trafen sich in Trieglaff Vertreter zweier sozial absteigender Elitenformationen, die in Tradition und Habitus gleichwohl sehr unterschiedlich waren. Das starke Interesse, das mehrere Adelsfamilien – neben den Thaddens waren das unter anderem Mitglieder der Familien Baudissin, Bismarck-Jarchlin, Bismarck-Osten, Bismarck-Platen, Blittersdorff, Bülow und Kleist-Retzow – der sozialen Arbeit in Berlin-Ost entgegenbrachten, verweist auf eine Konstellation, in der sie sich der eigenen ökonomischen wie sozialen Position nicht mehr sicher sein konnten. Im Folgenden sollen die Konferenzen denn auch als ein Forum interpretiert werden, auf dem die Führungsrolle wilhelminischer Eliten im Übergang in eine neue Zeit zur Debatte stand – und damit ein Thema, für das sich gerade Landadel und Bildungsbürger brennend interessieren mussten. Für einen kurzen Zeitraum trafen sie sich in einem gemeinsamen Diskurs über »Kultur« im

—————— welt und Prägungen Elisabeth von Thaddens«, insbes. S. 32–36; Thadden, Trieglaff, 142– 162. 117 Zum Kontakt zwischen Siegmund-Schultze und Michaelis vgl. den umfangreichen Briefwechsel in: EZA 626/247. 118 Vgl. dazu von der Lühe, Elisabeth von Thadden, S. 29–46; Hühne, Thadden-Trieglaff, S. 62. 119 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Ferienfahrten der Jungenklubs der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920), S. 61–75, hier S. 62. 120 Zu Elisabeth von Thadden vgl. von der Lühe, Elisabeth von Thadden; Riemenschneider/ Thierfelder (Hg.), Elisabeth von Thadden, darin u.a. Thadden, »Herkunftswelt und Prägungen Elisabeth von Thaddens«; Thadden, Trieglaff, S. 145–150 und 150–151; Schwöbel, »Elisabeth von Thadden«. Für einen knappen Überblick über Thaddens Biographie und ihre Bedeutung in Pädagogik und sozialer Arbeit vgl. auch den Eintrag bei Maier (Hg.), Who is who der sozialen Arbeit, S. 588–589. 121 Vgl. von der Lühe, Elisabeth von Thadden, S. 37.

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Sinne von »Führungskultur«. Denn, wie Helmuth Berking in seiner Studie zur Soziologie der 1920er Jahre schreibt: »›Kultur‹ fungiert jetzt als Ausdruck der sozialen Distanzierung gleichermaßen gegenüber der Industriebourgeoisie wie dem Proletariat, die beide […] mitverantwortlich sind für die Bedrohung der gesellschaftlichen Position und des Lebensstils der ›kultivierten Schichten‹, ein Begriff, der jetzt Adel und ›Gebildete‹ zusammenfaßt.«122 Seitens der SAG hatte man sich, so der Teilnehmer Konrat Weymann, vor allem deshalb zu einer Arbeitskonferenz bei den »Landfreunden« entschlossen, um »den Landadel der Gegend überhaupt für Sinnesweise und Tätigkeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft zu erwärmen«.123 Entsprechend dem allseitigen Erziehungskonzept der SAG wollte man »in die Burg derer, die die Industriearbeiterschaft bisher nicht verstanden haben«, eine »Bresche« schlagen.124 Auf dem Programm der ersten Konferenz stand das Thema »Arbeiterschaft und Religion«. Am 21. Mai 1918 versammelten sich Jugenderzieher und Studenten vom Schlesischen Bahnhof in Berlin-Ost, Pastoren und Lehrer aus dem weiteren Umkreis, einige prominente Sozialreformer und Pädagogen wie Robert von Erdberg und Friedrich Wilhelm Foerster sowie zahlreiche Landadelige der umliegenden Gutsherrschaften im geräumigen Gartensaal des Landrats Adolf von Thadden in Trieglaff. Der Ort war für das religiöse Thema passend wie kaum ein zweiter, denn der Thaddensche Saal war bereits im 19. Jahrhundert ein Zentrum des hinterpommerschen Pietismus und Ort der Stoeckerschen Missionskonferenzen gewesen.125 Vorträge hielten unter anderem Walther Classen, Friedrich Rittelmeyer, Wenzel Holek und Robert von Erdberg; Ruth von Kleist-Retzow und Adolf von Thadden informierten – was zum Konzept des gegenseitigen Kennenlernens zwischen »Stadt und Land« gehörte – die Anwesenden über die Lage der ostelbischen Landwirtschaft.126 Die Atmosphäre dieser ersten »Pfingstkonferenz« der SAG in

—————— 122 Berking, Masse und Geist, S. 42. 123 Konrat Weymann, »Die Pfingsttagung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in:

NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 9–11, hier S. 10. 124 Friedrich Siegmund-Schultze an Graf Baudissin, 7. Juli 1919, in: EZA 51/S II c 5,2. 125 Vgl. Buchholz (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 383–390; Hühne, Thadden-

Trieglaff, S. 23–29. 126 Vgl. dazu den ausführlichen Verhandlungsbericht in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919),

S. 11–48.

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Trieglaff wird von vielen Teilnehmern als sehr harmonisch beschrieben;127 einzig der Realist Wenzel Holek zeigte sich über die schöngefärbte Stimmung auf dem Thaddenschen Landgut erstaunt und verärgert. Über das Verhalten eines der teilnehmenden Pastoren bemerkte er: »Die Anreden ›Gnädige Frau‹ und ›Gnädiges Fräulein‹ flogen nur so hin und her und wirkten auf uns alle, durch die Kriegszeit […] gegen solche Überschwenglichkeiten immun gemachten Geister, wie Stinkbomben.«128 Zu Pfingsten 1919, als man in Trieglaff eine weitere SAG-Landkonferenz abhielt, hatte sich die politische Situation entscheidend verändert; die Ereignisse der Novemberrevolution, die Beseitigung der alten Agrarverfassung und die zahlreichen Streiks auf ostelbischen Gutsherrschaften bedrohten nun die Position des landsässigen Adels in massiver Weise. Die wirtschaftliche Lage auf den Gütern hatte sich schon während des Krieges durch Produktionsrückgang und Zwangsbewirtschaftung dramatisch verschlechtert, nun erreichte der Zerfall des gutsherrlichen Sozialverbands durch die äußerst unsichere Arbeitskräftesituation und die politische Emanzipation der Arbeiterschaft eine neue Stufe. Der Sturz der Monarchie nahm dem Adel die Basis seiner symbolischen Legitimation; die Sorge, »Norddeutschland möchte ein Raub des Bolschewismus werden«,129 führte im Verein mit dem Kampf um ökonomische Selbsterhaltung der Gutsbetriebe zu einer Haltung der »aggressiven Defensive«.130 Siegmund-Schultze sagte in seiner Eröffnungsrede zur Pfingstkonferenz: »Die Demokratie lässt sich nicht mehr aufhalten, sondern sie hat, weil wir nicht schnell genug handelten, mit Riesenschritten sich überstürzt.«131 In dieser für den

—————— 127 So meinte Walther Classen im Anschluss an die Konferenz, es sei, als wäre er »einige

Tage auf der Insel der Seligen gewesen«. Walther Classen an Friedrich Siegmund-Schultze, undatiert, in: EZA 626/II 9,14. Eine weitere Teilnehmerin schwärmte: »Die Trieglaffer Tage trage ich noch immer mit mir herum wie ein Wunder.« Trude Bez an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. Juni 1918, in: EZA 626/II 9,14. Bez verlobte sich übrigens wenig später mit Carl Mennicke, den sie in Trieglaff kennengelernt hatte, vgl. die Hinweise bei Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals, S. 102, und in: »Die Pfingstkonferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost 1918«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 2–8, hier S. 5. 128 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 102. 129 So Reinold von Thadden, zit. nach Hühne, Thadden-Trieglaff, S. 61. Vgl. auch die Briefe aus Trieglaff, zit. bei von der Lühe, Elisabeth von Thadden, S. 61–63, in denen u.a. Elisabeth von Thadden über eine »maßlose Bolschewisten-Hetzversammlung« im Kreis Greifenberg berichtet. 130 Vgl. dazu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 323–331. 131 Vgl. das Manuskript der Eröffnungsrede, in: EZA 626/II 9,16, S. 9.

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ostelbischen Adel äußerst angespannten Situation war das Interesse an einer Zusammenarbeit mit der SAG ungebrochen – mehr noch: die spezifischen Kompetenzen, die man von den Berliner »Arbeiterexperten« erwartete, gewannen eine konkrete, herrschaftspraktische Bedeutung. Denn in einer Initiative, die seit Jahren darauf ausgerichtet war, Einfluss auf die Arbeiterschaft zu nehmen und »Versöhnung« zwischen den Klassen herzustellen, mussten die von den Arbeitskämpfen auf ihren Gutsbetrieben zutiefst verunsicherten Landadeligen eine Chance sehen. Ein Brief, den Gottfried von Bismarck-Jarchlin – ein besonders engagierter und für die soziale Frage aufgeschlossener Teilnehmer der Trieglaffer Konferenzen,132 im November 1919 an Siegmund-Schultze schrieb, bringt dieses Interesse auf den Punkt. Bismarck wendet sich darin hilfesuchend an die SAG, denn: »Die Schwierigkeit unseres Unterfangens liegt darin, dass es so sehr wenig Menschen giebt, die in der Lage sind, in die uns ja vielfach sehr dunkle Psychologie unserer Landarbeiter von unserem Gesichtspunkte her Einblick zu gewinnen. Dass wir aber unsere Leute besser verstehen, ist ja ein sehr dringendes Gebot des sozialen Gewissens ebensowohl wie – mit wenig veränderter Fragestellung – unserer Selbsterhaltung.«133

Diesem sehr konkreten Anliegen vieler Gutsbesitzer entsprachen die Themen, die 1919 in Trieglaff verhandelt wurden: Auf dem Programm standen Vorträge und Debatten über »Klassengegensätze und Stimmungen in Stadt und Land«, »Die Sozialisierung der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe« sowie »Die sittlich-sozialen Aufgaben der nächsten Zeit«.134 Etwas völlig Neues war darüber hinaus der Versuch einer Einbeziehung von Arbeitern in die Konferenz: Diesmal sollte im Thaddenschen Gartensaal, wie Siegmund-Schultze schrieb, zwar »nur eine Besprechung im kleinen Kreise stattfinden, die jedoch mit einer etwas größeren Aktion zur Beeinflussung der umwohnenden Landbevölkerung verbunden sein würde«.135 Die Debatte zwischen den ostelbischen Landadeligen und ihren Berliner Gästen zielte demnach nicht zuletzt darauf, die angespannte Situation in vielen Gutsbezirken praktisch in den Griff zu bekommen. Signifikant ist in

—————— 132 Vgl. dazu Wietschorke, »Defensiver Paternalismus«, 254–259. 133 Gottfried von Bismarck-Jarchlin an Friedrich Siegmund-Schultze, 11. November 1919,

in: EZA 51/S II c 5,2. 134 Programm in: EZA 51/S II b6. 135 Friedrich Siegmund-Schultze an Alix Westerkamp, 28. April 1919, in: EZA 51/S II b 6.

Leider ist über das Zustandekommen und die konkreten Formen dieser Aktion nichts bekannt.

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diesem Zusammenhang, dass in einem Referat von Karl Bernhard Ritter auch das Thema »Masse und Führung« behandelt wurde, das – wie gezeigt – zu einem zentralen Motiv des bildungsbürgerlichen politischen Diskurses nach 1918 wurde. Bei Ritter war die Rede von der »Sehnsucht der Masse nach Persönlichkeit, nach Erlösung aus dem Massesein«136 – einer Sehnsucht, die sich unschwer als die Sehnsucht der alten Eliten nach ihrer einstigen Führerschaft dechiffrieren lässt. Denn »früher« – so Ritter – »gab es dies Problem gar nicht. Da gab es geborene Führer, die ganz selbstverständlich als solche anerkannt wurden, vom geborenen König an über die Junker, die geborene Führer ihres Gutsbezirks, ihres Kreises waren, […] bis zu dem großen Kreis der Gebildeten, die ganz selbstverständlich die geistige und kulturelle Führung der Nation innehatten. Nun ist das alles ganz anders geworden. Dies Führertum ist nicht nur in Frage gestellt, es besteht einfach nicht mehr.«137 Deshalb sei nun weder Sozialismus noch Demokratie, sondern eine neue »Gemeinschaft« nötig, »in der Persönlichkeit und Masse zu organischer Einheit zusammenfinden«.138 An die Stelle der »geborenen Führer« tritt in dieser neuen Gemeinschaft »der mit dem stärksten Werterlebnis und und darum der umfassendsten Weite des Wesens. Führer ist, wer am tiefsten von dem all-gemeinsamen Gehalte erfüllt wurde und der darum anderen zum Vermittler dieses Gehalts werden kann. Führer ist darum der, der gelernt hat, der dem höchsten Werte am innigsten, am strengsten verpflichtet ist und darum die stärkste, überzeugendste gemeinschaftbildende Kraft entfaltet.«139 In nuce ist hier das spezifisch bildungsbürgerliche Verständnis von »Führung« zusammengefasst. Die deutliche Abgrenzung gegenüber den »geborenen Führern« – und damit in erster Linie der adeligen Elite, aber auch einem allzu standesbewussten Bürgertum – ist in diesem Referat Ritters unschwer zu spüren; hier deuten sich bereits die später hervortretenden gravierenden Differenzen zwischen den Berliner Akademikern und

—————— 136 Karl Bernhard Ritter, »Masse und Führung. Die persönlichen Voraussetzungen der

Führerschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 6 (September 1920), S. 89–97, hier S. 92. 137 Ebd., S. 89. 138 Ebd., S. 92. 139 Karl Bernhard Ritter, »Masse und Führung. Die persönlichen Voraussetzungen der Füh-

rerschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 6 (September 1920), S. 89–97, hier S. 93. »Masse und Führung« war übrigens auch der Titel eines Vortrags, den Siegmund-Schultze im Juni 1920 für eine Tagung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Marburg vorschlug – zu einem Thema, das damals geradezu »in der Luft« lag. Friedrich Siegmund-Schultze an Johannes Martin, 21. Juni 1920, in: EZA 51/S II c 24,2.

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den SAG-Landfreunden an. Denn ungern dürften die »geborenen Führer« gehört haben, dass ihre Zeit vorbei sei, dass es nunmehr die Vermittler der »höchsten Werte« sein sollten, denen die neue Führerschaft zukam. Gleichzeitig demonstriert sie eine zentrale Legitimationsfigur der Bildungseliten: Führer ist der, der den »all-gemeinsamen Gehalt« für sich reklamieren und repräsentieren kann. Der selbstverständliche Vorsprung der Akademiker, die geradezu die professionellen Sachwalter der »höchsten Werte« waren, liegt hier auf der Hand. Vorerst aber wurden auf der Konferenz 1919 noch einmal die Gemeinsamkeiten beider Sozialformationen deutlich. Anhand des Motivs der sozialen Verpflichtung der herrschenden Eliten lässt sich dies zeigen. So heißt es in einem Manuskript aus den Beständen der SAG: »Man hätte es nie vergessen dürfen, das alte ritterliche Wort ›noblesse oblige‹, das dem Gebildeten, dem Höherstehenden die Verpflichtung der Beschränkung auferlegt.«140 Siegmund-Schultze betonte in diesem Zusammenhang, »dass Bildung so gut wie Adel zu um so ernsterem Verstehen und verzeihendem Mitwirken für die andern verpflichtet«.141 Sich auf Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu berufen, setzt indessen ein schichtspezifisches Bewusstsein von der eigenen Privilegiertheit, aber auch vom eigenen Führungsanspruch geradezu voraus.142 Hansjoachim Henning hat gezeigt, dass das von der Pflichtethik getragene ehrenamtliche und soziale Engagement im grundbesitzenden Adel schon seit langem ganz wesentlich der Festigung des eigenen Machtbereichs durch ein dichtes »Geflecht von Loyalitäten bis hin zu Abhängigkeiten« diente.143 Traditionelle Caritas und Ehrenamt im Adel seien vor allem als Teil einer Strategie zu sehen, sich als »soziale Gruppe mit auszeichnender Tradition, darauf basierendem Verhalten und – wenn möglich – einem Rest eigener Rechtssphäre zu behaupten«.144 Dieser »defensive Paternalismus«145 des deutschen Adels

—————— 140 Undatiertes Manuskript, in: EZA 626/II 9,14. 141 Friedrich Siegmund-Schultze in: NSAG Nr. 15 (April 1923), S. 1. 142 Zum Pflichtmotiv als Legitimationsfigur von Herrschaft im Adel vgl. Henning, »No-

blesse oblige?; Baranowski, The Sanctity of Rural Life, S. 51–82; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104–117; Saint Martin, Der Adel, S. 155–161. Eine umfassende, theoretisch fundierte Diskussion der Gemeinwohlpflichten von Eliten bietet Bohlken, Die Verantwortung der Eliten. 143 Henning, »Noblesse oblige?«, S. 322. 144 Ebd., S. 323. 145 Vgl. zu diesem Begriff Wietschorke, »Defensiver Paternalismus«. Zur paternalistischen Herrschaft im preußischen Landadel vgl. auch Berdahl, »Preußischer Adel«; Rösener, »Adelsherrschaft als kulturhistorisches Phänomen«; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104–117.

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erlaubt den direkten Vergleich mit der defensiven Haltung des Bildungsbürgertums. Denn zum historischen Zeitpunkt des Zerfalls der Monarchie hatten gerade »Bildung und Adel« mit grundsätzlichen Statusproblemen zu kämpfen. Beide Elitenformationen hatten sich traditionell auf bestimmte Vorstellungen ihrer gesellschaftlichen Pflichten und ein damit verbundenes symbolisches Kapital gestützt. Beide waren eng mit dem gesellschaftlichen Wertegefüge des Kaiserreichs verbunden und sahen in der heraufziehenden Massendemokratie eine fundamentale Bedrohung dieses Wertegefüges und ihrer eigenen Position darin. Die 1920 abgehaltene Landkonferenz in Trieglaff sollte dort die letzte SAG-Veranstaltung bleiben. In der Folge ging der in der SAG engagierte Landadel zunehmend auf Distanz zu Berlin-Ost. Unübersehbar schoben sich nun die habituellen Unterschiede und die divergenten sozialmoralischen wie auch religiösen Vorstellungen beider Gruppen in den Vordergrund.146 Selbst der zeitweilige Settlementmitarbeiter Reinold von Thadden, der mit Siegmund-Schultze stets in einem freundschaftlichen Verhältnis stand, schrieb damals: »Ich kann Siegmund-Schultze absolut nicht begreifen, dass er mit seiner SAG nicht deutlicher von all diesen ›Edelbolschewisten‹ milderer oder schärferer Färbung abrückt. Dieses Idealisieren höchst unidealer Strömungen und Wünsche, dieses Aufweichen aller Gegensätze von Gut und Böse, dieses Hingeflossensein an alle Masseninstinkte, dieses absolute Versagen auf dem Gebiete geistiger Führung und diese einseitige Verzerrung des Christentums, […] mit einem Wort: diese ganze Sozialreligion der ›Tat‹ ist ganz sicherlich nicht der Weg, auf dem wir gesunden und aus dem Zusammenbruch herausfinden.«147

Die drei Trieglaffer Konferenzen der Jahre 1918 bis 1920 und das Verhalten der adeligen »Landfreunde« in den frühen 1920er Jahren zeigen Momentaufnahmen eines »Adels im Übergang«.148 Sie demonstrieren die habituellen Grenzen des sozialen Engagements bei einigen Vertretern der ostelbischen »Rittergutsbesitzerklasse«,149 die einen neuen Weg zwischen paternalistischer Tradition und moderner Massengesellschaft gehen wollten. Aus ihrer Sicht war das Zusammentreffen mit Berliner »Arbeiterfreun-

—————— 146 Vgl. dazu ausführlich Wietschorke, »Defensiver Paternalismus«, S. 259–267. 147 Zit. nach Hühne, Thadden-Trieglaff, S. 68. 148 So der berühmte Titel eines Buchs des Historikers Johann Albrecht von Rantzau, veröf-

fentlicht unter Pseudonym als: Dissow, Adel im Übergang. Der Titel ist als Replik auf Renn, Adel im Untergang, zu verstehen. 149 Rosenberg, »Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse«.

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den« und Sozialdemokraten sicherlich ein gewagter und mutiger Schritt, der »den Blick für die auf das Land zukommenden sozialen und politischen Veränderungen« öffnete.150 Dennoch war es ihnen nicht möglich, sich von den sozialen Ordnungsvorstellungen des »ancien régime« soweit zu lösen, dass sie weiter an der Entwicklung der SAG teilhaben hätten können. Die Trieglaffer Konferenzen lassen sich von hier aus exenplarisch als der Scheideweg zweier unterschiedlicher Elitekonzeptionen begreifen, die einander nur zeitweilig – nämlich in der ruhigen Vorkriegszeit und dann wieder in den Chaostagen der Revolution – nähergekommen waren. Das adelige Eliteverständnis durch Geburt und das bürgerliche durch Bildung hatten letztlich doch zuwenig gemeinsam, um eine dauerhafte Kooperation zu ermöglichen.

»Die Sprache der Höfe verstehen lernen« Die Erkundung proletarischer Lebenswelten durch die SAG war vielfach in praktische Kontexte eingebunden: Was für die Sozialforschung und Fabrikethnographie von Berlin-Ost ganz allgemein gilt, lässt sich auch auf der Ebene der persönlichen Motivationen der Mitarbeiter feststellen. Es war nicht nur eine gewisse Sehnsucht erfahrungshungriger Primaner nach dem »wirklichen Leben«, nicht nur die Langeweile eines trockenen »Bücherstudiums«, die viele SAG-Studenten zur Mitarbeit im »dunklen« Berliner Osten bewegte. Denn dort konnte man nicht nur etwas »fürs Leben« lernen, sondern auch etwas für den eigenen akademischen Beruf. Zunächst einmal betraf das die zahllosen Theologen, die bei Siegmund-Schultze um einen Platz im »Convikt« anfragten. Wenige von ihnen waren sich ihrer Sache und ihrer zukünftigen Aufgabe sicher; die meisten zweifelten geradezu am Sinn eines bloß theoretischen Theologiestudiums in den Hörsälen und abseits der Gemeinden, in denen sie später ihren Dienst tun sollten. Insbesondere diejenigen, die in der Inneren Mission tätig werden wollten,151 eine Stelle als Großstadt- oder Arbeiterpfarrer anstrebten152 oder gar

—————— 150 Thadden, Trieglaff, S. 146. 151 Vgl. Adolf Brandt an Hellmut Hotop, 30. Juni 1922, in: EZA 51/S II c 25. 152 Vgl. z.B. Helmut Kuessner an Friedrich Siegmund-Schultze, undat., und Gerhard Wilke

an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. Oktober 1928, beide in: EZA 51/S II c 26. Der wohl bekannteste Theologe, der in der SAG seine praktische Ausbildung zum »ArbeiterPfarrer« absolvierte, war der Schwede Birger Forell, der später als Flüchtlingshelfer

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»als Zukunftsbild den Pfarrer in Berlin-Ost« hatten,153 benötigten dringend genauere Kenntnisse über ihr Arbeitsfeld. In diesem Sinne hatte der Karlsruher Pfarrer Wilhelm Bollmann »das Bedürfnis, einen bestimmten Mangel in meiner Ausbildung auszugleichen«. Denn der Dienst der Kirche erfordere »den uneingeschränkten Überblick und die nahe Berührung mit den Problemen unserer Zeit«.154 Schon unter den ersten Mitarbeitern des Settlement waren Theologen, die die »soziale Frage« in den Mittelpunkt ihres Studiums stellen wollten.155 Einige waren sich unsicher, ob sie imstande sein würden, »das schwere Amt eines Seelsorgers auszuüben« und wollten sich daher zuallererst einmal »einen persönlichen Einblick in die Lage und Denkart der Arbeiter«156 und »in das Leben sogen. Entrechteter«157 verschaffen. Andere, die bereits ihre Examina hinter sich hatten, konnten erst recht »das Bücherstudieren an 2. Stelle setzen«.158 Viele sprachen ganz direkt von einer sozialen Ausbildung im Hinblick auf spätere »Berufsarbeit« oder gar einem »Lernvikariat« in der SAG.159 Welche Kompetenzen also konnte man sich als Student im Arbeiterviertel aneignen? Welche konkreten Praktiken übten die Theologen und andere Arbeiterfreunde im »sozialen Labor« von Berlin-Ost ein, um ihren Beruf besser und effektiver ausüben zu können? Wilhelm Voß, ein Mitarbeiter des Volksheims in Hamburg, fasste seine Antwort auf diese Fragen folgendermaßen zusammen:

—————— während des Nationalsozialismus bekannt werden sollte. Vgl. Birger Forell an Friedrich Siegmund-Schultze, 22. Februar 1920, in: EZA 51/S II c 24,1. 153 Heinz Hindorf an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Mai 1930, in: EZA 51/S II e 7. 154 Wilhelm Bollmann an SAG, 2. Februar 1926, in: EZA 51/S II c 26. 155 Vgl. etwa Hans Engelbert an Friedrich Siegmund-Schultze, 6. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 21. 156 Hans Einwächter an Friedrich Siegmund-Schultze, 29. August 1913, in: EZA 51/S II c 21. 157 Helmut Kuessner an Friedrich Siegmund-Schultze, undat., in: EZA 51/S II c 26. 158 E. Jung an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. Oktober 1927, in: EZA 51/S II c 26. 159 So etwa Dirk Krafft an Friedrich Siegmund-Schultze, 18. Juli 1913, in: EZA 51/S II c 21, Theophil Kachel an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. November 1926, in: EZA 51/S II c 26 und Richard Rahn an Friedrich Siegmund-Schultze, 14. August 1927, in: EZA 51/S II c 26. Ganz im Sinne eines solchen »Lernvikariats« erhielt etwa der Pastor Delekat seitens der SAG ein »Arbeitszeugnis« ausgestellt, das ihm »im Verkehr mit der Jugend und mit der Arbeiterschaft […] eine glückliche Hand« bescheinigte. Abschließend heißt es: »Er hat […] mir bei wiederholten Aussprachen den Eindruck eines guten Großstadt-Jugendpfarrers gemacht.« Gutachten Friedrich Siegmund-Schultzes über Pastor Delekat, beigelegt einem Schreiben SAG an Prof. Bielert, 29. Juli 1921, in: EZA 51/S II c 25.

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»Was kann für einen Akademiker, für einen Lehrer, überhaupt für jeden, der irgendwie mit Menschen umgehen soll, so eine Zeit bedeuten! […] Hoffen wir, daß das Kriegsende uns eine Zeit gibt, die die Sprache der Höfe verstehen lernt. Auch in Zukunft wird die akademische oder seminaristische Bildung für den überwiegenden Teil der Menschen verlangt werden, die irgendwie mit Menschen von Staats und Gemeinde wegen zu tun haben; für alle, die beruflich den Menschen etwas sein sollen oder wollen. Da wird es mehr als bisher nötig sein, Menschen zu verstehen. Ich glaube aber, das ist eine Zeit, in der wir nötig sind.«160

In dieser kurzen Passage sind die entscheidenden Motive einer berufspraktischen sozialen Ausbildung enthalten, wie sie in Hamburg und auch in Berlin-Ost angestrebt wurde: »Menschen zu verstehen« – das sollte die unabdingbare Grundlage akademischer Bildung in staatlichen und kirchlichen Berufen sein. Wer aber Menschen verstehen wollte, musste auch »die Sprache der Höfe verstehen« lernen. Was sich die Arbeiterpfarrer in ihrem »sozialen Praktikum« also aneigneten, war ein bestimmtes Idiom, waren sprachliche Kompetenzen. Sie dienten einer »Einübung in den richtigen Verkehr mit dem Volke«,161 wie Friedrich Wilhelm Foerster es nannte. Der SAG-Mitarbeiter Wilhelm Riensberg, der während des Ersten Weltkriegs einen Knabenklub leitete, forderte in diesem Zusammenhang sogar die Anpassung an Soziolekte der unteren Schichten: »Zur Vermittlung von inneren Werten und von Wissen für Leben und Beruf an die Jugendlichen muß der Jugendpfleger die Sprache der Unmündigen, Ungebildeten und Halbgebildeten erlernen. Er muß, um mit Luther zu sprechen, dem Volke aufs Maul sehen. Klare und schlichte, packende und manchmal an der richtigen Stelle auch derbe Ausdrucksweise ist im Verkehr mit den Proletarierjungen angebracht.«162 Diese Forderung erinnert an die Versuche der im vorhergehenden Kapitel vorgestellten Fabrik-Feldforscherin, »unter der Sprachnorm« zu bleiben,163 um von den Arbeiterinnen als Gleiche unter Gleichen angesehen zu werden. Schon der Pastor Paul Göhre hatte sich 1890 bei seinem Inkognito-Aufenthalt unter sächsischen Fabrikarbeitern um eine betont grobe Ausdrucksweise bemüht: »Dummer Kerl, glaubst du

—————— 160 Wilhelm Voß, »Nach hinten raus«, in: Das Volksheim. Mitteilungen des Hamburger Volks-

heims 17 (1917), Nr. 3, S. 68–71, hier S. 70–71. 161 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in:

ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 37. 162 Wilhelm Riensberg, »Klubs für 11–14jährige Knaben«, in: ASM 2. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juli

1918), S. 57–60, hier S. 59. 163 Vgl. dazu auch Wietschorke, »Entdeckungsreisen in die Fabrik«, S. 49.

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mir nicht, was ich dir erzähle?«164 Göhre nämlich hatte – um die Formulierung Riensbergs aufzugreifen – »dem Volke aufs Maul« gesehen. Auch für Walther Classen war diese Sprachkompetenz ganz entscheidend: »Zum Volke zu reden, kurz, packend, anschaulich, ist eine seltene Kunst.«165 Und so gehörte auch sprachliche Anpassungsfähigkeit zu den elementaren Kulturtechniken der Sozialpfarrer und der Missionare. Wenn beispielsweise der Afrikamissionar Meinhof »die Sprachkenntnis für die Grundlage alles weiteren Eindringens in die Volksart« erklärt,166 dann liegen die Parallelen zu den »Arbeiterfreunden« Göhre, Classen, Voß, Disselnkötter oder Riensberg auf der Hand. In der Figur des volkstümlich auftretenden Arbeiterpfarrers bündeln sich wichtige Momente der Beziehungsgeschichte zwischen Arbeitern und Gebildeten: Fragen von Identifikation und Solidarität, Politik und Patronage, Mission und Kolonisation von Lebenswelten.167 Von entscheidender Bedeutung ist hier der konfessionelle Gegensatz. Denn in der seitens der SAG so sehr beklagten Distanz der Kirche zum »einfachen Volk« wird vor

—————— 164 Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, S. 18. Dass eine solche Anpas-

sung ans Milieu – sei es von Feldforschern, sei es von Sozialarbeitern oder Pastoren – auch gründlich schiefgehen konnte, zeigt eine von William Foote Whyte berichtete Episode aus seiner Forschung in einem Bostoner Italienerviertel: »Zunächst konzentrierte ich mich darauf, mich in Cornerville einzupassen, aber ein bißchen später stand ich vor der Frage, wie weitgehend ich mich eigentlich auf das Leben des Viertels einlassen sollte. Ich stolperte über das Problem, als ich eines Abends mit den Nortons die Straße runter ging. Ich versuchte, in die Stimmung von nichtssagendem Allerweltsgerede mit hineinzukommen und ließ eine ganze Latte von Flüchen und Obszönitäten los. Unser Spaziergang kam zu einem abrupten Halt, als alle stehenblieben und mich ziemlich entgeistert ansahen. Doc schüttelte den Kopf und sagte: ›Bill, das laß lieber, so zu reden. Das hört sich überhaupt nicht nach dir an.« Whyte 1955, in Übersetzung zit. nach Girtler, Methoden der Feldforschung, S. 122. 165 Classen, Großstadtheimat, S. 85. 166 Meinhof, »Wie wächst der Missionar in Sprache, Sitte und Vorstellungswelt seines Volkes hinein?«, S. 79. 167 Vor allem für den deutschsprachigen Raum fehlen einschlägige Arbeiten. Ansätze bieten folgende, vor allem auf Frankreich, Italien und England bezogene Arbeiten: Siefer, Die Mission der Arbeiterpriester; ders., The Church and Industrial Society; Windass, The Chronicle of the Worker-Priests; Dingler, Die französischen Arbeiterpriester; Flower, »Forerunners of the Worker-Priests«; Arnal, Priests in Working-Class Blue; Famà, Storia dei preti operai in Italia; Mantle, Britain’s First Worker-Priests; Margotti, Lavoro manuale e spiritualità. Für die DDR vgl. Brückmann/Jacob (Hg.), Arbeiterpfarrer in der DDR. Als Überblicksdarstellungen, die ebenfalls deutsche Beispiele mit einbeziehen, vgl. Koolen/Straßner, »Leben im Schatten von Kirche und Gesellschaft«; Schmidt/Straßner, »Von der Mission zur Suche nach dem Reich Gottes«.

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allem ein spezifisch protestantisches Defizit deutlich. Während viele katholische Geistliche aus den unteren Schichten – oft aus einfachen ländlichen Verhältnissen – stammten, repräsentierten die evangelischen Pastoren geradezu idealtypisch das Bildungsbürgertum.168 Ihr Zugang zum Pfarrberuf war wesentlich stärker an eine bestimmte soziale Herkunft, ein hochqualifizierendes Studium und einen bestimmten Gebildetenhabitus gekoppelt als das im Katholizismus der Fall war, wo der geistliche Berufsweg – meist ohne akademische Ausbildung – für viele Volksschüler vom Lande eine der wenigen Aufstiegsmöglichkeiten bot. Bis zu einem Drittel der Pastoren stammte sogar selbst aus dem evangelischen Pfarrhaus, einem Rekrutierungsmilieu, dem auf katholischer Seite natürlich die Entsprechung fehlte.169 Im Hinblick auf diese Herkunftsspezifik der Geistlichen schätzte der Sozialdemokrat Karl Korn die Konkurrenz der evangelischen Jugendpflege weniger stark ein als die der katholischen Vereine, da der Protestantismus »viel weltfremder, theoretischer dem Leben gegenübersteht und sich viel weniger auf Massenwirkung, auf Massenbeherrschung versteht als der Katholizismus«.170 Im Gegensatz zu den Pfarrern und Kaplänen der katholischen Kirche, die »meist frische junge Männer aus dem Volke« seien, »die dann zum Wirken in das Milieu zurückkehren, aus dem sie selber hervorgegangen sind, dessen Sprache und Psychologie sie genau verstehen, weil es ihre eigene Sprache und Psychologie ist«, seien die meisten evangelischen Pastoren »Studierte«, die »in der Regel dem Volk und dem Leben ziemlich fremd gegenüberstehen«.171 Umso mehr bestand also auf protestantischer Seite Nachholbedarf, was den direkten Umgang mit dem Volk anging; die Protestanten hatten aufgrund ihres sozial und milieubedingten Defizits an »Volkstümlichkeit« die »Sprache der Höfe« neu zu erlernen.172 Vor diesem

—————— 168 Vgl. dazu die Tabelle zur sozialen Herkunft von protestantischen und katholischen

Geistlichen in: Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 126. 169 Die bei Hohorst u.a. nach Untersuchungen von Hartmut Kaelble zusammengestellten

und auf den Zeitraum 1850–1914 bezogenen Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: So stammten in Preußen 23 Prozent, in Württemberg sogar 34 Prozent der untersuchten evangelischen Geistlichen aus Pfarrhaushalten. Vgl. ebd., S. 126. 170 Korn, Die bürgerliche Jugendbewegung, S. 44–46. 171 Ebd., S. 45. 172 Ganz ähnlich hatte schon Johann Gottlieb Fichte 1807 gefordert, für die Pfarrerausbildung »Umgangsinstitute mit Gliedern aus dem Volke« einzurichten – ähnlich wie zuvor aufklärerische Theologen, die auf Religionsvermittlung »im Volkston« bedacht waren. So schlug etwa der Zürcher Konrad Pfenniger vor, ein »Kollegium Kritikorum« einzurichten, »das aus der Frau Pfarrerin und zwey oder drey Bauern bestehen sollte, und aus dem der Herr Prediger lernen sollte, wie er für den gemeinen Mann verständlich, behält-

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Hintergrund ist das Interesse angehender Arbeiterpfarrer an der Arbeit der SAG, aber auch das »Ins-Volk-Gehen« protestantischer Theologen im Kontext des Religiösen Sozialismus, der »religiösen Volkskunde« und der Dorfkirchenbewegung der 1920er Jahre zu verstehen.173 Der Religiöse Sozialist Georg Wünsch hat diese Haltung einmal mit dem treffenden Etikett »Wirklichkeitschristentum« versehen.174 In diesem Sinne stellte Friedrich Niebergall in einem Brief an Siegmund-Schultze »Grossstadtarbeit, Jugendarbeit [und] Dorfkirchenarbeit« in eine Reihe als drei Ansätze »evangelischer Volkserziehung«175 – einer Erziehung, bei der nicht zuletzt die Pfarrer selbst ihre Lektion in »Wirklichkeit« lernen sollten. Und der Hamburger Volksheimmitarbeiter Heinz Marr etwa bot in seinen »sozialen Kursen« für Pfarrer eine »Einführung in die Gedankenwelt des modernen Industriearbeiters« an.176 Denn in den Jahren der Weimarer Republik schien die vermittelnde Rolle der Gemeindepfarrer wichtiger denn je.177 So heißt es bei Jochen-Christoph Kaiser lapidar, nach 1918 sei »die Stunde der Pfarrer gekommen«.178 Doch es waren nicht nur die Theologen, die genaue Kenntnisse über die großstädtischen Verhältnisse und praktische Erfahrungen im Umgang mit der Industriearbeiterschaft benötigten. Bei Siegmund-Schultze meldeten sich auch angehende Lehrer, Juristen, Ärzte und Ingenieure, die ein »soziales Praktikum« in Berlin-Ost absolvieren wollten. Eine Fortbildungsschullehrerin schrieb für die Akademisch-Soziale Monatsschrift einen Bericht über ihren Aufenthalt in einer Fabrik, die auch den Berufsalltag ihrer Schülerinnen kennenlernen wollte, »um zu einem richtigen und tiefen Urteil im

—————— lich und zutreffend zur Belehrung und Besserung redete«. Zit. nach Siegert, »Im Volkston«, S. 679–694 und 683–684. 173 Als Beispiele aus dem »Religiösen Sozialismus« vgl. Bechtolsheimer, Die Seelsorge in der Industriegemeinde, und Piechowski, Proletarischer Glaube. Zum Programm religiöser Volkskunde sowie der Dorfkirchenbewegung vgl. Drews, »Religiöse Volkskunde«; ders., »Ein Beitrag zur religiösen Psychologie und Volkskunde«; Weigert, Religiöse Volkskunde; Jobst, »Zur religiösen Volkskunde«. Dazu Scharfe, »Prolegomena zu einer Geschichte der religiösen Volkskunde«; Treiber, Volkskunde und evangelische Theologie, S. 63–99. 174 Wünsch, Wirklichkeitschristentum, Tübingen 1932. 175 Friedrich Niebergall an Friedrich Siegmund-Schultze, 25. März 1922, in: EZA 51/S II e 1. 176 Marr, Proletarisches Verlangen, S. 3. 177 Zur Rolle des Gemeindepfarrers als Vermittlungsfigur innerhalb des sozialen Milieus – hier allerdings im Hinblick auf den Katholizismus – vgl. Blaschke, »Die Kolonialisierung der Laienwelt«. 178 Kaiser, »Die Formierung des protestantischen Milieus«, S. 286.

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Unterricht zu gelangen«.179 Mehrere Mitarbeiter betonten den besonderen Wert der Settlementarbeit für den Juristen;180 bereits die Aktivitäten der SAG in der Jugendgerichtshilfe präparierten viele Helfer für behördliche Aufgaben. In einem Artikel von Albert Hensel heißt es dazu: »Der Jurist wird die ihm im Volksganzen obliegenden Aufgaben nicht erfüllen können, wenn er sich nicht zu einer starken und persönlichen Auseinandersetzung mit den Rechtsanschauungen des Volkes und im besonderen der Arbeiterklasse entschließt.«181 Auch Mediziner waren an den Kenntnissen der »Arbeiterexperten« interessiert: Als der Gewerbemedizinalrat Ludwig Tekely einen Assistenten suchte, fragte er nicht ohne Grund gerade bei der SAG an, denn als Einstellungsvoraussetzung nannte er: »grosses soziales Verständnis, lebhaftes Interesse für Arbeiterschutz, tadelloser Charakter«.182 Für Dinge dieser Art war die SAG der ideale Ansprechpartner. Die Einsicht, zum akademischen Studium gehöre »ein gründliches Vertrautwerden mit dem Leben, Schicksal, Denken und Wünschen der unteren Klassen«,183 setzte sich also im Laufe der 1920er Jahre auf breiter Front durch und erreichte auch die Disziplinen jenseits der Theologie. Auch für Staatswissenschaftler und Nationalökonomen wurde die SAG zur »Hochschule sozialer Information«.184 August Oswalt wollte nach seiner Promotion in Staatswissenschaft die Verhältnisse »von innen kennen lernen«, um später »irgendeinen sozialen Beruf« zu ergreifen.185 Als einer der entschiedensten Verfechter dieser Idee eines »sozialen Studiums« schrieb Friedrich Wilhelm Foerster: »Ist für den künftigen Richter, Geistlichen, Verwaltungsbeamten, Gesetzgeber und Politiker nicht eine gründliche Volkskenntnis und Übung in volkstümlicher Ausdrucksweise genau so wichtig wie die sichere Verfügung über den wissenschaftlichen Stoff,

—————— 179 »Studentinnen als Munitionsarbeiterinnen«, Teil 1, in: ASM 1. Jg. Heft 11/12 (Februar–

März 1918), S. 174–184, hier S. 184. 180 Vgl. dazu Albert Hensel, »Der Jurist und die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: ASM 4.

Jg. Heft 10 (Januar 1921), S. 180–184 und P. B., »Schafft Jugendrichter! (Volksheimgedanken eines Juristen)«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das sechste Geschäftsjahr 1906–1907, Hamburg 1907, S. 19–25. 181 Albert Hensel, »Der Jurist und die Soziale Arbeitsgemeinschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 10 (Januar 1921), S. 180–184, hier S. 180. 182 Ludwig Tekely an Friedrich Siegmund-Schultze, 12, Januar 1930, in: EZA 51/S II e 6. 183 Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1917), S. 6–11, hier S. 10. 184 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 34. 185 August Oswalt an Friedrich Siegmund-Schultze, 21. Oktober 1921, in: EZA 51/S II 7,2.

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der zur geistigen Beherrschung seiner Berufsaufgaben gehört? Und wird diese Fühlung mit dem Volke nicht mit dem Wachstum demokratischer Tendenzen immer dringender? Dem amerikanischen Jugendrichter merkt man sofort an, daß er als Student die Gassenjungen irgendeines Großstadtquartiers organisiert hat und den ›slang‹ dieser Kreise und die besonderen Gefahren des betreffenden Milieus ganz genau kennt; der britische Parlamentarier, auch das Mitglied des Oberhauses, verrät in der ganzen Art, wie er von der Arbeiterschaft und ihren Forderungen spricht, daß er in seiner Jugend ›worker‹ im Settlement war.«186

Auch hier wird eine spezifische Sprachkompetenz in den Mittelpunkt der sozialen Ausbildung gestellt: Denn der Settlementmitarbeiter beherrscht die »volkstümliche Ausdrucksweise« und sogar den »slang«, der zum richtigen Umgang mit den unteren Schichten dazugehört. Genau das wollten viele SAGler lernen: »den richtigen Ton und den passenden Unterhaltungsstoff gegenüber den verschiedensten Menschen zu finden und die bestehenden Verhältnisse schnell und richtig zu erfassen und aufzufassen.«187 Ebenso wünschte sich die promovierte Mitarbeiterin Marie Anne Kuntze, »vor allem den richtigen Ton im Verkehr mit einfachen Leuten zu haben«.188 An dieser Stelle ist der Schritt zur praktischen Menschenführung im Betrieb nicht mehr weit. Was bereits über die Sozialforschung der SAG gesagt wurde – nämlich dass sie ein ethnographisches Wissen bereitstellte, das ganz konkret betriebswirtschaftlich nutzbar war, das lässt sich in den persönlichen Motiven vieler SAGler wiederfinden: Ein Oberingenieur aus Bitterfeld wollte die Londoner Settlements besichtigen;189 der Student Hans Paul Christaller aus Stuttgart schrieb im Juni 1914 an den Leiter der SAG: »Als künftiger Ingenieur fühle ich es als meine Pflicht, mich mit der sozialen Frage so viel als möglich zu beschäftigen. Seit 2 Monaten bin ich bei einem Bahnhofsbau praktisch tätig (ich unterbreche mein Studium für

—————— 186 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in:

ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 36. Ähnlich schrieb 1934 der Volkskundler Herbert Freudenthal – einer der glühendsten Nationalsozialisten der Fachgeschichte – über die volkserzieherische Idee der »angewandten Volkskunde« der 1920er Jahre: »Der Geistliche wie der Arzt, der Richter wie der Lehrer, der Verwaltungsbeamte wie der Staatsmann, sie könnten ohne eine wie auch immer geartete volkskundliche Schulung nicht mit vollem Verständnis ihres Amtes walten.« Freudenthal, »Volkskunde und Volkserziehung«, S. 564. 187 Wilhelm Riensberg, »Klubs für 11–14jährige Knaben«, in: ASM 2. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juli 1918), S. 57–60, hier S. 60. 188 Marie Anne Kuntze an Friedrich Siegmund-Schultze, 16. Mai 1916, in: EZA 51/S II c 29,1. 189 Wilhelm Quack an Friedrich Siegmund-Schultze, 23. Juni 1924, in: EZA 51/S II e 18.

