Antônio de Castro Alves (1847 - 1871): Seine Sklavendichtung und ihre Beziehungen zur Abolition in Brasilien 9783111389172, 9783111027371


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German Pages 384 Year 1958

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
EINLEITUNG
Erstes Kapitel: DIE WELT UND DAS LEBEN DES DICHTERS
Zweites Kapitel: DIE SKLAVEN DICHTUNG
Drittes Kapitel: DIE BEZIEHUNGEN ZUR ABOLITION
Viertes Kapitel: Die Sklavendichtung als Element einer Bewertung des Dichters in der brasilianischen Literatur
BIBLIOGRAPHIE
Vorbemerkung
Titelregister der Gedichte
Namensregister
Abbildungen
ZUSÄTZE UND BERICHTIGUNGEN
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Antônio de Castro Alves (1847 - 1871): Seine Sklavendichtung und ihre Beziehungen zur Abolition in Brasilien
 9783111389172, 9783111027371

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HAMBURGER ROMANISTISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Romanischen Seminar der Universität Hamburg Direktoren: Hellmuth Petriconi und Rudolf Grossmann

B. I B E R O - A M E R I K A N I S C H E

REIHE

(Fortsetzung der »Ibero-amerikanischen Studien«) Herausgegeben vom Ibero-amerikanischen Forschungsinstitut Direktor: Rudolf Grossmann

Band 26

ANTONIO DE CASTRO ALYES (1847-1871) Seine Sklavendiditung und ihre Beziehungen zur Abolition in Brasilien

Von

HANS J Ü R G E N HORCH

K O M M I S S I O N S V E R L A G : CRAM, DE G R U Y T E R & CO. HAMBURG 1958

Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany D r u c k v o n H. J . J . H a y , K e l l i n g h u s e n

(Holstein)

INHALT Einleitung: Wandlungen im Castro-Alves-Bild

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I. Kapitel Die Welt und das Leben des Dichters 1. Sklaverei und Abolitionismus in Brasilien . 2. Die Familie des Dichters 3. Das Leben des Dichters

13 23

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II. Kapitel Die Sklavendichtung 1. Quellen a) Einflüsse aus dem Leben des Dichters . . . . b) Der Sklave in der brasilianischen Literatur vor Castro Alves c) Fremde literarische Einflüsse

25 33 37

57 59 59 72 79

2. Interpretation der Sklavendichtung a) Gesichtspunkte einer Gliederung b) "OB Escravos" c) "A Cachoeira de Paulo Affonso" d) Sonstige Dichtungen

103 103 110 Í72 201

3. Besonderheiten der künstlerisch-sprachlichen Gestaltung

206

III. Kapitel Die Beziehungen zur Abolition 1. Der Wahrheitsgehalt der Sklavendichtung . . . . 2. Die Auswirkungen der Sklavendichtung auf die abolitionistische Idee IV. Kapitel Die Sklavendichtung als Faktor einer Bewertung des Dichters in der brasilianischen Literatur

213 215 220

231

Bibliographie

239

Titelregister der Gedichte Namensregister Abbildungen Zusätze und Berichtigungen

372 374 380 384

Vorwort Die vorliegende Darstellung versucht, den Wesensgehalt der brasilianischen Sklavendichtung in ihrer Gestaltung durch einen der bedeutendsten Exponenten der Literatur dieses jungen, in der Vielseitigkeit seines geistigen Schaffens jedoch überaus reichen Volkes zu erfassen. Der sich aus einem solchen Vorhaben ergebenden Schwierigkeiten ist sich der Verfasser vollauf bewufit. Sie beginnen bereits bei den oftmals langwierigen und dennoch häufig vergebens bleibenden Bemühungen um einwandfreies Quellenmaterial. Im Falle eines europäischen Dichters von der gleichen nationalen Bedeutung, wie sie der Brasilianer Castro Alves für sein Land besitzt, wäre es beispielsweise kaum denkbar, dal? im Laufe von drei Generationen weder eine wirklich kritische Gesamtausgabe erschienen, noch das Werk des Dichters in seiner Gesamtheit jemals Gegenstand befriedigender methodischer Untersuchungen gewesen ist. Erst kürzlich haben sich in dieser Richtung Anzeichen einer grundlegenden und sicherlich notwendigen Wandlung bemerkbar gemacht. Das leider für eine Berücksichtigung in der vorliegenden Darstellung zu spät verfügbar gewordene Werk Jamil Almansur Haddads zeigt zumindest neue Wege einer Betrachtungsweise auf, an deren Ende, vielleicht unter Heranziehung auch anderer, in der "Revisäo de Castro Alves" nicht auffindbarer Elemente eine dem Dichter und seinem Werke eher gerecht werdende Gesamtschau stehen könnte. In der Frage des primären Quellenmaterials hat die Nationalbibliothek zu Rio de Janeiro vor wenigen Jahren den ersten Schritt unternommen, um in dankenswerterweise sich die elementarste Forderungnach Sicherung der bekannten Manuskripte des Dichters zu eigen zu machen. Obschon das bis heute in der Biblioteca Nacional zusammengetragene Material bei weitem nicht alle bekannten Manuskripte umfaßt und in noch geringerem Maße repräsentativ für das Gesamtwerk genannt werden kann, so sollte doch neben der Notwendigkeit einer rein materiellen Sicherung des Bestandes auch der unzweifelhafte Nutzen dieser Initiative voll anerkannt werden. Das vorhandene Material ermöglicht bereits heute wertvolle Rückschlüsse auf die Methodik des Dichters, wie es auch manche Hinweise auf die zeitliche Zuordnung einzelner Teile des Werkes enthält. So kann in dem lobenswerten Vorhaben der brasilianischen Nationalbibliothek ein gewisser Grundstock für die weitere Castro-Alves-Forschung erblickt werden, als deren vordringlichste Aufgabe die Durchführung einer kritischen Gesamtausgabe gelten mag. Die Notwendigkeit eines solchen Vorhabens mag bereits daraus erhellen, daß eines der bedeutenderen Gedichte aus "Os Escravos" mehr als neunzig Jahre nach seiner Entstehung noch nicht im vollen Ausmaß veröffentlicht worden ist, wie

sich audi etwa aus der Durchsicht des Manuskriptes d e r "Cachoeira de Paulo Affonso" Erkenntnisse ergeben, zu denen m a n durch Benutzung jeglicher bislang vorliegender Ausgaben nicht zu gelangen vermochte. Schwierigkeiten bestehen jedoch nidit n u r hinsichtlich des primären, wie auch s e k u n d ä r e n Quellenmaterials. Jede ernsthafte Beschäftigung mit der Dichtung eines in Sprache und Wesen f r e m d e n Volkes w i r d sich gewissen Grenzen gegenübersehen. Untersuchungen ü b e r universale Eigenschaften oder Wesensmerkmale im Gehalt einer solchen Dichtung w e r d e n bei Beherrschung der hier n u r als Mittler zu berücksichtigenden sprachlichen Aspekte j e n e Grenzen weniger deutlich empfinden lassen, die einem Versuch der Erfassung des spezifischen Wesens einer solchen Dichtung und ihres Autors merklichen Widerstand entgegenzusetzen vermögen. Hier geht es nicht allein um die sprachliche Beherrschung als vielmehr um eine Vertrautheit mit der Wesensart eines ganzen Volkes und ihrer oftmals n u r mittelbar zu erfassenden Herausbildung in einem seiner Dichter, dessen Zeit u n d Welt nicht n u r w i r Außenstehenden, sondern bereits seine eigenen Landsleute der heutigen Generation sich nicht immer zu vergegenwärtigen vermögen. Es k a n n keinem Zweifel unterliegen, dafi in dem vorliegenden Falle ein brasilianischer Verfasser über gewisse, einer solchen Untersuchung dienliche Elemente ohnehin verfügt, die ein europäischer Betrachter sich erst erarbeiten muß. Dennoch will mir scheinen, als befinde sich letzterer nicht unbedingt im Nachteil gegenüber seinem brasilianischen Fachgenossen. Er w i r d doch weniger leicht in den Fehler mancher Exponenten vergleichender literarischer Kritik in j u n g e n L ä n d e r n verfallen, ihren Dichter nun in allen auch n u r irgendwie mit ihm v e r k n ü p f b a r scheinenden Großen der Weltliteratur wiederzuerblicken. E r wird also die meist übertriebene Darstellung des d a r a u s abgeleiteten Schüler-Meister-Verhältnisses gleichermaßen vermeiden können wie auch j e n e geistigen Scheinbindungen, die gerade in der Geschichte mancher lateinamerikanischer L i t e r a t u r e n das Ausmaß der wirklichen geistigen Durchdringung oftmals erheblich zu überschätzen pflegten. Aus seiner universalen geistesgeschichtlichen Schau heraus wird sich der außenstehende — etwa europäische — Betrachter weitaus eher unter Berücksichtigung v e r w a n d t e r literarischer Strömungen, ähnlicher historischer Gegebenheiten oder gleichartiger sozialer Problemstellung von dem universalen Bereich aus an sein T h e m a herantasten. Er wird versuchen, diesen einzuengen, anstatt sich in der grenzenlosen Expansion seines Themas auf den universalen Bereich zu verlieren. Er w i r d also zumeist seinen Vorteil darin w a h r n e h m e n sollen, den selektiven C h a r a k t e r der geistigen Durchdringung und — in n e u e r e r Zeit — auch die wechselseitige Beeinflussung deutlicher herausarbeiten zu können. Es mag somit durchaus den Anschein haben, als befinde sich ein Außenstehender — auch in manch a n d e r e r Hinsicht als den hier n u r k u r z angedeuteten Aspekten — nicht unbedingt im Nachteil schlechthin, sondern als könne sein Beitrag gleichermaßen wertvoll werden, falls e r ü b e r den Bereich des Eindringens in die Wesensart eines ihm f r e m d e n Dichters hinausgelangt.

Nur dem letztgenannten Anspruch vermag jedoch die vorliegende Darstellung nach Anlage, Umfang und Tiefe der Durchdringung der gestalteten Stoffwelt versuchen gerecht zu werden. Gelingt ihr solches, so hat sie nach Meinung des Verfassers ihren Sinn als ersten Schritt zum Verständnis einer dem Europäer oftmals wenig vertrauten geistigen Welt erfüllt. Der Verfasser wurde zur Behandlung des vorliegenden Themas Ende 1949 durch Herrn Professor Dr. R. Grossmann angeregt, der auch in den folgenden Jahren der Erarbeitung des Materials und während der 1953 erfolgten Niederschrift am Werdegang dieser Arbeit regen Anteil genommen und sie durch wiederholte Hinweise und wertvolle Diskussionen in mancher Hinsicht bereichert hat. Für die Ermöglichung der Drucklegung der Arbeit durch ihre Aufnahme in die Schriftenreihe der "Hamburger Romanistischen Studien" bleibt der Verfasser den Herren Professor Dr. H. Petriconi und Professor Dr. R. Grossmann ebenfalls dankbar verbunden. Aufrichtiger Dank gebührt gleichermaßen seinen Mitarbeitern am Ibero-amerikanischen Forschungsinstitut der Universität Hamburg, insbesondere Herrn Dr. H. Minnemann und Herrn Dr. H. Schneider, nicht weniger jedoch auch dem leider bereits verstorbenen Herrn Hermann Woltze für ihren stets willkommenen Rat. Das Material für die Erarbeitung des Stoffes, das seinen deutlichsten Niederschlag in der beigefügten Bibliographie findet, wurde während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Brasilien zusammengetragen und konnte in den USA in mancher Beziehung vervollständigt werden. Der Verfasser ist Herrn Bürgermeister Rudolf Petersen, Hamburg, sowie den Herren Walter Moeller, Günter Klusemann und Gerhard Reimann, sämtlich in Säo Paulo, zu Dank verpflichtet, da ihm die Genannten bei der Verwirklichung des Studienaufenthaltes in Brasilien wertvolle Hilfe geleistet haben. Die freundliche Unterstützung, die ihm Senator Assis Chateaubriand und Botschafter Mário da Costa Guimaräes angedeihen ließen, sei ebenso dankbar vermerkt wie die mit beiden Herren wiederholt geführten Diskussionen, die äußerst befruchtend für das Verständnis der brasilianischen Wesensart genannt werden können. Der Verfasser schätzt sich glücklich, in Rio de Janeiro sowohl in der Biblioteca Nacional als auch in dem Instituto Nacional do Livro uneingeschränktes Verständnis und jede nur mögliche Unterstützung gefunden zu haben. Es ist ihm ein aufrichtiges Bedürfnis, Eugênio Gomes, José Honorio Rodrigues und Augusto Meyer nicht nur für ihre freundliche Hilfe zu danken, sondern er erinnert sich auch gern häufiger gemeinsamer Aussprachen, die ihm vielfach erst ein tieferes Eindringen in die Besonderheiten der brasilianischen Literatur ermöglicht haben. Im gleichen Sinne fühlt er sich Jorge de Lima verpflichtet, wie auch die aufsdilußreichen Erörterungen mannigfaltiger Aspekte des gewählten Themas mit D. Ana Amélia de Queiroz Carneiro de Mendonça (Casa do Estudante do Brasil) und D.Maria Luisa P.Monteiro da Cunha (Biblioteca Central da Reitoria da Universidade de Säo Paulo) nicht unvergessen bleiben sollen.

D. Vera Leäo de Andrade und Herman Lima schließlich haben, gestützt auf ihre reichen Kenntnisse und langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Quellenforschung, die ansehnliche Bibliographie des Dichters um manchen wertvollen Hinweis bereichert, wofür ihnen auch an dieser Stelle Dank gesagt sei. Der für die Abrundung der Studien sehr wertvolle Aufenthalt in den USA wurde dem Verfasser in dankenswert großzügiger Weise von der Rockefeiler Foundation ermöglicht. Ferner danke ich Herrn Dr. Lewis Hanke als damaligem Direktor der Hispanic Foundation an der Library of Congress und unvergessenem Organisator des ersten "International Colloquium on Luso-Brazilian Studies" f ü r seinen stets bekundeten freundschaftlichen Beistand, sei es bei der Benutzung der so überaus reichen Bestände der Hispanic Foundation, sei es in der dem echten Historiker eigenen sorgfältigen Abwägung eines mafivollen Urteiles. Mein besonders aufrichtiger Dank aber gebührt Fräulein Ilse Dircks vom Ibero-amerikanischen Forschungsinstitut der Universität Hamburg. Sie hat nicht nur die Anfertigung eines erheblichen Teiles des Dissertationsmanuskriptes — darunter der gesamten Bibliographie — besorgt, sondern sich in den folgenden Jahren auch unermüdlich um eine Drucklegung der Arbeit bemüht und diese schließlich in vorbildlicher Weise überwacht. Meiner Frau danke ich f ü r Jahre gemeinsamer Arbeit an einer Aufgabe, deren Anfänge sich aus der Sichtung des oft fast unzugänglichen Materials ergaben und deren erste greifbare Ergebnisse sich nun abzuzeichnen beginnen. Sie hat nicht nur die Durchsicht der Manuskripte besorgt, sondern auch hinsichtlich der formalen Aspekte der Sklavendichtung manchen wertvollen Hinweis geleistet. Wer überdies mit der Problematik wissenschaftlicher Arbeit und besonders bibliographischer Hilfsmittel in Brasilien vertraut ist, wird ermessen können, ein wie beträchtlicher Teil der vorliegenden Darstellung ohne ihre Hilfe hätte ungeschrieben bleiben müssen.

Säo Paulo, Brasilien, im Juli 1957 Hans JürgenHorch

EINLEITUNG

Wandlungen im Castro Alves-Bild O melhor modo de firmar a reputaçâo dos talentos legítimos éjulgá-los commoderaçâo. Joaquim Nabuco ("Castro Alves", p. i) Innerhalb der brasilianischen Literaturwissenschaft nimmt die Gestalt des Diditers Antonio de Castro Alves seit langem eine auffällige Sonderstellung ein. Sie ist jedoch weniger durch eine besonders prägnante Herausarbeitung seines literarischen Werkes bestimmt, als vielmehr durch eine erstaunliche Zahl von Unstimmigkeiten und sogar Widersprüchen gekennzeichnet, von denen manche bis auf den heutigen Tag einer befriedigenden Klärung entbehren. Schon das Schrifttum über Castro Alves würde sicherlich eine der umfassendsten und aufschlufireichsten Bibliographien der brasilianischen Literaturgeschichte ergeben, dodi heben sich die bislang vorliegenden Zusammenstellungen weder im Umfange noch in der Gründlichkeit ihrer Bearbeitung wesentlich von den bibliographischen Versuchen über andere Dichter ab.1) Widersprüche birgt auch die Frage nach der Stellung des Dichters zu den literarischen Strömungen seiner Zeit in sich. Gonçalves Dias wird allgemein als der bedeutendste unter den brasilianischen Frühromantikern, Alberto de Oliveira neben Olavo Bilac als bestimmender Vertreter der Schule des Parnafi anerkannt, Cruz e Souza ist als Verkörperung des Symbolismus gleichermaßen zu einem Begriff geworden, wie etwa Mario de Andrade, Manuel Bandeira und Jorge de Lima die moderne Dichtung richtungweisend beeinflufit haben. Während sie alle und viele andere mit ihnen also einen wohlumrissenen Platz in der mit tropischer Fruchtbarkeit sprießenden brasilianischen Literatur gefunden haben, wird man nach einer ähnlich gefestigten Stellung für Castro Alves vergeblich suchen. Zumeist ist Castro Alves als der bedeutendste Dichter des brasilianischen Condorismus angesehen worden. Afrânio Peixoto hat sogar versucht nachzuweisen, daß Castro Alves, nicht aber seinem von dessen Landsmann Sylvio Romero verteidigten Rivalen Tobias Barreto de Menezes der Führungsanspruch und Ruhm eines Gründers dieser literarischen Strömung zukäme. Es ist dabei aber noch keineswegs überzeugend geklärt worden, ob der Condorismus mehr als eine in der Wahl ihrer dichterischen Ausdrucksmittel zu gewissen Übersteigerungen neigende Schlußphase der brasilianischen Romantik gewesen ist. Die wenigen und meist nicht sonderlich hervorragenden Nachfolger unseres Diditers 1 ' haben kaum dazu beigetragen, daß sich der Condorismus gegenüber 1) Afrânio Peixoto, "Castro Alves. Ensaio bio-bibliogràfico*, Rio, 1931. Antonio Simöes dos Reis, 'Poetas do Brasil', Rio, 1949, vol. I, pp. 96-116. Otto Maria Carpeaux, 'Pequeña Bibliografia Critica da Literatura Brasileira*, Rio, 1952, pp. 110-114. 2 ) Vgl. hierzu Afrânio Peixoto, 'Origem e descendência de Castro Alves: Os Castrides" apud Afrânio Peixoto, "Castro Alves. O poeta e o poema." 4. ed. Rio, 1947, pp. 303 ff.

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dem aufkommenden Realismus hätte behaupten können. Mag aber auch das Beispiel des Symbolisten Cruz e Souza zeigen, daß es zur Herausbildung einer literarischen Schule nicht immer einer großen Nachfolgerschaft bedarf, so bestehen zumindest seit der militanten Kritik eines José Oiticica einige Zweifel daran, ob Castro Alves in den wesentlichen Schöpfungen seines kaum achtjährigen literarischen Wirkens ernstlich als condor istisch im Sinne eines malilosen Gongorismus angesprochen werden könne 3 '. Denn nur in reinen Gelegenheitsdichtungen habe er das Maß des Erträglichen in seiner "grandiloquência" überschritten, wobei noch offen bliebe, inwieweit die Ubertreibung hugoischer Hyperbolen der natürlichen Vorliebe brasilianischer Dichter für farbenprächtige Metaphern zugeschrieben werden müsse. Und bereits Joaquim Nabuco stellte kurz nach des Dichters Tod in verdienstvoller Weise fest, dafi Verse wie "Ao dois de julho" bewußt und ausschließlich um des augenblicklichen Publikumserfolges willen die condoristische "bomba" als Stilmittel verwandt hätten, aber gerade deswegen eigentlich nicht in den Ausgaben des castroalvinischen Werkes figurieren sollten und noch weniger f ü r eine Bewertung seines echten literarischen Werkes herangezogen werden dürften 4 ). Das offensichtliche Fehlen eines einheitlich ausgeprägten Stiles sowie die mangelnde Einordnung in eine fest umrissene literarische Schule konnten leicht dazu führen, dafi die brasilianische Kritik in Castro Alves ein aus der normalen geistigen Entwicklung des Landes herausgelöstes Phänomen erblickte, das den Gesetzen der literarischen Genealogie einfach nicht gehorchte 6 ). So findet sich immer wieder der gewifi eindrucksvolle und in seiner Leuchtkraft dem brasilianischen Empfinden auch durchaus gerecht werdende Vergleich mit dem unerwarteten, an kein äußerliches Ereignis gebundenen Aufflammen, dem alles überstrahlenden Glänze und dem ebenso plötzlichen Verlöschen eines Kometen®'. Und schien dieses Bild nicht auch seine Bestätigung zu erlangen in der Erwartung eines Wunder verheißenden Schweifes literarischer Schüler, der dann doch in wesenloses Nichts zerfiel, ohne sonderlich sichtbare Spuren zu hinterlassen? Gleich einem roten Faden zieht sich dieses Problem der Einmaligkeit des Castro Alves-Phänomens durch die brasilianische Literaturgeschichte der Vergangenheit. Dem Bilde des Dichters wurde damit ein eindeutiger, in der Schärfe seiner Konturen geradezu befremdender Stempel aufgedrückt und der Herausarbeitung eines a priori profilierten Bildes sowohl in Richtung einer maßlosen Glorifizierung wie auch in der gleichermaßen ungerechtfertigten Verdammung oftmals die Bereit3 ) José Oiticica, "Castro Alves". Maceió (Alagoas), 1916; "Jornal de Alagoas", ano XI, nos 58/60, 16-18. 3. 1916. Die gleiche Meinung findet sich bestätigt durch Lopes Rodrigues : "É minima a parte gongörica, destinada a recitativos em praças públicas" in Lopes Rodrigues, "Castro Alves", Rio, 1948, p. 1163. i) Joaquim Nabuco, "Castro Alves", Rio, 1873, p. 23/4. B ) José de Alencar, 'Um Poeta, Carta a Machado de Assis". "Correio Mercantil", 22. 2. 1868. e ) Etwa bei A. de Souza Pinto, "Castro Alves" in "Castro Alves e Camôes", Sâo Paulo, 1907,

p. 12.

Der Vergleich wurde auch in die französische Kritik übernommen: Georges Le Gentil, "La Littérature portugaise", Chap. XVII, "La Littérature brésilienne", p. 186.

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schaft zum Erkennen seiner wirklichen Werte geopfert. Das lapidare, in seiner fortwährenden Wiederholung allerdings unwahrscheinlich ausgeschmückte Urteil Antonio Nobres vom "maior poeta brasileiro" 7 ' wird einer echten literarischen Bewertung nicht eher gerecht als das in seiner Maßlosigkeit allenfalls für seinen Verfasser Olavo Bilac gültige Bekenntnis: "Ha muito tempo todos consideram Gonçalves D i a s . . . poeta cinquenta mil (!!!) vezes superior a Castro Alves..." 8 '. Und die Erhebung des Autoren der "Espumas Flutuantes" zum nächst Luis de Camöes größten Dichter der portugiesischen Zunge9', oder die in den politisch-weltanschaulichen Bereich übergreifenden Verherrlichungen durch Jorge Amado 10 ' können wohl einer objektiven Schau nur gleichermaßen hinderlich sein, wie die Polemik des allenfalls als Journalisten zu schätzenden Belarmino Barreto 11 ' oder jene Diffamierungen, derer Nogueira da Silva kaum bedurft hätte, um seine Stellung als Sachwalter eines in seiner Größe ohnehin unantastbaren gonçalvinischen Erbes zu behaupten 12 '. Welche Beweggründe zu diesen hier nur in wenigen extremen Beispielen herausgegriffenen Urteilen geführt haben mögen, kann in der vorliegenden Darstellung nur soweit untersucht werden, als sie sich auf die Sklavendichtung beziehen und darin wirklich entscheidend das Urteil über Castro Alves beeinflußt haben. Allgemein gesehen aber lassen sie doch in bedauernswertem Ausmaße das Eingehen auf die Voraussetzungen dafür vermissen, daß sich in der Literatur Brasiliens überhaupt eine Gestalt wie Castro Alves entwickeln konnte. Und ebenso führen sie uns andererseits auch nicht einen einzigen Schritt über das rein dichterische Werk hinaus, indem sie etwa Schlüsse auf die möglichen Rückwirkungen der castroalvinischen Sklavendichtung auf die Verbreitung und Vertiefung des Abolitionsgedankens zuließen. Vor allem aber werden sie auch bei der Beurteilung des dichterischen Gesamtschaffens nicht unseren Erwartungen in einer Weise entsprechen können, die für eine Klärung der Stellung des Dichters innerhalb der brasilianischen Literatur erforderlich zu sein scheint. Lediglich eine oberflächliche Betrachtung der brasilianischen Literaturkritik aber würde in dieser augenfälligen Schwarzweißzeichnung die einzigen Zeugnisse über Castro Alves erblicken. In offenkundigem Gegensatz dazu besitzen wir Versuche, Gestalt und Werk des Dichters tiefer auszuleuchten und dabei auch jene vielfach abgestuften Sphären zwischen Licht und Schatten zu berücksichtigen, die für eine Beurteilung vielleicht die wesentlicheren Momente ergeben. Den deutlichsten Fort7) Antonio Nobre, "Correspondencia', Carta a Baltar, Pòrto, 9-2-85, repr. in: "A Rajada", Rio de Janeiro, 1920 (No. 6, serie 2, p. 50/52). β) Olavo Bilac, "Carta a Alberto de Oliveira", Säo Paulo, 1887, "Diàrio Mercantil" 29. 4. 1887, p. 1. 9 ) Gilberto Amado, "Castro Alves", Rio, 1932, "Boletim de Ariel", ano II, No. 2, novembro de 1932, p. 31. 10) Jorge Amado, (Homenagem a Castro Alves) ¡ Rio, 1947, "Diario do Congresso Nacional", ano II, No. 31, 18. 3. 1947, p. 540. 11) Belarmino Barreto, Discussáo Literária . . .". Uber die zahlreichen Artikel vgl. die Bibliographie am Ende der Darstellung. 12) Manuel Nogueira da Silva, 'Gonçalves Dias e Castro Alves", Rio, 1943 passim. 1 3 ) Augusto Alves (sie) Guimaräes in: Valle Cabrai, 'Biographia de Antonio de Castro

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schritt verzeichnen in dieser Richtung die biographischen Arbeiten. Sie führten von der Veröffentlichung der ersten, notwendigerweise noch fragmentarischen Grundelemente durch den Schwager des Dichters 13 ' über die ersten Biographien aus der Feder eines Múcio Teixeira und Xavier Marques 14 ) zu den interpretativen Vortragen Afrânio Peixotos und fanden in der "Historia de Castro Alves" von Pedro Calmon bislang ihre beste Gesamtdarstellung 15 ). Äußerlich fanden sie ihre Krönung, im Gehalt aber auch bereits in vieler Hinsicht sowohl als Biographie wie als Interpretation ihre Grenze in dem umfangreichen Werke von Lopes Rodrigues Ferreira, das nicht selten über Castro Alves hinausgreift und zuweilen jeden inneren Zusammenhang mit ihm verliert1®). Lassen somit das Werk Calmons wie auch manche wertvolle Einzeldarstellungen 17 ) bereits ein erfreuliches Eingehen auf die geistigen Strömungen, die brasilianische Gesellschaftsstruktur des zweiten Kaiserreiches und andere Faktoren erkennen, die den Dichter maßgeblich beeinflußten, so trifft gleiches für die Ansätze einer Beurteilung seines literarischen Werkes leider nodi nicht immer in entsprechendem Ausmaße zu. Zeitgenössische Quellen sind — vielleicht infolge der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten — nicht überall in wünschenswerter Weise herangezogen worden, um beispielsweise Ursprung und Wirkung der Sklavendichtung bei Castro Alves zu beleuchten. Man glaubte vielmehr, den Ruhm des Dichters dadurch am sichersten wahren' zu können, daß man seine Fehler verschwieg. So wurde gegenüber Joaquim Nabuco, der auf gewisse stilistische Unzulänglichkeiten in der castroalvinischen Dichtung zu verweisen sich anmaßte, tadelnd geltend gemacht, er hätte den Dichter nicht verstanden18). Dabei aber hat der gleiche Nabuco das Castro-Alves-Bild so günstig beeinflußt wie kaum ein anderer der Zeitgenossen, indem er als erster darauf verwies, daß es dem Dichter als höchster Ruhm angerechnet werden müsse, sein Talent bewußt in den Dienst der Freiheit und insbesondere der Sklavenemanzipation gestellt zu haben19). Bei einer Wertung der Sklavendichtung im Rahmen der abolitionistischen Propaganda kann dieses Urteil eines führenden Abolitionisten nicht hoch genug veranschlagt werden; es ist jedoch in nur bescheidenem Maße aufgegriffen worden. Andererseits konnte es offenbar bei dem im Falle einer jungen Literatur verständlichen Bestreben, den Glanz einzelner hervorragender Literaten nicht zu schmälern, kaum ausbleiben, daß ihr Urteil eine gewisse Alves", Rio, 1883, "Gazeta Literária", ano I, No. 2 + 5, pp. 34/35, 101/102. n ) Múcio Teixeira, "Biographie do Poeta", apud Castro Alves, "Os Escravos", Rio de Janeiro, s. d. (1884), pp. V-XLI. Múcio Teixeira, Vida e Obra de Castro Alves", Bahia, 1896. Xavier Marques, "Vida de Castro Alves", in "Horaenagem do Instituto Geográfico e Histórico da Bahia", Bahia, 1910, pp. 37-189. Xavier Marques: "Vida de Castro Alves", Bahia, 1911, 2. ed. aumentada 1924, pp. 262. ι») Pedro Calmon, "História de Castro Alves", Rio, 1947, 293 pp. 1 β ) Η. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", Rio, 1948, 3 vols, 1.310 pp. i?) u. a. Waldemar Mattos, "A Bahia de Castro Alves", SSo Paulo, 1948, (2a ed.), 174 pp. Heitor Ferreira Lima, "Castro Alves e sua época", Säo Paulo, 1942, 207 pp. is) José Oiticica, "Castro Alves", Maceió, Alagoas, 1916, 'Jornal de Alagoas", ano XI, nos 58/60, 16-18. 3. 1916. l e ) Joaquim Nabuco, 'Castro Alves", Rio, 1873, passim, bes. p. 10.

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U b e r b e w e r t u n g e r f u h r , die seinem Gehalt eigentlich nicht zugekommen wäre. So ist der Briefwechsel zwischen José de Alencar und Machado de Assis über den j u n g e n Castro Alves vor allem in seiner Klassifizierung des "Gonzaga" als W e r k eines Hugo-Schülers bis heute in der brasilianischen Kritik als nahezu unantastbares Urteil von Bestand geblieben 2 "'. Es ist dabei w e d e r berücksichtigt worden, dafi die Briefe eine gewichtige Empfehlung des j u n g e n Dichters durch einen maßgeblichen bahianischen Politiker zum Anlaß hatten 2 1 ', noch ist dem Umstand Rechnung getragen worden, daß vielleicht José de Alencar, keinesfalls aber Machado de Assis22) zu dem fraglichen Zeitpunkt bereits den Zenith ihres späteren literarischen Ruhmes erreicht haben konnten. Für eine Betrachtung der Sklavendichtung bei Castro Alves aber verlieren diese Briefe noch weiterhin dadurch an Gewicht, daß sie lediglich den Verfasser des "Gonzaga" und einiger anderer, nicht ausschließlich abolitionistischer Gedichte zum Gegenstand ihres Urteiles nahmen, nicht aber den Schöpfer der erst wenige Monate später entstandenen "Tragèdia no Mar" und der "Yozes d'Africa" 2 3 '. Ähnliches gilt audi f ü r die G e d e n k r e d e zum zehnten Todestage des Dichters, mit welcher Rui Barbosa seinen Beitrag zur Glorifizierung seines einstigen Kommilitonen leistete 24 '. Leider bislang n u r unvollkommen v e r w e r t e t e zeitgenössische Beobachter hielten die rhetorische Leistung des abolitionistischen Rechtsgelehrten und späteren Politikers durchaus nodi f ü r gleichermaßen bemerkenswert wie seine Bewunderung f ü r das Dichtwerk des allzu f r ü h Verstorbenen 2 5 '. Rui Barbosa hat niemals beansprucht, ein bindendes literarisches Urteil über den Dichter und F r e u n d abgegeben zu haben 2 6 '. Nichtsdestoweniger aber finden sich Zitate aus dieser G e d e n k r e d e oftmals als entscheidende F u n d a m e n t e f ü r den literarischen R u h m unseres Dichters verwandt 2 7 ', "que escreveu o poema da nossa grande questäo social", ohne daß hin20) J o s é de Alencar, "Um poeta', Carta a Machado de Assis, Rio, 1868, "Correio Mercantil', 22. 2. 1868¡ Madiado de Assis, "Ao Exmo Sr. Conselheiro José de Alencar", Rio, 1868, "Correio Mercantil", 1. 3. 1868. 21 ) J. J. Fernandes da Cunha. Bei Alencar, loc. cit.: "um dos pontífices da tribuna brasileira". F e m a n d e s da Cunha gab seinem jungen Schützling auch andere Empfehlungsschreiben auf den W e g nach Rio de Janeiro mit, so an den Conselheiro de Paranhos (José Maria da Silva Paranhos, Visconde do Rio Branco). Der Brief befindet sich in der B. N. Rio de Janeiro, Seçâo de Manuscritos (item 1-30, 29, 86). Vgl. auch Calmon, op. cit. p. 162. Uber Fernandes da Cunha ferner: Sacramento Blake, "Dicionário bibliográfico brasileiro", Rio, 1883-1902; vol. I p. 239; Barros, "Castro A l v e s e Eugènia Cámara", p. 53. 2i! ) Im folgenden seien die Daten einiger Werke beider Schriftsteller angegeben: José de Alencar, "Guarany", 1857; "Mae", 1862; "Iracema", 1865; "Ubirajara", 1875; Ό gaucho", 1870; "O Sertanejo', 1876 ; Joaquim Maria Machado de Assis, "Bras Cubas", 1881; "Quincas Borba", 1890; "Dom Casmurro", 1900. í3 ) Sylvio Romero datiert beide Gedichte irrtümlich "do Recife e da Bahia antes da viagem" (Historia da Literatura Brasileira, 2a ed. vol. II, Rio, 1903, p. 589). Die richtigen Daten lauten für "Tragèdia no Mar": Sao Paulo, 18. 4. 1868; für "Vozes d'Africa": Sâo Paulo, 11. 6. 1868. 24 ) Rui Barbosa, "Decennario de Castro Alves. Discurso recitado na noite de 6 de julho, no Theatro de Sâo Joào . . .", Bahia, 1881, 'Diàrio da Bahia", ano XXVII, no 147, 8-7-1881, p. 1/2. 2δ ) Luiz Anselmo da Fonseca, "A escravidào, o clero e o abolicionismo", Bahia, 1887, p. 268/9. 2β) Rui Barbosa, "Discurso na Bibliotheca Nacional" (12-8-1918), repr. in: "Novos discursos e conferências", p. 414. « ) Guilherme Bellegarde, "Subsidios Litterarios", Tomo I, Porto, 1883, p. 338. 2 Castro A l v e s

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reichend berücksichtigt würde, wie sehr die gleiche "profunda aspiraçâo nacional" geeignet erscheinen mußte, auch dem anfänglichen Ruhme des brillanten Redners Rui Barbosa dienlich zu sein. Andererseits ließe sich eine positive Bewertung des von Castro Alves geschaffenen literarischen Werkes selbst noch dadurch erfreulich abrunden, dafi den einwandfrei negativen Beurteilungen dennoch gewisse Anregungen, oftmals aber auch zur Widerlegung herausfordernde Gedanken entnommen werden könnten. Auf diesem Wege zu einer Synthese im Castro Alves-Bild zu gelangen, ist ebenfalls nicht in Ausschöpfung aller Möglichkeiten geschehen, wie das magere Echo auf die besonders gegen den "Abolicionista" in Castro Alves gerichtete "Discussäo literária" Belarmino Barretos oder die fast völlig fehlenden Entgegnungen auf die stilistischen Bemängelungen durch Nogueira da Silva über die Spanne eines halben Jahrhunderts deutlich zeigen28). So mag es fast scheinen, als könnten die Wandlungen und Widersprüche in der Castro Alves-Kritik als ein erkenntnisreicher Spiegel für die Entwicklung der brasilianischen Literaturwissenschaft dienen. Eine eingehende Beschäftigung mit dieser Frage aber würde weit über den Rahmen der vorliegenden Darstellung hinausführen. So kann hier der umstrittene Einflufi nur angedeutet werden, den die stark persönlich bestimmte Kritik durch Sylvio Romero ausüben sollte, wenngleich Romero zumindest in seinem Hauptwerk einer eindeutigen Stellungnahme zu dem literarischen Wert der Sozial dichtung und besonders der Sklavendichtung ohnehin ausweicht29). Und auch die Entgegnungen José Verissimos können vorderhand bei allem Interesse, welches sie wegen gewisser neuer Gedanken in der Bewertung des Autoren von "Os Escravos" verdienen würden, doch nur auf ihren primären Charakter einer Widerlegung Romeros zurückgeführt werden3®). Lange Zeit mochte es scheinen, als würde die literarische Zuordnung unseres Dichters durch Afrânio Peixoto so umfassend geklärt werden, daß praktisch jede weitere Darstellung nur mehr bereits Gesagtes zu wiederholen vermöchte. Bei der ausführlichen Beschäftigung Peixotos mit Castro Alves auf biographischem, textkritischem, bibliographischem und interpretativem Gebiete mochte eine solche Auffassung zunächst auch berechtigt sein. Selbst heute kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Castro Alves-Forschung dem Wirken Peixotos die bislang vielleicht bedeutsamste individuelle Förderung verdankt. Dennoch zeigt bereits das eigene literarische Gesamtwerk des "polígrafo" Peixoto, daß für ihn — gleich dem "Werther" für Lamartine, Castro Alves letztlich dodi nur die, wenn auch ungewöhnlich intensiv erlebte "maladie de son adolescence" bedeutete. ss) Vgl. Anm. " ) und 12). 2 e ) Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 2a ed. vol. II, Rio, 1903, pp. 593/4. so) j o s é Verissimo, 'Castro Alves', Rio, 1899, "Jornal do Commercio", 14. 8. 1899. "Estudos Brasileiros", (1877-1885), Pará, 1889, cap. XI pp. 183-190. Dieses Kapitel wurde 1884 geschrieben, zählt also zu den ersten grundlegenden Kritiken des Dichters. Ferner: "Estudos de Literatura Brasileira, Segunda Série , Rio-Paris, 1901, pp. 147-163.

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Die Ansicht des bereits genannten Lopes Rodrigues jedoch, *que depois de Afrânio, nada mais se poderá dizer sobre Castro Alves" 31 ), wurde bezüglich des Biographischen bereits von Pedro Calmon widerlegt und hat sieb ebenfalls für die Interpretation des Gesamtwerkes keineswegs bewahrheitet. Gerade die Sklavendichtung hat nach Peixoto in wesentlichen Aspekten eine Bereicherung erfahren, ohne dafi sich allerdings gewisse Parallelen zu früheren Versuchen ganz verkennen ließen. Denn in gleicher Weise, wie bereits in der Polemik zwischen Romero und Verissimo oder noch früher in der sogenannten "Discussäo literária" von 1881 ist Castro Alves auch in den letzten zwei Jahrzehnten häufiger Anlafi und Instrument literarischer Auseinandersetzungen gewesen als ihr eigentlicher Inhalt. So hatte die deutliche Bevorzugung des sozialbewußten Castro Alves vor anderen Romantikern etwa seit 1935 oftmals eher politische als literarische Gründe und zuweilen drohte Castro Alves sogar zum Opfer der Kontroverse zwischen dialektischem Materialismus politisch linksstehender Kritiker und der literarisch aesthetischen Wertung ihrer stärker konservativ orientierten Opponenten zu werden 32 ). Hinsichtlich der neuen Anregungen haben sich dabei die "konservativen" Elemente durchweg als die weniger fruchtbaren erwiesen. Der Grund dafür mag nicht schwer zu nennen sein. Denn Castro Alves war stets darum bemüht, die Form seiner Gedichte ihren Gedanken, oft audi nur ihrer Zielsetzung unterzuordnen. So mufiten sie natürlich einer nach herkömmlichen Mafistäben urteilenden Aesthetik oftmals als unvollkommen in ihrer Reimtechnik oder ihrem Aufbau erscheinen. Auf der anderen Seite aber leiden selbst so aufschlußreiche Interpretationsversuche wie Ferreira Limas "Castro Alves e sua época" 33 ) unter einer zumeist etwas einseitigen Beleuchtung der aufgeworfenen Probleme. Ihr Wert als verdienstvolle Beiträge zur Herausarbeitung des soziologischen Rahmens für ein neuartiges Castro Alves-Bild soll damit keineswegs in Abrede gestellt werden. Sie beweisen zumindest in Gemeinschaft mit zahlreichen, thematisch einen weiten Bereich umfassenden Einzeldarstellungen der letzten Jahre, daß Sylvio Romero trotz seiner Abneigung gegen Castro Alves ein richtiges Urteil fällte, als er erklärte: "Ainda há alguma coisa de proveitoso a dizer a respeito d'eie" 34 '. Man könnte versucht sein, diesem Ausspruche des zumindest bekanntesten brasilianischen Literaturhistorikers eine gewisse Allgemeingültigkeit zuzuschreiben, indem jede literarische Wertung, selbst die unumstrittener Kleinodien der Weltliteratur wie "Os Lusiadas" oder "Don Quixote" im Laufe der Zeit gewissen Wandlungen unterworfen ist35). Hinzu kommt für den speziellen Zweck der vorliegenden Untersuchung nodi der Umstand, daß der Abolitionsdichter in Gastro Alves vor der "Lei Aurea" des 13. Mai 1888 anders bewertet wurde als in den darauffolgenden Jahrzehnten, die sich stärker dem Lyriker der "Espumas ) 32) 1948, 3») 31) 31

2*

H. Lopes Rodrigues Ferreira, op. cit. p. 10. Die gleiche Ansicht findet sich bei Samuel Putnam, "Marvelous Journey', New York, p. 132. Vgl. Anm. 17 ). Sylvio Romero, 'Historia da Literatura Brasileira", 2a ed., vol. 2, Rio, 1903, p. 587.

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Fhituantes" zuwandten. Und das wiederum recht rege Interesse unserer Zeit an der "Poesia social" fällt nicht zufällig mit der Beobachtung einer seit 1930 wachsenden Anteilnahme an der soziologischen Entwicklung Brasiliens zusammen. Daneben aber bleibt zu berücksichtigen, daß die literarische Kritik in Brasilien zweifellos den Gepflogenheiten der europäischen Literaturwissenschaft nicht in blinder Nachahmung gefolgt ist, wie auch die "ideologia brasileira" nicht als ausschließliche Frucht oder parasitäre Erscheinung einer ohnehin nicht einheitlichen "ideologia europeia" gewertet werden sollte36). Die brasilianische Kritik hat vielmehr neben bereitwilliger, zuweilen auch etwas planloser Aufnahme europäischen Gedankengutes sehr wohl durchaus eigene, lediglich aus dem geistigen Werden der brasilianischen Nation heraus verständliche Wege aufgespürt und auch eingeschlagen, ohne daß es vielleicht immer gelang, den dadurch aufbrechenden Zwiespalt organisch zu heilen. Diese Dualität offenbart sich in besonders anschaulicher Weise bei der Betrachtung einer Castro Alves-Forschung, deren eines Extrem den Dichter in verallgemeinernder Überbetonung der zuweilen erfolgten formalen Nachahmung europäischer Romantik zum "Hugo Brasileiro" werden läßt, während er in der Antipode einer vielleicht etwas zu nativistischen Schau geradezu als Schöpfer einer eigenständigen, ausschließlich und spezifisch brasilianischen Literatur erscheint, da erst in seinem Werke "paisagem, estilo e tema social brasileiro" zum Durchbruche gelangt seien37'. Zweifellos verfügen wir bereits über reiche und wertvolle Elemente für eine Beurteilung der Dichterpersönlichkeit, doch ist nach wie vor die Aufgabe ungelöst, aus diesen zahlreichen Mosaiksteinchen von teils bezaubernder Farbenpracht ein voll befriedigendes, weil auch harmonisches Gesamtbild zu gestalten. Das aus der biographischen Forschung entstandene Bildnis des Dichters stellt dabei sicherlich den in sich bereits geschlossensten Teil eines solchen Kunstwerkes dar. Einer ähnlich ausgewogenen Wertung des literarischen Schaffens aber steht vorerst noch ein gewisser Mangel an innerer Ausgeglichenheit der einzelnen Teilstücke entgegen. Sie unterscheiden sich teils noch erheblich in der farblichen Ausgestaltung der gerade im Brasilianischen so feinen Nuancen, weisen oft eine bedauerlich schroffe Übergangslosigkeit von oberflächlicher Interpretation des Gesamtwerkes zu wirklich tiefster Erkenntnis von isolierten Einzelproblemen auf und sind auch offensichtlich in dem Schwerpunkte ihrer Bewertung recht bedeutsamen Wandlungen unterworfen gewesen, deren manchmal stark individuell ausgeprägter Einfluß unverkennbar ist. 3 5 ) Vgl. Angel Valbuena Prat, "Historia de la literatura española", 3. Ed., Barcelona, 1950, t. II, S. 93-101 36) Jamil Almansur Haddad, "Pressupostos Metodológicos da crítica literária , Sâo Paulo, 1951, "Revista Brasileira de Filosofia", vol I. fase. 1-2, p. 151. Der Verfasser ist Herrn Dr. Sérgio Milliet, Direktor der Biblioteca Municipal, Säo Paulo, für die Überlassung einer Mikrofotokopie im Sommer 1953 zu Dank verpflichtet. 3 7 ) J o s é Oiticica, "Castro Alves", Maceió¡ (Alagoas), 1916, "Jornal de Alagoas", ano XI, nos 58-60, 16.-18. 3. 1916. H. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", Rio, 1948, p. 1159.