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1 Semester) und sehe deutlich wie schlecht sich die leitenden Ingenieure mit den Arbeitern verstehen, wie wenig der Arbeiter als Mensch gilt, wie sein Ehrgefühl abgestumpft wird.« Er wolle – so Christaller – versuchen, »bei den bestehenden Verhältnissen die richtige Stellung gegenüber den Arbeitern zu finden, bei der ich die notwendige stramme Ordnung mit christlicher Nächstenliebe vereinige« und freue sich, »daß ich bei Ihnen für meinen Beruf lernen darf«.190 In vielen Kontexten also waren die sozialen und auf »volkstümliche Ausdrucksweise« zielenden Kompetenzen im Hinblick auf berufliche Karrieren nutzbar. Um noch einmal Foerster zu zitieren, der eben diesen Punkt betont hat: »In England und Amerika werden daher ehemalige Residenten von Settlements bei den Bürgermeisterwahlen sowie bei der Besetzung von kommunalen Vertrauensämtern stets bevorzugt.«191 Werner Picht bestätigt diesen Befund, wenn er auf die »Elite« verweist, die in England aus ehemaligen Settlementmitarbeitern hervorgegangen sei.192 Nach all dem lässt sich die Settlementbewegung als der historische Ort verstehen, an dem schon früh ein wichtiger Schritt in der Geschichte der Klassenbeziehungen vollzogen wurde: Hier nämlich wurde eine soziale Ausbildung der Akademiker, ihr realer Kontakt mit den Lebenswelten »des Volkes«, erstmals als eine Aufgabe der Zukunft begriffen. Hier wurde »ethnographisches Wissen« als ein elementarer Bestandteil akademischer Bildung gefordert, einer »wahrhaft sozialen« Bildung, die für gesellschaftliche Führungspositionen qualifizierte. Die »Sprache der Höfe« zu verstehen – wie Wilhelm Voß es ausgedrückt hatte – wurde damit zu einer Schlüsselkompetenz von Akademikern, die »irgendwie mit Menschen […] zu tun haben«. Ein Mitarbeiter des Hamburger Volksheims schreibt bereits 1904 in einem fiktiven Brief an einen befreundeten Industriellen: »Sie würden in ihrem Betriebe keinen Ingenieur ohne Werkstattpraxis dulden und hätte er gleich die beste Mathematik im Leibe. Und in der sozialen Praxis soll das Konstruieren und Plänemachen ohne Kenntnis des Materials und seiner Behandlung jedermann erlaubt sein?«193 Diese Sätze geben nicht nur Aufschluss über die wachsende Bedeutung »sozialer Werkstattpraxis« und das

—————— 190 Hans Paul Christaller an Friedrich Siegmund-Schultze, 11. Juni 1914, in: EZA 51/S II c

29,2. 191 Friedrich Wilhelm Foerster, »Die soziale Arbeit der deutschen Universitätsjugend«, in:

ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 33–38, hier S. 32–35. 192 Picht, Toynbee Hall, S. 113. 193 E. F., »Unsere Aufgabe«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das dritte Geschäftsjahr

1903/1904, Hamburg 1904, S. 5–8, hier S. 6.

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bereits im Kaiserreich präsente Bewusstsein von der künftigen Bedeutung einer solchen Praxis, sondern dokumentieren auch eine gleichsam technologische Auffassung sozialer Arbeit und direkter Menschenführung in gesellschaftlichen Mikrobereichen durch genaue »Kenntnis des Materials und seiner Behandlung«. Solche Formulierungen wiesen damals weit in die Zukunft und antizipierten Praxismuster der »angewandten Sozialwissenschaften« und der »wissenschaftlichen Betriebsführung« der 1920er Jahre, in denen der Verbindung von Sozialforschung und Arbeitspsychologie – als »soziale Werkstattpraxis« im wörtlichen Sinne – ein zentraler Platz eingeräumt wurde. Darin wird eine implizite Verbindung der »interesselosen Liebesarbeit« in Berlin-Ost wie im Hamburger Hammerbrook mit handfesten wirtschaftlichen Interessen sichtbar. Denn das in den Settlements gewonnene Wissen der »Arbeiterexperten« war – wie auch immer die persönlichen Motive der »Siedler« ausgesehen haben mochten – praktisch anwendbares Wissen, auf das sich Karrieren gründen ließen. Dieser Zusammenhang wirft nochmals ein erhellendes Licht auf die Idee eines klassenübergreifenden Lernprozesses, wie sie in Berlin-Ost vertreten wurde. In ihrer Analyse zur Erwachsenenbildung im deutschen Kaiserreich hat Elisabeth Meilhammer gezeigt, dass in dieses Konzept des gegenseitigen Lernens schon von seinen Voraussetzungen her ein hierarchisches Gefälle eingebaut war. Denn während die Akademiker selbständig lernen, »indem sie die Situation ›vor Ort‹ analysieren«, sind die Arbeiter in ihrem Lernprozess »auf die Führung durch die Gebildeten« angewiesen. Kurz: »Die Gebildeten lernen nicht auch von den Arbeitern, sondern nur über sie.«194 Der volkserzieherische Anspruch der SAG ging zwar über das hinaus, was Meilhammer hier als Prinzip der Adult Education kritisiert, im Großen und Ganzen aber verweisen die Motive der Arbeiterpfarrer, der Juristen und Ingenieure tatsächlich in erster Linie auf ein Lernen über die Arbeiter, nicht von ihnen. Insgesamt ergibt sich dabei folgendes Bild: Der in der SAG angestrebte klassenübergreifende Lernprozess, der zum tiefen Verständnis für die Lebenslage und die Anschauungen der jeweils anderen führen sollte, war allenfalls für einen kleinen Kern von residents möglich. Bei ihnen – soweit sie über Jahre und Jahrzehnte hinweg in der SAG mitarbeiteten – lässt sich in der Tat ein Lernprozess feststellen, der sich auch in einer veränderten politischen Haltung niederschlug.195 Für viele zeitweilige Mitarbeiter, die ihren Aufenthalt in Berlin-Ost als Teil ihrer Berufsaus-

—————— 194 Meilhammer, Britische Vor-Bilder, S. 101. 195 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 9.

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bildung verstanden haben, war die SAG aber vor allem eine Agentur »ethnographischen Wissens« über die Arbeiterschaft.196 Sie diente nicht zuletzt zur strategischen Erkundung eines Milieus und damit zur Einübung praktischer Techniken der Menschenführung in vielen Bereichen. Die Versuche, die »Sprache der Höfe« zu verstehen, erweisen sich von hier aus als herrschaftspraktisch und identifikatorisch zugleich: Das »volkstümliche Sprechen« war eine Strategie, um die Arbeiter zu »packen«, es war aber auch ein Mittel der symbolischen Einebnung von Klassengrenzen, durch das sich einige der SAGler dem »wirklichen Leben« nahe und »ins Volk hineingestellt« fühlen konnten. Damit vereint es die beiden zentralen Aspekte der neuen »sozialen« Führungsstrategie bildungsbürgerlicher Eliten, wie sie im Folgenden noch einmal zusammenfassend beschrieben werden soll: direkte Menschenführung und symbolische Identifikation.

Integrative Führung als Programm Eugen Rosenstock schrieb 1920 über die Zeit vor der Novemberrevolution: »Damals gab es noch Volk und Gebildete als Gegensatz, unten das Volk, oben die Gebildeten. Heute ist von diesem Gegensatz nicht mehr die Rede. Man muß heute statt dessen von dem Gegensatz zwischen ›Masse und Persönlichkeit‹ sprechen.«197 Diese Sätze bringen die veränderte Situation auf den Punkt, der sich die SAG zu Beginn der Weimarer Zeit gegenübersah. Dementsprechend entwickelte man eine neue Vorstellung von der eigenen Rolle in der Gesellschaft: Auf dem Programm stand nicht mehr – wie noch 1911 – »Kondeszendenz« von Oben nach Unten, sondern Führungskompetenz inmitten einer in sich zerfallenden Massengesellschaft. Als Experimentierfeld bot sich hierfür die Volks- und Arbeiterbildungsbewegung der frühen Weimarer Republik an, in der eine ganze Reihe von Konzepten »volkstümlicher Bildung« entwickelt wurden. Eugen Rosenstock mahnte die Notwendigkeit einer »Volkswissenschaft« an und verwies dabei auf Wilhelm Heinrich Riehl als »Volkswissenschaftler von echtem Schrot und Korn«.198 In Anlehnung an Leo Weismantels »Schule der Volkschaft« forderte Rosenstock für die Lehrerbildung »volkhafte Einwurzelung« und »erleuchtete Beherrschung« zugleich199 – ein schon in der Formulierung

—————— 196 Vgl. dazu Wietschorke, »Soziales Settlement und ethnografisches Wissen«. 197 Rosenstock, »Die Ausbildung des Volksbildners«, S. 154. 198 Rosenstock, »Volkswissenschaft«, S. 184. 199 Ebd. Vgl. auch Weismantel, Die Schule der Volkschaft.

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äußerst aufschlussreicher Hinweis auf den Zusammenhang von Volksfreundschaft und elitären Selbstbildern. Adolf Reichwein sprach in der Akademisch-Sozialen Monatsschrift von der »Luxusbildung« einer Oberschicht, »die niemals wahrhafte Bildung sein kann, weil sie die Verbindung mit dem Nährboden des werktätigen Volkes verloren hat«.200 In dieser Metaphorik der »Hefe«, der »Einwurzelung« und des »Nährbodens« steckt ein entscheidender Gedanke: Denn das Populare war im Diskurs der SAG ein Reservoir für wahre Bildung und Führungskompetenz. So suchten die SAGler nach einer Bildung, »die aus dem Gesamtschaffen des Volkes ihren Stoff bezieht, die rückwirkend auch wieder das Gesamtschaffen des Volkes zu fördern in der Lage wäre«.201 Dieser von Adolf Reichwein formulierte Gedanke macht transparent, wie SAG-Mitarbeiter und Volksbildner ihre eigene Rolle konzipiert haben: als die Geburtshelfer einer neuen »Volkskultur«, die erst durch deren pädagogische Bearbeitung durch die Gebildeten und Volksbildner zu einer »wirklichen«, nämlich das »Gesamtschaffen des Volkes« repräsentierenden Kultur würde.202 Und Reichwein wird noch deutlicher, wenn er darauf hinweist, dass »Volkskultur« als Ensemble »vom Volk gemeinsam geschaffener objektiver Werte […] rückstrahlend wieder bildende Kraft am Volke bewähren« könne.203 Die zitierten Formulierungen umreißen einen aufschlussreichen zirkulären Vorgang, der gewissermaßen einer Logik der Reinfusion folgt: einer von den Eliten durchgeführten »Eigenblutbehandlung« des einfachen Volkes mittels dessen eigener »Kultur«.204 Durch sie eignet sich der »entfremdete« Intellektuelle die im Volk vorhandenen kulturellen Formen und Potentiale an, um sie zu einer repräsentativen und integrativen Volkskultur umzubilden und in dieser gleichsam veredelten Form wieder ins Volk zurückzugeben. Der Reinfusionsgedanke war – mehr oder weniger explizit – in der Volksbildungsbewegung der Weimarer Republik verbreitet. Ihm folgte

—————— 200 Adolf Reichwein, »Volksbildung als Wirklichkeit«, in: ASM 6. Jg. Heft 10–12 (Januar–

März 1923), S. 117–122, hier S. 118. 201 Ebd. 202 Georg Bollenbeck liefert einen erhellenden Hinweis zum historischen Zeitpunkt dieses

Auftauchens von »Volkskultur« im bürgerlichen Diskurs: »In dem Moment, wo das Volk als nationalpädagogisches Objekt der Gebildeten in der Unterhaltungsindustrie verschwindet und die Höhenkünste sich vom Volk verabschieden, wird die ›Volkskultur‹ als Garant des Ursprünglichen und Einheitlichen bemüht.« Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 165. 203 Adolf Reichwein, »Volksbildung als Wirklichkeit«, in: ASM 6. Jg. Heft 10–12 (Januar– März 1923), S. 117–122, hier S. 119. 204 Vgl. dazu schon Wietschorke, »Ins Volk gehen!«, S. 117–118.

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letztlich auch Paul Natorps Forderung nach einer »Erziehung zur Naivität«, die nur möglich werde, indem sich die Gebildeten »von dem Arbeiter erziehen lassen«.205 Zugleich beherrschte dieser Gedanke auch dominante Strömungen der sich um 1900 institutionalisierenden Volkskunde, etwa wenn Eugen Mogk 1904 als Ziel des Faches ausgibt, man müsse die Volkskultur »dem Volke erhalten und dadurch erzieherisch auf dieses einwirken«,206 oder wenn später Herbert Schlenger im Sinne der nationalsozialistischen Volkstumspflege schreibt: »Aus den Quellen des Volkstums geschöpft, drängt der volkskundliche Stoff darnach, nach seiner Ordnung und Deutung […] wieder dem Volke zugeführt zu werden.«207 Bei all diesen Vorgängen spielen die Gebildeten als Vermittler die zentrale Rolle, sie sorgen für die richtige Adaption von »Volkskultur«. Das »einfache Volk« hingegen liefert dafür zwar gleichsam das Rohmaterial, wird aber kulturell enteignet: Denn die Volksbildner bestimmen nicht nur über das, was an kulturellen Formen erhaltenswert und »erzieherisch wertvoll« sein soll, sondern sind auch das Scharnier der Vermittlung – die Schaltstelle, über die der Rücklauf »aus dem Volk in das Volk« organisiert wird. Diese Logik setzt die Gebildeten in eine entscheidende Position als Experten, Sachwalter, Sprecher, Kontrolleure und Mediatoren – raffinierter könnte der Begründungszusammenhang von Volkserziehung kaum vorgetragen werden. Dahinter steckt eine symbolische Ökonomie, in der die »Liebe zum Volk« zu einer Quelle von »Verallgemeinerungsprofiten« im Sinne Bourdieus wurde: Das Volk – und das bedeutete immer: das »einfache« Volk – lieferte den angeschlagenen Bildungseliten das symbolische Gut des Popularen als des Allgemeinen, das sie zur Legitimation ihrer eigenen Position benötigten.208

—————— 205 Paul Natorp, »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: ASM 5. Jg. Heft 1

(April 1921), S. 1–7, hier S. 2. 206 Zit. nach Bagus, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt, S. 377. 207 Schlenger, Methodische und technische Grundlagen, S. 151. 208 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das 1916 im Scheunenviertel gegründete

Jüdische Volksheim Berlin, dem ebenfalls ein solcher Reinfusionsgedanke zugrundelag: Gebildete jüdische Kreise Berlins sollten dort nämlich mit der ostjüdischen Volkskultur armer Einwanderer in Berührung gebracht werden, um diese Volkskultur in einer klassenübergreifenden sozialen Arbeit wieder pädagogisch weitergeben zu können. In diesem Sinne verband der Gründer des Volksheims, Siegfried Lehmann, mit dem Settlement »eine Forderung für uns Westjuden – mit unserer Volkskultur so vertraut zu werden, dass wir sie in einer solchen Gemeinschaft zu erwecken oder wenigstens am Leben zu halten vermögen«. Zit. nach Oelschlägel, »Die Jüdische Settlementbewegung«, S. 22.

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Um sich die symbolischen Werte des Popularen gutschreiben zu können, hatten sich die Gebildeten im »wirklichen Leben« zu bewähren und ein sensibles Verständnis für die »unteren Klassen« zu entwickeln. »Sie werden dann auch« – so Gottfried Naumann – »mit ganz anderer Sicherheit und Klarheit in führender Stellung dienen können und darum mit ganz anderer Befriedigung und Freude.«209 Die Formulierung »in führender Stellung dienen« ist im Hinblick auf traditionelle Muster von »Führungskultur« sehr aufschlussreich. Mit ihr wird der paternalistische Leitsatz des »noblesse oblige« auf die gebildeten Schichten und deren Verantwortung für das Volksganze übertragen – und damit eine klassische Legitimationsfigur der Eliten, wie sie hier bereits im Abschnitt über die adeligen Landfreunde der SAG beschrieben worden ist.210 Einer der Gründer des Hamburger Vereins Volksheim, Wilhelm Hertz, lässt dieses Eliteverständnis bereits einem 1906 veröffentlichten Aufsatz über die Entwicklung des Volksheims durchblicken, wenn er das »Bestreben, den Arbeitermassen persönlich nahe zu treten und ihnen unsere Kultur durch unsere Persönlichkeit zu vermitteln« als einen »eigentlich aristokratischen Zug« kennzeichnet.211 Und ähnlich wie der oben zitierte Friedrich Wilhelm Foerster verweist auch Hertz in diesem Zusammenhang auf die englische Oberschicht, deren Vertreter »doch nicht verlernt« hätten, »als Lord oder M. P. vor dem einfachen Volk zu sprechen« und »wirklicher Führer des Volkes zu sein«. Im Unterschied zu den deutschen Verhältnissen sei in England gerade der Kontakt zwischen Oben und Unten stärker; der gebildete Aristokrat sei deshalb »dank seiner Persönlichkeit des Verständnisses bei der Masse sicher«.212 Nach der Revolution von 1918/19 wurden diese Kompetenzen in Deutschland allerorten gefordert, suchte man nach »Persönlichkeiten«, die gerade durch ihr anti-elitäres Auftreten zur »wahren Elite« gehörten. In einem Aufsatz für die »Akademisch-Soziale Monatsschrift« fasste August Nuß, prominenter Vertreter der katholischen sozialstudentischen Bewegung, dieses neue Führungskonzept in exemplarischen

—————— 209 Gottfried Naumann, »Student und Arbeiterschaft«, in: ASM 1. Jg. Heft 1/2 (April/Mai

1917), S. 6–11, hier S. 10–11. 210 Vgl. v.a. Henning, »Noblesse oblige?«. 211 Wilhelm Hertz, »Die Entwickelung der Volksheimidee in der Praxis«, in: Das Volksheim

in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 5–15, hier S. 7. Zu Hertz im Kontext der Hamburger Kulturreform vgl. Jenkins, Provincial Modernity, S. 88. 212 Wilhelm Hertz, »Die Entwickelung der Volksheimidee in der Praxis«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 5–15, hier S. 7.

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Formulierungen zusammen. Im Hinblick auf die durch den Krieg hervorgerufene gesellschaftliche Dynamik stellte er die Frage in den Raum, »ob der geistig-sittliche Einfluß der akademischen Intelligenz nicht in die Hände derer gleitet, die, gestützt auf Massen und Organisation, von unten her durch Selbstarbeit und willensstarken Fleiß die richtunggebende Herrschaft über die Staaten an sich zu reißen streben«.213 Gleichzeitig skizzierte Nuß eine Gegenstrategie, wie sie – als Reaktionsmuster des deutschen Bildungsbürgertums überhaupt – auch für die SAG handlungsleitend war: »Wir Akademiker können dieser Entwicklung, die uns um unsern berechtigten Einfluß bringen kann, nur dadurch begegnen, daß wir jeder bureaukratischen Engstirnigkeit und kastenhaften Einbildung entsagen und uns frisch und lebenswahr mitten ins Volk hineinstellen, aus dem wir ja größtenteils hervorgegangen sind. Wir wollen jeden Anschein vermeiden, als ob wir auf besondere Standesvorteile pochten, ohne jede Standeswürde zu vergessen, die der Ausdruck richtig verstandener Autorität und unsrer wahrhaft akademischen Bildung ist, die auch den Angehörigen andrer Stände Achtung abnötigt. […] Dadurch gewinnen wir den Einfluß zurück, auf den wir vermöge unsrer fachwissenschaftlichen Bildung und allgemeinen Vorbildung begründeten Anspruch haben, den uns aber die ›Massen‹ abzunehmen drohen.«214

Und mit einem ganz ähnlichem Tenor forderte auch Carl Sonnenschein auf dem Ersten Studententag im Juli 1919 in Würzburg: »Wir müssen uns darüber einig sein, daß Deutschland ein Studententum und eine Akademikerschaft braucht, die ihre Mitführerschaft sich erobern will durch Uneigennützigkeit, durch Gemeinschaftssinn, durch vorbildliche Hingabe an die Gesamtheit. Wir brauchen Akademiker, die ihr Volk lieben und zu ihrem Volke halten, deren Evangelium nicht die ›Distanz‹, sondern die Volksgemeinschaft ist. Weg mit der Monokelhaftigkeit und weg mit dem Kastengeist! Wir wollen zu unserem Volke gehören. […] Wir haben gutzumachen. Wir wollen ein neues Studententum, das mit seinem Volke Hand in Hand geht.«215

Dieses neue, für die Volksbildungsdiskurse der Weimarer Republik charakteristische Führungskonzept soll hier als »integrative Führung« gekennzeichnet werden. Diesem Konzept entsprach ein neues Eliteverständnis, das ich analog dazu in die paradoxe Formel einer »Integrationselite« fassen

—————— 213 August Nuß, »Quo Vadis?« In: ASM 1. Jg. Heft 5/6 (August/September 1917), S. 65–

68, hier S. 66. 214 Ebd., S. 66–67. 215 Zit. nach Thrasolt, Dr. Carl Sonnenschein, S. 147–149.

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möchte.216 Denn dieser Begriff benennt die charakteristische Kombination aus einem ungebrochenen Selbstverständnis der Gebildeten als Elite mit einem neuen sozialen Pathos: Der Elitestatus war in diesem Konzept kein natürlicher sozialer Status mehr, der über die ständische Vergesellschaftung durch Bildung vermittelt wäre, sondern basierte auf einem durch Askeseforderungen im Sinne Gehlens – soziale Gesinnung, »Kondeszendenz« und unbedingte Opferbereitschaft – zu erwerbenden Anspruch auf gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Sonnenschein fasste diese Einsicht in die knappe Formel: »Geistige Führerschaft wird nicht ererbt, sondern erworben.«217 Die neue »Integrationselite« sah sich in der Vermittlerrolle zwischen ständischen Formationen und marktbedingten Klassen. Sie zielte auf die Volksgemeinschaft als eine »organische Masse«, in der – wie Paul Tillich 1922 schrieb – »die Armen wieder ihres Reichtums und die Reichen ihrer Armut froh geworden sind«,218 oder eine »Werkgemeinschaft« im Sinne Paul Natorps, in der sich »Führer und Geführte« im Geiste von Genossenschaft oder Gildensozialismus verbinden sollten.219 Zum anderen wurden in vielfältigen Kontexten der Sozialarbeit, der Jugendpflege, der Truppenführung im Weltkrieg, der Landarbeiterfrage, der angewandten Betriebswissenschaft oder der Großstadtseelsorge konkrete Modelle der Menschenführung entwickelt und erprobt. Die aufrichtige Empathie für die unterbürgerlichen Schichten diente – so betrachtet – immer auch dem Programm einer Neuformierung bildungsbürgerlicher Führungsansprüche. Damit verrät »der messianische Anspruch […] das Programm, vom Volk her eine Neueinrichtung der Welt zu denken, an die Intention, den Intellektuellen und Künstlern eine Aufgabe, eine Sendung, eine Position zuzudenken. Ganz offensichtlich ist es nicht möglich, ein Konzept Volk ohne ein Konzept Führerschaft zu denken.«220 Um dafür zu sorgen, »daß die spezifische Gruppe der ›Gebildeten‹ den ›Massen‹ gegenüber kulturell definitionsmächtig bleibt«, wurde in den 1920er Jahren in zahllosen Varianten das Motiv der Erziehung in Stellung

—————— 216 Vgl. dazu meine Skizze in: Wietschorke, »Der Weltkrieg als ›soziale Arbeitsgemein-

schaft‹«, S. 247–251. 217 Nach einer programmatischen Kurzdarstellung des »Sekretariats Sozialer Studentenar-

beit«, zit. bei Thrasolt, Dr. Carl Sonnenschein, S. 107–108. 218 Tillich, Masse und Geist, S. 36. 219 Natorp, Der Deutsche und sein Staat, S. 44. 220 Bormann, »Volk als Idee«, S. 37.

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gebracht.221 Der ungeheure Aufschwung der Sozial- und Reformpädagogik, der Volksbildungsbewegung und der Jugendarbeit lassen die 1920er Jahre tatsächlich als »Jahrzehnt der Erziehung« par excellence erscheinen. Das integrative Erziehungskonzept der SAG war dieser Entwicklung vor 1914 einen Schritt voraus gewesen; nun ging es in einem kaum zu überblickenden Spektrum pädagogischer und sozialintegrativer Ansätze und Experimente auf. Im folgenden Kapitel soll am Beispiel der SAG-Jugendarbeit noch einmal an den Beginn dieser Entwicklung zurückgegangen werden – auch, um die Herkunft des beschriebenen Führungskonzepts aus den Kulturmustern der bürgerlichen Jugendbewegung und der Jugendpflege besser verstehen zu können. In Kapitel 9 wird dann der Faden der Entwicklung der SAG in den 1920er Jahren wieder aufgenommen.

—————— 221 Berking, Masse und Geist, S. 167; als Überblicksdarstellung vgl. Herrmann, »›Neue Schule‹

und ›Neue Erziehung‹«.

8. Die Klubarbeit der SAG im Kontext der Jugendpflege

Jugenddiskurs und Jugendpflege nach 1900 Um 1900 erreichten die Debatten über die »schulentlassene Jugend« in Deutschland eine neue Brisanz. Anlass dafür bot zunächst die demographische Entwicklung: Nie zuvor hatte es einen so hohen Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung gegeben.1 Zwar bildete gerade Berlin in dieser Hinsicht einen Ausnahmefall, da das Durchschnittsalter der dortigen Bevölkerung aufgrund des Zuwanderungsbooms der 1870er Jahre in der wilhelminischen Zeit tendenziell stieg.2 Dafür aber waren in Berlin die mit dem Jugendproblem assoziierten Entwicklungen der modernen Freizeitund Massenkultur besonders sichtbar. Dazu kam die wachsende Bedeutung der sozialistischen Arbeiterbewegung und – ab 1904 – ihrer Jugendorganisationen,3 die in Berlin ihren Anfang nahmen und dort präsenter waren als anderswo. Angeheizt durch Debatten um die Wehrtauglichkeit der deutschen Jugend, entstand im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg ein komplexer Problemdiskurs, über den zahlreiche Akteure aus Kirche, Schulwesen und Parteien einen kulturkritischen und stark politisierten »Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne« ausfochten.4 Generalbass dieses Problemdiskurses war die Diagnose der »Gefährdung« und »Verwahrlosung« einer über neue Freiheitsspielräume verfügenden und sich dabei zunehmend verselbständigenden Jugend. Die kulturellen Figuren des »Halbstarken« und später des in »Wilden Cliquen« organisierten Stra-

—————— 1 Vgl. dazu noch immer den materialreichen und differenzierenden Überblick von Tenfel-

de, »Großstadtjugend in Deutschland«. 2 Vgl. Tenfelde, »Großstadtjugend in Deutschland«, S. 204–205. 3 Vgl. dazu Korn, Die Arbeiterjugendbewegung; Zimmer, »Die sozialistische Jugend als Kul-

tur- und Freizeitbewegung«; Uellenberg/Rütz, 75 Jahre Arbeiterjugendbewegung; Eppe, Selbsthilfe und Interessenvertretung; Gröschel, »…wir kämpfen, weil wir gläubig sind…«; als neueren Überblick vgl. Eppe/Herrmann (Hg.), Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert. 4 Vgl. Saul, »Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne«.

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ßenjungen wurden zu Schreckbildern des durch und durch widersetzlichen und gleichsam antipädagogischen Jugendlichen,5 der aus der Sicht der bürgerlichen Sozialreform und Jugendpflege kontrolliert, zivilisiert und erzogen werden musste.6 Erstmals in der deutschen Geschichte schien von jugendlichen Subkulturen eine ernstzunehmende Gefahr für die Gesamtgesellschaft auszugehen. »Jugend« wurde auf diese Weise zu einem neuen Symptom der sozialen Frage erklärt. An den Diskussionen und Stellungnahmen zur Arbeiterjugendfrage lässt sich daher auch die generelle Haltung der Deutungseliten zu den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen des späten Kaiserreichs ablesen.7 Der Hamburger Jugendpfleger Clemens Schultz gilt nicht nur als einer der Entdecker des »Halbstarken« als subkultureller Typus und pädagogische Figur,8 sondern auch als Pionier einer neuen Variante kirchlicher Jugendpflege.9 Darüber hinaus sieht der Bildungshistoriker Peter Dudek in der Arbeit von Schultz und seines Kollegen Walther Classen auch »den Beginn einer erfahrungsgesättigten sozialpädagogisch-soziologisch inspirierten Jugendkunde«.10 Im Gegensatz zur traditionellen »Verwahrlostenpäda-

—————— 5 Zu der signifikanten Bedeutungsverschiebung vom »Jüngling« zum »Jugendlichen« im

pädagogischen Diskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. Herrmann, »Der ›Jüngling‹ und der ›Jugendliche‹«. 6 Zu den »wilden Cliquen« vgl. Lessing/Liebel, Wilde Cliquen; Rosenhaft, »Organising the ›Lumpenproletariat‹«; dies., »Die Wilden Cliquen«; Lindner, »Die Wilden Cliquen in Berlin«. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sich der Fokus der pädagogischen Jugendkritik vom spezifisch Hamburger Phänomen der »Halbstarken«, der »Butjes und Brits«, wie Clemens Schultz sie nannte, in den 1920er Jahren hin zu dem spezifisch Berliner Phänomen der »Cliquen« verschob. Vermittelt über diese antipädagogischen Symbolfiguren, wurde Hamburg also vor 1914, Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zum Hauptschauplatz der »Jugendfrage«. Vgl. dazu den knappen Hinweis bei Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften, S. 88 (Anm. 33). 7 Vgl. etwa Reulecke, »Bürgerliche Sozialreformer und Arbeiterjugend«, und die Darstellung von Kaerger, der die sozialpolitischen Debatten zur Arbeiterjugendfrage anhand einer der wichtigsten Dachorganisationen der bürgerlichen Sozialreform nachzeichnet: Kaerger, Die Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, insbes. S. 135–357. 8 Peter Dudek bezeichnet nicht Schultz, sondern seinen Hamburger Kollegen Walther Classen als den »eigentliche[n] Schöpfer dieser pädagogischen Kunstfigur«; vgl. Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften, S. 87. Zur Figur des »Halbstarken« vgl. auch Peukert, »Clemens Schultzens ›Naturgeschichte des Halbstarken‹«. 9 Vgl. dazu v.a. Dudek, »Bewußte Feinde jeder Ordnung«; ders., Jugend als Objekt der Wissenschaften, S. 83–89. Zu Schultz vgl. auch die ältere biographische Arbeit Maurer (Hg.), Clemens Schultz. Zum Hamburger Kontext vgl. ausführlich Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes. 10 Dudek, »Bewußte Feinde jeder Ordnung«, S. 27.

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gogik«11 des späten 19. Jahrhunderts vertrat Clemens Schultz eine präventive Jugendpflege, die sich der Jugendlichen mit christlicher Nächstenliebe und unvoreingenommener Sensibilität annehmen sollte: »Lernt die Halbstarken kennen; gebt euch Mühe, einen Halbstarken, der euch in den Weg kommt, kennen zu lernen; nehmt euch seiner an – und wendet euch nicht in Verachtung und Abscheu von ihm ab, sondern lernt ihn lieben und dann ihm beizustehen und ihm zu helfen.«12 Dabei schloss er das »christlichkirchliche Moment« in seinen Jugendvereinen »völlig aus« und vertrat damit die Überzeugung, dass der missionarische Standpunkt in der Jugendarbeit fehl am Platze sei.13 Mit diesen Grundsätzen beginnt ein neuer Weg in der evangelischen Jugendarbeit, der gekennzeichnet ist von zunehmender Distanz zu kirchlichen Initiativen, der sich in diesem Sinne nicht mehr an den Zielvorstellungen der »Seelenrettung« und der Evangelisierung orientiert und der zumindest ansatzweise die kulturelle Eigenlogik und die Bedürfnisse der Jugendlichen zum Ausgangspunkt der sozialen Arbeit macht. Damit aber ist ein entscheidender Schritt getan: Die evangelische Jugendarbeit beginnt hier die klassenkulturelle Prägung der Arbeiterjugendlichen ernstzunehmen, anstatt diese ausschließlich unter der Prämisse bürgerlicher Verhaltensstandards zu beurteilen. Walther Classen praktizierte in seinem Hamburger Volksheim denn auch eine charakteristische Pädagogik, die sich von der älteren christlichen Jugendarbeit stark unterschied. »Selbstverständlich dürfen meine Jungen rauchen, wie würden sie sich sonst als junge Leute fühlen?«14 Und »bei Ungezogenheit, Vergeßlichkeit, Unordnung bedeute immer: Du warst auch einmal ein Fünfzehnjähriger. Vergiß den Humor nicht!«15 Das notwendige Korrektiv zu dieser verständnisvollen Haltung aber war bei Classen die Strenge der Vereinsführung, über die es in einer offen militärischen Sprache heißt: »Es darf nicht durchgehen, daß die Jungen sich um unsre Ordnungen drücken. […] Leiter und Helfer haben eine Art Oberbefehl für den Kriegsfall; Gäste, die sich unqualifizierbar betragen, setzen sie auch ohne Vereinsbeschluß vor die Tür. Ferner sind sie auf Turnboden, Spielplatz und auf der Wanderung wirklich Befehlende. Die Kunst aber besteht darin,

—————— 11 Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 49. 12 Schultz, Die Halbstarken, S. 38. 13 Laut Konferenzbericht in: Die Fürsorge für die schulentlassene gewerbliche männliche Jugend,

S. 227. 14 Classen, Großstadtheimat, S. 74. 15 Ebd., S. 97.

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bei dem Befehl den Willen des Volkes auf seiner Seite zu haben.«16 Dieses Prinzip folgte der Überzeugung, die Jungen verlangten »nach rechter Volksart, daß ihre Regierung stark sei«.17 Mit dieser Mélange aus »Zucht und Freiheit« – so ein weiterer Buchtitel Classens18 – wurde zu erreichen versucht, »daß die Jungen tun, was sie sollen, und zu tun glauben, was sie wollen«.19 Damit entstand eine neue Form der Jugendarbeit, deren Basis eine grundsätzliche Lebenswelt- und Sozialraumorientierung war. Ein Handbuch der neuen, von Schultz in den Hamburger Lehrlingsvereinen und von Classen im »Volksheim« bereits praktizierten Klubpädagogik ist 1903 unter dem Titel »Jugendklubs« erschienen und wurde 1911 in neu bearbeiteter Fassung als »Der Jugendverein« wiederaufgelegt.20 Die erste Auflage enthält einen längeren einleitenden Aufsatz von Schultz und weitere Beiträge progressiver Pädagogen wie etwa Johannes Tews;21 in der zweiten Auflage ist Walther Classen mit zwei Beiträgen vertreten.22 Weitere Programmschriften dieser nun als »Jugendpflege« bezeichneten Arbeit folgten dann im Zuge des preußischen Jugendpflegeerlasses vom Januar 1911, als mit der berühmten Million erstmals öffentliche Gelder für Jugendarbeit zur Verfügung gestellt wurden.23 Der Erlass von 1911 kann somit als ein Katalysator neuer Formen von Jugendarbeit gelten.24 Dabei kam es zu grundlegenden Umwertungsprozessen gegenüber den vormals als

—————— 16 Ebd., S. 93. 17 Ebd., S. 95. 18 Classen, Zucht und Freiheit. 19 Classen, Vom Lehrjungen zum Staatsbürger, S. 19. 20 Jugendklubs; Weicker (Hg.), Der Jugendverein. Ein ähnlich konzipiertes Handbuch ist

Hemprich, Winke zur Gründung und Leitung von Jugendvereinigungen, wiederaufgelegt als ders., Handbuch und Wegweiser für die Arbeit in Jugendvereinigungen. Auch diese Darstellung enthält einen eigenen Abschnitt zur Hamburger Jugendarbeit von Clemens Schultz. Darüber hinaus gab die Zentralstelle für Volkswohlfahrt ab 1907 den periodisch erscheinenden Ratgeber für Jugendvereinigungen heraus, der ebenfalls als Sammelbecken der »neuen Richtung« außerkonfessioneller Jugendpflege gelten kann. 21 Schultz, »Einleitung«; Tews, »Leseanstalten«. 22 Classen, »Turnen und Turnspiele«, ders., »Wandern«. 23 Roese, »Jugendarbeit in der Stadt«; Classen, »Staatsbürgerliche Erziehung im Jugendverein«; Weicker, »Jugendarbeit als Volkssache«; Hauptausschuss für Jugendpflege in Charlottenburg (Hg.), Jugendpflege; Classen, Zucht und Freiheit. 24 Günther Dehn etwa unterscheidet eine »Jugendpflege von 1911« und eine »militärische« Jugendpflege von 1914. Seit dem Ministerialerlass 1911 werde die Jugendpflege als eine »Kulturaufgabe« anerkannt. Dehn, Großstadtjugend, S. 13. Vgl. dazu auch die Zusammenfassungen zum Jugendpflegeerlass bei Saul, »Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne«, S. 112–115, und Schubert-Weller, »Kein schönrer Tod...«, S. 157–171.

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»verwahrlost« abgestempelten Jugendlichen. So schreibt etwa der Herrnhuter Erzieher Bauer in der zweiten Auflage des Jugendklub-Handbuchs: »Wir sind in einer großen Täuschung befangen bei Beurteilung der ländlichen und Arbeiterjugend, weil wir da sehr viel Roheit, freilich oft scheußliche Roheit sehen und das für Gemeinheit und Schlechtigkeit halten, weil es das bei den Söhnen der Gebildeteren allerdings wäre. Aber der feinere Beobachter sieht den Unterschied zwischen roh und gemein auch im Wesen des ungebildeten Burschen.« Und in diesem Sinne bescheinigt Bauer auch der Arbeiterjugend einen »Drang nach […] besseren Gütern«.25 Dieser Paradigmenwechsel war bereits in dem bewusst gesetzten Begriff des »Klubs« enthalten, der im damaligen Kontext auf die selbstorganisierten Jugendgruppen verwies und damit die Distanz zu den christlichen Vereinen älterer Prägung signalisierte.26 In der Neubewertung der Arbeiterjugend nach 1900 zeichnet sich ein Prinzip ab, das im 19. Jahrhundert bereits für die bürgerliche Jugend akzeptiert war und nun zunehmend auch auf die unterbürgerlichen Schichten ausgedehnt wurde: das Prinzip des »boys will be boys« – »Jungens sind nun mal so«.27 Die Verfechter dieses neuen Ansatzes – so der Historiker John R. Gillis – »meinten, sie hätten in der physischen Natur der Jungen jenen gemeinsamen Nenner gefunden, den die frühen Reformer immer verfehlt hätten. Die christliche Vorgehensweise im frühen 19. Jahrhundert […] machte nun Methoden Platz, die weniger von Religion und Vernunft abhingen, dafür aber der Psychologie und der Biologie des Jugendalters mehr Aufmerksamkeit schenkten.«28 Damit war in der Geschichte bürgerlich-pädagogischer Jugendbilder ein neues Kapitel aufgeschlagen: Auf die Entdeckung des »Jünglings« um 180029 und des »auffälligen Jugendlichen« um 1880 folgte um 1900 die allgemeine Entdeckung der Jugend in ihrer Eigengesetzlichkeit und auch Widersetzlichkeit.30 Das Vordringen von »psychologischen« Deutungen der Jugendphase im Sinne einer »Seelenkunde der Jugendlichen«, wie es bei Bauer hieß,31 führte zu einem Bruch mit der Tra-

—————— 25 Bauer, »Zur Seelenkunde der Jugendlichen«, S. 6. 26 Vgl. dazu in aller Kürze und am Beispiel der 1904 ins Leben gerufenen Berliner Mäd-

chenklubs der Gräfin Reventlow: Hitzer, Im Netz der Liebe, S. 292–295. 27 Gillis, Geschichte der Jugend, S. 145. 28 Ebd., S. 146. 29 Vgl. dazu Bühler, Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters, S. 15–28. 30 Diese Periodisierung folgt Peukert, »Mit uns zieht die neue Zeit«, S. 189. Vgl. zudem

Herrmann, »Der ›Jüngling‹ und der ›Jugendliche‹«. 31 Bauer, »Zur Seelenkunde der Jugendlichen«.

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dition der »Entrüstungsliteratur«32 und billigte allen Jugendlichen gleichermaßen ein »Recht auf Erziehung« zu33 – eine Argumentation, durch die, wie Peukert anmerkt, nicht zuletzt »der kontrollierenden Staatsintervention eine breite Eingriffsschneise geschlagen werden« sollte.34 Die Verallgemeinerung des Jugendverständnisses im Zeichen des »boys will be boys« diente somit dem pädagogischen Übergriff auf die proletarische Jugend; motiviert war diese neue Sicht auf die Jugend vor allem durch drei Entwicklungen: durch die Kritik an den pädagogischen Handlungsmustern des 19. Jahrhunderts, die massive Präsenz einer »aufsichtslosen« Jugend in den Städten und die Auseinandersetzung mit der freien Jugendbewegung der Sozialdemokratie. Seitens dieser sozialistischen Jugendbewegung wurde die neue bürgerliche Jugendpflege genau beobachtet. Die »Arbeiter-Jugend« brachte ab 1910 eine Rubrik unter dem Titel »Die Gegner an der Arbeit«, in der ironisch-kritisch über die Organisiationen der Jugendpflege berichtet wurde.35 Ebenfalls 1910 verfasste der Sozialdemokrat Karl Korn ein schmales Bändchen über die »bürgerliche Jugendbewegung«, worunter er die neuartigen »Bemühungen der bürgerlichen Kreise um die proletarische Jugend« verstand.36 Binnen weniger Jahre seien neue konfessionelle, aber auch außerkonfessionelle Jugendvereine, Jugendklubs und Jugendheime »ins Kraut geschossen«,37 welche »die arbeitende Jugend […] für die bürgerliche Gesellschaft einfangen« wollten.38 Die Darstellung befasst sich vor allem mit den politischen Implikationen der bürgerlichen Erziehungsbewegung; ein eigener Abschnitt ist der »Hamburger Richtung« um Schultz und Classen gewidmet.39 Darin kennzeichnet Korn die Abkehr liberaler Pastoren von der traditionellen kirchlichen Jugendarbeit als neue Strategie: den Verzicht auf direkte religiöse Unterweisung, auf »Bibelstunde und Posaunenblasen«, um die »vaterländische und soziale Erziehung« auch an die Arbeiterjugend

—————— 32 Dudek, »Bewußte Feinde jeder Ordnung«, S. 34. 33 Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 131–133. 34 Ebd., S. 132. 35 Vgl. Arbeiter-Jugend. Organ für die geistigen und wirtschaftlichen Interessen der jungen Arbeiter und

Arbeiterinnen, 1910ff. 36 Korn, Die bürgerliche Jugendbewegung, S. 3. 37 Ebd., S. 4. 38 Ebd., S. 7. 39 Ebd., S. 61–65. Zur sozialistischen Kritik an der »Hamburger Richtung« vgl. auch Lin-

dau, »Die ›Hamburger Richtung‹ am Werke«.

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herantragen zu können.40 Das Volksheim Walther Classens sieht er »auf der äußersten Linken dieser Richtung«; allerdings sei es »der alte Jünglingsvereins- und Konventikelgeist«, der hinter dem neuen Jargon »hervortönt«. Hauptziel dieser »Jugendbewegung großen Stils«41 sei es, die im Entstehen begriffene proletarische Jugendbewegung einzudämmen – und zwar durch »die Einlullung der Gehirne, die Lähmung aller Energien, die auf ein tatkräftiges Eingreifen in das politisch-ökonomische Geschehen, auf zielsichere Arbeit an der wirtschaftlichen und politischen Emanzipation der Arbeiterklasse gerichtet sind«.42 Obwohl die pädagogischen Methoden der nach 1900 erneuerten Jugendpflege und der sozialistischen Jugendbewegung durchaus ähnlich zugeschnitten waren,43 waren beide Bewegungen also durch ihre politische Konkurrenz klar getrennt. In der Gegnerschaft zur Sozialdemokratie lag geradezu der »sinngebende funktionale Imperativ« der Jugendpflege.44 Die Jugendarbeit des an der Reformationsgemeinde in Berlin-Moabit tätigen Pastors Günther Dehn steht klar in der von Schultz und Classen begründeten Tradition der »Hamburger Richtung« und belegt, weshalb diese seitens der Sozialdemokratie explizit als Konkurrenz aufgefasst wurde. Zugleich kann der von Dehn im Januar 1911 gegründete »Jugendverein Nordwest« als ein direkter Vorläufer der SAG-Jugendklubs gelten.45 Neun Monate vor Siegmund-Schultze hatte Dehn – zwar im Rahmen einer Kirchengemeinde, aber doch im Sinne freier Jugendarbeit – einen Knabenklub ins Leben gerufen, der einmal wöchentlich zusammenkam und von rund 100 Knaben im Alter von 12 bis 14 Jahren besucht wurde. Aus diesem ersten Klub ging schließlich auch ein Lehrlingsverein hervor.46 Ziel des

—————— 40 Korn, Die bürgerliche Jugendbewegung, S. 62. 41 Ebd., S. 8. 42 Ebd., S. 64. 43 So schreibt Korn über die bürgerliche Jugendpflege: »Ihre Mittel sind dieselben wie die

unseren: die Bildungs- und Unterhaltungsveranstaltungen, die Körperpflege, das Jugendheim.« Ebd., S. 109. 44 So Rudi Kaerger über die »Zentralstelle«: Kaerger, Die Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, S. 366. 45 Eine ähnliche Arbeit scheint bereits einige Jahre zuvor der Stadtmissionsinspektor Le Seur »in einer der aussichtslosesten Gegenden von Berlin, am Cottbuser Tor«, begonnen zu haben. Ähnlich wie die ersten Mitarbeiter der SAG im Berliner Osten ging Le Seur auf Distanz zur offiziellen kirchlichen Jugendarbeit und musste sich daher »seine Jugend durch Straßenwerbung zusammenbetteln«. Roese, »Jugendarbeit in der Stadt«, S. 5–6. 46 Günther Dehn, »Bericht über den Jugendverein Nordwest«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 190–192. Vgl. auch Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, S. 185–189.