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In der Bewertung der lyrischen Dichtung kommen diese Elemente dabei vielleicht noch nicht einmal so unmittelbar zum Tragen. Die Lyrik bei Castro Alves läfit sich im allgemeinen auf recht sorgfältig abgestimmte Grundakkorde zurückführen und ist bei aller Exuberanz der in den Tropen stärker schwingenden Gefühlssaiten und der weiten Spanne der Castro Alves verfügbaren Register seines dichterischen Talentes in ihrer Form relativ gebundener, wie weite Bereiche sie auch zu durchschreiten und nicht selten sogar zu erfüllen vermag. Anders hingegen das epische Werk. Es ist in sich weitaus weniger geschlossen, seine thematische Sprunghaftigkeit ist kaum überraschender als die Vielfalt der verwandten Stilmittel, so dafi es sich schon ohnehin weitaus eher als die castroalvinische Lyrik der Gefahr gegenüber sehen könnte, in eine mehr oder minder große Zahl einzelner, zusammenhangloser Gedichte oder teils sogar nur isolierte Gedanken aufgreifender Verse zu zersplittern. Dieser dem Gesamtwerk äußerst abträglichen Gefahr ist man offensichtlich bislang in nur unzureichender Weise begegnet. Darüber hinaus aber haben dann die — für sich selbst betrachtet meist hervorragenden — Einzeldarstellungen interpretativen Charakters selbst dort die Herausarbeitung eines abgerundeten Gesamtbildes erschwert, wenn nicht bislang gar verhindert, wo sich das Werk einmal als Gesamtheit kaum in einer derart zur Desintegration neigenden Komposition offenbart. Das trifft in besonderer Weise für die Sklavendichtung zu. In zahlreichen Einzelkomponenten der Verarbeitung philosophischer Gedanken, in der thematischen Antithese einer ihren durch des Schöpfers Gnade opulenten Reichtum bietenden Natur zu der vergewaltigenden Willkür des Menschen gegenüber seinesgleichen, in der Kontrastierung der majestätischen Erhabenheit des Atlantik mit der dumpfen Verzweiflung in den Laderäumen der "Navios Negreiros" und in der unerschöpflich anmutenden Vielfalt bewußt oder unbewußt vom Dichter eingefügter stilistischer Eigenheiten wird das Gesamtwerk "Os Escravos" zu einer einzigen machtvollen Anklage gegen die Sklaverei. Dabei hat der Autor der "Cachoeira de Paulo Affonso", der "Tragèdia no Mar" und der "Vozes d'Africa" es verstanden, in einer Konzipierung von kontinentaler Dimension die Sklavend iditung aus der zeitlichen und räumlichen Gebundenheit des sein schmachvolles irdisches Los beklagenden Schwarzen auf jene bereits in transzendentale Bereiche hinüberweisende Sphäre zu heben, aus der wir den Ruf einer sich seit ewigen Zeiten nach Freiheit sehnenden Menschheit vernehmen: "Ha dois mil anos eu soluço um grito . . . Escuta o brado meu là no infinito . . . Meu Deus! Senhor, Meu Deus!"38) 38) Castro Alves, 'Vozes d'Africa', XIX/4-6, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 344. Die brasilianische Orthographie ist seit der Zeit eines Castro Alves erheblichen Schwankungen unterworfen gewesen. Da die Entwicklung möglicherweise auch heute noch nicht abgeschlossen ist, hat der Verfasser Gedichte stets nach der letzten kritischen Ausgabe zitiert. Im allgemeinen wurden die "Obras Completas' von 1944 benutzt (Bibliographie I, 73), in einigen Fällen konnte auf die neuere Ausgabe der "Poesías Escolhidas" von 1947 zurückgegriffen werden (Bibliographie, I, 84).

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Hier wird, wie nach Otto Maria Carpeaux in den meisten jungen Zivilisationen, die Literatur zu dem unmittelbarsten Ausdrucksvermögen des geistigen Gutes einer ganzen Nation, ja, sie wird zum "lieu géométrique" jedes intellektuellen Schaffens überhaupt 39 '. Carpeaux aber glaubt folgern zu müssen, ein Außenstehender, unausgesprochen also gleich ihm ein Europäer, "vê-se perdido na floresta seivagem de informaçôes, às vezes egoísticas, às vezes desesperadas e sempre contraditorias". Dem sollte entgegengehalten werden, daß bei ehrlichem Bemühen um das Erfassen des Wesens einer Literatur in einer ihrer ausdrucksvollsten Schöpfungen ein Außenstehender vielleicht, da er weniger unmittelbar unter den Ausstrahlungen des Dichters, seiner Zeit und seiner Welt steht, selbst unter Verzicht auf das Vermögen des letzten psychologischen Einfühlens doch zu einem Urteil gelangen kann, das im ganzen ausgeglichen und maßvoll zu sein verspräche. Eine solche Wertung verlangt allerdings in noch stärkerem Maße als bisher eine Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenartigsten Einflüsse und formenden Kräfte, die für das Schaffen des Dichters von Bedeutung wurden. Eine eingehende Untersuchung über Castro Alves als den "Poeta dos escravos" muß sich notwendigerweise mit der Sklaverei als historischem Problem und ihren Auswirkungen auf die das geistige Leben Brasiliens bestimmenden Faktoren befassen. Sie muß gleichermaßen aufzeigen, welche Atmosphäre den jungen Castro Alves im Elternhause umgab, wie sie sich auch mit den vielfältigen sonstigen Einflüssen wird beschäftigen müssen, denen er sich seit frühester Kindheit ausgesetzt sah. Nur so wird sich bei Castro Alves das tiefe Verständnis und schließlich auch das ungestüme Eintreten für das Los der Schwarzen erklären lassen. Auf der anderen Seite aber werden auch jene gestaltenden Kräfte aufzuzeigen sein, die in Castro Alves einer regen Phantasie nicht nur einen ständigen Strom fruchtbarer Ideen vermittelten, sondern ihr auch die Weckung jener dichterischen Ausdrudeskraft ermöglichten, welche diese reichen Gedanken in erstaunlicher Frühreife eine durchaus persönliche, nicht selten eigenwillig anmutende Form finden ließ. In Kenntnis dieser Einflüsse wird die vorliegende Darstellung die Sklavendichtung bei Castro Alves sowohl nach inhaltlichen wie nach aesthetischen Gesichtspunkten zu interpretieren versuchen. Ein gedrängter Vergleich zwischen dem tatsächlichen Bilde der Sklaverei in Brasilien und ihrer dichterischen Gestaltung durch Castro Alves mag sodann die Frage des Wahrheitsgehaltes seiner Dichtung und der Aufrichtigkeit seines Abolitionismus klären. Und schließlich mögen die eventuellen Rückwirkungen seiner "poesia social" auf die Verbreitung und Vertiefung des Abolitionsgedankens aufgezeigt werden, um darauf aufbauend den Versuch einer Zuordnung des Dichters innerhalb der brasilianischen Literatur zu unternehmen. 38

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) Otto Maria Carpeaux, "Origens e fins. Ensaios." Rio, 1943, pp. 368/9.

Erstes Kapitel

DIE WELT UND DAS LEBEN DES DICHTERS

1. Sklaverei und Abolitionismus in Brasilien Nachhaltiger als jedes andere historische Ereignis seit der Auffindung der T e r r a de Vera Cruz durch Pedro Alvares Cabrai hat die Sklaverei den Charakter Brasiliens bestimmt. Wie in anderen Teilen der Neuen Welt folgte sie auch in Brasilien den, Entdeckern auf dem Fuße und bildete durch Jahrhunderte eine unerschöpflich scheinende Kraftquelle f ü r die Erschließung und Nutzung des anfänglich n u r in seinen küstennahen Randgebieten erforschten Raumes. Angesichts dieser überragenden Bedeutung der Sklaven f ü r die Entwicklung der Neuen Welt kann daher die gelegentlich vertretene Meinung nicht überraschen, daß die iberischen Völker als erste eine Versklavung des Menschen durch seinesgleichen vorgenommen hätten 1 '. Die Haltlosigkeit dieser Annahme ergibt sich jedoch schon bei einer selbst oberflächlichen Beschäftigung mit der Antike 2 ', wenn man sich nicht sogar unter Verzicht auf einen historisch feststellbaren Ursprung der Annahme Bertrand Russel's anschließen möchte, der die Entstehung des Sklavenstandes als rein soziologisches Phänomen zu deuten sucht und glaubt, ihre Anfänge in der Herausbildung des privaten Eigentumsbegriffes schlechthin feststellen zu können 3 '. Der Beginn einer zweiten unci f ü r die neuere Geschichte einzig wesentlichen Epoche der Sklaverei wird dann allerdings Portugal zugeschrieben werden müssen. Denn Prinz Heinrich der Seefahrer w a r es, der 1442 dem Gesuche von im V o r j a h r e durch Antonio Gonçalves gefangenen Mauren entsprach, ihnen gegen Stellung von Negersklaven die Freiheit zurückzugeben. Und bereits zwei Jahre darauf ist ein eindeutig kommerzielles Interesse, eben der Sklavenhandel zu beobachten, indem der genannte Antonio Gonçalves 1444 die ersten zehn von ihm gefangenen Negersklaven in Portugal veräußerte 4 '. Ihren Eingang in die Neue Welt fanden Negersklaven zunächst im karibischen Räume, wo sie 1501 auf Hispaniola und 1505 auf Santo Domingo angetroffen wurden 5 '. Die Portugiesen hingegen hatten zunächst auf eingeborene Indianer der brasilianischen Küsten region zurückgreifen wollen. Der hier nicht in Einzelheiten zu schildernde Fehlschlag dieser Versklavungsversuche bewog sie dann jedoch, 1) Sérgio D. T. de Macedo, "Apontaraentos para a historia do Tráfico Negreiro no Brasil". Rio de Janeiro, 1942, p. 19. 2 ) Vgl. Gaius Plinius Secundus (Plinius d. Ä.), "Historia Naturalis", Buch VII. Cato, "De re rustica", cap. II, etc. Bertrand Rüssel, 'Philosophie des Abendlandes, ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung". Deutsche Ausgabe, Berlin-Darmstadt, s. d. (1951) (2. Auflage), p. 39, (Milet); p. 79 (Athen), pp. 226, 233, 235, 240 (Rom) etc. 3 ) Bertrand Rüssel, op. cit. p. 32. 4) Vgl. hierzu auch H. V. Livermore, "A History of Portugal", Cambridge, 1947, p. 189 (dort als Antâo Gonçalves bezeichnet); ferner: "Agora é o tempo aprazado" in "O Novo Mundo", New York, 23. 3. 1871, p. 82, wo die fraglichen zehn Neger als die ersten bezeichnet werden, "que ali (em Portugal) se viram". B ) John Hope Franklin, "From Slavery to Freedom", New York, 1952, pp. 59/60. Ferner: Ό Novo Mundo", New York, 23. 3. 1871, p. 82. Die spanische Krone behielt sich bis 1517 das Monopol des Sklavenhandels vor¡ erst von diesem Jahre ab erteilte sie entsprechende Privilegien an spanische, dann auch an fremde, vor allem holländische und genuesische Gesellschaften.

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angesichts des zunehmenden Bedarfes an Arbeitskräften für den seit 1530 sich entwickelnden Zuckeranbau afrikanische Sklaven einzuführen. Nach F. A. Pereira da Costa waren daher Neger bereits 1531 bei S. Vicente anzutreffen, während John Hope Franklin den Beginn der Sklaverei in Brasilien mit dem Auftauchen der Schwarzen um Bahia im Jahre 1538 ansetzt6'. Es kann nicht der Sinn dieses einführenden historischen Überblickes sein, die Wahrscheinlichkeit der einen gegen die der anderen Auffassung abzuwägen. Es sei lediglich gestattet darauf zu verweisen, dafi jede der beiden Angaben dem Gründungsjahre der entsprechenden Orte im Falle von Säo Vicente um ein, im Falle von Säo Salvador da Bahia de todos os Santos sogar um volle elf Jahre voraufgeht. Daraus läfit sich vielleicht am eindrucksvollsten ablesen, welchen entscheidenden Anteil das Sklavenelement bereits in der ersten kolonialen Phase an der Erschließung der neuen portugiesischen Besitzung hatte. Es erscheint fast als unmöglich und würde vor allem den Rahmen dieser Darstellung bei weitem sprengen, wollte man die Zahl der während mehr als drei Jahrhunderte nach Brasilien verschifften Schwarzen bestimmen. Schätzungen schwanken zwischen maximal achtzehn Millionen (Calógeras) und minimal fünf Millionen (Arthur Ramos). Als sicher darf jedoch angenommen werden, dafi bis zum Einsetzen der großen europäischen Wanderungsbewegungen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Anteil der Sklaven an der Gesamtbevölkerung Brasiliens stets mehr als ein Drittel, zuweilen sogar die Hälfte erreichte 7 '. Bei aller Würdigung des indianischen Elementes kann trotz seiner augenfälligen thematischen Bevorzugung durch die koloniale und anfangs auch die nationale Literatur Brasiliens nicht verkannt werden, daß dem "predominio do indianismo na civilizaçâo brasileira" lediglich scheinbare Berechtigung zukommt und es sich im Grunde vielmehr um ein "velho prejuizo, difícil de extirpar" handelt8'. Das Assimilationsvermögen der afrikanischen Sklaven und ihrer teils mischblütigen Nachkommen ist sowohl in wirtschaftlicher, soziologischer wie auch — nach dem Ergebnis neuzeitlicher Untersuchungen — in geistig-kultureller Beziehung für die Herausbildung der brasilianischen Eigenständigkeit e ) F. A. Pereira da Costa, "A idea abolicionista em Pernambuco", Recife, 1891. 'Revista do Instituto Arqueológico Geográfico Pemambucano", No. 42, p. 249. John Hope Franklin, op. cit. p. 118. Der Verfasser ist Herrn Dr. J o s é Honorio Rodrigues, Direktor der Abteilung für Seltene Bücher an der Biblioteca Nacional zu Rio de Janeiro, für die freundliche Übersendung eines Mikrofilms von Pereira da Costa zu Dank verpflichtet. 7 ) John Hope Franklin, op. cit. p. 119. Nach verschiedenen Quellen errechnete Mittelwerte ergaben bei aller beschränkten Gültigkeit, die derartigen Verallgemeinerungen eigen sein muß, etwa folgende Werte: 1847 42,5% 1560 39,4% 1850 40,8% 1585 43,4% 1695 57,6% 1863 26,9% 1866 25,6% 1798 48,7% 1818 49,4% 1873 15,8% 1884 10,6% 1825 41,4% 1830 28,6% 1887 5,3% (30. März) 8 ) Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 2a ed. vol II, Rio de Janeiro, 1903, pp. 425/6.

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von erheblich nachhaltigerer Wirkung gewesen als solches etwa von dem verhältnismäßig früh in die schützende Isolierung der Selva zurückgewichenen Indio gesagt werden könnte. Gerade in der dem Schwarzen aufgezwungenen räumlichen Gemeinschaft einer Wirtschaftseinheit mit dem Weißen, nicht minder wohl auch in seiner biologischen Verbindung mit dem von vermischungsfeindlichen Rassetheorien fast unbelasteten Portugiesen fanden jene Kräfte einen tropisch reichen Nährboden, die ihn bei Wahrung vielfältiger eigener Lebensformen über jede äußerliche Abhängigkeit hinaus letztlich tiefere Wurzeln in einer erst in unseren Tagen scharf profilierten "brasilidade" schlagen ließen. So wurde die Sklaverei in Brasilien zu einem der tragenden Pfeiler für die Entwicklung des Landes, und es kann nicht verwundern, daß auch die portugiesische Krone ständig darauf bedacht war, die Institution als solche lebens- und leistungsfähig zu erhalten. Andererseits mußte sie in engem Einvernehmen mit der katholischen Kirche in der Sklaverei eine beiderseits willkommene Möglichkeit erblicken, den christlichen Glauben weiter zu verbreiten, indem jeder Sklave binnen eines Jahres nach Ankunft in den Besitzungen der portugiesischen Krone getauft sein und fortan das Recht besitzen sollte, den seelischen Beistand eines Geistlichen in Anspruch zu nehmen. Mochte die Krone aber auch für die Sklaven vorsehen "que se tratara deles com toda a caridade e amor ao próximo" 9 ', mochte die Kirche fordern, daß jeder Sklave zumindest auf dem Totenbette die Freiheit erhalten sollte1®), da vor Gott alle Menschen nur mit der Last ihrer Sünde treten dürften, so stand dem Sklaven in der sengenden Wirklichkeit sonnendurchglühter Fazenden Brasiliens bei seiner Auflehnung gegen den widerspruchslosen Gehorsam der Leibeigenschaft weder irdisches noch himmlisches Recht zur

Seite: "Se a justiça da terra te abandona, Se a justiça do céu de ti se esquece, A justiça do escravo está na força . . . E quem tem um punhal nada carece! . . .'")

Nur mit großen Anstrengungen vermochten Portugal und später das junge brasilianische Kaiserreich die gewaltsamen Befreiungsversuche der Schwarzen zu unterdrücken, während gleichzeitig von Seiten führender Weißer erstmalig die Möglichkeiten einer, wenn auch graduellen, so doch friedlichen Abolition aufgezeigt wurden 12 '. Diese Entwicklung stand zweifellos unter dem Einflüsse der Aufklärung wie auch der französischen Revolution. Rousseau hatte mit seinem Eintreten für die "bondade natural" in Brasilien nicht nur für den "indio", sondern auch den "negro" einen neuen Anspruch auf menschliche Behandlung gegeben und im übrigen die Sklaverei abgelehnt, wenn er, vielleicht mit einiger Resignation, erklärte, daß der Mensch frei geboren 9 ) Art. X do "Alvará e Regimentó da Ordern com que se hâo de embarcar os negros captivos de Angola para o estado do Brazil" (1609) in: "Ordenaçôes do Reyno" Livro IV, Titulo 42, fi. 104. ι») John Hope Franklin, op. cit. p. 121. 11) Castro Alves, "Amante" IV, Obras Completas", 1944, vol. II, p. 198. 12) Sylvio Romero, 'Historia da Literatura Brasileira", 2a ed., vol. I, Rio de Janeiro, 1902, p. XV/XVI.

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würde, jedoch überall in Ketten lebe 13 ). Wesentlich schärfer verurteilte Montesquieu die Versklavung, indem e r sie von N a t u r aus f ü r verabscheuungs w ü r d i g hielt 14 ', w ä h r e n d die im H a u p t w e r k des ungemein wortgewandten, militanten Abbé R a y n a l stets s p ü r b a r e Ablehnung der Sklaverei in Verbindung mit der weiteren H e r a u s p r ä g u n g des Typus eines "bon sauvage" vielleicht besonders durch ihre überaus rasche Verbreitung von Einfluß gewesen sein mag 15 '. So k a n n es k a u m W u n d e r nehmen, daß dort, wo abolitionistische G e d a n k e n in Brasilien Gestalt annahmen, sich in A u f r u f e n oder Gesetzesvorlagen niederschlugen, stets das h u m a n i t ä r e P r o b l e m im Vordergrund stand, dem sich im weiteren Verlaufe des neunzehnten J a h r h u n d e r t s d a n n soziale Gesichtspunkte an die Seite stellten. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a t r a t also das religiöse Moment stark zurück und es fehlte den genannten Äußerungen des brasilianischen Abolitionismus j e n e "profundeza moral" 16 ', die uns etwa in den Q u a k e r n der Neuenglandstaaten so unmittelbar anspricht. Es sei jedoch bereits an dieser Stelle vorweggenommen, daß, wie noch zu zeigen sein wird, dieser von Joaquim Nabuco beanstandete Mangel nicht f ü r einen bislang meist unterschätzten Teil des "movimento contra a escravidäo no Brasil", eben die Sklavendichtung, gelten kann. Sie hat, vor allem bei Castro Alves, neben j e n e r "espécie de estímulo pessoal a que em moral leiga se chama a m o r d a h u m a n i d a d e", sehr wohl — und ganz besonders in den "Vozes d'Africa" — den Geist der w a h r h a f t e n " c a r i d a d e c r i s t a " spüren lassen. Die Sklavendichtung hat damit bis zu einem gewissen G r a d e f ü r Brasilien j e n e Aufgabe übernommen, die in N o r d a m e r i k a dem religiösen Moment im Aufkeimen des Abolitionismus zuteil wurde, wenn man sich an die W o r t e Nabueos e r i n n e r t : "a política é a a r t e de escolher as sementes; a religiâo, a de lhes p r e p a r a r o terreno" 1 7 '. Es k a n n nun allerdings nicht der Auffassung stattgegeben werden, die Kirche hätte sich dieser A u f g a b e mit der gleichen Hingabe unterzogen, die sie bei der B e k e h r u n g des autochthonen Elementes zum katholischen Glauben gezeigt hatte. Es soll nicht den zahlreichen Versuchen einzelner das Verdienst abgesprochen werden, das Los der Schwarzen auf dieser Welt nach bestem Vermögen gemildert zu haben. Als Institution aber ist die Kirche ihrer Mission im Falle der Sklaverei insofern nicht gerecht geworden, als sie den Abolitionsbestrebungen lange — u n d wie es scheinen mag, zu lange — teilnahmslos gegenüberstand. Selbst nach dem J a h r e 1860, als die Sklaverei n u r noch in den USA, m e h r e r e n spanischen Westindienkolonien u n d in Brasilien einen Rückhalt fand, stützte die Kirche von der gleichen Kanzel, die zum Ausgangspunkt und K r a f t 13

) Jean Jacques Rousseau, "Contrat social', vol. V, p. 61. ) Charles de Montesquieu, 'L'esprit des Lois", livre XV. ) Abbé Raynal, "Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes", 1770, 6 vols. Das Werk erreichte bis 1796, dem Todesjahr Raynals, die erstaunliche Zahl von 20 Auflagen. le ) Joaquim Nabuco, "Obras Completas", vol. I: "Minha Formaçâo", S. Paulo, 1949, p. 207. 17 ) Joaquim Nabuco, loc, cit. Vgl. audi Lorenzo Dow Turner, "Anti-Slavery-Sentiments in American Literature prior to 1865". The Journal of Negro History, vol. XIV, no 4, p. 371passim. 14 15

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Zentrum einer wirklichen Befreiung der Sklaven hätte werden können, eben jene "instituiçâo que, p a r a ser condemnada pela consciencia humana basta ser chamada pelo seu nome de ESCRAVIDÄO" (Nabuco) 18 ). Und selbst wenn das vernichtende Urteil, welches nodi 1887 Luiz Anselmo da Fonseca über seine "padres brasileiros" glaubte fällen zu müssen, in seiner Formulierung entschieden zu scharf geraten war 19 ', so k a n n dodi nicht übersehen werden, daß sich die Kirche den mahnenden Rufen ihrer Zeit gegenüber verschloß 20 ' und den Ruf nach tätiger Nächstenliebe ungehört verhallen ließ: "Quebre-se o cetro do Papa, Faça-se déle — urna cruz! A purpura sirva ao povo P'ra cobrir os hombros nús." 21 )

So wurde der Boden von der Kirche nur recht unvollkommen vorbereitet und nicht wesentlich besser schien es lange Zeit um die Wahl des Saatgutes bestellt zu sein. Bereits 1824 hatte die Verfassung des Kaiserreiches den Gebrauch jeglicher Folterinstrumente, die Verhängung schwerer Strafen und die Anbringung irgendwelcher Brandmerkmale untersagt 2 2 '. Dodi wurden diese Bestimmungen in keiner Weise mehr beachtet als die späteren Verordnungen, die sich gegen Sklavenhandel oder getrennten Verkauf von Sklavenfamilien wandten. Es zeigte sich in aller Deutlichkeit der Grundsatz des römisdien Redites, wonach der Sklave kein Mensch war, sondern lediglich eine der willkürlichen Veräußerung durchaus unterworfene Sache darstellte. Es kann dabei nicht verleugnet werden, daß der Kaiser D. Pedro II persönlich an dem Schicksale der Sklaven aufrichtigen Anteil nahm. Zwar hielt audi er an dem überkommenen patriarchalischen System fest, doch verschlofi er auf der anderen Seite auch jenen Stimmen nicht sein Ohr, die von der Abolition sprachen als der "idea mais humanitária que podia brotar na T e r r a da Cruz" 23 '. Und Joaquim Nabuco, der nach eigenem Zeugnis 24 ' die gesamte Entwicklung Brasiliens erst seit dem Jahre 1868 unter dem Gesichtspunkte des Sklavenproblems betrachtete, wußte den abolitionistischen Grundton der Thronrede vom 22. Mai 1867 als einen "Blitz aus heiterem Himmel" f ü r die Sklavenhalter (um raio, caindo de um céu sem nuvens) zu bezeichnen 25 '. Aus den Worten des ie) Joaquim Nabuco, Conferência em Recife, 1884, cit. bei Joâo Dornas Filho, Ά escravidäo no Brasil', p. 181. 16) Luiz Anselmo da Fonseca, "A Escravidäo, o clero e o abolicionismo', Bahia, 1887, p. 305. 20) Die Kirche wurde gelegentlich sogar in direkte Verbindung mit der Sklaverei in einigen ihrer verwerflichsten Aspekte gebracht. Vgl. hierzu Trajano Galväo, 'Crioula' in Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 2a ed., vol. II, Rio de Janeiro, 1903, pp. 365/66. 21) Castro Alves, Ό Século", XII/1-4, "Poesias_Escolhidas", 1947, p. 300. 22) 'Constituiçâo Política do Impèrio do Brazil", artigo 179. 23 ) Monsenhor Pinto de Campos, "Comemoraçâo da Independência na Igreja do Carmo, Rio de Janeiro, 7 de setembro de 1857". repr. "Novo Almanack de Lembranças Luso-Brasileiras, Supplemento para 1886", p. 454. 24) Joaquim Nabuco, "Obras Completas", vol. I, "Minha Formaçâo", Säo Paulo, 1949, p. 22. 8Í ) Joaquim Nabuco, 'Obras Completas", vol. VII, Ό abolicionismo", Sao Paulo, 1949, p. 56.

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Kaisers 26 ) aber konnte gleich der Anteilnahme am Lose der Schwarzen auch wiederum die Sorge um den Wohlstand seines Landes sprechen, zumal der nordamerikanische Sezessionskrieg in erschreckender Deutlichkeit vor Augen führte, wohin eine Zuspitzung des Konfliktes das weite Riesenreich bringen mußte. Aus diesen Rücksichten für Brasilien dürften sich dann in erster Linie die letztlich vergeblichen Bemühungen des Monarchen ableiten lassen, die Abolition in solcher Weise zu fördern, dafi humanitäre Bestrebungen und wirtschaftliche Notwendigkeiten in einer graduellen Befreiung der Sklaven miteinander in erträgliches Gleichgewicht gebracht werden könnten. Es ist bislang stets von der Sklaverei in Brasilien gesprochen worden. Doch eine derartige Verallgemeinerung vermag bei näherer Betrachtung gerade dem vorliegenden Zweck nicht vollkommen gerecht zu werden. Führt: man sich die unermefilich scheinende Weite des brasilianischen Raumes vor Augen, so wird angesichts der im neunzehnten Jahrhundert noch weitaus geringeren Überbrückungsmöglichkeiten ersichtlich, dafi auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete kaum ein enger Zusammenhalt bestehen konnte. Hinzu kommt noch, dafi die seit einer zunehmenden europäischen Einwanderung auch stärker fühlbare ethnologische Aufspaltung bei zeitweiliger Uberlagerung mehrerer Komponenten und den mannigfaltigen Formen der Lebensäußerungen auch auf geistigem Gebiete zu einer Herausbildung durchaus eigener regionaler Typen führen mußte. Eine Uberbewertung der Inseltheorie, wie sie etwa Yiana Moog für die brasilianische Literatur aufgestellt hat, sollte vermieden werden 27 '. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß die ethnologischen Komponenten, die Wirtschaftsformen und nicht zuletzt der doch recht unterschiedliche Intensitätsgrad der Beziehungen zu und demzufolge Beeinflufibarkeit durch Europa einzelnen Regionen durchaus eigene Züge verliehen haben. Es ist dabei keineswegs die Erwartung berechtigt, dafi in den von europäischen Einwanderern des neunzehnten Jahrhunderts besiedelten Gebieten des Südens die Sklaverei bedeutungslos geblieben sei. Sie erreichte jedoch in den vier Südprovinzen noch nicht einmal den zahlenmäßigen Bestand der an räumlicher Ausdehnung unverhältnismäßig kleineren Provinz Rio de Janeiro. Bedeutungsvoller als dieser zahlenmäßige Vergleich aber scheint noch zu sein, daß sich im Süden recht frühzeitig Tendenzen zur Besserung des Loses der Schwarzen bemerkbar machten. Dabei ist noch in Rechnung zu stellen, daß es die Sklaven auf den weiten Flächen der riograndenser Pampa unvergleichlich besser hatten als ihre Leidensgenossen auf den Plantagen der nordostbrasilianischen Monokulturen, in den mineirischen Bergwerken oder — in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts — auf den Kaffeepflanzungen des Parahybatales. Vor allem in Minas Gérais hatte sich die traditions2») 1949, 27) 1943,

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Zitiert aus Joaquim Nabuco, "Obras Completas", vol. VII, "O abolicionismo", Säo Paulo, p. 56, Anm. 2). Viana Moog, "Urna interpretaçâo da Literatura Brasileira , Rio de Janeiro, C. E. B., p. 31.

gebundene Haltung der konservativen Fazendeiros mit ihrer Ablehnung aller "fremden" Ideen auf die Emanzipation recht nachteilig ausgewirkt. Hier fiel die Saat des Abolitionismus auf zumeist steinigen Boden. Und die Sklaverei in Minas verzeichnete selbst dann noch gegenüber der gesamtbrasilianischen Sklavenzahl eine relative Zunahme28*, als in weiten Teilen der küstennahen Gebiete der Abolitionsgedanke bereits den geistigen Keimboden humanitärer Motive verlassen hatte. Zu dieser Zeit war selbst Amazonas schon sklavenfrei und das Glückwunschschreiben des greisen Victor Hugo an den traditionellen Sklavenstaat Ceará zum Siege der "Liberté, qui est la loi humaine" erweckte im gesamten Kaiserreich neue Begeisterung für die "gerechte Sache" und ihren gefeierten französischen Vorkämpfer 29 '. Zwei Jahrzehnte zuvor aber, als Castro Alves sich anschickte, in Recife die ersten Sklavengedichte zu veröffentlichen, galt das Eintreten für das Los der Schwarzen selbst in den führenden Provinzen des späteren Abolitionismus nodi als etwas durchaus Ungewöhnliches. Mario de Andrade hat in einem beachtenswerten Aufsatze über Castro Alves ausgeführt, dafi zu jener Zeit in Brasilien einfach kein "Volk" bestanden habe, welches sich seiner sozialen Probleme bewufit gewesen sei. Denn was es, abgesehen von der "massa servil dos escravos" und den Mulatten gegeben habe, sei lediglieli eine städtische Bourgeoisie gewesen, "que se deu as mâos através a desértica mataría" 39 '. Castro Alves selbst hat der anfänglichen Gleichgültigkeit der städtisch-wohlhabenden, mit den Fazendeiros und Usineiros sympathisierenden Bevölkerung Recifes beredten Ausdruck verliehen, wenn er im "Adeus, meu canto" von 1865 klagte: "E êles dizem, reclinados Nos festins de Baltasar: — Q u e importuno é èsse que canta L à no Eufrate a soluçar? P r e n d e aos ramos do salgueiro A lira do cativeiro, P r o f e t a d a m a l d i ç â o , . . ." 31 >

Nicht nur Gleichgültigkeit oder offenes Eintreten für die wirtschaftlichen Belange der Sklavenhalter aber trugen dazu bei, daß einzelne frühzeitige Gründungsversuche abolitionistischer Vereinigungen 32 ' nach Freikauf oft nur eines einzigen Sklaven scheiterten. Selbst in Recife, dessen durch mehr als zwei Jahrhunderte unerstickbarer Freiheitswille zu etwas Unantastbarem geworden zu sein schien, fanden von 2 8 ) Im Jahre 1873 betrug der Anteil der Provinz Minas Gérais an der gesamtbrasilianisdien Sklavenzahl 21,3°/or am 30. März 1887 hingegen 26,7%. In beiden Jahren war Minas Gérais damit die sklavenreidiste Provinz des Kaiserreiches. 20) Brief Victor Hugos zur Sklavenbefreiung in Ceará vom 25. März 1884. Repr. in: Comité Franco-Brésilien, "L'abolition de l'esclavage au Brésil. — Loi de 13 du mai, 1888', p. 123. 30) Mario de Andrade, "Castro Alves", Rio de Janeiro, 1939, "Revista do Brasil", ano II, 3a fase, no 9, março 1939, p. 3. 31) Castro Alves, 'Adeus, meu canto", Teil 2, IV/l-7, 'Poesías Escolhidas", 1947, p. 307. 3 2 ) 11. 9. 1859: Associaçâo de Socorros Mutuos e Lenta Emancipaçâo dos Captivos. 7. 9. 1860: Associaçâo Académica Promotora da Remissäo dos Captivos. Vgl. "Revista do Instituto Arqueológico Geográfico Pernambucano", Recife, 1891, no 42, p. 262.

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europäischen Rassetheorien beeinflufite Wissenschaftler ein geneigtes Ohr, die auf Grund von vergleichenden Wägungen menschlicher Hirnmassen und Messungen von Schädelindexen die Legitimität und Naturnotwendigkeit der Versklavung von Negern zu beweisen suchten33'. Wenden wir uns schließlich noch Bahia zu, so offenbart sich dort selbst heute auf Schritt und Tritt eine Sonderstellung, die sowohl die Stadt S. Salvador als auch — wenngleich in nicht immer so ausgeprägtem Maße — das Innere des Staates einnimmt. Oftmals ist S. Salvador im Gegensatz zum amerikanisch-dynamischen Säo Paulo, zum kosmopolitischen Rio de Janeiro oder zu den unverkennbar holländischen Einflüssen in Recife als die brasilianischste aller Städte bezeichnet worden. Sie kann aber in weitaus stärkerem Maße als die Visitenkarte nur einer Komponente des brasilianischen Menschen gelten, eben des Negers. S. Salvador verdankt seine Bedeutung in der Kolonialzeit UIK! zu Beginn der Unabhängigkeit des Kaiserreiches mehr als jede andere Stadt Brasiliens dem Sklavenhandel. Es kann in Anlehnung an Wilhelmy für die damalige Zeit durchaus als brasilianischer Brückenkopf Afrikas angesprochen werden 34 ' und war somit funktionell eine Stadt zwischen den Kontinenten. Der deutsche Arzt Robert Avé-Lallemant hat uns in sehr anschaulicher Weise überliefert, wie leicht man sich um 1860 in Bahia als in der "Hauptstadt von Afrika und Residenz eines mächtigen Negerfürsten" zu fühlen vermochte35'. Die innige Verbindung dieser Residenz des portugiesischen Vizekönigs (bis 1763) mit dem Reichtum verheißenden Sklavenhandel aber konnte in ihren Auswirkungen keineswegs nur auf politische und wirtschaftliche Belange beschränkt bleiben. Sie führte vielmehr zu einer auch auf geistigem Gebiet äußerst engen Beziehung, die ihren vielleicht sichtbarsten Ausdruck darin fand, daß die afrikanische Guineaküste zeitweise dem ältesten brasilianischen Erzbistum Bahia unterstellt war. Bei dieser durch Jahrhunderte innigsten Wechselbeziehung war kaum zu erwarten, daß in Bahia — der 1862 mit etwas über einer Million Einwohnern nächst Minas Gérais volkreichsten Provinz — der Abolitionismus übermäßig großen Widerhall fand. Noch bis lange in das letzte Jahrzehnt der Sklaverei fand diese nennenswerten Widerstand außerhalb der Hauptstadt nur in Cachoeira, Canavieras, Ilhéos, Camisäo und Santo Antonio de Barra, mithin also lediglich in sechs von insgesamt 94 bahianischen Munizipien3"'. Daraus erhellt schlaglichtartig, wie ungleich fester die Sklaverei im Nordosten des Landes verankert war als etwa im äußersten Süden. Gleichzeitig aber bewirkte cler dort anzutreffende Gegensatz zwischen den Sobrados und Casas Grandes einerseits und den Mucambos und Senzalas andererseits, daß die Kontraste zwischen Armut und Reichtum, 3 3 ) A. de Souza Pinto, "Castro Alves e Camöes" — Literatura e Politica, Sâo Paulo, 1907, p. 15. Vortrag, gehalten am zweiten Gründungstage der Sociedade Literaria Castro Alves, am 1. 11. 1906 im Instituto Arqueológico Geográfico Pernambucano, Recife, ai) Herbert Wilhelmy, "Südamerika im Spiegel seiner Städte", Hamburg, 1952, p. 316. 3IS) Robert Avé-Lallemant, 'Reise durch Nord-Brasilien im J a h r e 1859", Leipzig, I860, Teil I, p. 10. 3β) Luiz Anselmo da Fonseca, "A escravidäo, o clero e o abolicionismo", Bahia, 1887, p. 331.

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zwischen Neger und Weißem ungleich s t ä r k e r ausgeprägt waren und sich allenthalben Zündstoff ansammelte, der n u r des kleinsten F u n k e n s bedurfte, um in Wiederholung f r ü h e r e r "Quilombos" die Befreiung der Sklaven einzuleiten. Und wenn es nicht zum lodernden F a n a l eines neuen blutigen Aufstandes kam, so trägt das entscheidende Verdienst d a r a n die Generation eines Joaquim Nabuco, eines Tavares Bastos, Perdigäo Malheiro und eines Antonio de Castro Alves. Ihr W i r k e n auf geistigem Gebiete legte den Grundstein zu einer der unblutigsten sozialen Umwälzungen, von denen die Geschichte kündet. Ihr Eintreten f ü r die Gleichheit des Menschen vor Gott und seinem irdischen Ebenbilde bereitete den Weg vor f ü r jenes "Goldene Gesetz" vom 13. Mai 1888, das den Sieg des Ideales der Menschlichkeit über materielle Interessen bewirkte. Die geistigen Wurzeln dieser Generation aber wiesen nach Europa. Sie zeugten von dem ü b e r r a g e n d e n Einflufi der französischen Romantik. Die "Paroles d'un Croyant" Lamennais', die "Histoire des Girondins" Lamartine«, "Le Monde Marche" Pelletans und die "Histoire des m a r t y r s de la liberté" von Esquiros w a r e n die vier Evangelien dieser Generation, Edgar Quinets "Ahasvérus" ihre Apokalypse 3 7 '.

2. Die Familie des Diditers Bereits in der Einleitung w u r d e auf die Unzulänglichkeit einer literarischen Kritik verwiesen, die Castro Alves lediglich als ein kometenhaft in Erscheinung tretendes P h ä n o m e n zu deuten versuchte. Ihren deutlichsten Ausdruck f a n d sie in verallgemeinernder Formulierung durch José de Alencar, der in seinem offenen Brief an Machado de Assis e r k l ä r t e : " . . . podia acrescentar que é filho de um médico ilustre. Mas p a r a que? A genealogia dos poetas começa com o seu primeiro poema" 38 '. Die U n h a l t b a r k e i t einer derartigen These ergibt sich schon aus der engen Bindung unseres Dichters zur Sklaverei. Es bleibt zu bezweifeln, ob die brasilianische Literatur heute über eine so eindrucksvolle Sklavendichtung verfügen würde, h ä t t e nicht Castro Alves engsten persönlichen Kontakt mit dem Schicksale der Schwarzen gehabt. Und selbst die physische Genealogie bestimmte neben den geistigen Wurzeln seiner Dichterpersönlichkeit das Werk in einem Maße, daß es angebracht erscheint, wenigstens in allgemeinen Zügen einiges über die H e r k u n f t des Dichters einzufügen. 37

) Felicité-Robert Lamennais, 'Paroles d'un Croyant', Paris, 1834, Renduel, 237 pp. Alphonse Marie Louis de Lamartine, "Histoire des Girondins", Paris, 1847, W. Coquebert, 8 vols. Eugène Pelletan, "Lettres à Lamartine: Le Monde Marche", Paris, 1857, Pagnerre, viii + 251 pp. Alphonse Henri Esquiros, "Histoire des martyres de la liberté", Paris, 1851, J. Bry ainé 240 pp. Edgar Quinet, "Ahasvérus". Nouvelle édition, Paris, 1843, Au comptoir des imprimeurs unis, LXIII + 401 pp. 38 ) José de Alencar, "Um Poeta. Carta a Madiado de Assis", Rio de Janeiro, 1868. "Correio Mercantil", 22. 2. 68. 3 Castro Alves

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Väterlicherseits entstammte Antonio Freder ico de Castro Alves 39 ' einer portugiesischen Kaufmannsfamilie, deren bis heute erstbelegter Ahn, sein Urgroßvater José Alves, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Comarca Valença, Erzbistum Braga, ansässig war. Sein ehelicher Sohn Antonio José Alves, dessen Geburtsdatum bislang unbekannt zu sein scheint, wurde wie seine Mutter Maria Rodrigues in der Freguesia Säo Joäo de Longos Vales des gleichnamigen Erzbistums geboren. Bereits 1819 mufi er sich jedoch in Brasilien befunden haben, da er am 22. Dezember jenes Jahres in Bahia ein Testament verfafite. Er war bis zu diesem Zeitpunkte unverheiratet, verzeichnete aber nichtsdestoweniger "por fraqueza da humanidade" in dem genannten Testament zwei, in einer vom 26. August 1825 datierten "Escriptura de filiaçâo e legitimaçâo" sogar noch zwei weitere Kinder von einer "mulher solteira j a fallecida" Ana Joaquina 40 '. Bereits weniger als sechs Jahre später wurden diese vier Kinder mit dem Tode ihres Vaters am 8. April 1831 zu Vollwaisen. Der Zweitälteste, Antonio José Alves, zählte damals kaum 12 Jahre, vermochte aber trotz seiner offenkundigen Armut den Grundstein zu seinem späteren Arztberuf zu legen, indem er nach gründlicher praktischer Vorbildung 1835 mit dem pharmazeutischen, im folgenden Jahre mit dem medizinischen Studium begann. Nach kurzer Unterbrechung seiner Studien durch ehrenvoll erwähnte Teilnahme an den Kämpfen gegen die separatistische Revolte des Francisco Sabino da Rocha Vieira, die sogenannte "Sabinada" vom November 1837, konnte Antonio José Alves vier Jahre später, am 28. November 1841, mit einer These über medizinische Aspekte des damaligen Bestattungswesens abschließen41). Um einer drohenden Tuberkulose vorzubeugen, hatte er jedoch kurz zuvor nochmals die Hörsäle der medizinischen Fakultät zu Bahia verlassen müssen und in der reinen Luft des Sertäo Erholung gesucht. Pedro Calmon hat in besonders anschaulicher Art sowie unter Heranziehung bislang unveröffentlichten Detailmaterials die Begleitumstände dieses Ferienaufenthaltes dargestellt 42 , in dessen Verlauf der junge Medizinstudent nicht nur Clélia Brasilia da Silva Castro kennenlernte, sondern auch von deren Vater José Antonio da Silva Castro mit großer Herzlichkeit aufgenommen wurde. Die Familie der Castros dürfte aus Säo Paulo stammen und um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit einer der zahllosen "bandeiras" 3 0 ) In der nachfolgenden Genealogie des Dichters folgte ich im wesentlichen Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", Cap. I, II; Afrânio Peixoto, "Castro Alves, o poeta e o poema", Kap. 1, und Waldemar Mattos, "A Bahia de Castro Alves", Kapitel 1. Es bleibt zu bemerken, daß Antonio de Castro Alves seinen zweiten Vornamen "Frederico" selbst nicht geschätzt und auch niemals, vor allem nicht in seinem literarischen Werk benutzt hat. Es finden sich in der Familie offensichtlich auch keine Vorfahren dieses Namens, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er auf nicht überlieferte Eindrücke seines Vaters während dessen Europareise 1842-1844 zurückzuführen ist. 4 0 ) Bei Peixoto, op. cit. p. 8, findet sich A n a J o a q u i n a A l v e s d e S a , bei Calmon, op. cit. p. 28: A n a J o a q u i n a d e S a . Mattos gibt den Wortlaut der "Escriptura" vom 26. 8. 1825 wieder (p. 15/16), dort heißt es lediglich A n a J o a q u i n a . Weder Peixoto noch Calmon belegen den vollen Namen. 4 1 ) Antonio José Alves, "Consideraçôes sobre Qs enterramentos por abuso practicados ñas igrejas e recintos das cidades. Bahia, 26 de novembro de 1841". Eine Biographie des Vaters von Castro Alves veifaßte Antonio Pacifico Pereira: "Esboço biográfico do Dr. A. J. Alves", Bahia, 1868. 'Gazeta Médica da Bahia", 1868, p. 164 ff. 42) Pedro Calmon, op. cit. p. 31-33.