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gesamten Unternehmens war, »junge Leute zu gewinnen, die normaler Weise kirchlichen und überhaupt bürgerlichen Jugendvereinen fern bleiben« und so gerade mit der »eigentlichen und möglichst sozialistischen Arbeiterjugend« in Kontakt zu kommen.47 Deshalb fanden die Moabiter Klubs nicht in Räumen der Reformationsgemeinde, sondern in einem ehemaligen Straßenreinigungsdepot statt – ein Vorgehen, das auch von Siegmund-Schultze für richtig gehalten wurde und schließlich zum Auszug der SAG aus dem »Auferstehungshaus« in der Friedenstraße führte. Freilich blieb der »Jugendverein Nordwest« trotz seines unverdächtigen Domizils immer als »Pastorverein« kenntlich, wodurch laut Dehn die »eigentlich ›roten‹ Jungen« zunehmend ausblieben, trotzdem erreichte er »durchweg unkirchliche« Familien,48 was als Erfolg verbucht werden konnte. Im Jahr 1916 hatte der Moabiter Lehrlingsverein immerhin 75 feste Mitglieder,49 darunter vor allem Handwerkslehrlinge und ungelernte Arbeiter, aber auch »einige Kaufleute«.50 Wie Schultz und Classen sah auch Dehn in den von ihm betreuten Jugendlichen vor allem positive Eigenschaften wie »Elektrizität« und »Unternehmungsgeist«. Ihre »Frechheit und Autoritätslosigkeit« seien »vielleicht nur verkappte Tugenden«.51 Damit schloss Dehn eng an die von Schultz praktizierte präventive Jugendpflege an, die in ihren Schützlingen nicht nur Fürsorgezöglinge, sondern im Grunde anständige und liebenswürdige, wenn auch durch schlechte Einflüsse und lieblose Erziehung »fehlgeleitete« Jungen sah. Zugleich teilte er Schultz’ wie Siegmund-Schultzes Kritik am »Anevangelisieren« der Inneren Mission und der traditionellen kirchlichen Jugendfürsorge. Zwar ging es auch Dehn grundsätzlich darum, »die Jungen in Verbindung zu setzen mit den großen tragenden Lebensmächten der Religion und des Vaterlandes«,52 doch die wichtigste

—————— 47 Günther Dehn, »Bericht über den Jugendverein Nordwest«, in: NSAG Nr. 7 (Januar

1916), S. 190–192, hier S. 190–191. 48 Ebd., S. 192. 49 Ebd., S. 190. 50 Ebd., S. 192. Damit scheint Dehns Jugendarbeit, was ihren Wirkungsgrad innerhalb des

klassischen Arbeitermilieus angeht, erfolgreicher gewesen zu sein als die Mitarbeiter des Hamburger Volksheims. Letzteren rechnete der Sozialdemokrat Karl Korn 1910 genüsslich vor, dass sich unter den 494 Mitgliedern ihrer Lehrlingsvereine 215 Kaufleute und Techniker befänden, weitere 188 seien Handwerker und lediglich 47 Arbeiter und Boten. Korn, Die bürgerliche Jugendbewegung, S. 64. 51 Dehn, »Berliner Jungen«, S. 104. 52 Günther Dehn, »Bericht über den Jugendverein Nordwest«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 190–192, hier S. 191.

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Aufgabe einer modernen kirchlichen Jugendarbeit sei nicht in religiöser Unterweisung, sondern einer Gruppenaktivität zu sehen, bei der Spaß und soziales Lernen eine gleichwertige Rolle spielen sollten. So heißt es bei Dehn: »Unglaubliche Vorstellung – mein ehrwürdiger Pastor, der mich eingesegnet hat, hätte mit seinen Konfirmanden Trapper und Indianer gespielt, oder gar Spießrutenlaufen, oder er wäre mit uns Schwimmen gegangen und hätte Kopfsprung und Tauchen wacker mitgeübt! […] Der normale vierzehn- bis achtzehnjährige Bursche läuft weg, wenn gebetet wird, und es kommt hier alles darauf an – nicht daß hier und da ein Mensch belehrt wird – sondern daß die Stube voller Jungen ist. Je voller es ist, umso besser.«53

Dabei zielte die Arbeit des »Jugendvereins Nordwest« auf eine ganz allgemein zivilisierende Wirkung der Klubs und damit auf die aktive Abgrenzung der »anständigen« gegenüber den »verkommenen« Jungen: »Sie haben alle eine wenn auch teilweise vielleicht unklare Vorstellung davon, […] daß man nicht so wird wie die ›andern‹, die sich am Sonntagnachmittag auf der Straße und im Kino herumtreiben.«54 Mit diesem Prinzip balancierte die Jugendarbeit Dehns zwischen zwei Negativbildern: Zum einen sollte es nicht so zugehen wie im »Pastorverein« – der Klub musste vor allen Dingen Spaß machen und durfte nicht langweilig sein, zum anderen aber sollte er der Einübung einer Haltung dienen, welche die »Klubjungen« klar von den »Straßenjungen« unterschied und die Jungen davon überzeugte, nicht so werden zu wollen »wie die andern«. In diesem Sinne war die Erziehungspraxis Dehns auf einfache Standards des Zusammenlebens gerichtet: Rücksichtnahme auf andere, Vermeiden von Lärm, Ordnunghalten in den Vereinsräumen.55 Kleine Exempelgeschichten sollten zeigen, wie leicht die Jungen – etwa durch das unbedachte Werfen von Knallerbsen – auf eine »schiefe Bahn« geraten können: »Gestern las ich in der Zeitung, daß ein Autochauffeur einen Mann überfahren hatte, aber anstatt den armen Menschen aufzuheben und zur Unfallstation zu fahren, machte er, daß er davon kam. So ein gemeiner Kerl. Ich denke mir, der hat gewiß als Junge schon Radauplätzchen geworfen und hat sich natürlich nichts dabei ge-

—————— 53 Dehn, »Gedanken zur Erziehung der schulentlassenen Großstadtjugend«, S. 146–147. 54 Günther Dehn, »Bericht über den Jugendverein Nordwest«, in: NSAG Nr. 7 (Januar

1916), S. 190–192, hier S. 191. 55 Vgl. dazu die von Dehn veröffentlichten pädagogischen Ansprachen aus den Jungen-

klubs: Günther Dehn, »Schlußworte in Jungenklubs«, in: NSAG Nr. 3 (Juni 1914), S. 58–65.

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dacht, und nun ist er solch ein Unmensch geworden.«56 Kausalketten dieser Art waren im Diskurs der Jugendpflege gängig; sie sollten illustrieren, wie klein der Schritt der Devianz vom »anständigen« zum »verwahrlosten« Jungen und wie notwendig das frühe Eingreifen der Jugendarbeit war. Der in Kapitel 4 vorgestellte »negative Bildungsroman« der SAG, der Lebensbericht über Erich Kocke, folgt insofern diesem Muster, als er vorführte, wie leicht ein junger Arbeiter auf die »schiefe Bahn« geraten konnte. An der nahezu zeitgleich entstandenen Moabiter Jugendarbeit Günther Dehns hat man sich in Berlin-Ost – bei allen graduellen Unterschieden, was die Ziele der sozialen Arbeit angeht – durchaus orientiert.57 Zwar kam es zwischen Dehn und Siegmund-Schultze – außer im Rahmen der SAG»Kirchenkommission« – zu keiner engeren Zusammenarbeit, allerdings war der »Jugendverein Nordwest« spätestens seit 1916 formell der SAG angeschlossen, die in Moabit zudem eine eigene Niederlassung beim neuen Ledigenheim in der Waldenserstraße gegründet hatte.58 Wichtiger ist, dass diese beiden Initiativen für die Arbeiterjugend dem neuen, von Schultz und Classen begründeten Weg folgten, von bestimmten Bedürfnissen der Jugend ausgingen und dieser auch eine Eigengesetzlichkeit zugestanden. In der politischen Beurteilung der Jugendfrage ging Dehn indessen weiter als Siegmund-Schultze. So sah Dehn gerade in den Mitgliedern der sozialistischen Arbeiterjugendvereine »durchweg gutes Menschenmaterial«59 und beurteilte die Arbeit der sozialistischen Jugendorganisationen mit Respekt. 1922 sprach er sich sogar dezidiert für den Ausbau der Arbeiterjugendbewegung aus.60 In diesem Punkt folgte ihm Siegmund-Schultze zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dazu stand er zuwenig auf der Position der »Religiösen Sozialisten« und hing zu sehr einer Idee christlicher Jugendarbeit an, die vom Standpunkt der bürgerlichen Jugendbewegung aus gestaltet sein sollte.

—————— 56 Ebd., S. 61. Vgl. zu dieser Episode auch Sabelus, »Gefahr und Gefährdung«, S. 97–98. 57 Zu den Parallelen und Differenzen zwischen Dehns Jugendarbeit und der SAG-Klub-

arbeit vgl. die interessante, von Siegmund-Schultze verfasste Rezension zweier Bücher Dehns: »Bücherbesprechungen«, in: ASM 4. Jg. Heft 7 (Oktober 1920), S. 133–136. 58 Günther Dehn, »Bericht über den Jugendverein Nordwest«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 190–192, hier S. 190. Zur SAG-Zweigstelle in Moabit vgl. Walther Schulz, »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Moabit«, in: NSAG Nr. 5 (März 1915), S. 136–138 und ders., »Soziale Arbeitsgemeinschaft Moabit im Winter 14/15«, in: NSAG Nr. 7 (Januar 1916), S. 188–190. 59 Dehn, Großstadtjugend, S. 21. 60 Ebd., S. 26.

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Die bisherige Untersuchung des Jugenddiskurses nach 1900 hat vor allem deutlich gemacht, dass die Jugendarbeit der SAG nur aus der zeitspezifischen Konstellation heraus zu verstehen ist, deren Teil sie war und deren Elemente in einem komplexen Bedingungsgefüge kultureller Orientierungen und Abgrenzungen aufeinander verweisen. Fünf Faktoren bilden im wesentlichen dieses Bedingungsgefüge: und zwar die klassische Jugendfürsorge, die von der Jugendbewegung beeinflusste neue Jugendpflege, die in wilden Banden organisierte »Straßenjugend«, die sozialistische Arbeiterjugendbewegung und zu guter Letzt die Angebote der modernen Massenkultur. Diese fünf Elemente bilden sozusagen das Kräftefeld, innerhalb dessen sich der Jugenddiskurs und die konkrete Jugendarbeit der SAG entwickelt haben. Unbestrittenes Leitmotiv der Jugendkultur wie auch der Jugenderzieher war dabei die Jugendgruppe.61 Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche Elemente jugendlicher Gruppenkultur in die Klubarbeit eingingen – und welche nicht. Dazu wird von der Straßensozialisation als dem Gegenbild der SAG-Klubarbeit die Rede sein, bevor die Prinzipien der Klubarbeit selbst diskutiert werden.

»Geheime Miterzieher«: Die Straße als Gegenspieler Ein Ansatzpunkt der pädagogischen Bemühungen in der SAG war die Straße als der paradigmatische Ort unkontrollierter Jugendkulturen.62 Sie stellte aus Sicht der bürgerlichen Erziehungsbewegung einen »Speicher verbotenen Wissens« dar, eine »Schule der Unmoral«, eine »Lehranstalt der Verwilderung«.63 Sie repräsentierte die »Abwesenheit von Ordnung«64 schlechthin und wurde damit zum klassischen Gegenspieler der Pädagogen. Besonders mit den funktional unklaren »Zwischenzonen« der Großstadtstraßen waren Zuschreibungen von »Gefahr, Anonymität, Vermas-

—————— 61 Michael Mitterauer ist in seiner Sozialgeschichte der Jugend diesem Leitmotiv gefolgt und hat

in vier umfangreichen Kapiteln ländliche und städtische Jugendgruppen sowie Jugendvereine und informelle Jugendgruppen behandelt: Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, S. 162–246. 62 Vgl. Lindner, »Straße – Straßenjunge – Straßenbande«, sowie meinen Beitrag zum pädagogischen Diskurs über Straßenkindheit und Straßenjugend nach 1900: Wietschorke, »Die Straße als Miterzieher«. Auf der dort zitierten Literatur basiert auch der folgende Abschnitt. 63 Lindner, »Straße – Straßenjunge – Straßenbande«, S. 193. 64 Scharfe, »Straße«, S. 174.

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sung, Unkontrollierbarkeit und Unsicherheit« verbunden.65 In der »Hochphase von Straßenkindheit«66 zwischen 1870 und 1920 wurde dieser öffentliche Raum zum Gegenstand intensiver pädagogischer Reflexion. Der Sozialdemokrat und Pädagoge Otto Rühle schrieb 1911: »Die Straße ist die Heimat des proletarischen Kindes geworden. Hier verbringt es den größten und besten Teil seiner Jugend. Hier empfangen seine Sinne Nahrung und wachsen seine Kräfte. Die Luft, die es hier atmet, wird seinen späteren inneren Menschen mitbestimmen.«67 Die Straße wurde zu einem Sammelbegriff für eine bestimmte Sorte von Einflüssen: für die »Gefährdungen« der Jugend durch die kleinen und großen Sensationen des öffentlichen Raums, durch Reklame und Schaustellerei, Kolportage und Schlagermusik, Schaufensterauslagen und Konsumanreize verschiedenster Art. Hinzu kam die Dynamik der schieren Menschenmasse, die sich auf den Straßen bewegte: »Die Straße ist dem Straßenkinde in erster Linie Spielplatz. Im Gewoge und Getriebe zwischen Passanten und Fuhrwerken aller Art, gestoßen und beiseite geschoben, angeschnauzt, von Schutzleuten verfolgt, von Gefahren bedroht, muß es sich beschäftigen und vergnügen, so gut es geht. […] Eine formlose Masse, in der die stärkeren, aber auch die schlechtesten Elemente, ohne daß jemand ihre unheilvolle Wirksamkeit beobachtete und aufzuhalten versuchte, die ganze Schar beherrschen.«68

Auf diese Weise wurde die Straße von Rühle als paradigmatischer Ort der modernen Massengesellschaft beschrieben. Sie galt ihm als ein öffentlicher Raum, in dem die »schlechtesten Elemente« wirksam waren, und daher als eine denkbar zweifelhafte Schule.69 Oberflächlichkeit war ihre Signatur:

—————— 65 Hohm, »Einleitung«, S. 12. 66 Vgl. Zinnecker, »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind«. Wunderbare Fotografien

zur Straßenkindheit und zum Straßenleben im wilhelminischen Berlin bietet Kerbs (Hg.), Auf den Straßen von Berlin. Vgl. dazu auch den Beitrag von Kaschuba, »Straßenleben«. Zu Straßennutzung und Straßenleben im wilhelminischen Berlin vgl. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 34–66; zur Straßensozialisation in den 1920er Jahren vgl. Peukert, Jugend zwischen Krieg und Krise, S. 77–82. Als kleine Skizze zu einer Geschichte der Straße als »Wohnung des Kollektivs« (Walter Benjamin) vgl. Gailus, »Berliner Straßengeschichten«. 67 Rühle, Das proletarische Kind (1911), S. 176. 68 Zit. nach Stecklina, Rühle und die Sozialpädagogik, S. 163. 69 Dass dieses Denkmuster auch heute noch verbreitet ist, zeigt exemplarisch ein in der »Süddeutschen Zeitung« erschienener Artikel über die »U-Bahn-Schläger« von München, die im Dezember 2007 einen 76jährigen Mann schwer verletzt hatten. Dort heißt es, Serkan A. und Spyridon L. lebten »in einer der schönsten Städte des Landes und doch in

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Denn das Stadtkind sei – so Rühle weiter – »geweckter und gewandter als das Dorfkind, aber es ist auch kritischer und skeptischer, blasiert und vielleicht schon früh vergiftet und verdorben«.70 Und in dem Lehrerblatt »Die Schulpflege« heißt es 1927: »Da das Straßenleben auf Aeußerlichkeiten eingestellt ist, macht es oberflächlich. Die stets wechselnden Bilder bieten nichts Dauerndes, nichts Ganzes.«71 Und so erkannte auch der SAGMitarbeiter Meyer 1914 bei den Berliner Großstadtkindern »unter der glatten Schale nicht viel festen Kern, wenig solide Kenntnisse, trotz aller Mundfertigkeit wenig inneren Gehalt, viel Geschrei und wenig Wolle«.72 Die »Straßenjungen« waren nach Jürgen Zinnecker »zugleich ein Myhos der Pädagogen und der […] Stadtbewohner. In der pädagogischen Topik bilden sie das leibhaftige Pendant zum phantasierten Bild der Straße«.73 Gleichzeitig verkörperten sie ein klassisch männliches Anforderungsprofil: eine ausgeprägte Körperlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit, Virtuosität im »Überleben« auf der Straße und eine Haltung des »Mir kann keiner«74 bei gleichzeitiger Loyalität und Solidarität der eigenen Gruppe gegenüber.75 Das spätere Schlagwort von der »street credibility« fasst dieses Anforderungsprofil zusammen; es verweist auf einen »Habitus der Straße«, der sich den pädagogischen Einhegungsversuchen entzieht – mehr noch: der seine Spezifik gerade aus dem Widerstand gegen diese Versuche gewinnt. Zentrales Element dieses Habitus war der ausgeprägte Bezug zum eigenen Stadtviertel, den Straßenzügen der unmittelbaren Nachbarschaft.76 Rolf Lindner hat dieses Territorialitätsprinzip unterstrichen: »Die Bande oder

—————— einer ganz anderen, selbstzerstörerischen, sich um Perspektive nicht kümmernden Welt […], nicht erreichbar für Jugendämter und wohlmeinende Institutionen«. In ihren Aussagen vernimmt der Journalist die »Sprache der Straße«; ihre Welt bestehe aus »Trinken, Abhängen, eben der Straße«. Gerade die lapidare und fast beiläufige Formulierung verrät, auf welches allgemeine Einverständnis der Autor hoffen darf. Es scheint, als wäre mit dem Hinweis auf die »Straße« alles gesagt. Käppner, »Die Wut kennt kein Gesetz«, S. 3. 70 Zit. nach Stecklina, Rühle und die Sozialpädagogik, S. 163. 71 Simon, »Großstadtkind und Straße«, S. 502. 72 W. Meyer, »Berliner Jungens«, in: NSAG Nr. 3 (Juni 1914), S. 56–58, hier S. 57. 73 Zinnecker, »Straßensozialisation«, S. 101. Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen zur »Straße-und-Kind-Metapher« in ders., »Politik und Pädagogik der Kindheit«, S. 70–75. 74 Lindner, »Straße – Straßenjunge – Straßenbande«, S. 193. 75 Genannt sei an dieser Stelle eine ethnologische Fallstudie zur Jugend in Tbilissi, in der die Straßensozialisation von Jungen in diesem Sinne thematisiert wird: Koehler, »Die Schule der Straße«. 76 Vgl. Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, S. 206–213.

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Clique ist die Straßengemeinschaft Jugendlicher par excellence; sie ist nicht nur Produkt der Straße, sie nimmt diese auch symbolisch in Besitz.«77 Und Phil Cohen, der sich mit den Territorialregeln englischer »gangs« der 1970er Jahre befasst hat, resümiert: »Die Territorialproblematik stellt sich daher fast ausschließlich für Arbeiterwohnbezirke. Und sie muß unter dem Klassengesichtspunkt verstanden werden.«78 Wer sich als offensichtlich klassenfremder Eindringling in die Reviere der Arbeiterjugend begab, war vor Spott und Schikane nicht sicher, wie es auch die Ehefrau SiegmundSchultzes, Maria Siegmund-Schultze, erfahren musste. Laut ihrer Tochter Elisabeth Hesse, die in ihren Lebenserinnerungen darüber berichtet hat, wurde sie nach ihrem Umzug in den Berliner Osten »auf der Straße angesprochen und verfolgt als Turteltäubchen und Goldfasan, obwohl sie ganz einfach gekleidet war. Eine Rotte Jungen hatte es besonders auf sie abgesehen, hat sie beklaut und peinlichst erschreckt durch Öffnen ihrer Hosenschlitze.«79 Die Episode zeigt nicht nur die Sensibilität der Jungen gegenüber klassenkulturellen Unterschieden – was Hesse als »ganz einfache« bürgerliche Kleidung charakterisierte, war für sie ein Goldfasanenkostüm – , sie macht auch noch einmal in nuce deutlich, dass hier 1911 mit dem »Westen« und dem »Osten« tatsächlich zwei Welten aufeinandertrafen.80 Die darauf folgende Bemerkung Hesses verrät dann aber sogleich wieder, wie fest das Rettungsparadigma zur Erzähltradition der SAG gehörte: »Gerade diese Jungen konnten vom Vater gefördert werden, bekamen eine Berufsausbildung; zwei von ihnen wurden Akademiker.«81 Die Straßensozialisation war – als Realität und pädagogischer Mythos zugleich – der häuslichen Erziehung genau entgegengesetzt; die bürgerliche Erziehungsstrategie lässt sich daher nicht zuletzt als der Versuch der »Verhäuslichung von Kindheit« verstehen.82 In ihr artikulierte sich ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den Verlaufsmustern einer öffentlichen und halböffentlichen Sozialisation: eine tief greifende Beunruhigung angesichts

—————— 77 Lindner, »Straße – Straßenjunge – Straßenbande«, S. 202, zum Territorialitätsprinzip der

Jugendbanden generell S. 199–202. 78 Cohen, »Territorial- und Diskursregeln«, S. 238. 79 Hesse, Geliebt und ungeliebt, S. 20. 80 Maria Siegmund-Schultze war – nebenbei bemerkt – bei dem Umzug nach Berlin-Ost

nie so recht wohl gewesen; sie hatte dem Entschluss ihres Mannes aber, wie es bei der Tochter vielsagend heißt, »getreu ihrem Eheversprechen« zugestimmt. Ebd., S. 20. 81 Ebd. 82 Zum Thema der »Verhäuslichung« von Kindheit im 20. Jahrhundert vgl. v.a. Zinnecker, »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind«.

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der Straße, wie sie etwa Walther Classen geäußert hat: »Beklemmende Angst faßt uns, wenn wir Feierabends durch diese einförmigen, von Menschen wimmelnden Straßen gehen.«83 In diesem Diskurs über die Straße waren die Opposition »Schmutz versus Sauberkeit«84 und die damit einhergehende Abwertung von Körperlichkeit und sinnlicher Erfahrung ständig präsent; ein Leitmotiv der pädagogischen Straßenkritik war das Nichtstun. Auf der Straße waren, so diese Kritik, die Kinder und Jugendlichen ganz auf sich gestellt und verbrachten die Zeit – »wie Blätter, die der Wind zu Haufen treibt und wieder zerstreut«85 – mit »Strolchen und Umherlungern«.86 Durch das Leben auf der Straße waren sie »dem Augenblick ausgeliefert« und »frei, jedem sich bietenden Anreiz zu folgen«.87 Günther Dehn hat das Wechselspiel von Nichtstun und impulsiver Aktivität, von innerer Leere und äußerer Gespanntheit folgendermaßen beschrieben: »Dort sitzen sie in Haufen, die schmutzigen Karten oder den verschmierten Würfelbecher in der Hand, oder sie stehen umher an den Straßenecken oder in den Hausfluren. […] Ist irgendwo etwas los, ein Krawall oder Auflauf, dann sind sie da. Wie die Pilze aus der Erde schießen sie da auf.«88 Elisabeth Vedder beobachtete, »wie eine ganze Reihe von Jungen beschäftigungs- und ziellos auf der Promenade herumbummelte, […] wie diese Jungens abends auf den Treppenfluren saßen und Schundromane lasen und niemanden hatten, der sich ihrer annahm«.89 Und der Pädagoge K. Busold fragte 1927 in einem Artikel für die »Neuen Bahnen«: »Wer kennt nicht die […] jungen Leute, die namentlich in den industriellen Großstadtvierteln müßig und untätig mit oder ohne ihren Willen an den Straßenecken einzeln oder in Gruppen herumstehen. All ihr Sinnen und Trachten ist auf dumme

—————— 83 Classen, Großstadtheimat, S. 47. 84 Vgl. Maase, »Die Straße als Kinderstube«, S. 54–57; zum Kontext vgl. Klaus Mönke-

meyer, »Schmutz und Sauberkeit«; zur Rolle des Schmutzes im »Slumdiskurs« der frühen Stadtforschung außerdem Lindner, Walks on the Wild Side, S. 19–41. 85 Rühle, Das proletarische Kind (1922), S. 151. Das von Rühle benutzte Bild könnte von Werner Sombart übernommen sein, der in seiner 1906 erschienenen Studie »Das Proletariat« schreibt, das »Straßenkind« sei nur ein Blatt, »vom Winde herangeweht, das im nächsten Augenblick wieder zu einem neuen Blätterhaufen weitergetrieben wird«. Dem »Straßenkind« stellt Sombart das »wurzelhafte Landkind« gegenüber. Zit. nach Bausinger, »Verbürgerlichung«, S. 38. 86 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 79. 87 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 91. 88 Dehn, Großstadtjugend, S. 87. 89 Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 3.

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Streiche oder nutzlose Dinge gerichtet.«90 Der Schritt zur Kriminalität schien hier nicht mehr allzu groß; delinquentes Verhalten – so das Menetekel der bürgerlichen Straßenkritik – ergab sich fast zwangsläufig aus dem Nichtstun, dem Herumlungern und dem Strolchen. »Schlechte Einflüsse auf der Straße« und »schlechter Verkehr mit meist älteren Kameraden« verleiteten – so Elisabeth Vedder – zu Straftaten.91 In einem rückblickenden Bericht einer anderen Mitarbeiterin heißt es über die Jugendgruppen des Berliner Ostens: »So eine östliche Jugendbande hatte manchmal kein anderes Ziel, als einmal täglich etwas ›auszufressen‹, und sie trafen sich am Abend zu bösen Heimlichkeiten im Gebüsch der Auferstehungskirche.«92 Und Otto Rühle wiederum phantasierte hierzu eine krude und geradezu schicksalhafte Kettenreaktion der Delinquenz zusammen: Ausgehend von der Straße, »die Augen und Ohren der Kinder zu Pforten der Roheit und Schamlosigkeit macht«, so Rühle, »geht es rasch abwärts: Kino – Verführung – Prostitution – Verbrechen – Polizei. Und die Kette, von der Straße gereiht, wird zur Sträflingskette.«93 All diese Kommentare sprechen von der Straße als einem antipädagogischen Raum schlechthin, in dem Jugendliche geradezu zwangsläufig auf dumme Gedanken kommen mussten. Hinzu kamen die kleinen Sensationen, die Unterhaltungs- und Vergnügungsangebote im öffentlichen Raum: Eltern und Pädagogen »imaginierten«, so Kaspar Maase, »ein Spinnennetz von ›wilden Eindrucksvermittlern‹, in dem ihre Sprößlinge sich wie die Fliegen verfingen«.94 Der städtische Raum erschien als »geheimer Miterzieher«, als unkontrollierbarer Agent einer Pädagogik der Unsittlichkeit, wie Hans Windekilde Jannasch eindringlich beschrieben hat: »Sehr oft werden Eltern und Lehrer unerwartet um den Erfolg ihrer erzieherischen Bemühungen betrogen. Unbekannte, aber deutlich spürbare Kräfte wirken ihnen entgegen, dunkle Mächte von der Straße, von schlechten Kameraden oder aus dem Dunstkreise der Dienstbotenwelt. Man spricht dann von den geheimen Miterziehern.«95 Die Großstadtstraßen waren also nicht nur Orte des demonstrativen Nichtstuns, der Jugendbanden und der rauhen Um-

—————— 90 Busold, »Das Erziehungsproblem der erwerbslosen Großstadtjugend«, S. 413. 91 Elisabeth Vedder, »Jugendgerichtshilfe«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 104–106,

hier S. 104. 92 »SAG.-Anfang (Erinnerungen einer Mitarbeiterin)«, in: ASM 6. Jg. Heft 7–9 (Oktober–

Dezember 1922), S. 102–105, hier S. 103. 93 Rühle, Das proletarische Kind (1922), S. 296. 94 Maase, »Wilde Eindrucksvermittler«, S. 298. 95 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 75.

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gangsformen, sondern sie waren auch ein Schauplatz und Schaufenster des anrüchigen, des ungeordneten und unkontrollierbaren Wissens. Sie waren – das belegt etwa der Kommentar Elisabeth Vedders – der gleichsam natürliche Umschlagplatz einer Groschenliteratur, welche die Pädagogen nie ganz zu fassen bekamen, eben weil diese Literatur für die Straße gemacht war. Sie waren aber auch der prädestinierte Ort der Lektüre: Geeignet für den schnellen Konsum zwischen Kiosk und Hauseingang, entzogen sich die in kleinen Portionen herausgegebenen Geschichten und Bilder den pädagogischen Institutionen – »dunkle Mächte«, die im Verein mit den »schlechten Kameraden« ihren verderblichen Einfluss geltend machten. Von all diesen »Straßendingen« wollte man die Jugend in Berlin-Ost fernhalten.96 Der Kampf gegen den Einfluss der Straße als »geheimer Miterzieher« prägte denn auch die Jugendarbeit der SAG von Anfang an; er war ein elementarer Bestandteil ihrer Selbstdarstellung. So hat Erich Gramm ausführlich darüber berichtet, wie die ersten SAG-Studenten auf der Friedenstraße den Kontakt zu den Arbeiterjungen herstellten, die sich dort um die Sitzbänke des Mittelstreifens »herumdrückten«.97 Diese Passage ist es wert, ungekürzt zitiert zu werden, da sie die pädagogische Methode der SAG sehr genau beschreibt: »Mit ihnen in Kontakt zu kommen, ergab sich zwanglos aus der Situation: ein Mitarbeiter, etwa einer der Studenten, setzt sich in seinen freien Stunden auf eine der Bänke auf der Promenade. Sehr bald ist das Interesse der Jungen geweckt, zumal wenn sich dieser fremde Eindringling auf ›ihrer‹ Bank sehen lässt. Gibt er zu erkennen, daß er zu einem Gespräch bereit ist, sind sie schnell dabei. Natürlich gibt es nicht gleich eine geordnete Unterhaltung. Ein paar Jungen hören wohl zu, die andern toben weiter. Aber das Häuflein der Zuhörenden wächst, zumal wenn man sich ausgetobt hat und ein wenig ausruhen will. Der Besucher schlägt vor, eine Geschichte zu erzählen. Dafür sind alle zu haben. Nun muß vorher überlegt sein, was man erzählen will. Erstes Erfordernis: die Geschichte muß ›Spaß machen‹, d. h. für die Jungen interessant, spannend sein, und zweitens muß man es so einrichten, daß es an einer besonders aufregenden Stelle heißen kann: Fortsetzung folgt. ›Die Schatzinsel‹ von R. L. Stevenson erweist sich als sehr geeignet dafür.

—————— 96 Gotthard Eberlein, »Die Krisis in der Jugendklubarbeit«, in: ASM 4. Jg. Heft 7 (Oktober

1920), S. 140–154, hier S. 143. Schon die Lehrlingsvereine des Hamburger Volksheims, die sich der »schulentlassenen männlichen Jugend« widmeten, sollten vor allen Dingen »den ungünstigen Einflüssen des großstädtischen Straßenlebens engegenwirken« und dadurch »die Erziehungsarbeit der Familie nach Kräften unterstützen und ergänzen«. »Leitsätze der Volksheimarbeit«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das neunte Vereinsjahr 1909–10, S. 13–45, hier S. 14. Vgl. auch Classen, Großstadtheimat, S. 92. 97 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 92.

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Der Erzähler wird dringend verpflichtet, an einem der nächsten Tage zur vereinbarten Stunde wieder zur Stelle zu sein. Er findet dann auch bei diesem zweiten Mal nicht nur die Zuhörer von vorgestern, sondern noch andere Jungen vor, die über den bereits erzählten Teil der Geschichte bestens unterrichtet worden sind. Bei einer der nächsten Gelegenheiten regnet es, man kann nicht draußen auf der Bank sitzen. Einige Jungen finden sofort einen Ausweg. In einem der Mietshäuser in nächster Nähe wohnt der ›Poottjeh‹ (d. h. der Portier oder Verwalter) nicht in diesem Haus, sondern einige Häuser weiter. Darum kann man hier im Hausflur zusammenkommen, ohne gleich wieder rausgeschmissen zu werden. Hier unter der Treppe kriecht alles zusammen und lagert sich in zum Teil phantastischen Stellungen. Das gibt eine urgemütliche Erzählstunde, noch schöner als draußen auf der Bank, wo man doch trotz aller Gewohnheit durch den Straßenlärm öfter gestört wird. Mit größter Aufmerksamkeit wird zugehört. Als für diesmal Schluss ist, springt ein etwa 13jähriger auf, trommelt mit beiden Fäusten gegen die Wand und schreit: ›Ick wer varückt, wenn ick det Ding nich bis zu Ende höre!‹ Es spricht für viele.«98

Hier wird nicht nur vorgeführt, wie man das Bedürfnis der »Straßenjungen« nach Unterhaltung und Spannung durch Stoffe wie Stevensons »Schatzinsel« gezielt auf einem höheren Niveau befriedigen wollte, als es Nick Carter und Buffalo Bill – zugleich die beiden berühmtesten Helden des Groschenromans und die beiden Hauptgegner der zeitgenössischen Jugendschriftenkritik – taten. Zudem wird gezeigt, wie die Studenten in subtiler Weise an das Wissen und die Kompetenzen der Jungen anknüpften. Denn sie waren es, die genau wussten, in welchem Haus kein zuständiger »Poottjeh« wohnte, in welchen Hauseingang man sich also unbehelligt flüchten konnte, um eine »urgemütliche Erzählstunde« zu verbringen. Die Erzählstunde folgte also in ihrer Entstehungsgeschichte der Logik territorialer Aneignungspraktiken der Jungen selbst. Gleichzeitig wurden die Jungen in dieser Modellerzählung der SAG wirkungsvoll »von der Straße geholt«; dem pädagogischen Einhegungsversuch korrespondierte eine Bewegung von draußen nach drinnen: von der Straße in den Hauseingang, vom Hauseingang in den Klub.99 Auch in einem Bericht des Studenten Kurt Wagner über den Klub »Frohe Jugend« heißt es, dessen erste Mitglieder seien »auf der Straße zusammengelesen« worden. Daher habe der Klub auch seinen »Straßenjungentypus« bewahrt: »Wenn ich am Nachmittage durch die Friedenstraße gehe, so kann ich mit ziemlicher Sicherheit fast alle meine Klubmitglieder treffen. Sie sitzen auf Ladenschwellen oder lehnen in

—————— 98 Ebd., S. 88. 99 Vgl. den Hinweis bei Lindner, »Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 89.

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Haustürecken und lesen Groschenhefte: ›Der König der Pariser Apachen, genannt der Katakombenfürst‹ oder ›Hans Stark, der Fliegerteufel‹ und andere Schauergeschichten. Sie sind auf die Straße geworfen, weil sie zu Hause keinen Platz haben. […] Die meisten sind nun durch das ewige Straßenleben bereits so abgestumpft, daß es schwer ist, sie für einen geistreicheren Zeitvertreib zu gewinnen.«100 Und eine Laubenkolonie der SAG wurde, wie Wagner berichtet, »eigens angelegt, um die Jungens der ›Frohen Jugend‹ von der Straße abzuziehen«.101 In der Beschreibung Wagners sind die wichtigsten Motive pädagogischer Straßenkritik versammelt: von der elementaren Verbindung zwischen Straße und Schundliteratur über den Typus des »Straßenjungen« bis hin zur Rolle des rettenden Pädagogen, der seine Schützlinge von der Straße fernhält. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Ursula Goldscheiders über die Kinderlesestube der SAG, in der deutlich wird, dass es dort nicht nur um die Inhalte der Lektüre ging, sondern auch um die pädagogische Kontrolle, die das Lesen als Beschäftigung ermöglicht: »Die Kinder werden von der Straße weg zum Buch geholt, sind wenigstens für einige Stunden dem Straßenleben, in dem sie sich hemmungslos bewegen, fern und müssen sich nun eine geraume Zeit hindurch fügen, einfügen in eine Gemeinschaft.«102 Ganz unabhängig von der ansonsten so wichtigen inhaltlichen Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Lesestoffen wird hier vorgeführt, dass ein fundamentaler pädagogischer Wert des Lesens schon darin bestand, die Kinder »von der Straße weg« zu holen. Entscheidend war also nicht nur, was die Kinder lasen, sondern vielmehr wo sie es nun taten: in den geschützten und kontrollierten Binnenräumen, im Schutzraum der Lesegruppe, in der sie gleichzeitig lernen mussten, sich zu »fügen«. Der Mitarbeiter von Toynbee Hall und spätere Professor für »social work« an der Universität Toronto Edward Johns Urwick schrieb 1904 in seinem Buch Studies of Boy Life in Our Cities: »Versteht man die Straße, hält man den Schlüssel für viele Rätsel des sozialen Moralverhaltens in der Hand, und dies mag auch erklären, weshalb die Mehrzahl der Jungen und Mädchen, für die das Elternhaus so wenig tut und für die die Schule so wenig Möglichkeiten hat, etwas zu tun, doch zu anständigen und achtbaren

—————— 100 Kurt Wagner, »Knabenklub ›Frohe Jugend‹«, in: NSAG Nr. 4 (November 1914), S. 90–

91, hier S. 90. 101 Ebd. 102 Ursula Goldscheider, »Kinderlesestube im Osten Berlins!« In: NN 12. Jg. Heft 7–9 (Juli–

September 1929), S. 186–187, hier S. 186.

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Bürgern heranwachsen, anstatt gesetzlose und zügellose Taugenichtse zu werden.«103 Zwar waren die SAGler von dieser entspannten und realistischen Sicht auf die Straßensozialisation im Arbeiterquartier weit entfernt. Immerhin aber erkannten sie, dass man die Straße verstanden haben musste, um ihre Gesetze in eine pädagogische Form überführen zu können.

Der Klub als zivilisierte Bande In der Klubarbeit der SAG wurden pädagogische Grundsätze, wie sie Schultz, Classen und Dehn formuliert hatten, umgesetzt und weiterentwickelt.104 Sie folgte der Forderung Dehns, »den Arbeiterjungen einmal [zu] nehmen, wie er nun ist, keck seine Forderungen stellend, fröhlich die Welt reformierend […], recht jugendlich pietätlos, wie es ja übrigens jede Jugend ist«, denn auf diese Weise »wird richtige Führung aus ihr ohne Zweifel viel Tüchtiges, Gesundes, Erfreuliches herausholen können«.105 Mit diesem pädagogischen Credo setzten die Klubs bei den Bedürfnissen und der Eigendynamik der Jugendlichen selbst an. Doch was machte diese Eigendynamik aus? Schon Walther Classen nannte an dieser Stelle vor allem den »eigentümlichen Trieb unserer Stadtjugend […], Klubs und Vereine zu bilden«106 – eine Beobachtung, die Siegmund-Schultze später sehr prägnant formuliert hat: »Die rasseechten Arbeiterkinder organisieren sich.«107 Hermann Gramm nannte als einen wesentlichen Faktor proletarischer Jugendkulturen den »Banden- oder Hordensinn, der jedem, besonders jedem Großstadtjungen, vom etwa 11. Jahre ab im Blute liegt«.108 Er ging sogar so weit, in »der Verbrecherbande, in der ein ›Kumpel‹ dem anderen die Treue hält, […] echte Gemeinschaftszüge« und ein »Gleichnis zum besseren Verstehen« der Jugendlichen zu sehen.109 Auch in dem kleinkriminellen

—————— 103 Zit. nach Gillis, Geschichte der Jugend, S. 75. 104 Vgl. dazu Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«; ders., »Die Anfänge der Sozialen

Arbeitsgemeinschaft«, S. 88–92; Hegner, »Der Knabenklub«; dies., Die Settlementbewegung, S. 124–140. 105 Dehn, Großstadtjugend, S. 5. 106 Classen, Großstadtheimat, S. 62. 107 Friedrich Siegmund-Schultze, Aufgaben der Jugendfürsorge nach dem Krieg vom Standpunkt der Volkserziehung. Vortrag auf der Tagung der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge in Frankfurt am Main am 7. 10. 1915, in: EZA 51/S II k 6,2. 108 Hermann Gramm, »Die Jugenderziehung in der Großstadtsiedlung«, in: NN 12. Jg. Heft 4 (April 1929), S. 119–127, hier S. 120. 109 Ebd.

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Verhalten »wilder Cliquen« erkannte er ein »Bandenstreben«, dessen »menschlicher Untergrund […] so echt« sei »wie das Ziel englischer boyscouts, jeden Tag eine gute Tat zu tun«.110 Hier sind die pädagogischen Grundsätze Schultz’, Classens und Dehns sowie die Anerkennung eines »guten Kerns« der Jugendlichen gewissermaßen ins Extrem getrieben. Sehr interessant ist dabei zu beobachten, wie die pädagogische Kritik an der »verkommenen« Jugend einmal gänzlich in den Hintergrund rückt und demgegenüber versucht wird, die Jugendgruppen der städtischen Arbeiterjugend aus deren Eigenlogik heraus zu verstehen. In der Suche nach dem echten »menschlichen Untergrund« kommt aber auch wieder das Motiv des »wirklichen Lebens« zum Vorschein: das Bild vom authentischen Volksleben und seinem »guten Kern«, das viele der SAG-Mitarbeiter in den Berliner Osten gezogen hatte. So ist in einem Protokollheft zu SiegmundSchultzes »Übungen zur Psychologie der Großstadtjugend« an der Universität im Sommersemester 1930 von der »Urwüchsigkeit« der Arbeiterjungen die Rede; in diesem Punkt sah er »nicht nur De-, sondern auch Regeneration in der Großstadt«.111 Der Jugendklub der SAG ist aus der Auseinandersetzung mit dem »Bandensinn« der proletarischen Jugend entstanden: »Die SAG«, so Hans Windekilde Jannasch, »entlehnte diese Form des Jugendvereins ganz bewußt den freien, meist recht fragwürdigen Klub- und Bandenbildungen der Berliner Straßenjugend«.112 Rolf Lindner hat darauf hingewiesen, dass Siegmund-Schultze in diesem Punkt nicht zuletzt Theorien aus der amerikanischen Entwicklungspsychologie, namentlich der »recapitulation theory« Stanley G. Halls, gefolgt ist,113 und dass er auch das 1914 erschienene Buch von Chas S. Bernheimer und Jacob M. Cohen über »Boys’ Clubs« kannte114 – kurz: dass seine Klubpädagogik durchaus auch an Ergebnissen der zeitgenössischen Sozialforschung orientiert war. Im Sinne dieser Überlegungen sollten die Jugendlichen gleichsam dort abgeholt werden, wo sie standen, um dann »aus dem wilden, ungeordneten Haufen […] etwas Festeres, Geordnetes werden zu lassen, aus dem sich für die Jungen Bindungen und

—————— 110 Ebd., S. 121. 111 Protokollheft 1930, in: EZA 626/I 1,6. 112 Jannasch, Alarm des Herzens, S. 15. 113 Lindner, »Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 90. Zu Halls zweibändi-

gem Werk über »Adolescence« (1904) und seiner Rezeption in der Pädagogik vgl. ausführlich Bühler, Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters, S. 244–260. 114 Lindner, Walks on the Wild Side, S. 217 (Anm. 45).

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Verpflichtungen ergeben können«.115 Die Gemeinschaft im Klub sollte »die schlechten Einflüsse der Umwelt möglichst abschwächen« und »dafür positiven Ersatz schaffen«.116 Hermann Gramm hat diesen Umformprozess einmal in folgende Formel gefasst: »Der Klub ist notwendig als bewußt geformte Horde.«117 Darin ist in nuce das Substitutionsprinzip ausgedrückt, das von Beginn an ein Leitmotiv der gesamten sozialpädagogischen Arbeit im Settlement war. Gerade dadurch, dass man in positiver Weise an den Drang nach Gruppenbildung und körperlicher Betätigung der Knaben und Jungen anknüpfte, wollte man einen »inneren Kreis« sammeln, »der für höhere Interessen als Räubervereine und Kientopp erzogen wird«.118 Dazu gehörte auch das bewusste Anknüpfen an das oben beschriebene Territorialitätsprinzip proletarischer Jugendbanden. So kamen die Jungen der »Deutschen Treue« größtenteils aus der Blumenstraße;119 der Stralauer Platz unweit der Spree dagegen war das Revier der »Pfeiljungen«, wozu ihr Klubleiter bemerkte: »In ihrer freien Zeit kann man die meisten Jungens am Schlesischen Bahnhof und besonders auf dem Stralauerplatz treffen. Mit Fug und Recht könnten sie als ›Stralauerplatzgarde‹ bezeichnet werden.«120 Im Innern waren die Klubs nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert; jeder Klub wählte einen Vorsitzenden, einen Schriftführer, einen Kassier sowie zwei Richter, die bei Streitigkeiten zu schlichten hatten und bei »Klubvergehen« kleine Strafen festsetzen durften.121 Einige der Klubs verabschiedeten eine eigene Satzung, ein kleiner Mitgliedsbeitrag war zu entrichten, die Jungen erhielten Mitgliedskarten.122 Kleinere Aufgaben wie die Protokollführung und Bibliotheksverwaltung wurden ebenfalls

—————— 115 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 89. 116 Eberhard Sadler, »Kluberziehung – eine Aufgabe der Sozialen Arbeitsgemeinschaft?« In:

NN 12. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1929), S. 9–10, hier S. 9–10. 117 Hermann Gramm, »Die Jugenderziehung in der Großstadtsiedlung«, in: NN 12. Jg. Heft

4 (April 1929), S. 119–127, hier S. 121. 118 Siegmund-Schultze, »Ein praktischer Versuch«, S. 289. 119 Hegner, Die Settlementbewegung, S. 129. 120 »Mitteilungen aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 10 (Dezember 1917), S. 325–335, hier

S. 329. 121 Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«,

in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 2. 122 In den Akten der SAG ist ein beispielhaftes Kassenbuch des von Oskar von Unruh

geleiteten Klubs »Frohe Jugend« aus dem Jahr 1912 enthalten. Vermerkt sind für jeden Monat die Namen der Klubmitglieder und das Datum, zu dem die Klubbeiträge entrichtet wurden. Vgl. EZA 616/II 29,19.