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über Minas Gérais in das Innere der Provinz Bahia gelangt sein. In der Comarca Curralinho galt Joäo Antunes da Silva Castro bereits an der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts als angesehener Fazendeiro, sein Sohn José Antonio da Silva Castro aber verhalf dem Namen der Familie zu einem weit über die Grenzen des Sertäo hinausstrahlenden Glänze, indem er als sargento-mor der "Periquitos", des berühmten dritten Bataillons der Voluntários do Principe D.Pedro, wesentlich an den Unabhängigkeitskämpfen um Bahia beteiligt war, die mit dem 2. Juli 1823 ihr siegreiches Ende fanden. Es scheint, als habe sich der "Major Periquitäo" nicht immer mit den Maßnahmen der kaiserlichen Obrigkeit zu identifizieren vermocht, denn bereits am 26. Februar 1826 wurde er von dem in Bahia weilenden Monarchen D. Pedro mit folgender Begründung nach Rio gesandt: "O José Antonio da Silva Castro é aborrecido aqui, e por isso o mando como portador dos oficios a fini de là ficar" 43 ). Dodi nicht lange währte dieses Exil. Bereits im folgenden Jahre kehrte er in das Innere von Bahia zurück und widmete sich nun ganz seiner Fazenda, die ständig an Ausdehnung zunahm und ihn so zu einem der bedeutendsten und auch angesehensten Grundeigentümer der Provinz werden ließ. Bereits vor seiner "Verbannung" durch Pedro I aber war José Antonio da Silva Castro mit einer, wie es bei Calmon heißt, hübschen jungen Spanierin namens Ana Yiegas eine Verbindung eingegangen. Am 14. März 1826 wurde eine Tochter geboren, die im Dezember des gleichen Jahres die Vornamen Clélia und — der damals üblichen Vorliebe für nativistische Namensgebung folgend — Brasilia erhielt"'. Trotz einer späteren Ehe, aus der ihm sechs weitere Kinder sprossen, versäumte jedoch der Major Periquitäo nichts, um der jungen Clélia Brasilia im Rahmen der damaligen Möglichkeiten eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Antonio José Alves erhielt nicht nur die Hand der kaum fünfzehnjährigen Clélia versprochen, sondern der Major ermöglichte ihm 1842 auch eine zweijährige Studienreise nach Europa, damit er sich dort die neuesten Erkenntnisse der Medizin aneignen könnte. Antonio José folgte diesem Rate treulich und arbeitete in Paris sogar als Assistent angesehener Chirurgen wie Malgaigne. Nicht minder bedeutungsvoll für seine eigene Weiterbildung, aber auch für die geistige und künstlerisch befruchtende Atmosphäre, aus der später der junge Antonio de Castro Alves die ersten Anregungen für sein dichterisches Schaffen empfangen haben dürfte, waren jedoch die ausgedehnten Reisen des Vaters durch Belgien, Holland und Deutschland. In seinem Tagebuch über diese * 3 ) D. Pedro I an den Marqués de Paranaguá, Bahia, 26. 2. 1826. Ms. im Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro; veröffentlicht durch Pedro Calmon, op. cit. p. 22 und vorher bereits in: "Historia da Casa da Torre", p. 197. 4 4 ) Afrânio Peixoto (op. cit. p. 8) schreibt, daß der Major sich 1825 mit einer "jovem espanhola" verheiratet habe, "cujo pai era abastado negociante na Capital". Es finden sich jedoch keinerlei Anzeichen für eine Eheschließung. In der Taufurkunde der Clélia Brasilia heißt es überdies ausdrücklich: "filha natural do major J o s é Antonio da Silva Castro", (cf. Pedro Calmon, op. cit. p. 23). — Nach H. Lopes Rodrigues, "Castro Alves", p. 554, handelt es sich bei der Mutter um eine Ana Rita Viegas, Tochter von Antonio Viegas und Claudina Viegas. 3"

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Reisen findet sich wenig von dem unbekümmerten wissenschaftlichen Eifer des "petit brésilien", wie ihn Malgaigne liebevoll zu nennen pflegte. Er weicht einer Beklommenheit, dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und vielleicht gerade darum einer um so tieferen Andacht, mit der Antonio José den jahrhundertealten Traditionen europäischer Kultur begegnet und den Schöpfungen der in ihrem Individualismus ihm ansprechend erscheinenden Romantik lauscht. Das innere Erlebnis dieser Reise sollte sich noch Jahre später, nachdem die Familie die ererbte Fazenda Cabaceiras und auch den vorübergehenden Wohnsitz auf S.Felix längst mit der Hauptstadt vertauscht hatte, segensreich auswirken, indem das Haus in der Rua do Rosario zu einer allerseits geschätzten Pflegestätte vor allem der Musik und Malerei, dann aber auch der Literatur wurde. Antonio José Alves verstand es durch sein fachliches Können, das ihm nach der Choleraepidemie von 1855 kaiserliche Anerkennung durch den "Ordern da Rosa" eintrug, wie auch durch seine vielseitigen geistigen Interessen, sich in Bahia eine angesehene gesellschaftliche Stellung zu erringen, deren vielleicht beredtester Ausdruck die gemeinsam mit seinem englischen Fachkollegen Jonathas Abbott gegründete Sociedade de Belas Artes darstellt 45 '. Hatte er in seiner beruflichen Arbeit dank der in Paris erworbenen Kenntnisse manche revolutionäre Neuerung gegen den Widerstand älterer Ärzte einführen können, so teilte Antonio José Alves auch in der Frage der Sklaverei nicht die allgemeine Interesselosigkeit der patriarchalischen Gesellschaft Bahias an dem Schicksale der Schwarzen. Er konnte sich bei seinem Verständnis für die Unglücklichen auf das Vorbild seines eigenen Vaters berufen, der in seinem Testament vom 22. Dezember 1819 bereits seinem "escravo de nome Luiz, de naçâo gegê" wegen guter Dienste und mit dem Wunsche für ein glückliches Dasein auf Erden die Freiheit geschenkt hatte46'. Unterhielt nun auch Antonio José Alves in seinem Hause nodi Sklaven, so zeigt doch besonders das Beispiel der für Castro Alves so bedeutungsvoll gewordenen mucama Leopoldina 47 ', dafi es sich für den Hausherrn dabei weniger um Arbeitskräfte als um Familienmitglieder handelte, denen seine Sorge nicht weniger galt als Frau und eigenen Kindern. Besonders aufschlußreich und zweifellos nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Empfinden und die Einstellung der Kinder gegenüber den Sklaven aber war die geradezu revolutionäre Behandlung, die Dr. Alves den Schwarzen als Arzt angedeihen ließ. In seiner Praxis ließ er nicht nur Sklaven als Patienten zu, sondern behandelte sie sogar nodi zu einem Vorzugspreise. Als es ihm seine Einkünfte gestatteten, im Sertäo die Roça da Boa Vista zu einer Art Landsitz auszugestalten, ließ er dort ebenfalls für Sklaven besonders niedrige Preise ansetzen, während er 48) Dig Sammlungen beider Ärzte zählten zu den wertvollsten in Bahia, diejenige Abbotts umfaßte 374 Bilder, die später den Grundstock für das Staatsmuseum von Bahia abgaben. 4 e ) Vgl. Waldemar Mattos, op. cit. p. 155. Vgl. pp. 39, 71.

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schon vorher in Bahia in Gemeinschaft mit zwei anderen Ärzten für Sklavinnen eine Institution geschaffen hatte, deren moderne Form heute als Frauenklinik zu gelten hätte. Drei Grundelemente waren es demnach, von denen die Atmosphäre im Hause des Dr. Antonio José Alves erfüllt wurde. Dem erwachenden Gefühl der Vaterlandsliebe sahen sich die Kinder nicht in scheuer, jedem Fragen Einhalt gebietender Ehrfurcht gegenüber. Sie war für den jungen Antonio de Castro Alves und seine Geschwister innig verbunden mit Leben und Taten des eigenen Großvaters José Antonio da Silva Castro, dessen eigenwillige Haltung gegenüber der Obrigkeit auch auf den Enkel nicht ohne Einflufi blieb, dessen mannhaftes Eintreten für die Freiheit seiner Heimat aber gleichermaßen in den Gedanken des Dichters seinen unverkennbaren Niederschlag finden sollte. Der Auffassung des Vaters von seiner lindernden und heilenden Tätigkeit als einer ethischen Berufung mochte das Verhältnis entsprechen, welches zu den Sklaven, sei es des eigenen Hauses, sei es mehr noch anderer wohlhabender Städter oder Landherren, bestand. Schließlich aber, und das mag für die Herausbildung der Dichterpersönlichkeit in Castro Alves als einer der entscheidenden Faktoren angesehen werden, fanden die Geschwister, von deren gemeinsamer literarischen Begabung uns manche Zeugnisse künden, im Elternhause eine wirkliche, echte und lebenerfüllte Heimstätte des Geistes. Nur in Kenntnis dieser Atmosphäre wird letztlich zu verstehen sein, daß eine derart hohe und keineswegs wesenlose, sondern krafterfüllte Begeisterung seine patriotischen Verse durchströmte, daß seine Sklavendichtung zuweilen ergreifend menschliche Züge aufwies, deren Tiefe angesichts der Jugend des Dichters fast bestürzend empfunden werden mag. Und lediglich in dieser Schau wird man auch erahnen können, warum Castro Alves letztlich bei seiner innigen Bindung an Bahia, an die heimatliche Landschaft und ihre Menschen in einer so natürlich scheinenden Weise sich das Gedankengut der europäischen Romantik anzueignen vermochte, es mit dem Heimatlichen zu verschmelzen wußte und somit an Stelle des Nebeneinander von brasilianischem Thema und europäisch-idealisierender Form eine echte Synthese setzen konnte, die in ihren Wurzeln, ihrem Wesen und ihrer Zielsetzung offensichtlich in der brasilianischen Literatur eine gewisse Sonderstellung einnahm.

3. Das Leben des Dichters Leben und Werk des Dichters bilden eine untrennbare Einheit. Mag auch das Werk in seiner sich uns darbietenden äußeren Form eines Buches etwas Totes zu verkörpern scheinen, so stellt es doch selbst in dieser leblosen Sammlung bedruckter Blätter lediglich den Endpunkt eines langen Weges dar, in dessen Beginn noch dumpf unklare Empfindungen pulsieren, die unter den so vielseitigen Einflüssen höchster Begeisterung oder tiefster Verzweiflung, Verzeihung erbittender Reue 37

wie Entsagung fordernder Liebe ihre von dichterischer Kunst gestaltete Form finden. Die Dichtung wird zur Offenbarung der eigenen Seele, sei es in erschütterndem Sdirei, sei es in fast unhörbar geflehtem Gebet. Dichtung wird zum Leben. Gewiß, ihre Verkündung im Gedichteten schließt diesen Vorgang ab, bildet die letzte Phase einer inneren Entwicklung und ließe sich vielleicht als deren Tod deuten. Selbst dann aber würde das Erfassen solchen "Sterbens" doch letztlich nichts anderes bedeuten, als die vielleicht tiefste Erkenntnis schöpferischen Lebens, das in seiner Vollendung sich des Kostbarsten begibt. Es ist darin einer fortwährend nach neuer Gestalt suchenden Woge vergleichbar, in deren sichtbaren, weil kulminierenden Phasen sich Perlen nicht unähnlich Espumas Flutuantes lösten, um unterzugehen oder aber in glänzender Pracht hinaufzusteigen in sonnenerfülltes All. Nicht in jedem Falle wird es möglich sein, gleich einem aus kleinsten Fossilien vergangene Welten rekonstruierenden Palaeontologen aus den Versen eines Dichters einen Moment seines Lebens abzulesen oder gar einen, wenn auchi nodi so rasdien Augenblick aus der geistigen Entwicklung seiner Heimat zu erkennen. Nicht minder wesentlich als die uns heute vorliegenden castroalvinischen Reime aber bleiben auch die hinter ihnen schlummernden Gedanken, jene mannigfaltigen Inspirationen, mit denen das Leben des Dichters sein Werk zu erfüllen vermochte. Und so ist es erklärlich, daß sie eine befriedigende Ausdeutung nur in engster Wechselbeziehung zu der "vivencia de Castro Alves" finden können*8). Bei dieser Aufgabenstellung kann es nicht Ziel einer Biographie sein, enzyklopädisch alle nur irgendwie dokumentarisch belegten Einzelheiten aus dem Dasein des Diditers lückenlos vorzulegen, wie sehr audi für ihre Erarbeitung zunächst ohne Einschränkungen gelten mag, "que nâo se fecha o limite do material" 40 '. Die Darstellung wird sich jedoch bemühen müssen, die für das literarische Werk bedeutsamen Einflüsse und Erlebnisse herauszugreifen und selbst dann mit einem gewissen Vorrang zu behandeln, wenn sie im äußeren Lebensablauf des Menschen Castro Alves nicht sonderlich sichtbar geworden sind. Bereits in seiner frühesten Jugend teilten sich unserem Dichter Empfindungen mit, die in seinem späteren Schaffen unverkennbar ihren Niederschlag fanden. Auf der sich bescheiden über einem fast grenzenlos scheinenden Besitz erhebenden Fazenda Cabaceiras am vierzehnten * 8 ) "Vivência de Castro Alves.' Die Auffindung eines entsprechenden deutschen Ausdrucks bereitet einige Schwierigkeiten. An Synonymen gibt Laudelino Freire, "Novissimo Dicionário da Lingua Portuguêsa", Rio, 1943, vol. V. p. 5.215 "situaçâo de vida", "modo de vida" und "hábito de vida". Alle drei Synonyme treffen jedoch nicht die hier anzunehmende Bedeutung der "Vivência", indem sie zwar ohne weiteres, aber auch kaum in zutreffender Weise mit "Lebensart" zu übersetzen wären. Gemeint ist vielmehr in Anlehnung an Wilhelm Dilthey ("Psychologie und Theorie der Erkenntnis") (spanische Ausgabe, Mexico, 1945, p. 424) das Erleben bzw. Erlebnis des Lebens, entsprechend im Portugiesischen "a vida vivida" im Gegensatz zu "a vida escrita ou documentada". i e ) Jamil Almansur Haddad, "Pressupostos Metodológicos da Critica Literária" in: "Revista Brasileira de Filosofia', Säo Paulo, 1951, vol. I, fase. 1/2, p. 158.

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März 1847 geboren, verbradite Antonio de Castro Alves dort auch die ersten fünf Jahre seines Lebens. Es war die Weite des bahianischen Recôncavo zwischen dem Ufer des Paraguassú und der sich in der reinen Luft des nahen Sertäo klar abzeichnenden Serra do Aporá, die sich unauslöschlich in seine Gedankenwelt einprägte. Unverkennbar tritt sie uns bereits in seinen ersten dichterischen Versuchen entgegen, wenn er dort von der "dura rocha da grande serra" spricht50', oder in den geheimnisreichen "bosques gigantescos" Zuflucht sucht und immer wieder hinaufblickt in jene "puros céus de anil", die so spezifisch geworden sind f ü r das Innere von Bahia. So finden sich hier bereits Elemente seiner erstaunlich früh entwickelten Beobachtungsgabe, wie sehr sie sich audi in ihrer dichterischen Formgebung noch unterscheiden mochte von jener Meisterschaft, die er später etwa in den folgenden Versen des "Crepúsculo Sertanejo" erreichen sollte: "A tarde morria! Ñas aguas barren tas As sombras das margens, deitavam-se longas; Na esguia atalaia das arvores sêcas Ouvia-se um triste chorar de arapongas. As garças mettiam o bico vermelho Por baixo das asas — da brisa ao açoite — E a terra na vaga de azul do infinito Cobria a cabeça coas penas da noite!"51)

In jedem einzelnen dieser Gedanken spiegelt sich hier das eigene Erleben; zeigt sich, wie wenig es sich um eine beschreibende Schilderung der Dämmerung handelt, wie stark in dem Diditer das eigene Leben das Werk gestaltet hat. An wie vielen Abenden mag der junge Castro Alves versonnen dem fast lautlosen Sterben des Tages gelauscht haben, daß es sich so geheimnisvoll und dodi wirklichkeitsnah in seinen Versen nadierleben ließ. In jenen Stimmungen zwischen verlöschendem Tage und hereinbrediender Nacht aber mochte es auch geschehen sein, daß ihm die schwarze Amme Leopoldina in ihren schwermütigen Weisen vom bitteren Lose der schwarzen Sklaven sang und so das ansonsten ungetrübt glückliche Dasein ungebundener Jugend überschattete, der er sidi während seines ganzen Lebens mit Wehmut entsann, "Quando a infância corría alegre, a tôa, Como a primeira flor que na lagôa, Sobre o crystal das aguas se revé, . . ."52>

Oftmals ist die Beeinflussung des jungen Castro Alves durch seine Amme Leopoldina im Sinne einer frühzeitigen Auflehnung des Dichters gegen die Sdirecken der Sklaverei als übertrieben hingestellt worden. Es sollte bei einer Beurteilung des Einflusses aber zweierlei nicht über60 ) "Poesia recitada pelo alumno Antonio de Castro Alves no outeiro que teve lugar no Gymnasio Bahiano a 3 de julho de 1861' (1/1), in: "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 474. 51) "Crepúsculo Sertanejo", I, V, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 275/6. ss) "Fé, Esperança e Caridade" 1/1-3, "Obras Completas". 1944, vol. I, p. 349.

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sehen werden: Einmal nahm Leopoldina schon durch ihre lange Zugehörigkeit zur Familie eine solche Stellung ein63', dafi sie bei dem durch Krankheit bedingten' Stadtaufenthalt der Mutter auch in übertragenem Sinne zur "mäe de criaçâo" für den kleinen "Ceceu" wurde 53 *'. Zum anderen aber finden sich in der Sklavendichtung unseres Autors vielfach Elemente, deren Ursprung kaum in etwas anderem als den so leichthin als "folk-lore fantástico" 54 ) bezeichneten "lendas e cantigas da escravidäo" zu finden ist, die Castro Alves aus dem Munde eben dieser Leopoldina vernahm. Zusammen mit den von Leopoldina sicherlich eingestreuten Berichten über wirkliche Greuel benachbarter Fazendeiros gegenüber ihren Sklaven mufiten gerade die Überlieferungen in dem uns als sehr aufgeschlossen geschilderten Castro Alves eine anhaltende Resonanz auslösen, die sich nicht zuletzt in der eigenen Musikalität mancher seiner späteren Gedichte erhalten hat55). In der natürlichen Weite der Landschaft seiner Kindheit mit ihrem Reichtum blühender Fazenden mufite Castro Alves die Sklaverei als etwas Widersinniges, als ein Verbrechen gegen die Natur und ihren göttlichen Schöpfer erscheinen, das sich einfach nicht vereinigen ließ mit seinem "indole mansa, reflexo da bondade de sua alma, bondade que j a se manifestava no interesse que lhe despertava a sorte dos pobres escravos" 56 '. Es war dem Jungen unfaßbar, daß dieses Land zuließ, daß Menschen zu Sklaven wurden: "Ah! näo pode ser escravo Quem nasceu no solo bravo Da brasileira regiäo!"57) So verdankte Castro Alves seiner frühen Kindheit auf Cabaceiras bereits die ersten Einflüsse zweier für sein literarisches Schaffen bedeutsamer Quellen, das Erleben der spezifisch bahianischen Landschaft und die erste Berührung mit dem Problem der Sklaverei. Das berufliche Fortkommen seines Vaters aber machte 1852 die Übersiedelung nach S.Pedro de Muritiba und Cachoeira erforderlich. Hier erhielt Antonio zusammen mit seinem um ein Jahr älteren Bruder José Antonio den ersten geregelten Unterricht; doch ist uns darüber kaum mehr überliefert, als daß ihr Lehrer, Antonio Frederico Loup, als der beste 6 3 ) Der Überlieferung nach, die durch Pedro Calmon mit dem Testament des "Majors" bestärkt wurde, war Leopoldina bereits durch den Großvater des Diditers, eben den "Major" Silva Castro, aufgezogen worden. Vgl. Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 42, nota 11. s'a) Kosename des Dichters, gebraucht von allen seinen Schwestern, findet er sich jedoch audi in seinen Briefen an diese. 6 4 ) Adhemar Ferreira Lima, "Esbôço psicológico de Castro Alves", p. 17. 55) Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß zahlreiche Gedichte von Castro Alves vertont wurden. Gerade die Verse aus "Os Escravos" fanden dabei zuweilen sehr volkstümliche Melodien. Die Vertonung des 'Crepúsculo Sertanejo" sei besonders erwähnt. so) Mündliche Uberlieferung seiner Schwester Adelaide de Castro Alves. Zitiert in Adhemar Ferreira Lima, 'Esbôço Psicológico de Castro Alves", p. 17. ®7) Poesie zitiert in (Anm. 50), Teil II (VI'4-6). Diese Zeilen sind im Laufe der Abolitionskampagne zu unzähligen Malen als eine Art geflügelten Wortes verwandt und auch in der Presse benutzt worden, wo immer es darum ging, die Sklaverei zu bekämpfen. Ihr Ursprung ist dabei zumeist unbekannt geblieben, zumal das Gedicht nur in einem Privatdruck des "Gymnasio Bahiano" veröffentlicht worden war. Ein treffendes Beispiel für die Begeisterungsfähigkeit der Verse des — damals kaum vierzehnjährigen — Poeta dos escravos.

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beiderseits des Paraguassú galt 58 ', was f ü r die A u f m e r k s a m k e i t des Vaters sprechen würde, mit welcher dieser sich u m die Erziehung der K i n d e r sorgte. Zu A n f a n g des Jahres 1854 aber finden wir dann die gesamte Familie in der Hauptstadt Sâo Salvador, wo am 22. März die Lieblingsschwester des Dichters, Adelaide de Castro Alves, geboren wurde. In diese Zeit fiel der entscheidende Aufstieg des Vaters zu einem der angesehensten Ärzte und uneigennützigsten F ö r d e r e r der schönen Künste in Bahia. Es ist verständlich, daß auch die Erziehung der Kinder eine erhebliche F ö r d e r u n g in dieser Richtung erhielt. Und so zählten sie nach zweijährigem Besuche des Colegio de Sebräo zu den ersten Schülern des im J a h r e 1858 von dem großen Reformator des brasilianischen Schulwesens Abilio Cesar Borges begründeten Ginásio Bahiano 59 '. Dem j u n g e n Castro Alves mit seinen damals bereits u n v e r k e n n b a r e n künstlerischen Neigungen sei es zeichnerischer, sei es literarischer Art mußte diese Schule wie ein Paradies erscheinen. In revolutionärer Auflehnung gegen f r ü h e r e Erziehungsmethoden schaffte Cesar Borges nicht n u r die P r ü g e l s t r a f e ab, sondern setzte audi sonst stets an Stelle der physischen Gewalt die Kunst der Überzeugung. E r füllte seine Stunden nicht länger mit trockener lateinischer Formenlehre, sondern vermittelte seinen Schülern, die er immer wieder d u r c h Preise anzuregen wußte, das edite Erleben lateinischer Dichtung, so daß es schon verständlich ist, wenn eines Tages Castro Alves bei der Übersetzung horazischer O d e n d a r u m bat, sie in ebenfalls gebundenen Versen in die portugiesische Sprache ü b e r t r a g e n zu dürfen 6 0 '. Ein w a h r h a f t erstaunliches Beispiel seiner f r ü h e n dichterischen Begabung! S t ä r k e r noch als zu Beginn fühlte sich Castro Alves dieser Sdiule verbunden, nachdem ihm am 10. Mai 1859 der Tod die Mutter nahm und k u r z darauf Cesar Borges sein Institut in ein Internat umwandelte. Den folgenden Jahren v e r d a n k t e er die vielleicht entscheidenden Anregungen seiner Erziehung, indem er n u n erstmalig sich eingehend mit seinem späteren großen Vorbilde, mit Victor Hugo beschäftigen konnte. In seiner Castro Alves-Biographie hat uns Xavier Marques erklärt 6 1 ', daß er sämtliche in der Antholgie von Charles A n d r é enthaltenen Gedichte Hugos ins Portugiesische ü b e r t r a g e n habe. So wuchs er gleichsam mit Hugo in die französische Sprache hinein, die ihm nächst seiner Muttersprache audi Zeit seines Lebens die vertrauteste blieb. W i r d ü r f e n annehmen, daß er, neben Französisch und Latein, zumindest auch Kenntnisse der englischen Sprache besaß, wie seine sich in Übersetzungen und Epigrammen ä u ß e r n d e Vorliebe f ü r Byron vermuten ließe 62 '. O b Castro Alves allerdings die deutsche Sprache geläufig war, 6β ) 5β

Vgl. Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 50. ) Uber Abilio Cesar Borges, nadimals Baräo de Macaubas, vgl. u. a. Isaias Alves, "Vida do baräo de Macaubas", in "Revista do Instituto Histórico e Geográfico da Bahia", vol. 50. β0 ) Mündliche Uberlieferung der Lehrer des Castro Alves an Xavier Marques. Vgl. Xavier Marques, "Vida de Castro Alves", Bahia, 1911, p. 31. ei) ibid. ibid. β2 ) An Übersetzungen sind uns zwei überliefert: a) "A urna taça feita de cráneo humano" ("lines inscribed upon a cup formed from a skull") ("Obras Completas", 1944, I, p. 87-88) b) "As trevas' ("Darkness") ("Obras Completas", 1944, vol. I, 186-190) Epigramme finden sich in größerer Zahl.

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mufi zweifelhaft erscheinen. Wir wissen zwar, daß sein Schwager Augusto Guimaräes ihm unter dem 30. Juni 1870 die Veröffentlichung einer übrigens bislang nicht aufgefundenen deutschen Übertragung der "Vozes d'Africa" anzeigte®·1'; daraus allein kann aber wohl nicht geschlossen werden, daß Castro Alves der deutschen Sprache mächtig war, zumal er Epigramme etwa Heine's stets in ihrer französischen Fassung, Goethes in portugiesischer Übertragung wiederzugeben pflegte. Unzweifelhaft aber eignete er sich, wenn audi nicht ausschließlich auf dem Ginásio Bahiano, gleich Alvares de Azevedo eine eingehende Kenntnis der deutschen, französischen und englischen Literatur an84', wobei zuweilen sogar die Beschäftigung mit der eigenen brasilianischen Literatur zurückgedrängt wurde. Am Rande sei vermerkt, daß er natürlich in der spanischen Sprache und Literatur bewandert war. In die gleiche Zeit fällt audi seine Freundschaft mit Rui Barbosa de Oliveira, der, allerseits bewundert, von einem seiner Lehrer noch zur Schulzeit (!) als "o maior talento que j a vi, em mais de 30 anos de magistério" bezeichnet wurde"5). In Redegewandtheit vermochte Castro Alves es ihm zwar nicht gleich zu tun und mußte sich daher wohl auch mit nur einem Preise begnügen, während Rui sich in der "rédame" vom 16. November 1859 gleich deren mehrere errang. Dennoch verband beide eine enge gegenseitige Zuneigung, die sich später, als Castro Alves in Säo Paulo sein Studium zu beenden hoffte, für beide Seiten fruchtbar auswirken und dem Abolitionismus der Paulistaner Academia nur in höchstem Maße zuträglich sein sollte. Dennoch aber fanden auch die ersten, von Afrânio Peixoto unter dem Sammeltitel "Juvenilia" zusammengefaßten Gedichte Castros zu Jubiläen der Schule und öffentlichen Gedenktagen 9 "' bereits derartige Beachtung, daß der Yater fürchtete, diese Beschäftigung würde der Fortbildung seines Sohnes nur schaden, weshalb er eine Veröffentlichung der Gedichte durch die Schule nicht übermäßig gern sah. e 3 ) In seinem vollen Wortlaut bislang unveröffentlichter Brief von Augusto Alvares Guimaräes an Castro Alves, Bahia, 30. 6. 1870. Im Besitz von D. Déa Bacelar, Rio de Janeiro. Auszüge in "Obras Completas", 1921, II, p. 486-489. β 4 ) Frederico Borges, "Discurso da Sessäo Funebre do Novo Ateneu do Recife", 24-9-1871. Veröffentlicht im "Diario de Pernambuco", später in "Homenagem do Instituto Historico e Geographico da Bahia. . .*, vol. I, p. 286. e 5 ) Vgl. Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 61. β β ) Peixoto faßt den Begriff der "Juvenilia* allerdings weiter. Angesichts des kurzen Lebens von Castro Alves wie auch seiner offensichtlichen Frühreife aber sollte der Kreis der wirklich als Jugendgedichte anzusprechenden Poesien nicht in die Zeit von Recife hineinreichen, wo der Dichter bereits Hugo folgte. Es wären bei dieser Sicht als "Juvenilia" lediglich anzusprechen: "Ao Natalicio do Dr. Abílio Cesar Borges" ("Obras Completas", 1921, I, 418) "Poesia recitada no Gymnasio Bahiano" ("Obras Completas", 1921, I, 421) "Sonêtos" ("Obras Completas", 1921, I, 425) "Ao dia Sete de setembro" ("Obras Completas", 1921, I, 427) "Partida do meu mestre do coraçâo, o Exmo Sr. D. Antonio de Macedo Costa, Bispo do Para", "Ginásio Bahiano, 14 de julho de 1861. O Discípulo amigo do coraçâo Antonio de Castro Alves". Dieses Gedicht findet sich nicht bei Peixoto, "Obras Completas" de Castro Alves, es wurde abgedruckt in "Diario da Bahia", 17-7-61.

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Am 24. 1. 1862 heiratete der Vater zum zweiten Male, und schon am nächsten Tage trennten sich José Antonio und Antonio de Castro Alves von Bahia und wandten sich nach Recife, um dort mit dem juristischen Studium zu beginnen. Auf Grund einer 1854 eingeführten Reform aber wurde Antonio gezwungen, zunächst mit einer Art Studium generale zu beginnen, zu welchem es ihm wohl kaum an sprachlichen Fähigkeiten und Kenntnissen in der "filosofia racional e moral" fehlte, um so mehr aber an Beherrschung der Arithmetik und "maldita" Geometrie mangelte. So bestand er weder das erste Examen im März 1863 noch dessen Wiederholung am 1. Dezember des gleichen Jahres" 7 '. Um so fruchtbarer sollten jedoch diese Jahre für die Herausbildung seiner Dichterpersönlichkeit werden. Hatte er in Bahia noch in den letzten Wochen vor seiner Abreise eine enge Bindung an die heimische Literatur gespürt, hatte er begonnen, sich mit dem allzu europäisch gefärbten Indianismus eines Gonçalves Dias auseinanderzusetzen und bereitwillig Anregungen von Francisco Moniz Barreto oder, zumindest für seine erste Phase, auch von Laurindo Rabelo empfangen, — so traf er hier in Recife eine völlig andere Atmosphäre, in der ihm nicht viel mehr von seinem literarischen Erfahrungsschatze blieb als seine eigene dichterische Begabung. Im literarischen Leben Recifes von 1862 herrschte unumschränkt der Genius Victor Hugos. Ihm unterlag auch Castro Alves, der bald nach seiner Ankunft "Les Orientales" in gleicher Weise in sich aufnahm, wie vor ihm bereits Pedro Luis, der jüngere José Bonifacio, Fagundes Varela und selbst Tobias Barreto de Menez essieh. an.Hn go'acher Metrik, diesem neuartig scheinenden Reim mit seiner für die Ohren der damaligen brasilianischen Romantik so ungewohnten Musikalität berauscht hatten. Tobias Barreto hatte es vielleicht verstanden, diesen neuen Stil bislang am eindringlichsten in die portugiesische Sprache zu übertragen und errang so im Vorjahre den Titel eines "poeta da Academia". Die Erhabenheit, die "grandiloquência" des Hugo'schen Stiles galt mehr als die gefühlsbetonte Feinheit des Ausdruckes, die Antithese wurde geradezu als Salz der in ihrer Eloquenz sich immer mehr entwickelnden Poesie gewertet, und die Idee galt kaum noch etwas, wenn sie nicht hyperbolischen Durchmesser erreichte. Unter diesem Einfluß mögen die Verse "Destruiçâo de Jerusalem" entstanden sein, die wir von Castro Alves als erstes Zeugnis literarischer Arbeit in Recife besitzen und die mit ihrer Veröffentlichung im "Jornal do Recife" am 23.6.1862 eine überraschend positive Aufnahme fanden®8'. Ermuntert durch diesen unerwarteten Erfolg, versuchte er auch in der Folgezeit, in Anlehnung an Hugo zu dichten, ohne ihn jedoch blind nachzuahmen. Besonders seien dabei seine Versuche erwähnt, in β 7 ) Brief von Castro Alves an Marcolino de Moura, Recife, 16-1-64 (und nicht 1863, wie Peixoto annimmt), ("Obras Completas', 1921, vol. II, p. 429/31). β β ) Vgl. Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 75. Es ist durchaus nicht zu ersehen, ob das Datum 23-6-62 oder 23-7-62 lautet, da beide Daten auf der gleichen Seite genannt werden. Nach Mitteilung aus Recife soll jedoch das Gedicht am 23-7-62 veröffentlicht worden sein.

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historischen Themen ("Ao dia 2 de julho")e0> gleich seinem Meister die Freiheit in alexandrinischen Versen zu besingen 70 ). Für seine stilistische Wandlungsfähigkeit schon in dieser Frühzeit aber spricht dann auch die kurz zuvor entstandene "Cançâo do Africano", die als eines der ersten Sklavengedichte angesehen werden kann. Anfang 1864 gelang es dann Castro Alves, in die Fakultät eingeschrieben zu werden, dodi verlor er audi dieses Jahr trotz ernsthafter Studien durch eine Reise nach Bahia, die ihm — vielleicht durch eine übermäßig lange Seereise von feist zwölf Tagen — mehr "faltas" eintrug, als die Fakultät gestattete. Diesem äußeren Mißerfolge stand auch eine innere Krise zur Seite. Zum ersten Male dürfte er mit erschreckender Klarheit empfunden haben, daß es seinem Körper nicht vergönnt sein würde, seinem Geiste auf dessen Flügen in die andinen Regionen des Condors für lange Zeit zu folgen. Plötzlich fühlte er sich verlassen, sah sich einsam der unerbittlichen Krankheit gegenüber, die an seiner Lunge zu zehren begonnen hatte, die sein Leben zu zerstören drohte, bevor er es noch durchmessen hätte. Aus dieser Verzweiflung, die er durch eine ungestüm aufflammende Liebe nur nodi trostloser empfunden haben muß, schrieb er jene Verse, vor deren Veröffentlichung er später selbst zurückschreckte: Oh! Eu quero viver, beber perfumes Na flor silvestre, que embalsama os ares; Ver minh'alma adejar pelo infinito, Qual branca vela n'amplidäo dos mares, No seio da mulher ha tanto aroma! Nos seus beijos de fogo ha tanta vida . . . — Arabe errante, vou dormir à tarde À sombra fresca da palmeira erguida. Mas urna voz responde-me, sombria: Teras o somno sob a lagea fria.71) D a s Verhältnis zu Frauen hat den Lebensablauf des Dichters zweifellos in bedeutsamer Weise gestaltet. Darüber hinaus kann audi als erwiesen ββ ) Dieses Gedicht findet sich nicht in den von Afrânio Peixoto veranstalteten Ausgaben der "Obras Completas". Ein Teil ist abgedruckt bei Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 78. Die einzige uns bekannte Gesamtveröffentlichung findet sich im "Diario de Pernambuco" vom 17-7-63. Die Vielzahl castroalvinischer Gedichte zum 2. Juli (1823) mag erstaunlich scheinen. Sie erklärt sich jedoch daraus, daß für den Enkel des "Major" Silva Castro der 2. Juli nicht nur ein nationaler Gedenktag seiner bahianischen Heimat war, sondern verpflichtendes Vermächtnis darstellte, das er mit einem, wenn auch anfangs nodi recht jugendlichen "nacionalismo literário" zu erfüllen suchte. Castro Alves besang den 2. Juli 1823 viermal: 1861, 1863, 1867 und 1868. 70 ) Vgl. Auguste Rochette, "L'alexandrin chez Victor Hugo", Lyon-Paris 1911, p. 87. 71 ) Der zwar abstoßende, aber durchaus treffende Originaltitel dieses Gedichtes lautete "O Phtisico". Manuel Bandeira hat gezeigt ("Literatura", no 1, outubro de 1946, Rio), daß das Gedicht von "Recife, 7 de Outubro de 1864" datiert. Gegenüber der Veröffentlichung in der Erstausgabe der "Espumas Fluctuantes" unter dem ansprechenderen, aber auch nicht so kennzeichnenden Titel "Mocidade e Morte" weist die Originalfassung teils erhebliche Unterschiede im Text auf. ("Obras Completas", 1944, vol. I, p. 50 I. 1-8). Für den Einfluß der Krankheit auf das Leben und Werk des Dichters vgl. u. a. Tulo Hostilio Montenegro, "Tuberculose e Literatura", Rio de Janeiro, 1949, p. 45-52. Ferner: Clemens Brandenburger, "Castro Alves zum 50. Todestage", Säo Paulo, 1921, "Deutsche Zeitung", 9-7-21, p. 1/2.

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gelten, daß sie in zahlreichen Gedichten dieser in Recife und Bahia verbrachten Jahre, weniger allerdings dann in Säo Paulo, Castro Alves richtungweisend beeinflußt haben. Man geht jedoch kaum fehl in der Annahme, daß sie in erster Linie für die Liebeslyrik unseres Dichters — dort aber allerdings in außerordentlicher Intensität — anregend und zuweilen sogar anspornend gewirkt haben. Für die Epik und besonders für die Sklavendichtung sind ihre Ausstrahlungen jedoch erheblich geringer zu veranschlagen. Das gleiche Jahr aber brachte für Castro Alves nodi eine andere, für sein literarisches Gesamtwerk nicht unbedeutende Episode. Er kam der Aufforderung der Herausgeber einer Studentenzeitung mit dem selbstverständlichen Titel "O Futuro" 72 ) nach, für deren erste Nummer eine literarische Kritik zu schreiben. Zum Anlaß nahm er die "Poesias" des Antonio Augusto da Mendonça, doch ging es ihm, dem man nicht selten vorgeworfen hat, zwar dichten, nicht aber schreiben zu können — grundsätzlich um die Klärung der Wesensgrundlagen brasilianischer Romantik: "A poesia, pois, na terra dos Andradas, dos Pedros Ivos, e dos Tiradentes deve ser m a g e s t o s a como as mattas da America, a r r o j a d a , como seus ríos gigantes, l i v r e , como os ventos, que passam gementes por suas várzeas, e que zurzem os costados pedregosos dos seus gigantes de granito. A poesia emfim deve ser o r e f l e x o d e s t a t e r r a . Isto no que toca à natureza. No que toca às idéas do seculo: Quanto a seu firn, a poesia deve ser o arauto da liberdade — esse verbo da redempçâo moderna — e o brado ardente contra os usurpadores dos direitos do povo. Quanto a sua forma, a litteratura, sendo a expressâo da humanidade, libertou-se dos preceitos asphyxiadores da escola clàssica — essa jaula do pensamento — assim como a humanidade despedaçara o feudalismo — essa jaula da dignidade popular".

Konnte es demnach für Castro Alves ein brasilianischeres Thema geben als die Sklavendichtung? Konnte er auf das Element einer Landschaft verzichten, die in ihrem Reichtum und in ihrer Grenzenlosigkeit so sichtbar die Versklavung des Menschen durch seinesgleichen ad absurdum führte? Und mußte er nicht für diese brasilianische Dichtung eine Form zu finden bestrebt sein, die sich diesen Forderungen anzupassen vermochte? Das mögen Gedanken gewesen sein, die ihn in: Recife einen wesentlichen Teil der "Cachoeira de Paulo Affonso" schaffen ließen, die ihn auch nicht davor zurückschrecken ließen, im folgenden Jahre 1865 mit der aufsehenerregenden Rezitation von "O Século" die Jugend aufzurütteln aus der Lethargie, sie anzufeuern, ihren Teil beizutragen, daß Brasilien die Sklaverei abschüttle. 7 2 ) Für Einzelheiten dieser Zeitschrift vgl. Alfredo de Carvalho, "Annaes da Imprensa Periódica Pernambucana", Recife, 1908, item no 391, ρ 306/7. Für das Zitat siehe "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 420.

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Reminiszenzen dieser Monate fruchtbarster Arbeit und romantischsten Liebesidylles mit seiner Idalina finden wir in den Jahre später entstandenen "Aves d'Arribaçâo": "Sei que ali se occcultava a mocidade . . . Q u e o idyllio cantava noite e dia . . . E a casa branca a beira do caminho E r a o asylo do amor e da poesia." 7 3 )

Neben seiner Arbeit an den Sklavengedichten, zu denen seit der Rezitation von "O Século" nun auch der langsam Gestalt annehmende Plan eines Gesamtwerkes getreten war, dessen achtzehn erste Gedichte er noch 1865 schrieb74', fand er aber noch ausreichend Zeit, um sein Studium durchzuführen. Zwar war sein Jahreszeugnis keineswegs als sehr gut zu bezeichnen, doch konnte Castro Alves j a auch kaum mehr als ein "simplesmente" erwarten. Zusammen mit Fagundes Varela, der ihn zu Beginn dieses Jahres auch von Bahia nach Recife begleitet hatte und ihm dort zu einem Freunde geworden war, verließ er die Fakultät, um die Ferien wiederum in Bahia zu verbringen. Doch es wurden keine Ferien, wie Castro Alves sie sich erträumt hatte. Seine Rückkehr gab lediglich dem seit Jahren kranken Vater noch einige wenige lichtvolle Tage. Am 24. Januar 1866 schlofi er die Augen und Castro Alves, der zwei Jahre zuvor noch vermeint hatte, seinen damals noch tätigen Vater nicht zu überleben, sah sich jetzt als Ältester unter sechs Waisen. Eine Weile schien er alles um sich herum zu vergessen, dann band ihn, einem flüchtigen Sonnenstrahle gleich, die Liebe zu einer Trost spendenden "musa de Israel". Doch es war nur ein kurzes Aufleuchten, mehr nicht: Linda Esther! teu perfil se esvai . . . s'escôa . . . Só m e resta um perfume . . . um canto . . . um rastro . . ,76)

Im März 1866 schiffte er sich wiederum nach Recife ein, ohne in Bahia Muße zu wirklich fruchtbarer literarischer Arbeit gefunden zu haben. Rasch aber nahm ihn die Atmosphäre der Universität und des Theaters wieder gefangen. Unter Kommilitonen wußte er Freunde genug, um mit Rui Barbosa und Augusto Guimaräes eine "Sociedade Abolicionista" gründen zu können. Im Teatro Santa Isabel aber braci sich die schon zwei Jahre zuvor spürbare Liebe zur Schauspielerin Eugènia Cámara nun mit ungestümer Flamme Bahn. Es kam zum offenen Bruche innerhalb der Studentenschaft über den Streit um die "Primeira atriz e o primeiro poeta da Academia". Hier verteidigte Castro Alves seine Eugènia, dort glaubte, ihm an philosophischer Bildung weit überlegen, Tobias Barreto, Eugênias Rivalin Adelaide Amarai beschützen zu müssen. Die Auseinandersetzung griff über den Bereich des Santa Isabel hinaus, beide Parteien bedienten sich der Presse und zeitweise mochte es scheinen, als ginge es nicht um Eugènia Cámara oder um Castro Alves, sondern um eine brasilianische Renaissance des im Vor) ' A v e s d'Arribaçâo", Teil 2, V/l-4. O b r a s Completas", 1944, vol. I, p. 193. *) Nach Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 107, nota (11). " ) "Anjos da meia-noite", 3a Sombra, IV/2-3. "Poesías Escolhidas", 1947, p. 132. 73 7

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jähre in der portugiesisdien Literatur begonnenen Streitgespräches um "bom senso e bom gôsto" zwischen der jungen Geraçâo de Coimbra und der traditionell subjektiven Romantik eines Feliciano de Castilho. Castro Alves hatte kaum Gemeinsames mit der abgeklärten Weisheit eines Autors des "Tratado de Metrificaçâo", er glich eher Teófilo als Castilho, hatte mehr Gemeinsames mit der zweiten — revolutionärpropagandistischen — Phase Antero Quentals als mit dem Verfasser jener "Poemas de Mocidade", denen Castilho seine Anstoß erregende "Carta ao editor" beigefügt hatte. Dennoch wird man kaum versucht sein können, in der Fehde zwischen Castro Alves und Tobias Barreto eine edite literarische Diskussion zu erblicken. Beiden kann wohl der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie es für eine solche Auseinandersetzung doch an Ernsthaftigkeit haben fehlen lassen. So blieb es bei einer persönlichen Meinungsverschiedenheit, deren vielleicht bedauerlichstes Ergebnis in der Entfremdung zwischen den anfangs befreundeten Dichtern erblickt werden mag. Für Castro Alves freilich brachte der Ausgang dieser Fehde zunächst den ihm am köstlichsten erscheinenden Sieg, seine Eugènia. Wieder flieht das Liebespaar die lebenerfüllte Welt des Theaters und die kein Verbergen gestattende Fakultät, wieder wird Castro Alves mit seiner Geliebten zum Ave d'Arribaçâo 76 ), und wieder entsteht neben zauberhaften "Borboletas" seiner Liebeslyrik und neben von ernsterer Reife gezeichneten Rufen nach republikanischer Erneuerung 77 ' in erstaunlicher Vielseitigkeit ein in sich geschlossenes Werk, der "Gonzaga". Die Arbeit an diesem Drama, das in der Kritik oftmals zu einseitig nach seinen republikanischen Ideen interpretiert wurde 78 ', nahm ihn derart gefangen, daß er nicht einmal während der Ferien nach Bahia zurückkehrte. So beendete er den "Gonzaga" bereits im Februar 1867, um ihn wenige Wochen später einem ausgewählten Gremium, darunter auch Professoren seiner eigenen Fakultät, im Teatro Santa Isabel vorzutragen. Ursprünglich hatte Castro Alves durchaus die Absicht verfolgt, audi weiterhin in Recife seinen Studien nachzugehen. Er betrieb seine Einschreibung, gab dann jedoch dem Drängen Eugênias nach, die für beide in Bahia eine günstigere Atmosphäre erhoffte: für Castro als den Autor des "Gonzaga" . . . für sich selbst als prädestinierte Darstellerin der Maria. Äußerlich sahen sich die zwei Zugvögel darin auch nicht enttäuscht. Castro Alves wurde, kaum daß er angekommen, zum Ehrenmitgliede ' · ) Die Auffassung Peixotos, daß sich die "Aves d'Arribaçâo* ausschließlich auf die Bindung des Dichters an seine Idalina bezögen, läßt sich kaum vertreten. Es finden sich vielmehr in dem Gedicht durchaus deutliche Hinweise auf das Liebesidyll mit Eugènia Cámara vom Jahre 1866. " ) "O Povo ao Poder". Dieses Gedicht findet sich in seiner Originalfassung nicht in den Ausgaben von der Hand Afränio Peixotos. Es wurde anonym veröffentlicht in Ό Tribuno" vom 18. Dezember 1866 (Ober "O Tribuno" vgl. Alfredo de Carvalho, "Annaes da Imprensa Periódica Pernambucana", item 430, p. 318). Eine Reproduktion der fraglichen Nummer des "O Tribuno" brachte Hélio Vianna in seiner "Contribuiçâo à Historia da Imprensa Brasileira", Rio de Janeiro, 1945, p. 590. Uber die Autorschaft besteht kein Zweifel. Vgl. auch Hélio Vianna in 'Cultura Politica' No. 40 (1944), p. 187. 7 β ) Selbst Joaquim Nabuco klassifizierte Castro Alves als "o poeta republicano do 'Gonzaga'". (Joaquim Nabuco, 'Obras Completas", 1949, vol. I, "Minha Formaçâo", p. 7).

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des Dramatischen Konservatoriums ernannt, seine Gedichte fanden in der bahianisdien Presse zumeist günstige Aufnahme, und audi der "Gonzaga" enthielt Dichter und Schauspielerin jenen Erfolg nicht vor, den sie sich von ihm erhofften. Am 7. September wurde er in Anwesenheit erster gesellschaftlicher Kreise in einer Galavorstellung des Teatro Sâo Joäo uraufgeführt, der Autor auf offener Szene zum Genius gekrönt und in einem Triumphzug durch die Stadt geleitet. Castro Alves aber erlebte diese für einen kaum zwanzigjährigen Dichter selbst in Brasilien ungewöhnliche Huldigung wie in einem Traume. Einmal befriedigte ihn der "Gonzaga" keineswegs. Empfand er die handelnden Personen "que um dia criou de coraçâo" schon als bleiche, farblose Schatten, so enttäuschte ihn bei allem äußeren Glänze die Aufführung in Bahia durch ihre konventionelle, der Ausprägung seiner revolutionären Ideen empfindungslos gegenüberstehende Zeichnung der Charaktere derart, "que . . . deu-me impetos de atirar ao fogo como as mäes da China o fazem com os filhos — monstruosos —"79>. Dann aber erfüllte Castro Alves in seinem heimatlichen Bahia dodi Sehnsucht nach der Kindheit im Sertäo und Trauer über die Verlassenheit, in die das väterliche Haus gehüllt schien, in solchem Maße, daß sie jeden äußeren Glanz überschatten und uns in "Sub tegmine fagi" und "A Boa Vista" einen völlig neuen — und in seiner Gedankenwelt wesentlich vertieften Castro Alves offenbaren: "Vem! Nós iremos na floresta densa, Onde na arcada gótica e suspensa Reza o vento feral. Enorme sombra cai da enorme rama . . . É o Pagode fantástico de Brama Ou velha catedral." 8 ») Oh! deixem-me chorar! Meu lar . . . meu doce ninho! A b r e a vetusta grade ao filho teu mesquinho! Passado — mar immenso! . . . inunda-me em fragrancia! Eu näo quero laureis, quero as rosas da infancia. Oh! jardim solitàrio! Reliquia do passado! Minh'alma, como tu, é um parque arruinado! Morreram-me no seio as rosas em fragrancia, Veste o pesar os muros dos meus vergeis da infancia. 81 )

Aus dieser inneren Zerrissenheit führte den Dichter seine Eugènia in das Leben zurück. Sie empfand sehr wohl, daß Bahia für sie kein Fortkommen, für Castro keine erlösende Ruhe bedeuten konnte und griff daher bereitwillig einen von ihm bereits im September 1867 geäußerten Gedanken auf, nach demi Süden zu gehen. So wandten sich beide im Februar 1868 nach Rio de Janeiro mit dem Vorsatz, von dort nach Säo Paulo weiter zu reisen, wo Castro Alves seine Studien zu beenden hoffte. 7 β ) Brief von Castro Alves an Joaquim Augusto Ribeiro de Souza, Säo Paulo, 25-9-1868 ("Obras Completas", 1944, vol. II, p. 531). 8 0 ) 'Sub tegmine fagi' VII. "Poesías Escolhidas', 1947, p. 51.

81) " A B o a V i s t a " , V i l i + X I I I . " O b r a s C o m p l e t a s " , 1944, v o l . I, p. 131/132.

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Audi in Rio de Janeiro öffneten sich unserem Dichter — nicht zuletzt auf Grund gewichtiger Empfehlungsschreiben einflußreicher Freunde aus Bahia — bereitwillig die Türen. José de Alencar empfing den Autoren des "Gonzaga", und Machado de Assis ließ es sich nicht nehmen, der Bitte des "solitàrio da Tijuca" Folge zu leisten und inmitten des Carnaval Carioca Castro Alves in der Rua do Ouvidor aufzusuchen. Sein Urteil war wesentlich zurückhaltender als das Alencar's. Zum Teil mag das auf sein ganzes Wesen zurückzuführen sein, andererseits aber mußte ihm auch die castroalvinische Sprunghaftigkeit, die Übersteigerung der Metapher bis zur Verzerrung fremd bleiben, wie er — der Mischling — auch niemals das Dämagogische in Castro's Abolitionismus erfafite. So vermeinte er — mit für ihn erstaunlicher Entschiedenheit — einen "poeta original" gefunden zu haben, der seine Exuberanz mit der Zeit verlieren würde82'. Für den Augenblick schien das Lob Alencar's jedoch entscheidender, denn schon am 22. Februar erfolgte die festliche Lesung des "Gonzaga", Castro Alves widerfuhr die Ehre eines glänzenden Banketts, und er ließ sich nach Bekanntwerden des Sieges von Humaitá sogar dazu hinreißen, für einen kurzen Augenblick seinen Pazifismus, "sua poesia de redençâo dos negros, de libertaçâo ideal" zu vergessen und, von echt patriotischem Stolze getragen, in einem Triumphgesang das Ereignis zu feiern: Silencio! É elle . . . — o Brasileiro Atlante, De um grande povo a legiâo feroz. Desceii dos Andes . . . da Bahía altiva . . . Do Guanabara — esta mansäo de reis . . . Treme, o cidade! — Se o Brasil caminha O vil tyranno se lhe agarra aos pés . . ,83)

Sei es diese ihm an sich fremde Verherrlichung des Krieges, sei es die dem Republikaner Castro Alves verfänglich erscheinende Huldigung an die Monarchie, sei es einfach die Erkenntnis, daß es sich bei dem "Pesadêlo de Humaitá" um eine momentane Inspiration, eines jener auf augenblicklichen Effekt bedachten Gedichte mit seinen "bombas" handele, am Rande des Manuskripts finden wir von seiner Hand den Vermerk: "näo se p u b l i c a " . . . In Säo Paulo fand er den ihm nun schon fast zur Gewohnheit gewordenen festlichen Empfang durch das "Arquivo Jurídico". In Anwesenheit des Präsidenten der Provinz, zahlreicher Professoren und der Studentenschaft rezitierte er "O Livro e a America" und aus den "Escravos" die gespenstische "Visäo dos Mortos", stürmischen Beifall auf der einen, betretenes Schweigen auf der anderen Seite erntend. Die Fakultät besuchte er kaum, es sei denn, um den rhetorisch so ungemein befruchtenden Vorlesungen des jüngeren José Bonifacio zu 82) ober den Briefwechsel zwischen José de Alencar und Madiado de Assis vgl. die beigefügte Bibliographie. 8.1) "Pesadêlo de Humaitá', III/3-8. "Obras Completas*, 1944, vol. I, p. 299. 4 Castro Alves

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lausdien, der ihm nicht nur Lehrer war, sondern auch Freund und Bewunderer wurde. Im übrigen aberzog er es vor, an seinen "Escravos" zu dichten als Strafrecht zu hören. Dennoch gelang es ihm offenbar, mit geringeren Anstrengungen als in Recife die erforderlichen Examina zu bestehen, während er mit der "Tragèdia no Mar" und den "Yozes d'Africa" Akademie wie Fakultät in einen Taumel der Begeisterung rifi. Jahre bevor das Gesetz der freien Geburt das nahende Ende der Sklaverei erkennen ließ, senkte Castro Alves in das Herz der Paulistaner Jugend jene Samen, die später in der Arbeit eines Nabuco, eines Rui Barbosa vielhundertfache Frucht tragen sollten 84 '. Es waren die Geburtsstunden des akademischen Abolitionismus, der in eindringlicher Weise das Primat des Geistigen, der Idee schlechthin, über jede politische Zielsetzung einer Reform vor Augen führte. Das literarische Schaffen unseres Dichters in Säo Paulo aber beweist mit den Höhepunkten seiner Sklavendichtung gleichzeitig, wie sehr sich jene Kritiker im Irrtum befanden, die vermeinten, Castro Alves habe die Sklaverei nur deshalb thematisch ausgewertet, weil das Erkalten seiner Liebe zu Eugènia den unerschöpflich scheinenden Strom leuchtender Inspirationen für seine Lyrik habe versiegen lassen. Die Wurzeln der Sklavendichtung lassen sich vielmehr bis in die ersten Monate der Zeit von Recife zurückverfolgen, und ihre äußerlich so glanzvolle Paulistaner Phase fiel gerade mit dem letzten harmonischen Zusammenklingen der beiden Liebenden zusammen. Erst Wochen später mußten beide erkennen, daß sie einander unaufhaltsam entfremdeten. Wie bitter Castro Alves das Wissen um diesen Verlust wurde, mochte er angesichts seines äußerlich bewegten und leuchtenden Daseins vielleicht verbergen können; in seinen lyrischen Gedichten dieser Periode aber hinterließ er uns nächst den Krisen von 1864 und 1867 das wohl erschütterndste autobiographische Zeugnis, dessen ein Dichter nur fähig sein konnte . . .85>. Im September scheint der Bruch unvermeidlich, im Oktober aber gelang dann Castro Alves doch noch einmal eine gewisse Annäherung, indem sich Eugènia bereit erklärte, im "Gonzaga" zu spielen. Die Aufführungen am Ende dieses Monats unterschieden sich kaum von jenen im Teatro Säo Joäo zu Bahia, doch Castro Alves sah nun nicht mehr die Schwächen seines Stückes. Es wuchs hinaus über das Drama da Inconfidência . . . "era o desafio à sociedade escravocrata. A aboliçâo falava à oligarquía. 84 ) Bei der gerade in Sâo Paulo engen Freundschaft zwischen Castro Alves und Joaquim Nabuco kann es kaum einen Zweifel in der Ausdeutung jener Worte geben, die Nabuco als Richtschnur seines Wirkens anerkannte: "Posso dizer que desde 1868 vi tudo em nosso país através desse prisma (da escravidäo)." (Joaquim Nabuco, "Obras Completas", 1949, vol. I, "Minha Formaçâo", p. 22). 85 ) Vgl. dazu die Poesien des Dichters aus dieser Zeit, vor allem "Hino ao Sono" und "Boa Noite". Uber letztere fällte Afrânio Peixoto folgendes Urteil: "a mais sensual poesia amorosa que se rimou no Brasil, e a que o pròprio Bilac, outro sensual, pediría inspiraçôes" (Castro Alves, o poeta e o poema, 1942, p. 36). Die Anspielung auf Bilac bezieht sich sicherlich auf die "Tercetos" (Poesías, Rio, 1909, p. 67).

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A injúria lírica rogava a face dos conservadores, a estupidez agrària, a inércia gorda dos homens velhos, os barôes dos cafezais" 88 ). Für Castro Al ves aber war es nicht minder eine letzte Illusion, Vergangenes zu neuem Leben erwecken zu können . . . Während er noch davon träumte, den "Gonzaga" nun auch in Rio de Janeiro zu inszenieren, erlitt er bei einem Jagdausflug in die Umgebung von Sâo Paulo am 22. November 1868 einen Unfall, der alle Pläne zunichte machte. Durch Unvorsichtigkeit entlud sich sein Gewehr, und eine volle Schrotladung traf seinen linken Fuß. Anfangs mochte es scheinen, als gäbe diese Verletzung nicht zu sonderlich großer Besorgnis Anlaß, dann aber machten sich die tuberkulöse Lunge und der Zustand innerer seelischer Zerrissenheit um so nachteiliger bemerkbar. Freilich fehlte es ihm nicht an treuen Freunden, dodi vermochten sie wohl lediglich seine physischen Schmerzen zu lindern. Das Ausbleiben Eugênias sollte schlimmere Folgen haben als der um sich fressende Wundbrand. Es trieb ihn von hoffnungsfroher Zuversicht auf baldige Genesung 87 ' immer wieder zu trostlosester Verzweiflung, die schließlich an den Rand des Todes führte, den er bereits so nahe wähnte, daß er seinen Schrecken verloren hatte: Quando eu morrer . . . nâo lancem meu cadaver No fosso de um sombrio cemiterio . . . Odeio o mausolèo que espera o morto Como o viajante desse hotel funereo.88)

In jenen Nächten des 30. März und des 1. April 1869 rettete ihn die "affeiçâo dos amigos". Bald aber mußten auch sie einsehen, daß nur nodi die Amputation des Fußes das Schlimmste verhüten konnte. Ein solcher Eingriff aber durfte mit Rücksicht auf sein Lungenleiden nicht im herberen Klima Sâo Paulos durchgeführt werden, so daß die Treuesten seiner Anhänger ihn am 19. Mai in Santos auf das Schiff hoben, welches den Todkranken nach Rio de Janeiro bringen sollte. Im Hause des jetzt wohlhabenden einstigen Kommilitonen Luis Cornelio mit jeder erdenklichen Sorgfalt betreut, von zwei der angesehensten Ärzte behandelt, durfte Castro Alves auf Heilung hoffen. Anfang Juni aber verschlimmerte sich sein Zustand derart, daß man nun ohne jede Betäubung zur Amputation schreiten mnßte: "Corte-o, corte-o, doutor . . . Ficarei com menos matèria que o resto da humanidade", waren die wenigen Worte, die man von dem Kranken vernahm . . . ββ) Zitiert aus Pedro Calmon, 'Historia de Castro Alves", Rio, 1947, p. 190/1. 87 ) Am 12. März 1869 bevollmächtigte Castro Alves den Studenten Antonio José Rodrigues de Oliveira Filho, seine Einschreibung für das Quarto Ano Jurídico zu beantragen. Dem Antrag wurde am 15. März mit der Matrikel No. 49 entsprochen. (MS im Archiv der Faculdade de Direito de Sâo Paulo). 88 ) 'Quando eu morrer" I, "Obras Completas", 1944, vol. I, pp. 214. Castro Alves selbst hat in seinem Dankbrief an die Freunde in Sâo Paulo vom 25. 5. 1869 die Nächte vom 30. März und 1. April als die kritischsten bezeichnet, in denen ihn lediglich die Anhänglichkeit seiner Freunde gerettet habe. ("Obras Completas", 1921, vol. II, p. 454; 1944, vol. II, p. 533-535). 4*

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Die Operation schien zu gelingen, Castro Alves erholte sich so rasch, daß er sich bereits im gleichen Monat noch dem Tode endgültig entronnen wähnte: Ai! näo maldigas minha fronte pálida, Ε o peito gasto ao referver de amores. Yegetam louros — na caveira esqualida E a sepultura se reveste em flores. Bern sei que um dia o Do mar lançou-me na Serei . . . que importa? Dá-me o teu seio — e

vendaval da sorte gelada areia. o D. Juan da morte tu serás Haydéia! 8 9 )

Während sich ihm nodi in mehr yon Mitleid als sinnlichem Begehren getragener Zuneigung der Maria Càndida Inspirationen für seine Lyrik boten, beschäftigte sich Castro Alves innerlich bereits wieder mit dem Gedanken an ein neues Drama. Dem Don Juan Byrons nicht nur im Titel gleichend, lassen die uns überlieferten Fragmente erahnen, wie der Autor, "colecionador de coraçôes inocentes, noivo de todas as beldades, o irresistivel namorado" in ihnen allen immer wieder nur die eine Frau sah, die für ihn verloren war. Ängstlich darauf bedacht, seinen körperlichen Zustand zu verbergen, schlich er sich in das Theater. Dodi es kam nur zu einem: "Adeus! — É o adeus extremo . . . A hora extrema soou."

und einem letzten Bekenntnis zu ihr: "Näo quero mais teu amor!! Porém minh'alma Aqui, além, mais longe, é sempre tua." 9 0 )

auf das ihm Eugènia noch in der gleichen Nacht antwortete: "Adeus!! Se um dia o Destino Nos fizer ainda encontrar Como irman ou como amante Sempre! Sempre! me has de achar . . ," e l )

Am 25. November 1869 schiffte er sich — wie Peixoto angibt auf Drängen der Familie — nach Bahia ein. Bei der Ausfahrt aus der Bahia de Guanabara blieb sein Blick versonnen dem ewigen Spiel der Wogen verhaftet. Gleich Blumen in der unendlichen Weite des Ozeans erschien ihm der Wogenschaum, munter auf dem Kamm der Welle dahinreitend, hochgewirbelt von einem plötzlichen Windhauch, zerstäubend im Lichte der blendenden Sonne. Waren seine Gedichte anderes als solcher aus Himmel und Meer geborener Wogenschaum, der vor dem Winde dahin8 e ) "A volta da primavera" I, II. "Obras Completas", 1921, vol. I, p. 140¡ 1944, vol. I, p. 81. Das Gedicht trägt ein Epigramm von Musset: "Aime et tu renaîtras". D. Juan und Haydeia beziehen sich zweifellos auf das Abenteuer des Byron'sdien D. Juan mit der schönen Haydée (Byron, D. Juan, canto II, III.) Uber die Fortschritte der Genesung vgl. aber auch "Correio Paulistano" vom 29-6-69 und "O Ypiranga* vom 17-7-69. eo) "Adeus", (Teil 2. XII/3-4, XIV/3-4) "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 338/9. β 1 ) Die Antwort Eugênias ist abgedruckt in "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 340/1. Es handelt sich um die letzte Strophe.

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trieb; waren sie nicht audi "Espumas Flutuantes" . . . "filhos da musa — este sopro do alto; do coraçâo — este pèlago da alma?"92) Nach, einem flüchtigen Abenteuer mit einer schönen Unbekannten 93 ' während der Überfahrt erreichte er Anfang Dezember Bahia, wo er bei seinen Geschwistern im alten elterlichen Hause der Rua do Sodré liebevolle Aufnahme fand. Zunächst widmete er sich der Regelung von Familienangelegenheiten, verwandte die Erträge aus dem Verkauf von Boa Vista zur Abtragung alter Schulden des Vaters und bereitete die Herausgabe seiner lyrischen Gedichte in den "Espumas Flutuantes" vor. Im Januar 1870 glaubte er alles soweit geregelt, dafi er daran denken konnte, Bahia zu verlassen, um in der reinen Luft des Sertäo Linderung zu finden. Er wandte sich zunächst nach Curralinho — heute Cidade de Castro Alves —, doch schien es, dafi sein Befinden sich hier kaum zu bessern versprach. Seine Briefe, vor allem an die Lieblingsschwester Adelaide, sprechen vielmehr von neuerlichen Beschwerden und von der "saudade", die ihm, schon fast zum Lebensinhalt geworden war. Dann aber zeigte sich, welche Kraft dem heimatlichen Sertäo innewohnte, wie sehr ihn die Erinnerung an die Jugend, belebt noch durch seine Liebe zu Leonidia, der Gespielin seiner Kindheit, zu stärken vermochte. In den hier entstandenen Teilen der "Cachoeira de Paulo Affonso" spiegelt sich nicht nur das Bild einer von Menschen kaum berührten und dennoch keineswegs abweisenden Landschaft, es treten auch Elemente eines anderen, tieferen Gefühls auf, das innerste Bewufitsein, nach jahrelanger Wanderschaft und Unstetigkeit zurückgekehrt zu sein. Er fühlte sich selbst als einen Teil dieser Landschaft, der fernen Serra do Aporá, des im Morgennebel dampfenden Mato und der ruhig dahinströmenden Wasser des Paraguassú. ö f f n e t e er das Fenster, so bildete er auf den weiten Campo, den der letzte Regen in ein zartes frisches Grün gekleidet hatte. Er ritt hinaus in den Sertäo, um fernab von Hugo, Lamartine oder Shelley der Natur selbst ihre Gedanken abzulauschen: E a pedra . . . a flor . . . as selvas . . . os condores Gaguejam . . . falam . . . cantam seus amores!94)

Hatte er in den "Versos de um viajante" noch ungehemmt der Sehnsucht nach den "belas filhas do pais do sul" — gemeint war Säo Paulo — Ausdruck verliehen, so zeigt sich am deutlichsten die Wandlung, wenn man jene Verse etwa mit "Coup d'étrier" vergleicht. Es scheint kaum möglich, daß zwischen beiden Gedichten nur vier Monate lagen: Tenho saudades . . . ai! de ti, Säo Paulo, — Rosa de Espanha no hibernal Friul — Quando o estudante e a serenata accordam As belas filhas do pais do sul. e2 ) Castro Alves, "Prólogo" zu den "Espumas Flutuantes". "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 28. 3 • ) Ά urna estrangeira". 'Obras Completas", 1944, vol. I, p. 135/38. ·*) "A Tarde" (Cadioeira de Paulo Affonso) II/7-8. "Poesías Escolhidas", 1947, p. 252.

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und dagegen, am 1. Juni 1870 im Sertäo, die flehentliche Bitte: Abre-me o seio, ó Madre Natureza! Regaços da floresta americana, Acalenta-me a màdida tristeza Que da vaga das turbas espanada. Troca dest'alma a fria morbideza Nessa uberrima seiva soberana! . . . O Prodigo . . . do lar procura o trilho . . . Natureza! Eu voltei . . . e eu sou teu filho!»5)

Im folgenden Monat vertauschte Castro Alves selbst das bescheidene Städtchen Curralinho mit noch größerer Einsamkeit und zog sich auf die Fazenda Isabel zurück. Hier, zwischen den diditen Wäldern des Orobó Grande und den von satten Weiden bedeckten Hängen des Gebirgsvorlandes schloß er die "Cachoeira de Paulo Affonso" endgültig ab. Im Frieden und der besinnlichen Ruhe dieser Landschaft löste er sich endgültig von der "saudade das cidades vastas". Er fand in inniger Verbindung mit der Natur den Weg zu einer neuen dichterischen Gestaltung seines Abolitionismus, den er, ausgehend von seiner "Saudaçâo a Palmares" zu einem — nicht mehr vollendeten historisdi-dr amatiseli en Gedichtwerk "Palmares" entwickeln wollte. Und in ergreifender Überwindung seines eigenen Daseins, seiner so ungemein bewegten "vida sentimental", identifizierte er sich mit dem Dichter des "Childe Harold" in der innersten Wandlung seines Wesens vom ruhelos umherirrenden Don Juan zum Dichter der Freiheit: — "Olhai, Signora . . . além dessas cortinas, O que vedes? " — "Eu vejo a immensidade! . . ." — "E eu vejo a Grecia . . . e sobre a plaga errante, Urna virgem chorando . . . " — "É vossa amante? . . ." — "Tu disseste-o, Condessal . . . É a Liberdade!!! . . ."ββ)

Im September aber glaubt er sich soweit wiederhergestellt, daß es ihn nicht länger im Sertäo hielt, während in der Hauptstadt Bahia seine "Espumas Fluctuantes" vor der Herausgabe standen. Ihr galt seine ganze Sorge, und seltener wurden seine Ausritte, auf denen er, der kaum dreiundzwanzig Jahre alte Dichter, der vom Tode 1 Gezeichnete, ehrfurchtsvoll gegrüßt zu werden pflegte. Der deutsch-französische Krieg veranlaßte ihn, als Antithese zu der im Paraguaykrieg inspirierten "Terribilis Dea" des Pedro Luiz seine "Deusa Incruenta" zu schreiben. Hier erflehte er Frieden, wo grausamster Krieg regierte, hier rief er die Romantiker im Olymp, seine Meister, a n . . . , wo doch auf Erden jedes Gebet im Donner der Geschütze erstickte. Er aber hielt nicht inne, rief stets aufs neue das Gewissen der Welt wach, in der "o amor transmudou-se em òdio acerbo". Er bat um es) "Versos de um viajante" V. "Poesías Hscolhidas", 1947, p. 94 und "Coup d'étrier" V. "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 228. »») "O derradeiro amor de Byron", VIII, 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 152.

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Brot, um Schutz und Liebe für die Opfer eines Kampfes, dessen Sinnlosigkeit ihm Verbreiten schien: "Filhos do Novo Mundo! e r g a m o s nós um grito Q u e a b a f e dos canhöes o horrísono rugir, E m f r e n t e do oceano! em frente do infinito E m nome do progresso! em nome do porvir!" 9 7 )

Zum ersten Male zeigte sich hier bei Castro Alves in aller Deutlichkeit der Wille des neuen Kontinentes nidit nur zu eigener Gestaltung seines Sdricksals, sondern auch zum Eingreifen in die Geschicke der bislang in ihrer Erhabenheit unantastbaren Alten Welt. Seine Verse glichen einer Vorahnung der geistigen Emanzipation seiner Heimat und ließen ihn, der anfangs so fest in den Vorbildern der europäischen Romantik verwurzelt war, hinausgreifen in eine Sphäre, die zu erreichen ihm freilich nicht mehr vergönnt sein sollte. Denn Castro Alves stand wirklich vor den Toren der Ewigkeit. Der Traum von einer Heilung war längst in ihm dem Wissen um das Sterben gewichen. In unheimlich raschem Verfall durchlebte er nun, was ihm sieben Jahre zuvor in der "Mocidade e Morte" vorgeschwebt hatte. Noch einmal spürte er die wohltuende Nähe einer ihn liebenden Frau ..., aber es war eine Zuneigung, die schon keine Erfüllung mehr suchte. Noch ein letztes Mal auch erhob er seine Stimme für die Sklaven, wandte sich an die "Senhoras Bahianas", jene Unglücklichen nicht zu vergessen, die ihre Brüder, ihre Söhne seien. Der Säo Joäo des Jahres 1871 kündete ihm das Ende. Der nahende Winter mußte es nur beschleunigen: E e u sei que vou morrer . . . dentro em meu peito U m mal terrivel me devora a vida: Triste A h a s v é r u s , que no firn da estrada, So tem por braços urna cruz erguida. 9 8 )

Am Vormittag des sechsten Juli stieg der Pater Turíbio Tertuliano Fiuza die Stufen zum Obergeschoß des Hauses in der Rua do Sodré hinan. Einst hatte ihm Castro Alves im Gymnasio Bahiano die Oden des Horaz übertragen, jetzt kam er, um seinem Schüler das heilige Amt der letzten Ölung zu versehen . . . Den Blick in eine wesenlose Ferne gerichtet, wo sich im Scheine des winterlich klaren Sonnenlichtes die Gedanken des Dichters verloren, zusammenflössen mit dem Werk seines Lebens zu einer ihr Leuchten in das Nichts verströmenden goldenen Schale, harrte er mit verklärtem Antlitz aus, bis sich in den frühen Nachmittagsstunden das Tor zur Ewigkeit hinter ihm schloß.

»') "No Meeting do Comité du Pain", VI, "Poesías Escolhidas", 1947. p. 203. «') 'Mocidade e Morte", V/l-4. "Poesías Escolhidas", 1947, p. 39.

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Zweites Kapitel

D I E SKLAVEN DICHTUNG

1. Quellen a) Einflüsse aus dem Leben des Dichters Eine Umschau im Kreise der bedeutenderen Dichter des vorigen Jahrhunderts würde unzweifelhaft zu dem Ergebnis führen, daß sich keiner von ihnen derart intensiv mit dem Problem der Sklaverei befaßt hat wie Antonio de Castro Alves. Besonders deutlich zeigt sich dieser Unterschied bei Betrachtung der nordamerikanischen Literatur. Die acht "Poems on Slavery" Henry Wadsworth Longfellows stellen zwar eine — leider zu wenig beachtete — Perle nordamerikanischer Dichtung dar; innerhalb seines eigenen Gesamtwerkes aber treten sie dodi so stark in den Hintergrund, daß Longfellow heute kaum noch anders denn als ein "sympathetic bystander" 1 ) des Abolitionismus gewertet wird. John Greenleaf Whittier hat, gemessen an der Zahl seiner Gedichte, der Sklaverei zwar bedeutend mehr Aufmerksamkeit gewidmet, doch läßt sich neben der unleugbaren Herkunft des Dichters aus einem sklavenfreien Staate und seiner daraus erklärlichen "inneren" Distanz zu dem Schicksal der Schwarzen nur zu oft der akute äußere Anlaß für seine Gedichte erkennen. Dadurch erscheinen sie zuweilen mehr als in Versform gebrachte Propaganda eines unzweifelhaft aufrichtigen Abolitionisten denn als literarisches Werk. Immerhin wird es nützlich bleiben, Whittier auch im Verlauf dieser Darstellung noch mit Castro Alves zu vergleichen, dessen weitem thematischen Bereich er allerdings kaum Gleichwertiges entgegenzusetzen vermag.

Bei Castro Alves erschöpft sich die Sklavendichtung weder in blinder Auflehnung gegen eine fluchwürdige Institution, noch in ungehört verhallendem Klagen eines einzelnen Sklaven. Er gestaltete aus eigenster Kenntnis die Landschaft, in der die Unglücklichen ihr Dasein fristen, das er •— aufgewachsen in einem Lande, dessen gesamte Wirtschaft und gesellschaftliche Struktur mit der Sklaverei engstens verknüpft war — aus persönlichem Erleben nachzuzeichnen verstand, ohne dabei um des dichterischen Gehaltes oder der stilistischen Formtreue willen zu irgendwelchen Idealisierungen gonçalvinischer Indianerbilder greifen zu müssen. Uber das individuelle Schicksal hinausweisend aber wandte er sich sodann gegen die Institution in ihren verschiedensten Aspekten. In dem aus dunkelster Vergangenheit aufgellenden Schrei der hamitischen Rasse zeichnete er den Weg auf, den ungezählte Millionen von Sklaven, zusammengepfercht in den Laderäumen der "Navios Negreiros", von der wehmutsvoll in der "Cançâo do Africano" besungenen Heimat in die Neue Welt nahmen. Und stets auf das innigste mit dem Schicksale dieser Bedauernswerten verbunden, scheute Castro Alves nicht davor zurück, das eigene Vaterland in einem Augenblick allgemeiner 1) Spiller et al., 'Literary History of the United States", vol. I, p. 566.

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Exaltierung patriotischer Gefühle ob dieser Schande zu schmähen: "Existe um povo que a bandeira empresta Pra cobrir tanta infàmia e covardia! . . ,"2) Der Sklavendichtung bei Castro Alves gehört in erster Linie das Werk "Os Escravos" unter Einbeziehung der in sich wiederum abgeschlossenen "Cachoeira de Paulo Affonso" an. In einer noch vor wenigen Jahren im Besitze von D. Adelaide de Castro Alves Guimaräes befindlichen eigenhändigen Aufzeichnung des Dichters umfafiten dabei ursprünglich "Os Escravos" außer der "Cachoeira de Paulo Affonso" insgesamt dreißig Gedichte. Vielfach werden ihnen jedoch nodi drei weitere, darunter die bereits genannte "Cançâo do Africano" zugerechnet. Im Sinne dieser die Gestaltung abolitionistischen Gedankengutes im Gesamtwerk behandelnden Darstellung aber kann auch das Drama "Gonzaga ou a Revoluçâo de Minas" nicht unberücksichtigt bleiben, da es der Dichter aus dem historischen Bereich einer Auflehnung gegen portugiesische Kolonialherrschaft herausgehoben und ihm durchaus abolitionistische Züge zugeordnet hat. Auch in anderen Gedichten läßt sich unschwer eine enge Verknüpfung des fortschrittlichen mit dem humanitären Gedankengut erkennen. So nimmt es nicht wunder, daß abolitionistische Bestrebungen sichtbaren Niederschlag auch in Gedichten fanden, die wegen ihrer vornehmlich republikanischen Thematik nicht in "Os Escravos", sondern im Rahmen der "Espumas Flu tuantes" oder der "Hymnos do Equador" erschienen. Und schließlich sollte auch die "Carta às Senhoras Bahianas" zumindest eine Erwähnung finden, wenngleich sie uns bereits über den Rahmen der Poesie hinausführt. Die Sklavendichtung nimmt also im literarischen Gesamtwerk von Castro Alves einen sehr erheblichen Teil ein. Als thematisch zusammenfafibare Gruppe ist sie sowohl der Liebeslyrik, als auch der Naturdichtung überlegen und überschattet in noch stärkerem Maße die meist aus besonderen Anlässen entstandenen patriotischen Gedichte. Diese Praedominanz würde auch dann noch bestehen, wenn man versuchen wollte, in die Sklavendichtung eingebettete Natur Schilderungen, vor allem der "Cachoeira de Paulo Affonso" herauszugreifen, um sie der Naturdichtung zuzuordnen. Dem Verständnis der Sklavendichtung wäre allerdings eine derartige Herauslösung gleichermaßen abträglich wie etwa der Versuch, die in der "Cachoeira" enthaltenen Verse von der Liebe zwischen Lucas und Maria der doch im wesentlichen als biographische Dichtung aufzufassenden Liebeslyrik der "Espumas Flutuantes" an die Seite stellen zu wollen. Das Wesen und letztlich die Bedeutung eines Dichtwerkes aber lassen sich nicht an der Verszahl ablesen. Und als ebenso abwegig muß es erscheinen, den Anteil der· Sklavendichtung am Gesamtwerk unseres Castro Alves durch Ermittelung der darauf verwandten Tage bestimmen zu wollen. Selbst wenn man etwa Belarmino Barreto darin zustimmen wollte, daß Castro Alves manches seiner Gedichte aus der "Cachoeira" in einem Tage, j a sogar in einer Viertelstunde (!) verfaßt hätte, und für 2) "Tragèdia no M a r " , Teil 6 — 1/1-2. ' P o e s í a s escolhidas", 1947, p. 335.

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den "Navio Negreiro" höchstens fünf Tage erforderlich gewesen sein könnten, so läßt sich die daraus gezogene Schlußfolgerung, der Gesamtb e t r a g des Dichters zur Sklavenbefreiung bestünde in 60 Tagen literarischer Arbeit3) lediglich als kennzeichnend für manche Kritiker des Dichters werten. Auch das "Gesetz der Freien Geburt" von 1871 dürfte in redit kurzer Zeit geschrieben, die lapidaren Sätze der "Lei Aurea" vom 13. Mai 1888 sogar in wenigen Stunden konzipiert worden sein und die gesamte brasilianische Sklavengesetzgebung überstiege kaum den Umfang eines schmalen Bändchens. Läßt sich aber daran der jahrzehntelange Weg bis zur Sklavenbefreiung lückenlos aufzeichnen? Bedarf nicht eine eingehende Wertung vielmehr des Studiums der so mannigfaltigen tragischen Auseinandersetzungen zwischen humanitären Bestrebungen fortschrittlicher Geister und den wirtschaftlichen Notwendigkeiten einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung? Ähnliches gilt auch für die Dichtung. Die äußere Form ihrer Erscheinung offenbart nicht viel von den tiefsten Inspirationen, von den Schwingungen einer empfindsamen Seele, noch läßt sie kaum das Suchen nach der Gestaltung, das Ringen um den literarischen Ausdruck erahnen und das Wirken jener Kräfte spüren, die letztlich die Idee in ihre Form, das Gedachte zum Gedicht umschmelzen. Anders hingegen verhält es sich mit der zeitlichen Zuordnung des dichterischen Werkes, mit seiner Periodisierung. Sie läßt durchaus gewisse Rückschlüsse auf den Charakter der Sklavendichtung zu, indem oftmals zeitlich bestimmbare Eindrücke oder Erlebnisse verarbeitet wurden und so einen zwar äußerlich nicht immer sichtbaren, aber dennoch nicht ganz unbemerkt bleibenden Niederschlag in den Versen jener Epoche fanden. An Versuchen einer Periodisierung hat es nicht gemangelt. Aus den verschiedensten Gründen aber mußten sie offensichtlich unvollkommen bleiben. Selbst Clemens Brandenburger, den kaum andere Interessen als rein chronologische Zuordnung geleitet haben dürften, glaubte in seinem Gedenkartikel zum fünfzigsten Todestage des Dichters noch, "daß fast die gesamte Sklavendichtung, der größte Teil des Zyklus 'Der Wasserfall von Paulo Affonso', das gesdiichtliche Schauspiel 'Gonzaga oder die Revolution von Minas' in Recife entstanden sei"4). Dort aber, wo die Periodisierung direkt einer Wertung des castroalvinischen Abolitionismus dienen sollte, finden sich dann derart unsinnige Behauptungen wie die, daß Castro Alves sich der Sklavendichtung erst zugewandt habe, als ihm der Bruch mit Eugènia nicht länger zu Inspirationen seines lyrischen Werkes verhelfen konnte. Er sei erst "poeta social" geworden, als im Parlament bereits die Vorlagen zum Gesetz der freien Geburt debattiert wurden, und nichts wiese darauf hin, daß er vor Mitte des Jahres 1870 schon als "apóstolo dos escravos" gewirkt hätte5). Wie leicht eine derartige "Kritik" auch durch die Veröffentlichung zahlreicher abolitionistischer Gedichte in früheren ) Belarmino Barreto et al., "Discussäo literária. . .', vol. I., p. 56 (15-5-1881). 4) Clemens Brandenburger, "Castro Alves zum 50. Todestage", in: "Deutsche Zeitung", Säo Paulo, 9. Juli 1921, p. 1. 5) Belarmino Barreto et al., 'Discussäo literária . . .", vol. II, p. 87 (26-5-1881). 3

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J a h r e n zu widerlegen sein mag, so zeigt sie doch, dafi eine genaue Zuordnung offenbar recht schwierig ist. Als H a u p t g r u n d ist dabei zu berücksichtigen, dafi Castro Alves seine Gedichte teilweise nicht datiert hat. Sieben Gedichte aus "Os Escravos" tragen ü b e r h a u p t kein Datum, andere n u r eine Jahreszahl. Ebenfalls undatiert sind die 33 Gedichte der "Cachoeira de Paulo Affonso", wenn man davon absieht, daß ein Gesamtmanuskript offenbar in Ubereinstimmung mit der letzten Bearbeitung durch Castro Alves v e r m e r k t : "Fazenda Santa Isabel, 12 de j u l h o de 1870". In manchen Fällen läßt sich die Entstehung eines Gedichtes allerdings aus dem Inhalt h e r a u s bestimmen. So d ü r f t e "Remorso" aus Recife, u n d z w a r aus dem Jahre 1865 stammen, da es dem A n d e n k e n des am 14. April j e n e n Jahres ermordeten Lincoln gewidmet w u r d e . Aus dem gleichen Jahre besitzen w i r dann noch weitere sechzehn Gedichte, also etwas mehr als die H ä l f t e der "Escravos", die in Recife geschrieben wurden 6 '. D e r genaue Anteil Recifes an den Gedichten der "Cachoeira" läßt sich nicht bestimmen, es scheint jedoch, daß der Zyklus ausschließlich in Recife u n d w ä h r e n d des Aufenthaltes in C u r r a l i n h o und auf Santa Isabel im J a h r e 1870 bearbeitet w u r d e . D e r Aufenthalt in Bahia vom1 Juli 1867 bis F e b r u a r 1868 brachte k e i n e neuen abolitionistischen Gedichte. Die A n n a h m e Sylvio Romeros, daß "Yozes d'Africa" und "Navio Negreiro" aus Bahia und Recife vor der Reise nach dem Süden datierten, entbehrt in gleicher Weise j e d e r Grundlage wie die Behauptung, "Tragèdia no Lar" und das Schlußgedicht "Adeus meu canto" stammten ebenfalls aus Bahia, seien aber nach der Rückkehr aus Rio de Janeiro geschrieben worden 7 '. Was die letztgenannten Verse angeht, so schrieb sie Castro Alves bereits 1865 in Recife. D e r "Navio Negreiro" u n d die "Yozes d'Africa" aber gehören der zweiten fruchtb a r e n Phase abolitionistischen Schaffens an, die in Säo Paulo die Monate April bis Juni 1868 ausfüllte, und der wir zumindest sieben Gedichte der "Escravos" verdanken 8 '. Erst im bahianischen Sertäo widmete er sich dann wieder der Sklavendichtung und vollendete neben der "Cachoeira" auch die Gesamtdichtung "Os Escravos". Sucht man nun f ü r die Quellen und gestaltenden K r ä f t e der castroalvinischen Sklavendichtung nach wirksamen Einflüssen aus seinem Leben, so fällt zunächst ins Auge, daß der Dichter immer wieder die Naturschilderung aufgegriffen hat, um d a r a n das Widersinnige, j a Ungeheuerliche der Sklaverei in einem L a n d e aufzuzeigen, das die Schöpfung mit d e r a r t unermeßlichem Reichtum bedachte. Neben dieser antithetischen Aufgabe der Schilderung einer aufgeschlossenen, alles gewährenden N a t u r als Gegensatz zu der grausamen, n u r Angst und e ) Pedro Calmon, "Historia de Castro Alves", p. 107, spricht von insgesamt 1 8 Gedichten, 16 von ihnen sind aber nur datiert, das 17. könnte "Remorso" sein. 7 ) Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 2. ed., 1903, vol. II, p. 589. 8 ) In den Manuskripten sind die Gedichte folgendermaßen datiert: "Tragèdia no Lar", Recife, Julho de 1865. "Adeus meu canto", Recife, 1865. "Tragèdia no Mar" ("Navio Negreiro"), Säo Paulo, 18 de abril de 1868. "Vozes d'Africa", Säo Paulo, 11 de junho de 1868.

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Schrecken gebietenden Sklaverei aber w i r d die Naturdichtung zuweilen zum Reflex des Aufbegehrens gegen diesen "horror per ante o céus": "O' mar, porque nao apagas Coa esponja de tuas vagas De teu manto éste borräo? . . . Astros! noite! tempestades! Rolai das imensidades! Varrei os mares, tufäo!"9) Diese Verse w ä r e n geeignet, die Ansicht Joaquim Nabueos zu stützen, daß Castro Alves in der N a t u r lediglich das Irreguläre, Wildbewegte, das Unversöhnliche u n d Grelle zu zeichnen verstanden habe 10 ', doch finden sich bereits im gleichen "Navio Negreiro" Verse, aus denen neben friedlicher Ruhe, Beschaulichkeit und Harmonischem nicht angsterfülltes Entsetzen, sondern tiefe E h r f u c h t vor dem ewigen Geheimnis des Werdens und Vergehens, sei es des Tages, sei es des Lebens, spricht: 'Stamos em pleno mar . . . Do firmamento Os astros saltam como espumas de ouro . . . O mar em troca acende as ardentías — Constelaçôes do líquido tesouro . . . 'Stamos em pleno mar . . . Dous infinitos Ali s'estreitam num abraço insano . . . Azuis, dourados, plácidos, sublimes . . . Quai dos dous é o céu? qual o oceano? . . .") Dieses Süthen nach Einfügung des Irdischen in den Bereich kosmischuniversaler Lebensgesetze läfit Teile des "Navio Negreiro" anklingen an die Naturdichtung der "Espumas Flu tuantes" und der "Hymnos do Equador". Dort sind es Gedichte wie "Sub tegmine fagi" und "Rezas", die in ihrer fast religiösen N a t u r a u f f a s s u n g deutlich an Lamartine erinnern, sofern m a n nicht gar versucht ist, Anklänge an das f r ü h romantische Lebensgefühl des in seiner Sicht der N a t u r k r ä f t e pantheistischen Novalis aufzuzeigen. Das Wesen Gottes nimmt unendlich vielfache Gestalt an, durchströmt das winzigste Blatt jedes einzelnen Baumes, e r f ü l l t den kleinsten Splitter gebirgigen Gesteins und trägt dem in j e d e r F a s e r seines Herzens Gott spürenden Menschen das Licht des aus nächtlichem W o l k e n d u n k e l h e r v o r t r e t e n d e n Mondes zu. Es ist ein fast magisches Bewufitsein von der Sendung des Dichters, das Castro Alves hier aufgriff: Das Ringen um die Verschmelzung des Menschen mit der N a t u r durch die R ü c k f ü h r u n g aller Dinge auf die letzte Einheit ihres Wesens. Beide w e r d e n eins miteinander, und die N a t u r spricht zu uns durch den in ihr aufgegangenen Menschen: "Larga harmonía embalsama va os ares! Cantava o ninho — suspirava o lago . . . E a verde pluma dos sutis palmares Tinha das ondas o murmúrio vago . . . Larga harmonía embalsamava os ares."

e) 'Tragèdia no Mar", Teil 5, 1/5-10, "Poesías escolhidas", 1947, p. 332. i») Joaquim Nabuco, "Castro Alves", 1873, p. 16. li) "Tragèdia no Mar", Teil 1, II-III, "Poesías escolhidas", 1947, p. 325-326.

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"Dá-me inda um bei jo, antes que a noite venha!" "Inda um calor, antes que chegue o frio . . . E mais o musgo se conchega à penha E mais à penha se conchega o rio . . . "Dá-me inda um beijo, antes que a noite venha!" 1 2 )

Stärker aber wird die Sklavendichtung und in ihrem Rahmen besonders die "Cachoeira de Paulo Affonso" gekennzeichnet durch eine zu dieser pantheistisch-universalen Naturdichtung der castroalvinischen Lyrik im offensichtlichen Gegensatz stehende Verarbeitung der brasilianischen Natur. Sie ist die Antwort des Dichters auf die Forderungen, die der Kritiker Castro Alves in seinen bereits teilweise zitierten "Impressöes de Leitura das poesías do Sr. Α. Α. de Mendonça" erhoben hatte13'. Und es ist nicht schwer, diese Forderungen weiterhin zurückzuverfolgen bis auf die programmatischen Richtlinien, die Ferdinand Denis schon 1S24 einer nodi im Klassizismus der Arcadia verwurzelten und somit recht un-brasilianischen Literatur in die Hand gegeben hatte14'. Eine der wesentlichsten Erkenntnisse dieser vor allem durch eine Kritik aus der Feder Sainte-Beuves bekannt gewordenen Schrift ergab, dafi die Dichtung ihre primären Impulse aus der Natur selbst empfinge. Im Formalismus erstarrt und in ihrem Themenkreis gleich den kunstvoll gestalteten Gärten des achtzehnten Jahrhunderts die Natur in ihrer eigenen Schöpfungskraft hemmend, konnte aber die Dichtung des ausgehenden europäischen Klassizismus das unmittelbare Erlebnis der tropischen Natur dem Exotismus der sich ankündigenden Romantik nicht anders als im Gewände eines szenischen Requisites überliefern. Zu dieser Einsicht gelangte Denis bereits zwei Jahre später 15 ' und es mag daraus sein Aufruf an die Brasilianer zu erklären sein: "L'Amérique doit être enfin libre dans la poésie comme dans son Gouvernement". Und überträgt man einige der ansprechendsten Bilder der Denis'schen Schrift in das Portugiesische, so lassen sich deutlich die Linien verfolgen, entlang derer die brasilianische Romantik die Forderungen ihres "Préface de Cromwell" zu erfüllen suchte: "Os rios aqui correm suas aguas com mais magestade, as florestas aqui sâo mais vastas, as montanhas mais elevadas" . . . "os animais sâo revestidos de roupagem mais variada, os pássaros ornados de plumagem mais brilhante" und schließlich "o proprio céu se enfeita de fogos que têm mais brillio . . ."

heifit es bei Denis 16 '. Und es scheint ein direkter Weg hinzuführen zu Gonçalves Dias: "Nosso céu tem mais estrêlas, Nossas varzeas têm mais flores, Nossos bosques têm mais vida, Nossa vida mais amôres." 1 2 ) "Murmúrios da Tarde", III, VI. "Poesías Escolhidas", 1947, p. 98-99. i·') Vgl. Seite 45. 1 4 ) Ferdinand Denis, "Scènes de la Nature sous les Tropiques et de leur influence sur la poésie". Paris, 1824, Louis Janet. 1 5 ) Ferdinand Denis, "Resumé de l'histoire littéraire du Portugal e t . . . du Brésil", Paris, 1826. l f l ) Ferdinand Denis, "Scènes de la Nature . . p. 2.

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Dennoch vermochte Gonçalves Dias nicht in dem Maße die brasilianische N a t u r zu gestalten, wie man es vielleicht aus der von unstillbarer Sehnsucht inspirierten "Cançâo do Exilio" h ä t t e e r w a r t e n mögen. Selbst dort, wo sich, wie e t w a in "Leito de folhas" eindrucksvollere Bilder einer tropischen Nacht enthüllen, dienen sie doch mehr d e r U n t e r m a l u n g der Liebessehnsucht eines Indianermädchens als der bewufiten Zeichnung brasilianischer Natureigenheiten. In noch s t ä r k e r e m Maße aber offenb a r t sich der Unterschied zwischen gonçalvinischer u n d castroalvinischer Naturdichtung in der Beschreibung der hereinbrechenden Nacht. Bei Gonçalves Dias tritt in "A Noite" vornehmlich das Wesen des Dunklen mit seiner gedanklichen Assoziation an das Geheimnisvolle in den Gesichtskreis des Lesers. Gleiches findet sich audi in einem anderen Gedichte des Maranhensers ("A Tarde"): "Mas nessa escuridäo, nesse silencio Que eia consigo traz, há um qué de horrivel Que espanta e desespera e geme na alma; Um qué de triste que nos lembra a morte!"