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gemeinsam verteilt und erledigt.123 Der Ablauf der Klubsitzungen folgte strengen Regeln, die zum Teil – wie Erich Gramm berichtet hat – von den Jungen selbst aufgestellt wurden: »Wer etwas sagen will, muss sich beim Vorsitzenden melden. Der sagt dann z. B.: ›Otto P. hat das Wort‹. Dann müssen alle zuhören, was Otto P. zu sagen hat. Wer etwas dazu oder dagegen sagen will, muss sich vom Vorsitzenden das Wort erteilen lassen. (Die Jungen bringen diese vereinsüblichen Formulierungen von sich aus und legen […] großen Wert auf die Einhaltung solcher Gepflogenheiten).«124

Somit dienten die Klubs in erster Linie der »Anleitung zur Selbstverwaltung« und erst in zweiter Linie auch der sittlichen Stärkung der Knaben durch ethische Anregungen und der Pflege der menschlichen und staatsbürgerlichen Gesinnung in wahrem Sinne«.125 Die starke Bedeutung der Selbstverwaltung verweist klar auf den Ursprung der Jugendarbeit: auf die Anknüpfung an die Bandenbildungen der »Straßenjungen« und den Versuch ihrer Regulierung und Zivilisierung. Im Mittelpunkt dieser pädagogischen Arbeit im Sinne der neuen Jugendpflege stand denn auch eine »Charakterbildung«,126 die auf Freiwilligkeit und strenger Organisation zugleich basierte. Im Unterschied dazu – und in Übereinstimmung mit den dominanten bürgerlichen Geschlechterbildern der Zeit – hatten die SAG-Mädchenklubs von vornherein einen ausgeprägt »ordentlichen« Charakter. Zum anderen lag, wie Elisabeth Vedder hervorhebt, ein grundlegender Unterschied zu den Jungenklubs darin, dass in den Mädchenklubs nicht der »Bandensinn«, sondern »die Bindung jedes einzelnen Gliedes an die Leiterin« entscheidend sei: »Gefühle der Mütterlichkeit bestimmen die Stellung der Leiterin stärker als Gefühle der Kameradschaft.«127 Aufschlussreich im Hinblick auf das kulturelle Profil der SAG-Klubs sind die Klubnamen, die ein breites pädagogisches Spektrum zwischen wohlanständigem Biedersinn, kontrolliertem Abenteurertum und wilhelminischem Patriotismus zum Ausdruck bringen und auch die Differenzen zwischen Mädchen- und Jungenklubs weiter anschaulich machen. Zudem

—————— 123 Vgl. etwa Wenzel Holek über die »Frohe Jugend« in: »Arbeitsberichte aus Berlin-Ost«,

in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 48–68, hier S. 64. 124 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 89. 125 Wenzel Holek in: »Arbeitsberichte aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919),

S. 48–68, hier S. 64. 126 So etwa bei Pieper, Jugendfürsorge und Jugendvereine, S. 8. 127 Elisabeth Vedder in der Aussprache zur Jugenderziehung, zit. nach Hermann Gramm,

»Die Jugenderziehung in der Großstadtsiedlung«, in: NN 12. Jg. Heft 4 (April 1929), S. 119–127, hier S. 49.

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spiegelt sich in den meist von Klubmitgliedern und ihren Betreuern gemeinsam ausgewählten Bezeichnungen zuweilen auch der Charakter des jeweiligen Klubs. Als Beispiel seien an dieser Stelle einige der im Januar 1919 bestehenden Klubs genannt. Während die markigen Namen einiger Knaben- und Jungenklubs wie »Einigkeit«, »Eiche« oder »Jung-Siegfried« an wilhelminische Turnvereine erinnern, enthalten die Namen der Mädchenklubs eher unschuldige Glücksversprechen: »Fröhliche Jugend«, »Sonnenschein«, »Friede«, »Wahre Freude«, »Frohe Arbeit«, »Cäcilie« oder »Vergißmeinnicht«.128 In Kurzcharakteristiken der Klubleiter wird auf die soziale Zusammensetzung und die Entwicklung dieser Klubs eingegangen. Über die 14- bis 17-jährigen »Fidelen Spreeathener« etwa hält der Leiter Wilhelm Riensberg fest, die Jungen hätten »nach wie vor vor allem Sinn für das Romantische und Heldenhafte, für alles Starke und urwüchsig Kraftvolle«.129 Über den Knabenklub »Eiche« heißt es dagegen mit unverhohlenem pädagogischen Unterton: »Wer zur ›Eiche‹ gehört, ›klaut‹ nicht, hält auf Sauberkeit und bemüht sich, in Haltung und Benehmen ›anständig‹ zu sein.«130 Wie bereits bei Günther Dehn zeigt sich hier das Bemühen, eine von den Jungen selbst praktizierte Abgrenzung gegenüber der »Straßenjugend« zu etablieren und damit vorhandene jugendkulturelle Praktiken – in diesem Fall die Praktiken der Abgrenzung gegenüber anderen Jugendgruppen – pädagogisch fruchtbar zu machen. Mehr noch: Es scheint, als sei auch in der Unterscheidung der SAG-Klubs untereinander eine relationale Dynamik angelegt gewesen, so dass sich die Klubjungen durch feine Abgrenzungsgesten – wobei die »Spreeathener« als die Heldenhaften, die Eichejungen als die Braven auftraten – mit ihrem Klub identifizieren konnten. Und so wurde es als ein echter Erfolg der SAG-Jugendarbeit gefeiert, als Klubjungen sich zum ersten Mal einen älteren SAG-Klub zum Vorbild nahmen: »So wie der Klub X., so müßten wir werden. Die sind […] ›knorke‹.«131 Denn damit war ein Grundprinzip von Jugendkultur überhaupt, die Bezugnahme auf Vorbilder, Konkurrenten und Gegner, pädagogisch fruchtbar gemacht worden. Rolf Lindner hat in einem Aufsatz über das Banden- und Klubwesen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik darauf hingewiesen, dass die

—————— 128 »Arbeitsberichte aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 12 (Januar 1919), S. 48–68, insbes.

S. 58–68. 129 Ebd., S. 66. 130 Ebd., S. 65. 131 Nach Erich Gramm, »Aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 16 (Juni 1924), S. 4–8, hier S. 6.

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Klubnamen der SAG nur dann richtig verstanden werden können, wenn man sie in Relation zu den Namen der »wilden« Jugendbanden und Cliquen liest. Viele der in der SAG gewählten Bezeichnungen – wie etwa »Pfeil« oder »Bärenhorde« – stellen sich aus dieser Perspektive als »weiche Varianten« von Bandenbezeichnungen dar: »Ein Vergleich dieser Bezeichnungen mit denen der selbstorganisierten Banden und ›wilden‹ Klubs um 1914 (z. B. ›schwarze Hand‹, ›Apachen‹, ›Nick-Carter-Bande‹) wie der wilden Cliquen um 1930 (›Tartarenblut‹, ›Ostpiraten‹, ›Todesverächter‹ usw.) macht auf semantischer Ebene die kulturelle Differenz zwischen ›Klub‹ und ›Bande‹ bzw. ›Clique‹ deutlich.«132 Gleichzeitig wird in der Substitution der »wilden« Bande durch den »zivilisierten« Klub wieder deutlich, dass gerade das für die Dynamik von Jugendgruppen zentrale Spiel der Vorbilder und Abgrenzungen für pädagogische Zwecke genutzt werden konnte. Die SAG-Mitarbeiter hatten gelernt, eben diese Dynamik zu akzeptieren und als eine elementare Voraussetzung für das zu begreifen, was sie als »Gemeinschaftsbildung« und solidarischen Zusammenhalt der Jungen anstrebten. Die eigentliche Pointe der »weichen« Klubnamen und der »zivilisierten« Jugendgruppe liegt deshalb nicht darin, dass hier ein bestimmtes Profil von den Erziehern vorgezeichnet worden wäre, sondern dass Namen wie »Pfeil« oder »Bärenhorde« und Verhaltenscodes wie bei den »Eichejungen« – nämlich »sauber« und »anständig« zu sein – von den Jugendlichen selbst als Teil einer Distinktionspraxis verstanden und im Sinne einer Abgrenzung gegen die »unanständige« Arbeiterjugend akzeptiert wurden. Dass man »nicht so wird wie die andern«, wie es bei Günther Dehn hieß, war das Ziel, mit dem man an das relationale Prinzip von Jugendkultur anknüpfte. Damit aber wird vollends klar, dass die Klubarbeit der SAG zur »verwahrlosten« Jugend keinen Zugang finden konnte. Denn wenn es richtig ist, dass zur Distinktion nach unten bestimmte materielle und soziale Ressourcen notwendig sind, dann war das soziale Spektrum derer, die von der Klubarbeit erreicht wurden, von vornherein begrenzt: Welchen Zugang konnte ein echter »Straßenjunge« zu einer Gruppe finden, in der die Abgrenzung gegen die »Straßenjungen« zum Prinzip erhoben worden war? Und – so ließe sich weiter fragen – wie offen und integrativ konnte ein Klub sein, in dem es vorkam, »daß ein Mitglied, um der andern willen, we-

—————— 132 Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«, S. 364.

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gen seines schädigenden Einflusses auf die Klubgemeinschaft, ausgeschlossen werden muß«?133 Die Unterscheidung der SAG zwischen rough und respectable, für die die Jugendklubs vielleicht das schlagendste Beispiel bilden, begrenzte also die Klientel ihrer sozialen Arbeit auf die »anständige« Arbeiterschaft. Immer wieder wurde von Mitarbeitern und Freunden beklagt oder auch nur konstatiert, dass man als Konkurrenz der sozialistischen Jugendarbeit kaum in Frage kam und ohnehin nur einen kleinen Ausschnitt der Arbeiterschaft erreichen konnte. Denn, so Elisabeth Vedder, die Klubmitglieder würden wohl »selten oder nie in die Arbeiter- oder Kommunistische Jugend gehen […]. Sie gehören zum großen Teil dem dem Kleinbürgertum nahe gerückten Proletariat an.«134 Für die bürgerliche Jugendpflege allgemein hielt deren Theoretiker Foerster fest, »daß in unseren Knaben- und Jünglingsvereinen fast nur die zahmen Naturen zu finden sind, die aus einem wohlgeordneten Familienleben stammen und auf Wunsch ihrer Eltern solchen Vereinen gehorsam beitreten – gerade die eigentlich gefährdete ›wilde‹ Knabenwelt aber ist in diesen Vereinen selten zu finden«.135 Die »innere Hebung« kam demnach vorzugsweise denen zugute, die sich ihr als aufstiegsorientierte oder kirchlich gebundene Arbeiter gerne aussetzten. Und, so Rolf Lindner in seiner Bilanz zum Banden- und Klubwesen, »weder die un- oder selbstorganisierte Straßenjugend noch die Jugend des organisierten Proletariats wurde in einem relevanten Ausmaß erreicht. In die Klubs kamen die, die kommen wollten, bzw. jene, die von ihren Eltern geschickt wurden.«136 Victoria Hegner sieht aus diesem Grund in den Knabenklubs der SAG »die gescheiterte Idee einer Erziehung«.137 Nimmt man aber wieder einmal die »Rückspiegelungseffekte« dieser Praxis in den Blick, so zeigt die Klubarbeit mit am deutlichsten, wie sich die bürgerlichen »Arbeiterfreunde« selbst sahen: als die Retter der »gesunden« Jugend vor den Gefahren einer subkulturellen Unterwelt und eines im kulturellen Imaginären fest verankerten »Unten« überhaupt. Die Abgrenzung dagegen war für die SAG raison d’être und methodischer Grundsatz zugleich.

—————— 133 Elisabeth Vedder, »Über die Klubarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«,

in: ASM 7. Jg. Heft 1–6 (April–September 1923), S. 1–19, hier S. 13. 134 Ebd., S. 16. 135 Foerster, Erziehung und Selbsterziehung, S. 328. 136 Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«, S. 369. 137 Hegner, »Der Knabenklub«, S. 125.

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Gutsherrschaft als soziales Modell: Die Ferienfahrten Ein wichtiger Bestandteil der SAG-Klubarbeit waren die Ferienfahrten aufs Land, die anfangs zumeist in Kooperation mit adeligen Gutsbesitzern in Pommern und Brandenburg durchgeführt wurden und dank der weitreichenden Kontakte der SAG auch in den 1920er Jahren angeboten werden konnten. Im Jahr 1923 etwa wurde 110 Berliner Kindern über die Landvermittlung der SAG »Licht, Luft und gesunde Arbeit« in Lippe oder OstSternberg ermöglicht; weitere rund 500 Kinder verbrachten damals erholsame Ferienwochen auf dem Ulmenhof in Wilhelmshagen.138 SiegmundSchultze sah gerade in den Ferienfahrten »eine wunderbare Gelegenheit zur Beeinflussung der Jungen«.139 Dabei bestimmten zwei Leitmotive die Erziehungsarbeit auf dem Land: Zum einen ging es um eine Erziehung zur Natur, die der Großstadt entgegengehalten wurde; zum anderen dienten vor allem die Aufenthalte auf den Gütern adeliger Familien der Einübung in soziale Ordnungen, wie man sie seitens der SAG favorisierte. Diesen beiden Leitmotiven soll im Folgenden kurz nachgegangen werden, um das Bild von der Jugenderziehung im Settlement abzurunden. Die Fahrt aufs Land war für viele Stadtkinder des Berliner Ostens ein wirkliches Ereignis. In einem grundsätzlichen Artikel zu den Ferienfahrten der Jungenklubs schrieb Siegmund-Schultze: »Was machten die für Augen, als wir aus den Vororten Berlins heraus waren! Eine Ziege am Bahndamm wurde von mehreren für eine Kuh gehalten. Ein Storch wurde wie ein Elefant angestarrt, oder vielmehr: ganz anders noch als ein im Zoo doch schon bewunderter Elefant. Und wie die armen Stadtpflanzen das Leben umkehren und nur auf Umwegen zur Natur zurückfinden: Ein Ochse brüllt ›wie ein Auto‹, der Storch fliegt ›wie ein Flugzeug‹, das Kornfeld steht so dicht ›wie die Menschen auf dem Alexanderplatz‹. Alles ist verkehrt und muss zur Natur zurückgeführt werden.«140 Diese Form der »Zurückführung zur Natur« sollte aber auch anleiten »zu den einfachen Empfindungen von Größe und Arbeit, wie sie gerade auf dem Lande

—————— 138 Erich Gramm, »Aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 16 (Juni 1924), S. 4–8, hier S. 5. Zur

langjährigen Landverschickung Berliner Kinder in Lippesche Bauerndörfer in den 1920er Jahren vgl. Aennele Karg, »Erlebnisse und Erinnerungen«, in: AASAG Nr. 3 (November 1936), S. 16–19. 139 »Der Klub ›Deutsche Treue‹ auf dem Lande«, in: ASM 1. Jg. Heft 3/4 (Juni/Juni 1917), S. 42–47. 140 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Ferienfahrten der Jungenklubs der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920), S. 61–75, hier S. 62–63.

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wiedergewonnen werden können«.141 Den Prinzipien der Klubpädagogik entsprechend, wollte man bei den Ferienfahrten »die jungenhaften Instinkte, die in jedem noch irgendwie lebendig sind, ganz und gar mit der gesunden Natur des Wanderns, des Badens, des Säens und Erntens, der Arbeit und der Freude […] verbinden«.142 Denn im Landleben sah man »ein ruhigeres geistiges Erleben, eine festere Straße des Denkens, Unberührtheit von den schlechten Einflüssen der Großstadtstraßen«. Und ausgerechnet das Leben auf den ostelbischen Gutsherrschaften, die wohlgemerkt für die Landarbeiter und ihre Familien vor allem Unfreiheit und Perspektivlosigkeit boten, sollte angeblich »einen freieren Weg zu Kinder- und Lebensglück« weisen.143 Siegmund-Schultzes Artikel lässt vor dem Hintergrund des ländlichen Schauplatzes der Gutsherrschaft noch einmal exemplarisch all die Motive Revue passieren, die auch für die Jugendarbeit in der Stadt bestimmend waren: die moralische Perspektive, die Unterscheidung zwischen »wilden« und »anständigen« Jungen, die guten »Instinkte« und die »schlechten Einflüsse«, die Gefährdungen der Straße und die Oberflächlichkeit der Straßensozialisation. So wird berichtet, dass aufs Land »nur eine Auswahl« von Klubjungen mitgenommen werden konnte. Die Kriterien waren dabei in erster Linie »Tüchtigkeit und Bedürftigkeit«, und natürlich wurden verdiente Klubmitglieder, »die Klubbeamten und die älteren Mitglieder« bevorzugt berücksichtigt.144 Noch während der Fahrt fand – nachdem den Jungen gleichsam die Utensilien ihres städtischen Straßenlebens wie Pfeifen, Pistolen, Dolche, Streichhölzer und »Schundliteratur« abgenommen worden waren – eine sogenannte »Klubberatung« statt, bei der die Regeln für den Ferienaufenthalt festgesetzt und die Wahlen des Klubs abgehalten wurden.145 Auch Ferienprotokolle sollten angefertigt werden, wobei ausdrücklich »alle Jungen ihren Senf dazugeben« mussten.146 Ob der Aufenthalt in der freien Natur indessen ausreichte, um die Großstadtmentalität – oder mit einem Begriff von Gottfried Korff: die »innere Urbanisierung«147 – der Jugendlichen zu bremsen, erschien zumindest Siegmund-Schultze fraglich, der an einer Stelle schreibt:

—————— 141 Ebd., S. 73. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 62. 145 Ebd., S. 67. 146 Ebd., S. 68. 147 Korff, »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt«.

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»Gerade dann, wenn man die Jungen an einen besonders schönen Fleck Erde gebracht hat, fragt man sich oft: Sind sie es wert? […] Was so störend sich jedem vollen Genuß und jedem ernsten Vorwärtskommen mit den Jungen in den Weg stellt, ist ihr durch Witz und Sensation verdorbener Geisteszustand. Sie sind kaum imstande, die Schönheit und die Größe des Meeres ernsthaft in sich aufzunehmen – gleich setzt ein Witz ein, der aus den Begeisterten lauter Lacher macht. Wenn das ganze Jahr hindurch die albernen Lieder der Varietés und die Schlager der Kinematographen diesen Seelen ihre Anregung gegeben und alles ernste Fühlen zerfetzt und zerloddert haben, ist es kaum möglich, nun plötzlich den kurzlebig und nervös gewordenen Geist auf die langen Linien froher und tiefer Begeisterung einzustellen.«148

Das Land erschien indessen nicht nur als ein Hort des sozialen Friedens und einer »sittlich gesunden« Haltung. Vielmehr gab es auch hier schlechte Einflüsse, vor denen man meinte, die Stadtkinder bewahren zu müssen: Zum Kontakt der Jungen mit der einheimischen Bevölkerung merkt Siegmund-Schultze an, manche Dörfer der Mark hätten »eine eklige Bevölkerung, deren widerspenstiges Verhalten gegenüber sozialen Einrichtungen der Gutsherrschaft ganz im Einklang mit einer sonst unerfreulichen Gesinnung steht«. Und er setzt hinzu: »Da vermeidet man am besten auch die geringste Anknüpfung.«149 Dieser bissigen und für das Arbeiterbild Siegmund-Schultzes durchaus signifikanten Abwertung von Teilen der Landarbeiterschaft entsprach auf der anderen Seite sein Lob der Adelsherrschaft. So hielt Siegmund-Schultze im Hinblick auf die Erziehung der Jungen die »Berührung mit dem deutschen Rittertum« für ganz entscheidend.150 Für ihn war die aufgeklärte Gutsherrschaft ein soziales Leitbild, das die »Arbeitsgemeinschaft« zwischen den Klassen idealtypisch verkörperte.151 So war mit der eskapistischen Verklärung des Landes in der SAG auch eine klare Option für den paternalistischen Sozialverband verknüpft, wie man ihn auf den ostelbischen Gutsherrschaften vorfand. In der »Ferienkolonie« galt dieses Modell als ein pädagogisches Mittel, um den Arbeiterkindern ein wirksames Gegenbild zum vermeintlich »bindungslosen« Leben in den städtischen Arbeiterquartieren einzuprägen. Insbesondere wurde darauf geachtet, dass die Kinder und Jugendlichen auf den Ferienfahrten in die »Pe-

—————— 148 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Ferienfahrten der Jungenklubs der Sozialen Arbeits-

gemeinschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920), S. 61–75, hier S. 72. 149 Ebd., S. 69. 150 Ebd., S. 74. 151 Vgl. Lindner, »Die Anfänge der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 86, und Wietschorke,

»Defensiver Paternalismus«, S. 241–243.

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ripherie eines Familienkreises« eingebunden wurden und »Anschluß an die Herrschaft« erhielten.152 Die von sozialer Distanz und klaren Hierarchien geprägte Atmosphäre der Gutsherrschaft sollte den Berliner Jungen, denen Günther Dehn »Elektrizität«, »Frechheit« und »Autoritätslosigkeit« bescheinigt hatte, nahegebracht werden: »Das Kaiserschloß imponiert bekanntlich den Berliner Jungen nicht mehr – aber ein solches Ritterschloß inmitten des Dorfes, rings in Ehren gehalten und mit Feierlichkeit genannt, mit seinem unberührbaren Park und seinem großen Obstgarten, mit dem weiten Kranz der Felder, den Seen und Wäldern, das ist etwas, was die an der kleinen Umgebung wieder erwachenden Augen sehen, etwas Großes. Und nun die Bewohner des Schlosses selbst. Der junge Diener, der den Fußball den Jungen übergibt, tut das im Auftrag des eigentlichen Dieners, der selbst ein feiner Herr ist und als Diener doch höchste Würde hat. Mamsell und Schneiderin haben eine ganze Gefolgschaft. Inspektor, Förster, Gärtner, Fischer haben alle ihre besonderen Schätze zu verwahren. Und zuletzt der Herr Baron und die Frau Baronin selbst – wie Fürsten in ihrem Volk; trotz aller Freundlichkeit meilenweit von jeder Zudringlichkeit entfernt […]. Da wacht selbst die großstadtstaubige Phantasie der Berliner Jungen wieder auf. Zugleich entsteht in ihnen eine sie selbst fremdartig anmutende Empfindung: Ehrfucht. Ehrfurcht aber ist der erste philosophische Affekt! Ist zugleich der Anfang aller Religion.«153

Unter dem Eindruck der hier gleichsam als »Erziehungslandschaft« funktionalisierten ostelbischen Gutsherrschaft sollte »das lichtscheue, auf flackerndes Lampenlicht und grelle Blitzlichter eingestellte Leben wieder in das Gleichmaß freudiger Tagesarbeit überführt werden, bis die Tagseite des Lebens auch in den eigenen Willensentscheidungen des Jungen zur Herrschaft kommt«.154 Die überschaubare Welt von Herrschaft, Gesinde und Landarbeitern diente einem praktischen Anschauungsunterricht in sozialer Ordnung und arbeitsamer Lebensführung; die von Siegmund-Schultze hervorgehobenen Charakteristika des Lebens auf dem Gutshof – der geregelte Tages- und Arbeitsablauf, die Sicherheit der sozialen Hierarchien und symbolischen Ordnungen, die zweckmäßige Schönheit der Kulturlandschaft – spiegeln ein bürgerliches Arbeitsethos, das sich mit der adeligen paternalistischen Sozialmoral und ihren antiurbanen Affekten verband. Zugleich sollten Arbeit und Freizeit im Sinne des »ganzen Menschen« und

—————— 152 Maria Siegmund-Schultze, »Unsere ›Landvermittlung‹«, in: NSAG Nr. 4 (November

1914), S. 101–104, hier S. 101. 153 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Ferienfahrten der Jungenklubs der Sozialen Arbeits-

gemeinschaft«, in: ASM 4. Jg. Heft 4/5 (Juli/August 1920), S. 61–75, hier S. 74. 154 Ebd., S. 73.

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damit einer protestantisch-bildungsbürgerlich gedachten Einheit aller Lebensbereiche miteinander vermittelt werden. Gegen die klare Trennung von Produktion und Reproduktion, wie sie im Fabrikarbeitermilieu selbstverständlich war, setzten die Reformer – ähnlich wie später in der Arbeitslagerbewegung und ähnlichen Initiativen – deren pädagogische Integration.155 Dazu gehörte ein klar geregelter Tagesrhythmus, denn, wie Gottfried Korff in seiner Analyse des Feierabends als ideologischer Code einer antimodern ausgerichteten Arbeits- und Freizeiterziehung formuliert hat: »Das protestantische Verständnis will die ›erfüllte Zeit‹, die sich in Tages- und Lebenseinheiten bemisst.«156 So war die Hinführung zu »einem ernsten Tagesanfang und Tagesschluß« ein wichtiges pädagogisches Ziel der Ferienfahrten,157 und nach den Berichten Wenzel Holeks gehörten mindestens drei Stunden täglicher Arbeit neben der Erholung, dem Baden, Spielen und Erzählen, fest zum Programm der Ferienfahrten für die Jungen von BerlinOst.158 Während die Jungen etwa bei der Rübenernte mithalfen oder auf dem Gutshof Holz und Brennesseln sammelten,159 fielen solche Aufgaben bei Ferienfahrten für Mädchen allerdings weg. Bei diesen Erholungsaufenthalten wurde vielmehr – ganz im Sinne geschlechtsspezifischer Erziehungsmuster – »geruht und gelesen«, gesungen oder Hochzeit gespielt. Man erlebte »erhebende Stunden« bei der Morgenandacht, bastelte Kränze, machte Ruderpartien und führte Volkstänze auf. Nach dem Tanzen, so heißt es in einem Bericht aus Trieglaff, machte »ein Knix aller Beteiligten […] den Abschluss«.160

Jugend als Problem und Jugend als Bewegung Wie bereits deutlich wurde, avancierte der »Jugendliche« – und das hieß: vor allem der männliche Jugendliche aus den unteren Schichten – um 1900 zu einem vieldiskutierten Gegenstand von Erziehung, »Veredelung« und »Jugendpflege«. Doch das für die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts

—————— 155 Vgl. dazu in aller Kürze meine Skizze: Wietschorke, »Pädagogische Arbeit«, S. 237–240. 156 Korff, »Feierabend«, S. 174. Zur Ritualisierung des Tagesablaufs im Kontext protestanti-

scher Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts vgl. auch Habermas, »Rituale des Gefühls«. 157 »Ferienkolonien der Knabenklubs«, in: NSAG Nr. 3 (Juni 1914), S. 45–55, hier S. 46. 158 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 48. 159 Vgl. dazu und allgemein die Berichte in: ebd., S. 46–54, 77–89, 96–100 und 130–138. 160 Protokoll des Mädchenturnklubs »Treue Kameradschaft« über einen Aufenthalt in Trie-

glaff, in: EZA 626/II 26,3.

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charakteristische Jugendthema161 hatte noch eine andere Seite: Gleichzeitig mit der Eroberung neuer Freizeitspielräume »zwischen Schulbank und Kasernentor« entstanden auf seiten der bürgerlichen Jugend neue Formen des Gruppenlebens, und die Entwicklung der bürgerlichen Jugendbewegung aus dem 1901 begründeten »Wandervogel« sowie die flankierenden Kulturund Lebensreformbewegungen, in denen »Jugend« zu einem zentralen Schlagwort wurde, spiegeln das Thema von der sozial entgegengesetzten Seite. Dabei war die bürgerliche Jugendbewegung keine von der Jugend selbst ausgehende Bewegung, sondern wurde zunächst von Erwachsenen und Pädagogen propagiert.162 Sie entstand, so Ulrich Linse, »nicht als Revolution der Jugend, sondern als Vertiefung und Ergänzung der institutionalisierten soziokulturellen Werte der Erwachsenenwelt«.163 Eben deshalb aber waren die Jugenddiskurse der Jugendpflege und der Jugendbewegung eng aufeinander bezogen, wodurch eine Situation entstand, in der sich »Jugendmythos und Erziehungseifer gegenseitig hochschaukelten«, wie Peukert treffend schreibt.164 Wenn also in der Jugend im Sinne des Leitspruchs »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft«165 eine Schlüsselfrage der gesellschaftlichen Entwicklung lag, dann schienen diese beiden Perspektiven auf die Jugend das Möglichkeitsspektrum der Zukunft aufzuzeigen: Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlechten, utopische Entwürfe wie Szenarien der Degeneration.166 Die Jugendarbeit der SAG gewinnt ihre Spezifik nicht zuletzt daraus, dass dort beide Perspektiven gleichermaßen vertreten waren und stets miteinander verhandelt werden mussten. Denn zahlreiche Mitarbeiter kamen direkt aus Kreisen der bürgerlichen Jugendbewegung nach

—————— 161 Vgl. etwa die Darstellung von Gillis, der den Zeitraum zwischen 1900 und 1950 als »die

Ära des Jugendalters« abhandelt. Gillis, Geschichte der Jugend, S. 141–186. Andere sprechen vom gesamten 20. Jahrhundert als dem »Jahrhundert der Jugend«, vgl. etwa Herrmann, »Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert«. 162 Vgl. Linse, »Lebensformen der bürgerlichen und der proletarischen Jugendbewegung«, S. 25–26; Schuster, »Jugendbewegter Geist«. Vgl. als kompakten Überblick z.B. Mogge, »Wandervogel, freideutsche Jugend und Bünde«, sowie Herrmann (Hg.), »Mit uns zieht die neue Zeit...«. 163 Linse, »Lebensformen der bürgerlichen und der proletarischen Jugendbewegung«, S. 25. 164 Peukert, »Mit uns zieht die neue Zeit«, S. 184. 165 So Clemens Schultz in: Neuere Entwicklungen und Pläne auf dem Gebiete der Fürsorge, S. 73. Vgl. dazu auch Linton, »Who Has the Youth, Has the Future«. 166 Vgl. auch Stambolis, Mythos Jugend.

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Berlin-Ost, wo sie dann ihre Vorstellungen von »Jugend« in jugendpflegerische Praxis umzusetzen hatten.167 Im Gegensatz zu der kirchlich gebundenen Jugendarbeit von Schultz oder Dehn kam in der SAG mit der bürgerlichen Jugendbewegung ein Moment ins Spiel, das nicht nur die Programmatik, sondern vor allem den Stil der Arbeit entscheidend beeinflusst hat. Während Dehn in der Jugendbewegung der 1920er Jahre sogar den Hauptgrund dafür sah, dass ihm der Jugendverein »aus der Hand kam«,168 betrachtete man sie in der SAG stets als ein wichtiges Element der sozialen Arbeit. Somit ist für die SAG-Jugendarbeit das Nebeneinander zweier komplementärer Konzeptionen von Jugend charakteristisch: einer Jugend als »Problem« und einer Jugend als »Bewegung«, einer »gefährdeten« und einer »begeisterten« Jugend.169 Jürgen Reulecke hat bereits in einer 1891 auf einem »Volksabend« des Düsseldorfer Bildungsvereins abgehaltenen Körner-Feier die Grundzüge dieser Konstellation erkannt und in der doppelten Strategie, »Jugend zu beschwören und auf die Jugend einzuwirken« sowohl »Anfänge des modernen Jugendkults« als auch das »Gefühl einer Bedrohung durch die Jugend, besonders die Arbeiterjugend« gesehen.170 Zur Gründungszeit der SAG – 20 Jahre später – kam diese Konstellation voll zum Tragen, als sich Vertreter der mittlerweile etablierten bürgerlichen Jugendbewegung mit der Arbeiterjugend auseinandersetzten. Als pädagogisches Rezept wurde in der Folge die Einbindung der »problematischen« Jugend in eine klassenübergreifende Jugendbewegung gefordert. Enger denn je wurden die beiden Stränge des Jugenddiskurses miteinander verknüpft – die Jugend als Bewegung erschien als das Patentrezept gegen die Gefährdung und Degeneration der Unterschichtjugend. Der SAG-Klubleiter Paul Hoffmann beklagte 1922, dass seinen Jungen »meistens noch so ganz ein gesundes Selbstbewußtsein, ein Standes- und Klassenbewußtsein fehlt. Man möchte so gern einmal ein

—————— 167 Eine ältere Studie, die genau diese Konstellation aus bürgerlicher und proletarischer Ju-

gendbewegung und staatlich geförderter Jugendpflege analysiert, ist Giesecke, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. 168 Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, S. 185. 169 Das schwierige Verhältnis von »suchender« bürgerlicher Jugend und »gefährdeter« Arbeiterjugend ist sowohl im Hamburger Volksheim als auch in der SAG immer wieder diskutiert und thematisiert worden. Vgl. dazu für das Volksheim Marr, Unser Volksheim; für die SAG v. a. Gotthard Eberlein, »Die Krisis in der Jugendklubarbeit«, in: ASM 4. Jg. Heft 7 (Oktober 1920), S. 140–154, und Elisabeth Benzler, »Großstadtsiedlung und Jugendbewegung«, in: ASM 11. Jg. Heft 10/11 (Oktober–November 1928), S. 178–188. 170 Reulecke, »Veredelung der Volkserholung«, S. 157.

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paar Anzeichen von ›Bewegung‹ sehen, aber man findet sie nicht.«171 Mit solchen Forderungen nach »Bewegung« wurde implizit ein pädagogisches Modell bürgerlicher Alternativkultur auf die Arbeiterschaft übertragen. Viele der bürgerlichen Jugenderzieher der neuen Generation suchten im proletarischen Milieu nach einer »authentischen« und »bewegten« Jugend, die ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen bereit war. Hoffmann bescheinigte seinen Jungen denn auch bei aller Kritik »viel urwüchsige Kraft« und einen »gesunde[n] Lebensmut«172 – und mithin Werte, die mit den Jugend-Idealbildern der bürgerlichen Reformbewegungen kompatibel waren. In der Vorstellung von einer neuen »bewegten« Jugend lagen neue Chancen zur Integration unterschiedlicher Milieus in Berlin-Ost. Friedrich Siegmund-Schultze meldete bereits Ende 1920 neue Erfolge klassenübergreifender Jugendarbeit: »Die Jugendklubs der Sozialen Arbeitsgemeinschaft haben, so wie es jetzt Tausende von Jugendlichen fordern, gelebt. Proletarische und bürgerliche Jugendbewegung haben sich dort gemischt. Eine geeinigte Jugend hat sich dort ihre Führer gesucht und unter deren Leitung sich ihre Gesetze gegeben. Und so ist in Berlin-Ost und in anderen Städten eine wirkliche Jugendgemeinschaft entstanden.«173 Die Klubausflüge dieser Jahre folgten stilistisch den Mustern der jugendbewegten »Fahrten«: Auf Wanderungen suchte man ein »Standquartier«, man fand in Pferdeställen, Scheunen, auf Heuböden und einem Schifferkahn Unterkunft,174 und »selbst abkochen war allen selbstverständlich«.175 In einem kleinen Bericht, den die »Bärenhorde« über ihren Ferienaufenthalt in Schlesien verfasst hat, der aber in seinem betont erzieherischen Tonfall unverkennbar vom Klubleiter stammt, heißt es: »Ein vierwöchiges Ferienlager in Schlesien hat uns so manchen Blick tun lassen in das Zusammenleben der Jungens bei den Wandervögeln und Pfadfindern und hat in uns den Wunsch wach werden lassen nach etwas engerem Zusammenschluß in unserer Horde selbst. […] Daß wir uns zu Weihnachten alle gleiche Fahrtenhemden von den Eltern wünschen, ist ein Zeichen dafür, daß wir gern unsere Zusam-

—————— 171 Paul Hoffmann, »Ein Sonntagsausflug mit Berlin-Ost-Jungens«, in: ASM 5. Jg. Heft

11/12 (Februar/März 1922), S. 172–177, hier S. 175. 172 Ebd., S. 177. 173 Friedrich Siegmund-Schultze, »Zur Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft über

Jugendarbeit (in Berlin-Ost vom 3. bis 6. Januar 1921)«, in: ASM 4. Jg. Heft 8/9 (November/Dezember 1920), S. 137–140, hier S. 139. 174 H.P., »Eine Klubfahrt an die Ostsee«, in: ASM 8. Jg. Heft 7–9 (Oktober–Dezember 1924), S. 58–60, hier S. 59–60. 175 Ebd. S. 59.

DIE KLUBARBEIT DER SAG IM KONTEXT DER JUGENDPFLEGE

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mengehörigkeit nach außen hin ausdrücken möchten. Wir haben noch Sinn für Romantik und freuen uns am meisten über solche Geschichten, die Erlebnisse und Abenteuer schildern. […] Wir möchten vor allem Kameraden werden und stehen auch mit unserem Leiter auf ›Du‹ als zu einem älteren Freund und Kameraden.«176

Insgesamt muss man davon ausgehen, dass die starke Orientierung an der bürgerlichen Jugendbewegung in der SAG durchaus ihren pädagogischen Wert hatte und tatsächlich dazu beitrug, Arbeiterjugendliche aus Berlin-Ost in die Klubarbeit einzubinden. Allerdings limitierte die hier propagierte »Modell-Adoleszenz«177 die Reichweite der pädagogischen Praxis erheblich. Sie schloss – wie Gerhard Schade in einer kritischen Bemerkung über die jugendbewegte »Kulturschwärmerei« des Hamburger Volksheims schrieb – die Jugend aus, »die für eine Bewegung nicht fähig ist«.178 Mit zunehmender Orientierung der SAG an der Jugendbewegungskultur sprachen die Klubs vor allem solche Jungen und Mädchen an, die das Repertoire bündischer Gemeinschaftsformen, die Ferienlager und »Tippelfahrten«, bereits von anderen Jugendgruppen her kannten oder zumindest eine Affinität zu solchen Angeboten hatten. Zum einen verstärkte sie damit einmal mehr die Trennlinie zwischen rough und respectable: Je mehr sich die Klubpädagogik der SAG in den 1920er Jahren an der Jugendbewegung und deren Suche nach dem »neuen Menschen«179 orientierte, desto geringer waren ihre Chancen, die unorganisierte und »gefährdete« Jugend zu erreichen, die man doch gerade vor einem Abgleiten in die finstere Welt der »wilden Cliquen« bewahren wollte. Als etwa Wenzel Holek einmal mit Cliquenjungen in Berührung kam und ausnahmsweise auch mit »dieser Menschensorte« einen Erziehungsversuch wagen wollte, musste er nach eigenem Eingeständnis »schlimme Erfahrungen« machen.180 Man kann über diese Erfahrungen nur spekulieren – sicher aber behinderte der habitualisierte Widerstand der Cliquen gegen pädagogische Zugriffsversuche den Erfolg der SAG in diesem Milieu. Zwar hatten die Cliquen einige Formen der bürgerlichen Jugendbewegung in ihr Repertoire übernommen, allerdings durchbrachen sie dieses Repertoire zugleich durch parodistische Züge, politische

—————— 176 »Von der ›Bärenhorde‹ und den ›Bären‹«, in: NSAG Nr. 21 (Dezember 1927), S. 18–19,

hier S. 18. 177 Vgl. Lindner, »Bandenwesen und Klubwesen«, S. 371. 178 Gerhard Schade an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. November 1920, in: EZA 51/S II l

15. 179 Vgl. zum Kontext der bürgerlichen Jugendbewegung Küenzlen, Der neue Mensch, S. 153–

174. 180 Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 171.

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ARBEITERFREUNDE

Symbole und eine generelle »Politik der Provokation«.181 Ihr Stil, so Rolf Lindner, lässt sich geradezu »als ein einziges Mokieren über den ModellAdoleszenten der Jugendpflege ›lesen‹«;182 die Abgrenzung von Klubs nach dem Muster der SAG gehörte also geradezu zu den Essentials der Cliquen. Zum anderen waren die SAG-Pädagogen im Zeichen ihrer romantischen Konzeption von Jugendbewegung zu rückwärtsgewandt, um das Interesse der modernen respektablen Arbeiterjugend an Sport, Kino und Massenkonsum zu begreifen. Die urbanen Vergnügungen zwischen Rummelplatz und Tingeltangel, Biergarten und Tanzboden, die Rolle, die Massenunterhaltung und Freizeitkonsum im Leben der adoleszenten Arbeiter spielten: Alles das blieb den SAGlern fremd. Dem nach 1918 durch den politischen Umbruch und tarifvertragliche Regelungen entstandenen Bereich der modernen Arbeiterfreizeit standen sie in ihrem wilhelminischkulturkritischen Gestus vielfach hilflos gegenüber.183 Auf diese Weise gingen nicht nur die jugendlichen Subkulturen und die organisierte Jugendbewegung, sondern auch der »Mainstream« der kulturellen Entwicklung innerhalb der Arbeiterschaft an der sozialen Arbeit in Berlin-Ost vorbei. Die Reichweite der SAG blieb – diese These ist bisher eine Leitlinie der vorliegenden Arbeit gewesen – auf ein schmales Segment der Arbeiterbevölkerung beschränkt: auf aufstiegsorientierte Familien, denen kirchliche und an der bürgerlichen Jugendbewegung orientierte Angebote prinzipiell vertraut waren. Die US-amerikanische Settlementbewegung hatte in dieser Hinsicht eine gänzlich andere Ausrichtung. Auf der zweiten internationalen Jugendsettlementtagung im August 1928 auf Burg Lauenstein etwa traten diese Differenzen klar zutage. So warfen Vertreter der deutschen Settlements der US-amerikanischen Bewegung vor, dort würden die »Zivilisationsgüter« überschätzt und man begreife nicht, »daß es dem Arbeiter ganz andere Güter zu vermitteln gelte. Der Amerikaner wisse nichts von dem ›Neuen‹, dem neuen Menschen, dem neuen Geist, um den es den Jugendbewegten geht.«184 Mit ihrem vom »neuen Geist« weitgehend unbelasteten, realistischeren Blick für die Lebenswelten und Bedürfnisse der konsum-

—————— 181 Lindner, »Die Wilden Cliquen in Berlin«, S. 466. 182 Ebd., S. 461. 183 Vgl. dazu die Überblicksdarstellung von Peukert, »Das Mädchen mit dem ›wahrlich

metaphysikfreien Bubikopf‹«, der sich bemerkenswerterweise vor allem auf Günther Dehns Beobachtungen bezieht. Sehr hilfreich ist auch die Überblicksdarstellung von Saldern, »Massenfreizeitkultur im Visier«. 184 Richard Rahn, »Die zweite internationale Jugendsettlementtagung«, in: NN 11. Jg. Heft 10/11 (Oktober/November 1928), S. 169–178, hier S. 174.

DIE KLUBARBEIT DER SAG IM KONTEXT DER JUGENDPFLEGE

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orientierten Arbeiterschaft hatten die Settlements in den USA erkennbar bessere Chancen, den Herausforderungen der klassischen Moderne gerecht zu werden. Die dortige starke Kontinuität der Gemeinwesenarbeit bis heute liefert einen starken Beleg dafür.

9. Der lange Abschied von der Mission 1922–1933

Neue Klassenbezüge: Vom Sozialstudenten zum Werkstudenten In vielerlei Hinsicht stellte sich die Gesellschaft des Ersten Weltkriegs und der frühen Weimarer Republik als eine gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs »verkehrte Welt« dar, als »unberechenbares Jahrzehnt« von 1914 bis 1924 oder sogar als »the great disorder«.1 Zwar blieb die Klassenstruktur der wilhelminischen Epoche grundsätzlich erhalten und prägte auch nach wie vor die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, allerdings gewannen, wie Paul Nolte anschaulich resümiert, andere Differenzierungs- und Konfliktlinien an Bedeutung: zwischen Produzenten und Konsumenten, Gläubigern und Schuldnern, Mietern und Vermietern, Stadt und Land und nicht zuletzt zwischen den Generationen.2 Die Fragmentierung der politischen Landschaft und die Ausdifferenzierung und Kommerzialisierung der Kultur im Zuge des endgültigen Vordringens moderner Unterhaltungsangebote verstärkten den Eindruck einer zutiefst unübersichtlichen, segmentierten und vielfach gespaltenen Gesellschaft. Gewinner und Verlierer der Kriegs- und Inflationszeit standen sich gegenüber, wobei der Gegensatz von Kapital und Arbeit sich insgesamt verschärfte. Ein neues Element war der soziale Absturz der Mittelschichten – der kleinen Sparer und Rentner, der Staatsbeamten und Akademiker; sie kamen in der frühen Weimarer Republik wie keine zweite Sozialformation unter die Räder. Etwas besser erging es dem Adel, der zwar seine Legitimationsbasis verlor, der aber doch im Land- und Immobilienbesitz einen gewissen Rückhalt behielt.3 Bildungsbürgertum und Adel – an dieser Stelle sei noch einmal an die Konstellation der Trieglaffer Konferenzen erinnert – waren

—————— 1 So die Titel dreier auf das Jahrzehnt 1914–1924 bezogener Studien: Geyer, Verkehrte

Welt; Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt; Feldman, The Great Disorder. 2 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 76. 3 Vgl. dazu die in Kapitel 7 angegebene Literatur.

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also die großen Revolutionsverlierer.4 Sie sahen sich einer politisierten und in sich relativ heterogenen Arbeiterschaft gegenüber, die durch die angespannte Wirtschaftslage zwar auch unter Druck geraten war, die aber durch zunehmende Partizipationsmöglichkeiten, gewerkschaftliche Vertretung und »Marktmacht« eine insgesamt starke Position in der Weimarer Gesellschaft behaupten konnte. Die Auseinandersetzung mit ihr – und damit das große Thema der SAG – unterlag daher ganz anderen Strukturbedingungen als noch im Kaiserreich. Dementsprechend war es eine neue Generation von Studenten, die nach 1918 in die SAG kam. Die meisten von ihnen waren – anders als die ersten Mitarbeiter Siegmund-Schultzes – nicht mehr an der Front gewesen, sondern hatten die schwierigen Kriegsjahre ohne Väter und unter den Bedingungen einer schlechten Lebensmittelversorgung sowie der beginnenden Inflation erlebt. Soweit sie aus Mittelstands-, Beamten- oder Akademikerfamilien stammten, hatten sie einen rasanten sozialen Abstieg hinnehmen müssen. Diese Angehörigen der Jahrgänge 1899 bis 1904 waren daher von vollkommen anderen Erfahrungen geprägt als die erste Generation der SAG aus den Jahrgängen 1889 bis 1894. Statt der Prosperität des späten Kaiserreichs hatten sie materielle Not erfahren; sie begannen ihr Studium dann zu einem Zeitpunkt, als die Demobilisierung Tausende von Studenten wieder in die Universitäten schwemmte und sich gleichzeitig die Hochschullandschaft stark zu politisieren begann.5 Schwache und überfüllte Arbeitsmärkte machten sie zu der »überflüssigen Generation«,6 die später einen Großteil der NS-Aktivisten stellte.7 Vom Zerplatzen vieler Illusionen im Jahr 1918 und vom Chaos der unmittelbaren Nachkriegs- und Revolutionszeit waren sie insgesamt noch stärker betroffen als die Verantwortlichen des Jahres 1914, die vielfach auch in der Weimarer Republik wieder in wichtige Positionen einrückten. Deren Autorität aber war aus Sicht der nachfolgenden Generation stark in Frage gestellt – ihr dreifacher Fehlschlag der militärischen Niederlage, der halbherzigen Revolution und der

—————— 4 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 284–347; Nolte, Die Ordnung der deut-

schen Gesellschaft, S. 61–127. 5 Jarausch, Deutsche Studenten, S. 124–140. 6 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 26. Einen anschaulichen Einblick in die Sozialisations-

bedingungen dieser Generation bietet der Roman von Glaeser, Jahrgang 1902. 7 Vgl. Loewenberg, »The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth«; Kater, »Genera-

tionskonflikt als Entwicklungsfaktor«; des Weiteren die Fallstudie von Herbert, Best, und die wegweisende Arbeit von Wildt, Generation des Unbedingten, S. 23–29 und 41–89.