Es ist nichts anderes als der Gegensatz zur Morgenröte: "No romper da alva há tanto amor, tal vida, Há tantas cores, brilhantismo e pompa . . ."

aber es gibt nichts in diesen Gedichten, was darauf schließen ließe, daß G. Dias eine brasilianische Tropennacht vor Augen gehabt hätte. Ganz anders hingegen die Naturschilderung in der Sklavendichtung bei Castro Alves: "Era a hora em que a tarde se debruça Là da crista das serras mais remotas . . . E d'araponga o canto, que soluça, Acorda os ecos ñas sombrías grotas; Quando sôbre a lagoa, que s'embuça, Passa o bando selvagem das gaivotas . . . E a onça sôbre as lapas salta urrando, Da cordilheira os visos abalando". 17 )

So ist die Landschaft seiner bahianischen Heimat; man glaubt förmlich, vor sich die in den letzten Sonnenstrahlen a u f f l a m m e n d e Serra do Aporá zu sehen, w ä h r e n d die Mövenschar aufsteigt von den Seen längs der Ufer des Paraguassú. Und immer wieder klingt in der "Poesia social" die Liebe zu dieser Heimat des Recôncavo durch: "En amo-te, o mimosa do infinito! Tu me lembras o tempo em que era infante. —"1β)

dessen Vegetation in so vielen Aspekten der des Sertâo gleicht: "Que v a l e o ramo do alecrim cheiroso Que lhe atiras nos braços ao passar? Vais espantar o bando buliçoso Das borboletas, que la vâo pousar". 1?) "A Tarde", I. "Poesías escolhidas", 1947, p. 251. ι») Ά Tarde", IV/1-2. "Poesías escolhidas", 1947, p. 252. 5 Castro Alves

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Fast meint man den Schlag der taubenähnlichen j u r i t i s zu vernehmen, wenn man — ebenfalls aus "A Cruz da Estrada" — die folgenden Zeilen vernimmt: " . . . o juriti, do taquaral no ramo, Povoa, soluçando, a solidâo."19)

und spürt dennoch etwas heraus von der gleich dem S e r t â o unermeßlichen Trauer, daß nur der g a t u r a m o und die j u r i t i das Los des unter dem verlassenen Kreuze ruhenden Sklaven beklagen. In ähnlicher Weise gelang es Castro Alves immer wieder, auditive Eindrücke in seinen Versen zu gestalten, sei es nun in den zarten Klängen morgenfrühen Yogelgesanges : "Apenas nàscerà o dia A' voz do m a r i d e d i a Saltei contente de pé. Cantavam os passarinhos Que fabricavam seus ninhos No telhado de sapé*.

oder in Antithese dazu in dem das verwaiste Sklavenkind an den Tod der Mutter mahnenden Streichen nächtlichen Windes durch die Bananenstauden: "Minha mäe, a noite é fria, Desee a neblina sombria, Geme o riacho no val, E a bananeira farfalha, Como o som de urna mortalha Que rasga o genio do mal."20)

Beispiele dieser Art ließen sich zahlreich finden, doch soll der Behandlung der einzelnen Gedichte hier nicht zu sehr vorgegriffen werden. Es sei lediglieli gestattet, zusammenfassend auf einige besonders hervortretende Wesenszüge der Naturgestaltung in der castroalvinischen Sklavendichtung zu verweisen: Nach der völligen Vernachlässigung der Landschaftsschilderung in der Renaissance zugunsten der Herausarbeitung des Menschen als Träger göttlichen Willens 21 ' und des vermeintlichen Herrschaftsprinzips klassizistischer "ratio" über eine ihm untertänig erscheinende Natur, wähnte sich der Romantiker einsam, verloren, auf sich selbst gestellt und in einer Art metaphysischer Angst der Allmacht unterlegen. Neben gewaltsamer Auflehnung gegen das übermächtig scheinende und sorgsam jede Auseinandersetzung vermeidendem Begnügen mit dem Unvermeidlichen zeigte sich jedoch noch eine andere Einstellung der Romantik zur Natur, eben das Bemühen, 19) "A Cruz da Estrada", II, IV/3-4. "Poesías escolhidas", 1947, p. 347-348. Juriti: Eine den Turteltauben verwandte brasilianische Taubenart, kenntlich durch weißes Brustgefieder ( Z e n a i d e r e i c h e n b a c h i ) . 20) "A Orphä na Sepultura", VI, I. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 82-83. Maridedia: audi "Marido-é-dia" genannt, brasilianischer Vogel des Sertäo, der seinen Namen dem Gleichklang seines Morgengrußes verdankt. äl ) Besonders eindrucksvoll zeigt sich das primäre Interesse der Renaissance an dem Menschen in der Literatur des Entdeckungszeitalters. Die Ausweitung des abendländischen Gesichtskreises führte anfangs nicht zur Entdeckung des amerikanischen Kontinentes, sondern des ihn bewohnenden Mensdien.

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in eine Erfassung der Natur als einer Art pantheistischen Schöpfungsgedankens das eigene Ich einzubeziehen. Die brasilianischen Versuche einer derartigen Naturschau aber verliefen doch etwas einseitig, indem sie zu sehr das Land der "palmeiras, perfumes e borboletas" sahen und darüber vergaßen, daß es auch "serpentes, onças e escravos" gab. Aus der Forderung eines P'erdinand Denis war eine "poesia dos enamorados de natureza tropical" geworden, "a quai faltava alguma coisa mais consistente do que a forma e a beleza" 22 '. Es fehlte ihnen die innige Verbundenheit mit der Natur, die Fähigkeit, diese Natur mit objektivem Blick zu erfassen und ihre tiefsten Geheimnisse aus eigenem Erleben zu verstehen. Das erreicht zu haben, zeichnet vor allem die Sklavendichtung aus, darin liegt auch eines der bedeutendsten Verdienste Castro Alves', das Rui Barbosa als Kriterium dichterischen Talentes höher bewertete als die Stellung des Dichters innerhalb des oft so ungewissen Begriffes einer literarischen Schule: "O que faz sua grandeza, säo essas qualidades superiores a todas as escolas, que em todos os estados da civilizaçâo, constituiräo, e häo de constituir, o poeta . . .: sentiu a natureza* —,23)

Castro Alves aber verstand nicht nur, sich in die Natur seiner Heimat hineinzufühlen, er vermochte sie auch mit einer selbst in der brasilianischen Literatur nur selten wieder erreichten Eindringlichkeit und Leuchtkraft zu malen, wobei seiner dichterischen Gestaltungskraft nicht wenige Verse gelangen, die durchaus als Brücke zwischen Romantik und Realismus angesehen werden können24), wie sich ja die Sklavendichtung überhaupt bereits durch den aktuellen Charakter ihrer Thematik aus dem Rahmen der mit Vorliebe fern zurückliegende Vergangenheit behandelnden Romantik heraushebt. Es kann nicht verwundern, daß die castroalvinische Naturdichtung in der "poesia social", wo sie also den pantheistisch-universalen Charakter der "Espumas Flutuantes" zugunsten eines spezifisch brasilianischen zurücktreten läßt, auch einen anders gearteten Wortschatz aufweisen muß. An Stelle der "ogiva gòtica", des "arcanjo dos amores" und der "lánguidas papoulas" treten "cipo", "coivara", "araponga" und "gibóia", wobei das Vokabular keineswegs lediglich als rein äußerlicher Aspekt eines dichterischen Empfindens zu werten ist. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß der Sertäo für Castro Alves tatsächlich von allen diesen Wesen belebt war, deren Namen, von denen g a t u r a m o und j u r i t í nodi recht unkompliziert waren, für lusitanische Ohren einer dichterischen Sprache unwürdig klingen mußten. Ohne hier in die zu oft mißgedeutete Frage des Unterschiedes der in Portugal und in Brasilien gesprochenen Sprachen eingehen zu wollen oder auch zu können, mag jedoch festgehalten sein, daß dem brasilianischen Ohre die zunächst rauh, ungeschliffen und nur mühsam verständlich klingenden Bezeichnungen sehr bald als durchaus eigenständig, wohlklingend und nicht selten auch in der Anschaulichkeit ihres Lautbildes als vortreff22) A. Ornellas, 'Vida Sentimental de Castro Alves", p. 5. 23) Ruy Barbosa, "Elogio de Castro Alves", 1950, p. 13-14. 2*) Manuel Bandeira, in: "Manual Bibliográfico de Estudos Brasileiros", p. 711.



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lidi erschienen. Es sei vielleicht in diesem Zusammenhange gestattet, die Frage mit dem Urteil eines der maßgeblichsten brasilianischen Schriftsteller bewenden zu lassen: "O povo que diupa o cajú, a manga, o cambucá e a jabuticaba nao pode falar urna lingua com igual pronùncia e o mesmo espirito do povo que sorve o figo, a péra, o damasco e a néspera" 25 ). Wiederholt ist von Beeinflussungen des castroalvinischen Dichtwerkes durch die Liebeserlebnisse ihres Autors gesprochen worden. In einer zusammenfassenden Darstellung hat beispielsweise A. Ornellas versucht, die Inspirationen aufzuzeigen, die Castro Alves seinen nicht wenigen Bindungen verdankt haben mag. Eine schlüssige Beweisführung, etwa dergestalt, daß dem Liebesverhältnis zu einer bestimmten Frau dieses oder jenes Gedicht zugeschrieben werden konnte, ist jedoch nur in relativ wenigen Fällen gelungen, und zwar vornehmlich dann, wenn der Dichter selbst namentliche Hinweise oder dodi derart offensichtliche Anspielungen eingefügt hatte, daß ein Irrtum fast ausgeschlossen erscheinen mochte. Weitaus schwieriger als die reine Liebeslyrik ist aber das sonstige Dichtwerk in seiner Beeinflussung durch eine Idalina, Ines, Leonidia oder gar Eugènia zu beurteilen. In der Sklavendichtung schließlich fehlt es völlig an direkten Hinweisen, wiewohl feststeht, daß Castro Alves Teile von "Os Escravos" und der "Cachoeira de Paulo Affonso", sowie den gesamten "Gonzaga" schrieb oder zumindest konzipierte, während er am Rande von Recife oder im Innern von Bahia unbesdiwert die Freuden seiner Liebesidylle genoß oder aber das tragische Ende seiner Leidenschaft zu Eugènia zu vergessen suchte. Mangelt es somit auch in der Sklavendichtung an unmittelbaren Einflüssen, so läßt sich nicht verkennen, daß die Liebe etwa zu Idalina wie auch die Zuneigung zu Leonidia Castro Alves zu dichterischem Schaffen angeregt haben, das neben mehr oder minder nachweisbaren Reminiszenzen in der Lyrik auch das epische Werk mit zahlreichen, uns heute freilich nicht mehr sichtbar entgegentretenden Gedanken und Inspirationen durchwoben hat, deren vielleicht nur die Liebe fähig war. Mag auch in der Annahme, die Bindungen des Dichters seien — wie es seiner Jugend und tropischen Natur nicht anders entsprach — stark sinnlich betont gewesen, ein scheinbarer Vorwurf liegen, so hat sich dodi auf der anderen Seite gezeigt, daß die brasilianische Literaturgeschichte nicht arm an derartigen Bindungen ihrer Dichter ist und nicht selten gerade ihnen die fruchtbarsten Inspirationen verdankt. Es mag daher durchaus den Anschein haben, als habe das uns in der Liebeslyrik so unvermittelt ansprechende Moment des Sinnlichen in dem Erleben des Dichters auch noch in anderer Richtung befruchtend gewirkt, sich mit bereits aus früheren Quellen strömenden Regungen vermischt und sei so unter Verzicht auf eine als eigenständig erkennbare Inspiration dennoch als schöpferische Kraft tätig gewesen. Bevor jedoch die mögliche Verschmelzung von Inspirationen aus dem Liebeserleben des Dichters etwa mit der seit frühester Kindheit in ihm 2») J o s é de Alencar, "Sonhos d'Ouro". Säo Paulo, s. d. Ediçâo da Livraria Martins, p. 14.

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erweckten Regung tiefsten menschlichen Mitgefühles behandelt werde, scheinen noch einige W o r t e ü b e r die eventuelle Beeinflussung der Sklavendichtung d u r c h j e n e Bindung vonnöten zu sein, die im übereinstimmenden Urteil der Kritik das Dasein Castro Alves' am entscheidendsten geformt hat. D i e Liebe zwischen Eugènia C á m a r a und Castro Alves ist in ihren Rückwirkungen auf das lyrische W e r k hinr e i ß e n d untersucht worden, ihre Spuren sind in m e h r als einem Dutzend Gedichte d e r "Espumas Flutuantes" nachgewiesen worden 2 6 '. Erst vor wenigen J a h r e n aber ist versucht worden, die F r a g e nach einer Einflußnahme Eugênias audi auf die Sklavendichtung zu beantworten. Leider gehen die A u s f ü h r u n g e n etwa eines Leitäo de Barros wenig über den Rahmen dessen hinaus, was bereits oben umrissen wurde, wie sehr er sich auch bemüht haben mag, in dem von ihm inszenierten Castro-Alves-Film "Vendaval Maravilhoso" Eugènia aktiven Anteil an der sozialen Mission ihres Dichters und Geliebten nehmen zu lassen. Es besteht n u n kein G r u n d zu der Annahme, dafi Eugènia den abolitionistischen Bestrebungen Castros uninteressiert oder gar ablehnend gegenübergestanden habe. Die Tiefe der gegenseitigen D u r c h d r i n g u n g dieser beiden Seelen läßt es k a u m als wahrscheinlich erscheinen, daß Eugènia nicht audi Mitleid f ü r das Los der Schwarzen empfand. Hinzu kommt, daß ihre generell anregende und inspirierende F u n k t i o n f ü r das dichterische Schaffen dieser Periode außer Zweifel steht. Sie k a n n t e die meisten j e n e r europäischen, vornehmlich aber der französischen W e r k e im Original, die sich in den Epigrammen castroalvinischer Sklavengedichte wiederfinden. Es läßt sich jedoch d a r a u s k a u m mehr ableiten als das Bild Eugênias, welches uns Leitäo de Barros in seinem Film vermittelte: "Vejo-a, no caso da escravatura, solidária e piedosa, cheia de compaixäo, sincrònica com ele nos protestos e na dor do espectáculo social degradante." 27 ) F ü r eine derartige Einstellung, nicht aber als Nachweis eigener Inspiration in der castroalvinischen Sklavendichtung möge ferner der Hinweis aus damaligen Zeitungsanzeigen dienen, daß Eugènia Stücke wie Alencars "Demònio Familiar" und "Mäe" in ihr Repertoire aufgenommen habe. Ganz abgesehen davon, daß der Abolitionismus dieser Alencar'schen P r ä g u n g keineswegs mit dem castroalvinischer Sklavengedichte oder — u m in der literarischen G a t t u n g zu bleiben — selbst des "Gonzaga" vergleichbar war, besteht auch durchaus die Möglichkeit, daß dieser Entschluß Eugênias in u m g e k e h r t e r Beeinflussung 26) Pedro Calmera, "Historia de Castro Alves", passim. Afrânio Peixoto, "Castro Alves, o poeta e o poema", passim. Omellas, "Vida Sentimental de Castro Alves", pp. 37/57. Prado Ribeiro, "Tríptico de Castro Alves", pp 59/71. Nach Motta, "Vultos e Livros", p. 206, handelt es sich vornehmlich um folgende Gedichte: "Dalila" Ό vôo do genio" "Boa Noite" "A urna actriz" "A Tarde" "Os tres amores" "Adeus* "O gondoleiro do amor' 'Onde estás" "Cançâo do bohemio" "Fatalidade" "O Tonel das Danaides" "Hino ao Sono" "Immensis orbibus anguis" "Anjos da meia-noite" (Fabiola) "Urna página de escola realista" s7 ) Leitäo de Barros, "Como eu vi Castro Alves e Eugènia Cámara", p. 29.

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gerade der "dominadora obsessâo da escravidäo em Castro Alves" zuzuschreiben ist. Ausschließbar w ä r e eine derartige Hypothese zumindest so lange nicht, bis eine noch eingehendere biographische Forschung eine e i n w a n d f r e i e K l ä r u n g des chronologischen Ablaufes dieser ersten Kulminationsphase in der gegenseitigen Liebe zuließe. I h r e offensichtliche Parallele aber 1 fände sie d a n n immer noch in der Tatsache, dafi Castro Alves Teile seines "Gonzaga" zweifellos im Hinblick auf eine A u f f ü h r u n g unter Beteiligung Eugênias schrieb. Hier bietet sich also der bislang einzig k o n k r e t e Beweis einer unmittelbaren Einflufinahme Eugênias, w e n n auch weniger d e r den Dichter inspirierend en Geliebten als der im Zenith ihres Ruhmes stehenden Schauspielerin. Man hat Castro Alves wiederholt vorgeworfen, das Rampenlicht gesucht zu haben. Sylvio Romero sprach sogar von der "Schwäche", die er darin erblickte, dafi Castro Alves die A n e r k e n n u n g als Dichter durch Alencar u n d Machado de Assis gesucht und ihrem Spruch zufolge in Rio de Janeiro und Säo Paulo öffentliche Huldigung gefunden habe, anstatt sich — etwa gleich Tobias Barreto ·— die Beschränkung aufzuerlegen, in der Abgeschiedenheit einer Provinzstadt nach philosophischer Vertiefung seiner Dichtung zu streben. Es k a n n keinem Zweifel unterliegen, dafi der oft schon nach den ersten von Castro Alves rezitierten Versen aufklingende Beifall in der "Concordia" von Säo Paulo zuweilen mehr dem Dichter als seinem W e r k e galt. Und nicht selten stellte Castro Alves, wie schon eingangs angedeutet, seine Gedichte auch in ihrem A u f b a u wie in rhetorischer Behandlung auf diesen Beifall ab. Dennoch besitzen w i r aus seinem Briefwechsel vornehmlich d e r letzten L e b e n s j a h r e Zeugnisse, dafi ihn diese Gedichte k a u m befriedigten und ihre A u f n a h m e ihn auch nicht mit ungeteiltem Stolz erfüllte. Es hat vielmehr den Anschein, als fühlte er sich bei allem äußerlichen Glänze innerlich dodi vereinsamt, als spüre er bei jedem begeisterten "Vivat!" mehr, wie wenig er eigentlich dieser menschlichen Gesellschaft angehörte, die ihn u m j u b e l t e . Als einer der wesentlichsten G r ü n d e f ü r dieses G e f ü h l der E n t f r e m d u n g müssen wir sicherlich seine u n a u f h a l t s a m fortschreitende L u n g e n k r a n k h e i t ansehen. Die d a r a u s resultierende Einstellung des Dichters zum irdischen Leben mag zu einem guten Teile seine sowohl im Thematischen als auch im Stilistischen feststellbare Neigung zum Ungewöhnlichen, j a oft sogar Regelwidrigen erklären, wobei allerdings die F r a g w ü r d i g k e i t stilistischer Regeln f ü r die brasilianische Spätromantik ohnehin gegeben erscheint. Als bedeutendstes Verdienst f ü r die Herausbildung einer Brasilität in der D i d i t u n g seines Landes mufi dabei das Bemühen angesehen werden, diesem H a n g zum Ungewöhnlichen nicht etwa ausschließlich in dem der europäischen Romantik so gelegenen Exotismus stattgegeben, sondern seinen Themenkreis innerhalb der eigenen brasilianischen Stoffwelt seiner Zeit gesucht zu haben. D e r Exotismus — f ü r den es in der brasilianischen L i t e r a t u r nicht an Beispielen mangelt, — erschien ihm als ein zu bequemer Ausweg aus der "angùstia metafísica" des Romantikers, wie er ihm audi nicht E r f ü l l u n g des eigenen physisch ständig eher vom Vergehen als vom W e r d e n gekennzeichneten Lebens 70

verheißen konnte. Beidem vermochte lediglich jene zutiefst menschliche Tragödie zu entsprechen, die Castro Alves seit frühester Kindheit in der Sklaverei erblickte. Damit ist klar umrissen, dafi er sich niemals in seinen Gedichten mit den wirtschaftlichen Problemen der Sklaverei und auch der Abolition befafite. Wohl dürfen wir vermuten, dali sie ihm nicht fremd waren, zumal die einflußreiche Gruppe der Sklavenhalter zumindest seit den ersten stürmischen, Debatten im Parlament nichts unversucht ließ, um auf den mit der Abolition verbundenen wirtschaftlichen und finanziellen Ruin des Landes zu verweisen. Castro Alves stellte jedoch über die Gesamtheit aller dieser vielfältigen Erwägungen die eine große Idee der Menschlichkeit, um die es letztlich in seiner gesamten Sklavendichtung geht. Zusammen mit den oben skizzierten Beweggründen für seine Hingabe an die Verfemten und Entrechteten leitete ihn dabei das seit den Tagen der Amme Leopoldina rege Mitgefühl einer "piedade" tätigen Christentums. Das Mitleid greift dabei über das Schicksal des einzelnen Sklaven bereits früh hinaus und umfaßt schon in seinem ersten abolitionistischen Gedicht die Gesamtheit der nach Brasilien verbrachten Sklaven, wenngleich sie sich hier noch in unstillbarer Sehnsucht nach dem heimatlichen afrikanischen Kontinent verzehrt: "Lá todos vivem felizes Todos dançam no terreiro; A gente lá nao se vende Como aquí, só por dinheiro .. ,"28) ohne — wie fünf Jahre später in den "Vozes d'Africa" — zum klagenden Aufschrei der gesamten hamitischen Rasse die Stimme zu erheben... Den ergreifendsten Ausdruck findet dieses Mitgefühl — dem oft antithetisch ein Abscheu (nojo, asco . ..) gegenüber dem Sklaven haltenden f a z e n d e i r o und dem Sklaven duldenden brasilianischen Vaterland an die Seite gestellt ist — sicherlich in dem mit besonderer Liebe behandelten Thema der Sklavin mit ihrem Kinde. In immer neuen Abwandlungen hat der Dichter dieses Thema gestaltet. Zuweilen erscheint es uns als schemenhaftes Sinnbild des dumpfen Leidens der Schwarzen auf dem Sklavenschiff: "Negras mulheres, suspendendo às têtas Magras crianças, cujas bôcas prêtas Rega o sangue das mâes." "Säo mulheres desgraçadas . . . Que sedentas, alquebradas, de longe . . . bem longe vêm. Trazendo com tibios passos, Filhos e algemas nos braços, N'aima lágrimas e fei . . ."2β) 28) "Cançâo do Africano', VI. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 39. Veröffentlicht in: Ά Primavera", ano I, no 1, Recife, 17 de maio de 1863. "Tragèdia no Mar", Teil 4, II/1-3; Teil 5, IV/1-7. 'Poesías escolhidas", 1947, p. 330, 333.

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D a n n das F l e h e n d e r M u t t e r u m ihr Kind, das i h r S k l a v e n h ä n d l e r entreißen: "Meu filho é-me a sombra amiga Neste deserto cruel . . . Flor de innocencia e candura, Favo de amor e de mei! Seu riso é minha alvorada, Sua lágrima doirada Minha estrela, minha luz! É da vida o único brilho . . . Meu filho! é mais . . . é meu filho . . . Deixai-m'o em nome da Cruz!"30) U n d gleiche G e g e n s ä t z e zeichnet er in d e r besorgten Mutterliebe, die aus d e r "Cançâo do A f r i c a n o " spricht, w i e auch d e m letzten Gebet, dessen sidi das K i n d d e r Sklavin am G r a b e seiner M u t t e r e r i n n e r t : "Que minha filha algum dia "Eu veja livre e feliz! "O' Santa Yirgem Maria, "Sé mäe da pobre infeliz."31) So mischen sich g e r a d e in diesen Gedichten Mitleid u n d K r a f t d e r Liebe zu einer d e r g e f ü h l s b e t o n t e s t e n K o m p o n e n t e n seiner Sklavendichtung, die C a s t r o Alves in einer visionären Schau eines f r e i e n Brasiliens zu beenden dachte: "Acaba no alto da serra de Cubatâo, ao romper da alvorada sobre a America, emquanto a estrella da manhâ (lagrima de Christo pelos captivos) se apaga pouco a pouco no occidente. É um canto do futuro. O canto da esperança e nós nâo devemos esperar? Sim, e muito, e sempre . . ."32) Aus Liebe, Mitleid u n d dem Wissen u m das Vergängliche des eigenen Seins gestaltet er die christliche Botschaft d e r E r l ö s u n g f ü r die Schwarzen. U n d fast scheint er zu s p ü r e n , d a ß es ihm nicht m e h r v e r g ö n n t sein wird, dieses — in so seltsam v o r a h n e n d e r Analogie zum " C h a n a a n " G r a ç a A r a n h a s geschaute — L a n d d e r Z u k u n f t u n d d e r H o f f n u n g j e m a l s zu betreten. b) D e r Sklave in der brasilianischen Literatur vor Castro A l v e s Lassen sich somit u n v e r k e n n b a r e Einflüsse aus dem L e b e n des Dichters aufzeigen, so schließt sich d a r a n die F r a g e , i n w i e w e i t er in seiner Sklavendichtung auf einer b e r e i t s b e s t e h e n d e n T r a d i t i o n fußt, sich also einerseits in schon vorgezeichneten B a h n e n d e r brasilianischen L i t e r a t u r bewegt, a n d e r e r s e i t s a b e r in ebenfalls soziale T h e m e n b e h a n d e l n d e n f r e m d e n Dichtern sein Vorbild erblickt h a b e n mag. I n Brasilien folgte d e r Beginn d e r R o m a n t i k d e r E r r i n g u n g d e r politischen U n a b h ä n g i g k e i t von d e r portugiesischen K r o n e mit k a u m e i n e m J a h r •io) 31) 32 ) 1944,

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"Tragèdia no Lar". "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 58-59. "A Orphä na Sepultura", XIV. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 85. Castro Alves an Augusto Guimarâes, Sâo Paulo, Abril de 1868. "Obras Completas", vol. II, p. 525-26.

zehnt. Die eingehende Beschäftigung der europäischen Romantik besonders in Spanien und Portugal mit dem Mittelalter als der Stoffwelt des in seiner Reinheit noch u n g e t r ü b t e n katholischen Glaubens konnte in dem j u n g e n Kaiserreiche Brasilien nicht ohne weiteres als romantisches Manifest Gültigkeit erlangen. Historisch gesehen gab es f ü r Brasilien kein Mittelalter, da die Epochenscheide zur Neuzeit eben j e n e Ausweitung des Weltbildes darstellte, als deren Teilergebnis erst die A u f f i n d u n g der T e r r a de Vera C r u z zu gelten hat. Die im literarischen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung der "idade média" ist dann auch im Falle Brasiliens entweder mit dem portugiesischen Mittelalter identifiziert oder aber in historischer Verschiebung auf die Frühzeit der kolonialen Periode bezogen worden. In beiden Fällen a b e r handelt es sich um Stoffgebiete, deren Behandlung durch die Romantik einer neuerlichen Beschäftigung mit Portugal und, wie man glaubte, einer geistigen Bindung an das alte Mutterland gleichgekommen wäre. So besann sich die brasilianische Romantik, nicht ohne richtungweisende Anregungen aus Paris, auf die literarische Ausschmückung zweier Themenkreise, die fortan in immer wiederkehrenden Abwandlungen das dichterische Schaffen Brasiliens bestimmen sollten: Die tropische Landschaft und ihr freier, ungebundener Bewohner, der Indianer. Es ist hier nicht der Ort, über die Entwicklung der brasilianischen Romantik mehr auszuführen, als unbedingt zum Verständnis des letzten ihrer großen Dichter erforderlich erscheint. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, daß bei aller Beherrschung der von Europa — und oftmals mehr vom Klassizismus als der dynamischen, gegen jeden Formzwang revolutionierenden Romantik — bestimmten F o r m e n weder der Indianismus den brasilianischen Indianer noch die romantische N a t u r dichtung die wirkliche brasilianische Landschaft zu gestalten vermochten 33 ). Es mag befremdend anmuten, daß der Neger nicht das gleiche Interesse wie der Indianer fand. Denn es gab mit ihm außerordentlich viel mehr B e r ü h r u n g s p u n k t e ; in einer nativistisch-brasilianischen Sicht hinderte er d a n k seiner hamitischen H e r k u n f t zumindest in einem Seitenaspekt nicht einmal die E r f ü l l u n g der romantischen F o r d e r u n g nach dichterischer Behandlung des exotisch-fremden Elementes u n d — das d ü r f t e niemand besser als Castro Alves bewiesen haben — konnte sehr wohl einer literarischen W ü r d i g u n g dienlich sein. F ü r diese Vernachlässigung mag es m a n c h e G r ü n d e geben. Einer der wesentlichsten aber scheint mir darin zu bestehen, daß angesichts der Sklaverei in Brasilien eine Glorifizierung des Schwarzen parallel zu der des autochthonen Elementes im Indianismus sich von selbst verbot. Sie w ä r e durch die wirklichen Verhältnisse stets Lügen gestraft worden, wie auch die Indianer eines Gonçalves Dias u n d eines José de Alencar n u r u n t e r Verbannung in die Anfangszeit brasilianischer Geschichte wenigstens einen dünnen Schleier von Lebensechtheit erhalten konnten. Eine literarische Behand33 ) Auf eine Würdigung des gonçalvinischen Werkes muß hier verzichtet werden. Vgl. dazu das SdiluBkapitel.

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lung der Schwarzen als Sklaven aber erschien offenbar als derart abwegig, dafi uns kaum der bescheidendste Versuch überliefert ist. Es wäre jedoch irrig annehmen zu wollen, dafi erst Castro Alves der Gestalt des Negers schlechthin in der brasilianischen Literatur Eingang verschafft hätte. Sie findet sich, nach übereinstimmender Auffassung der literarischen Kritik, erstmalig bei Gregorio de Matos, also bereits im siebenzehnten Jahrhundert. Ihm kommt das Verdienst zu, "os primeiros contatos poéticos com os negros e os seus derivados étnicos" 34 ' hergestellt zu haben. Dennoch kann ihm keineswegs der Titel eines "pioneer abolitionist" zugesprochen werden 35 ). Die Auswahl des Schwarzen als literarisches Thema allein kennzeichnet das Neue, dem wir bei Gregorio de Matos begegnen. Auf einer von weit über hundert Sklaven bearbeiteten Fazenda aufgewachsen, vermochte er sich nicht ein einziges Mal gegen das Unwürdige ihres Daseins aufzulehnen. So ist der Neger in der Dichtung Gregorios denn audi stärker Opfer seiner sadistischen Impulse 36 ' als Gegenstand aufrichtigen Mitleids, welches dem Autor selbst dort fremd schien, wo er sich seiner Passion für Mulattinen hingab. Das schwarze Element ist somit zwar durch Gregorio de Matos in die brasilianische Literatur eingeführt worden, allein offensichtlich mit dem Hauptziel "de inspirar-se em negras, para a exaltada reputaçâo da sensualidade caprina com que alimentara seus instintos e seus versos" 37 '. Auch in der Folgezeit sollten sich die Menschen Afrikas in der brasilianischen Literatur kaum anders als in der Gestalt einer Negerin oder Mulattin zeigen, die bei zumeist tropisch-sinnlicher Darstellungsweise in Liebesgedichten ihren nur zu fest umrissenen Platz einnahm. Von einer thematischen Erfassung des Negers — oder auch der Negerin — als Sklaven finden sich keine Spuren. Daran änderte sich so gut wie nichts, als nach der brasilianischen Unabhängigkeit von 1822 die ersten Anregungen für eine Sklavenbefreiung im Parlament vorgelegt wurden. Gonçalves Dias rührte in "A Escrava" zwar leicht an die hinter Liebe und Sehnsucht nach ferner Heimat stehenden Fragen — zu leicht aber, als dafi es sich hier ernsthaft um den Versuch einer Sklavendichtung hätte handeln können. So blieb "A escrava" ein Beispiel für jene "poesías raríssimas de passagem e sempre com motivos para declamaçôes fugitivas", deren einziges Verdienst in dem Bemühen erblickt werden kann, in der Negerin nicht mehr ausschließlich das Opfer sinnlicher Leidenschaft, sondern erstmalig ein menschliches Wesen zu sehen. Vielfach ist der Beginn der eigentlichen brasilianischen Sklavendichtung mit dem Maranhenser T r a j ano Galväo de Carvalho angesetzt worden 38 ', 34

) H. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", p. 1153. ) Putnam, "Marvelous Journey", p. 60. ) Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Gilberto Freyre, "Casa Grande e Senzala" und Machado de Assis, "Memorias Posthumas de Bras Cubas". Vgl. Ronald de Carvalho, "Pequeña História da Literatura Brasileira", 1937, p. 209-10. 37 ) H. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", p. 1153. 38 ) Sylvio Romero, "História da Literatura Brasileira", 2. ed., 1902, vol. I, p. XVI¡ 1903, vol. II, p. 361 ff. A m a d e u Amarai, "A literatura da escravidäo" in: "Ilustraçâo Brasileira", ano X, no 101, j a n e i r o de 1929, s. p. H. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", p. 1153. 35



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da er, etwa nach dem Urteile Sylvio Romeros, als erster Dichter sich eingehender mit der Sklaverei beschäftigt und das Dasein der Schwarzen soweit nachempfunden habe, dafi uns in seinen Versen wirkliche Sklaven entgegenträten. Es ist nicht zu leugnen, daß Trajano Galväo in seiner zuweilen sehr detaillierten Milieuschilderung Elemente dichterisch verarbeitet hat, die vorher in der brasilianischen Literatur unbekannt waren. Im ganzen aber bleibt sie dodi nichts anderes als eine rein deskriptive Lyrik ohne jedes tiefere Empfinden für die Erniedrigung der Sklaverei. Darüber hinaus bliebe zu ihrer Charakterisierung zu bemerken, daß auch bei Galväo "o primeiro hospede negro da poesia brasileira nâo foi um crioulo e sim urna crioula" 39 '. Galväo stellt also bei genauerer Betrachtung nur einen äußeren Fortschritt dar, indem seinem Thema genehme Ausschnitte aus dem Milieu wirklichkeitsgetreuer gezeichnet werden. Sein Motiv aber ist nicht in der Unterdrückung der schwarzen Rasse zu suchen, sondern in der gleichen Sinnlichkeit, die bereits Gregorio de Matos inspirierte. Und diesem Motiv trägt auch sein "lirismo semi-descriptivo e galante" Rechnung, indem überall dort, wo es um die Herausstellung weiblicher Eigenschaften und Verführungskünste etwa der "Crioula" geht, von der dumpfen, stickigen Atmosphäre der S e n z a l a nichts mehr zu spüren ist: "Ao Das Sou Nâo

tambor, quando saio da pinha captivas, e danço gentil senhora, sou alta rainha captiva, de escravos a mil."4®)

Von einer Auflehnung gegen die Sklaverei findet sich bei ihm nicht das geringste: "Sou captiva . . . qu'importa? . . ."41)

und es hat zuweilen den Anschein, als ginge es Galväo mehr um die allerdings deutlich genug erfolgte Ausprägung der dodi in Wirklichkeit oft unbewußt zur Schau getragenen "sensualidade": "Na quaresma meu seio é só rendas, Quando vou-me a fazer confissäo; Ε o vigario vé cousas ñas fendas, Que quisera antes vê-las ñas mâos . . . e nos olhos do padre Eu vi cousa que temo nao quadre Co'o sagrado ministro de Deus . . ."«)

Und selbst f ü r die bei Castro Alves — etwa in der "Cachoeira" — so tragisch gestaltete schamhafte Angst der Sklavin vor dem f e i t o r oder dem Herren der Fazenda greift Galväo nicht auf, um hiermit seiner 3e

) H. Lopes Rodrigues Ferreira, 'Castro Alves", p. 1153. »») Trajano Galväo de Carvalho (1830-1864), 'Crioula', III/1-4. ('Tres Lyras', p. 12) zitiert bei Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 1903, vol. II, p. 365. •i) a. a. 0.1/1. « ) a. a. O. IV/1-4, 8-10.

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Dichtung doch noch einen abolitionistischen C h a r a k t e r zu verleihen: Seine Crioula folgt willig dem Liebeswerben des Aufsehers: "Como é terno o feitor quando chama à noitinha, escondido co'a rama No caminho — ó crioula vem cá! — E eu respondo-Ihe branda 'já vou . . .'"4S) Es fehlt also bei Galvào j e d e r Schrecken vor der Sklaverei, jedes entehrende Motiv und auch n u r das geringste G e f ü h l f ü r die Erniedrigung des Menschen. Es k a n n nicht bestritten werden, dafi die von ihm gezeichneten T y p e n in der brasilianischen Sklaverei durchaus mogli di waren. Es f r a g t sich jedoch neben der Problematik einer dichterischen Gestaltungsmöglichkeit des hier angedeuteten Motivs in der Romantik, ob seine "Crioula" wirklich die Sklavinnen Brasiliens verkörpert, ob sie also letztlich der dodi stets mit einem gewissen abolitionistisdien Aspekt behafteten Sklavendichtung zugerechnet w e r d e n kann. Erstaunlich bleibt, dafi k a u m einer der bedeutenderen unter den brasilianischen Dichtern und Schriftstellern j e n e r Zeit sich des Sklaven e r n s t h a f t angenommen hat. Yon José de Alencar besitzen wir zwar in seiner Komödie des "Demònio Familiar" (1857) die Gestalt eines Negers, allein seine C h a r a k t e r i s i e r u n g ist dodi d e r a r t eigenwillig, dafi man hierin n u r einen Beweis f ü r die Behauptung Romeros erblicken könnte, die brasilianische Literatur habe sich zumeist mit der Sklaverei n u r deswegen befafit, weil sie ihr als "fenòmeno extravagante" 4 4 ) erschienen sei. Man hatte e r w a r t e n können, dafi Gonçalves Dias, Machado de Assis oder Tobias Barreto als T r ä g e r afrikanischen Blutes in der brasilianisdien Literatur das Thema der Abolition mit besonderer Hingabe, Eindringlichkeit und, angesichts der dichterischen Ausdrudeskraft zumindest der beiden erstgenannten, audi mit' der wünschenswerten Vollendung der künstlerischen F o r m behandelt hätten. Neben der bereits e r w ä h n t e n "Escrava" von Goncalves Dias aber besitzen w i r k a u m ein weiteres Zeugnis dieses bedeutenden Romantikers, in welchem er — etwa gleich José de Patrocinio in Presse und politischer Rhetorik — sich seiner Abstammung gerühmt hätte u n d mit um so tieferer Liebe f ü r das Los der Schwarzen eingetreten w ä r e . Auch Machado de Assis zeigte gegenüber der "revolutionären Notwendigkeit, die Sklaverei auszulösdien" eine recht indifferente Haltung. D e m Brodeln abolitionistischer F o r d e r u n g e n seit der Mitte der sechziger J a h r e stand er gleichgültig gegenüber, einerlei, ob es sich um demagogische Parlamentsdebatten oder u m die Verse der "Cachoeira de Paulo Affonso" handelte. F ü r ihn, den Enkel freigelassener Sklaven, bedeutete es offenbar nichts Ungewöhnliches, in den einleitenden Kapiteln seines biographischen Romans "As Memorias postumas de Bras Cubas" von Ausfälligkeiten gegenüber den Haussklaven zu schreiben, die zwar dank « ) a. a. 0.1/5-7, V/10. « ) Sylvio Romero, "Historia da Literatura Brasileira", 2. ed., 1903, vol. II, p. 593.

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ihres C h a r a k t e r s als Jugendstreiche eines versöhnlich belustigenden Untertones nicht entbehren, aber doch zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit die Dienstbarkeit der Schwarzen ausgenutzt werden d u r f t e . Zu der Einstellung Machados d ü r f t e allerdings auch sein eigenes Wesen in nicht geringem Maße beigetragen haben, indem seiner bescheidenen und zurückhaltenden, j a oftmals schüchternen Ausdrucksweise, die sich höchstens bis in die Region der leisen Ironie vorwagte, trotz aller Meisterschaft der Sprache die der brasilianischen Seele so leidit eingängliche Yerbosität des Abolitionismus f r e m d bleiben mufite und er, der hinter dem grellen Vorhänge h u m a n i t ä r e r F o r d e r u n g e n den Menschen selbst nodi zu sehen vermochte, bei dem G e d a n k e n an eine "Erlösung" der Schwarzen durch die Abolition sich eines wehmutsvollen Lächelns nicht enthalten konnte. Lassen sich somit bei Gonçalves Dias und Machado de Assis wenigstens nodi gewisse Beziehungen zur Sklaverei feststellen, so tritt uns mit Tobias Barreto de Menezes ein Typus entgegen, dessen Einstellung zur Abolition geradezu als ablehnend bezeichnet werden mull. Persönlich leidit erregbar, sind von ihm zahlreiche Ausfälligkeiten gegenüber j e n e n überliefert, die ihn zuweilen mit der Bezeichnung eines "Papel queimado" zu belegen pflegten. Trotz seiner audi äußerlich deutlich sichtbaren Mischlingsabkunft sprach er von den Abolitionisten als den "idiotas da liberdade" 4 5 ) und seine Einstellung gegenüber der gerade in Recife so nachdrücklich vertretenen F o r d e r u n g seiner Zeit milderte sich von offener Ablehnung n u r selten zu überheblicher Gleichgültigkeit. Aus v e r w a n d t e n sozialen Spannungen erwachsen, erschienen Tobias Barreto Abolition u n d Republik audi als gleichermaßen u n v e r e i n b a r mit seiner G r u n d h a l t u n g des philosophischen Positivismus, der f ü r die von ihm entwickelten Rechtsprinzipien als u n v e r r ü c k b a r e ideologische Basis zu dienen hatte 40 ). So k a n n es nicht w u n d e r nehmen, daß Tobias Barreto in seinem ohnehin hinter den philosophischen und reditswissenschaftlichen Darlegungen zurückstehenden literarischen W e r k auch keinerlei Anzeichen d a f ü r e r k e n n e n läßt, daß er jemals abolitionistischen Bestrebungen sein O h r geliehen hätte. N u r in einem einzigen Gedicht seiner "Dias e Noites" hat er versucht, das Verbrechen der Sklaverei anzudeuten, ohne allerdings irgendwelchen inneren Anteil am Schicksale dieser Unglücklichen zu nehmen, ohne — wie Castro Alves — das Ende der bereits zu nationaler Schmach gewordenen Versklavung zu fordern. In allgemeiner Beziehung d ü r f t e Castro Alves literarische Einflüsse auch von dem j ü n g e r e n José Bonifácio de A n d r a d a e Silva empfangen haben, ü b e r dessen R u h m als Professor der Jurisprudenz an den F a k u l täten von Recife und Säo P a u l o n u r zu häufig der E p i k e r des "Redivivo", der L y r i k e r von "Os nossos sonhos" und — als einer der ersten in Brasilien — der Regionalist des "O Tropeiro" vergessen wird. Dennoch handelt es sich wohl in erster Linie um Anregungen f ü r das lyrische W e r k unseres Dichters, wie denn auch die von Castro Alves « ) Hermes Lima, "Tobias Barreto'. Rio de Janeiro — Säo Paulo, 1939, p. 315. 46) Hermes Lima, "Variaçôes sobre Tobias Barreto" in: "Revista do Brasil", ano II, 3. fase., no 13, julho de 1939, p. 5.

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selbst bekannte Anhänglichkeit an Casimiro de Abreu und seinen Pernambucaner Studienfreund Fagundes Yarella 47 ) gleich der niemals von Castro Alves eingestandenen Beeinflussung durch Alvares de Azevedo ebenfalls vornehmlich den Dichter der "Espumas Flutuantes" betrafen. Sie müssen also in diesem Zusammenhange, in dem es um die Erklärung der Sklavendichtung geht, unberücksichtigt bleiben, wiewohl sie uns manche aufschlufireiche Seitenblicke auf den inneren, sowohl thematisch wie formal noch nicht immer klar erkennbaren Zusammenhang der brasilianischen Romantik mit ihren europäischen Wurzeln gestatten würden. Lediglich in Fagundes Yarella kann man einige der später von Castro Alves gestalteten Ideen bereits umrissen finden. In erster Linie würde dabei an die "Yozes de América" zu denken sein. Dennoch erinnert das einleitende Gedicht des um die Ehre seiner Schwester kämpfenden Sklaven Mauro nicht nur in der äußeren Form, sondern bereits in der Gesamtkonzeption eher an den "I-Juca Pirama" eines gonçalvinischen Indianismus als an die ihm thematisch verwandte "Cachoeira de Paulo Affonso". Und in ähnlicher Weise kann auch die abolitionistischrevolutionäre Dichtung der "Aurora" nicht mit dem castroalvinischen Erlösungsgedanken in Einklang gebracht werden. Castro Alves liegt trotz gewisser Beeinflussung durch die in der "Aurora" weitaus kräftiger nachhallenden "Paroles d'un Croyant" eines Lammenais die soziale Revolution Varella'scher Prägung fern, die Sklaven und Entrechtete zu Zerrbildern menschlicher Grausamkeit werden und die Erde in einem Meer von Blut versinken läfit: "Estranho povo surgirá da sombra Terrivel e feroz cobrindo os campos De cruentes horrores! O palácio e a prisäo iräo por terra, E um segundo dilùvio entâo de sangue, O mundo lavarál" 48 )

Diese summarische Betrachtungsweise läfit bereits die Schlufifolgerung zu, dafi Castro Alves innnerhalb der brasilianischen Literatur kaum Vorbilder für seine Sklavendichtung und die in ihr verarbeiteten abolitionistischen Ideen erwarten durfte. Wenn daher auch in keiner Weise von der Sklavendichtung als einer "Modeerscheinung" gesprochen werden kann, so ist doch andererseits ersichtlich, dafi Castro Alves zweifellos gewisse soziale Gedanken seiner Zeit verarbeitet hat. Es hat aber durchaus den Anschein, als sei er — zumindest unter den Dichtern Brasiliens einer der ersten gewesen, die zu einer Zeit, als die Sklaverei noch i n t e g r a e t r e s s a c r a war 49 ', ihre Stimme im Namen des Rechts und der Menschlichkeit erhoben. Einen Vorläufer in der den Realismus südamerikanischer Prägung kennzeichnenden Entpersönlichung des Ichs zugunsten der Gemeinschaft fand er dabei in Pedro Luiz (1839-84), dessen epische Gedichte "Os Voluntários da Morte" oder «7) Eine diesbezügliche Äußerung des Dichters stammt aus dem J a h r e 1869. Cf. Afrânio Peixoto, 'Castro Alves, o poeta e o poema", 1942 (2a ed.), p. 298/99. »β) Fagundes Varela, "Aurora", V i l i , in: "Vozes de América". *·) Joaquim Nabuco, "Um Estadista do Impèrio", vol. III (5 o vol. der "Obras Completas" 1949), p. 21.

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"Terribilis Dèa" in der Atmosphäre des Paraguaykrieges nachhaltigste Wirkung haben mufiten. Castro Alves erfuhr gleich vielen anderen den Einflufi dieser neuen Ideen, verfiel jedoch keineswegs in eine seinem Wesen und seiner Erziehung widersprechende Nachahmung solcher den Krieg verherrlichenden Verse. Während Tobias Barreto der militärischen Gewalt den Lobgesang anstimmte, bat Castro Alves um christliche Nächstenliebe für die Waisen, deren Yäter "do vasto pampa no funéreo châo" gefallen waren 60 '. Und dieses hier zum Titel eines der ergreifendsten Zeugnisse menschlichsten Mitleides gewordene Epigramm Hugos steht auch ungeschrieben über seiner gesamten abolitionistischen Mission: "Qui donne au pauvre prête à Dieu" 51 ). c) Fremde literarisdie Einflüsse Schon bei dem Versuch, für die castroalvinische Sklavendichtung nach Vorbildern innerhalb der brasilianischen Literatur zu forschen, zeigte sich, wie schwierig es bleiben mufi, aus den wenigen Beispielen für eine thematische Analogie oder den schon etwas häufiger auftretenden Anzeichen eines stilistischen Gleichklanges den Bereich einer in ihrem Extrem sklavischer Imitation von dem Dichter niemals erfahrenen Beeinflussung abzugrenzen gegen das in seinem Ursprung notwendigerweise oft nebelhaft bleibende Phänomen reiner Koinzidenz. Ähnliches gilt auch für die Beantwortung der Frage nach fremden, vornehmlich aber europäischen Einflüssen in der Sklavendichtung. Die Vorliebe für eine Ausrichtung nach europäischen Ideologien kennzeichnet nicht nur die Literatur, sondern das gesamte Geistesleben des neunzehnten Jahrhunderts in Brasilien. Sie mag ihren Ursprung in der vermeintlichen Traditionslosigkeit des Brasilianischen haben, dürfte jedoch zu nicht geringem Teile auch einer Art nationalen Minderwertigkeitskomplexes zugeschrieben werden können, dessen sinistre Auswirkungen sich auf literarischem Gebiete bis an die Grenze des Paulistaner Modernismus der zwanziger Jahre verfolgen lassen. Es erscheint jedoch müßig, an dieser Stelle in eine Untersuchung darüber eintreten zu wollen, ob die brasilianische Literatur, der ein in seinen Grundzügen durchaus romantisch veranlagtes Volk den Boden bereitete, auch ohne die europäischen Anregungen eine eigenständige Romantik geschaffen hätte. Die thematische Passion eines Gonçalves Dias für den brasilianischen Indianer scheint eine solche These zunächst bekräftigen zu wollen; allein die dichterische Gestaltung verrät zu enge Bindung ihres Autors an die conimbricenser Schule, als dafi sich die Zusammenhänge mit Europa leugnen ließen. Und daß Gonçalves Dias in diesen engen Wechselbeziehungen zu Europa keine Ausnahme bildet, zeigen mit aller Deutlichkeit Junqueira Freire, Fagundes Varella und Alvares de Azevedo in ihrer ständigen Alternation europäisch bestimmten so) "Quem dá aos pobres empresta a Deus". "Poesías Escolhidas", 1947, p. 25-28. si) Victor Hugo, "Pour les pauvres' (20. 1. 1830) in: "Les Feuilles d'Automne" (XXXII). Das Gedicht fand eine portugiesische Ubersetzung durch Antonio Claudio Soido in "Jardim Poético" de J. M. Pereira de Vasconcellos, série 2a. Vitoria, 1 8 6 0, p. 67. Cf. Sacramento Blake, "Dicionário Bibliográfico Brasileiro", vol. I, p. 137 e C. Tavares Bastos, 'Versôes poéticas brasileiras de Victor Hugo". Petrópolis, 1952, p. 17.

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inneren Gehaltes im G e w ä n d e eigenständiger F o r m mit spezifisch brasilianischer Thematik in fest gefügtem Regelmaß ihrer Vorbilder aus d e r alten Welt. W e n d e n wir uns Castro Alves zu, so ergibt sich bereits aus der am stärksten ins Auge fallenden Besonderheit seines Werkes, dem condoristischen Stil, die ganze Problematik einer solchen F r a g e : Einerseits v e r d a n k t Castro Alves gerade dieser übersteigerten A r t seiner Metaphern, dieser den Leser fast erdrückenden Verbosität seiner Rhetorik u n d der Eindringlichkeit seiner in der brasilianischen L i t e r a t u r n u r selten so vollendet d u r c h g e f ü h r t e n antithetischen Komposition den Ruf eines "Victor Hugo Brasileiro". Andererseits aber lassen sich f ü r jedes einzelne der in Castro Alves a u f t r e t e n d e n condoristischen Elemente auch Wurzeln verfolgen, die zu fest im brasilianischen Boden v e r a n k e r t sind, als daß sie jemals f r e m d e r E r d e hätten entrissen sein können. Und kein Geringerer als Euclidee da C u n h a hat, vielleicht in einiger Unterschätzung des Hugoschen Einflusses (Näo foi o velho genial quem nos ensinou a metaphor a, o estiramento das hyperboles, o vulcanismo da i m a g e m . . .)52> gerade diese castroalvinischen Stileigenheiten als spezifisches Merkmal eines Dichtw e r k e s empfunden, welches wie kein anderes zeigt, wie sehr das brasilianische Volk sich noch mit seiner "instabilidade characteristica das combinaçôes incompletas" i n s t a t u n a s c e n d i befinde. Castro Alves w ä r e damit nach Euclides der Dichter eines Volkes, das "ainda, sobre todos os outros, é o povo das esplendidas phrases golpeantes, das imagens e dos symbolos" 53 ' und sein Anklang an den großen f r a n zösischen Romantiker entspräche nichts anderem als einer "identidade de estímulos" 04 ). Mögen sich in der Tat condoristische Elemente mit ungeahnter Ausdruckskraft im Folklore als dem am stärksten autonomen Zweig der brasilianischen L i t e r a t u r finden, so k a n n doch k a u m übersehen werden, daß die dem brasilianischen Gestaltungsvermögen eigene Art der Übersteigerung der Metapher lediglich eine der Komponenten f ü r den Condorismus bei Castro Alves bilden konnte. Nicht zu Unrecht weist die Anspielung auf den Condor in Richtung der Anden und beinhaltet somit u n b e w u ß t die über den doch zumeist recht regional begrenzten Bereich des Folklore weit hinausgreifende Basis f ü r Castro Alves, der nicht zuletzt — zumindest in stilistischer Hinsicht — in dem P e r u a n e r José Santos Chocano, 55 ' "ao mesmo tempo espanhol e incaico" einen Nachfolger finden sollte, der im Urteil seines Landsmannes Garcia Calderón als "una caòtica f u e r z a sudamericana" erstrebte, zum "cantor de América autóctona y s a l v a j e " aufzusteigen: "Pienso en España siempre que el canto rompe el vuelo. Como espiral sonora que envuelve todo el cielo: El cóndor es mi padre, pero el léon mi abuelo. 52) Euclides da Cunha, "Castro Alves e seu tempo". Rio de Janeiro, 1907, p. 24. 6i) Euclides da Cunha, op. cit., p. 30. β») Euclides da Cunha, op. cit., p. 24. 05) Ober gewisse Parallelen im "Americanismo" des José Santos Chocano zum "Condoreirismo" bei Castro Alves vgl. Carlos Chiacthio, "Castro Alves e o americanismo' in "Revista das Academias de Letras", Rio de Janeiro, 1940, vol. IV, no 22, p. 3-6. Für weitere brasilianische Chocano-Literatur vgl. Wogan, "A Literatura Hispanoamericana no Brasil. 1877-1944". B a t o n R o u g e U S A , 1948, p a s s i m .

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Tal es como, por entre mis bárbaras canciones, Pasan veinte naciones con veinte pabellones, Se imponen cien tiranos y hay cien revoluciones."5®)

Und es sei nur am Rande vermerkt, daß audi aus Argentinien ähnliche Töne anklingen, wenn man den "versos fluentes e empolados" zu lausdien vermöchte, mit denen der Epiker Olegario Victor Andrade — Zeitgenosse und, streng genommen, Landsmann unseres Dichters"), in "El nido de Cóndores" den Andenübergang des sanmartinisdien Heeres besang. Mag es somit scheinen, daß der Condoreirismo — im hispanischen Amerika vorzugsweise dem Americanismo gleichgesetzt —, Gemeingut des gesamten Kontinentes war, so zeigt sich dodi andererseits gerade bei Olegario Andrade in dem deutlichen Einfluß Victor Hugos auch seine Brücke zu Europa. Gilt soldies bereits f ü r Olegario Andrade, wie viel eher muß es dann auf den brasilianischen Condoreiro anwendbar sein, in dessen Heimat der geistige Einfluß der französischen Romantik sich nodi in erheblidi stärkerem Maße bemerkbar machte! Ein flüchtiger Blick in die Verkaufslisten führender Verlage und Buchhandlungen, die in der Zeit eines Castro Alves, ja selbst nodi des späteren Machado de Assis erheblidi stärker Träger als — wie heute — Mittler des geistigen Lebens genannt werden mochten, offenbart bereits den erstaunlichen Reichtum der französischen Inspirationen für die revolutionären Gedanken in einem Brasilien, das zumindest in geistiger Beziehung oft im Lichte eines Kolonialmandates des D e u x i è m e E m p i r e erscheint. An erster Stelle verdiente hier sicherlich die Livraria Garnier genannt zu werden, die später an der Verbreitung des castroalvinischen Werkes so regen Anteil nehmen sollte. Sie offerierte nicht nur ein fast lückenloses Panorama der französischen Romantik, sondern auch jene Übersetzungen englischer und deutscher Autoren, die offenbar Castro Alves für das Motto mancher seiner Gedichte verwandte 58 ). Inwieweit Castro Alves sich diesem Einfluß ausgesetzt sah, läßt sich an einem seiner eigenen Gedichte ablesen: "Filhos do séc'lo das luzes! Filhos da 'Grande Naçâo'! Quando ante Deus vos mostrardes, Tereis um livro na mäo: O Livro — èsse audaz guerreiro, Que conquista o mundo inteiro Sem nunca ter Waterloo . . . Éolo de pensamentos, Que abrira a gruta dos ventos Donde a Igualdade voou! . . ."59) 6e ) Zit. bei Manuel Bandeira, "Literatura Hispano-Americana". Rio 1949, p. 172-3. " ) Olegario Victor Andrade (1839-1882) wurde in Alegrete (Rio Grande do Sul) geboren, bekannte sich jedoch Zeit seines Lebens zu Argentinien. Vgl. M. Bandeira, op. cit., p. 97, ferner Henriquez Ureña, 'Literary Currents in Hispanic America", p. 143. se) Die Durchsicht der Kataloge aus den späten fünfziger und ersten sechziger Jahren ergab, daß u. a. audi französische Übertragungen der "Lusiadas" in Rio de Janeiro angeboten wurden. . . »») "O Livro e a America", VI., "Poesías Escolhidas", 1947, p. 13.

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Dafi sich das sonst entschieden traditionsbewufltere Bahia in diesem Falle kaum von der kosmopolitischen Residenz unterschied, zeigt jedoch nicht minder deutlich die Tatsache, daß auch der im biographischen Teil bereits erwähnte "Cours de Littérature Française" des Charles André gleichermaßen in der Livraria Garnier zu Rio de Janeiro wie im Colegio Bahiano des Abilio Cesar Borges geschätzt wurde. Ihm dürfen wir sicherlich die ersten Berührungspunkte des jungen Castro Alves mit der französischen Literatur zuschreiben, zumal André sich keineswegs auf Hugo beschränkte, sondern neben dem Dichter von "La Grandmère", "Moise sauvé des eaux" und "Napoléon" durchaus auch andere Autoren berücksichtigte, deren Schöpfungen zweifellos ihre Wirkung auf den künftigen "poeta dos escravos" nicht verfehlten. Es erscheint jedoch angebracht, darauf zu verweisen, daß es weniger die einzelnen Gedichte als vielmehr die ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Ideen waren, die man für eine Beeinflussung der Sklavendichtung anführen könnte. In nur wenigen der Sklavengedichte findet sich inhaltlich oder stilistisch eine derart enge Anlehnung an französische — oder audi nur allgemein europäische — Vorbilder, daß von einer inneren Bindung zu einem bestimmten Gedicht jener Autoren gesprochen werden könnte. Wo jedoch gewisse Vergleiche der bildhaften Ausschmückung möglich sind, klingt in den castroalvinischen Gedichten ein ganz anderer, vor allem den Leser weitaus unmittelbarer ansprechender Grundton durch, wie ein Vergleich zwischen "A Orphä na Sepultura" und der Lamartineschen "Hymne de l'Enfant à son reveil" zeigen könnte, die Castro Alves eben aus der Anthologie des Charles André her bekannt war. Im übrigen aber wird man annehmen können, daß etwa in "O Século" die Verbindung "Ao grito do N i a g a r a Sem escravos, G u a n a b a r a"ee) eher aus naheliegenden Gründen eines annähernd gewahrten Reimes erfolgte, als einer gedanklichen Assoziation an die Zeilen Chateaubriands über die Niagarafälle entsprang, die sich in der gleichen Anthologie Andrés finden und möglicherweise in dem einen oder anderen Detail die "Cachoeira" befruchtet haben mögen. Und selbst außerhalb der eigentlichen Sklavendichtung, wo an sich festere Bindungen des Dichters an europäische Vorbilder spürbar werden, sieht sich diese Beeinflussung in dem epischen Teil des Werkes gleichermaßen auf analoge Grundideen beschränkt. So besteht etwa zwischen dem Lamennais aus der André'schen Anthologie und Castro Alves in seinem "Quem dà aos 60) Ό Século", XII/5-6. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 28. Homero Pires beanstandet die von Peixoto gegebene Fassung. Er verweist auf Nabuco, "Castro Alves", "Revista da Academia Brasileira de Letras", ano XII, no 18, junho de 1921, p. 64, wo es heißt: "Que aos gritos do Niagara — Sem escravos — Guanabara", was der Vollkommenheit des Reimes eher entspricht. Pires versäumte jedoch, die Originalfassung Nabueos zu berücksichtigen: "Que ao grito do Niagara Sem escravos Guanabara" ("Castro Alves" in "Reforma", 27-IV-1873 und in Buchform: 'Castro Alves", Rio de Janeiro, 1873, p. 30).

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pobres . . . " nur der redit lockere Zusammenhang menschlicher Nächstenliebe, ohne dafi hier das religiöse Moment anklänge, das dodi zumindest in dem von Hugo übernommenen: "Qui donne au pauvre prête à Dieu" seinen Niederschlag fand. Das Verhältnis unseres Dichters zu Victor Hugo nimmt in den grundlegenden kritischen Darstellungen jeweils einen beträchtlichen Raum ein, ohne dafi es bislang gelungen zu sein scheint, die Frage nach der literarischen Verwandtschaft völlig zu klären. Auf das Beispiel Euclides da Cunhas wurde bereits verwiesen 61 ). Ihm zur Seite stünde in etwa Rui Barbosa, der die Spuren Hugos in der Dichterpersönlichkeit seines Kommilitonen Castro Alves lediglich als "accidentais" bezeichnet e6!!). Es mag aber scheinen, als gäbe es audi gegenteilige Ansichten: "Si Castro Alves, como os poetas do seu tempo, seguiu a esteira de Victor Hugo, e lhe imitou a technica foi profundamente brasileiro, brasileiro do seu tempo."63). Es bedarf wohl keines deutlicheren Hinweises auf die geistige Praedominanz Frankreichs im zweiten Kaiserreich, als dieses Urteil von Medeiros e Albuquerque ihn gibt. Streng genommen, würde diese Aussage beinhalten, daß die castroalvinische "brasilidade" in der Imitation der Technik Hugos gelegen habe, doch klingt zu deutlich das autonom brasilianische Element durch, als dafi man nicht versucht wäre, dieses Urteil dahingehend zu interpretieren, daß sich die Hugo'sche Technik dem brasilianischen Gehalt der Dichtung des Castro Alves assoziiere. Und es wäre von dort aus wiederum nur ein weiterer Schritt zu Euclides da Cunha, wenn man nicht gar in das Extrem Bellarmino Barretos verfallen wollte: "Sustento que Castro Alves de Victor Hugo só imitou os defeitos. O que há de bom em suas poesías, é original e nâo imitaçâo" 64 ). Die Technik beider Dichter weist in der Tat eine gewisse Übereinstimmung auf, wie bereits angedeutet werden konnte. Darüber hinaus ist für Hugo wie für Castro Alves oftmals ein analoger "procès de la imagination" feststellbar, der bei beiden Dichtern durch eine gewisse Vereinfachung, zuweilen Schematisierung des geschauten Bildes unter Zurückführung auf seine wesentlichsten Züge eingeleitet und sodann in der bekannten Weise einer klangreichen Ausschmückung entwickelt wird, um schließlich unter der ungeheuren inneren Spannung meisterhaft verwandter antithetischer Gruppierung seinem nicht selten die Grenze der Harmonie streifenden Höhepunkt entgegengeführt zu werden. Hinsichtlich der Sklavendichtung bei Castro Alves muß jedoch die recht bedeutsam erscheinende Einschränkung gemacht werden, dafi er hier weitaus seltener als in den "Espumas Flutuantes" oder den "Hymnos do Equador" der Hugo'schen Eigenart der scharfen Kontrastierung von Licht und Schatten verfällt, sondern weitaus mehr als ei) s. Seite 118. »2) Ruy Barbosa, 'Elogio de Castro Alves". 1950, p. 13. e3 ) Medeiros e Albuquerque, "Evoluçâo literaria do Brasil* in 'Revista da Academia Brasileira de Letras', ano XIII, vol. 12, no 23/4, julho-dezembro de 1922, p. 25. el ) Belarmino Barreto, "Os gracejos da Comissäo iniciadora" in "O Monitor", ano V, no 284, Salvador, 24 de maio de 1881, p. 1/2. 6*

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sein "Meister" Empfinden für die mannigfaltigen Farbtöne und deren feine Abstufungen zeigt. Inwieweit sich Castro Alves damit bereits der Grenze der Romantik nähert, vermag im Vorliegenden nur angedeutet zu werden, doch sei auf die offenkundige Analogie der Entwicklung in der Stoffwelt verwiesen, die ebenfalls Vorstufen der nachfolgenden Strömungen erkennen läfit. Einwandfreie Gemeinsamkeit zeigen beide Dichter in der Hingabe an die sozialen Ideen ihrer Zeit. Und nicht zu Unrecht können "Les Châtiments" in der französischen wie "Os Escravos" in der brasilianischen Literatur f ü r sich in Anspruch nehmen, zu den jeweils eindrucksvollsten Zeugnissen inniger Verschmelzung von sozialbewufiter Thematik mit dichterischer Formgebung gezählt zu werden. Es kann daher kaum verwundern, dafi zwischen den Autoren dieser Werke engere Bindungen bestanden haben als die einer reinen Analogie, doch wäre es abwegig, kurzerhand von einer "Beeinflussung" des brasilianischen durch den französischen Romantiker mit der darin liegenden Wertung als eines Verhältnisses zwischen Schüler und Meister sprechen zu wollen. Sie würde in viel zu stark verallgemeinerndem Maße Castro Alves als mit der passiven Funktion des Aufnehmenden identifiziert erscheinen lassen, während sich das Erfassen Hugos durch Castro Alves weitaus eher auf der aktiven Basis eines Erkennens eigener Züge und Vorstellung von einer "missäo do poeta" in Hugo vollzieht. Dazu kommt noch, daß die "Beeinflussung" zu leicht den Charakter des Umfassenden und Globalen vermuten ließe, während die Entdeckung seiner selbst in Hugo bei Castro Alves durchaus selektiv erfolgt. Dieser Vorgang setzt ein bei der Jugend unseres Dichters erstaunlich hohes Maß an Eigenständigkeitsgefühl seiner Dichterpersönlichkeit voraus, das jedoch angenommen werden muß, wenn man sein Verhalten gegenüber den im Hugo'schen Werk verarbeiteten Ideen aufspürt. Zunächst liegt der partielle Charakter schon dadurch auf der Hand, daß Castro Alves naturgemäß lediglich ein Teil der Hugo'schen Dichtung bekannt sein konnte. Diese äußerliche, vor allem durch den frühen Tod des Dichters bedingte Zäsur enthebt uns der Notwendigkeit, der Frage nachzugehen, ob nicht Castro Alves sich von dem Hugo'schen Spätwerk doch etwas weniger hätte ansprechen lassen, als von dem humanitären Sozialismus der Jahrhundertmitte. Wir können kaum annehmen, daß Castro Alves mehr von Hugo kannte, als das Erstlingswerk "Odes et Ballades", ferner "Les Orientales", "Les Feuilles d'Automne", "Les Chants du Crépuscule", "Les voix intérieures", "Les Rayons et les ombres", "Les Châtiments", "Les Contemplations", "La Légende des Siècles" und — allerdings frühestens gegen Ende des Aufenthaltes in Recife — "Les Chansons des Rues et des Bois". Hinzu kommen natürlich die Romane, unter denen "Les Misérables" nicht unerwähnt bleiben dürften. Bereits bei "La Légende des Siècles" ist jedoch zu berücksichtigen, daß Castro Alves aus diesem "œuvre prométhéenne . . . poème épique de l'humanité" 65 ) nur einen Teil gelesen β5

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) Marcel Arland in, Victor Hugo, "Poésies", Tome I. Paris, s. d. (1950), p. 14.

haben konnte, da schon die zweite Serie sechs, die dritte sogar erst zwölf Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Selbst wenn das eine oder andere Gedicht zuvor in den so zahlreichen literarischen Blättern Brasiliens abgedruckt worden sein mag, mußten Castro Alves immerhin Verse wie "Le Travail des Captifs" (16-7-1873) unbekannt bleiben. Diese Zäsur aber nimmt uns gleichzeitig die Möglichkeit, die in Castro Alves stattfindende Entwicklung von deutlich in frühen Gedichten spürbarer Begeisterung für Hugo über kritische Auseinandersetzung mit ihm in jene nicht mehr erlebte Phase zu verfolgen, die allen Anzeichen nach eine wesentliche Vertiefung jener eigenen Komponenten gebracht haben würde, die versprachen, mit Hugo kaum mehr gemeinsam zu besitzen als gewisse — allerdings von jedem überheblichen Pathos befreite — Grundideen der Menschlichkeit, wie sie kurz vor dem Tode des Dichters in dem Gedicht "No meeting do Comité du Pain" zum Ausdruck kamen: "Digamos à misèria, à fome e à orfandade: É vosso o nosso lar . . . vós sois nossas irmäs". ee )

Die unterschiedliche Gestaltung dieses audi von Hugo auf Jersey behandelten Gedankens läßt sich kaum einleuchtender zeigen als durch die folgenden Verse aus den "Châtiments": "Je t'aime, exil! douleur, je t'aime! Tristesse, sois mon diadème! Je t'aime, altière pauvreté!"

Der selektive Charakter der Begegnung unseres Dichters mit Hugo wird noch deutlicher, wenn man auch die Wandlung des französischen Romantikers berücksichtigt. Der Royalist und Verehrer Napoleons — deutliche Kennzeichen des frühen Hugo — konnte in Castro Alves kaum den gleichen Anklang finden wie nodi die Vertreter der ersten, monarchistischen Phase der brasilianischen Romantik sich daran begeistert haben mochten. Castro Alves sagten die politischen Auffassungen eines Gonçalves de Magalhäes in keiner Weise mehr zu. Dennoch gründete sich seine republikanische Einstellung keineswegs auf eine a priori bestehende Ablehnung der Monarchie und nodi weniger auf eine Antipathie gegen die Gestalt des Kaisers D. Pedro II. Mag nämlich audi die Persönlichkeit unseres Dichters eher den mütterlichen Charakter widerspiegeln, so übertrug sich zweifellos auf ihn von Seiten des väterlichen "Cavalheiro da Ordern de Rosa" eine Hochachtung vor dem Monarchen, und es findet sich in seiner gesamten Dichtung kein hartes Wort für den Mann, dessen persönlicher Abolitionismus ebenso außer Frage stand wie sein letztlich verhängnisvoll gewordenes Bemühen, die Sklavenfrage zu allseitiger Zufriedenheit sich allein lösen zu lassen. Der castroalvinische Republikanismus entsprang vielmehr den Fortschrittsgedanken seiner Zeit und schien ihm — wie am "Gonzaga" zu zeigen sein wird — zur Erlangung einer spontanen Abolition beitragen zu können. So finden sich in der hier unberücksichtigt bleibenden Epik der "Espumas" und "Hymnos do Equador" auch durchaus positive Einβ·) "No Meeting do Comité du Pain", XI/3-4. "Poesías Escolhidas", 1947, p. 204.

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Stellungen zu Napoleon, dessen ü b e r r a g e n d e Bedeutung f ü r seine Zeit der Dichter nicht verkannte, ohne jedoch in die verallgemeinernde Begeisterung f ü r die Monarchie zu verfallen, die den politischen Konservatismus der f r ü h e n Romantik kennzeichnete. In ähnlicher Weise b e w a h r t e sich Castro Alves seine Eigenheit gegenüber dem anderen E x t r e m Hugos, wobei hier von "Extrem" n u r insoweit die Rede sein kann, wie es Castro Alves als solches erscheinen mufite, nicht also der siebziger und achtziger Jahre. So sprach ihn nach der fruchtbarsten Periode des h u m a n i t ä r e n Sozialismus in Hugos W e r k die Wandlung zum politischen Sozialismus bereits weitaus weniger an. Und parallel dazu distanzierte er sich auch deutlich von Hugo, als dieser von seinem — bei Castro Alves ohnehin schon bedeutend zurückhaltenderen — Antiklerikalismus zum F r e i d e n k e r t u m gelangte und in den Augen des immerhin von starken jesuitisch-katholischen Erziehungsfaktoren noch beeinflußten Christen Castro Alves bereits zu dessen Lebzeiten zuweilen h a r t an die Grenze des Atheismus zu geraten drohte. Schließlich aber findet die These einer selektiven Durchdringung des ihm zumindest eng mit d e r eigenen inneren Vorstellungswelt v e r w a n d t erscheinenden Hugo'schen Werkes noch darin eine weitere Stütze, daß Castro Alves viele j e n e r G e d a n k e n Hugos nicht ohne weiteres übernahm, die er als mit den eigenen — oft noch nicht so k l a r formulierten — Ideen übereinstimmend ansah. Hier zeigt sich vielmehr, daß er Hugo oft wenig mehr als Anregungen verdankt, dieser also gewissermaßen in der Dichtung unseres Castro Alves eine stark katalytische Funktion ausgeübt hat. Das d ü r f t e vor allem in j e n e n Fällen zutreffend gewesen sein, wo die Begegnung mit Hugo zu der Erkenntnis des Bestehens gleicher oder zumindest analoger Ideen führte, mithin also bei A n n a h m e bislang nicht widerlegbarer brasilianischer Wurzeln f ü r den condoristischen Stil eine echte Koinzidenz nicht ausgeschlossen war. Gerade an Hugo w i r d deutlich, wie sehr oftmals die Abgrenzung zwischen gerade noch w a h r n e h m b a r e r "Beeinflussung" und Koinzidenz individuell bedingt bleiben muß. Die Koinzidenz wird bei einer derartigen Betrachtung aber wohl in den weitaus meisten Fällen ihres ansonsten vorzugsweise betonten C h a r a k t e r s d e r Zufälligkeit entkleidet werden müssen zugunsten einer hier anzunehmenden Bedeutung als Phänomen einer ohne sichtbaren Einfluß aus gleichen Quellen schöpfenden analogen dichterischen Gestaltung v e r w a n d t e r Themen. Sie bedingt also eine den zu behandelnden O b j e k t e n jeweils a d ä q u a t e Atmosphäre. Und die vornehmlich aus diesem G r u n d e in diesem Teile noch zu untersuchenden amerikanischen Sklavendichter werden zeigen, daß o f f e n b a r weniger ein gemeinsames O b j e k t als eben eine der dichterischen Gestaltung dienliche Atmosphäre den Ausschlag zu geben vermag, wenn man einmal von dem f ü r das Werk natürlich entscheidenden, aber letztlich doch individuellen F a k t o r des poetischen Talentes abzusehen geneigt ist. Nun, an dichterischem Gestaltungsvermögen hat es weder Hugo noch Castro Alves gemangelt und — in Einhaltung der durch den selektiven C h a r a k t e r der Begegnung bedingten Grenzen — zeigen sich bei ver86

wandtem Objekt audi die Bedingungen für eine analoge Atmosphäre, so dafi es nicht verwunderlich ist, die eingangs erwähnte Gemeinsamkeit vieler Ideen bestätigt zu finden. Was nun jedoch die äußere Gestaltung betrifft, so wäre es irrig, aus dem vorher Gesagten folgern zu wollen, daß diese Ideen in den jeweiligen Gedichten stets und unter allen Umständen einen identischen Niederschlag gefunden hätten. In der "Tragèdia no Mar" werden sich kaum andere Anklänge als an den Hugo der "Les Orientales" feststellen lassen, und zwar in der nur wenige Zeilen umfassenden Betrachtung über die "marinheiros helenos que a vaga ionica criou". Und sie ist wahrlich nicht dem abolitionistischen Element der Sklavendichtung zuzurechnen, sondern dürfte "hugoisch" in dem Sinne beeinflußt sein, daß es sich um eine Konzession der Romantik an das mit Byron, Chateaubriand und anderen für die Literatur neu entdeckte Griechenland handelt. Nicht von der Hand zu weisen wäre jedoch in diesem Zusammenhange auch eine zumeist übersehene Vertrautheit unseres Dichters mit der klassischen Mythologie. Er mag darin Hugo nidit unähnlich gewesen sein, dodi läßt sich in keiner Weise eine Beeinflussung durch den französischen Romantiker ableiten, eher hingegen die Auswirkung seiner eigenen Beschäftigung mit der Welt des Hellenismus nadrweisen. Deutlicher wird eine wirkliche Beeinflussung durdi Hugo eigentlich nur in dem Gedicht "A Creança", das in Titel, gesamtem kompositorischen Aufbau und der tragenden Idee zweifellos an "L'Enfant" aus Hugos "Les Orientales" erinnert. Ohne der Behandlung des Gedichtes im nachfolgenden Abschnitt den Boden zu entziehen, sei jedoch auch hier auf die Castro Alves gelungene szenische und gehaltliche Wandlung verwiesen, die uns aus dem Griechenland der Befreiungskriege in die Neue Welt versetzt und das einer gewisssen Enge nidit entbehrende Moment nationalistischen Vergeltungsdranges in die Auflehnung gegen eine die festesten Bande der Familie zerreißende Institution umschmilzt. Anklänge an Victor Hugo bieten ferner "O Sol e o povo", "O Século" und "O Vidente", doch tritt hier bereits zu viel Eigenes an die Seite des möglidierweise von Hugo übernommenen Gedankengutes, als daß sich ähnlich klare Linien ziehen ließen wie in "A Creança". In noch geringerem Maße gilt solches für die "Estrofes do Solitàrio", deren Titel kaum mehr Beziehung zu dem Motto des ersten Teiles der "Lélia" einer George Sand besitzen dürfte als ihr Inhalt zu Hugo97). Es fänden sich allenfalls gewisse Details in der Ausschmückung der Verse, die an den "Conseil" aus "Les Chants du Crépuscule" erinnern ließen, dodi ist bei Castro Alves wenig von der Hugo'schen Grundidee der "conseils de bonté, de clémence" zu spüren, "les seules forces qui puissent endiguer le flot des révolutions" 98 ). Ein endgültiges Urteil für das Gesamtwerk zu fällen, steht dem Verfasser nidit an. Dazu wäre eine eingehende, in sich abgeschlossene Untersuchung erforderlich, die für den Rahmen der vorliegenden Arbeit e7

) George Sand, "Lelia". Pensées inédites d'un solitaire, 1833. ββ) Victor Hugo, "Conseil" in "Les Chants du Crépuscule", p. 225 ff., sowie Anmerkung 153, p. 315.

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zu umfangreich würde. Für die Sklavendiditung aber läßt sich der Einflufi Hugos vielleicht dahingehend zusammenfassen, dafi sich Castro Alves ihm — und durch ihn der französischen Sprache — seit frühester Jugend verbunden fühlte. Die Castro Alves bewegenden sozialen Fragen mochten andere sein als die von Hugo aufgeworfenen Probleme. Ihre meisterhafte Herausarbeitung in einem eigenartig kraftvollen und sonoren Stil, dessen hyperbolische Überspannung den zii hohem Fluge seine Schwingen öffnenden Condor nicht befremdete, sondern nur darin bestärkte, das ihm unzureichend erscheinende Nest der heimischen Literatur zu verlassen, ließ ihm Hugo als Leitstern seines dichterischen Schaffens erscheinen. Hugo glich jedoch, wenn der weitere Gebrauch dieser Metapher zulässig ist, weniger dem Polarstern einer nördlichen Halbkugel als vielmehr einem der Sterne im Kreuz des Südens, indem er keineswegs den einzigen Orientierungspunkt für die Stellung unseres Dichters zur europäischen Romantik und innerhalb der Sozialdichtung im allgemeinen darstellte und — auch das darf nicht übersehen werden — seine Ausstrahlungen erst im Rahmen der gesamten richtungweisenden Funktion der europäischen Romantik auf die brasilianische Literatur ihren vollen Glanz erreichen konnten"). Wenn zu Beginn dieser Betrachtung von dem nur geringen Einfluß Chateaubriands auf die Sklavendichtung gesprochen wurde, so mag gerade wegen des gewählten Beispieles ("Niagara - Guanabara") eine solche Aussage zunächst in scheinbarem Widersprüche zu des Dichters eigenen Worten stehen: "You . . . para vèr de perto a queda gigantesca do S. Francisco. Fazer-me de Chateaubriand nest'outro Niagara." 70 ) Im Gegensatz zu den oben zitierten Versen aus "O Século" geht es jedoch bei dieser Anspielung auf den Autor des "Génie du Christianisme" um dessen Forderung, die in der Dichtung gestaltete Natur zuvor in loco studiert zu haben. Die Verbindung mit Denis lag für Castro Alves auf der Hand, Chateaubriand bedeutete lediglieli ihre konsequente Weiterführung und in gewissem Sinne praktische Anwendung. Der Unterschied zwischen beiden mochte allerdings darin bestehen, daß sich die Forderung Chateaubriands vornehmlich auf die dem europäischen Romantiker fremde Natur — in seinem eigenen Falle die der seit 1791 erforschten Landschaft Nordamerikas — bezog, während Castro Alves sie sogar auf Teile seiner allerdings an Ausdehnung wie überwältigender Erscheinung unvergleichlich reicheren eigenen Heimat ausgedehnt wissen wollte. Bei der Bedeutung der Naturschilderung in der Sklavendiditung ist daher ein Hinweis auf Chateaubriand durchaus angebradit. Allerdings konnte auch er hier eigentlich weniger dominierend als nur verstärkend wirken, da Castro Alves bei einiger β β ) Für das Edio französischer Romantiker in Brasilien, vgl.: Múcio Teixeira, "Hugoianas", 2a ed. Rio (1885). Olegário Mariano, "Antologia de Tradutores". Rio, 1933, Guanabara ed. R. Magalhäes jr., "Antologia de Poetas Franceses". Rio, 1950, Graf. Tupi. C. Tavares Bastos, "Versöes poéticas Brasileiras de Victor Hugo". Petrópolis, 1952, 72 p. (228 Ubersetzungen von 157 Gedichten Hugos durch 106 Ubertragende.) A. J . de Macedo Soares, "Lamartineanas — Poesías de AffoDso de Lamartine traduzidas por poetas brasileiros". Rio, 1869. 7 0 ) Castro Alves an Augusto Alvares Guimaräes. Sept. 67 (Bahia). Obras Completas, 1944, vol. II, p. 515.

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zeichnerischer Begabung ohnehin über ein in seiner Dichtung schon früh zum Ausdruck kommendes Beobachtungsvermögen verfügte, dessen Niederschlag in seinen Naturschilderungen kaum hinter der Fähigkeit Chateaubriands zurückstand, der Natur auch ihre verborgensten Geheimnisse vortrefflich abzulauschen. Man könnte versucht sein, Chateaubriand wegen der Assoziation an die Niagarafälle auch für manche typisch nordamerikanischen Landschaftsbezeichnungen, vor allem "savanna" 71 ', als Ursprung zu benennen. Es läßt sich aber das Gegenargument, Castro Alves habe diese Bezeichnungen direkt der nordamerikanischen Dichtung entnommen, ebenfalls nicht entkräften. Und schließlich erscheint es nicht als abwegig, darauf zu verweisen, daß in jenen Jahren der Erschließung des Middle West Ausdrücke wie "Savannah" als Anglizismen in Brasilien durchaus sprachliches Allgemeingut waren, das sich, wenn nicht durch Zeitungen, so doch sicherlich durch die nach dem Siege der Unionstaaten auswandernden Südstaatler auch in der Heimat des Sertäo Eingang verschafft hatte. Diese, an keine fremde literarische Beeinflussung gebundene Verwendung leuchtet um so eher ein, als Castro Alves in einer gewissermaßen panamerikanisch vorausahnenden Schau des Kontinentes neben seinen immer wiederkehrenden Anspielungen auf die Anden auch die Pampa in seinen Gedichten verwoben hat. Gleich Chateaubriand ist auch der Einfluß Lamartinee wiederholt geltend gemacht worden 72 ), doch ist er wohl vornehmlich für die Lyrik nachweisbar. In der Sklavendichtung treten Lamartine verwandte Elemente lediglich in Erscheinung, wo Castro Alves sich bemühte, Mensch und Natur seiner "Cachoeira de Paulo Affonso" unter der gestaltenden Kraft eines allmächtigen Willens zu einer innig verbundenen, vielfach verwobenen Einheit werden zu lassen. Auch hier zeigen sich jedoch gewisse Unterscheidungsmerkmale. Einmal liegen sie in der gesamten literarischen Entwicklung begründet. Die unter dem direkten Einfluß Lamartines entstandenen "Suspiros Poéticos" eines Domingos Magalhäes waren mit ihrem religiösen Mystizismus durch die brasilianische Romantik der nachfolgenden Jahrzehnte überwunden worden und auch die "lira comovente" des der zweiten Romantikergeneration zugerechneten Casimiro de Abreu konnte bei aller persönlicher Neigung des Autors der "Espumas" zu dem der "Primaveras" nur mehr geringen Einfluß auf die literarische Formgebung der aus völlig veränderten Bereichen stammenden Themen ausüben. Aber auch die persönliche Einstellung beider Autoren zu der Einheit von Mensch und Natur, sowie dem Verhältnis eben dieser Einheit zu dem Gottesbegriff stimmte nicht in allen Punkten überein. Zumindest in dem deskriptiven Teile der "Cachoeira" — und nur auf ihn kann sich eigentlich der Vergleich mit Lamartine erstrecken — findet sich bei Castro Alves eine Art seelischen Kausalverhältnisses zwischen Natur und Menschen, deren tiefe gegenseitige Durchdringung allenfalls für den 'Na Fonte', 1/3. Obras Completas, 1944, vol. II, p. 190. So in: "O Académico", Säo Paulo, 17-XI-1868 und durch Adhemar Ferreira Lima, "Esbôço psicológico de Castro Alves*. p. 11-15, passim.

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a u ß e n s t e h e n d e n Leser etwas Geheimnisvolles b e r g e n mag, obsehon es eigentlich unschwer möglich ist, in E r k e n n t n i s des G e s a m t a b l a u f e s des Naturgeschehens d e r T r o p e n die M e h r z a h l soldier Schleier zu l ü f t e n . So bleibt als lamartineanisch letztlich in d e r Sklavendichtung n u r die o f t innige V e r k ö r p e r u n g des Naturgeschehens durch lebende W e s e n "O incendio — leäo ruivo, ensanguentado . . ,"73), j a die P e r s o n i f i z i e r u n g d e r N a t u r schlechthin: " Iam cahindo Dos dedos do crepusc'lo os véus de sombra, Com que a terra se vela, como noiva, Para o doce hymeneu das noites límpidas . . ."74) " e o cedro tomba . . . Queimado .. . retorcendo na hecatombe os braços para Deus."76) In gleicher Weise t r e t e n uns auch die Menschen entgegen, so d a ß sie, d e r e n ästhetische W e r t m a f i s t ä b e d e r europäischen Dichtung eigentlich i m m e r f r e m d blieben, k a u m aus i h r e r U m w e l t herausgelöst w e r d e n k ö n n t e n , o h n e entscheidend a n F ä r b u n g u n d plastischem E i n d r u c k zu verlieren: "Um belo escravo da terra Cheio de viço e valor . . . Era o filho das florestas! Era o escravo lenhador!"76) Es lassen sich somit in d e r Sklavendichtung Analogien zu L a m a r t i n e n u r mit einigen E i n s c h r ä n k u n g e n aufzeigen, d e r e r die castroalvinische L y r i k nicht i m m e r b e d u r f t e , d a sie in i h r e r "exaltaçâo religiosa d a a r t e e d a natureza 7 7 ) — e t w a in "Sub t e g m i n e fagi" in g e r i n g e r e m Maße d e n Anspruch erhob, in T h e m a t i k w i e dichterischer G e s t a l t u n g spezifisch brasilianischen C h a r a k t e r zu w a h r e n . In noch s t ä r k e r e m Maße d ü r f t e sich die Beschäftigung des Dichters mit A l f r e d de Musset auf die L y r i k k o n z e n t r i e r t h a b e n . H i e r k a n n d a h e r auf eine a u s f ü h r l i c h e r e D a r s t e l l u n g verzichtet w e r d e n , wobei nochmals b e t o n t sein mag, d a ß angesichts des p a r t i e l l e n C h a r a k t e r s d e r S k l a v e n dichtung im R a h m e n des G e s a m t w e r k e s n a t u r g e m ä ß auch in d e r F r a g e literarischer Beeinflussungen k e i n Anspruch auf eine vollständige literarische Genealogie e r h o b e n w e r d e n k a n n . E i n e n u r summarische E r w ä h n u n g Mussets soll d a h e r a u d i keineswegs v e r k e n n e n , d a ß er C a s t r o Alves aller Wahrscheinlichkeit nach manchen W e g z u m Vers t ä n d n i s e t w a B y r o n s geebnet hat. U n d seine nicht sonderlich deutliche G e g e n w a r t in d e r Sklavendichtung u n s e r e s P o e t e n soll durchaus nicht d i e völlig u n g e r e c h t f e r t i g t e Anschauung beinhalten, Musset h ä t t e nicht Anteil genommen an dem Schicksale d e r Schwarzen, das — am t r a u r i g e n Beispiele von Saint D o m i n g u e hinreichend beleuchtet — a u d i in d e r französischen L i t e r a t u r s e i n e n Niederschlag f a n d . Allein, es gibt d e r 73

) Ά Queimada", V/1. "Poesías escolhidas", 1947, p. 258. "Na Margem", III. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 171. ) "A Queimada", V/4-6. "Poesías escolhidas", 1947, p. 258. "Lucas", 1/8-11. "Poesías escolhidas", 1947, p. 263-64. 77 ) Ronald de Carvalho, "Pequeña Historia da Literatura Brasileira", p. 250. 7S

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Verbindungslinien zu dem brasilianischen "Poeta dos escravos" dodi redit wenige, und sie würden für eine eingehende Betrachtung kaum die notwendigen Anhaltspunkte erkennen lassen. Im Falle Edgar Quinets hingegen erscheint es — wenn schon eine Erwähnung Jean Jacques Rousseaus bis zu einem der nachfolgenden Kapitel zurückgestellt werden muß — doch zumindest angebracht, neben dem Lyriker auch den Sklavendichter Castro Alves kurz zu streifen. Zunächst bleibt zu wiederholen, daß der "Ahasvérus" Quinets zu den größten Offenbarungen der jungen Studenten des Jahres 1866 zählte, obschon seit seinem Erscheinen über zwanzig Jahre vergangen waren. Die Wirkungen dieses Buches, das Castro Alves zumindest an die Gedanken des Goethe'schen Faust heranführte, konnten nicht ausbleiben. Trug das Werk dodi dem zutiefst Menschlichen Rechnung, in unzerstörbarem Hoffen durch alle Schatten oft ewig wähnender Nacht das Licht zu suchen. Und vielleicht erkennt man in dem Ringen um das Neue und vermeintlich Bessere auch manchen Zug nicht nur des Autoren von "Ahasvérus e o Gènio", sondern gleichermaßen des Schöpfers der Sklavendichtung. Dennoch stellen sich etwaigen Erwartungen auf weitergehende Gemeinsamkeiten dodi erhebliche Differenzen entgegen. Die Sklaven Castro Alves' sind nicht diejenigen Edgar Quinets78), wenn auch neben den in der castroalvinischen Sklavendichtung immer wiederkehrenden Verweisungen auf das klassische Altertum manche Anklänge an das Quinet'sche Spartacus-Epos mitzuschwingen scheinen: "Soltar ao vento a inspiraçâo do Graccho Envolver-se no manto de Spartaco, Dos servos entre a grei;" 7 9 )

Aber auf Schritt und Tritt läßt sich der Unterschied zwischen den 1853 im Brüsseler Exil entstandenen "Les Esclaves" Quinets und den von Castro Alves aus dem Erleben seiner eigenen Heimat gestalteten "Os Escravos" verfolgen und so auch Quinet in die Gruppe derjenigen verweisen, deren Ideen in dem schon früh dem weiten Rund der literarischen Welt sich öffnenden Talent des Dichters auf fruchtbaren Boden fielen und im ständigen Wechselspiele der Natur ihm die Kraft verdankten, um zu farbenprächtigster Blüte zu gelangen und ihrerseits wieder vielfache Frucht zu tragen. Der "Ahasvérus" Quinets ist als Mittler Goethe'scher Gedanken genannt worden. Gleichen Ruhm könnten jedoch auch der Castro Alves geläufige "Diablo Mundo" Esproncedas und in nicht geringerem Maße der Byronsche "Manfred" für sich in Anspruch nehmen. Auch die Möglichkeit der Lektüre einer französischen Faust-Übertragung soll nicht von der Hand gewiesen werden, wenngleich es scheinen will, als ob die zahlreichen Hinweise auf Goethe und seinen "Faust" — die sich wiederum mehr in der Lyrik als der Epik unseres Dichters finden — gerade wegen ihrer oft zu vermissenden Prägnanz der Formulierung eher aus einer Allgemeinkenntnis als aus tatsächlicher Lektüre stammten, was bei der 78 )

Constancio Alves, "Figuras", p. 81. 70) 'Estrofes do Solitàrio", X/l-3. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 115.