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wirtschaftlichen Instabilität hatte die älteren Repräsentanten von Weimar tief diskreditiert.8 In dieser Zeit entstand eine neue »Sozialfigur – der Werkstudent.9 Bis Ende 1923 mußten sich über die Hälfte der Studenten ihren Lebensunterhalt selbst verdienen;10 zeitgenössischen Statistiken zufolge lagen 80 Prozent der Studenten im Lebensstandard sogar hinter gleichaltrigen ungelernten Arbeitern zurück.11 Studenten traten nun nicht mehr – wie die »Sozialstudenten« des Kaiserreichs – in die Fabriken ein, um eine fremde Welt kennenzulernen und sich dort sozial zu engagieren, sondern schlicht und einfach, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die »Not der geistigen Arbeiter« wurde zum Schlagwort einer neuen Epoche für die Akademiker in Deutschland.12 Das »Göttinger Tageblatt« meldete übertreibend im Juni 1920: »Der Begriff des Proletariates hat sich verschoben. Hungern und Darben ist das Privileg der geistig Besitzenden geworden.«13 Während der deutsche Student vor dem Krieg aufgrund elterlicher Unterstützung quasi ein »Rentenempfänger« war,14 reihte er sich nun – wenn auch nur zeitweise – unter die Lohnarbeiter ein. Dabei waren Studentinnen im allgemeinen noch stärker betroffen als ihre männlichen Kommilitonen;15 in Berlin war

—————— 8 Jarausch, Deutsche Studenten, S. 141. Peter Suhrkamp fasste die Vorwürfe der jungen Ge-

neration 1932 zusammen: »Die Alten haben den Krieg verloren, sie haben 1918 nur halbe Sache gemacht, sie haben die nationale Ehre verraten.« Suhrkamp, »Söhne ohne Väter und Lehrer«, S. 695. 9 Als »Sozialfigur« bezeichnet bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 466. Zum sozialen Abstieg der Akademiker und den Werkstudenten der 1920er Jahre vgl. Kater, »The Work Student; Jarausch, Deutsche Studenten, S. 143–144; ders., »Die Not der geistigen Arbeiter«; Poore, The Bonds of Labor, S. 61–78. Vgl. auch die gesammelten Erfahrungsberichte in: Rohrbach (Hg.), The German Work-Student, und Mitgau (Hg.), Erlebnisse und Erfahrungen Heidelberger Werkstudenten. Über die Lage der Studenten, ihre Organisation und politische Orientierung allgemein: Nipperdey, »Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik«; Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik; als Fallstudie Mens, Zur »Not der geistigen Arbeiter«. 10 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 466. 11 Jarausch, Deutsche Studenten, S. 142. 12 Vgl. v.a. Weber, Die Not der geistigen Arbeiter. 13 Zit. nach Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik, S. 64. 14 Hermann Mitgau, »Studium und Auslese«, in: ASM 8. Jg. Heft 1–6 (April–September 1924), S. 7–11, hier S. 7. 15 Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 129–130.

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zeitweise sogar der Anteil von Werkstudentinnen an der Gesamtzahl der Studentinnen etwas höher als auf seiten der männlichen Studenten.16 Angesichts dieser veränderten Situation stellte der Student Walther Brackhahn in einem Brief vom August 1922 eine »Grundfrage« der SAG in diesen Jahren. Er schrieb: »Haben wir Studenten aus dem einstigen Wohlstand nach der jetzigen materiellen Umkehrung der sozialen Lage noch die nötige äußere und innere Kraft zum Helfen?«17 Siegmund-Schultze bat damals einige SAG-Landfreunde um Unterstützung für die Mitarbeiter, »die nur sehr selten an unserem Mittagstisch ein ordentliches Mittagsbrot erhalten«.18 Ernst Holler, der Berlin-Ost im Sommer 1923 besuchte, war schockiert vom »schlechte[n] Aussehen einiger Mitarbeiter«: »Ich bin diese Bilder hagerer Gesichter seitdem nicht wieder losgeworden.«19 Und zur gleichen Zeit musste Siegmund-Schultze feststellen, die Mitarbeiter hätten »natürlich […] durchschnittlich weniger zu verzehren als die Arbeiter«;20 an einer anderen Stelle ist sogar vom »sogenannten kleinen Mittelstand« als dem »eigentliche[n] Proletariat des Berliner Ostens« die Rede.21 Dementsprechend ging es nun auch in der SAG, die sich eigentlich für die Arbeiterschaft einsetzen wollte, immer wieder um materielle Hilfe für den »Mittelstand«.22 Geldspenden gingen über den Schreibtisch Siegmund-Schultzes

—————— 16 Vgl. die Zahlen für die Wintersemester 1926/27 und 1927/28, nach denen 11–12 Pro-

zent der Frauen und 10–11 Prozent der Männer ihr Studium hauptsächlich oder überwiegend durch Erwerbsarbeit finanzierten. Auf Reichsebene war allerdings der Anteil der Werkstudentinnen weitaus geringer als in Berlin. Huerkamp, Bildungsbürgerinnen, S. 137–138. 17 Walther Brackhahn an Friedrich Siegmund-Schultze, Posteingang 6. August 1922, in: EZA 51/S II c 25. 18 Friedrich Siegmund-Schultze an Ruth von Kleist-Retzow, 7. Dezember 1921, in: EZA 51/S II c 8,1. Vgl. dazu auch den kurzen Artikel von Hanns Eyferth, »Zur Notlage der Studenten«, in: ASM 6. Jg. Heft 1 (April 1922), S. 19–20. 19 Ernst Holler an Friedrich Siegmund-Schultze, 3. August 1923, in: EZA 51/S II c 25. 20 NSAG Nr. 15 (April 1923), S. 6. 21 Friedrich Siegmund-Schultze an Herrn von Sydow, 5. Mai 1923, in: EZA 626/27. 22 Vgl. etwa die Sitzungsprotokolle vom 13. Juli 1920 oder vom 3. Juni 1924, in: EZA 51/S II b 2. Der deutsche Konsul in Sarajevo, Graf Bethusy-Huc, fragt für seine »Liebesgabensendungen« nach einigen Adressen »namentlich verarmter Persönlichkeiten des Mittelstandes und der Intelligenz mit kinderreichen Familien«. Graf Bethusy-Huc an Friedrich Siegmund-Schultze, 16. November 1923, in: EZA 51/S II e 18. Für den an Unterernährung leidenden Studenten Walter Suter sucht der Leiter der SAG eine Arbeitsstelle auf dem Land, vgl. das Schreiben Friedrich Siegmund-Schultze an Graf Bernsdorff, 23. Oktober 1923, in: EZA 51/S II e 18. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich ohne Probleme verlängern.

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an notleidende Pastoren- oder Offiziersfamilien.23 Die »gemeinsame Not«, von der als Ziel der sozialen Arbeit seit Beginn immer wieder die Rede gewesen war, hatte eine in dieser Form wohl unerwartete Realität gewonnen. Zwar sah man in dieser Situation durchaus eine neue Chance zur Gemeinschaftsbildung zwischen Arbeitern und Gebildeten, insbesondere durch die vor dem Krieg kaum denkbare Fabrikarbeit von Studenten. Gleichzeitig aber beklagte man den mangelnden Idealismus der neuen SAG-Generation: »Nicht Nächstenliebe, sondern Selbsterhaltung trieb die Studenten in die Fabriken und in die Landwirtschaft.«24 In seinem Vergleich zwischen der Vorkriegs- und der Nachkriegsgeneration konstatierte SiegmundSchultze einmal mehr ein »starkes Erwachen und stürmisches Erwecken des naiv selbstbewußten und verantwortlichen Lebens einer neuen Jugend« in den Jahren vor 1914; nunmehr dominiere dagegen der sozial uninteressierte »Erwerbsstudent«, der sogar auf »Konkurrenz gegenüber dem bisherigen Arbeiter und Angestellten eingestellt« sei.25 Die Problematik des Werkstudenten und seiner Doppelrolle als Sozial- und Lohnarbeiter wurde in der SAG zu Beginn der 1920er Jahre lebhaft diskutiert, sie traf tatsächlich ins Zentrum des Selbstverständnisses des Settlement. Denn an ihr wurde besonders deutlich, was sich gegenüber der Zeit vor 1914 verändert hatte.26 1926 sprach Siegmund-Schultze laut einem Bericht Elisabeth Sackermanns sogar davon, dass »Volksgemeinschaft« angesichts der politischen Frontlinien der 1920er Jahre ein Wort sei, »das die SAG jetzt nicht mehr gebrauchen« könne, zumindest aber ein Ziel, das ebenso wenig

—————— 23 Ernst von Dryander an Friedrich Siegmund-Schultze, undat. (ca. Januar 1920), in: EZA

51/S II c 6,1. Vgl. auch den Hilferuf eines Pastors aus Schöneiche bei Friedrichshagen, der die SAG um materielle Hilfe bittet: »Sehr geehrter Herr Amtsbruder, Aus tiefer Not schreie ich!« Otto Grabowski an Friedrich Siegmund-Schultze, 3. Februar 1923, in: EZA 51/S II e 18. 24 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die neue Generation der Studentenschaft«, in: ASM 8. Jg., Heft 1–6 (April–September 1924), S. 1–7, hier S. 5. 25 Ebd., S. 2 und 5–6. 26 Vgl. Hellmut Hotop, »Der Sinn sozialer Studienarbeit. Ergebnisse der Benneckensteiner Tagung des Akademisch-Sozialen Verbandes«, in: ASM 5. Jg. Heft 8/9 (November/Dezember 1921), S. 113–120; R. S. T., »Studentische Wirtschaftshilfe und sozial-studentische Arbeit«, in: ASM 5. Jg. Heft 10 (Januar 1922), S. 146–151; Otto Stockburger, »Die Tübinger Studentenhilfe, ihre Geschichte u. ihre Erfahrungen über studentische Handarbeit«, in: ASM 5. Jg. Heft 11/12 (Februar/März 1922), S. 161–168; ders., »Handarbeitende Studenten«, sowie der kleine Text »Werkstudent«, in: ASM 6. Jg. Heft 5/6 (August/September 1922), S. 85.

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erreicht sei wie am Anfang.27 Vereinzelt aber wurde gerade die veränderte materielle Lage der Akademiker zum Ausgangspunkt erneuerter Vorstellungen von der Immersion ins »Volk«, etwa bei dem Schweizer Wilhelm Feld, der 1924 schrieb: »Auch ich lebe jetzt ganz im Volk. […] In den hochbürgerlichen Kreisen werde ich täglich fremder, um so mehr als ich durch den Verlust meines Vermögens und meiner Anstellung auch ökonomisch zum Volke gehöre das von der Hand in den Mund leben muss.«28 Auf diese Weise gewann die Distanzierung von der Oberschicht, wie sie vor 1914 symbolisch vollzogen worden war, an sozialer Realität; dies erleichterte vielen Bildungsbürgern – nicht zuletzt im Sinne einer zur Tugend gemachten Not – in den 1920er Jahren die Identifikation mit der Arbeiterschaft. Angesichts der sich verschiebenden Klassenstellungen zwischen Bildungsbürgern und Arbeiterschaft gerieten die Zuordnungen, von denen das Programm der SAG seit 1911 lebte, aus dem Lot. In einer Arbeitsbesprechung der SAG wies ein Mitarbeiter »auf die Spannungen hin, in der jugendliche Mitarbeiter lebten, sie rechnen sich nicht mehr zur bürgerlichen Klasse, gehören aber auch nicht zum Proletariat und haben auch ihre eigne Form noch nicht gefunden«.29 Ein Pastor aus dem Arbeiterdorf Zschornewitz schrieb an Siegmund-Schultze: »Haben Sie nicht selbst das Gefühl, daß das Ziel Ihrer Arbeit sich infolge des Aufsteigens des Proletariats in der Revolution gewandelt hat? Damals waren Sie Pfadfinder in ein Land der wirtschaftlich Unfreien u. Abhängigen. […] Jetzt stehen Sie einer ganz veränderten Gefühlslage gegenüber: der Arbeiter hat mehr Herrengefühl, der Bürger sieht den Boden unter seinen Füßen wanken.«30 Im Hinblick auf die zunehmenden Schwierigkeiten, neue Unterstützer für die SAG zu gewinnen, fragte sich Siegmund-Schultze sogar, »ob die Siedlungsarbeit im Arbeiterviertel wirklich unpopulär geworden ist«.31 Und für das Volksheim Hamburg fasste Ludwig Heitmann 1919 sehr anschaulich die »Wandlungen des sozialen Gedankens unter dem Einfluß der Revolution« zusammen. Heitmann zufolge war der Gedanke einer Überbrückung zwi-

—————— 27 Nach der Zusammenfassung eines Siegmund-Schultze-Vortrags in: Elisabeth Sacker-

mann, »Das SAG-Treffen Rheinland-Westfalen«, in: RMSAG Nr. 6 (November 1926), S. 5–6. 28 Wilhelm Feld an Friedrich Siegmund-Schultze, 9. Dezember 1924, in: EZA 51/S II e 18. 29 Sitzungsprotokoll vom 8. Mai 1923, in: EZA 51/S II b 2, zit. nach Hegner, »Die Suche nach der Metapher«, S. 151. 30 P. Schenke an Friedrich Siegmund-Schultze, 25. Januar 1921, in: EZA 51/S II c 7,2. 31 Friedrich Siegmund-Schultze an Konrat Weymann, 26. Juni 1924, in: EZA 51/S II c 8,2.

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schen den Klassen schwer gefährdet; als »werbende Grundidee […] in dem Zeitalter der Sozialisierung, der Einheitsschule und des demokratischen Wahlrechts« sei er sogar schlechterdings unmöglich« geworden. Heitmann sah deshalb all die »sozialen Bestrebungen zusammenbrechen, die aus dem mittelalterlichen Drange zur Wohltätigkeit geflossen sind« – kurz: die alten Modelle einer Wohltätigkeit von oben griffen nicht mehr, der »Gedanke des Gebens von oben nach unten« war »ganz hinfällig«.32 Er machte nun einem Konzept der Integration verschiedener Milieus und politischer Zugehörigkeiten Platz – einem Konzept allerdings, in dem der Gedanke bildungsaristokratischer Führung eine umso wichtigere Rolle spielte. »Die Auflösung der Klassenbezüge« – so Helmuth Berking – »öffnet den Raum, der dann von den ›Intellektuellenschichten‹ in Form der selbstinszenierten Repräsentanz eines imaginierten ›Allgemeinen‹ besetzt wird.«33 Mit dieser Auflösung der Klassenbezüge – und das meint wie gesagt keineswegs das Ende der Klassengesellschaft, sondern eine neue Unübersichtlichkeit durch veränderte soziale, politische und kulturelle Grenzziehungen – schien also zunehmend eine Neuformulierung des Settlementgedankens notwendig zu werden. Dass die deutsche Settlementbewegung nach dem Ersten Weltkrieg von ihren alten Grundsätzen abrücken musste, lag – zumindest im Falle der SAG – aber auch an der veränderten Trägerschaft der sozialen Arbeit vor Ort. Eine bemerkenswerte Feststellung dazu findet sich in den »Gedanken zur Entwicklung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, die Siegmund-Schultze im April 1925 in den Nachrichten veröffentlicht hat. Darin ist von einer »Umschichtung« innerhalb der SAG die Rede: Während die Settlementarbeit früher alleinige Sache des »Siedlerkreises« gewesen sei, seien nunmehr »manche Arbeiter und jungen Leute aus unseren Klubs und sonstigen Jugendgruppen in viel stärkerem Maße Träger der Arbeit geworden […] als die neuhinzukommenden Mitarbeiter aus dem Westen«.34 Aus Sicht der SAG war das ein Indiz für eine endlich funktionierende »Nachbarschaft«, die nicht mehr auf neue »Pioniere« aus dem Westen angewiesen war; ehemalige Klubmitglieder und andere Nachbarn aus dem Berliner Osten waren also in die SAG »hineingewachsen«

—————— 32 Ludwig Heitmann, »Die Wandlungen des sozialen Gedankens unter dem Einfluß der

Revolution«, in: Das Volksheim. Mitteilungen des Hamburger Volksheims, erschienen im November 1919, S. 157–166, hier S. 160. 33 Berking, Masse und Geist, S. 183. 34 Friedrich Siegmund-Schultze, »Gedanken zur Entwicklung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 17 (April 1925), S. 1–4, hier S. 1–2.

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und beteiligten sich mittlerweile selbst an der sozialen Arbeit. Im Anschluss daran warf Siegmund-Schultze hier erstmals die Frage auf, ob man von einem Unterschied zwischen »Arbeitern« und »Gebildeten« in der SAG überhaupt noch sprechen könne: »Stehen nicht manche unter unseren Arbeitern in ihrer inneren Bildung, ja sogar in ihrem Wissen und Erkennen viel höher als viele Räte und Oberräte? Wie viele unter unseren Akademisch-Gebildeten haben denn eine solche philosophische, national-ökonomische und sozial-politische Bildung wie Wenzel Holek? Oder welche Studenten haben denn eine so tiefgründige Eigenbildung wie einige junge Arbeiter, die unsere Helfer sind? […] Ist nicht doch das Urteil unserer Freunde aus Berlin-Ost im Allgemeinen sicherer als das der Menschen aus dem Westen?«35

Auf der Ebene der sozialen Nahbeziehungen ergab sich durch diese Entwicklung in bestimmten Bereichen eine tatsächliche gegenseitige Annäherung der Klassen. Das von der SAG geführte Ledigenheim in Moabit war 1932 »in all seiner Buntheit und Verschiedenartigkeit« zu einem »kleinen Dorf« geworden, das die neue Unübersichtlichkeit der Zuordnungen zwischen Arbeitern und Gebildeten spiegelte. In der Waldenserstraße wohnten damals 234 Männer von 18 bis 80 Jahren, »vom akademisch sich bildenden Arbeiter zum arbeitenden Akademiker, vom Gelegenheitsarbeiter zum Feinmechaniker, vom Posthelfer zum Kaufmannsgehilfen, vom Lehrling zum Rentenempfänger, vom radikalen Syndikalisten zum bis zum Flügelmann des Rechtsradikalismus«.36 Doch paradoxerweise war es gerade diese relative Nivellierung der Klassenlagen in Teilen des Bildungsbürgertums und der Arbeiterschaft, welche die SAG nach dem Ersten Weltkrieg in eine Legitimations- und Identitätskrise stürzte. Was vor 1914 emphatisch als das Ziel der SAG ausgegeben worden war – nämlich die »Notgemeinschaft« von Akademikern und Arbeitern, das sorgte nun, als es zu einer tatsächlichen Erfahrung wurde, für eine tiefgreifende Verunsicherung der Akademiker hinsichtlich ihres Status und ihrer eigentlichen Aufgabe in der SAG. Es ist wenig erstaunlich, dass in dieser Situation auch die inneren Grundlagen des SAG-Kreises neu in Frage gestellt wurden. So gerieten in den frühen 1920er Jahren nicht wenige der neuen Mitarbeiter in die Kritik – etwa wenn Erich Gramm schrieb, diese hätten »mit unserer Berlin-Ost Familie nicht die geringste Fühlung und was schlimmer ist, ein oder zwei von ihnen sagen offen, dass sie diese Fühlung nicht suchen weil sie

—————— 35 Ebd., S. 2. 36 Hellmut Hotop, »Ledigenheim-Moabit«, in: MSAG Nr. 58 (Februar 1932), S. 3.

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überflüssig sei«.37 Auch Wenzel Holek vermisste zunehmend den »SAGGeist« und die »Gesinnungsgemeinschaft« der früheren Jahre. In einem sehr persönlichen Brief an Siegmund-Schultze vom Dezember 1922 zeigt er sich – ähnlich wie Gramm – unzufrieden über die neue Situation innerhalb der SAG; er droht sogar damit, seinen Posten als Jugendpfleger zu kündigen: »In den männlichen Mitarbeitern ist keine Spur von dem einstigen S.A.G.-Geist. Die meisten Mitarbeiter scheinen die S.A.G. als eine Fürsorgestelle für sich selber anzusehen. […] Dass man die Lust verlieren muss, wenn man zusehen soll, wie das zerstört wird, was man mühsam aufgebaut hat, werden Sie verstehen.«38 Fünf Wochen später schreibt Holek sogar, er fühle sich in der SAG »wie auf einem verlorenen Posten von allen wie verlassen«.39 Mit dem Rücktritt verfolge er den Zweck, die Akademiker, die doch – der Settlementidee entsprechend – die eigentlichen Träger der sozialen Arbeit sein sollten, wieder in die Verantwortung zu zwingen.40

—————— 37 Erich Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 13. Juli 1922, in: EZA 51/S II e 1.

Verschärft wurde diese Situation dadurch, dass Friedrich Siegmund-Schultze in den frühen 1920er Jahren mehrmals aus gesundheitlichen Gründen ausfiel und dann für einige Zeit nicht in Berlin-Ost sein konnte. Die neuen Mitarbeiter seien – so heißt es in einer Arbeitssitzung der SAG vom Juli 1922, durch die Abwesenheit des Leiters nicht imstande, »Fühlung« zur SAG herzustellen: »Die Mitarbeiter kennen Siegmund-Schultze vielleicht aus einem Vortrage und der Aufenthalt in Berlin-Ost bedeutet ihnen nichts, wenn er nicht da ist. Es könnte auch sein, dass sie gekommen sind, um durch die SAG eine Wohnung zu bekommen.« Protokoll der Arbeitssitzung vom 11. Juli 1922, Abschrift in: EZA 51/S II c 8,2. In eine ähnliche Richtung geht Ernst Hollers Äußerung, die ersten Mitarbeiter standen noch »alle unter dem unmittelbaren Ausdruck [sic] der Persönlichkeit Siegmund-Schultzes, während heute doch die allermeisten einen von ihm unabhängigen Ausgangspunkt haben«. Vgl. die Abschrift, beigelegt einem Schreiben von Walther Classen an Friedrich Siegmund-Schultze, 18. Januar 1922, in: EZA 626/233. 38 Wenzel Holek an Friedrich Siegmund-Schultze, 28. Dezember 1922, in: EZA 51/S II c 15. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in: Wenzel Holek an Friedrich SiegmundSchultze, 3. August 1922, in: EZA 51/S II c 15. Auf Holeks Position in dieser Frage nimmt der Leiter der SAG – durchaus verständnisvoll – Bezug in seinem einleitenden Beitrag in: NSAG Nr. 15 (April 1923), S. 1–6, hier S. 5. 39 Wenzel Holek an Friedrich Siegmund-Schultze, 5. Februar 1923, in: EZA 51/S II c 15. 40 Holek scheint seine Festanstellung bei der SAG tatsächlich zunächst aufgegeben zu haben, darauf deuten Bemerkungen im Schreiben Friedrich Siegmund-Schultze an Wenzel Holek, 20. April 1923, in: EZA 51/S II c 15, hin. Allerdings blieb Holek der SAG als Mitarbeiter immer verbunden und erhielt zumindest später wieder Entgelte für seine Arbeit sowie eine kleine »Rente«. Siegmund-Schultze schrieb 1931: »Solange ich in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft mit zu raten habe, sollen Sie für Ihren Lebensabend keine Sorge haben.« Denn selbst, »wenn die Soziale Arbeitsgemeinschaft alle ihre sonstigen

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Bei allen internen Aiseinandersetzungen verlor man doch bis in die frühen 1930er Jahre hinein einen großen Plan der SAG nicht aus dem Blick: das Volkshaus Berlin-Ost.41 Anfang 1931 trat der Ausschuss des neu gegründeten »Volkshausbundes« zusammen; im April war dann im »Mitteilungsblatt« zu lesen, man werde sich mit den Volkshausplänen nun »ernstlich befassen«.42 Vorgesehen war – auf einem Grundstück nahe dem Schlesischen Bahnhof – ein großzügiges Gebäude mit Kaffee- und Speisehalle, Vereinszimmer, Buchladen, Lesezimmer, einigen Wohnungen und einem Festsaal für bis zu 1.000 Personen. In den Quergebäuden sollten ferner ein Ledigenheim für 100-200 Männer und die Büroräume der SAG mit den Klubzimmern untergebracht werden. Wenn möglich, sollten dem Komplex sogar eine Turn- und Schwimmhalle sowie ein Sportplatz angeschlossen werden.43 Knapp zwei Jahre später allerdings, im Jahr 1933, waren die Zeiten »für eine lebhaftere Tätigkeit des Volkshausbundes ganz ungün-

—————— Aufgaben aufgeben muss, dann behält sie doch als letztes eine Verpflichtung, nämlich die, für Sie zu sorgen«. Friedrich Siegmund-Schultze an Wenzel Holek, 25. Februar 1931, in: EZA 51/S II c 15. 41 Der Plan zu einem eigenen »Volkshaus« in Berlin-Ost entstand noch während des Krieges und war in den 1920er Jahren ein immer wiederkehrendes Thema, vgl. dazu Robert von Erdberg, »Ein Volkshaus Berlin-Ost«, in: ASM 2. Jg. Heft 7/8 (Oktober/November 1918), S. 105–121; Friedrich Siegmund-Schultze, »Das Volkshaus Berlin-Ost« in: NSAG Nr. 17 (April 1925), S. 10–13; Erich Gramm, »Volkshaus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 19 (April 1926), S. 17–18. Möglicherweise hat die Inflation die für diesen Zweck angelegten Spendengelder entwertet, jedenfalls hatte kein Geringerer als Hermann Muthesius schon 1917 einen Entwurf zu einem SAG-Volkshaus vorgelegt. Sein Briefwechsel mit Siegmund-Schultze zeigt, dass es im Hinblick auf die Bezahlung des Entwurfs zu einem recht gravierenden Missverständnis gekommen war – Muthesius hatte die Pläne nämlich nicht, wie seitens der SAG erwartet, gratis angefertigt, sondern dafür die entsprechende Gebühr verlangt. Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze an Hermann Muthesius, 23. März 1917, in: EZA 51/S II c 3; Hermann Muthesius an Friedrich SiegmundSchultze, 10. Dezember 1919, Hermann Muthesius an Friedrich Siegmund-Schultze, 1. Mai 1920, beide in: EZA 51/S II c 6,1. Die Muthesius-Pläne sind anscheinend nicht erhalten, dafür existieren zwei Plansammlungen aus den 1920er Jahren: Vgl. die »Skizze für ein Volkshaus Fruchtstr. 74«, in: EZA 51/S II e 2; ein sehr moderner Volkshausentwurf befindet sich in EZA 626/II 27,9, er weist stilistisch etwa in die Richtung der sozialistischen Volkshausarchitektur. Emanuel Josef Margold hat 1931 in einer von ihm selbst herausgegebenen Skizzensammlung den Entwurf zu einem »Volkshaus in G.« veröffentlicht, der dem letztgenannten Entwurf aus den Akten recht ähnlich ist. Vgl. Margold, Bauten der Volkserziehung und Volksgesundheit, S. 271. 42 Charlotte Voigt, »Vom Volkshaus«, in: MSAG Nr. 48 (April 1931), S. 3–4, hier S. 3. 43 Ebd..

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stig«.44 Auf diese Weise blieb der lang gehegte Wunsch der SAG letztlich doch unerfüllt. Was im neuen Volkshaus hätte stattfinden sollen, blieb weiterhin auf die alten Räumlichkeiten in der Fruchtstraße und am Ostbahnhof beschränkt. Mit einigen Arbeitszweigen war man indessen schon seit Jahren an den Stadtrand ausgewichen: auf den Ulmenhof in BerlinWilhelmshagen.45 Er war der Hauptschauplatz der von der SAG ab Mitte der 1920er Jahre betriebenen Volkshochschularbeit.

Volksbildung als neue Leitidee Bereits vor 1914 gab es zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Anliegen der SAG und volksbildnerischen Programmen. Der Blick zurück auf die Anfänge der Settlementbewegung in England zeigt, dass die Settlements dort in enger Verbindung mit Bildungsinitiativen wie der »University Extension«, den »Working Men’s Colleges« und »Adult Schools« entstanden waren.46 Mit Werner Picht war es ein Vordenker der Volkshochschulbewegung, dessen Dissertation über Toynbee Hall wesentlich zur Verbreitung der Settlementidee in Deutschland beitrug.47 Und Friedrich Siegmund-Schultze verstand seine Arbeit im Berliner Osten von Beginn an auch als eine Art von Volkshochschularbeit.48 Doch während die Volksbildung vor dem Ersten Weltkrieg noch vor allem extensiv ausgelegt war und sich damit auf Wissensvermittlung und Wissenspopularisierung konzentrierte, baute die SAG – wie zuvor schon das Hamburger Volksheim – auf Prinzipien auf, wie sie in der Volksbildung erst im Zuge der »Neuen Richtung« vertreten wurden. Deren Idee einer zugleich individualisierenden und

—————— 44 Erich Gramm, »Volkshausbund«, in: MSAG Nr. 75/76 (Juli/August 1933), S. 2–3, hier

S. 2. 45 Das ehemalige Krankenhausgelände in Berlin-Wilhelmshagen war im Januar 1920 von

der SAG übernommen worden und erhielt später den Namen »Ulmenhof«. Eingerichtet wurden dort u.a. eine Kinderheilstätte mit Kinderheim, ein Heilerziehungsheim, eine Haushaltsschule und im Jahr 1927 ein Volkshochschulheim. Erster hauptamtlicher Leiter war der ehemalige sächsische Staatsminister Alfred von Nostitz-Wallwitz; ab Mitte der 1920er Jahre wohnte Siegmund-Schultze selbst auf dem Ulmenhof. Vgl. dazu Fechner, »Leben auf dem Ulmenhof«. Nostitz-Wallwitz war es übrigens gewesen, der Wenzel Holek als Jugendpfleger nach Leipzig geholt hatte. Vgl. Lebenslauf von Wenzel Holek, 22. Juli 1922, in: EZA 51/S II c 15. 46 Vgl. dazu Meilhammer, Britische Vor-Bilder. 47 Picht, Toynbee Hall. 48 Ciupke, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung«, S. 90.

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gemeinschaftsbildenden Bildungsarbeit, die nicht nur Wissensbestände »nach unten« popularisieren sollte, sondern ausgehend von den Lebenswelten und konkreten Bedürfnissen der Einzelnen auf eine »gemeinsame« Bildung zielte,49 wurde im Hammerbrook und in Berlin-Ost gewissermaßen vorweggenommen;50 und nicht von ungefähr gehörte mit Robert von Erdberg ein Pionier der »Neuen Richtung« zum Freundeskreis der SAG.51 Das Programm der SAG nach 1918 und die Konzepte der »Neuen Richtung« stimmen in zentralen Punkten überein. Zu einem Zeitpunkt, als Siegmund-Schultze und seine Mitarbeiter das alte »vertikale« Schema der Kulturmission – das »Herabsteigen« von oben nach unten – aufgaben, nahm man in der neuen Richtung der Volksbildungsbewegung endgültig Abschied von der Grundidee der extensiven Bildung. Denn, wie Eugen Rosenstock im Hinblick auf den sozialen Wandel seit dem Kaiserreich feststellte: »Das Volk ist nicht mehr ›unten‹ als geduldiger Rohstoff vorhanden.«52 Während man früher – so Leopold von Wiese 1921 – darum bemüht war, »die Bildungsmöglichkeiten der oberen Gesellschaftsschichten auch der Unterklasse zugänglich zu machen«, sei nun »das Streben nach einer allen Volksgenossen gemeinsamen, einheitlichen Bildung« in den Vordergrund gerückt.53 Anstatt auf die Partizipation der Arbeiterschaft am Korpus bürgerlicher Bildungsgüter ausgerichtet zu sein, wurde Volksbildung nun als eine Antwort auf gesamtgesellschaftliche Krisenlagen verstanden: als ein Fundamentalrezept gegen Zerfall und Fragmentierung der Gesellschaft und, wie Alix Westerkamp einmal kritisch angemerkt hat, als

—————— 49 Zu den Vordenkern dieser Idee vor 1914 vgl. Olbrich, Geschichte der Erwachsenenbildung in

Deutschland, S. 102–105, zur »Neuen Richtung« generell S. 200–210; Laack, Das Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung, und die Textsammlung von Henningsen (Hg.), Die neue Richtung in der Weimarer Zeit. 50 So zieht etwa Paul Röhrig in seiner Überblicksdarstellung zur Erwachsenenbildung im Kaiserreich klare Verbindungslinien zwischen Settlement- und Volkshochschulbewegung: vgl. Röhrig, »Erwachsenenbildung«, S. 462–463. 51 Insbesondere setzte er sich für die Volkshauspläne der SAG ein; vgl. Robert von Erdberg, »Ein Volkshaus Berlin-Ost«, in: ASM 2. Jg. Heft 7/8 (Oktober/November 1918), S. 105–121. 52 Rosenstock, »Die Ausbildung des Volksbildners«, S. 154. 53 Wiese, »Der Begriff und die Probleme der Volksbildung«, S. 32. Dabei sollte natürlich nicht übersehen werden, dass auch in den 1920er Jahren die extensive Volksbildung in der Praxis vorherrschend war; die »Neue Richtung« blieb demgegenüber ein zwar einflussreiches, aber noch weitgehend auf den Kreis einiger führender Theoretiker beschränktes Konzept.

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»Allheilmittel gegen die Not« der Gegenwart.54 Das Konzept der »VolkBildung durch Volksbildung«55 mit seiner Vorstellung von »Ganzheit« wurde zur zentralen Idee einer Generation neuer Kulturreformer.56 Einer der wichtigsten Garanten von »Ganzheit« schien die Volkshochschule zu sein, die ab Mitte der 1920er Jahre zu einem festen Arbeitszweig der SAG in Berlin-Ost und Wilhelmshagen wurde.57 Ihre vielfältigen Aktivitäten auf diesem Gebiet machte die SAG zu einem Zentrum der Volksbildungsbewegung im Rahmen des »freien Protestantismus« und sogar – so Hans Peter Veraguth – zum »größte[n] Ausbildungszentrum von Volksbildnern in der Weimarer Zeit«.58 In der Tat liest sich die Liste der mit der SAG verbundenen Volksbildner wie ein Auszug aus dem »Who is Who« der damaligen Szene: So waren Fritz Borinski, Eduard Brenner, Gotthard Eberlein, Hermann Gramm, Hellmut Hotop, Werner Krukenberg, Hermann Maas, Carl Mennicke, Hans Mühle, Hans Pflug, Alfred de Quervain, August Oswalt, Richard Rahn und Gerhard Spinner direkt an der Volksbildungsarbeit der SAG beteiligt;59 zu den meisten prominenten Volkshochschulen und reformpädagogischen Initiativen der Zeit bestanden enge Kontakte, was – um nur einige Namen zu nennen – Briefwechsel mit Eberhard Arnold, Paul Le Seur, Martin Luserke, Alfred Mann, Johannes Müller oder Gustav Wyneken belegen.60

—————— 54 Alix Westerkamp an Fedor Reusche, 12. Juni 1919, in: EZA 51/S II c 5,2. Zu den allzu

weit gespannten Erwartungen an die Idee der Volksbildung in den 1920er Jahren vgl. noch immer den kritischen Überblick von Langewiesche, »Freizeit und ›Massenbildung‹«. 55 Vgl. Schepp, »Volk-Bildung durch Volksbildung«; Ulbricht, »Volksbildung als Volk-Bildung«. Einen kompakten Überblick über das Diskursfeld der zeitgenössischen Erwachsenenbildung bietet Ciupke, »Diskurse über Volk, Gemeinschaft und Demokratie«. 56 Peter Gay hat diesen »Hunger nach Ganzheit« sogar als generelle Signatur der Weimarer Republik beschrieben. Vgl. Gay, »Hunger nach Ganzheit«. Vgl. zu diesem Begriff auch die auf verschiedene disziplinäre Kontexte eingehende Studie von Harrington, Die Suche nach der Ganzheit. 57 Vgl. dazu Wollenweber, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildungsarbeit«; Ciupke, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung«. 58 Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, S. 77. 59 Vgl. die ebd. und bei Ciupke, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung«, S. 96–99, genannten Namen. 60 Die Studie von Veraguth, Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik, bietet in ihrer Konzentration auf den protestantischen Kontext zwischen »neuer Richtung« und »freier Volksbildung« ein recht genaues Abbild der Netzwerke, in die auch die SAG eingebunden war.

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Im Winter 1923/24 wurde als Fortsetzung einiger Jugendklubs in Berlin-Ost eine »Jugendhochschule« gegründet; angeboten wurden dort zunächst drei Kurse in Buchhaltung, Stenographie und Englisch sowie vier »Arbeitsgemeinschaften« zu den Themen »technisches Denken« und »chemische Grundbegriffe« sowie über »Geschlechtsfragen« und Volkswirtschaft.61 Im Wintersemester 1924/25 fanden dann sechs solcher Arbeitsgemeinschaften mit insgesamt 72 Teilnehmern statt. Die Dozenten waren durchweg promovierte Mitarbeiter aus dem Umkreis der SAG, darunter Hans Windekilde Jannasch, August Oswalt, Alix Westerkamp und Hans Pflug; sie boten Kurse an wie »Der deutsche Staat im 19. Jahrhundert«, »Die Arbeiterbewegung«, »Einführung in die Kunstgeschichte« oder »Die Veränderung in Lebensgestaltung und Lebensauffassung der Frau im 19. Jahrhundert«.62 Nachfolgeeinrichtung der Jugendhochschule war dann eine Abendvolkshochschule,63 in der Angebote gebündelt wurden, wie sie im Rahmen der SAG ohnehin schon seit Jahren üblich waren: Sprachkurse, praktische Kurse zur Hausarbeit, politische Vorträge, Singeabende und Gymnastikstunden. Das Angebotsprofil war vor allem auf Frauen zugeschnitten und stark an praktischen Bedürfnissen und berufsvorbereitender Bildung orientiert.64 Die Bildungsarbeit expandierte vor allem ab dem Wintersemester 1929/30, als Erwerbslosenkurse angeboten wurden und die Teilnehmerzahlen bis auf 724 im Winter 1932/33 anstiegen.65 Anfang 1927 wurden diese Volkshochschulaktivitäten im Berliner Osten durch die Einrichtung einer Heimvolkshochschule auf dem Ulmenhof in Wilhelmshagen ergänzt.66 Dort sollte nicht berufliche Fortbildung im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr »Besinnung auf die Grundzusammenhänge der Wirklichkeit in Natur, Wirtschaft, Familie usw. und auf die Richtlinien unseres eigenen Lebens«.67 Auf diese Weise sollte Wilhelmshagen zu

—————— 61 Vgl. Ciupke, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung«, S. 90–91. 62 Hans Pflug, »Jugendhochschule«, in: NSAG Nr. 17 (April 1925), S. 15–16. 63 Wenzel Holek schien dieser Begriff »anmassend«, er sprach lieber von einer »Abend-

schule«. Holek, Meine Erfahrungen in Berlin Ost, S. 201. 64 Ciupke, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung«, S. 91. 65 Ebd., S. 92. 66 Vgl. dazu die kurzen Berichte von Werner Krukenberg, »Volkshochschulheim Wil-

helmshagen«, in: RMSAG Nr. 8 (Januar 1927), S. 1–2; ders., »Volkshochschulheim Wilhelmshagen«, in: RMSAG Nr. 11 (April 1927), S. 5; ders., »Volkshochschulheim Ulmenhof, Berlin-Wilhelmshagen«, in: RMSAG Nr. 14 (Juli 1927), S. 1–4. 67 Hausprospekt des Volkshochschulheims Ulmenhof, in: EZA 51/S II l 6.

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einer regelrechten »Lebensuniversität« ausgebaut werden.68 Bei einem 1932 auf dem Ulmenhof abgehaltenen Arbeitslosenkurs wurde diese Idee konkret erprobt: In gemeinsamer körperlicher und geistiger Arbeit sollten sich die am Kurs beteiligten Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und Kommunisten persönlich näherkommen.69 Endgültig vorbei war nun die Zeit der großen missionarischen Programme in der SAG, der Idee einer »Versöhnung« zwischen den Klassen und der emphatischen »Entdeckung der Wirklichkeit«. Damit beschränkte sich die Arbeit der SAG wieder auf kleinere Wirkungskreise; das Pathos der ersten zehn Jahre verschwand weitgehend in der vielbeschworenen »Kleinarbeit«. Die SAG wurde zunehmend realistisch, praktisch – und ansatzweise auch: politisch.70 Werner Picht, der schon in seinem 1913 erschienenen Buch über Toynbee Hall einen kritischen Blick auf die Settlementbewegung geworfen hatte, kam im Vergleich von Settlement und Volkshochschule »neuer Richtung« zu einem sehr interessanten Fazit. Scharfsichtig wie wenige erkannte er den missionarischen Führungsanspruch, der in der Konstellation der Settlements angelegt war. Von diesem bürgerlichen Führungsanspruch grenzte er die Volksbildungsbewegung scharf ab. Während die »Ethik des Settlements« auf dem »Verantwortungsgefühl bürgerlichen Führertums« basiere, versuche die Volkshochschule vielmehr »eine emanzipierte Arbeiterklasse zu eigener Führung tüchtig zu machen«. Insofern habe sie »eine bürgerliche Resignation zur Voraussetzung«. Und weiter, noch einmal resümierend, heißt es: »Der soziale Idealismus und das Settlement insbesondere sind Ausdruck der Selbstbesinnung der Oberschicht am Ende des

—————— 68 Elisabeth Sackermann, »Das SAG-Treffen Rheinland-Westfalen«, in: RMSAG Nr. 6

(November 1926), S. 5–6, hier S. 6. 69 Vgl. den Bericht von Hans Mühle, »Arbeitslosenkurse des Volkshochschulheims Ulmen-

hof in Berlin-Wilhelmshagen im ersten Halbjahr 1932«, in: NSAG Nr. 27 (September 1932), S. 26–31. Der auf dem Ulmenhof abgehaltene Kurs erinnert stark an die Methoden der Arbeitslagerbewegung, vgl. dazu Dudek, Erziehung durch Arbeit; ders., »Arbeitslagerbewegung«; Tuguntke, Demokratie und Bildung, S. 51–78; vgl. auch die Hinweise in: Wietschorke, »Pädagogische Arbeit«, S. 237–240. 70 Jenö Kurucz hat in diesem Zusammenhang von einer »situationsbedingten Nötigung zum Engagement« nach 1918 gesprochen. Die Intellektuellen seien nämlich plötzlich mit einer veränderten sozialen Tragweite ihrer »öffentlichen Weltauslegung« konfrontiert gewesen: »Nun galt es, konkret zu sein.« Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz, S. 55. Vgl. auch Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 257–261, dessen Darstellung sich auf Kurucz stützt. Die Wendung der SAG hin zur Politik ist demnach ganz wesentlich als Effekt einer fundamentalen gesellschafts- und intellektuellengeschichtlichen Entwicklung zu verstehen.

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Jahrhunderts der industriellen Revolution, die Volkshochschule Ausdruck des Aufstrebens der Arbeiterklasse am Anfang des Jahrhunderts der sozialen Revolution.«71 Übernimmt man Pichts Deutung, dann nahm die SAG in den 1920er Jahren mit ihrer Orientierung an der Volkshochschule Abschied vom »bürgerlichen Führertum« der alten Settlementbewegung und wandte sich zumindest ansatzweise einer emanzipatorischen und partizipatorischen Bildungsarbeit zu. In den Blick kam – ganz im Sinne der führenden Volkshochschultheoretiker der Zeit – eine »neue Bildung«, die der Akademiker genauso nötig habe wie der Arbeiter.72 Auf dem langen Weg der »Selbstbesinnung der Oberschicht« seit dem späten 19. Jahrhundert war damit eine neue Etappe erreicht: Die SAG wurde vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Prozesse des Ersten Weltkriegs und der 1920er Jahre, durch Veränderungen in der inneren Struktur des Settlement sowie durch fundamentale Lernprozesse im Umgang mit der Arbeiterschaft des Berliner Ostens zu einem Knotenpunkt sozialer Dienste und sozialpolitischer Initiativen, das mit dem Programm von 1911 nur noch wenig zu tun hatte.

Sozialismus und Christentum: Politische Neuorientierungen Was bei der Lektüre der Zeitschriften und Korrespondenzen der SAG in den 1920er Jahren besonders auffällt, ist deren allmähliche Öffnung gegenüber sozialdemokratischen und ganz allgemein politischen Positionen.73 Zwar wurde das Prinzip der Neutralität weiterhin eingehalten,74 allerdings konnte man sich den in der zunehmend fragmentierten politischen Kultur der Weimarer Republik geführten Debatten kaum entziehen; die Situation verlangte politische Positionierungen. Namentlich die Akademisch-Soziale Monatsschrift wurde nun zu einem relativ offenen Forum für sozialpolitische Debatten, die nahezu das gesamte Spektrum protestantischer Positionen abbildeten – vom radikalen Religiösen Sozialismus bis hin zu deutschnatio-

—————— 71 Picht, »Settlement und Volkshochschule«, S. 69. 72 Vgl. Rosenstock, »Das Dreigestirn der Bildung«, S. 75. 73 Vgl. dazu in aller Kürze Hegner, Die Settlementbewegung, S. 149–152. 74 Carl Mennicke schreibt im Rückblick auf die frühen 1920er Jahre, die SAG sei »in keiner

Weise parteimäßig gebunden« und »nicht einmal weltanschaulich […] festgelegt« gewesen. Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals, S. 105.

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nalen ständestaatlichen Positionen.75 Schon auf der Trieglaffer Konferenz des Jahres 1919 hatte Friedrich Rittelmeyer als Vertreter der SAG gefordert: »Augen und Herzen müssen uns aufgehen für die Arbeiterbewegung.«76 Siegmund-Schultze selbst würdigte 1920 die »innere Bedeutung des Sozialismus«, die von den früheren »Volksführern« und den »verblendeten Individualisten auf den Ministersesseln« nie erkannt worden sei.77 In Studienkreisen der SAG-Mitarbeiter begann man nun Marx zu lesen, um »die Arbeiter besser zu verstehen«.78 Und in einem Brief an einen der neumärkischen »Landfreunde« heißt es 1925, dass die SAG sich nicht nur um die »einzelne Menschenseele« zu kümmern habe, sondern ebenso daran arbeiten müsse, »die Gesamtverhältnisse zu ändern, d.h. also den sozialen Zustand nach seiner wirtschaftlichen wie nach seiner praktischen Seite ins Auge zu fassen«.79 Etwa seit Mitte der 1920er Jahre fand dann auch der vormals abgelehnte Terminus »Klasse« in der SAG allgemeine Verwendung und Akzeptanz.80 In Grundsatzartikeln für die 1929 erschienene SAG-Publikation Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt befassten sich Konrat Weymann und Willi Leisten mit der politischen Haltung der SAG;81 dabei zeigten sich beide sehr aufgeschlossen gegenüber dem Anliegen des »Klassenkampfes« – auch wenn sie sich mit konkreten Forderungen freilich eher bedeckt hielten. Im Hinblick auf die Frage nach einem Beitritt der SAG zu einer politischen Partei stellte Weymann – der 1933 zu Siegmund-Schultzes Nachfolger in der SAG-Leitung werden sollte – klar, dass dafür allenfalls

—————— 75 Zum theologischen Diskursfeld zwischen linken und rechten Positionen in der Weima-

rer Republik vgl. den anregenden Beitrag von Ruddies, »Flottierende Versatzstücke«. 76 »Die Arbeitskonferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost vom 16.–19. Sep-

tember 1919«, in: NSAG Nr. 13 (April 1920), S. 17–49, hier S. 21. 77 Friedrich Siegmund-Schultze, »Wer soll herrschen?« In: ASM 4. Jg. Heft 1/2 (April/Mai

1920), S. 1–12, hier S. 8. Bereits 1918 hatte er »die großartige Organisation der deutschen Arbeiterschaft« durch die Sozialdemokratie hervorgehoben. Friedrich SiegmundSchultze, »Das neue Deutschland«, in: ASM 2. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1918), S. 1–4, hier S. 3. 78 Hellmut Hotop an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. August 1921, in: EZA 51/S II c 25. 79 Friedrich Siegmund-Schultze an Landrat Lindenberg, 9. Juni 1925, in: EZA 51/S II c 25. 80 Belege dafür liefern z.B. Alfred de Quervain, »Der Klassenkampf«, in: ASM 8. Jg. Heft 10–12 (Januar–März 1925), S. 92–97, sowie die beiden Stellungnahmen von Werner Schmied und Alwin Brockmann unter dem Titel: »Das klassenbewusste Proletariat und das Bürgertum«, in: NN 11. Jg. Heft 12 (Dezember 1928), S. 209–214. 81 Weymann, »Soziale Arbeitsgemeinschaft und Politik«; Leisten, »Gedanken zum Klassenkampf«.

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die beiden sozialistischen Parteien in Frage kämen.82 Hermann Hublow stellte die alten Grundsätze der SAG in Frage, für ihn galt nicht mehr »überbrücken und versöhnen, sondern: überwinden und umgestalten!«83 Heinrich Hug schlug als »konkretes Ziel« der SAG-Männerabende »eine Erziehung zum klassenbewußten Arbeiter« vor.84 Und auch bei SiegmundSchultze selbst verband sich das Modell »integrativer Führung« nun zunehmend mit wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsatzforderungen: 1931 ging er explizit darauf ein, dass man über die innere Bereitschaft der Einzelnen zur »gemeinsamen Not« hinaus auch »die Formen der Wirtschaft ändern« müsse. Konkret dachte er an eine eine »Gemeinwirtschaft, die der Not der Zeit entspricht«, eine »Planwirtschaft […], in der die Interessen der Klassen ausgeglichen sind«.85 Hatte Siegmund-Schultze noch 1919 festgehalten, dass »für soziale Arbeit eine Berührung mit der Politik einer Beschmutzung gleichkomme«,86 so gehörten realpolitische Überlegungen nun zur Praxis der SAG mit hinzu; nur zwei Jahre später schrieb SiegmundSchultze in der »Eiche« bereits über die Ziele der SAG: »Überwindung des Klassenhasses bei Anerkennung des berechtigten Klassenkampfes«.87 Nicht zuletzt deswegen hatten sich viele »Landfreunde« von der SAG distanziert – etwa Gräfin Wilamowitz, die beklagte, »daß die Soziale Arbeitsgemeinschaft mit ihrem Leiter in religiöser Beziehung in liberales, in politi-

—————— 82 Weymann, »Soziale Arbeitsgemeinschaft und Politik«, S. 71. Der SAG-Student Otto

Arnholz etwa war tatsächlich SPD-Mitglied und wurde daher innerhalb der SAG anscheinend »der oppositionelle Otto« genannt, vgl. Otto Arnholz an Friedrich SiegmundSchultze, 7. März 1922, in: EZA 51/S II c 25. 83 Hermann Hublow, »Soziale Arbeitsgemeinschaft und Bodenreform«, in: ASM 4. Jg. Heft 3 (Juni 1920), S. 39–42, hier S. 40. 84 Heinrich Hug an Friedrich Siegmund-Schultze, 23. April 1929, in: EZA 51/S II e 4. Die Notwendigkeit des Klassenkampfes wird auch von Willi Krause aus Fürth betont: »Nur unter einer Bedingung kann sich jeder Proletarier des Bezirks, in dem die S.A.G. arbeitet, […] unsere Arbeit gefallen lassen: Wenn die S.A.G.ler Klassenkämpfer sind, die wissen, wie wenig sie im Augenblick tun.« Willi Krause an Friedrich Siegmund-Schultze, 23. Februar 1921, in: EZA 51/S II c 7,1. 85 Friedrich Siegmund-Schultze, »Die Not«, in: NSAG Nr. 26 (Dezember 1931), S. 1–3, hier S. 2. 86 Nach dem Diskussionsbericht in: »Die Arbeitskonferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost vom 16.-19. September 1919«, in: NSAG Nr. 13 (April 1920), S. 17– 49, hier S. 43. 87 [Friedrich Siegmund-Schultze], »Bericht über die IV. Allgemeine Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, S. 58.

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scher Beziehung in sozialdemokratisches Fahrwasser geraten sei«,88 oder Gräfin Zitzewitz, die ihr ganz direkt »Parteipolitik« vorwarf.89 Die Öffnung der SAG hin zur Sozialdemokratie lag – abgesehen von der Notwendigkeit des Arrangements mit einer etablierten politischen und gesellschaftlichen Größe – vor allem in drei Faktoren begründet, die eng miteinander zusammenhängen. Zum einen ging Siegmund-Schultzes Sozialethik mit ihrer Zielvorstellung einer »Sozialtheokratie«90 nach 1918 davon aus, dass die neue Gesellschaft nur durch eine neue Verbindung aus Sozialismus und Christentum herbeigeführt werden könne.91 Zweitens spielten in den frühen 1920er Jahren prominente Vertreter des »Religiösen Sozialismus« eine Rolle in der SAG – vor allem Carl Mennicke, aber auch andere wie Günther Dehn oder der Stettiner Pastor Gotthard Eberlein.92 Und drittens optierte Wenzel Holek, dessen Meinung in Berlin-Ost stets ein ganz besonderes Gewicht hatte, für die Sozialdemokratie, in der er bereits in den 1880er Jahren engagiert gewesen war. In einem 1926 erschienenen Aufsatz über »nationale Volksgemeinschaft« schrieb Holek: »Der Geist der Sozialdemokratie kommt vom Evangelium her, möge sie das zugeben oder nicht. Ihre geistige Einstellung zielt nicht nur auf die Erfüllung gewisser Mindestforderungen, sondern auf das Allerhöchste – auf die Verwirklichung einer brüderlichen Volksgemeinschaft.«93 Diese politische Linksorientierung der SAG, die sich aus Versatzstücken sozialistischer Utopie und theologischer Ethik sowie einem emphatischen Gemeinschaftsbegriff

—————— 88 Gräfin Wilamowitz an Friedrich Siegmund-Schultze, 25. Juli 1921, in: EZA 51/S II h 3. 89 Gräfin Zitzewitz an Friedrich Siegmund-Schultze, 9. April 1926, in: EZA 51/S II c 8,2. 90 Zu diesem Begriff im Werk Siegmund-Schultzes vgl. Grotefeld, Friedrich Siegmund-

Schultze, S. 65–71. 91 Vgl. dazu Siegmund-Schultze, Sozialismus und Christentum. Dort bezeichnet er »das Chris-

tentum als die seelische Erscheinung, die der ökonomischen Erscheinung des Sozialismus das rechte Leben einhauchen kann« und den »Sozialismus als die wirtschaftliche Erscheinung, mit der das Christentum sich verbinden muß, um seine volle Wirkungskraft zu erreichen«. Ebd., S. 25–26. 92 Zum 1919 gegründeten »Bund der Religiösen Sozialisten« vgl. Heimann, »Der Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands«; Peter, Der Bund der Religiösen Sozialisten in Berlin. Laut Heimann geht die Gründung eines »Bundes sozialistischer Kirchenfreunde«, aus dem kurz darauf der BRSD hervorgehen sollte, auf ein von Siegmund-Schultze angeregtes Treffen bei Friedrich Rittelmeyer zurück. Vgl. den Hinweis bei Heimann, »Der Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands«, S. 164–165. Konzise und pointierte Beiträge zur Ideengeschichte des Religiösen Sozialismus liefern zudem Nowak, »Religiöse Sozialisten – Deutsche Christen«, und Ward, Theology, Sociology, and Politics, S. 189–216. 93 Wenzel Holek, »Nationale Volksgemeinschaft«, in: ASM 9. Jg. Heft 10–12 (Januar–März 1926), S. 107–117, hier S. 116.

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speiste, blieb indessen reichlich unkonkret, so dass wohl William R. Ward zuzustimmen ist, wenn er über die religiös-sozialistischen Strömungen der Zeit sagt: »The attempt to combine the notion of the class-struggle with that of the Volksgemeinschaft was no doubt irrational.«94

Lauenstein: Identitätssuche und sozialpolitisches Engagement Wichtige Ereignisse für die programmatische Neuorientierung der SAG waren die Arbeitstagungen auf Burg Lauenstein in den Jahren 1925 und 1928.95 Die erste dieser Tagungen fand als »Zusammenkunft zur Beratung ethisch-religiöser Fragen« vom 6. bis zum 7. Juni 1925 statt und diente explizit nicht der Debatte über »Spezialforschungen«, sondern dazu, »weite Kreise der deutschen Jugend […] zu einer Fühlungnahme und ersten Anfängen gemeinsamer Aufbauarbeit zusammenzuführen«.96 So sollte die Tagung Jugendorganisationen verschiedener Couleur an einen Tisch bringen und zeigen, »daß Brücken zu schlagen sind zwischen rechts und links«.97 Der Bericht über diese erste Lauensteiner Tagung nimmt eine ganze Ausgabe der Akademisch-Sozialen Monatsschrift ein; die dortigen Vorträge und Diskussionen betrafen vor allem grundsätzliche Fragen der Settlementarbeit – von den »Beziehungen der Geschlechter« und dem »Problem der sozialen Schichtungen und Kämpfe« über die »internationalen Beziehungen der Völker« bis hin zur »Alkoholfrage«. Den Ausgangspunkt bildete wieder einmal eine generalisierende Kulturkritik und die »Schau eines Neuen Bundes«, eines Zusammenlebens, wie es – so SiegmundSchultze in seiner Eröffnungsrede – bereits »ein Mal für wenige begonnen worden« sei.98 Damit war unverkennbar die SAG selbst gemeint, und so war Lauenstein eine willkommene Gelegenheit, auch den »SAG-Geist« zu beschwören und einen weiten Kreis von Freunden auf die gemeinsame Sache zu verpflichten. Gerade der Ort Lauenstein hat für dieses Vorhaben Indiziencharakter. Denn nicht zufällig dürfte man sich an genau dem Ort

—————— 94 Ward, Theology, Sociology, and Politics, S. 200. 95 Vgl. das Material zu dieser Tagung in: EZA 626/II 9, 18. 96 »Die Zusammenkunft zur Beratung sozial-ethischer Fragen«, in: ASM 9. Jg. Heft 1–6

(April–September 1925), S. 1–73, hier S. 1. 97 Mary Luce, »Der ›Jungdeutsche Orden‹ und die Lauenstein-Tagung«, in: ASM 9. Jg. Heft

7–9 (Oktober–Dezember 1925), S. 101–103, hier S. 101. 98 »Die Zusammenkunft zur Beratung sozial-ethischer Fragen«, in: ASM 9. Jg. Heft 1–6

(April–September 1925), S. 1–73, hier S. 1.

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versammelt haben, wo im Frühjahr und im Herbst 1917 die zwei berühmten, von Eugen Diederichs einberufenen »Kulturtagungen« stattgefunden hatten. Führende Intellektuelle diskutierten damals über »Sinn und Aufgabe unserer Zeit« und – bezeichnender noch – über das »Führerproblem im Staate und in der Kultur«.99 Als »Kerngruppe« trat die Freideutsche Jugend mit ihren Sprechern Knud Ahlborn und Werner Mahrholz auf; die Debatte wurde vor allem von den Hauptkontrahenten Max Weber und Max Maurenbrecher bestimmt.100 Einig war man sich zwar in der Forderung nach moralischer Erneuerung des politischen Lebens, ansonsten aber waren die einzelnen Standpunkte kaum noch vereinbar. »Lauenstein 1917« wurde somit zu einem Symbol für die schwierige und konfliktreiche Suche der »Gebildeten« nach einer Neubestimmung ihrer gesellschaftlichen Rolle; die Lauensteiner Tagungen der SAG knüpften – zumal Diederichs in persönlichem Kontakt mit der SAG stand – an diese Debatten an. Innerhalb der SAG dokumentiert Lauenstein aber auch die neue Tendenz zu sozialpolitischem Engagement. 1925 sprachen dort neben Siegmund-Schultze und Holek unter anderem der Direktor des Berliner Wohnungsamtes de Laporte, der Alkoholexperte Immanuel Gonser aus Berlin sowie die aus den Kreisen der Religiösen Sozialisten kommenden Professoren Eduard Heimann aus Hamburg und Paul Althaus aus Rostock.101 In diesem Kreis wurde beschlossen, seitens der SAG und des »Lauensteiner Kreises« für eine Erweiterung des Jugendschutzes einzutreten: »für die höchstens achtstündige Arbeitszeit der Jugendlichen, für genügende Arbeitspausen, für einen zusammenhängenden Erholungsurlaub« und andere Forderungen. Gleichzeitig wurden erste Pläne zu einer SAG-Ausstellung über »Die Freizeit der Jugend« entwickelt, in der gezeigt werden sollte »wie die geforderte Freizeit nutzbringend gestaltet werden kann«.102 Eine

—————— 99 Zu den Lauensteiner Kulturtagungen vgl. Hübinger, »›Journalist‹ und ›Literat‹«, S. 107–

110; ders., »Eugen Diederichs’ Bemühungen«, sowie den editorischen Bericht in: Weber, Gesamtausgabe, Bd. I/15, S. 701–704. 100 Hübinger, »›Journalist‹ und ›Literat‹«, S. 107–109. 101 Eduard Heimann war Professor für Theoretische und Praktische Volkswirtschaftslehre und ständiger Mitarbeiter der Blätter für Religiösen Sozialismus, Paul Althaus Professor für Systematische Theologie und Autor einer Monographie über Religiösen Sozialismus; Immanuel Gonser war Mediziner und Herausgeber der Zeitschrift »Die Alkoholfrage«. Vgl. die entsprechenden Einträge in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender auf das Jahr 1926, dazu auch Peter, Der Bund der Religiösen Sozialisten in Berlin. 102 Einladungsschreiben zur konstituierenden Sitzung eines Ausschusses zur Vorbereitung der Ausstellung, zit. nach Friedrich Siegmund-Schultze, »Ein Nachwort zur Lauensteiner Tagung«, in: ASM 9. Jg. Heft 7–9 (Oktober–Dezember 1925), S. 75–79, hier S. 78. Zur

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Gruppe von SAGlern, darunter Maxa Harden, Tochter des Schriftstellers und Publizisten Maximilian Harden,103 führte zu diesem Thema eine umfangreiche Untersuchung durch: Fragebögen und Schulaufsätze wurden ausgewertet, arbeitsbezogene Faktoren wie Arbeits- und Pausenzeiten sowie Arbeitswege statistisch erfasst.104 In diesen sozialpolitischen Forderungen wie den Ausstellungsplänen artikulierte sich die Öffnung der SAG seit Mitte der 1920er Jahre: Man ging stärker an die Öffentlichkeit; die regelrechte Konferenz- und Tagungswut der SAG zeigt einen Verein, der sich seiner eigenen Grundlagen im Innern nicht mehr ganz sicher war, der aber andererseits nach neuen Vernetzungen nach außen suchte, nach Plattformen gleichgesinnter Kreise, um der Fragmentierung der Gesellschaft neue Allianzen entgegenzusetzen. Das in Lauenstein zunächst liegen gebliebene Thema »Sexualethik« wurde im Oktober 1926 mit einer eigenen Tagung auf der Elgersburg wieder aufgegriffen, und zwar unter Beteiligung von insgesamt 133 Personen, darunter 30 Theologen, 10 Mediziner, 22 Pädagogen, 17 Wohlfahrtspflegerinnen, Fürsorgerinnen und Sozialbeamten sowie vier Krankenschwestern. Darüber hinaus waren zahlreiche Organisationen beteiligt, was im Hinblick auf den Referenzrahmen der SAG in den 1920er Jahren nicht uninteressant ist. Vertreten waren in erster Linie christliche Jugendorganisationen: Herrnhuter Brüdergemeine und Innere Mission, Quickborn und Großdeutsche Jugend, Schwarzburgbund und Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV), Christlicher Verein Junger Männer (CVJM), Bibelkreise, Köngener Bund, Neuwerk, Bund Deutscher Jugendvereine (BDJ) und weitere Bünde.105 Der »ethischen Apathie« und dem »herbstlichen Ab-

—————— Freizeitausstellung vgl. auch das Aktenmaterial in: EZA 51/S II g 5; das in Zusammenhang mit der Ausstellung entwickelte Forschungsprogramm verdeutlicht z.B. das Manuskript »Wie verbringt die Mainzer Jugend ihre Freizeit?« 103 In der Literatur zu Maximilian Harden wird dessen einzige Tochter Maxa (=Maximiliane) meist nur am Rande erwähnt. Vgl. etwa die Notiz in: Weller, Maximilian Harden, S. 58. Übrigens hatte ein Onkel Maxa Hardens, der Bankdirektor Geheimrat Witting, als ein »stark sozial interessierter Mann« dem Moabiter Pastor Günther Dehn einen größeren Geldbetrag für seine zeitgleich mit der SAG begründete Jugendarbeit übermittelt. Vgl. Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, S. 186. 104 Maxa Harden, »Die Freizeit der Jugendlichen«, in: ASM 9. Jg. Heft 7–9 (Oktober– Dezember 1925), S. 79–93. 105 Justus Ferdinand Laun, »Wege zu neuer Sexualethik. Sammelbericht über die 2. Tagung des Lauensteiner Kreises auf der Elgersburg vom 5.–12. Oktober 1926«, in: ASM 10. Jg. Heft 7–9 (Oktober–Dezember 1926), S. 73–102, hier S. 73.

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sterben« sittlicher Kräfte wollte man »ein erfrischendes Brausen und Wetterleuchten aus lebendigen Teilen der Jugend« entgegensetzen.106 Eine weitere vom »Lauensteiner Kreis« veranstaltete Tagung fand auf der Arensburg bei Steinbergen statt, wo man sich über die Möglichkeiten einer gemeinsamen »Lebensgestaltung aus persönlichem Erleben und Verantwortung für das Volksganze« verständigen wollte.107 Doch schon das anspruchsvolle und kulturphilosophisch abgehobene Einführungsreferat von Kurt Plachte wies geradezu in die entgegengesetzte Richtung und wurde von Siegmund-Schultze in der Diskussion kritisiert: Die Sprache des Vortrags sei »der Humanitätsepoche entnommen und dem Arbeiter durchaus fremd«.108 In den Arensburger Debatten stand dann wieder einmal die Frage nach »Masse und Führung« im Vordergrund; zahlreiche Formulierungen belegen auch hier wieder die Idee einer »integrativen Führung«, die aber auch in Frage gestellt – oder in gewisser Weise radikalisiert – wurde. So meinte Ewald Oberschelp, die »formvollendete Persönlichkeit« sei nicht mehr »strukturbildend«, denn: »Wir stehen im Zeichen der Masse. Die Masse muss man versuchen, höher zu ziehen oder vielmehr emporzudrängen, dadurch dass man sich nicht mehr mittenhinein, sondern unter das Volk stellt. […] Ich lehne die Forderung einer geistigen Führerschaft der Gebildeten ab, das ist Herablassung. Der Gebildete soll in der Masse wirken, nicht als Führer, der sich über oder vor sie stellt.«109

Kurt Plachte verteidigte daraufhin seine Ausführungen über »Führerschaft« und gab zu bedenken, »dass Führer zuerst und unter allen Umständen be-

—————— 106 Hellmut Hotop, »Zur Elgersburger Tagung über Fragen der Sexualethik«, in: ASM 10.

Jg. Heft 4–6 (Juli–September 1926), S. 61–63, hier S. 61–62. 107 Vgl. »Persönliche Einladung zu einer Zusammenkunft zur Beratung sozialethischer Fra-

gen auf der Arensburg b. Steinbergen (Lippe)«, in: EZA 626/II9, 18. Als knappen Tagungsbericht vgl. Bernhard Schmaltz, »III. Konferenz des Lauensteiner Kreises in Arensburg-Steinbergen«, in: RMSAG Nr. 18 (November 1927), S. 2–3. In der Diskussion über konkrete Formen einer solchen gemeinsamen »Lebensgestaltung« dominierten anthroposophische, tanz- und musikpädagogische Ansätze; vgl. die Vorträge von Gottfried Haaß-Berkow über »Neue Wege für das Bühnenspiel«, von Walther Hensel über »Die neue Musik« und von Elfriede Ritter-Cario zur Frage »Welche Bedeutung hat der Volkstanz für die Gestaltung des heutigen Lebens?«. Umrahmt war die Veranstaltung von dem Bühnenspiel »Der Totentanz«, einer »Morgenfeier« und der Schlussversammlung. Vgl. Programme zur Arensburger Tagung in: EZA 626/II 9, 18. 108 Protokoll der Arensburger Tagung vom 3.9.–5.10. 1927 in Steinbergen/Weser, S. 6, in: EZA 626/II 9, 18. 109 Ebd., S. 7–8.

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deutet die Kraft des Sicheinfügens«.110 Oder – noch deutlicher: »Führer ist der, der in unsrer Mitte steht, durch den wir uns als Kreis erheben.«111 Die Arensburger Tagung zeigt, dass das Thema der Führerschaft der Gebildeten nach wie vor auf der Tagesordnung stand; die Tatsache, dass fast alle der seitens der SAG angeregten Konferenzen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf Burgen stattfanden – auf Burg Lauenstein, der Elgersburg, der Arensburg, macht das Thema der Elitenbildung noch auf einer anderen, unterschwelligen Ebene präsent. Im Mai 1928 fand schließlich ein zweites Treffen auf Burg Lauenstein statt; diesmal in einem eher geschlossenen und auf die engeren SAG-Mitarbeiter beschränkten Kreis. Schon Anfang 1928 hatte Siegmund-Schultze seinen Mitarbeitern einen Fragenkatalog vorgelegt, an dem sich die Diskussionen in Lauenstein orientieren sollten und der den tiefgreifenden Wandel des politischen Profils der Settlementarbeit spiegelt. Dieser Katalog umfasste zehn Punkte, die die Orientierungssuche der SAG in den 1920er Jahren dokumentieren, dabei aber auch zeigen, wie sehr man sich in zentralen Fragen doch weiterbewegt hatte. Darunter waren Fragen nach der Haltung der SAG zur öffentlichen Wohlfahrtspflege, zur Volksbildungsarbeit, zur Religion, zur Sozialforschung und zur wirtschaftlichen Lage; zudem fragte Siegmund-Schultze offen nach der »politischen Aufgabe« der SAG. Besonders bezeichnend aber war folgende Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung: »Soll die soziale Arbeitsgemeinschaft a) vom Lager der Gebildeten her die sozialen Fragen anfassen? b) sich einer proletarischen Partei anschließen? c) eine gemeinsame Front zu erkämpfen suchen?«112 Schon die Formulierung dieser Frage verdeutlicht die tiefgreifende Entwicklung, die das Programm der SAG seit ihren Anfängen im späten Kaiserreich durchgemacht hatte; sie zeigt, dass man sich in der Bestimmung des eigenen sozialen Standorts so unsicher war wie noch nie zuvor. In Lauenstein wurden diese zehn Fragen anhand einer Reihe von Referaten erörtert; es sprachen August Oswalt über die Aufgaben der SAG innerhalb der Wohlfahrtspflege, Erich Gramm über die Erziehungsarbeit der SAG, Werner Krukenberg über das Verhältnis zur Volksbildungsarbeit, Wenzel Holek über wirtschaftliche Fragen, Albrecht Bähnisch über das politische Profil der SAG, Maria Siegmund-Schultze über die »Gemein-

—————— 110 Ebd., S. 8. 111 Ebd., S. 19. 112 Friedrich Siegmund-Schultze, »Zur Frage der Großstadtsiedlung«, in: NN 11. Jg. Heft 3

(März 1928), S. 33–38, hier S. 37.

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schaftsbildung« in der SAG sowie wiederum Erich Gramm über die Frage nach dem religiösen Standpunkt der Mitarbeiter.113 Kurz darauf wurde noch ein weiterer Anlauf zur Klärung der programmatischen Grundlagen unternommen: Zur Vorbereitung einer Tagung über »Großstadtsiedlungen« wurden abermals kurze Grundsatztexte verfasst; Maria SiegmundSchultze und Wenzel Holek griffen dabei auf ihre Lauensteiner Ausführungen zurück, andere Autoren aus der neuen Generation der SAG kamen mit Positionspapieren hinzu: Maxa Harden und Eberhard Sadler behandelten die Erziehungsfragen, Richard Rahn befasste sich mit der Volksbildungs-, Gerhard Spinner mit der Forschungsarbeit der SAG, hinzu kamen Beiträge von Charlotte Friedrich und Ewald Oberschelp über religiöse Fragen sowie von Ottoheinz von der Gablentz114 und Hildegard Krause zur Politik.115 Diese Tagung war zwar von langer Hand vorbereitet worden, konnte aber – nachdem sie einmal verschoben werden musste – erst im Frühjar 1929 im »Haus des Volkes« in Probstzella stattfinden. Dort wiederum waren Referate zur Geschichte der Settlementbewegung und zu den bereits in Lauenstein besprochenen Grundsatzfragen zu hören. Wiederum meldeten sich neue Mitarbeiter und Freunde mit Beiträgen zu Wort, darunter Katherine C. Dewar, Alfred Mann, Konrat Weymann, Willi Leisten und Hermann Schafft. Den Part seines Bruders, nämlich das Referat über

—————— 113 Vgl. Adda Albrecht, »Die Mitarbeiterzusammenkunft der Sozialen Arbeitsgemeinschaft

auf Burg Lauenstein vom 22.–26. Mai 1928«, in: NN 11. Jg. Heft 7 (Juli 1928), S. 114– 122. 114 Es handelt sich hier um den Staatswissenschaftler Otto Heinrich von der Gablentz, der von 1955 bis zu seiner Emeritierung 1966 Direktor der Deutschen Hochschule für Politik war. Gablentz und Carl Mennicke, seinerseits schon in den 1920er Jahren Dozent an der Hochschule für Politik, kannten sich wohl schon aus dem SAG-Kreis; 1930 verfassten sie gemeinsam eine Deutsche Berufskunde. Vgl. Bernsdorf/Knospe (Hg.), Internationales Soziologenlexikon, S. 266–267. Gablentz leitete im Rahmen der SAG-Jugendhochschule im Wintersemester 1924/25 eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Der deutsche Staat im 19. Jahrhundert«, im Wintersemester 1925/26 einen Kurs über »Deutsche Volkskunde«. Vgl. dazu Hans Pflug, »Die Jugendhochschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft. Bericht über das Winterhalbjahr 1924/25«, in: ASM 9. Jg. Heft 10–12 (Januar-März 1926), S. 125–127; Bernhard Schmaltz, »Die Jugendhochschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft. Bericht über das Winterhalbjahr 1925/26«, in: ASM 10. Jg. Heft 4– 6 (Juli–September 1926), S. 69–70; Otto Heinrich von der Gablentz, »Vom VolkskundeKursus der Jugendhochschule«, in: ASM 10. Jg. Heft 4–6 (Juli–September 1926), S. 70. 115 Vgl. die kurzen Beiträge in: »Zur Vorbereitung der Konferenz über ›Großstadtsiedlungen‹«, in: ASM 12. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1929), S. 1–22.

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Jugenderziehung, übernahm diesmal Hermann Gramm.116 Aus diesen Beiträgen der Jahre 1928 und 1929 wurde schließlich ein programmatischer Sammelband zusammengestellt, der 1929 unter dem Titel Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt erschien.117 Die Tagungen in Lauenstein und Probstzella, die zahlreichen vorbereitenden Beiträge und schließlich die Texte des 1929 zusammengestellten Sammelbandes der SAG orientierten sich allesamt an den von SiegmundSchultze formulierten zehn Fragen. Sie machen vor allem zweierlei deutlich: Zum einen befand sich die SAG auch Ende der 1920er Jahre noch in einer Phase intensiver Identitätssuche. Die alte Programmatik von 1911 war kaum noch aufrecht zu erhalten; zugleich standen Entscheidungen an, welchen der zahllosen reformerischen, politischen und bzw. oder religiösen Strömungen man sich anschließen sollte. Zum anderen dokumentieren die Beiträge aus dieser Zeit auch die Pluralität und Diversität der Positionen innerhalb der SAG. So musste Siegmund-Schultze Anfang 1929 über die »Stellung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« zugeben: »Gibt es das überhaupt? Kaum auf irgendeinem Gebiet.«118 Immer mehr wurde die SAG zu einem Sammelbecken unterschiedlicher Ansätze, von einem religiös eingefärbten und immer wieder auf den Mythos der erste Jahre rekurrierenden »SAG-Geist« eher schwach zusammengehalten.119 Für diese Situa-

—————— 116 Die in Probstzella gehaltenen Referate wurden in zwei Ausgaben der Neuen Nachbarschaft

abgedruckt: vgl. NN 12. Jg. Heft 5/6 (Mai/Juni 1929), S. 81–138, und NN 12. Jg. Heft 7–9 (Juli–September 1929), S. 141–186. 117 Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Hg.), Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. 118 Einleitungsworte in: »Zur Vorbereitung der Konferenz über ›Großstadtsiedlungen‹«, in: ASM 12. Jg. Heft 1/2 (Januar/Februar 1929), S. 1–22, hier S. 2. 119 Einen anschaulichen Überblick über Spektrum und Referenzrahmen der SAG Mitte der 1920er Jahre erhält man anhand einer Liste der in Berlin-Ost – also in der SAG und bei der Redaktion der von Siegmund-Schultze herausgegebenen Zeitschrift Die Eiche – eingehenden Periodika. Für das Jahr 1925 werden genannt: Der Ruf, Pflugschar, FührerKorrespondenz, Junge Menschen, Junge Gemeinde, Der Rufer, Der Gralsbote, Jungsozialistische Blätter, Arbeiterjugend, Die Junge Garde, Ratgeber für Jugendvereinigungen, Neuwerk, Archiv für Erwachsenenbildung, Das Werdende Zeitalter, Die Hilfe, Die Furche, Mitteilungen zur Förderung einer deutschen christlichen Studentenbewegung, Blätter der Volkshochschule Thüringen, Ethische Kultur, Kunstwart, Werkland, Die Tat, Deutsches Volkstum, Der Türmer, Auf der Wacht, Die Neue Generation, Christliches Volksblatt, Theologische Blätter, Die Christliche Welt, Werden und Wirken, Auf der Warte, Zwischen den Zeiten, Christentum und Wirklichkeit, Christlich-Soziale Blätter, Der Wahrheitszeuge, Das Evangelische Deutschland, Evangelischer Pressedienst, Mutiges Christentum, Herrnhut, Die Wartburg, Der Orient, Die Innere Mission im Evangelischen Deutschland, Neue Allgemeine Missionszeitschrift, Der Hochweg, Die Evangelische Diaspora, Berliner Missionsberichte, Der Evangelist, Mitteilungen für die Freunde des Quäkertums in Deutschland,

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tion ist bezeichnend, dass man nun auch explizit die Formeln in Frage stellte, mit denen das Unternehmen SAG einst begonnen hatte: Eine Tagungsteilnehmerin aus Dresden äußerte sich sehr erleichtert über die »Lauensteiner Feststellung, ›daß eine Überbrückung der Gegensätze nicht mehr angestrebt werden kann‹«.120 In seiner Antwort auf diesen Brief schrieb Siegmund-Schultze nun über den Überbrückungsgedanken: »Man kann sagen, daß es sich bei einer solchen Terminologie immer nur um ein sehr oberflächliches Verständnis der Sozialen Arbeitsgemeinschaft handelt.« Er selbst habe »seit den frühesten Zeiten gewarnt, unsere Arbeit unter diesen Worten zu begreifen. Es ist schön, dass das jetzt auch in weiteren Kreisen unserer Freunde klar wird.«121 Diese Distanzierung ist hochbedeutsam. Sie verrät einiges darüber, dass die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Weimarer Republik alles andere als spurlos am Programm der SAG vorbeigegangen ist. Auch wenn ihr Gründer und Leiter es angeblich schon immer gesagt hatte: Die Absage an die Metaphorik von »oben« und »unten«, von Kondeszendenz und Überbrückung markiert eine neue Epoche in der Geschichte der SAG.122 Den Begriff re-

—————— Stimmen der Zeit, Alt-Katholisches Volksblatt, Die Gesellschaft, Die Menschheit, Sozialistische Monatshefte, Die Internationale Gewerkschaftsbewegung, Mitteilungen der Deutschen Friedensgesellschaft, Völkerbundfragen, Die Friedenswarte, Die Kriegsschuldfrage, Der Weg zur Freiheit, Finanzpolitische Korrespondenz, Der Heimatdienst, Die Deutsche Nation, Archiv für Politik und Geschichte, Blätter des Deutschen Roten Kreuzes, Not und Hilfe. Anlage zum Brief Friedrich Siegmund-Schultze an Basil J. Mathews, 5. Februar 1925, in: EZA 51/S II e 17. 120 Agnes Martens-Edelmann an Friedrich Siegmund-Schultze, 5. August 1929, in: EZA 51/S II e 3. 121 Friedrich Siegmund-Schultze an Agnes Martens-Edelmann, 15. August 1929, in: EZA 51/S II e 3. 122 Eine Begebenheit – eigentlich kaum mehr als eine Anekdote – ist für den Abschied vom Überbrückungsgedanken äußerst signifikant. In den Jahren vor 1914 hatte SiegmundSchultze mehrfach die Metapher eines Ozeanriesen mit seinen verschiedenen Decks benutzt, um die Klassengesellschaft zu beschreiben; vgl. die beiden Texte SiegmundSchultze, »Die soziale Frage«, und ders., »Arbeiter und Staatskirche«, in: NSAG Nr. 2 (April 1914), S. 26–27. Nun, im Jahr 1932, plante Siegmund-Schultze, eine Konferenz für Politische Ethik mit einer Charterreise auf dem Vergnügungsdampfer »Oceana« zu verbinden. Obwohl diese Reise wegen der finanziell angespannten Situation der Zeit nicht zustande kam, zeigt er doch, wie wenig man überhaupt noch über die Metaphorik von »oben und unten« nachdachte. Ein Ausflug der SAG-Mitarbeiter auf einem Luxusschiff: Darin ist ein sinnfälliger Ausdruck für das Scheitern der SAG und ihren Rückzug in interne Debatten und Zirkel zu sehen. Vgl. die Korrespondenz zwischen Friedrich Siegmund-Schultze und der »Hamburg-Amerika-Linie«, Oktober-Dezember 1932, in: EZA 51/S II e 3.

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sidents benutzte man nach dem Krieg kaum noch,123 auch wenn nach wie vor zahlreiche Studenten ein Zimmer in Berlin-Ost bezogen, um in der SAG mitzuhelfen. Das Profil der SAG als »Settlement« im Sinne der Ansiedlung in einem fremden Land verblasste zusehends, 1928 gab Siegmund-Schultze sogar zu, die »Eigenart« der SAG sei »nicht mehr so bedeutsam wie in früheren Zeiten«, als die Mitarbeiter »irgendwie eine stärkere Mission fühlten, als das jetzt manchmal der Fall ist«.124 Und in einem späteren Rückblick hat Siegmund-Schultze eingestanden, dass ihm um 1926 herum »sicher zu werden begann, dass unser Kampf um eine deutsche Volksgemeinschaft auf christlicher Grundlage nicht zum Ziele führte, weil die nächstberufenen Kreise des deutschen Volkes dazu nicht bereit waren«.125 Während also die Trieglaffer Tagungen für die Neuformierung der SAG und seiner Freunde aus dem ostelbischen Landadel nach 1918 stehen, dokumentieren die Lauensteiner Tagungen ab 1925 den Abschied der SAG von alten Konzepten und ihre Politisierung im Hinblick auf eine breite Allianz für bestimmte sozialethische Grundsatzforderungen. In den Vordergrund rückten die »Kleinarbeit« in Sozialpolitik und Volksbildung und eine neue Religiosität im Sinne des »Religiösen Sozialismus«. Während die konkrete soziale Arbeit quantitativ eher stagnierte als expandierte, suchte man zunehmend Foren der Zusammenarbeit, um – wie es über Lauenstein 1925 geheißen hatte – gleichgesinnte Kreise zu »gemeinsamer Aufbauarbeit« zusammenzuführen. So besuchten Mitarbeiter der SAG die ab 1922 stattfindenden Internationalen Settlement-Konferenzen, auf denen es zu Austausch und Kooperation zwischen nationalen Traditionen der Settlementarbeit kam.126 Damit stand der Netzwerkgedanke in den späten

—————— 123 Vgl. etwa die Akten zu den Mitarbeitern in EZA 51/S II c 20–26, in denen der Begriff

residents nur für den Zeitraum 1911–1914 verwendet wird. Ab 1914 werden dort alle Mitarbeiter, sowieit sie nicht fest in der SAG angestellt waren, als non-residents bezeichnet. 124 Friedrich Siegmund-Schultze an Hans Windekilde Jannasch, 8. Dezember 1928, in: EZA 51/S II c 26. 125 »Grusswort von F. Siegmund-Schultze« an die SAG, ca. 1936, Manuskript S. 3, in: EZA 626/27. 126 Vgl. Hermann Gramm, »Eindrücke von der ›Internationalen Settlementskonferenz‹« in London 1922, in: ASM 6. Jg. Heft 5/6 (August/September 1922), S. 69–78; Lies Benzler, »Die 2. Internationale Settlement-Konferenz in Paris vom 1.–5. Juli 1926«, in: ASM 10. Jg. Heft 4–6 (Juli–September 1926), S. 43–61 und ASM 10. Jg. Heft 7–9 (Oktober–Dezember 1926), S. 102–112; Richard Rahn, »Die zweite internationale Jugendsettlementtagung«, in: NN 11. Jg. Heft 10/11 (Oktober/November 1928), S. 169–178; Emil Fuchs, »Die dritte internationale Settlement-Konferenz zu Amersfoort

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1920er Jahren stärker im Mittelpunkt der SAG-Arbeit; eine unübersehbare Fülle von Anfragen und Gesuchen an die SAG dokumentiert, dass BerlinOst damals mehr denn je als Knotenpunkt und Vermittlungsstelle für soziales Engagement im weitesten Sinne – nicht zuletzt auch für Arbeitsstellen in diesem Bereich – gesehen und genutzt wurde.127 Die Bandbreite ihrer Kontakte und Verbindungen auf nationaler und internationaler Ebene ist schlichtweg erstaunlich. Im Innern aber hat sich die SAG im Laufe der 1920er Jahre von einem tendenziell christlich-liberalen und antisozialdemokratisch eingestellten Verein zu einem Konglomerat verschiedener politischer Orientierungen gewandelt, das Impulse aus klassisch-liberalem Sozialprotestantismus, Religiösem Sozialismus und Volksbildungsarbeit der »Neuen Richtung« vereinte. Diese Unklarheit der politischen Haltung wurde teilweise heftig kritisiert, etwa von Werner Krukenberg, der laut Erich Gramm der SAG vorwarf: »Nichts nehmen wir ernst, wir spielen mit dem Sozialismus, wir spielen mit dem Christentum.«128 Insgesamt aber entwickelte sich die SAG zu einem »linken Verein«, als der die SAG in der Öffentlichkeit auch vielfach wahrgenommen wurde.129 Die konkreten Erfahrungen des »wirklichen Lebens« im Kontakt mit der Arbeiterschaft des Berliner Ostens hatten sich damit auch in einem politischen Lernprozess niedergeschlagen.

Epilog: Die letzten sieben Jahre der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Mitte und Ende der 1920er Jahre flossen durchschnittlich etwa 12.000 Mark an Jahresbeiträgen der Mitglieder und Freunde in die Kassen der SAG; dazu kamen in geringerem Umfang öffentliche Gelder und einzelne

—————— (Holland) 27. bis 31. August 1929«, in: NN 12. Jg. Heft 10 (Oktober 1929), S. 197–202; Alix Westerkamp, »IV. Internationale Settlement-Konferenz«, in: NSAG Nr. 27 (September 1932), S. 2–13; Renate Lepsius, »Die Fünfte internationale Settlementskonferenz«, in: AASAG Nr. 3 (November 1936), S. 27–30. Ab Heft 1 des 13. Jahrgangs (Januar 1930) erschien in der Neuen Nachbarschaft eine Rubrik »Aus der Settlementbewegung«, die ebenfalls die Tendenz zur internationalen Vernetzung und das Selbstverständnis als Bewegung unterstreicht. 127 Vgl. die umfangreichen Akten in: EZA 51/S II e 17–22. 128 Vgl. Erich Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. August 1922, in: EZA 51/S II e 1. 129 Vgl. Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, S. 123.

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Spenden.130 Angesichts der hohen Ausgaben für Gehälter und Mieten reichten diese Beträge keineswegs aus, um die Arbeit der SAG auf solider Basis sicherzustellen – geschweige denn, um sie weiter auszudehnen. Bereits gegen Ende der 1920er Jahre musste Erich Gramm als Kassier der SAG eine finanziell »sehr ernste Lage« feststellen.131 Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 kündigte sich schließlich das Ende der sozialen Arbeit im Berliner Osten an. Im Februar 1933 erschien in den Nachrichten eine erste Stellungnahme Siegmund-Schultzes zu den Ereignissen des 30. Januar 1933. Dort zeigte er sich noch um eine sehr zurückhaltende Beurteilung Hitlers und der Nationalsozialisten bemüht und wies die Arbeiter von Berlin-Ost darauf hin, dass sie der neuen Regierung Hitler/Papen »trotz aller begründeten Besorgnisse […] die Chance geben müssen, ihren Versuch durchzuführen«.132 Nachdem im Juni noch einmal ein langer Beitrag zu den »alten

—————— 130 Angaben nach Erich Gramm, »Kassenbericht nach dem Abschluß für 1929«, in: NSAG

Nr. 24 (Juni 1930), S. 14–17. 131 Erich Gramm, »Zur Finanzfrage«, in: NSAG Nr. 23 (Dezember 1929), S. 7–9, hier S. 8. 132 Friedrich Siegmund-Schultze, »Aus Berlin-Ost«, in: NSAG Nr. 28 (Februar 1933), S. 1–

3, hier S. 1. Vgl. dazu auch die ausführliche Auseinandersetzung mit den Erfolgen der Nationalsozialisten in einem Aufsatz Siegmund-Schultzes vom Sommer 1932, wo es heißt: »Bis zu dem Wunsch, daß versucht werden sollte, ein einiges starkes Volk zu schaffen, empfinden wir die Gedanken und Pläne begeisterter junger Nationalsozialisten in voller Übereinstimmung mit den unsrigen. Aber die Soziale Arbeitsgemeinschaft hat gerade erst an dem Punkte eingesetzt, an dem [die] Schwierigkeit jenes Versuches uns aufgegangen war. Die Frage, die sich uns stellte, war doch die: Wie kann man ein Proletariat, das durch die Schuld der Gesellschaft den Heimatboden unter den Füßen verloren hatte, wieder auf diesen Boden stellen? Durch Gewalt? Durch Propaganda? Durch Kampf auf Tod und Leben?«. Manuskript des Aufsatzes von Siegmund-Schultze, Die politische Lage, in: EZA 626/II 29,19. Interessanterweise ist das Entgegenkommen gegenüber dem Nationalsozialismus in der Druckfassung dieses Aufsatzes wieder zurückgenommen worden. Vgl. die entsprechende Stelle in: [Friedrich Siegmund-Schultze], »Die politische Lage, von Berlin-Ost aus gesehen«, in: NSAG Nr. 27 (September 1932), S. 13–20, hier S. 20. Dort lautet der Beginn der Stelle dann so: »Wenn heute viele begeisterte junge Nationalsozialisten wünschen und dafür wirken, daß ein einiges starkes Volk entstehe, dann freuen wir uns wohl des Willens zur Einheit, müssen aber feststellen, daß gerade die Erfahrung, die wir von der Sozialen Arbeitsgemeinschaft auf unserm Weg zur Einheit gemacht haben, diesen heutigen unserer Arbeiterschaft so fremden Volksbefreiern fehlt.« Die Gegnerschaft Siegmund-Schultzes zum Nationalsozialismus scheint sich also während des Sommers 1932 – vielleicht unter dem Einfluss von Mitarbeitern und Freunden – verschärft zu haben. Trotzdem hielt ihn das nicht davon ab, der NSDAP im Januar 1933 zunächst einmal eine Chance einräumen zu wollen.

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ARBEITERFREUNDE

Zielen« der SAG erschienen war,133 musste Alix Westerkamp dann im Dezember 1933 über die einschneidenden Veränderungen berichten, die die Bestimmungen der neuen Regierung für die soziale Arbeit der SAG gebracht hatten. Zwei zentrale Arbeitsgebiete waren direkt betroffen: Sowohl die Arbeit mit Jugendlichen zwischen 8 und 18 Jahren als auch die Volksbildungsarbeit in der Fruchtstraße und in Wilhelmshagen mussten komplett eingestellt werden. Der erste Vorsitzende der SAG – SiegmundSchultze – habe einen »längeren Krankenurlaub antreten müssen«.134 Mit ihrem Gründer und Leiter Siegmund-Schultze war die SAG ihres entscheidenden Motors beraubt; auch die weitgespannten glänzenden Kontakte ins Ausland brachen nun ab. Damit war die SAG vollkommen auf den kleinen Kreis von Berlin-Ost zurückgeworfen; etwas euphemistisch sprach Alix Westerkamp im Arbeitsbericht des Jahres 1934 von der »größere[n] Stille, in der sich unsere Arbeit jetzt vollzieht«.135 In den drei Jahren zwischen 1933 und 1936 wurden lediglich acht neue Mitglieder in den Verein der SAG aufgenommen; dagegen fielen in diesem Zeitraum 80 alte Mitglieder durch Wegzug, Tod oder aus sonstigen Gründen aus.136 Ein kleiner Kreis von SAG-Freunden bildeten nunmehr den Kern der SAG; deren soziale Einbindungskraft war damit auf ein Minimum reduziert. Natürlich hatte Siegmund-Schultze 1933 keinen Krankenurlaub antreten müssen, wie es im Dezember 1933 in den Nachrichten geheißen hatte. Vielmehr wurde er bei der Besetzung des Ulmenhofs durch die SA am 21. Juni 1933 verhaftet und verließ nach der anschließenden Übernahme des Falls durch die Gestapo am Abend des 23. Juni das Land in Richtung Schweiz.137 Diese Geschichte ist ein regelrechter politischer Krimi, der nochmals ein erhellendes Licht auf die Figur des SAG-Leiters wirft. Denn nach der »wilden« Verhaftung durch die SA – wohl im Rahmen der Aktionen, die als »Köpenicker Blutwoche« bekannt geworden sind – waren es zunächst die glänzenden Kontakte Siegmund-Schultzes, die ihn vor Schlimmerem bewahrten. Sein Verweis auf Verbindungen zum Reichsmi-

—————— 133 »Die alten Ziele der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 29 (Juni 1933), S. 1–

19. 134 Alix Westerkamp, »Vorstand und Arbeitsausschuß«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933),

S. 1. 135 Alix Westerkamp, »Arbeitsbericht«, in: AASAG Nr. 1 (November 1935), S. 2–5, hier

S. 2. 136 Erich Gramm, »Die Mitgliederversammlung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-

Ost e.V.«, in: MSAG Nr. 108 (April 1936), S. 1–2, hier S. 1. 137 Vgl. die Rekonstruktion des Falls bei Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, S. 120–130.