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Universalität des Goethischen Gedankengutes nicht zu v e r w u n d e r n wäre. In sichtbarem Gegensatz dazu steht jedoch Heinrich Heine. Er wird in dem castroalvinischen W e r k e zwar bei weitem nicht so h ä u f i g zitiert wie Hugo, Byron oder Musset u n d Lamartine, scheint jedoch nicht n u r in den Augen Joaquim Nabueos einer der geschätztesten Dichter der damaligen Studentengeneration gewesen zu sein. Rein äußerlich muß auffallen, daß Castro Alves bei der sonst so deutlichen Bevorzugung französischer Dichter beiden W e r k e n seiner Sklavendichtung ein Motto Heines vorangestellt hat. Es mag zwar eingewandt werden, daß auch Heine ihm j a in französischer Sprache begegnete, doch zeigt gerade das Beispiel Heinrich Heines, wie sehr die Sprache letztlich die Rolle eines Mittlers zu erfüllen vermag. Aus den beiden Zitaten — zu denen sich noch aus O s Escravos" das Epigraph aus Heines "De l'Allemagne" gesellt — spricht die gleiche Unrast und eine Anteilnahme an den sozialen Problemen der Zeit, die sich allenfalls eben in diesen Problemen unterscheidet, nicht aber in der Aufrichtigkeit und Entschlossenheit, mit der beide Dichter ihre soziale Mission zu erfüllen bestrebt sind. Die Poesie ist beiden "un moyen consacré pour un b u t saint" und Castro Alves f ü h l t e sich Heine zutiefst v e r b u n d e n in der Gemeinsamkeit "d'un b r a v e soldat dans la g u e r r e de délivrance de l'humanité". Und doch bestehen auch in der Zielsetzung der von beiden Dichtern aufgegriffenen sozialen Revolution erhebliche Unterschiede. Heine erblickte die Lösung in einer neuen Gesellschaftsordnung, die unter deutlichem Anklang an den ihm v e r t r a u t e n Karl M a r x einer neuen und gerechteren Verteilung der materiellen Lebensbedürfnisse zur Durchf ü h r u n g verhelfen sollte, w ä h r e n d es bei Castro Alves j a bereits betont wurde, daß er unter bewußtem Verzicht auf die Gestaltung materieller oder wirtschaftlicher Aspekte einzig das menschliche Moment in seiner Sozialdichtung gelten ließ. Dieser offenkundige Gegensatz mußte n a t ü r lich vor allem dort deutlich werden, wo sich beide Dichter mit stofflich v e r w a n d t e n Themen auseinandersetzten. Und es wird bei der gesonderten Behandlung d e r "Tragèdia no Mar" noch einiges zum Vergleich dieses Gedichtes mit dem "Sklavenschiff" Heines zu sagen bleiben, zumal wiederholt auf einen gewissen Gleichklang beider Gedichte verwiesen worden ist, ohne daß die dazu notwendigen vergleichenden Betrachtungen in j e d e m Falle b e k a n n t geworden w ä r e n . Nicht ausgeschlossen erscheint f e r n e r die Möglichkeit, daß Heine unseren Dichter auch zu einer eingehenderen Beschäftigung mit Byron angeregt hat. D i e Heine'schen Übertragungen aus dem "Child Harold" d ü r f e n als b e k a n n t angesehen werden, und bei dem nicht einwandfrei zu k l ä r e n d e n G r a d e der Vertrautheit unseres Dichters mit der englischen Sprache ist die Möglichkeit nicht von d e r H a n d zu weisen, daß Castro Alves nicht n u r durch Musset oder Espronceda, sondern eben auch durch Heine in Byron eines seiner maßgeblichen romantischen Vorbilder schätzen lernte. Es t r i f f t allerdings auch im Falle Byrons w i e d e r u m zu, daß sein Einfluß in der Sklavendichtung nicht so sichtbar erscheint wie in dem restlichen 92

Werk unseres Dichters, wo es ihn zu Übersetzungen oder Nachdichtungen angeregt hat und manches — selbst der autobiographischen Gedichte — deutliche Züge eines Byronismus trägt, der in Brasilien seinen stärksten Widerhall in der Lyrik Varellas und Alvares de Azevedos gefunden hat. Dennoch ist Byron für die Sklavendidtitung keineswegs bedeutungslos geblieben. Einmal läfit sie sich nicht in dem Maße aus dem Gesamtwerk heraustrennen, dafi die dort wirksamen Kräfte nicht auch in der Sklavendichtung noch aufgespürt werden könnten. Zum anderen aber tritt uns in Byron j a gerade einer der ersten Romantiker entgegen, der mit Nachdruck die Forderung auf Freiheit vertritt und dieses Ideal nicht nur in seiner Dichtung gestaltet, sondern auch zum Leitgedanken seines eigenen, ruhelosen Lebens werden läßt. Besonders das stark gefühlsbetonte Moment in seinen Versen mochte ihm in Brasilien rasch Eingang verschafft haben, doch finden sich bei Castro Alves durchaus auch andere Byronsche Züge als die des von einem Abenteuer zum nächsten eilenden Don Juan. Und es ist keinem Zufall zuzuschreiben, daß Castro Alves die Überwindung des persönlichen Lebensanspruches gerade durdi Byron gelang, wenn auch die Freiheit nicht im wörtlichen Sinne die letzte, sondern eher die tiefste Liebe seines Daseins entfachte80). Dabei scheinen castroalvinisdie Assoziationen an Byron stets von einer gewissen Tragik überschattet zu sein, die bereits aus der Übersetzung der "Darkness" spricht: " E nas trevas E r a só trevas o universo inteiro" 8 1 ),

wo Castro Alves in der portugiesischen Fassung den bereits im Original von Sir Walter Scott so bedrückend empfundenen Mangel an jedem Hoffen nach Erlösung verstärkt und so wahrlich "a mass of powerful ideas unarranged . . . a succession of terrible images" 82 ) vor uns ausbreitet. Deutlich wird auch eine tragische Note in jenen Gedichten zu spüren sein, in denen Castro Alves den Tod Byrons in Griechenland vor Augen hat: "A Grècia espera chorando C a n a r i s . . . Byron talvez! . . ." 8 3 )

Und nicht selten nennt er seine Heimat ein neues Griechenland, das für ihn vornehmlich mit Byron assoziiert wird: * A nova G r è c i a quer um Byron novo . . . D e u s acompanhe o peregrino audaz". 8 4 )

In der Sklavendichtung aber erfolgt dann eine Überlagerung dieser Elemente durch den Ruf nach Freiheit für die Schwarzen. Die Abolitionisten werden zu Brüdern Byrons, die soziale tritt an die Seite der politischen, die menschliche an die Seite der nationalen Freiheit. so) «) 82) 03) e«)

* o derradeiro amor de Byron", 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 150-52. "As Trevas", VII. "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 190. "Byron's Works", London 1837, Murray. Vol. VIII, p. 171 (3). "O Século", VI/3-4. "Poesías escolhidas", 1947, p. 297. "A Maciel Pinheiro", V/7-8. "Obras Completas", 1944, vol. I, p. 86. 93

Und erst ihre Gewährung kann das Werk vollenden und der Welt eine neue glückliche Nation schenken: "No emtanto fora belo nesta idade Desfraldar o estandarte da igualdade, De Byron ser irmäo . . . E prodigo — a esta Grecia brasileira Legar no testamento — urna bandeira, E ao mundo — urna naçâo".85)

Das Ringen um die nationale Freiheit kennzeichnete vielfach den stofflichen Gehalt der Romantik, und es wurde bereits angedeutet, wie sehr sie sich in Brasilien bemühte, nicht durch thematische Mißgriffe zu Konzessionen an das alte portugiesische Mutterland gezwungen zu sein. So nimmt es nicht wunder, daß Castro Alves kaum Bindungen zur portugiesischen Literatur erkennen läßt, obschon er die Entwicklung der europäischen Romantik in ihrer gerade am Beispiele Portugals sichtbaren Wandlungsfähigkeit aufmerksam verfolgte. Agripino Grieco hat in seinen kritischen Untersuchungen über die brasilianische Poesie gewisse Beziehungen zu Tomás Ribeiro angedeutet8®'. Seine Zugehörigkeit zur Schule des portugiesischen Ultra-romantismo mochte für einige Parallelen zu der zeitlich etwa zwei Jahrzehnte später beginnenden condoristischen Spätromantik Brasiliens sprechen. Sie bezieht sich aber weitaus eher auf äußerliche Momente, wie Yersform und eine bei erstaunlicher Musikalität überreiche Vielfalt der verwandten Metaphern, als auf die hinter dem gewiß eindrucksvollen Bilde erwarteten Ideen. Hier galt für Tomás Ribeiro in besonderem Maße das Wort seines Vorgängers Joäo de Lemos: "Ao poeta pergunta-se como canta, nâo se pergunta o que canta". Mochte diese Forderung aber auch als ungeschriebenes Motto dem "Trovador'-Kreise dienlich sein, so ist doch ohne weitere Mühe ersichtlich, daß sie für den sorgfältig Thema und dichterische Formgebung gegeneinander abwägenden Autor der brasilianischen Sklavendichtung kaum Berechtigung zu erlangen vermochte. Natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß beide Dichter verwandte Themen gestalteten. Die sowohl Ribeiro als auch Castro Alves87) eigene Art der Umschau im Europa ihres Jahrhunderts aber weist eigentlich nur in der objektiven Sicht eine gewisse Gemeinsamkeit auf, indem etwa beide Dichter Polen und Ungarn behandelten. Die Art und Weise jedoch, in der die dichterische Gestaltung erfolgt, ist derart verschieden, daß man kaum von mehr als einer thematischen Analogie sprechen kann, wie sie letztlich auch zwischen Castro Alves und dem rumänischen Freiheitsdichter Mihail Eminescu bestehen könnte 88 '. Und selbst dort, wo der portugiesische Romantiker das Problem der Sklaverei aufgreift, vermag er sich alienes) 'Estrofes do Solitàrio', IX. "Obras Completas', 1944, vol. II, p. 115. ββ ) Agrippino Grieco, "Evoluçâo da poesia brasileira". Audi Hernani Cidade nennt beide Namen in engem Zusammenhange, so in: Ό Conceito da poesia como expressäo da cultura. Sua evoluçâo através das literaturas portuguêsa e brasileira". Coimbra, 1945, p. 225. β») "O Século*. 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 23. 88 ) Victor Buescu, "Analogías temáticas nos románticos brasileiros e romenos", p. 118 in: "Brasilia", Coimbra, 1949, vol. IV, p. 85-118.

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falls zu einer wohlwollenden Geste gegenüber dem brasilianischen Abolitionismus durchzuringen, ohne auch nur im entferntesten die Tiefe jenes menschlichen Mitleides zu spüren, das Castro Alves vor allem auszeichnet. Entschieden aufschlußreicher würde bereits ein Vergleich mit dem nur wenig älteren Portuenser Antonio A. Soares de Passos ausfallen. Schon im äußeren Lebensablauf glich er Castro Alves weitaus eher als Tomás Ribeiro, indem auch er bereits im frühen Alter von 34 Jahren durch eine Tuberkulose dahingerafft wurde, ohne allerdings jener illusionsreichen Frühreife teilhaftig zu werden, mit welcher die Natur in Brasilien die zu frühem Tode Bestimmten oftmals zu entschädigen vermeinte. Dennoch steigerte sich bei ihm die den Tuberkulosekranken eigene hektische Lebensangst bis zu einem Grade, daß seine Dichtung mit ihrem exaltierten Subjektivismus Castro Alves in der Darstellung der "perversäo dos homeiis, crueza da vida e ansia da morte" noch in den Schatten stellte. Seine freiheitlichen Gedichte erscheinen verzerrt, so daß die "Liberdade" kaum noch als wirklich aller Opfer würdiges Ideal erscheint, wie solches bei Castro Alves der Fall ist. Und nur dort, wo er das irdische Dasein verläßt, um — wie etwa im "Firmamento" — im sternenübersäten All seiner kranken Seele neue Welten zu erschließen und völlig in der schöpferischen Allmacht Gottes aufzugehen, erreicht er seine dichterische Vollendung, die Alexandre Herculano bewogen haben modite, ihn zu den talentiertesten Lyrikern der portugiesischen Romantik zu rechnen. In seinen nach Umfang und Zielsetzung weitaus bescheideneren Sklavengedichten bricht jedoch wieder jene lebensverneinende Angst durch, die seine Sklaven zu Schatten ihrer selbst werden läßt. Sein Gegenstück zur castroalvinischen "Cançâo do Africano" ist nur Klage, blinde Verzweiflung, die nichts mehr erkennen läßt von der majestätischen Weite und Erhabenheit der afrikanischen Heimat der Schwarzen. Und in seinem "O Escravo" ist das bei Castro Alves immer nur sehr behutsam anklingende Moment der "vingança" derart angeschwollen, daß andere Aspekte, wie sie etwa in der "Cachoeira de Paulo Affonso" so zahlreich in den Gesichtskreis treten, davon erdrückt zu werden drohen. Dabei erreicht — was bei der Zusammendrängung in einem einzigen Gedicht von allerdings dramatischer Spannung nicht verwundert — der Dichter auch in den einzelnen Bildern keineswegs die Tiefe der verarbeiteten Gedanken, wie sie etwa die "Tragedia no Mar" bei Castro Alves kennzeichnet. Und es kann wahrlich für den Passos'schen Sklaven keinen anderen Ausweg aus dieser Tragödie geben, als den des rächenden Mordes und eigenen Freitodes. Gewiß, auch in der "Cachoeira de Paulo Affonso" vernehmen wir das gleiche Flehen nach dem Namen dessen, an dem Lucas die Unschuld seiner Maria zu rächen verlangt. Und audi hier endet das Gedicht mit dem vermutlichen Tode der beiden Liebenden. Aber das Element der Rache erweist sich gegenüber der Liebe als schwächer und die "canòa phantastica" trägt die beiden Liebenden, denen irdische Erfüllung versagt blieb, über den Rand der Cachoeira hinaus in die Ewigkeit. Für Soares de Passos ist der Freitod des Sklaven die logische Folge 95

der Rache an dem Mörder seines Vaters und darüber hinaus das Ende eines niditswürdigen Daseins in Ketten. An der "Beira do abysmo e do Infinito" hingegen steht der christliche Erlösungsgedanke. Er überwindet in den von verklärter Liebe getragenen Worten Marias die Todesangst ihres Lucas und, indem er sich der nächtlichen Natur mitteilt und das Donnern der Cachoeira zum Vaterunser himmlischer Orgeln anschwellen läßt, sinken die Sterne hernieder, um die Liebenden eintreten zu lassen in ein neues, lichterfülltes Leben. Die Vergleiche zwischen der Sklavendichtung bei Castro Alves und den entsprechenden Schöpfungen portugiesischer Romantiker wie Tomás Ribeiro und Antonio Soares de Passos haben offensichtlich zu der Erkenntnis geführt, daß es sich hier mehr um Analogien thematischer Art als um Fragen der Beeinflussung handelt. Ebenso abwegig erscheint es, das Verhältnis zu anderen portugiesischen Dichtern unter dem letztgenannten Aspekt zu betrachten, nur weil Castro Alves hier und dort eine auch bei ihnen auftretende Reimtechnik verwandte oder analoge Gedankengänge in das Gewand ähnlichen sprachlichen Ausdruckes kleidete. Es liegt auf der Hand, dafi Camöes unseren Dichter durch die Lektüre der "Lusiadas" in mannigfaltiger Weise anregte und es bedarf für die Erkenntnis seines eher allgemein literarischen als irgendwie spezifischen Einflusses eigentlich nicht mehr des Hinweises, dafi ihm Castro Alves durch die häufige Verwendung der "oitavas camoneanas" in der Sklavendichtung89) ein Denkmal setzte. Schließlich bleibt noch ein letztes Wort über das Verhältnis unseres Dichters zur spanischen Romantik zu sagen. Ausgehend von der teils spanischen Abstammung der Mutter Clélia Brasilia hat Lopes Rodrigues ein ganzes Kapitel seiner umfangreichen Castro-Alves-Studien dieser Frage gewidmet"®) und auch in anderen Darstellungen fehlt es nicht an Hinweisen auf spanische Romantiker. An erster Stelle ist dabei José de Espronceda y Delgado zu erwähnen. In seinem äußeren Lebensablauf mag sich der spanische Dichter von Castro Alves wesentlich unterscheiden. Die Wurzeln seines von rastlosem Suchen, von einer erschreckenden Unbeständigkeit und allzu früher Vollendung gekennzeichneten Daseins aber zeigen oftmals eine überraschende Ähnlichkeit mit den Grundlinien im Leben des brasilianischen Spätromantikers. Mag bei Espronceda das Hauptmoment seiner Auflehnung gegen die ihn umgebende Welt politischen Charakters gewesen sein, so entsprach ihm Castro Alves in der sozialen Mission seiner Sklavendichtung. In beiden Dichtern entluden sich die elementaren Spannungen eines sie zutiefst erschütternden Konfliktes: den Menschen ihrer Zeit Wege zu einer besseren Welt aufzuzeigen und sich gleichzeitig damit abfinden zu 89 ) Die 'oitava camoneana" mit dem Reimsdiema "a-b-a-b-a-b-c-c" tritt bei folgenden Gedichten auf: 1) "Tragèdia no Mar". Teil 6 — (3 Endstrophen). 2) 'Adeus, meu canto". Teil 3, I-VI. 3) 'A Tarde". _ 4) "Desespero". V-X. 5) Ό Sâo Francisco". 6) "A Cachoeira". »») Η. Lopes Rodrigues, "Castro Alves", pp. 551-609.

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müssen, trotz momentaner Begeisterung im Grunde kaum Verständnis gefunden zu haben. Das mag zum Teil die beiden Autoren eigene Sprengung jeder herkömmlichen Bindung an die Form erklären, wenn sie versuchten, in einem eruptiven Aufbegehren von erregender Musikalität Erlösung zu finden aus der Wirrnis menschlichen Ringens, Irrens und Sehnens. Die Vielschichtigkeit der von Espronceda gestalteten Probleme hat dabei Castro Alves am stärksten angesprochen. Ihr eindrucksvollstes Zeugnis — überzeugend vielleicht gerade durch den frühen Sieg des Todes über den η adi einer harmonischen Lösung strebenden Dichter — überlieferte uns Espronceda in seinem "Diablo Mundo". Und es kann kaum überraschen, dafi sich Castro Alves gerade diesem Gedichte am innigsten verbunden fühlte, das so zahlreiche Gedankengänge aufwies, die ihm als eine Synthese seines eigenen dichterischen Werkes erscheinen mußten91'. Man mag einwenden, dafi der Name Esproncedas im castroalvinischen Werke kaum einen deutlichen Nachklang gefunden habe. Das aber bewiese nur einmal mehr, wie irrig es bleiben muß, allein aus auffindbaren Zitaten, epigraphischen Fragmenten oder Zueignungen statistisch die Intensität der Durchdringung eines anderen Dichters ermitteln zu wollen. Die Übertragungen Hugo'sdier Gedichte sind weitaus zahlreicher, dennoch findet sich keines unter ihnen, das in seiner Anlage, in der Tiefe der darin verarbeiteten philosophischen Gedanken oder auch nur seinem äußeren Umfange nach etwa dem "Diablo Mundo" Esproncedas vergleichbar wäre. So übertrifft der von Castro Alves einzig übertragene "Pròlogo" zum "Diablo Mundo" in jeder Weise die "longa, imperfeita e fastidiosa poesia" "A Olympio" 92 ), deren französisches Original in seinem literarischen Wert gleichermaßen umstritten blieb wie die castroalvinische Übertragung. Für die Sklavendichtung mag Castro Alves der "Diablo Mundo" Esproncedas nodi insofern als Spiegel seines eigenen Werkes erschienen sein, als auch der spanische Romantiker in einer seinem brasilianischen Bewunderer zur Mission seines Schaffens gewordenen Weise das Ende der Sklaverei mit dem festlichen Anbruch einer Epoche des Friedens und der Freiheit zu verbinden wußte. In ihm fand Castro Alves die gleidie Ablehnung einer in Brasilien weithin verbreiteten Einstellung, die Sklaverei sich selbst zu überlassen und ihr nicht anders als durch das Aussterben der letzten Sklaven ein allmähliches Ende zu setzen. Gleich Espronceda setzte sich auch Castro Alves für ein aktives Eingreifen, für eine schlagartige Abolition ein. Und gleich dem Spanier hoffte auch er, daß mit einer solchen Erlösung der schwarzen Rasse der ziellos umherirrenden Menschheit ein neuer Daseinssinn gegeben, ihrem Streben nach Vollkommenheit die vielleicht zum wahren Menschentum weisende Richtung aufgezeigt werden könnte, wenn er die von einem B1 ) Castro Alves übersetzte den Prolog zum "Diablo Mundo* erst wenige Wochen vor seinem Tode. Die uns vorliegende Fassung datiert vom 20. Februar 1871. 02) O. C. 1944, vol. I, pp. 312-325.

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beinahe faustischen D r a n g e nach schöpferischer Betätigung erfüllten Yerse Esproncedas in die portugiesische Sprache ü b e r t r u g : "Darei firn ao cativeiro, Terei paz e liberdade, Abrirei novo roteiro A vagabunda, errante humanidade!"93) So r u n d e t sich das Bild der Begegnungen unseres Dichters mit der europäischen Literatur. Und wenn die vorliegenden Seiten auch ihren fragmentarischen C h a r a k t e r nicht verleugnen können, wenn sie Namen wie D a n t e u n d Shakespeare vermissen lassen und andere n u r mit k n a p p e r E r w ä h n u n g bedachten, so w i r d doch deutlich, wie s t a r k die europäische Romantik als die "revoluçâo francesa das letras" in ihren Ideen und zuweilen auch ihrer F o r m das W e r k des brasilianischen Sklavendichters bereicherte. Am eindrucksvollsten wird dieser Beitrag von Hugo, Heine und Lord Byron geleistet worden sein. Selbst sie aber haben nicht vermocht, einen dominierenden Einflufi auf Castro Alves auszuüben, dem jedes eigene oder auch autonom brasilianische Element unterlegen w ä r e . Es hat vielmehr den Anschein, als h a b e sich jenseits aller thematischen Analogien und der gesamten Romantik eigenen Ausdrucksformen hier zum ersten Male in der brasilianischen L i t e r a t u r eine edite Synthese aus europäischem u n d amerikanischem Geist vollzogen, indem aus beiden Quellen diejenigen Elemente zu einem Ganzen verschmolzen wurden, die einer der brasilianischen Volksseele weitgehend homogenen Dichtung dienlich zu sein versprachen. O h n e einem Mundonovismo das W o r t reden zu wollen, erscheint es bei der obigen These ü b e r die Wurzeln der castroalvinischen Sklavendichtung dann aber auch notwendig, u n t e r amerikanischem Geistesgut nicht n u r die ibero-amerikanische Welt zu betrachten, sondern auch der nordamerikanischen Sklavenliteratur einige A u f m e r k s a m k e i t zu widmen. I h r e n sichtbarsten Niederschlag fanden die "Anti-Slavery sentiments" 04 ) der nordamerikanischen L i t e r a t u r zweifellos in H a r r i e t Beecher-Stowes "Uncle Toms Cabin". Inhalt und Zielsetzung dieses W e r k e s d ü r f e n als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden, um hier auf eine n ä h e r e Darstellung verzichten zu können. Die W i r k u n g griff rasch ü b e r den literarischen Bereich hinaus und beeinflufite fortan audi die politisdie Entwicklung des Sklavenkonfliktes in nicht geringem Maße. Zu viele nordamerikanisdie Q u a k e r f a m i l i e n erblickten in Elisa H a r r i s j e n e zahllosen Negerinnen, denen sie selbst auf d e r Flucht über die "underground railroad" Obdach und Schutz gewährt hatten. Und nicht wenige von ihnen vermeinten a u d i zu sehr sich selbst in Simeon u n d Radiel H a l l y d a y wiederzu erkennen, als daß sie das Buch lediglich u n t e r dem Gesichtspunkt seines ohnehin umstrittenen literarisch-ästhetischen »3) 'Diablo Mundo", O. C. 1944, vol. I, p. 417. e4 ) Vgl. hierzu: Lorenzo Dow Turner, "Anti-Slavery Sentiment in American Literature prior to 1865", abgedruckt in "The Journal of Negro History", vol. XIV, Ν. 4, 1929, pp. 371-492.

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Wertes betrachtet hätten95'. Mit einer ungeheuren Auflage wurde das Land überschwemmt9®) und so die Sklaverei zur verdammungswürdigsten Sünde wider die göttliche Schöpfung gestempelt. Es konnte nicht ausbleiben, daß weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten das Echo dieser Bibel des Abolitionismus hinausdrang. Bereits 1852 verzeichnete Paris die ersten französischen Ausgaben97' und ebenfalls in England und Deutschland68' fand das Buch weiteste Verbreitung. Es konnte also nicht überraschen, daß auch in Brasilien dem Roman eine weitestgehende Verbreitung sicher war, zumal die mit dem "Fugitive Slave Law" verbundenen Grausamkeiten nach Einstellung des Sklavenhandels im Jahre 1850 auch hier in beunruhigendem Maße zunahmen. Bereits kurz nach Erscheinen des Buches begegnete man in der brasilianischen Presse dem Namen seiner Verfasserin und schon 1853 erschien in Paris die erste Ausgabe in portugiesischer Sprache99'. In der Folgezeit fanden sich immer wieder Teilstücke aus der "Cabana do Pai Tomás" abgedruckt, während es um die Aufführung der dramatischen Bearbeitung des Stoffes zum Einschreiten der Polizei in Säo Paulo kam10®' und die ersten brasilianischen Nachdichtungen — nicht selten durch Erlebnisse aus der eigenen Sklaverei beträchtlich ausgeschmückt — wie Pilze aus dem Boden sprossen1®1'. So konnte es nicht verwundern, daß Castro Alves mit dem Werk eingehend vertraut war, und es finden sich in der Tat zahlreiche thematische Analogien von der erniedrigenden Schmach, als Sklave gleich einer Ware verkauft zu werden, über die vielfältigen Stationen menschlichen Leides bis zu dem unerfüllbaren Sehnen nach der fernen Heimat1®2'. Andererseits bestehen jedoch auch erhebliche Unterschiede. Sie treten vor allem dort auf, wo es um die Heraushebung der Anklage gegen die Sklaverei über das Einzelschicksal geht. Hier zeigt sich bei Castro Alves neben dem bereits individuell in den Schlußversen der "Cachoeira" gestalteten christlichen Erlösungsgedanken allgemein auf weitaus höherer Ebene die Auseinandersetzung mit Gott, der untätig diesem °5) Für die politischen Konflikte um "Uncle Tom's Cabin' vgl. Thomas Edwin Drake, "Quakers and Slavery in America", p. 184. John Hope Franklin, "From Slavery to Freedom", pp. 262/3. ββ ) John Hope Franklin (loc. cit.) und Lorenzo Dow Turner (op. cit. p. 443) sprechen von über 300 000 Exemplaren im ersten J a h r e des Erscheinens. 97 ) a) "La Cabane de l'oncle Tom", par Mrs. Harriett Beecher Stowe, traduction de MM. L.(éon) de Wailly et Ed(mond) Texier, Paris, 1852. Bureau du siècle -, in-8°, 142 pp. b) "La Case de l'oncle Tom" (Signé: Harriett Beecher Stowe. Traduction de M. Léon Pilatte). Nantes (1852), Imprimerie de Mme. V. Mangin, 152 pp. Im J a h r e 1853 sind zahlreiche weitere Übersetzungen in die französische Sprache erschienen, darunter eine weitere von den unter a) Genannten: "La Case de l'oncle Tom". Traduction de Léon de Wailly et Edmond Texier. Paris, 1853. Hiervon verfertigte später Feliciano Tavares eine portugiesische Fassung, die mit der Zuspitzung des Sklavenkonfliktes 1881 in Rio de Janeiro (bei A. A. de Coutinho) erschien. ββ ) Vgl. hierzu E. Maclean Grace, "Uncle Tom's Cabin in Germany", New York, 1910; James F. Rhodes, 'History of the United States", vol. I, pp. 278-285¡ Florine Th. McCray, "The Life and Work of the Author of 'Uncle Tom's Cabin", in: "America Germanica", vol. X, pp. 105-123. 9β ) Francisco L. d'Andrada, "A cabana do pai Thomaz", Paris, 1853, 2 vols, loo) v g l . Dornas Filho, "A escravidâo no Brasil", p. 185. ιοί) José Maria dos Santos, "Os republicanos paulistas e a aboliçâo", p. 24. 10!! ) J a h r e später veröffentlichte noch sein Paulistaner Studienfreund Antonio Bento de Souza e Castro eine portugiesische Übertragung in der "Redempçâo". V

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Verbrechen zuschaut. Beedier Stowe f ü h r t diese Auseinandersetzung auf der Ebene des Menschen durdi, sie greift die Geistlichkeit an. Bei Castro Alves ist es die gesamte hamitische Rasse, die sich in einem kontinental dimensionierten Aufschrei Gehör zu verschaffen sucht. Es besteht kein Zweifel d a r ü b e r , dafi Castro Alves f ü r die Verfasserin des amerikanischen Sklavenromans eine aufrichtige Hochachtung empfand. Vor allem m a g er in H a r r i e t t Elizabeth Beecher-Stowe ein Vorbild f ü r die ihm vorschwebende Mission des sozialbewufiten Dichters erblickt haben. Es w ä r e jedoch abwegig, d a r a u s auf eine direkte Beeinflussung des castroalvinischen W e r k e s schließen zu wollen, wie es gleichermaßen unsinnig zu sein scheint, zu enge Parallelen zwischen nordamerikanischem und brasilianischem Verhältnis von Sklaverei zu L i t e r a t u r ziehen zu wollen. Man k a n n schließlich Castro Alves nicht mit den W o r t e n eines Belarmino Barreto das Anrecht auf den Titel eines "poeta abolicionista" absprechen, einzig weil er keinen Roman in der A r t von "Uncle Tom's Cabin" geschrieben habe! Es d ü r f t e doch wohl eher in der Weise zu argumentieren sein, daß bei allem zeitbedingten Erfolg des nordamerikanischen Sklavenromans die dem brasilianischen Empfinden weitaus näherliegende A r t doch in der melodischen, selbst in E x t r e m e n noch unvermittelter ansprechenden Poesie zu suchen war, mit welcher Castro Alves das Thema auf eine entschieden brasilianischere A r t zu gestalten wußte. Es k a n n dabei keineswegs die Absicht bestehen, das eine gegen das andere W e r k abzuwägen 1 0 3 '. Beide stellen innerhalb i h r e r literarischen G a t t u n g e n zweifellos einen der bedeutendsten Beit r ä g e der Neuen Welt zur Sozialliteratur dar. Doch auch in der Poesie selbst lassen sich einige Analogien aufzeigen. In erster Linie w i r d dabei an John Greenleaf Whittier, an H e n r y Wadsworth Longfellow und an Walt Whitman zu denken sein. W h i t m a n k a n n dabei jedoch k a u m als bewußter und noch viel weniger als militanter Abolitionist angesprochen werden, da f ü r ihn die Abolition lediglich eine Phase in dem ihn weitaus s t ä r k e r erfüllenden Ringen u m die Verwirklichung seines demokratischen Idealbildes der Vereinigten Staaten darstellte 1 0 4 '. W e n n man im Sinne der bereits f r ü h e r aufgezeigten "Begegnung" in Castro Alves etwas von Whitman zu suchen gedächte, so w ü r d e man sich zweifellos f r u c h t b a r e r e r Ergebnisse versichern, sofern man das "Preface" aus der ersten Ausgabe der "Leaves of Grass" mit der Auffassung eines Castro Alves vom Wesen des Dichters vergleichen w ü r d e . Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Castro Alves mit den Whitman'schen G e d a n k e n v e r t r a u t war, doch d ü r f t e n sie d a n n k a u m einen andersgearteten Einfluß auf ihn ausgeübt haben als es das Hugo'sche P r é f a c e zum "Cromwell" vermocht hatte. Und wenn m a n gelegentlich glaubte, Anklänge an die Epik unseres 103) vgi_ Georges Le Gentil, "Le Cinquantenaire de Castro Alves", in: "Revue de l'Amerique Latine", no. 3, mars 1922, p. 196. Ders., "Castro Alves e a literatura universal", in: "Revista da Academia Brasileira de Letras", no. 22, abril-junho de 1922, p. 252. Medeiros e Albuquerque, "Evoluçâo literaria do Brasil", in: "Rev. da Acad. Bras, de Letras", no. 23/4, p. 25. 104 ) Samuel Putnam, "Marvelous Journey", p. 128, Spiller et al., "Literary History of the United States", vol. I, Chapter 29, 34, passim.

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Dichters in Whitman's "By the Blue Ontario's Shore" feststellen zu können106), so handelt es sich doch letzlich um nichts anderes als das gleiche "Preface", "afterwards desintegrated and worked into the poetrv of 'By Blue Ontario's Shore'" 106 ). Henry Wadsworth Longfellow verdanken wir nur eine bescheidene Reihe von abolitionistischen Gedichten, die er im Jahre 1842 unter dem Titel "Poems on Slavery" veröffentlichte. Bei der für damalige Verhältnisse erstaunlichen Verbreitung, die Longfellow auch in Brasilien fand, wäre es nidit ausgeschlossen, daß selbst diese Sammlung von acht Gedichten bekannt war, wenngleich brasilianische Übersetzungen derselben für die Zeit des Castro Alves nicht aufgefunden werden konnten. Longfellows Sklavendichtung erinnert in manchen Gedanken an Castro Alves: So enthält "The Slave's Dream" Elemente, die wir audi im "Cançâo do Africano" verfolgen können, während etwa "The Slave in the dismal swamp" die von Castro Alves so meisterhaft verwandte antithetische Darstellung der Natur erkennen läßt. In "The Quadroon Girl" spüren wir die gleiche "voice of nature", die sich zuweilen in der "Cachoeira de Paulo Affonso" gegen die Versklavung des eigenen Blutes auflehnt, und das Schlußgedicht "The Warning" zeichnet eine ähnlich apokalyptische Vision wie die der "Estrofes do Solitàrio". Eine eingehende Untersuchung über Vergleichsmöglichkeiten würde eine gesonderte Behandlung erfordern, doch sei wenigstens in knappen Zügen audi das Wesentliche der Unterscheidungsmerkmale hervorgehoben. Es fehlt bei Longfellow die eingehende Naturbeschreibung, die gerade der castroalvinisdien Sklavendichtung ein so überzeugendes Lokalkolorit verleihen sollte. Mit Ausnahme des Gedichts von einem — übrigens bei Castro Alves nur selten vorkommenden — flüchtigen Sklaven findet sich kaum ein Merkmal, das eine geographische Zuordnung der nordamerikanischen Dichtung gestatten würde. Wesentlichstes Moment dafür mag der Umstand sein, daß Longfellow die Gedidite wohl während seiner Atlantiküberquerun g konzipierte, ihm also etwaige Assoziationen an die heimatliche Landschaft ohnehin ferner lagen. Seine "Witnesses" entbehren nicht eines morbiden Zuges, der bei Castro Alves trotz eindringlichster Darstellung der Details in der "Tragèdia no Mar" kaum hervortritt. Und Longfellows Sklavendiditung ist nicht nur weniger einheitlich lokalisierbar, sondern auch in ihren einzelnen Inspirationen — wie etwa dem nächtlichen Sklavenliede oder "The Good Part" — sehr viel stärker von der Personifizierung des Erlösungsgedankens in einer Verheißung des Messias gekennzeichnet, die Castro Alves gleich der Innigkeit der Longfellow'schen Bindung an das Alttestamentliche vermissen läßt. Wesentlich umfangreicher ist John Greenleaf Whittiers Beitrag zur nordamerikanischen Sklavendichtung gewesen. Und im Gegensatz zu Longfellow will es sdieinen, als habe sie auch in bedeutenderem Ausmaße zur Festigung seines literarischen Ruhmes beigetragen. Dennoch I 0 B ) Carlos Maul, Ά Brasilidade de Castro Alves" (Prefácio à ediçâo. . . pela Biblioteca Militar), 1948 (?). io») Spiller et al., "Literary History of the United States", vol. I, p. 495.

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ist man versucht, ihr in manchen Fällen den Charakter eines literarischen Kunstwerkes im herkömmlichen Sinne abzusprechen, obschon ihr zuweilen eine fast biblische Gewalt des Wortes eigen ist. Zu häufig aber läfit sich die unmittelbare Bindung an ein historisch nachweisbares Ereignis erkennen, als daß der Eindruck übersehen werden könnte, es handele sich hier um Reaktionen eines wortgewaltigen und dichterisch talentierten Abolitionisten auf gewisse, ihm mit der christlichen Nächstenliebe unvereinbar scheinende Vorkommnisse. Es gibt in der nordamerikanischen Literatur kaum eine schärfere Verurteilung der Sklavenjagd als in Whittiers "A Sabbath Scene" oder auf noch eindrucksvollere Weise in "Massachusetts to Virginia": "But f o r u s a n d For freedom and N o s l a v e - h u n t in N o f e t t e r s in t h e

for our children, the v o w which w e have given, h u m a n i t y is r e g i s t e r e d in h e a v e n ; our borders! — no pirate on our strand! B a y - S t a t e , n o s l a v e u p o n o u r land!" 1 0 7 )

Neben einer gewissen chronologischen Analogie107») lassen sich auch einige thematische Vergleiche zwischen der Dichtung Whittiers und der eines Castro Alves ziehen. Beide rufen die Allmacht an, die Sklaverei zu enden. Bei Whittier aber bleibt es ein Flehen, eine in ihrer Passivität nur um so erschiittendere Klage: "Hoarse, h o r r i b l e a n d s t r o n g , R i s e s to h e a v e n t h a t a g o n i z i n g c r y , F i l l i n g t h e a r c h e s of t h e h o l l o w s k y , H o w l o n g , o G o d , h o w long!" 1 0 9 )

Wie viel eindringlicher, dynamisch-aktiver ist dagegen Castro Alves. Nachdem er auf seine Frage: "Se é l o u c u r a , s e é v e r d a d e T a n t o h o r r o r p e r a n t e o s c é u s . . ," 109 )

keine Antwort des allmächtig scheinenden Gottes vernimmt, will er dieses teuflische Werk der Sklaverei durch Menschenhand vernichtet sehen und ruft aus: " L e v a n t a i - v o s , h e r o i s do N o v o M u n d o . . .! Andrada! arranca èsse pendâo dos ares! . . . C o l o m b o ! f e c h a a p o r t a d e t e u s mares!!!" 1 1 0 )

Gleich Castro Alves versuchte auch Whittier, die Tragödie des "human traffic" zu gestalten. Seine enge Bindung an historische Begebenheiten ließ ihn jedoch — wie nodi zu zeigen sein wird — die Sklaverei als solche noch nicht als ausreichende Grausamkeit empfinden, so daß bei ihm Mannschaft wie menschliche Fracht erst der Erblindung verfallen mußte, um den ganzen Schrecken der "slave ships" vor Augen zu 107) "Massachusetts to Virginia', XXIV (Schlußstrophe). i07a) Der Zeitraum von der Unabhängigkeit bis zur Abolition betrug in den USA 78 Jahre (1787-1865), in Brasilien 66 Jahre (1822-1888). 28 Jahre vor dem Ende des Civil War begann die Veröffentlichung der Abolitionsgedichte Whittiers; 25 Jahre vor der "Lei Aurea" erschien in Recife die "Cançâo do Africano" des jungen Castro Alves I ios) "The Christian Slaves", XV. !°β) "Tragedia no Mar", 5, 1/3-4, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 332. In der Mehrzahl der Ausgaben, Anthologien etc. heißt es: "mentira verdade", was dem antithetischen Gehalt auch am ehesten entsprechen würde. Im Ms. des Dichters heißt es jedodi einwandfrei: "loucura — verdade". 110 ) Tragèdia no Mar", 6, III/6-8, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 336.

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führen. Der, tragischen Zuspitzung des Gedichtes mochte diese Überlagerung zuträglich sein. Es kann aber kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Gestaltung des gleichen Themas lediglich aus der Stoffwelt der Sklaverei ungemein eindringlicher bleiben mußte. Eine weitere Behandlung soll jedoch an dieser Stelle unterbleiben, da hier lediglieli der Frage einer Beeinflussung der castroalvinischen Sklavendichtung durch die nordamerikanische Abolitionsliteratur nachgegangen werden konnte. F ü r Whittier bleibt in diesem Punkte zu ergänzen, daß seine Gedichte zwar in Brasilien nicht unbekannt waren, doch scheint eine Beschäftigung mit ihnen für Castro Alves nicht nachweisbar zu sein. Es lassen sich auch kaum mehr als thematische Analogien aufzeigen, in deren dichterischer Gestaltung immer wieder zum Ausdruck kommt, daß Whittier seine Verse im sklavenfreien Norden der USA, Castro Alves sie jedoch im Paradies der Sklaverei schrieb, als das Brasilien — und eben in allererster Linie der "Nordeste" — um 1865 angesehen werden konnte. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, in wie starkem Maße die Romantik sich mit freiheitlichen Ideen auseinanderzusetzen wußte. Die einzelnen Aspekte dieses ideellen Liberalismus mögen dabei verschieden intensiv ausgeleuchtet worden sein. Die nationale Freiheit fand im Werke Byrons ihr nicht zu überhörendes Edio, wie Hugo entschlossener als irgendein anderer Romantiker um die Freiheit der sozial Unterdrückten rang. Und nirgends entstand dem Schicksal einer versklavten Rasse ein edlerer Fürsprecher als in dem Sklavendichter Castro Alves. Die mehr oder minder ausgeprägte thematische Analogie wie audi die Gemeinsamkeit der Mission als Dichter verbanden Castro Alves auch in literarischer Beziehung mit der europäischen Romantik. Sie ließen ihn die Werke Hugos, Byrons und Heines um so aufgeschlossener erleben, als es sich darin um die gleichen Grundgedanken seiner eigenen Sklavendichtung handelte. Und in gleicher Weise, wie er erkannte, daß der Quelle ihres Geistes jene Kraft entströmte, die auch seine eigene war, weckte das Erfassen etwa der Hugo'schen Form in ihm das Bewußtsein seines eigenen, tropisch reichen Gestaltungsvermögens. So läßt sich das Problem der literarisdien "Beeinflussung" abgrenzen auf eine Analogie der gestalteten Stoffwelt und eine Synthese der Form, die sich weder mit völliger Originalität nodi mit sklavischer Imitation umschreiben läßt und deren Eigenständigkeit als brasilianischromantisdier Stil in der Sklavendichtung am deutlichsten hervortritt.

2. Interpretation der Sklavendiditung a) Gesichtspunkte einer Gliederung In den voraufgegangenen Darlegungen ist versucht worden, das Entstehen der Sklavendiditung aus dem Lebenskreise des Dichters zu erklären, ihre Stellung innerhalb der brasilianischen Literatur zu umreißen und zumindest in den Hauptlinien ihr Verhältnis einerseits 103

zur europäischen Romantik, andererseits zur nord amerikanischen Sklavenliteratur k u r z zu beleuchten. Die Vielfältigkeit der darin angeschnittenen u n d schon aus R a u m g r ü n d e n n u r selten eingehender behandelten F r a g e n bedingte oftmals eine Beschränkung, stets jedoch eine straff zusammenfassende Gliederung des Stoffes. So mag es a u d i angesichts des Umfanges der castroalvinischen Sklavendichtung gegeben erscheinen, vor einer interpretativen Betrachtung der einzelnen Gedichte zumindest den Versuch zu unternehmen, ein Ordnungsprinzip aufzustellen. F ü r die ohnehin isoliert zu behandelnden P r o s a w e r k e ("Gonzaga" und "Carta às Senhoras Bahianas") t r i f f t das in geringerem Mafie zu. Audi die wenigen in den "Espumas Flutuantes" und "Hymnos do Equador" enthaltenen Gedichte abolitionistisdien C h a r a k t e r s ließen sich wegen ihrer unschwer e r k e n n b a r e n Elemente eines fortschrittlichen Republikanismus verhältnismäßig leicht unter einem thematischen Aspekt zusammenfassen, wenn sie ü b e r h a u p t mehr als eine summarische E r w ä h n u n g in diesem Rahmen verdienen würden. Eine Gliederung des abolitionistisdien H a u p t w e r k e s "Os Escravos" aber scheint erheblich schwieriger und vielleicht gerade deswegen um so notwendiger zu sein. Die nächstliegende Möglichkeit einer Gliederung bestände sicherlich in einer chronologischen Behandlung der Gedichte. Eine derartige Anordnung findet sich audi in manchen Ausgaben anderer brasilianischer Dichter vor allem dann, wenn eine auf sonstigen Gesichtspunkten b e r u h e n d e Einteilung vom Verfasser entweder nicht durchgeführt w u r d e oder sich als nicht tunlich erwies. Sie w ü r d e audi keineswegs auf das in seiner Aufschlußlosigkeit bemitleidenswerte Los einer armselig willkürlichen A n o r d n u n g beschränkt bleiben. Es ließen sich an einer chronologischen Darstellungsweise durchaus Elemente ablesen, die f ü r die Vervollkommnung des formalen Gestaltungsvermögens oder aber die philosophische Vertiefung der verarbeiteten Gedanken wertvolle Hinweise zu geben vermöchten. Im besonderen Falle unseres Dichters w ü r d e dieses Element allerdings weniger stark zum Tragen kommen, da einerseits die äußeren Unterscheidungsmerkmale doch sehr feinen, fast unmerklichen C h a r a k t e r s sind, zum anderen aber selbst innerhalb einer einzigen Schaffensperiode oftmals tiefere Divergenzen bestehen, als zwischen j e n e n Gedichten, die am Ende der einen und am Anfang der nächsten Periode einzuordnen sind. Entscheidend aber bleibt doch wohl der Einwand, daß Castro Alves einen ansehnlichen Teil der Gedichte aus "Os Escravos" — d a r u n t e r die Gesamtdichtung der "Cachoeira de Paulo Affonso" — ü b e r h a u p t nicht datiert hat 111 '. Darauf ist bereits n ä h e r verwiesen worden, u n d es w ä r e n u r noch zu vermerken, daß vielleicht der u m g e k e h r t e Weg, nämlich aus gewissen Entwicklungsmerkmalen in den Gedichten auf ihre chronologische Zuordnung zu gelangen, in einigen Fällen erfolgversprechend sein könnte. Allein, es erscheint diese Methode doch f ü r m ) "A Cadioeira de Paulo Affonso" trägt lediglich das folgende Sdilußdatum : "Santa Isabel, 12 de julho de 1870. Rosàrio do Orobó". ("Obras Completas", 1944, vol. II, p. 224.)