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nister des Innern sowie das schnelle Einschalten prominenter Fürsprecher wie Georg Burghart, wichtiger Berliner Kirchenmann und Vorsitzender der deutschen Vereinigung des »Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen«, Walter Simons und Konstantin von Neurath – ihres Zeichens der ehemalige und der amtierende Reichsaußenminister, führten dazu, dass die SA von Siegmund-Schultze abließ und er von der Gestapo in »Ehren-Haft« genommen wurde.138 Dort nahm sich der Gestapochef Rudolf Diels persönlich des Falles an, verhörte Siegmund-Schultze und legte ihm euphemistisch nahe, den im Vorjahr beantragten Urlaub anzutreten.139 Der Gründer der SAG hat den Berliner Osten seit seiner Abreise nach Basel bis nach Kriegsende nicht wiedergesehen. Infolge der politischen Einschränkungen, des Weggangs von Siegmund-Schultze und der sich rapide verschlechternden Finanzlage waren viele Besitzstände der SAG nicht mehr zu halten. Im Laufe des Jahres 1933 musste die Geschäftsstelle aus der Fruchtstraße in das dem Verein gehörende Gebäude Am Ostbahnhof 17 umziehen, um Mietkosten einzusparen; der Ulmenhof wurde an die »Rentnerheim GmbH« verpachtet.140 Als hauptamtliche Mitarbeiter waren zu diesem Zeitpunkt Alix Westerkamp, Renate Lepsius, Elisabeth Vedder, Wenzel Holek, Anne Marie Karg sowie Erich und Irm Gramm in der SAG tätig; die Haushaltsführung lag in den Händen der »Hausmutter« Fräulein Zell.141 1934 übernahm Konrat Weymann die Leitung der SAG, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er seinen Vorgänger nicht würde ersetzen können. Aus Respekt vor den bisher von

—————— 138 Ebd., S. 122–125. Die Tochter des genannten Walter Simons, Tula Simons, war übrigens

gegen Ende der 1920er Jahre für einige Zeit Mitarbeiterin in der SAG gewesen. Sie wurde 1931 Assistentin von Carl Schmitt in Berlin und heiratete 1933 den Verfassungsrechtler Ernst Rudolf Huber; einer der Söhne aus dieser Ehe ist der ehemalige EKDRatsvorsitzende Wolfgang Huber. 139 Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, was Siegmund-Schultze in seinen Lebenserinnerungen berichtet: Hitler habe ihm im Sommer 1932 einen Posten im Bereich des »Siedlungswesens« angeboten, etwas später sogar die Leitung eines zu gründenden Reichskultusministeriums. In seiner Ablehnung dieser Offerten sieht er einen wesentlichen Grund für die Ausweisung aus Deutschland. Vgl. die Aufzeichnungen in EZA 626/270. Franz-Jakob Gerth übernimmt – allerdings ohne Angabe von Belegen – die Interpretation, Hitler persönlich habe Siegmund-Schultze des Landes verweisen lassen, vgl. Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 98 (Anm. 429). Grotefeld hingegen hält es für unwahrscheinlich, dass Hitler persönlich an der Exilierung Siegmund-Schultzes beteiligt war, vgl. Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze, S. 126 (Anm. 176). 140 Vgl. Fechner, »Leben auf dem Ulmenhof«, S. 137. 141 Erich Gramm, »Zur wirtschaftlichen Lage der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 2–4, hier S. 3.

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Siegmund-Schultze herausgegebenen und persönlich betreuten Nachrichten wurde dieses Blatt umbenannt und erschien ab November 1934 unter dem Titel Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost E. V.142 In seinen im Exil verfassten programmatischen Artikeln der Jahre 1933 und 1934 nahm Friedrich Siegmund-Schultze immer wieder explizit Bezug auf die von der NS-Regierung ausgegebene Parole der »Volksgemeinschaft« und versuchte, die SAG als die eigentliche, überpolitische Sachwalterin dieses Programms zu präsentieren. Die Freunde der SAG wüssten es, dass diese die eigentliche »Heimat des Zieles einer deutschen Volksgemeinschaft« sei und dass »hier ein wahrhaft nationaler Sozialismus erstrebt« werde.143 Im Dezember 1933 reklamierte Siegmund-Schultze nochmals die »wahre Volksgemeinschaft« für die SAG; erst recht müsse sie »heute, wo sich Millionen zu dem Ziel der Volksgemeinschaft bekennen, ihr altes Ziel hochhalten. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft hat zu allen Zeiten, im kaiserlichen Deutschland im Kriegs-Deutschland und im Nachkriegs-Deutschland, unter der Herrschaft der Mitte wie unter der von Rechts und von Links ihre Arbeit auf jenes eine, religiös, national und sozial begründete Ziel eingestellt.«144 Auch Erich Gramm kam der Terminologie der Nationalsozialisten entgegen, wenn er davon sprach, dass die SAG allen »Volksgenossen« und damit der »Volksgemeinschaft« dienen wolle.145 Doch die kritischen und tief beleidigten Töne waren nicht zu überhören. Im November 1934 schrieb Gramm, eine neue »Wertordnung« könne sich »nicht verwirklichen in Millionenorganisationen von oben her«, sondern nur durch eine Kleinarbeit »von unten« im Sinne der SAG.146 Siegmund-Schultze beklagte, dass »unsere mühsam in Stein gehauenen Pfade bei dem Bau der neuen Autostraßen übersehen oder achtlos zerstört werden«.147 Und der Gegensatz zur offiziellen Rhetorik wird deutlich, wenn es heißt: »Der Berliner Osten ist Alltag wie kaum etwas sonst. Hier wohnen sie, die ›unbekannten Soldaten‹, die mehr schlichtes Heldentum leben […], als viele von

—————— 142 »An unsere Freunde«, in: AASAG Nr. 1 (November 1934), S. 1–2. 143 »Die alten Ziele der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 29 (Juni 1933), S. 1–

19, hier S. 2. 144 Friedrich Siegmund-Schultze, »Warten«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 6–8, hier

S. 8. 145 Erich Gramm, »Zur wirtschaftlichen Lage der sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in:

AASAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 2–4, hier S. 2. 146 Erich Gramm, »Kassenbericht«, in: AASAG Nr. 1 (November 1934), S. 6–9, hier S. 8. 147 Friedrich Siegmund-Schultze, »Warten«, in: NSAG Nr. 30 (Dezember 1933), S. 6–8, hier

S. 8.

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denen auch nur ahnen, die heute so laut vom ›heroischen Menschen‹ reden.«148 Am Ostbahnhof fanden nun keine Klubveranstaltungen mehr statt; die dort befindliche Werkstatt blieb ebenso geschlossen wie die Abendvolkshochschule. Im Januar 1935 starb dann der unentbehrliche Mitarbeiter Wenzel Holek, was von Alix Westerkamp einmal als der schwerste Verlust der SAG überhaupt bezeichnet wurde.149 Was bestehen blieb, waren die Angebote und Veranstaltungen für Kinder unter acht Jahren: die Kinderbücherei, der Singabend und die Spielstube, die Kinderlesestube und die Märchenstunde. Darüber hinaus gab es noch vier Gruppen von Mädchen über 18 Jahren, Gymnastikstunden und Nähkurse, die Abendstunden für Mütter, Nachbarschaftstreffen und kleinere Feste und Feiern.150 »BerlinOst« war im Vergleich zu früher zu einem kleinen Kreis geworden: Bei einem »Zusammensein« aller SAG-Gruppen, das Anfang Mai in der Lesehalle in der Fruchtstraße stattfand, schätzte Alix Westerkamp die Teilnehmerzahl auf etwa 125.151 Weitere Anlaufstellen der SAG befanden sich weiterhin in Wilhelmshagen, wo in den zehn Häusern der »Siedlung Ulmenhof« ehemalige »Nachbarn« aus dem Berliner Osten wohnten,152 und in Rahnsdorf, wo die Mitarbeiterin Lina Goebel das Anwesen der Familie Siegmund-Schultze bezogen hatte. Ohne die Klub- und Volksbildungsarbeit war die SAG nun ganz auf das zurückgeworfen, was von Beginn an als das eigentliche Ziel der sozialen Arbeit bezeichnet worden war: auf die persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen im Stadtquartier um den Schlesischen Bahnhof und die Fruchtstraße, den gemeinsamen Alltag, wie er in den vielen kleinen, in den Nachrichtenheften der SAG abgedruckten Berichten beschworen wurde. So berichtete Elisabeth Büttner im

—————— 148 »Ein neues Jahr und Berlin-Ost«, in: MSAG Nr. 81 (Januar 1934), S. 1–2, hier S. 1. 149 Alix Westerkamp, »Aus dem Erleben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft 1934/35«, in:

AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 5–9, hier S. 5. Vgl. auch die kurzen Nachrufe Ruth von Kleist-Retzow, »Wenzel Holek«, in: AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 2–3, und Erich Gramm, »Wenzel Holek †«, in: MSAG Nr. 94 (Februar 1935), S. 5, und die Beiträge unter dem Titel »Wenzel Holek zum Gedächtnis«, in: MSAG Nr. 95 (März 1935), S. 1–11. 150 Vgl. dazu Alix Westerkamp, »Arbeitsbericht«, in: AASAG Nr. 1 (November 1934), S. 2– 5, insbes. S. 3, und die verschiedenen Berichte aus der SAG-Arbeit in: AASAG Nr. 2 (November 1935), S. 9–21. 151 Alix Westerkamp, »Aus dem Erleben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft 1935/36«, in: AASAG Nr. 3 (November 1936), S. 2–5, hier S. 5. 152 Vgl. die persönlichen Berichte der Bewohner in: »Zehn Jahre Siedlung Ulmenhof«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 14–23.

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November 1936 über die in langen Jahren gewachsenen nachbarschaftlichen Strukturen in Berlin-Ost und das, was dort »an menschlichen Beziehungen hin und her webt«. Ihre romantisch eingefärbte Erzählung macht einmal mehr den altbekannten, nach wie vor auf die Abwehr »schlechter Einflüsse« und eine auf »innere Hebung« in bescheidenem Rahmen zielenden Gestus vieler Mitarbeiter deutlich. Büttner schreibt: »Bei einem Zusammentreffen mit einer Nachbarin finde ich sie bedrückt und nehme sie zu mir herein. Sie fängt nun an zu erzählen: Ihr Mann ist mit dem Gericht in Konflikt gekommen. Ich verweise sie an Fräulein Dr. Westerkamp. Die innere Haltung der beiden Eheleute wird entscheidend beeinflußt in dieser Zeit. – Die Klubmädel meines jetzigen und auch des früheren Klubs kommen des Abends herauf, wenn sie Licht sehen und gehen behaglich in meine Sofaecke. Freude und Nöte aus Arbeit und Familienleben werden ausgetauscht. […] Als ich eines Abends zum Nachtbriefkasten gehe, treffe ich vor der offenen Kneipentür Fruchtstr. 50 (›Stimmung findste nur bei Paule‹ früher ›Schorch‹) eine Nachbarin. Mit glitzernden Augen erzählt sie, sie habe überlegt hineinzugehen, die Tanzmusik ist so schön, zu Hause ist es so öde und einsam. Welche Gefahr ist der alleinstehenden Frau damit entgegen getreten!« Und abschließend heißt es, nicht ohne Stolz auf den pädagogischen Erfolg: »Wir haben sie in den Singabend genommen; sie ist ganz aufgelebt.«153

Die letzten Episoden der fast 30 Jahre umfassenden Geschichte der SAG sind schnell erzählt: Nach einer gesetzlichen Bestimmung vom November 1936 mussten sich alle freien Vereine einem der anerkannten »Spitzenverbände« anschließen; auf diese Weise wurde die SAG zu einem Verein im Dachverband der Inneren Mission.154 Seit dem Weggang Siegmund-Schultzes wurde in Berlin-Ost kaum noch Korrespondenz mit den Freunden im In- und Ausland geführt; die Beiträge in den kleineren Zeitschriften und Mitteilungsblättern der SAG – die »Akademisch-Soziale Monatsschrift«

—————— 153 Elisabeth Büttner, »In Berlin-Ost ›zu Hause sein‹«, in: AASAG Nr. 3 (November 1936),

S. 19–21, hier S. 20. 154 Vgl. Erich Gramm, »Bindungen«, in: AASAG Nr. 4 (November 1937), S. 1–3, und die

geänderte Satzung, abgedruckt in: AASAG Nr. 4 (November 1937), S. 27–29. Das notwendig gewordene Taktieren der SAG zwischen staatlichem Druck, Innerer Mission und der eigenen Arbeit wird erläutert in einem Schreiben Erich Gramms an Friedrich Siegmund-Schultze, 16. März 1937, in: EZA 51/S II e 1. Dort heißt es, alle Paragraphen der neuen Satzung seien so fomuliert worden, dass einerseits »das Charakteristische der Arbeit ausgesprochen wurde und daß andererseits nicht irgendwelche Stellen, die auf diesem oder jenem Gebiete den Totalitätsanspruch erheben, unsere Arbeit als ihnen zugehörig bezeichnen könnten«. So seien die Feierabendstunden z.B. dezidiert als »evangelisch« etikettiert worden, »um falsche Deutungen zu vermeiden«.

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war schon Ende 1930 eingestellt worden – nahmen immer mehr retrospektiven Charakter an. So blickte man zurück auf »die alten Ziele der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, auf »Zehn Jahre Siedlung Ulmenhof« und »Fünf Jahre Am Ostbahnhof 17«.155 Und auch die unter dem Titel »Aus dem Erleben der Sozialen Arbeitsgemeinschaft« erscheinenden Lageberichte Alix Westerkamps befassten sich meist mit Arbeitsbereichen, auf die verzichtet werden musste, mit Dingen, die nicht mehr da waren. Zu den wenigen Höhepunkten im Leben der SAG gehörten nun die bescheidenen Adventsund Weihnachtsfeiern, die Krippenspiele und »Weihnachtsfeste der alten Leute«, bei denen »in den Herzen […] Erinnerungen aufsteigen an alte, längst vergangene Zeiten«.156 Zeitweise aber kam es sogar zu einer Erweiterung einzelner Arbeitszweige: Für Kleinkinder konnten in halb legaler Weise Erholungsaufenthalte in Heringsdorf organisiert werden;157 nach Kriegsbeginn 1939 wurde die Kinderspielstube in Berlin-Ost als behelfsmäßige Kindertagesstätte anerkannt und erhielt eine hauptamtliche Mitarbeiterin.158 Etwa alle sechs Wochen trafen sich die Mitarbeiter und Freunde aus ganz Berlin bei »Teeabenden« zu einer offenen Aussprache. Laut Erich Gramm sorgte dabei nicht zuletzt der starke Zusammenhalt der »Nachbarschaft« dafür, dass diese Treffen und Aktivitäten nie »gemeldet« und denunziert wurden.159 Umso überraschender war dann der Zugriff der Gestapo, die am 29. April 1940 mit einigen Beamten in Berlin-Ost erschien: »Die SAG wurde aufgelöst und verboten, das Vermögen beschlagnahmt, die Grundstücke unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, jeder Versuch einer Fortführung der Arbeit in irgendeiner Form mit schweren Strafen bedroht.«160 Nach 28 Jahren und sieben Monaten, die seit dem Einzug der ersten Studenten in der Friedenstraße vergangen waren, endete das Experiment der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft«. Der Versuch einer

—————— 155 »Die alten Ziele der Sozialen Arbeitsgemeinschaft«, in: NSAG Nr. 29 (Juni 1933), S. 1–

19; »Zehn Jahre Siedlung Ulmenhof«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 14–23; Alix Westerkamp, »Fünf Jahre ›Am Ostbahnhof 17‹«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 26–31. 156 Charlotte Friedrich, »Weihnachtsfest der alten Leute«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 8–9, hier S. 8. Vgl. auch die Berichte von Irm Gramm, »Adventfeiern in BerlinOst«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 1–4, und Renate Lepsius, »Die Weihnachtsfeier«, in: AASAG Nr. 5 (November 1938), S. 4–7. 157 Die Halblegalität der Heringsdorfer Ferienfahrten wird angedeutet bei: Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 117. 158 Gerth, Bahnbrechendes Modell, S. 45–46. 159 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 117–118. 160 Gramm, Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, 118.

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Wiederbelebung nach 1945 beschränkte sich letztlich auf die Gründung eines Vereins zur Verwaltung des noch vorhandenen Vereinsvermögens.161

—————— 161 Vgl. dazu die knappen Hinweise bei Weyer, Kirche im Arbeiterviertel, 32, und Gerth, Bahn-

brechendes Modell, 46. Siehe außerdem den aufschlussreichen Brief, in dem Renate Lepsius über die aktuelle Lage in Berlin-Ost und die formelle Wiedergründung der SAG berichtet: Renate Lepsius an Friedrich und Maria Siegmund-Schultze, 30. August 1945, in: EZA 626/II 27,13.

Nahaufnahme III: Mennicke, Thadden und die Arbeiter: Ein Brief aus dem Jahr 1927

Im Februar 1927 schrieb der ehemalige SAG-Mitarbeiter Reinold von Thadden einen Brief an den Spandauer Pastor Schweitzer, in dem er ausführlich über eine Begebenheit des Winters 1919/20 berichtet. Im Mittelpunkt dieser Episode steht der Theologe und Sozialpädagoge Carl Mennicke, der im Sommer 1918 als Mitarbeiter in die SAG eintrat, ihr aber zwei Jahre später – nach Umstimmigkeiten mit Siegmund-Schultze – wieder den Rücken kehrte, um die Redaktion der »Blätter für Religiösen Sozialismus« sowie eine Dozentur an der »Deutschen Hochschule für Politik« zu übernehmen.1 Thaddens Brief liefert auf engstem Raum glänzendes Material zu einer exemplarischen Kulturanalyse der SAG und ihrer Akteure: Auch wenn sich die erzählte Geschichte um zwei bestimmte Personen dreht, ist sie doch im Hinblick auf die für Berlin-Ost spezifische Konstellation aus bürgerlicher Kulturreform, adeligem Standesbewusstsein und einer Arbeiterschaft, die nicht selten zum Vehikel bildungsbürgerlicher Selbstverständigungsversuche degradiert wurde, äußerst signifikant. Im Folgenden sei die genannte Episode vollständig wiedergegeben. »Pastor Karl [sic] Mennicke, damals Mitarbeiter der sozialen Arbeitsgemeinschaft, leitete – ich glaube, in einem Hörsaal der Universität – eine Ausspracheversammlung zwischen religiössozialen bzw. freideutschen Akademikern und sozialistischen

—————— 1 Vgl. die Autobiographie Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals, S. 101–

125. Später kam es zu einem regelrechten Zerwürfnis zwischen Mennicke und Siegmund-Schultze; vgl. den angespannten Briefwechsel aus dem Zeitraum Juni–August 1923, in: EZA 51/S II e 4. 1921 meinte Paul Kesselring zu Siegmund-Schultze über dessen schwieriges Verhältnis zu Mennicke: »Wie Luther und Melanchton im Tiefsten nie einig werden konnten, so werdet auch ihr beide es nicht können; dieser Tatbestand ist eine tiefe Tragik.« Paul Kesselring an Friedrich Siegmund-Schultze, 2. August 1921, in: EZA 51/S II c 25.

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Arbeitern. Zweck dieser Versammlung war, den sozialdemokratischen Arbeitern zu zeigen, wie weitgehend sie von sozial interessierten Gruppen der Studenten verstanden würden. Verstanden würden aus dem Geist der Liebe heraus, die bis an die Grenze des Opfers auch eigener Überzeugung dem Proletarier bis in das Nichts seines geistigen, ethischen und religiösen Besitzes hinein zu folgen imstande ist. Pastor Mennicke schloss seine Ausführungen mit dem […] Ausspruch: ›Ihr Arbeiter sollt wissen, dass wir nichts behalten wollen, was Ihr nicht habt, dass wir jede dogmatische Fessel ablehnen, die Ihr nicht ertragen könnt, dass wir Euren Unglauben gleich lieben, wie Euren Kampf, wie Eure Misserfolge.‹ In der darauffolgenden Diskussion erlaubte ich mir eine derartig nihilistische Methode des Ringens um Verständigung mit dem Proletariat anzugreifen, und unter kurzer Darlegung des Werdens meiner religiösen und auch vaterländischen Überzeugungen, das Positive einer allen Menschen geltenden göttlichen Berufung zu betonen. Mein Wort wurde aber im Schlusswort vom Versammlungsleiter energisch abgelehnt und ich in einer für mich, als derzeitigem Kollegen in der SAG, eigentümlich blossstellenden Form dahin zurechtgewiesen, dass es hier in einer Stunde des wechselseitigen Brückenschlagens nicht erwünscht sei, dogmatische Überzeugungen zu hören, die sowohl für den Arbeiter als auch für den modernen Menschen im akademischen Lager nur ein Hindernis im gegenseitig Einanderfinden bedeuten könne. Als ich am nächsten Tage in die Fruchtstrasse Berlin O ging, um die Geschäftsräume der S.A.G. aufzusuchen, begegneten mir zwei, mir aus der Arbeit der S.A.G. bekannte Arbeiter, die wie ich wusste, auch am Tage zuvor an dieser Mennickeschen Versammlung teilgenommen hatten. Soviel ich mich entsinne, gehörten sie beide der U.S.P.D. an. Ich ging auf sie zu und erkundigte mich nach dem Eindruck, der die Aussprache des Vortages ihnen hinterlassen hatte, indem ich meinerseits durchaus S.A.G.mässig voraussetzte, dass die soweit entgegenkommende Art Pastor Mennickes ihnen wohl getan hatte. Zu meinem ehrlichen Erstaunen erklärten die beiden aber, dass die gewundene Ausdrucksweise der akademischen Herren von ihnen grossenteils gar nicht verstanden worden sei, dass sie vor allen Dingen aber mit der absichtlichen, jedes Bekenntnis ängstlich vermeidenden Farblosigkeit der Mennickeschen Ansichten gar nichts anzufangen wüssten. Sie schlossen mit der Bemerkung: ›Wir wollen Ihnen ja keine Höflichkeiten aussprechen, aber das müssen wir doch sagen, das einzige, was wir begriffen haben und was uns gefallen hat, waren Ihre Worte, das war doch wenigstens eine echte Überzeugung.‹«2

Zunächst einmal demonstriert diese Geschichte, welche Gräben sich nach Ende des Ersten Weltkriegs innerhalb der SAG auftaten. Mit Mennicke und Thadden sind hier nämlich gleich zwei Akteure beteiligt, die sich im weiteren Verlauf der 1920er Jahre aus dem engeren Kreis der SAG verabschiedeten: Mennicke vor allem aufgrund seiner politischen Positionen und

—————— 2 Reinold von Thadden an C. Schweitzer, 21. Februar 1927, in: EZA 51/S II g 1.

MENNICKE, THADDEN UND DIE ARBEITER

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des erwähnten persönlichen Streits mit Siegmund-Schultze,3 Thadden vor allem wegen der aus seiner Sicht unentschlossenen Haltung der SAG hinsichtlich der religiösen Fundamentierung der sozialen Arbeit.4 Überhaupt zogen sich ja die »Landfreunde« seit den frühen 1920er Jahren aus dem Freundeskreis der SAG merklich zurück; die persönlichen Differenzen zwischen Mennicke und Thadden machen deutlich, wie unterschiedlich doch die Interessen waren, die den Landadel einerseits, religiös-soziale Theologen andererseits mit der SAG verbanden. Während der engagierte Protestant Thadden sich an einer Erneuerung des religiösen Lebens innerhalb der Arbeiterschaft beteiligen wollte und ansonsten eine klar konservative, im Hinblick auf den bedrohten Status des Landadels sozial defensive Haltung einnahm, trat Mennicke wie viele seiner studentischen Kollegen mit einer spezifischen Melange aus politisch-religiöser Erlösungsrhetorik und altruistischem Pathos auf – einer Haltung, wie sie dem außerordentlich gebildeten, aber bodenständigen Gutsbesitzer Thadden mindestens so fremd sein musste wie den beiden Arbeitern, von denen in dieser Geschichte berichtet wird. Auch an einem Bericht über seine Arbeit mit dem Jugendklub »Einigkeit« wird deutlich, dass Mennicke im direkten Kontakt mit Arbeitern einige Schwierigkeiten hatte. Die Gespräche mit den Jungen waren – so Mennicke – »mit das Schwerste […], was ich mir denken kann«.5 Wenn Mennicke im Folgenden schildert, wie wenig er die Einstellung der Jungen zur Arbeit verstehen könne, dann gehört wenig Phantasie dazu, um sich vorstellen zu können, dass auf der anderen Seite ebenso wenig Verständnis für die Arbeit des religiös-sozialistischen Theoretikers vorhanden war: »Die Art, wie diese jungen Menschen ihre Arbeit auffassen, wie sie sich zu ihren Vorgesetzten stellen, wie sie sich gegen das Material, an dem sie arbeiten, überhaupt gegen das ganze Eigentum des Geschäftsinhabers verhalten, ist so fern von allem, was uns selbstverständlich ist, daß man oft ganz ratlos dasteht.«6 Über das fehlende Interesse an tiefergehenden Themen klagt er:

—————— 3 Auch zwischen Wenzel Holek und Mennicke scheint es von Anfang an persönliche

Schwierigkeiten gegeben zu haben; vgl. den Hinweis in: Friedrich Siegmund-Schultze an Wilhelm Riensberg, 7. Dezember 1918, in: EZA 51/S II c 28. 4 Vgl. das Schreiben von Erich Gramm an Friedrich Siegmund-Schultze, 4. März 1923, in: EZA 51/S II e 4, wo es über den »entsetzlich engen, kaum verständlichen Standpunkt« Thaddens in religiösen Fragen heißt: »Ich glaube, es ist nicht mehr viel Gemeinsames da in der Auffassung über die SAG bei Thadden und vielen von uns.« 5 Carl Mennicke, »Klub Einigkeit«, in: NSAG Nr. 13 (April 1920), S. 58–59, hier S. 58. 6 Ebd., S. 58–59.

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»Ganz selten kann man einmal über eigentliche Lebensfragen reden, von Kulturfragen ganz zu schweigen. Einige sind wohl da, die fragen und nach Antworten drängen, aber andere lassen dann […] nur zu deutlich merken, daß ihnen dergleichen langweilig ist. Da wartet man denn.«7 Was indessen für Mennicke »Lebens- und Kulturfragen« waren, das dürfte sich mit den Lebensfragen der Arbeiter nur wenig überschnitten haben. Dass er nur wenige fand, die »fragten« und nach Antworten »drängten«, hing indessen mit seinen eigenen Erwartungen an die »Soziale Arbeitsgemeinschaft« zusammen. Mennicke, der den Arbeiter von dessen »Sehnsucht« her verstehen wollte,8 konnte mit all denen nichts anfangen, die seinen fast schon schwärmerisch theoretischen Ansatz nicht nachvollziehen konnten. Dass Mennicke die distanzierende Wirkung seiner Ansprachen zuweilen durchaus bewusst war, zeigt ein Brief, in dem er Siegmund-Schultze gestand: »Sie wissen ja, dass ich gar kein populärer Redner bin, sondern sehr leicht – und das ist mir auch in Dinslaken wieder passiert – über die Köpfe der Leute etwas hinwegrede.«9 Der Leiter der SAG hatte denn auch wohl Kollegen wie Mennicke im Blick, wenn er über dieses Problem schrieb: »Allzuviele Sozialtheoretiker, die sich viel auf die von ihnen betriebene Sozialisierung des Geistes einbilden, die aber in keiner Weise Hand angelegt haben zu bescheidener Arbeit an den äußeren Dingen des Lebens, gewinnen in Wahrheit nicht wirkliche Nähe zu den Arbeitern, werden, wenn sie vor 100 Arbeitern sprechen, nicht von fünfen verstanden. Gerade die, die sich in Deutschland mit Vorliebe religiös-sozial genannt haben, waren allzu sehr mit dem Problem beschäftigt. Ihr Stolz ist, dass ihnen alles zum Problem geworden ist, ›zur tiefsten Not‹ oder wie sie sich sonst ausdrücken. Herunter mit der Frisur! Einfach werden! Und unser Denken wird einfach und groß, wenn es sich entschlossen in die einfachen Gedanken und Fragen der Arbeiterschaft hineinstellt.«10

In seiner emphatischen Schlussformel erweist sich Mennicke als idealtypischer Vertreter einer sozialen Theologie,11 die in erster Linie eine bildungsbürgerliche Identitätssuche spiegelt. Seine an die Arbeiter gerichtete Beteuerung, »dass wir Euren Unglauben gleich lieben, wie Euren Kampf, Eure Misserfolge«, macht anschaulich, was hier bereits über das Arbeiterbild vieler SAG-Mitarbeiter gesagt wurde: Die Arbeiter werden hier zu einem

—————— 7 Ebd., S. 59. 8 Nach Eberlein, Die verlorene Kirche, S. 25. 9 Carl Mennicke an Friedrich Siegmund-Schultze, 26. April 1919, in: EZA 51/S II c 16. 10 Siegmund-Schultze, »Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft«, S. 363–364. 11 Zu Mennickes Verständnis von Arbeiterbildung und seiner ambivalenten Haltung zu

Kirche und Theologie vgl. Ahlheim, Zwischen Arbeiterbildung und Mission, S. 76–123.

MENNICKE, THADDEN UND DIE ARBEITER

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»Symbolsubjekt«, das nur insoweit in Betracht kam, als es die bildungsbürgerlichen Bedürfnisse nach Authentizität erfüllte und dem Bild des »suchenden« und für seine Ideale »kämpfenden« Menschen entsprach. Interessant ist an der vorliegenden Konstellation, dass eben nicht nur die anwesenden Arbeiter die »gewundene Ausdrucksweise« Mennickes ablehnten, sondern dass auch der ostelbische Gutsbesitzer Thadden mit seiner »nihilistischen Methode« nichts anfangen konnte. Thadden seinerseits legte seinen »religiösen und vaterländischen« Standpunkt dar und wurde eben deshalb – weil es nämlich ein traditionsgebundener, interessengeleiteter und klar nachvollziehbarer Standpunkt war – von den Arbeitern verstanden: »Das war doch wenigstens eine echte Überzeugung.« Diese Haltung hatte eine Basis des paternalistischen Herrschaftsverbands auf den ostelbischen Gütern gebildet, deren Landarbeiter zumindest eines sicher wussten: nämlich woran sie waren.12 Für Thadden war es selbstverständlich, »den Leuten« gegenüber – seien es ostelbische Land- oder linksorientierte Berliner Industriearbeiter – mit einer klaren Position aufzutreten – einer Position, die dem religiös-sozialistischen Theologen Mennicke eine enge und »dogmatische Überzeugung« erschien. Dass im Falle Thaddens eine lange Tradition von adelig-protestantischem »dissent« in diese Überzeugung mit hineinspielte, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, ist aber nicht unwichtig für das Verständnis gerade der Figur Reinold von Thaddens.13 Die Pointe dieser kleinen Szene liegt also darin, dass sich während des kurzen, von Thadden wiedergegebenen Gesprächs am Tag nach der Versammlung ein Landadeliger und zwei sozialistische Arbeiter in der gemeinsamen Abgrenzung gegenüber dem Akademiker Mennicke trafen. Erstaunlicherweise stand der Vertreter der ostelbischen »Gutsbesitzerklasse« den USPD-Arbeitern in diesem Moment näher als es der seinerseits der SPD und später ebenfalls der USPD angehörende Pastor und religiöse Sozialist

—————— 12 Vgl. dazu nochmals meine Fallstudie zu Gottfried von Bismarck-Jarchlin, der sich nicht

an diese Regel gehalten und seine Landarbeiter gerade durch einen schwer nachvollziehbaren »sozialen Geist« gegen sich aufgebracht hat: Wietschorke, »Defensiver Paternalismus«, S. 254–259. 13 Vgl. seine historisch weit ausgreifende autobiographische Darstellung, die den Kirchenkampf des Dritten Reiches aus der Perspektive traditionalistischer adeliger Widerständigkeit gegen das Regime und der Bekennenden Kirche schildert: Thadden-Trieglaff, Auf verlorenem Posten? Wichtige Einblicke in Thaddens Leben und Denken vermittelt sein Sohn Rudolf in seiner neueren Studie über die Trieglaffer Lebenswelt: vgl. Thadden, Trieglaff.

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Mennicke überhaupt konnte. Die Szene lässt etwas davon ahnen, was den Kern der in einer jahrhundertealten Tradition stehenden und habitualisierten paternalistischen Volksnähe vieler landsässiger Adeliger ausmachte, während die angestrebte Volksnähe bildungsbürgerlicher »Arbeiterfreunde« immer etwas Aufgesetztes, Übertriebenes an sich hatte. Der Gegensatz von Bildung und Arbeit scheint zuweilen eine zähere soziale Trennlinie gebildet zu haben als selbst der Gegensatz zwischen Landadel und Arbeiterschaft. Zugleich zeigt die Konstellation, wie stark auf beiden Seiten – also in Landadel und Arbeiterschaft – die Abneigung gegen den pathetischen Duktus radikaler Akademiker war. Wohl zum Leidwesen Mennickes schätzten die Arbeiter, deren Partei er doch so emphatisch wie nur möglich ergreifen wollte, die Geradlinigkeit Thaddens mehr als die unklare und ängstliche »Farblosigkeit« des »Ringens um Verständigung« seitens gutmeinender Bildungsbürger.14 Die schwer verständliche Rede gegen »dogmatische Fesseln« wurde abgeblockt, weil sie eben nicht nachvollziehbar war. Wie auch hätten die beiden Arbeiter das merkwürdige Bekenntnis verstehen sollen, dass der Redner die Arbeiterschaft gerade in ihrem »Unglauben« und ihren »Misserfolgen« liebte? Was hätten sie den Annäherungsversuchen Mennickes abgewinnen sollen, der doch ganz und gar in die Sprache und den Diskurs radikaler Theologie verstrickt war und eine wirkliche Annäherung an – wie er sagte – »meine lieben Proletarier«15 schon allein dadurch unwahrscheinlich machte? Bei alledem darf nicht vergessen werden, weshalb eigentlich Reinold von Thadden im Februar 1927 – ganze sieben Jahre nach der Mennickeschen Versammlung – diesen Brief an Pastor Schweitzer schrieb. Aus der entsprechenden Akte geht hervor, dass dieses Dokument als Teil einer Korrespondenz zwischen Thadden und dem SAG-Leiter Friedrich Siegmund-Schultze zu lesen ist. Es lag einem Schreiben Thaddens an Siegmund-Schultze vom 8. März 1927 bei, in dem darauf Bezug genommen wird. Dort heißt es: »Deine Anfrage vom 6. März, auf die ich schon gewartet habe, beantworte ich am besten, indem ich Dir den (äußerlich nicht gerade sehr ansprechenden) Schreibmaschinen-Durchschlag meines Briefes

—————— 14 In diese Richtung geht auch die Stellungnahme eines entfernteren SAG-Mitarbeiters, der

1922 schrieb: »Nur die bewußten Christen können einer wahrhaften Versöhnung der Völker den Weg bereiten, nicht unsere verschwommenen, demokratischen Pazifisten.« Günther Leppin an Friedrich Siegmund-Schultze, 19. Februar 1922, in: EZA 51/S II c 25. 15 Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals, S. 115.

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an Dr. Schweitzer zur Kenntnisnahme beifüge.«16 Wie aus den Einleitungsund Schlusspassagen des Briefes selbst hervorgeht, beabsichtigte Thadden mit seiner Erzählung eine Richtigstellung, nachdem Schweitzer ihn offensichtlich kurz zuvor gegenüber Siegmund-Schultze in entstellender Weise zitiert hatte. Um sich zu verteidigen, schrieb Thadden im Februar und März 1927 sowohl an Schweitzer als auch an Siegmund-Schultze und berichtete nochmals über seine Erlebnisse des Winters 1919/20. Damit wird deutlich, dass die erzählte Episode im Zusammenhang des Jahres 1927 einer Selbstrechtfertigung Thaddens diente. Die von ihm zitierte Äußerung der beiden Arbeiter sollte Thaddens Standpunkt gegenüber der SAG untermauern, von der er sich zwischenzeitlich klar distanziert hatte. Dennoch reicht der Aussagewert des Briefes über die Situation von 1927 hinaus. Er macht nicht nur deutlich, aus welchen Gründen und aufgrund welcher Erfahrungen sich die adeligen »Landfreunde« in den 1920er Jahren von der SAG entfernten, sondern er vermittelt auch einen Eindruck davon, welche inneren Widerstände gegen den bildungsbürgerlichen Habitus und den »heiligen Ernst«17 sozial engagierter Akademiker in der Arbeiterschaft vorhanden waren. Zum Dritten zeigt er, was manche Arbeiter an Vertretern der »herrschenden Klassen« immerhin schätzten: Geradlinigkeit und eine »echte Überzeugung«. Was Reinold von Thadden in dieser Situation glaubwürdig machte, war offensichtlich dessen klares Bekenntnis zu seiner Herkunft und zu den symbolischen Ordnungen des ostelbischen Adels. Mennicke dagegen erwies sich paradoxerweise gerade darin als Bildungsbürger, dass er sich nicht klar zu seiner bildungsbürgerlichen Herkunft bekannte, sondern sich »bis an die Grenze des Opfers« dem »Einanderfinden« in einer gleichsam klassenlosen Gemeinschaft verschreiben wollte. Damit reklamierte Mennicke – ganz anders als Thadden – den klassisch bildungsbürgerlichen Wert des »Allgemeinen« für sich, der gerade davon lebt, dass sich seine Verfechter als »über den Klassen stehend« positionieren. Von hier aus wird – wie nur selten in einem so knappen Beispiel – etwas von dem sichtbar, was man mit E. P. Thompson die »moralische Ökonomie« der Arbeiterklasse nennen könnte: nämlich die Tatsache, dass die klare

—————— 16 Reinold von Thadden an Friedrich Siegmund-Schultze, 8. März 1927, in: EZA 51/S II g

1. 17 Diese Formulierung ist wörtlich übernommen von dem SAG-Mitarbeiter Rudolf Neisse,

der seine Vorfreude auf die Arbeit im Berliner Osten zum Ausdruck brachte: »Mit viel Begeisterung + heiligem Ernst gehe ich an meine schöne Aufgabe heran.« Rudolf Neisse an Friedrich Siegmund-Schultze, 10. Juli 1920, in: EZA 51/S II c 25.

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Orientierung an traditionellen Wertsystemen – und seien es die des ostelbischen Landadels: Besitz, Standesbewusstsein, preußischer Patriotismus, »göttliche Berufung« aller Menschen – der Sozialmoral vieler Arbeiter allemal mehr entsprach als die unklare Orientierung an schwärmerischen Gemeinschaftsideen, wie sie die auf Verallgemeinerungsprofite abzielenden Akademiker vertraten. Habituelle Grenzziehungen erweisen sich hier als stärker denn politische Optionen. Der Graben zwischen den Gebildeten und ihrem »Volk« blieb tief, und er schien oftmals genau an dem Punkt unüberwindlich, wo die SAGler mit all ihrer Leidenschaft Brücken bauen wollten. Denn bei all ihren Bemühungen um eine »volkstümliche Ausdrucksweise«: Die Sprache der Annäherung und des Brückenbauens blieb die Sprache theologischer Zirkel, eine Sprache weltfremder Spintisierer und einer zutiefst unrealistischen Haltung zur Welt. Diese Sprache sorgte weniger für Kommunikation als dass sie trennte. Sie war wohl die zäheste Barriere, die die »Gebildeten« auf ihrem Weg auf die andere Seite der Gesellschaft zu überwinden hatten.

10. Soziale Mission im »dunklen Berlin«: Eine Bilanz

Die Logik der Metaphern: Die SAG zwischen 1911 und 1933 Mit dem politischen Einschnitt des Jahres 1933 ist eine lange, über 20 Jahre umfassende Geschichte an ihr Ende gekommen. Ihre Etappen spiegeln den rapiden gesellschaftlichen Wandel zwischen spätem Kaiserreich und dem Ende der Weimarer Republik, sie spiegeln aber auch die Spezifik und den Wandel bildungsbürgerlicher Selbstbilder in diesem Zeitraum. Die Mitarbeiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost haben diese Selbstbilder im persönlichen Kontakt mit der Arbeiterschaft rund um den Schlesischen Bahnhof entwickelt und teilweise korrigieren oder revidieren müssen. Immer aber spielte in ihrem Denken und Handeln die andere Klasse im »dunklen Berlin«, spielte das »Volk« als Bezugspunkt, als Reibungs- und Projektionsfläche ihrer eigenen Vorstellungen eine entscheidende Rolle. Als einen Einstieg in die folgende Bilanz sollen nun – nach einem Vorschlag von Rhys Isaac – die Metaphern dienen, in denen die Akteure der SAG ihr eigenes Handeln als gesellschaftliches Handeln begriffen und beschrieben haben. Denn Metaphern dienen nicht nur der Beschreibung einer bestimmten Situation, vielmehr schaffen sie Realität und begrenzen die Deutungsmöglichkeiten der Situation auf das, was ihre Logik vorgibt. Die Begegnungen, denen sich die historisch-ethnographische Kulturanalyse zuwendet, werden, so Isaac, von Metaphern »zu einem strukturierten System sozial anerkannter Bedeutungen oder Typisierungen« verbunden.1 Dabei stellen die Metaphern die »mentalen Konstrukte« der Akteure selbst dar,2 die deren soziale Wirklichkeit strukturieren und aus diesem Grund besonders geeignet sind, um ihre Wirklichkeitsdeutungen anschaulich und transparent zu machen. Sie bringen, wie Kenneth Burke

—————— 1 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 174. 2 Ebd., S. 184 (Anm. 10).

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schreibt, die Durchdringung der Realität mit Vorstellungen zum Vorschein: »Metaphor is a device of seeing something in terms of something else. It brings out the thisness of a that, or the thatness of a this.«3 Im Wandel der Metaphern wird so auch der Veränderungsprozess der SAG nochmals greifbar. Die kulturelle Logik der SAG folgte vor 1914 – und teilweise bis in die frühen 1920er Jahre hinein – der Oben-Unten-Metapher, so wie sie seit den ersten Programmentwürfen des Settlement immer wieder auftaucht. Die geläufige Rede von der »inneren Hebung« der Arbeiterschaft und – umgekehrt – ihrem drohenden »Absinken« ins Elend dokumentiert die zentrale Rolle dieser Metapher ebenso wie die Idee der Kondeszendenz, des »Hinabsteigens« bürgerlicher Akademiker zu den unteren Schichten. In Anlehnung an Peter Stallybrass’ und Allon Whites Studie über »The Politics and Poetics of Transgression« sieht Kaspar Maase in diesem Gegensatz zwischen Oben und Unten »eine basale Metapher der westlichen Kultur, die in der bürgerlichen Gesellschaft soziale, topographische, körperliche und geistige Dimensionen in einem Spiel der Analogisierungen, Transpositionen und verdeckten Begehrensakte verbindet«.4 In der Tat lässt sich diese Metapher in erster Linie als Ausdruck bürgerlicher Selbstverständigungs- und Identitätsbildungsprozesse lesen, die auf einer spezifischen Ausschlussgeste basieren. Denn, so Stallybrass und White: »The bourgeois subject contineously defined and re-defined itself through the exclusion of what it marked out as ›low‹ – as dirty, repulsive, noisy, contaminating.«5 So war es gerade die dezidierte Grenzziehung zwischen rough und respectable, die dem Programm der SAG seine Plausibilität verlieh: als ein Programm nämlich, das auf die Rettung der »wertvollen« Arbeiterschaft und die Distanzierung des »ganz unten« lokalisierten Bezirks des Schmutzes, der Degeneration und der niederen »Elemente« zielte. Zugleich war es diese Unterscheidung, welche die Deutungsmacht der bürgerlichen Reformer mit begründete. Deren positive symbolische Besetzung der respektablen Arbeiterschaft, funktionierte nur auf der Grundlage eines solchen Ausschlusses: Nur wenn es einen »dunklen Bezirk« des Elends gab, konnte die Allianz aus Gebildeten und Arbeitern als Zukunftsmodell inszeniert werden.

—————— 3 Burke, On Symbols and Society, S. 247; vgl. dazu auch den kurzen methodischen Hinweis in

Ege, Schwarz werden, S. 157–158. 4 Maase, »Einleitung«, S. 25. 5 Stallybrass/White, The Politics and Poetics of Transgression, S. 191.

SOZIALE MISSION IM »DUNKLEN BERLIN«: EINE BILANZ

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Der Gegensatz zwischen Oben und Unten war mit dem sozialtopographischen Gegensatz zwischen Osten und Westen in der Großstadt – in London wie in Berlin – aufs Engste verbunden; diese Verbindung setzte geradezu die Expedition der bürgerlichen Arbeiterfreunde ins »dunkle Berlin« in Gang. Von Westen nach Osten und von oben nach unten: Das war die Bewegungsrichtung der sozialen Missionare, die »hinabsteigen« wollten, um die anderen auf ein neues Niveau zu »heben«. Dieses Modell lässt sich in der allgemeinen Geschichte sozialer Mission in der Moderne wiederfinden: Jürgen Osterhammel hat gezeigt, dass die modernen Zivilisierungsmissionen auf eine »in zwei Dimensionen ausgearbeitete Raummetaphorik« zurückgreifen: In der ersten Dimension der »horizontalen Ausbreitung« zeigt sich das für Missionen konstitutive Muster des »Selbstexports«, während die zweite »vertikale Dimension der Erhebung und Erhöhung« auf eine implizite »Stufenleiter kultureller Wertigkeiten« verweist.6 Die Idee der Zivilisierungsmission zeichnet sich – so Osterhammel – stets durch diese »doppelte horizontale und vertikale Inklusivität« aus. »Sie ruht auf zwei Grundlagen: der Überzeugung des Zivilisators von der eigenen Überlegenheit, aus der sich die Selbstermächtigung zur Intervention in die Lebensumstände Anderer ableiten lässt, und der Erwartung einer gewissen Rezeptivität auf Seiten der zu Zivilisierenden.«7 Die soziale Intervention der SAG im Berliner Osten folgte – zumindest in den ersten Jahren – diesem doppelten Prinzip: Räumliche Erschließung der »dunklen« Teile der Stadt und »kulturelle Hebung« ihrer Bevölkerung gehörten zusammen und bildeten ein integrales zivilisierungsmissionarisches Handlungsmuster. Dabei wurde der »Osten« der Stadt zu einem mindestens vierfach symbolisch besetzten Terrain: Er fungierte als das »Unten«, in das man hinabstieg, das »Draußen«, dem man sich heroisch aussetzte, der »Osten«, den es zu erschließen galt, und das »Dunkle«, das zu erhellen war. Diese Metaphern sind nicht nur als Umschreibung einer Praxis anzusehen, sondern müssen als Teil dieser Praxis ernstgenommen werden, denn – so Isaac – »die metaphorischen Bedeutungen fließen umgekehrt wiederum in Handlungen ein und formen diese«.8 Das Metaphernbündel »Unten/Draußen/Osten/Dunkel« entsprach in diesem Sinne dem sozialmissionarischen Paradigma, es formte die missionarische Praxis und verlieh dieser Praxis gleichzeitig ihre Selbstverständlichkeit. Es hatte im christlichen, kolonialen Europa eine

—————— 6 Osterhammel, »The Great Work of Uplifting Mankind«, S. 363–364. 7 Ebd., S. 365. 8 Isaac, »Der entlaufene Sklave«, S. 175.

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lange Tradition und legitimierte das Projekt einer zivilisierenden Durchdringung fremder Lebenswelten im Sinne des »Selbstexports« bürgerlicher Kultur – ein Projekt, das in dieser Form nur vor dem Hintergrund einer christlichen Weltauslegung denkbar war, die mit ihrer eigenen dichotomischen Bildtradition von Licht und Finsternis, von Himmel und Erde, von Zentren und Peripherien apostolischer Glaubensverkündigung dafür gesorgt hat, dass auch die Wahrnehmung der sozialen Frage im 19. und frühen 20. Jahrhundert von heilsgeschichtlichem Denken durchtränkt war. Aus der Perspektive der sozialen Missionare stellte die SAG ein Erfahrungsproduktionsmodell dar, das seinen Teilnehmern neue Einblicke, Perspektiven und Erkenntnisse vermittelte und sie dabei nicht zuletzt mit dem symbolischen Profit des »wirklichen Lebens« ausstattete. Ihr »Interesse an unverstellter Wirklichkeit« war – so Rolf Lindner – »insofern ein romantisches Interesse […], als dabei die eigene Sehnsucht, sich der Konventionen zu entledigen, auf das Objekt der Anschauung projiziert wird«.9 Dabei wurde der Arbeiter zu einem Symbolsubjekt, das in die SAG-Vision von der »Volksgemeinschaft« hineinpasste, ohne dass die symbolische Ordnung von oben und unten wirklich in Frage gestellt worden wäre. Erst die überaus dynamische gesellschaftliche Entwicklung nach Ende des Ersten Weltkriegs erzwang den Abschied von den alten Kategorien: Die ObenUnten-Metapher verlor ihre Überzeugungskraft; dafür traten die Begriffe von Masse, Führung und Persönlichkeit in den Vordergrund, die den Deutungshorizont der Sozialreform, Sozialpädagogik, Volksbildungsbewegung und auch der entstehenden Sozialwissenschaften wesentlich prägten. Das Beispiel der SAG bildet hier die Unsicherheit und Desorientierung der Bildungseliten in den 1920er Jahren ab, es bietet aber auch Einblick in den sukzessiven Versuch, den bildungsbürgerlichen Führungsanspruch auf neue Grundlagen zu stellen.

Bildungsbürger und Arbeitermilieu: Eine Beziehungsgeschichte Die Geschichte der SAG zwischen 1911 und 1933 lässt sich nur dann angemessen verstehen, wenn die innerhalb der sozialen Formationen von Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft ablaufenden Ausdifferenzierungs- und Transformationsprozesse berücksichtigt und zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht werden. In der SAG begegneten sich nicht einfach »Bürger

—————— 9 Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur, S. 242.

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und Arbeiter«, auch nicht klassisches Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft. In einem komplexen Bedingungsgefüge kultureller Anziehungsund Abgrenzungsprozesse kamen hier vielmehr ganz bestimmte Fraktionen von Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft zeitweilig zusammen: dissidente und reformorientierte Vertreter des alten deutschen Bildungsbürgertums und eine aufstiegsorientierte Arbeiterschaft knapp oberhalb der Respektabilitätsgrenze. Beide Pole dieser Beziehung waren innerhalb ihrer eigenen Milieus relativ mobil – die spezifische Versuchsanordnung der SAG sorgte geradezu dafür, dass sich hier eben nicht »idealtypische« Vertreter von Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft trafen, sondern weitgehend kulturelle Randseiter, die nicht in feste sozialmoralische Milieus eingebunden waren. Vertreter eines alternativen Bildungsbürgertums, die sich von der etablierten bürgerlichen Kultur abgrenzten, suchten in BerlinOst nach der symbolischen Verbindung mit einer respektablen Arbeiterschaft, die sich ihrerseits von der nicht respektablen Unterschicht als dem »Bodensatz« der Klassengesellschaft abgrenzte. Aus ihrer Faszination für den »guten Kern« des »einfachen Volkes« heraus fühlten sie sich von einem bestimmten Typus »des Arbeiters« angezogen. Dessen »wirkliches Leben« wollten sie entdecken, um aus der eigenen bürgerlichen Sozialisation auszubrechen und den »neuen Menschen« zu finden. Im Verlauf dieser Untersuchung war immer wieder von solchen paradigmatischen Sozialfiguren die Rede, auf die man sich als authentische Gewährsleute des eigenen klassenübergreifenden Konzepts berief: Von Wenzel Holek und »Theophilus« über die Arbeiter Kocke und Schwalbe bis hin zum Offenbacher Metallarbeiter H. wurde eine ganze Reihe solcher Figuren in das Narrativ der SAG eingebaut, um deren Programm zu stützen und zu legitimieren. Gleichzeitig dienten all diese Figuren auch wiederum der Distanzierung von der Unterschicht, die als Klientel für die Suche nach dem »neuen Menschen« nicht in Frage kam, die geradezu zwingend aus dem Bezugssystem der SAG ausgegrenzt werden musste. Die identifikatorische Suche nach dem sozialen »Unten« hatte den Ausschluss der »ganz unten« lokalisierten Milieus zur Voraussetzung. Dieses System symbolischer Spiegelungen zeigt ganz deutlich, wodurch die SAG die Reichweite ihrer sozialen Arbeit begrenzt hat; es zeigt auch, welche symbolischen Ressourcen sie für ihren innerbürgerlichen Anerkennungskampf benötigten. Erst aus der doppelten Abgrenzung gegenüber den alten Eliten (»oben«) und der nicht respektablen Unterschicht (»ganz unten«) heraus lässt sich die Praxis der SAGler

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verstehen; diese doppelte Abgrenzung markiert ihren Weg zur Neubegründung als kommende Elite. Die »Arbeiterfreunde« der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost suchten also – ausgehend von ihrer Kritik an der etablierten bürgerlichen Kultur – nach einem neuen Leben in direkter Nachbarschaft zum »Arbeiter« als dem »wurzelhaften«, »einfachen« und »unverbildeten« Menschen. Bei ihrer Suche wollten sie Grenzen überschreiten und soziale Trennlinien überwinden. Als die eigentliche Trennlinie zwischen Bildungsbürgern und Arbeitern und damit als der eigentliche Grund ihres Scheiterns erweist sich aber – und das ist die geradezu tragische Pointe der SAG-Geschichte – diese Suche selbst. Was nämlich viele Arbeiter mit Befremden und Unverständnis quittierten, war genau dieser bürgerlich-alternativkulturelle Habitus des »Suchens nach Gemeinschaft«, des »Ringens um Verständigung«. Die Arbeiter des Berliner Ostens entsprachen nicht dem Bild, das sich die SAGler von ihnen zurechtgelegt hatten. Für die bürgerliche Suche nach »Gemeinschaft« und einer »neuen Kultur« boten sie mit ihrer praktischen Lebenseinstellung nur wenige Anknüpfungspunkte. Und so musste Siegmund-Schultze in einem Resümee der sozialen Arbeit im Berliner Osten eingestehen: »Es gab feine Typen der Jugendbewegung, die es für gegeben hielten, dass sie und junge Arbeiter ohne weiteres sich verstünden, und die dann sehr niederdrückende Erfahrungen machen mussten.«10 Wenn Friedrich Bredt und andere darüber klagten, die Arbeiter von Berlin-Ost hätten zuwenig »persönliche Ideale«,11 dann provozierten sie gerade dadurch den inneren Widerstand einer Arbeiterschaft, die mit ganz anderen Problemen zu tun hatte als mit der Suche nach großen Ideen und Idealen. Die existenzielle Rhetorik bürgerlicher »Arbeiterfreunde« wie Carl Mennicke, Rudolf Haberkorn oder Oskar von Unruh, ihr kämpferischer Gestus des Unbedingten, trennte die Bildungsbürger vielleicht sogar stärker von den Arbeitern, als es die so sehr kritisierte bürgerliche Wohltätigkeit jemals tat. Kurzum: Sie sprachen eine andere Sprache. Eine Sprache, die viele Arbeiter nicht verstehen konnten oder wollten – eine Sprache aber auch, die sie für viele Arbeiter erst recht als Vertreter ihrer Klasse auswies. Denn letztlich kam auch im neuen »sozialen Geist« reformorientierter Akademiker ein altes, auf gesellschaftliche Führungsansprüche und kulturelle Deutungsmacht ausgerichtetes Standesbewusstsein zum Vorschein. Auch wenn viele SAGler glaubten, den alten »Kastengeist« überwinden zu können, blieben

—————— 10 Undatiertes Manuskript in: EZA 626/I 19 A 8. 11 »Einige Aufzeichnungen und Briefe F. Bredts«, S. 150.

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sie doch in ihrer Sprache, ihrem Auftreten, ihrem Wertesystem positiv wie negativ – aber vor allem: sichtbar – dem Prinzip bildungsbürgerlicher Selbstreproduktion verhaftet. Ihre Selbststilisierung als »Bund«, ihre Reklamation von Führerschaft und ihr Selbstbild als soziale Avantgarde ließen keinen Zweifel zu, dass es hier immer auch um den Positionskampf einer absteigenden sozialen Klasse ging. Gegen die longue durée ihres eigenen Habitus konnte der beste Wille der »Arbeiterfreunde« nur wenig ausrichten – so sehr war die kulturelle Tiefengrammatik der SAG von bildungsbürgerlichen Dispositionen und Wertemustern geprägt.

Von der Bildungselite zur »integrativen Elite« In der vorliegenden Arbeit habe ich nachzuzeichnen versucht, wie sich in sozial engagierten Kreisen des deutschen Bildungsbürgertums zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik ein Selbstverständnis herausbildete, das Momente älterer Elitekonzeptionen mit einem neuen sozialen Ethos verband. Dabei steht die These im Mittelpunkt, dass gerade die ostentative »Volksnähe« vieler Akademiker nach 1900 als eine wichtige Ressource im Prozess der Neuformierung als »integrative« Elite verstanden werden muss. Am Beispiel der SAG Berlin-Ost wurden die wichtigsten Etappen in diesem Prozess verfolgt: vom missionarischen Ethos des »Sozialstudententums« der ersten Jahre über die Überbrückungsphantasien während des Weltkriegs, die Unübersichtlichkeit der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft und den Anschluss an Konzepte von »Masse und Führerschaft« bis hin zur pragmatischen Orientierung der Sozial- und Bildungsarbeit im Laufe der 1920er Jahre. Dieser Prozess spiegelt den leidenschaftlichen Versuch einer Gruppe von Akademikern, sich im schwierigen Gelände des »dunklen Berlin« zu bewähren, die »Schule des wirklichen Lebens« für sich und andere zu nutzen und Kompetenzen zu erwerben, die für gesellschaftliche Führungspositionen im weitesten Sinne unentbehrlich waren. Damit gab die Initiative der SAG gewissermaßen einer Prognose des Theologen und Publizisten Max Maurenbrecher aus dem Jahr 1904 recht: »So sicher jede Schicht letztlich durch das ihr innewohnende Klasseninteresse geleitet wird, so sicher kommen die Schichten der Gebildeten schließlich doch zum Proletariat, wenn sich nachweisen läßt, daß die Konsequenzen unserer Wissen-

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schaften, die treibenden Kräfte unserer Kultur auf anderem Wege nicht mehr zur Geltung zu bringen sind.«12

Exemplarisch ist hier das Thema dieser Studie auf den Punkt gebracht: Für das Bildungsbürgertum führte der Weg zu neuer sozialer Geltung und kultureller Deutungsmacht notwendigerweise auf den »Schauplatz des Volkes«.13 Die Selbstlegitimation der »Gebildeten« war nach 1900 ohne den emphatischen Bezug auf die unterbürgerlichen Schichten nicht mehr zu haben. Der Kulturhistoriker Gangolf Hübinger hat nachgezeichnet, wie mit der sozialpolitischen »Doppelzäsur« von 1887/189014 ein »Wettlauf um die Verwissenschaftlichung und Intellektualisierung der ›Sozialen Frage‹ in allen großen Teilkulturen des Kaiserreichs« einsetzte. In diesem sozialen »Kampf- und Machtfeld« standen sich die intellektuellen Vertreter des konservativen und des liberalen Protestantismus, des Sozialkatholizismus und der Sozialdemokratie gegenüber und kämpften um die Deutungsmacht, die »Wege und Ziele einer neuen Sozialordnung« zu bestimmen.15 Schon damals ging es wesentlich darum, die Sprechposition des »Volkes« zu besetzen. Und so gilt, was Bourdieu einmal in einem kurzen Text über den Volksbegriff festgehalten hat: »Soll in die Diskussionen um Begriffe wie ›Volk‹ und ›volkstümlich‹ bzw. ›populär‹ eine gewisse Klarheit gebracht werden, muß man sich vergegenwärtigen, daß diese Begriffe […] zunächst einmal Streitobjekte zwischen Intellektuellen sind.«16 Am Beispiel des bürgerlichen Mäzenatentums und der symbolischen Ökonomie der Gabe im Kaiserreich hat auch Stephen Pielhoff kürzlich gezeigt, dass in der kulturell »versäulten« wilhelminischen Gesellschaft die »Kulturvermittler« keine »unparteiischen Friedensstifter« waren, sondern »Frontmänner konkurrierender Eliten, die im Kampf um die Anerkennung ästhetischer Deutungsmacht um die Zustimmung der Öffentlichkeit rangen«.17 In diesem Sinne

—————— 12 Zit. nach vom Bruch, »Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich«, S. 121. 13 Diese Formulierung folgt dem Titel einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung von

Franz-Josef Deiters, die sich mit der Frage befasst, wie bürgerliche Intellektuelle – von Herder, Friedrich Schlegel, Heine und Büchner bis hin zu Hofmannsthal und Brecht – ihr Schreiben auf der Fiktion, »für das Volk« zu sprechen, aufgebaut und damit ihre Position als Intellektuelle legitimiert haben. Vgl. Deiters, Auf dem Schauplatz des »Volkes«. 14 Das Jahr 1887 markiert das Ende des »Kulturkampfes« gegen den Katholizismus, das Jahr 1890 die Aufhebung des Sozialistengesetzes. 15 Hübinger, »Intellektuelle und Soziale Frage im Kaiserreich«, S. 33. 16 Bourdieu, »Der Begriff ›Volk‹ und sein Gebrauch«, S. 167. 17 Pielhoff, »Stifter und Anstifter«, S. 23.

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verstehe ich auch das soziale Engagement der SAG, verbunden mit einer neuen gesellschaftlichen Funktionsbestimmung der »Gebildeten« in Hinblick auf das »Volk«, als Positionierung in einem solchen Kräftefeld konkurrierender Deutungseliten und als ein Moment innerbürgerlicher Anerkennungs- und Klassenfraktionskämpfe.18 Pielhoff verweist in seinem Aufsatz auf die Rolle der »Anstifter« mit wenig ökonomischem und viel kulturellem Kapital, welche die von den »Stiftern« mit viel ökonomischem und wenig kulturellem Kapital bereitgestellten Mittel sammelten und zweckgebunden verteilten. Solche »Anstifter« waren auch die Vertreter der SAG, die zwischen Spendern und Empfängern vermittelten und sich selbst aufgrund ihrer durch »Volksnähe« erworbenen Vermittlungskompetenz in einer gesellschaftlichen Schlüsselrolle sahen: als unverzichtbare Mediatoren zwischen den Klassen und die eigentlichen Garanten der kommenden »Volksgemeinschaft«. Innerhalb der Bildungseliten waren die SAGler periphere Figuren:19 keine etablierten Professoren und Politiker, sondern vielmehr Abweichler, Dissidenten und Reformisten, die zwischen den Stühlen der Disziplinen, der Parteien und der Milieus saßen.20 Viele prominente »Arbeiterfreunde« und Befürworter der Settlements – wie etwa Günther Dehn, Carl Mennicke, Walther Classen, Friedrich Siegmund-Schultze, Gottfried Naumann, Alix Westerkamp, Max Grunwald, Heinrich Peus oder Gotthard Eberlein – waren Außenseiter in Kirche, Wissenschaft und Politik,21 die sich wohl gerade dadurch zur »anderen Seite« der Gesellschaft hingezogen fühlten: im Sinne eines radikalen Versuchs, einer radikalen Absage an die hegemonialen Richtungen ihrer akademischen Herkunftskultur, einer radikalen Grenzüberschreitung. In diesem Sinne trifft Erich Gramm die marginale

—————— 18 Zu Positionskämpfen zwischen Intellektuellen vgl. auch Gilcher-Holtey, Zwischen den

Fronten. 19 In einer heute zu Unrecht wenig bekannten Studie hat sich Ernst Grünfeld mit der

spezifischen sozialen Position der »Peripheren« auseinandergesetzt. Grünfeld, Die Peripheren. Grünfeld bearbeitet hier das Problem, das Jahre zuvor Robert E. Park und Everett V. Stonequist unter dem Begriff des »marginal man« behandelt hatten; dabei hebt er besonders die »neue Perspektive« hervor, aus der die »Peripheren« ihre Umwelt erleben. Vgl. dazu auch die Hinweise bei König, »Die Situation der emigrierten deutschen Soziologen«, S. 119–120, und Lindner, »Kulturelle Randseiter«. 20 Horst Groschopp hat die Vertreter der deutschen Settlementbewegung, allen voran der SAG, denn auch in seinem Buch über Dissidenz und Freidenkerei in Deutschland behandelt: Groschopp, Dissidenten, S. 331–336. 21 Bezeichnend für diese marginale Position ist etwa der Titel von Eberlein, Wir Ausgestoßenen.

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Position der SAGler ganz gut, wenn er schreibt, sie seien zunächst von der eigenen Seite als »Überläufer und Verräter«, von seiten der Arbeiter aber als Eindringlinge und Spione« angesehen worden.22 Eben diese doppelte Abgrenzung aber bot für sie die Chance, die gesellschaftlichen Verhältnisse aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Der SAG schlossen sich daher vor allem Studenten an, die ihrerseits auf der Suche waren – angehende Theologen, die an der sozialen Kompetenz der Kirche zweifelten, angehende Pädagogen, die neue Wege beschreiten wollten, angehende Juristen, die sich mit einer sozial unsensiblen, bürokratischen und weltfremden Rechtsprechung nicht abfinden konnten, Frauen, die die ihnen vorgezeichneten gesellschaftlichen Spielräume erweitern wollten. Aus intellektuellengeschichtlicher Sicht lässt sich dieser Befund durchaus verallgemeinern: Das gemeinsame Thema dieser in den Settlements versammelten Außenseiter war die Hinwendung zum »Volk« als dem »phantasmagorischen Ort der rohen ungebildeten Natur«,23 zu dem sie sich hingezogen fühlten – in einer Art »Sehnsucht der Ritter vom Geiste nach jenen, die hinter Pflug und Schraubstock stehen«.24 Eine charakteristische Kombination aus Faszination und Ablehnung, aus Empathie und Defizitperspektive bestimmte die Haltung der »Arbeiterfreunde«, die sich ihrer eigenen Position durchaus nicht immer sicher waren. Hierin liegen die Grenzen einer Interpretation, die in der Initiative der SAG nur das missionarische Element zu sehen bereit ist.25 In seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts hat Jürgen Osterhammel den Kern der modernen Zivilisierungsmissionen in einem »umfassende[n] Sendungsbewusstsein« gesehen, in der »Selbstbeauftragung damit, die eigenen Normen und Institutionen an Andere heranzutragen«. Osterhammel fügt allerdings hinzu: »Dies setzt eine feste Überzeugung von der Höherwertigkeit der eigenen Lebensform voraus.«26 Einer solchen festen Überzeugung folgten die sozialen Missionare in Berlin-Ost nur bedingt. Eben dies machte die SAG aber auch zu einem sozialen Labor par excellence, in dem der Versuch einer »kulturellen Hebung« der Arbeiterschaft stets mit der Neuverhandlung bürgerlicher Identitäten und Rollenmuster verknüpft war.

—————— 22 Gramm, »Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, S. 86. 23 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 765. 24 Brüll, »Die Erprobung der Intellektuellen«, S. 74. 25 Vgl. dazu schon die Bemerkungen von Hegner, »Die Suche nach der Metapher«, insbes.

S. 152. 26 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 1173.

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Emotionen und Interessen Elisabeth Meilhammer hat einigen Arbeiten zur Settlementbewegung ein »pauschalisierendes Klassendenken«27 bescheinigt und konstatiert, dass dort »komplexe Bildungsaktivitäten in pseudokritischer Weise in das ewig gleiche Schema gepreßt werden, wobei ›Bürger‹ nur aus Angst vor Revolten Initiativen für das Arbeiterwohl starten und dabei prompt an den wirklichen Bedürfnissen der Arbeiter vorbeigehen, ja sie unterdrücken«.28 Was Meilhammer hier zu bedenken gibt, berührt einen Punkt, der wichtig genug ist, um ihn an dieser Stelle aufzugreifen: Sind die Settlements vor allem als Agenturen bürgerlicher Interessen zu verstehen? Kümmerten sich die Mitarbeiter der SAG »aus Angst vor Revolten« um das »Arbeiterwohl«? Standen hinter der weichen Fassade der »Arbeiterfreunde« also harte Interessenspolitiken, die letztlich nur ein Teil der strukturellen Unterdrückung der Arbeiterschaft waren? Und trifft Meilhammers Einwand auch die hier vorgelegte Analyse, die die Selbstbehauptungsstrategie einer »sinkenden Klasse« und damit den »Eigennutz« ihrer Vertreter in den Mittelpunkt stellt? All diese Fragen gehen von falschen Voraussetzungen aus, die den Zugang zum Phänomen versperren. Denn hier gibt es keine »falsche« Fassade, hinter der sich die »echten« Motive verbergen. Die Mitarbeiter der SAG haben sich nicht maskiert. Sie waren keine kühl kalkulierenden Agenten ihrer eigenen sozialen Interessen. Ihre Leidenschaft galt einer ehrlichen Vision von einer besseren Gesellschaft. Dass sie dabei letztlich auch um ihren eigenen sozialen Status kämpften, macht diese Leidenschaft noch lange nicht zum blanken Täuschungsmanöver oder gar zum Instrument obrigkeitlicher Ordnungsvorstellungen.29 So wollten die SAGler wirkliche

—————— 27 Meilhammer, Britische Vor-Bilder, S. 14 (Anm. 53). 28 Ebd., S. 96. 29 Joachim Schlör ist in seiner Studie zur Großstadtnacht in Paris, Berlin und London den

»Feldzügen« der Heilsarmee, der »Slum Sisters« und der Inneren Mission nachgegangen und hat in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Verhältnis von sozialem Idealismus und politischem Interesse gestellt. Auch wenn es »nicht allzu schwierig« sei, die Sprache und die Vorgehensweise der Heilsarmee und der anderen Missionen als unmodern, verkrampft, weltfremd und lächerlich abzutun«, hielte Schlör es für »verfehlt, die Heilsarmee als verlängerten Arm der Obrigkeit zu denunzieren«. Denn »ihre Texte bieten eine Antwort auf die umfassenden Herausforderungen des städtischen Lebens […]. Sie sind […] Dokumente der Verunsicherung und der Suche nach einem Halt, einer festen Orientierung […] Sie setzen einem bedrohlichen Dunkel ihre Version von einem helleren Leben entgegen.« Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 217–218. Vgl. dazu auch Gnewekow/Hermsen, Die Geschichte der Heilsarmee.

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Hilfe leisten und eine Not lindern, die »ins Herz schreit«.30 Zahllosen Berliner Kindern ermöglichten sie Ferienfahrten aufs Land, an die diese sonst nicht einmal hätten denken können. Arbeitslosen vermittelten sie eine materielle Grundausstattung und Kenntnisse, die für einen Berufseinstieg von entscheidender Bedeutung waren. Vielen Familien des Berliner Ostens boten sie eine bescheidene Infrastruktur, waren sie verständnisvolle Ansprechpartner in Fragen des täglichen Lebens. Wenn Erich Gramm als Antwort auf die Frage »Warum Berlin-Ost?« auf Epheser 4, Vers 32 verweist – »Seid aber untereinander freundlich«, dann ist das ernst gemeint und menschenfreundlich im besten Sinne. Und eben das ist es, was viele Texte aus der SAG so anrührend macht: »Wir wollen freundlich sein zu der Mutter, die mit ihren sechs Kindern von ihrem Mann im Stich gelassen wurde, zu dem Mann, der abends im Dunkel des Treppenhauses auf uns wartet, um sich die Last von seiner Seele zu reden, zu den Kindern – ja zu den Kindern, die jetzt, wo Kälte und Regen beginnen, wie kleine frierende Vögel auf den Treppen und Hausfluren hocken.«31

Gerade die »Liebe zum Volk« bildet ein mit Emotionen und Interessen vielfach besetztes Feld. Beides voneinander zu trennen, würde bedeuten, auf eine zentrale Erkenntnischance historischer Kulturanalyse zu verzichten. Denn der eigentlich interessante Punkt liegt eben dort, wo Emotionen und Interessen sich treffen, wo sie sich gegenseitig mobilisieren. Anders wäre die ungeheure Energie nicht zu begreifen, welche die SAG-Mitarbeiter in den Berliner Osten getrieben hat, anders wäre nicht nachvollziehbar, was Gotthard Eberlein stellvertretend für viele andere formuliert hat: »Uns treibt ein inneres Motiv, ein irrationales Etwas, ein nicht klar zu deutendes ›Muß‹.«32 Dass dieses »innere Motiv« nicht zuletzt der Selbstlegitimation als »soziale Avantgarde« diente, bedeutet nicht, dass es kein wirkliches inneres Motiv gewesen wäre – im Gegenteil: auch weil es mit Eigeninteressen vereinbar war, konnte es zu einem echten inneren Motiv werden. Somit folgte das emotionale Handeln der SAG-Mitarbeiter einer sozialen Logik im Sinne Bourdieus, der das Wort »Interesse« einmal als »gefährlich« bezeichnet hat, »weil in ihm unter Umständen ein Utilitarismus anklingt, der der

—————— 30 Friedrich Siegmund-Schultze, »Liebe Freunde der SAG!« In: NSAG Nr. 18 (Weihnach-

ten 1925), S. 1–3, hier S. 2. 31 Erich Gramm in: Hellmut Hotop/Erich Gramm, »Warum Berlin-Ost?« In: AASAG Nr.

2 (November 1935), S. 24–27, hier S. 26. 32 Gotthard Eberlein, »Die Krisis in der Jugendklubarbeit«, in: ASM 4. Jg. Heft 7 (Oktober

1920), S. 140–154, hier S. 146.

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Nullpunkt der Soziologie ist« und damit das Verständnis mehr behindert als fördert.33 Bourdieu bevorzugt aus diesem Grund den Profitbegriff: Denn »wo Menschen nur ihren Habitus agieren lassen müssen, um der immanenten Notwendigkeit des Feldes nachzukommen und den mit dem Feld gegebenen Anforderungen zu genügen […], ist ihnen überhaupt nicht bewußt, daß sie nur ihre Schuldigkeit tun, und schon gar nicht, daß sie nach Maximierung eines (spezifischen) Profits streben. Und also haben sie den Zusatzprofit, vor sich und den anderen als vollkommen interessenfrei, uneigennützig dazustehen.«34 Emotionen und materielle Interessen schließen sich also nicht aus, sondern sind vielmehr in einem komplexen Zusammenspiel aufeinander bezogen, mehr noch: Sie können einander stützen und wechselseitig bestärken.35 Die Kulturanalyse sozialen Engagements hat an diesem Punkt anzusetzen, anstatt lediglich dem ideologiekritischen Reflex nachzugeben, der hinter der Maske der »Liebesarbeit« nichts als handfeste Eigeninteressen aufdecken möchte. Dass in der »Liebesarbeit« der SAG etwas wie »Liebe« eine Rolle gespielt hat, muss deshalb zuallererst einmal erkannt und anerkannt werden. Denn hier gilt es einen Habitus zu verstehen, in dem altruistische Emotionen und das Streben nach sozialem Profit so eng verbunden waren wie bei kaum einer anderen sozialen Gruppe. Die engagierten Bildungsbürger waren von ihrem Einsatz für das Gemeinwohl vollkommen überzeugt, während sie in gesellschaftliche Führungspositionen einzurücken versuchten. Ihr Kampf gegen den eigenen sozialen Abstieg war mit ihrem Engagement für die Arbeiterschaft untrennbar verbunden. »Volks- und Eigennutz« fielen im Wertesystem der Bildungsbürger zusammen, was dem Vorhaben der SAG sein unbeirrbares Pathos und seinen hohen Unbedingtsheitsanspruch verlieh. Erst von hier aus wird die Logik der symbolischen Ökonomie sichtbar, die ich als ein genuin bildungsbürgerliches Phänomen verstehe. Denn als eine über Bildung und kulturelles Kapital im weiteren Sinne vergesellschaftete Gruppe, die sich in ihrem sozialen Status vor allem auf symbolische Güter stützte, waren die Bildungsbürger in einem historischen Moment, in dem ihre gesellschaftliche Rolle zunehmend fragwürdig wurde, auf das Proletariat angewiesen. Mit ihm

—————— 33 Bourdieu, »Über einige Eigenschaften von Feldern«, S. 113. 34 Ebd., 113–114. 35 Vgl. dazu den mittlerweile klassischen Sammelband von Medick/Sabean (Hg.), Emotionen

und materielle Interessen, der das Zusammenspiel von Emotionen und Interessen auf dem Gebiet der historischen Familienforschung verfolgt.

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waren sie in einer spezifischen Form symbolischen Gabentauschs verbunden: Sie versuchten, einer auf Respektabilität bedachten Arbeiterschaft eine gewisse kulturelle Grundausstattung und damit die Chance zur kulturellen Vergesellschaftung zu vermitteln, umgekehrt eigneten sie sich dabei bestimmte Kulturtechniken und Authentizitätswerte an, die ihnen »the cultural power of authentic social knowledge«36 verschafften und die sie im Kampf um soziale Ressourcen benötigten. Diese interessengeleitete Sehnsucht nach symbolischer Identifikation mit dem Volk ist aber kaum zu trennen von dem, was sie ihre »Liebe zum Volk« nannten. Getrieben von einer ethischen Haltung, die gleichzeitig der Neubestimmung ihrer eigenen sozialen Position und der Legitimation ihrer »Führerschaft« diente, waren sie voll und ganz davon überzeugt, das Richtige zu tun. »Egoistische Zwecke« – so Bernd Jürgen Warneken – »entwerten nicht altruistische Mittel.«37 Oder, um noch einmal mit Bourdieu zu sprechen: »Die Tatsache […], daß sich aus Tugend und Vernunft Profit schlagen läßt, stellt zweifellos eine der großen Triebkräfte der Tugend und der Vernunft in der Geschichte dar.«38 Das Engagement der »Arbeiterfreunde« im Berliner Osten entsprach also ganz und gar einem bildungsbürgerlichen Habitus: einem tief eingeprägten Modus der Akkumulation symbolischer Güter, der Selbstrepräsentation durch »sozialen Geist« und »Persönlichkeit«, der religiös fundierten Verallgemeinerung ihrer partikularen Werte. Eine umfassende mentalitätsgeschichtliche Analyse des historischen deutschen Bildungsbürgertums hat auf diesen Motiven aufzubauen. Erst von diesem Befund aus lässt sich das Klasseninteresse angemessen bestimmen, das im sozialen Engagement der SAG zum Vorschein kommt; die von Bourdieu getroffene Unterscheidung zwischen »Profit« und »Interesse« ist hier von zentraler Bedeutung. Denn zweifellos wandte sich die SAG über weite Strecken ihrer Geschichte gegen Entwicklungen, die auf die Emanzipation der Arbeiterschaft und auf die Vertretung ihrer Interessen gerichtet waren. Ihr anfänglicher verbissener Widerstand gegen die Sozialdemokratie macht das ebenso deutlich wie ihre zeitweilige Allianz mit dem ostelbischen Junkertum oder ihr Einsatz für die soziale Betriebsarbeit als einer wirtschaftsfriedlichen und damit anti-emanzipatorischen Strategie. In dieser Hinsicht war sie tatsächlich ein verlängerter Arm der herrschenden Eliten und Verfechter eines status quo, der die Arbeiterschaft von po-

—————— 36 Schocket, »Undercover Explorations«, S. 110. 37 Warneken, »Varianten volksfreundlichen Engagements«, S. 387. 38 Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 155.

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litischer und sozialer Partizipation ausschloss. Mit ihrem Konzept von »Führerschaft« kämpfte sie tendenziell für eine ständisch strukturierte und vertikal gegliederte Gesellschaft. In politischer Hinsicht war ihre Arbeit für lange Zeit darauf ausgerichtet, die Kluft zwischen den Klassen zu kitten und zu harmonisieren, anstatt die Verhältnisse der Klassengesellschaft wirklich und tiefgreifend zu verändern. Und auch der notorische Widerstand gegen die moderne Massenkultur war letztlich ein Widerstand gegen deren demokratisierende Tendenz. Doch – und das ist gewissermaßen die Pointe, auf die diese Geschichte zuläuft – all diese latente bürgerliche Interessenspolitik war so innig mit dem bildungsbürgerlichen Habitus verbunden, dass »Liebe zum Volk« und »Politik gegen das Volk« in eins fielen. Es könnte kein besseres Lehrstück dafür geben, wie der Habitus einer Klasse soziale Interessen naturalisiert: so sehr, dass noch der aufrichtigste Einsatz für die Arbeiter in Berlin-Ost – vermittelt über die symbolische Ökonomie der Verallgemeinerungsprofite – die klassenspezifischen Interessenslagen der SAGler spiegelt. Dass diese gerade in ihrer leidenschaftlichen Annäherung an die Arbeiter ein Idiom sprachen, das sie von ihnen umso mehr trennte, ist ein zentraler Befund für die Analyse einer Klassengesellschaft, die ihre Persistenz und Zähigkeit gleichsam aus der longue durée habitualisierter klassenspezifischer Kultur gewinnt. Die Demokratiefeindlichkeit deutscher Eliten im Übergang zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, wie sie unter anderem in den Diskussionen um einen deutschen »Sonderweg« konstatiert wurde, lässt sich also nur verstehen, wenn die Prozesse der kulturellen und habituellen Selbstreproduktion sozialer Formationen zentral in Rechnung gestellt werden. Das Beispiel der SAG zeigt, dass solche Prozesse nicht nur im Adel, sondern gerade auch im Bildungsbürgertum zu verfolgen sind. Und doch zeigen sich innerhalb der SAG der 1920er Jahre auch Gegentendenzen: nämlich überall dort, wo sich einzelne ihrer Mitarbeiter mit wirklichem Respekt auf den Eigensinn und die Widersprüchlichkeit des Lebens in Berlin-Ost einlassen konnten, wo sie sich zu der Notwendigkeit einer politischen Strategie bekannten und wo sie letztlich doch fähig waren, sich von den paternalistischen Mustern der bildungsbürgerlichen »Führerschaft« zu lösen. Bei alledem hinkte die SAG der gesellschaftlichen Entwicklung der ersten deutschen Demokratie in eigentümlicher Weise hinterher; ihre Konzepte wurden stets unter dem Druck der Verhältnisse modifiziert und angepasst. So gesehen ist die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost – und mit ihr das reformorientierte

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deutsche Bildungsbürgertum – keine Avantgarde, sondern ein Nachzügler dieser Entwicklung gewesen.

Quellen und Literatur

1. Gedruckte Quellen und Literatur bis 1945 Einzelbeiträge aus den Zeitschriften und Mitteilungsblättern der SAG und des Hamburger Volksheims sind im Text bei jeder Nennung vollständig angegeben und wurden aus Platzgründen nicht in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Dabei wurden für die SAG-Zeitschriften folgende Siglen verwendet: AASAG ASM MSAG MSAGJ NN NSAG RMSAG

Aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost E. V. Akademisch-Soziale Monatsschrift Mitteilungsblatt der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost Mitteilungsblatt der SAG-Jugend Neue Nachbarschaft Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Rundbrief des Mitarbeiterkreises der Sozialen Arbeitsgemeinschaft

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ARBEITERFREUNDE

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ARBEITERFREUNDE

— »Historische Ethnografie. Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts«, Zeitschrift für Volkskunde, 106 (2010), S. 97–124. — »Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie«, in: Sandra Evans/Schamma Schahadat (Hg.), Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer Lebensform, Bielefeld 2011, S. 93–119. — »›Go Down into the East End‹. Zur symbolischen Topographie des urbanen Ostens um 1900«, in: Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter (Hg.), Das Prinzip »Osten«. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums, Bielefeld 2010, S. 77–102. — »Urbanität und Mission. Die evangelikale Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Herbert Glasauer u.a. (Hg.), Jahrbuch Stadt/Region 2011/2012, Opladen 2012, S. 39–59. — »Die Stadt als Missionsraum: Zur kulturellen Logik sozialer Mission in der klassischen Moderne«, in: Martina Gugglberger/Christine Egger (Hg.), Missionsräume. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 24 (2013), Bd. 1 (im Erscheinen ). Wildt, Michael, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. — »›Volksgemeinschaft‹ als politischer Topos in der Weimarer Republik«, in: Alfred Gottwaldt/Norbert Kampe/Peter Klein (Hg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 23–39. Williams, Raymond, Culture and Society, 1780–1950, Harmondsworth 1976. — Gesellschaftstheorie und Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von »Kultur«, München 1972. — »Culture is Ordinary«, in: ders., Resources of Hope, London/New York 1989, S. 3–18. — »Theorie und Verfahren der Kulturanalyse«, in: ders., Innovationen. Über den Prozesscharakter von Literatur und Kultur, Frankfurt a. M. 1983, S. 45–73. Wilms, Henning, Friedrich Siegmund-Schultzes Bedeutung für die soziale Diakonie der Kirche unter besonderer Berücksichtigung seines Projektes der Sozialen Arbeitsgemeinschaft BerlinOst (1911–1940), Abschlussarbeit Diakoniewissenschaftliches Institut der Universität Heidelberg 1987. Windass, Stanley, The Chronicle of the Worker-Priests, London 1966. Winkler, Heinrich August, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000. Winter, Jay M., »Die Legende der ›verlorenen Generation‹ in Großbritannien«, in: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, 115–145. Wohl, Robert, The Generation of 1914, Cambridge 1979. Wollenweber, Horst, »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildungsarbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, in: Delfs (Hg.), Aktiver Friede, S. 261–273.

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Wülfig, Wulf/Bruns, Karin/Parr, Rolf (Hg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart/Weimar 1998. Wulf, Christoph, Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, München 1978. Wunsch, Albert, Die Idee der »Arbeitsgemeinschaft«. Eine Untersuchung zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Frankfurt a. M. 1986. Zeller, Susanne, Geschichte der Sozialarbeit als Beruf. Bilder und Dokumente (1893–1939), Pfaffenweiler 1994. Zimmer, Jochen, »Die sozialistische Jugend als Kultur- und Freizeitbewegung. Zur Entstehung der sozialdemokratischen Jugendpflege bis zum Beginn des Weimarer Staates«, in: Fielhauer/Bockhorn (Hg.), Die andere Kultur, S. 279–294. Zinnecker, Jürgen, »Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozess der Zivilisation«, in: Imbke Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142–163. — »Straßensozialisation. Ein Kapitel aus der Geschichte von Kindheit und Pädagogik«, in: Christel Adick (Hg.), Straßenkinder und Kinderarbeit. Sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Studien, Frankfurt a. M. 1997, S. 93–116. — »Politik und Pädagogik der Kindheit – Politik und Pädagogik der Straße. Zur Rhetorik und Topographie der Straßenkindheit«, in: ders., Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim/München 2001, S. 67–80.

Dank

Die vorliegende Studie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner im März 2009 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin eingerichten Dissertation. Auf dem langen Weg von den ersten Recherchen bis zum fertigen Buch haben mich zahlreiche Personen unterstützt, denen ich sehr herzlich danken möchte. Mein erster Dank gilt dem Betreuer dieser Arbeit, Prof. Dr. Rolf Lindner, dem ich nicht nur die Bekanntschaft mit der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« verdanke, sondern der mir ein freundschaftlicher und anregender akademischer Lehrer war und ist, wie man ihn sich nur wünschen kann. Prof. Dr. Rebekka Habermas hat das Zweitgutachten übernommen und mit dafür gesorgt, dass die Arbeit nun in der Reihe Campus Historische Studien erscheint. Für seine Übernahme des Prüfungsvorsitzes bei der Disputation im November 2009 danke ich Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba, der meine Arbeit ebenfalls wohlwollend begleitet hat. Das Berliner Institut für Europäische Ethnologie war mir fast zehn Jahre lang eine wissenschaftliche Heimat; während der Arbeit an der Dissertation war insbesondere das »Privatissimum« mit Rolf Lindner, Thomas Bürk, Silvy Chakkalakal, Moritz Ege, Thomas Kochan, Robert Lorenz und Anja Schwanhäußer ein wichtiger Gesprächskreis. Prof. Dr. Johannes Moser, Prof. Dr. Gottfried Korff und Prof. Dr. Christoph Sachße haben mir mit Gutachten weitergeholfen; Prof. Dr. Wolfgang Hardtwig und Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch gaben mir die Gelegenheit, Teilergebnisse dieser Arbeit in ihren Berliner Kolloquien vorzustellen. Während der Forschungsarbeiten haben mich zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Archiven und Bibliotheken unterstützt – insbesondere danke ich dem Team des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, namentlich meinen dortigen Fachbetreuern Dr. Friedrich Künzel und Dr. Peter Beier; ein Dank geht aber auch an das Personal der Berliner Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße, in deren ganz besonderer Arbeitsatmosphäre wesentliche Teile des Textes entstanden sind. Für die

DANK

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finanzielle Unterstützung der Arbeit an der Dissertation danke ich der Graduiertenförderung des Landes Berlin, die mir ein Promotionsstipendium gewährt, sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, die den Hauptteil der Druckkosten übernommen hat. Die Reihenherausgeber haben mein Manuskript freundlich aufgenommen; Dr. Tanja Hommen und Eva Janetzko vom Campus Verlag haben es schließlich kompetent lektoriert und zum Druck befördert. Meiner Lebensgefährtin Ulrike danke ich dafür, dass sie sowohl die Fertigstellung dieser Arbeit im Frühjahr 2009 auf wunderbare Weise verzögert, als auch alle meine weiteren Arbeiten wesentlich unterstützt hat. Sie und unsere beiden Kinder Johannes und Michael haben mir in Wien und Osttirol die Zeit zur Überarbeitung des Textes gegeben und gleichzeitig für die notwendige Balance zwischen Arbeit und Leben gesorgt. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern Edeltraud und Paul Wietschorke, die unendlich viel mehr zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, als sie vermutlich denken.

Campus Historische Studien

Jens Wietschorke Arbeiterfreunde Soziale Mission im dunklen Berlin 1911 – 1933 2013. 450 S. Band 67. ISBN 978-3-593-39744-3

Daniel Gerster Friedensdialoge im Kalten Krieg Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957 – 1983 2012. 375 S. Band 65. ISBN 978-3-593-39737-5

Francisca Loetz Sexualisierte Gewalt 1500 – 1850 Plädoyer für eine historische Gewaltforschung 2012. 249 S. Band 68. ISBN 978-3-593-39720-7

Patrick Kury Der überforderte Mensch Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout 2012. 342 S. Band 66. ISBN 978-3-593-39739-9

Ludolf Kuchenbuch Reflexive Mediävistik Textus – Opus – Feudalismus 2012. 578 S. Band 64. ISBN 978-3-593-39738-2

Philipp Zessin Die Stimme der Entmündigten Geschichte des indigenen Journalismus im kolonialen Algerien 2012. 362 S. Band 62. ISBN 978-3-593-39637-8

Michael G. Esch Parallele Gesellschaften und soziale Räume Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880 – 1940 2012. 483 S. Band 63. ISBN 978-3-593-39634-7

Stefan Rebenich, Hans-Ulrich Wiemer (Hg.) Johann Gustav Droysen Philosophie und Politik – Historie und Philologie 2012. 496 S. Band 61. ISBN 978-3-593-39638-5

Stefan Mörchen Schwarzer Markt Kriminalität, Ordnung und Moral in Bremen 1939 – 1949 2011. 515 S. Band 54. ISBN 978-3-593-39298-1

Isabel Richter Der phantasierte Tod Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert 2011. 380 S. Band 58. ISBN 978-3-593-39424-4

Walter Sperling Der Aufbruch der Provinz Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich 2011. 481 S. Band 59. ISBN 978-3-593-39431-2

Benjamin Städter Verwandelte Blicke Eine Visual History von Kirche und Religion in der Bundesrepublik 1945 – 1980 2011. 432 S. Band 60. ISBN 978-3-593-39487-9

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