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die vorliegende Darstellung als zu wenig angebracht, da sie rasch zu erheblichen Weiterungen führen müflte, die den gesetzten Rahmen sprengen würden. Eine andere Gliederungsweise könnte sich thematischer Gesichtspunkte bedienen. Tatsächlich bestehen einige Themenkreise, die eine Zusammenfassung gestatten würden. Es sei in dieser Beziehung an die durch Castro Alves so häufig erfolgte Verurteilung der Sklaverei als grausamer Zerstörerin jeglicher familiärer Bindungen erinnert, die in ihrem erschütterndsten Aspekt der Sklavenmutter mit ihrem Kinde bereits kurz gestreift werden konnte 112 '. Des weiteren ließen sich die einzelnen Stationen der Sklaverei gegeneinander abgrenzen, also etwa die Afrika, den Sklavenhandel und das Los der Schwarzen in Brasilien behandelnden Gedichte jeweils gemeinsam betrachten. Hier aber treten bereits die ersten Schwierigkeiten auf. Einmal würde man sich nämlich am Ende einer Reihe von Gedichten gegenübersehen, die keiner Zusammenfassung fähig sind und so als Einzelgedichte eine etwas ungleichmäßige "Gruppe" für sich bilden müßten. Zum anderen aber würden sich oftmals erhebliche Überschneidungen ergeben, die gerade bei den durch ihre breite Anlage besonders hervorragenden Gedichten wie der "Tragedia no Mar" oder den "Yozes d'Africa" zu einer heillosen Verwirrung führen müßten. Der Wert eines solchen Vorgehens erscheint schließlich besonders zweifelhaft, wenn man etwa jene Gedichte gemeinsam betrachten wollte, in denen Castro Alves versucht hat, die brasilianische Natur als unverträglich mit der Sklaverei darzustellen. Man sähe sich nämlich allzu bald einer gewaltsamen Aufspaltung des Werkes gegenüber, die etwa im Falle der "Cachoeira de Paulo Affonso" einem völligen Auseinanderfallen der Dichtung gleichkäme, da hier oftmals der ja kontinuierlichen Handlung in einem gegebenen und geschlossenen geographischen Rahmen auch eine weitgehende Übereinstimmung, j a ein die Gedichte untereinander verbindendes Gleichmaß des Reimes entspricht 113 '. Selbst dort aber, wo es sich nicht um eine ausgesprochen tropisch-brasilianische Landschaft handelt, ist eine derart enge und vor allem organische Verbindung der Naturdarstellung mit dem eigentlichen abolitionistischen Kern der Dichtung erkennbar, daß eine Trennung unmöglich bleiben muß. Das wird vor allem am Beispiele der "Tragedia no Mar" deutlich. Hier ist die Schilderung der Meeresweite nicht einfach als szenische Kulisse aufzufassen, sondern greift in ihrer Bedeutung weit über das rein deskriptive Moment hinaus und wird zum wesentlichsten, dem Ablauf des Geschehens stets entsprechenden Echo. Daraus erhellt, daß eine thematische Gliederung gleichermaßen unbefriedigend bleiben muß wie eine Aufteilung etwa nach geographischen Gesichtspunkten. Ihr fehlen in der castroalvinischen Dichtung zumeist die bindenden Elemente, wie wir sie etwa in den "Poesias 112) Vgl. Seite 72. 113) So von "A Senzala" zu "Diálogo dos Echos" und von "Historia de um Crime" zum "Ultimo abraço". Die Verwendung der bei Castro Alves so seltenen neunzeiligen Strophe im ersten Beispiel läßt den Schluß zu, daß diese innige formale Verbindung bewußt erfolgte.

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americanas" eines Gonçalves Dias zu erkennen vermögen. Lediglich die "Cachoeira de Paulo Affonso" könnte dieser Gliederung entsprechen, doch besitzt sie durch ihre in sich abgeschlossene Handlung eine ungleich stärkere Bindung, die auch den Dichter selbst bereits veranlafite, sie in einer bis auf den heutigen Tag unveränderten Gestalt vorzulegen. Eine Untersuchung der verwandten Versmaße schließlich würde wohl zu gewissen Gruppierungen führen, und es darf auch eine Betrachtung hierüber in die vorliegende Darstellung eingearbeitet werden. Die nicht selten innerhalb eines einzigen Gedichtes veränderte Metrik aber verbietet es doch letztlich, nach diesem Gesichtspunkt eine Gesamtausrichtung der Sklavendichtung vornehmen zu wollen. Es erhebt sich angesichts dieser hier nur andeutungsweise behandelten Schwierigkeiten die Frage nach dem Verhältnis des Dichters zu seinem eigenen Werke, um möglicherweise aus dieser Erkenntnis zu einem gangbaren Wege zu gelangen. Manchen Bewunderern des brasilianischen Romantikers mag es befremdlich erscheinen, daß Castro Alves von Anbeginn an keinen einheitlich konzipierten Gesamtplan für seine Sklavendichtung besaß. Wir verfügen vielmehr über Anzeichen für eine ganze Reihe von teils recht unterschiedlichen Auffassungen, auf welche Weise die Gedichte zu einem Werke zusammengefaßt werden könnten. Es sei gleich eingangs betont, daß dadurch kaum das Verdienst der sozialen Mission des Dichters geschmälert erscheint. Denn letztlich hat er nach allem doch zu jeder Zeit danach gestrebt, ein in sich möglichst geschlossenes Werk vorzulegen, das in seiner Gesamtheit durchaus imstande gewesen wäre, dem damals erst vereinzelt aufkeimenden Abolitionsgedanken einen kräftigen Impuls zu vermitteln. Der früheste uns bekannte Plan einer "Sklavendichtung" ist wohl mit dem Jahre 1867 anzusetzen. Wir besitzen einen vom September jenen Jahres datierten Brief des Dichters114) an Augusto Alvares Guimarâes, in dem es heißt: "Vou hoje para a Boa-Vista terminar o prologo dos 'Escravos', aos quaes só falta a descripçâo da Cachoeira de Paulo Affonso. É verdade, dou-te parte que vou nestes 8 dias para ver de perto a quéda gigantesca do S. Francisco."

Wir wissen, daß der Dichter 1870 einen mehr oder minder umfangreichen Teil der "Cachoeira de Paulo Affonso" geschrieben hat. Wenn also im September 1867 für "Os Escravos" lediglich die Beschreibung der eigentlichen Paulo-Affonso-Fälle fehlte, so bedingt das zweierlei: Einmal konnte die Gesamtdichtung der "Cachoeira de Paulo Affonso" noch nicht vorgesehen sein, wie sie uns in dem vom 12. Juli 1870 datierten endgültigen Manuskript vorliegt. Welcher Teil dabei nun der ersten und welcher der zweiten Schaffensperiode angehört, ob sich überhaupt eine Aufspaltung in die beiden Hauptkomponenten der Naturdichtung I i i ) "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 515-517. Auf p. 15 des gleichen Bandes ist als Datum des Briefes vermerkt: 13-9-1867.

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und der dramatischen Zuspitzung des Konfliktes zwischen Lucas und Maria nach dem Gesichtspunkte der chronologischen Entstehung vornehmen läßt, mag — soweit überhaupt möglich — noch bei der eingehenderen Behandlung der "Cachoeira de Paulo Affonso" erörtert werden. Zum anderen aber ergibt sich audi für "Os Escravos" im engeren Sinne — also ohne die "Cachoeira" — die Schlußfolgerung, dafi der damalige Plan die später so bedeutenden, j a geradezu fundamentalen Gedichte wie "Tragèdia no Mar" und "Vozes d'Africa" überhaupt nicht berücksichtigen konnte, da sie erst im folgenden Jahre entstehen sollten. Es mag unserer Vorstellung nicht leicht fallen, sich mit dem Gedanken einer Ausgabe der "Escravos" vertraut zu machen, in der diese Gedichte fehlen sollten. Der bereits erwähnte Brief aber nimmt uns jeden Zweifel, da er deutlich die Absicht des Dichters offenbart, innerhalb der nächsten zwei Monate, also noch während des Jahres 1867, nach Rio de Janeiro zu gehen, um dort — versehen mit den besten Empfehlungen — neben dem "Gonzaga" auch "Os Escravos" zu veröffentlichen 115 '. Ein überzeugenderer Beweis ließe sich kaum gegen die Behauptung Belarmino Barretos anführen, daß Castro Alves erst 1870 zu einem abolitionistischen Dichter geworden wäre 118 '. Immerhin kann nicht übersehen werden, daß einer solchen ersten Ausgabe von "Os Escravos" mindestens neun Gedichte der heutigen Fassung des Werkes gefehlt hätten117'. Freilich wären an ihre Stelle möglicherweise einige Gedichte der späteren "Cachoeira de Paulo Affonso" getreten. Von der Beschreibung der Wasserfälle selbst ist bereits die Rede gewesen; sie dürfte ihren Niederschlag in einem Gedicht gefunden haben, das Castro Alves im Februar 1868 José de Alencar vortrug und von diesem unter Nennung des Titels "A Cascata de Paulo Affonso" der Aufmerksamkeit des Kritikers Machado de Assis empfohlen wurde 118 '. Man geht doch wohl kaum fehl in der Annahme, daß es sich hierbei um die heute allgemein mit "A Cachoeira" betitelten Verse handelt. Neben diesem Gedicht aber mochten durchaus auch andere Teile der späteren "Cachoeira de Paulo Affonso" stehen. Es sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, daß die ersten dem Verfasser bekannten Veröffentlichungen von "A Queimada" und "O Nadador" keinen Hinweis auf ihre spätere Zugehörigkeit zu der "Cachoeira de Paulo Affonso" enthalten, wohl aber vermerken, daß es sich um Gedichte aus der Sammlung "Os Escravos" handele119'. Kurz nach Ankunft des Dichters in Säo Paulo schien sich jedoch ein neuerlicher Plan für "Os Escravos" herauszukristallisieren. Auffallend war, daß er offenbar von einem Abschluß des Werkes durch die « 5 ) O b r a s Completas', 1944, vol. II, p. 517. ) Belarmino Barreto, "Castro Alves como abolicionista" in: "O Monitor", 29-5-1881. n 7 ) In chronologischer Reihenfolge handelt es sich um: "Tragèdia no Mar", "Lucia", "Prometheu", "Fabula", "Vozes d'Africa", "A mâe do cativo", "Manuela", "Saudaçâo a Palmares", "O derradeiro amor de Byron". n e ) J o s é de Alencar, "Um poeta. Carta a Machado de A s s i s " in: "Correlo Mercantil", 22-2-1868. n e ) Die beiden Veröffentlichungen erfolgten im "Correio Pemambucano" vom 8-8-1870, bzw. 19-8-1870. Vgl. a u * die Bibliographie, Teil II. 11β

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Beschreibung der Cadioeira Abstand genommen hatte. An die Stelle der nie gesehenen Cadioeira de Paulo Affonso sollte nun die gewiß nicht minder eindrucksvoll aus der Küstenebene von Santos aufragende Serra do Cubatäo treten 120 ). Die Gründe für diesen Wandel lassen sich heute kaum noch aufspüren. Die positive Aufnahme der Stanzen der "Cachoeira" durch Alencar in Rio de Janeiro schließt die Möglichkeit eigentlich aus, dafi Castro Alves diese Verse aus irgendwelchen stilistischen Gründen nicht mehr in die Gesamtdichtung eingeschlossen zu sehen wünschte. Eher könnte sich dodi wohl der Umstand ausgewirkt haben, daß Castro Alves sein Vorhaben von 1867, die Wasserfälle persönlich aufzusuchen, nicht mehr erfüllen konnte. Dadurch zeichneten sich in seiner Vorstellung die Konturen der Cadioeira nicht mit jener wünschenswerten Schärfe ab, mit der sich jetzt — auf dem Wege von Santos nach Säo Paulo — seinem überraschten Blick das Bild der vor ihm aufragenden Serra do Cubatäo enthüllte. Eine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Stärke des visuellen Eindruckes und seines direkten Einflusses auf das dichterische Schaffen ist damit nicht gegeben. Dennoch sollte nicht auf diesen Hinweis verzichtet werden, zumal Castro Alves sich in diesem Zusammenhang ja mit der auch von ihm beachteten Forderung eines Chateaubriand nach dem Erleben der zu gestaltenden Natur in loco identifiziert hatte. So gesehen, ließe sich möglicherweise die Überlagerung des verblassenden Bildes der nie geschauten Cachoeira de Paulo Affonso durch die in seltener Eindringlichkeit erlebte Serra do Cubatäo erklären 121 ). Es bleibt dann allerdings wiederum als letztes ungelöstes Rätsel, aus welchem Grunde wir über kein einziges Zeugnis dieser Inspiration in dem Dichtwerk selbst verfügen. Den damaligen Plan nämlich, der ebenfalls noch keine "Tragedia no Mar" und noch weniger die "Vozes d'Africa" enthalten konnte, hat der Dichter ebenfalls später offenbar wieder aufgegeben. Weiter aber findet sich auch in seinen Versen nicht der geringste Hinweis auf dieses doch gewiß starke Erlebnis der Morgenröte über der Serra do Cubatäo. Aus dieser wohl letzten Wandlung resultierte dann schließlich Jahre später ein Plan, den wir als endgültige Fassung des Dichters ansprechen dürfen 122 ). Zeitlich liegt er nach den letzten Gedichten des abolitionistischen Gesamtwerkes, als er also bereits die "Saudaçâo a Palmares" (August 1870) und "O derradeiro amor de Byron" (21-8-1870) fertiggestellt hatte. Der Plan kann also frühestens in den allerletzten Tagen des Aufenthaltes auf Santa Isabel entstanden sein, möglicherweise aber auch erst in Bahia. Diese Zusammenstellung enthält zwar auch nur am Schluß der übrigen Gedichte der "Escravos" den summarischen Vermerk "A Cadioeira de Paulo Affonso", doch handelt es sich ja zu diesem Zeitpunkt bereits um die Gesamtdichtung, wie sie Castro Alves in dem vom 12. Juli 1870 datierten Manuskript vorgelegen hatte. i»») "Obras Completas*, 1944, vol. II, p. 525/7. i " ) "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 526. 122) "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 227.

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Die Anlage eines solchen Planes dürfte nun auf die peinliche Genauigkeit zurückgehen, die Castro Alves bei der Herausgabe seiner Gedichte zu zeigen pflegte. Es sei etwa daran erinnert, dafi gelegentlich der geplanten "Gonzaga"-Veröffentlichung von 1868 ein reger Briefwechsel über die Anordnung des Vorwortes und äußere Gestalt des Werkes geführt wurde123). Und ebenfalls bei der Vorbereitung der "Espumas Flutuantes" bestimmte der Dichter Monate zuvor "ordern e disposiçôes de estrophes em que desejo que se jam publicadas" 124 '. So darf angenommen werden, daß es sich auch bei dem vorliegenden Manuskript um einen Plan des Dichters für die Veröffentlichung seiner Werke gehandelt habe. Und es erscheint als wenig angebracht, eine andere Anordnung zu billigen als diejenige, welche der Autor schließlich als die seinem Empfinden und seinen Absichten am ehesten entsprechende Folge festlegte. Dabei ist es nun nach Ansicht des Verfassers wenig entscheidend, ob etwa unter "Palmares" wirklich nur das in der vorliegenden Darstellung noch zu behandelnde Gedicht "Saudaçâo a Palmares" zu verstehen sei, oder ob der Dichter durch die etwas vorsichtige Formulierung des Titels bereits der beabsichtigten Erweiterung dieses Gedichtes zu einem der "Cachoeira de Paulo Affonso" analogen "Poema histórico-dramático" Rechnung tragen wollte, dem der Titel "A República de Palmares" bestimmt sein mochte128'. Gleichermaßen sollte nun diese Einteilung nicht deswegen verworfen werden, weil sie nicht alle uns heute bekannten Gedichte abolitionistischen Charakters umfaßt. Es ist bereits von einigen Versen aus den "Espumas Flutuantes" und den "Hymnos do Equador" gesprochen worden, in denen abolitionistische Ideen erkennbar seien. Eine eindeutig scharfe Grenze ließe sich also ohnehin nur sehr bedingt ziehen. Wenn daher heute allgemein noch drei weitere Gedichte in den Ausgaben der "Os Escravos" erscheinen, so sollte doch wohl zumindest der ursprünglichen Absicht des Autors Rechnung getragen werden und die Aufnahme dieser Verse auf einen Anhang beschränkt bleiben, nicht aber unter Durchbrechung der von Castro Alves beabsichtigten Ordnung erfolgen. Hier kann Peixoto kaum der Vorwurf erspart bleiben, dem Erbe "seines" Dichters einen schlechten Dienst erwiesen zu haben. Besonders im Falle der beiden Fragmente "O Voluntário do Sertäo" und "A Bainha do Punhal" bleibt es fraglich, ob Castro Alves nicht absichtlich eine Einbeziehung in das Werk wegen des fragmentarischen Charakters dieser Verse vermeiden wollte. Für die Annahme Peixotos, diese Gedichte könnten Castro Alves entfallen sein126', besitzen wir keinerlei Anhaltspunkte, da uns nicht einmal ihr Entstehungsdatum bekannt ist. Dieses Argument ließe sich allenfalls für die bereits 1863 veröffentlichte "Cançâo do Africano" anführen, doch würde ihre Berücksichtigung 1 M ) Castro A l v e s an Luiz Cornélio dos Santos, in: "Obras Completas", 1944, vol. II, pp. 520, 521, 522, 523, 528, 529. (Nodi aufsdilußreidier dürften die unveröffentlichten Antwortbriefe des Freundes aus Rio de J a n e i r o g e w e s e n sein.) 1 M ) idem, idem (vom 28-1-1870), "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 537. 12¡>) Vgl. "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 227. ΐ2β) " o b r a s Completas", 1944, vol. II, p. 40, Anmerkung.

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außerhalb des von Castro Alves gesetzten Rahmens der "Escravos" ja keineswegs diesen Strophen ihr stets anzuerkennendes Verdienst als eine seiner ersten abolitionistischen Dichtungen beeinträchtigen. Es geht also nicht um die Frage einer Aufnahme oder einer Fortlassung dieser Gedichte, sondern um die Wahrung der Geschlossenheit eines Werkes in der von seinem Autor vorgesehenen Form. Aus diesem Grunde glaubt der Verfasser, dafi man eigentlich keinem anderen Wege folgen sollte als dem der Behandlung der Gesamtdichtung "Os Escravos" in der vom Dichter vorgezeichneten Weise, um im Anschluß daran die nicht in dieser straffen Form zusammengefaßten Gedichte zu berücksichtigen. Man möchte versucht sein, den Einwand zu erheben, daß dadurch das Gesamtbild der Dichtung beeinträchtigt würde. Das könnte für manches andere Werk der brasilianischen Literatur zutreffen, nicht aber für die Sklavendichtung bei Castro Alves. Hier ist einzig verbindendes Grundelement sein Eintreten für das Los der Sklaven. Und mit Ausnahme der "Cachoeira de Paulo Affonso" läßt sich audi nirgends sonst eine ausgesprochene zweite Grundidee durch das Gesamtwerk eines Dichters finden, der selbst immer wieder von anderen Gesichtspunkten her die Zentralidee seines Dichtens wie seines Lebens zu gestalten suchte. Diesen Gedanken möchte der Verfasser verfolgen, und er weiß sich zumindest darin eins mit Sylvio Romero: "O poema dos 'Escravos' näo era na mente do autor urna epopèa no velho e vulgar sentido, um enredo, urna açâo especial, desenrolados por personagens típicos. Era antes urna coleçâo de poesías, soltas, desprendidas entre si, referentes todas, porém, ao fato social da ESCRAVIDÄO"127).

b) "Os Escravos" Die Gedichtsammlung "Os Escravos" wird eingeleitet durch Verse, die nicht nur gleichermaßen einen Blick freigeben auf den weiten Themenkreis des Gesamtwerkes, sondern auch bereits in eindringlicher Weise die dichterische Gestaltungskraft eines Autors erkennen lassen, der mit weit ausgreifenden Schritten das im ewigen Kampfe zwischen Licht und Schatten, zwischen Versklavung und Freiheit befindliche Rund dieser Erde durchmißt. Thematisch beinhaltet für Castro Alves das Gedicht "O S é c u l o " trotz seiner mehrfach recht deutlichen Anlehnungen an das Ringen der Völker um die nationale Freiheit keineswegs nur das neunzehnte Jahrhundert. Er faßt die Bedeutung des Hugo'schen Leitgedankens "Ce siècle est grand et fort" 128 ' entschieden weiter und sprengt den Rahmen seiner ausschließlichen Bezogenheit auf Europa wie auf das Jahrhundert der Herausbildung nationalstaatlicher Gebilde. i " ) Sylvio Romero & Joäo Ribeiro, "Compendio de historia da literatura brasileira", 1906, p. 233. 128) Victor Hugo, in: "Les Voix intérieures". Bei Castro Alves in abgewandelter portugiesischer Fassung: Ό século é grande e forte". Im Motto der Pernambucaner akademischen Zeitschrift "O Século" von 1866 heißt es ebenfalls: "Le siècle est grand et fort" (vgl. Carvalho, "Anais da Imprensa Periodica Pernambucana", item 436).

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Das wird bereits an den ersten Versen deutlich, in denen der Dichter sich fast in räumlicher und zeitlicher Unendlichkeit zu verlieren droht: "O século é grande . . . No espaço Há um drama de tréva e luz. Como Cristo — a liberdade Sangra no poste da Cruz."129)

Im weiteren Verlaufe des bei seiner ersten Rezitation im Jahre 1865 als außerordentlich revolutionär empfundenen Gedichtes entwickelt sich aus dieser Konzeption eine förmliche Antithese zwischen Europa and der Neuen Welt. Und in gleichem Maße verändert sich auch der zeitliche Bereich zusehends von der Vergangenheit über eine im Mexikaner Juárez personifizierte und im nordamerikanischen Bruderkrieg nochmals anklingende Gegenwart in Richtung auf eine Zukunft, der keinerlei Grenzen mehr gesetzt sind. Beide Entwicklungslinien konvergieren schließlich in den von fast visionärer Kraft getragenen Schlußzeilen, die in der grandiosen Übersteigerung ihrer Metaphern ein für den Dichter charakteristisches Stilmittel enthalten: Dem napoleonischen Ausruf, daß von den Spitzen der ägyptischen Pyramiden vierzig Jahrhunderte auf seine Soldaten herabsähen, setzt Castro Alves seine die kommende amerikanische Generation verpflichtenden Mahnungen entgegen: "Moços, do tòpo dos Andes, Pirámides vastas, grandes, Vos contemplam séculos mil!"130)

Das menschliche Werk der Pyramiden erhebt er somit zu dem noch gewaltigeren der von der Schöpfung aufgefalteten Anden. Und ihrer unvergleichlich erhabeneren Majestät vermeint er sodann, auch ein ähnlich an die Ewigkeit gemahnendes Zeitmaß an die Seite stellen zu müssen. Hinter dieser gemeinhin als condoristischer Überhöhung abgestempelten Metapher aber verbirgt sich doch ungleich tieferes Empfinden, dessen feinere Spuren vielleicht eine eingehendere Analyse des Gedichtes zu offenbaren vermöchte, als sie hier möglich sein wird. Hinter jeder Erschütterung, unter welcher die "terra hirta e sombria" erzittert, erhebt sich f ü r den Dichter die Frage nach ihrem möglichen Ursprung: "Säo as vascas da agonia Da liberdade no châo Ρ . . . Ou do povo o braço ousado Que, sob montes calçado, Abala-os como um Titâo?! . . Ζ1·11)

In immer neuen Variationen greift er diesen Gegensatz auf, der ihm als schicksalhafte Quelle der Eigenentwicklung des neuen Kontinents erscheint: Dort das alte Europa, das gebannt und keiner Regung fähig in den sich zu seinen Füßen öffnenden Abgrund starrt (III/5-7), hier die auf göttliche Gerechtigkeit vertrauende Jugend der Neuen Welt. Sie erblickt in jedem Windhauche den Träger zukunftsträchtigen Samens 129) *o Século*, 1/1-4, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 295. ι3») Ό Século", XIII/8-10, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 300. 131) "O Século", II/6-10, "Poesías Escolhidas", 1947, p.296.

Ill

(III/3-4) und schickt sich an, die schweren Wolken zu zerreißen, um das in tiefem Nadltdunkel liegende Land mit dem goldenen Glänze freiheitlicher Sonne zu erwecken (III/8-10), (IV/1). Und mehr als einmal mag es scheinen, als reiche für Castro Alves dabei der Begriff der "mocidade" weit über den der Jugend hinaus und umfasse schlechthin die sich in der kraftvollen Entfaltung des amerikanischen Kontinentes verjüngende Menschheit. Europa bietet des Erstarrten hinabsteigt zu es ringt noch

sich ihm trotz allen dar, wenn es gleich den Gräbern seiner um seinen Bestand.

Ringens letztlich doch als Inbegriff einem kraftlos hinsiechenden Polen Großen. Gewiß, es sucht noch Halt, Doch alles bleibt vergebens, denn:

"Os reis passam sem ver nada . . . E o Czar olha e sorri . . Ζ132) Und während Rom unter dem Joche fremder Herrschaft seufzt und Hellas unter Tränen eines neuen Canaris oder Byron harrt, blickt Napoleon, der Restaurator des französischen Kaiserreiches, voll ohnmächtigen Zornes auf Jersey, furchtsam erwartend, daß von dort die Flamme der Freiheit auflodern könnte, ihn allein mit der Gewalt des Wortes zu vernichten. In seinem Bemühen, Verbindungslinien zwischen Castro Alves und Victor Hugo aufzuzeigen, hat vor allem Afrânio Peixoto versucht, auch hier die Erwähnung der Insel Jersey als einen Tribut des brasilianischen an den französischen Romantiker zu deuten. Er konnte dieses um so eher, als dieses Jersey — von Castro gleich dem St. Helena Napoleons I. in "As duas Ilhas" besungen — ja Victor Hugo zum zeitweiligen Exil wurde. Derart ausschließlich aber ist eine solche Beziehung zu Hugo keineswegs nachzuweisen. Zunächst bedeutet doch für Castro Alves die Erwähnung des Namens "Napoleon" in den weitaus meisten Fällen eine Assoziation an den ersten Kaiser dieses Namens. Und eine rein historische Reminiszenz ließe sich ebenfalls mit Leichtigkeit aufzeigen. Denn während seiner Kontinentalsperre mußte Napoleon dem Ersten die Insel Jersey durchaus als Dorn im eigenen Fleisch erscheinen, wie die Insel audi mehr denn einmal den von ihm beherrschten Völkern als Leuchtfeuer einer nur zu fernen Freiheit vor Augen gestanden haben mochte. Lediglich der allgemeine historische Rahmen dieses Gedichtes, der in bezug auf Europa eine erst nach Napoleon I. beginnende Periode umspannt, läßt die Annahme gefestigter klingen, daß es sich um Napoleon den Dritten handele und damit die Anrufung Hugos trotz des Fehlens eines direkten Hinweises noch ihre Bestätigung findet. Schließlich läßt sich auch im Munde eines so wortgewaltigen Dichters wie Castro Alves eher aus dieser Perspektive einer Anspielung auf Napoleon den Dritten jene Paralleldarstellung deuten, in welcher der junge Sorrentiner bereits bei dem Anblick des eine Naturkatastrophe verheißenden Vesuvs erzittert. 132) Ό Século", V/9-10, 'Poesías Escolhidas', 1947, p. 297. In "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 25, heißt es zwar: "Desde a Polonia . . .". Die 'Poesías Escolhidas" aber geben die einzig sinnvolle Version mit "Desee . . .", die dem Hinabsteigen zu den Gräbern gerecht wird.

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Diesem Bilde des Grauens, vor dem die Schwachen schreckerfüllt zurückweichen (VIII/1-2), setzt der Dichter die erlösende Kraft des Handelns entgegen. In geschickter historischer Fundamentierung wählt er dabei México als Bindeglied zwischen den beiden Welten. Noch einmal ersteht die Alte Welt im Kaiser Maximilian vor unseren Augen, doch sofort erhebt sich Juárez, und der Dichter kündet in einem Aufsdirei von fast alttestamentarischer Wucht vom Aufbruch der Neuen Welt. Und hier tritt ein neues Element auf, deis dem castraolvinischen Gedicht seinen besonderen Gehalt verleiht und es für die Einleitung zu "Os Escravos" wie geschaffen erscheinen läfit: Die Freiheit ist auf das engste verknüpft mit dem Lose der Sklaven und nur unter dem Meißel der Abolition erwachsen aus dem ungefügen Block der Sklavenmasse jene Gestalten, die bestimmt sind, Träger kommender Generationen zu werden (IX/5-7). Diese neunte Strophe bildet demzufolge auch den Kernpunkt des in seinem Gesamtaufbau ungemein rhythmisch angeordneten Gedichtes. In den voraufgegangenen Strophen dominierte das alternierende Moment von Hoffnung und Verzweiflung, das nicht selten sogar in die zehnzeilige Strophe selbst eindrang und hier eine deutliche Zäsur nach der vierten Zeile bewirkte. Fortan aber erhebt der Dichter seine Stimme, um die Träger der politischen wie sozialen Freiheit an ihre Verpflichtung gegenüber der Zukunft zu gemahnen. Deutlich heben sich nun die Mittelzeilen der folgenden Strophen aus dem Wechselspiele eines stumpfen und klingenden Zeilenausganges heraus und verkörpern so geradezu das Wesen des von Castro Alves immer wieder gestalteten Fortschrittgedankens : "Levantai um templo novo, Porém nâo que esmague o povo, Libertai tribunas, prelos . . . Sao fracos, mesquinhos êlos . . . Que aos gritos do Niagara — Sem escravos, — Guanabara. "133)

In einer sich bis zu der bereits geschilderten Apotheose steigernden Verklärung sieht der Dichter das Zukunftsbild eines amerikanischen Kontinentes vor sich aufsteigen, der in sich Gedankengut der französischen Aufklärung neben Idealen politischer Volkssouveränität und Abkehr von der weltlichen Macht der Kirche vereint 134 '. Stets warnt dabei Castro Alves vor blindem Übereifer im Handeln, mäßigt und strebt nach einem harmonischen Zusammenklange aller Kräfte. Und nur, wo es ihm scheint, daß die Kirche dem Schicksale der Schwarzen iss) *o Século", X/5-6, XI/5-6, XII/5-6, 'Poesías Escolhidas', 1947, p. 299-300. über XII/5-6 vgl. p. 82. ι3*) Antonio Alves de Carvalhal, "Alocuçâo . . .", in: "O Popular", Santo Amaro, 20-7-1871. Joaquim Nabuco, "Castro Alves", Rio, 1873, p. 30. 8 Castro Alves

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gleichgültig gegenüberstünde, bricht es mit ungestümer Gewalt aus ihm hervor: "Quebre-se o cetro do Papa, Faça-se déle urna Cruz! A púrpura sirva ao povo Pra cobrir os ombros nús." 1 3 6 )

Es ist die gleiche Forderung, der wir Jahre zuvor bereits in der nordamerikanischen Sklavenliteratur begegnen, ohne daß sie jedoch dort einen gleich konkreten Ausdruck gefunden hätte 136 '. Lediglich bei Harriet Beecher Stowe klingen verwandte Töne an, wenn man sich der Worte ihres Pfarrers Hopkins entsinnt: " . . . the enslaving of the African race is a clear violation of the great law which commands us to love our neighbour as ourselves, —1 and a dishonor upon the Christian religion, more particularly in us Americans, whom the Lord hath so marvelously protected in our recent struggle for our own liberty!" 1 3 7 )

Aber audi hier ist es vorerst kaum mehr als ein freilich aufrechtes Bekenntnis des protestantischen Geistlichen zu dem Gedanken christlicher Liebe. Es bliebe noch ein weiter Weg bis zu der sowohl thematisch umfassenderen als auch in ihrem sprachlichen Ausdruck ungleich stärkeren Formulierung, mit welcher Castro Alves die katholische Kirche auffordert, ihr Wirken endlich unter das wahrhafte Zeichen des Kreuzes zu stellen. Wenn er sie beschwört, sich der Ärmsten unter den Armen anzunehmen, so können es bei Castro Alves immer wieder nur die Sklaven sein. Denn seit Jahrhunderten sind sie bereits mit dem Versprechen christlichen Beistandes wohlversehen. Jetzt aber gilt seine dringlichste Forderung an dieses "século grande e forte" der Erlösung und echten Liebe für die Sklaven. Mag man bei der Lektüre von "O Século" durchaus nodi den Eindruck gewinnen, der Dichter stünde selbst über dem Geschehen, identifiziere sich gewissermaßen mit der "Mocidade (que) é o Moysés no Sinai, (recebendo) das mäos do Eterno as tábuas da lei" (XIII/1-4), so führt uns Castro Alves mit seinem zweiten Gedicht " A o r o m p e r d ' a l v a " in die mit so viel Liebe, aber auch eingehender Kenntnis gestaltete Landschaft seines heimatlichen Sertäo, daß man durchaus in Castro Alves einen Regionalisten deutlicher Profilierung zu sehen vermeint. Kaum mehr als der Titel verbindet diese Verse mit dem fast gleichnamigen Gedicht eines Gonçalves Dias13®), das in lamartineanischer Innigkeit Naturgefühl und Gottesbewußtsein miteinander verschmolz130). Der geographischen Unbestimmbarkeit des gonçalvinischen Erwachens der Natur setzt Castro Alves ausgesprochene Elemente seiner Heimat entgegen. Sie finden ihre eigene Note nicht nur im Bildhaften, sondern gleichermaßen im sprachlichen Ausdruck. Darüber hinaus aber steigert 135) " o Século", XII/1-4, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 300. 138) Daniel S. Whitney (?), "Warren. A tragedy." (1850), John Greenleaf Whittier, "A Sabbath Scene" (1850) und "Clerical Oppressors". 137) Harriet Beecher Stowe, "The Minister's Wooing". (1850), p. 144. 138) Gonçalves Dias, "O Romper d'Alva", in: "Grandes Poetas Románticos do Brasil", p. 384/5.

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er das Gefühl der Verbundenheit mit der morgenfriihen Landschaft des Sertäo noch durch die Einbeziehung seiner selbst. Bereits ein flüchtiger Blick auf den Gesamtaufbau des Gedichtes zeigt deutlich, dafi der Dichter dieses Stilmittel nicht ohne Absiebt verwandte, da er es keineswegs zufällig, sondern wohlbedacht an den drei entscheidenden Punkten einfügte. Zunächst leitet er nämlich die Beschreibung mit der im ersten Sonnenlichte erwachenden Natur ein, der ein unendlich sanft aus der Nacht herüberwehender Hauch neues Leben zu spenden scheint. Fast glaubt man, aus dem leichtfüßigen, mit seinen rasch aufeinander folgenden Hebungen und Senkungen stark aufgegliederten Reime den Galoppschritt des Pferdes herauszuhören, mit dem der Dichter Zwiesprache über die Wunder der Natur zu halten scheint. Der versinkenden Nacht gedenkt er dabei nicht mit dem gonçalvinischen Schrecken vor dem tobenden Meere, sondern es liegt fast ein wenig leise Wehmut in dem Blick, der die weithin verstreuten Perlen eines verblassenden Nachthimmels noch einmal einzufangen sucht. Nicht nur Freude über diese morgendliche Huldigung der Natur ar ihren Schöpfer aber erfüllt den Dichter, sondern auch das stolze Bewulätsein ist spürbar, daß er hier vor sich sein eigenes Vaterland erblickt: "Terra de Santa Cruz, sublime verso Da epopèa gigante do universo, Da imensa creaçâo, Com tuas mattas cyclopes de verdura, Onde o jaguar, que passa na espessura, Racha as folhas no châo." 140 )

Er sieht nicht nur den Reichtum und die Unendlichkeit seines Landes, sondern auch die ungebundene Freiheit, die es einzig zu erhalten vermag und letztlich seine den Beschauer immer wieder von neuem hinreißende Schönheit kraftvoll durchpulst: "Como és bella, soberba, livre, ousada! Em tuas cordilheiras assentada A liberdade está." 141 )

Freiheit atmet diese Natur, und frei sieht der Dichter auch ihre Menschen das Tagewerk beginnen: "Livre o tropeiro toca o lote . . . " "Livre como o tufäo corre o vaqueiro" 142 )

Nichts bedrückt diese Menschen, es sei denn die etwas wehmutsvolle Erinnerung des "tropeiro" an seine "serrana bela, que chorando / Deixou là no sertäo". Und in einem audi noch in den feinsten Strichen nacherlebten Gegensatz dazu dann der ruhelos um seine Herde streifende Viehhirte, von dem man kaum mehr als eine Wolke aufwirbelnden Staubes wahrzunehmen vermag. 139)

Fritz Adeermann, 'Die Versdiditung des Brasiliers Antonio Gonçalves Dias", p. 46. ' A o romper d'alva", IV, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 31. "Ao romper d'alva", V/l-3, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 31. " 2 ) "Ao romper d'alva", VI/1, VII/1, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 31/2. 14 ») 141)



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Das gleiche Gefiihlsmoment der Freiheit vermittelt audi das Bild der Tierwelt. Und alles wird überragt von der Ungebändigtheit der in tosenden Wassermassen zu Tal stürzenden "Catadupa". Es ist die Landschaft des Sertäo, die des Dichters immer wieder gestaltete Heimat bildet. Sie allein ist seine eigentliche Welt, und die sie in der Ferne begrenzenden Gebirge mögen ihm daher audi als höchster Thron dei Freiheit erscheinen, wie es die Anden für den amerikanischen Kontinent in seiner Gesamtheit sind: "Sois a palavra livre; desses Andes Q u e além surgem de pé." 1 4 3 )

An dieser Stelle, da die jungfräuliche Natur in ihrem festlidien Morgengruß an den Schöpfer ihren Höhepunkt erreicht, da nach der herkömmlichen, von Gonçalves Dias in Anlehnung an Lamartine auch durchgeführten Auffassung der Romantik nur noch eine Steigerung in metaphysische Bereiche möglich erscheint, hier bricht Castro Alves in brüsker Weise mit der Tradition. Und wieder tritt an diesem entscheidenden Punkt der Dichter selbst in den Kreis des Geschehens. Doch nichts hat er mit Gonçalves Dias gemeinsam, dessen Lobgesang einst von der Freude an diesem Wunder der Schöpfung getragen wurde: "Também eu, Senhor, direi Teu nome — do coraçâo, E ajuntarei o meu hiño Ao hino da criaçâo" 1 4 4 )

Entsetzen vielmehr glaubt man in den Augen des Dichters zu sehen, der erfahren muß, daß diese Natur nicht frei ist, daß sie vielmehr geknechtet und gebunden in der Versklavung des Menschen ihre grausamste Verhöhnung erfahren hat. Fast will er nicht glauben, was seine Augen erblicken, für einen Moment wähnt er, einem gespenstischen Traumbilde verfallen zu sein. Und doch ist es Wahrheit: An Stelle des "Jacaré (que) mostra a testa luzida, as largas costas", ist das in seiner Häßlichkeit abstoßende Krokodil getreten, Sinnbild der von Afrika auf den Wogen des Atlantik nach der Neuen Welt getragenen Sklaverei! Und mit einem Schlage verwandelt sich auch das Bild der Natur. Ihre Hymne an die Schöpfung endet in einer grauenhaften Disharmonie, in welcher der schluchzende Aufschrei einer unterdrückten Rasse, das Klirren der eisernen Ketten dieser Sklaven dominiert. Blutschwere Tränen netzen das Antlitz der Natur, schwellen zu roten Wogen an, in denen sich das Leben selbst zu verströmen scheint. Und gequält winden und neigen sich die Palmen unter der Sturmbö, die aus den Bergen Klagelaute an ihr Ohr trägt. In verzweifeltem Aufbegehren wendet der Dichter sich an Gott. Unfaßbar scheint es ihm, der noch im voraufgegangenen Gedichte die Neue Welt als Trägerin einer freiheitlichen und glücklichen Menschheit 1 « ) "Ao romper d'alva", VIII/5-6, 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 32. im) Gonçalves Dias, Ό Romper d'Alva", XIV, in: "Grandes Poetas Románticos do Brasil',

p . 384.

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gepriesen hatte, dafi nun die vollendetste Schöpfung der göttlichen Eingebung unauslöschlich durch die Sklaverei befleckt bleiben sollte: "Senhor, näo deixes que se manche a tela Onde traçaste a creaçâo mais bella De tua inspiraçâo. O sol de tua gloria foi toldado . . . Teu poema da América manchado, Manchou-o a escravidäo."115) Nodi ist es nicht jene Hoffnungslosigkeit, die drei Jahre später aus den "Yozes d'Africa" aufklingen sollte. Der Dichter glaubt nodi an die Allgegenwart Gottes, da er erst später das erschütternde Erlebnis wird verzeichnen müssen, dafi sein Rufen nach dem Allmächtigen ungehört verhallte... Und so wartet er auch jetzt nicht eine Antwort Gottes ab, sondern wendet sidi voller Ekel über das Geschaute zwar, aber dennoch in der Hoffnung ab, vielleicht schon morgen den Jubelschrei der ihrer Ketten ledigen Sklaven vernehmen zu dürfen: "Oh! ver näo posso este labéo maldito! Quando dos livres ouvirei o grito? Sim . . . talvez amanhâ."146) Damit tritt Castro Alves zum dritten Male in das Geschehen ein, und es zeigt sich deutlich, welche weite Spanne ihn noch von dem späteren Verfasser der "Tragèdia no Mar" trennt. Denn dort strebt er nicht mehr eine Lösung des Sklavenproblems durch einen am irdischen Geschehen keinen Anteil nehmenden Gott an, sondern ruft die Menschheit selbst auf, ihr ferneres Schicksal aus eigener Kraft zu gestalten. Dennoch sollte der abolitionistische Wert dieses der ersten Pernambucaner Phase angehörenden Gedichtes nicht einfach damit eingeschränkt werden, dafi sich Castro Alves darin noch nicht "aktiv" für die Sklavenbefreiung einzusetzen vermochte. Seine Flucht in die aufragenden Ketten des Gebirges kommt letztlich in dem Verlassen der Heimat einem Opfer gleich. Und eben dieser Heimat, nicht aber seinem eigenen Dasein gilt schließlich auch das Flehen an Gott. Noch deutlicher aber scheint ein Verdienst dieser Verse darin zu liegen, dafi der Dichter in seltener Eindringlichkeit und aus innigster Verbundenheit mit der gestalteten Landschaft heraus die Unverträglichkeit des freien Sertäo mit der Sklaverei so nachdrücklich hervorgehoben hat. Dem eigenen Erleben des "Taboleiro" trägt dabei die reiche Ausschmückung der Landschaftsschilderung mit ihr eigenen Bezeichnungen aus Fauna und Flora durchaus Rechnung, wie auch die getreuliche Wiedergabe feinster Beobachtungsmerkmale eine genaue Kenntnis der Lebensvorgänge in dieser so spezifisch brasilianischen Natur erkennen läfit117). Der Dichter verliert sich dabei keineswegs in einem exaltierten Patriotismus, wie er auch den Vorwurf Nabueos nicht rechtfertigt, 145) *Ao romper d'alva*, XI, 'Obras Completas', 1944, vol. II, p. 33. "β) Ά ο romper d'alva', ΧΙΙΙ/1-3, O b r a s Completas", 1944, vol. II, p. 33. 147 ) Vol. hierzu, wie auch für das Gesamtverhältnis des Dichters zum Sertào u. a. Eugenio Gomes, Castro Alves e o Sertäo', in: "Altàntico", no. 6, 1945, p. 61-71.

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durch das Aufgehen in der Idee der Unendlichkeit das Gefühl für die Schönheit der Natur verloren zu haben148'. Freilich mag der Sertäo seine eigene Schönheit besitzen und sie zuweilen audi in der scheinbaren Unendlichkeit seiner Flächen zur höchsten individuellen Vollendung bringen. Dennoch verbindet das thematisch an inneren Gegensätzen so reiche Gedicht gerade die feinfühlige Art der Gestaltung der Landschaft. Und in ihrem Rahmen verliert selbst die sonst vielleicht anmaßende Transposition der Anden (VIII/5) manches von ihrer condoristischen Überhöhung, die ohnehin bereits durch die Formulierung "d ' e s s e s Andes" eine gewisse Abschwächung erfährt. Nicht immer aber hat Castro Alves in seinen Sklavengedichten die brasilianische Natur verarbeitet. " A Y i s ä o d o s M o r t o s" enthält beispielsweise keine derartigen Elemente, doch verdient der Rahmen dieses Gedichtes wiederum aus anderen Gründen, aufschlußreich für seinen Verfasser genannt zu werden. Das der Kyffhäusersage entnommene Motto Heinrich Heines149) weist bereits in seiner Behandlung eines historischen Themas auf einen der Wesenszüge der Romantik hin. Und selbst ohne eine explicite durchgeführte Schilderung haftet dem Gedicht manches von dem Charakter einer Nachtstimmung an. Bei Castro Alves erfährt sie eine weitere Steigerung in ihrer Komponente des Unheimlichen und Gespenstischen, die der Dichter noch um akustische Effekte zu bereichern weiß: "Ñas horas tristes que em neblinas densas A terra envôlta num sudàrio dorme, E o vento geme na amplidào celeste — Cúpula imensa dum sepulcro enorme, — Um grito p a s s a despertando os ares, Levanta as lousas invisivel máo. Os mortos saltam, poeirentos, lívidos, Da lúa pálida ao fatal clarâo." 1 5 0 )

Hierbei ist es vor allem die Schlußzeile, die durch ihre sechsmalige Wiederholung in den folgenden Strophen nicht nur visuell, sondern vielleicht mehr nodi durch ihre eigenartige Musikalität dem Zuge der aus ihren Gräbern aufsteigenden Toten den Charakter des UnwirklichGeisterhaften verleiht. Castro Alves läßt in die vom bleichen Mondschein erfüllte Lichtung die Helden der brasilianischen Unabhängigkeit treten, wo sie zusammen mit anderen Freiheitskämpfern des Landes in die erschütternde Klage ausbrechen: "Aonde a terra que talhamos livre, Aonde o povo que fizemos forte? Nossas mortalhas o presente inunda No sangue escravo, que nodôa o chao." 151 ) Joaquim Nabuco, "Castro Alves*, Rio, 1873, p. 17. ) Das Motto zu diesem Gedicht ist häufig entstellt wiedergegeben. Die Castro Alves wohl bekannte Fassung findet sidi bei Heinrich Heine, "De l'Allemagne", Paris, 1866, vol. II, p. 116. 150) Ά visäo dos mortos", I, 'Poesías Escolhidas", 1947, p. 315. « ι ) "A visäo dos mortos", V/3-6, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 317. 14e

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Keine Antwort wird ihnen zuteil und unhörbar entfliehen sie in die Unendlichkeit, um erst nach hundert Jahren wiederzukehren und die gleiche Frage zu stellen. Nichts bleibt von ihnen als aufwallender Nebel, und es will scheinen, als gliche er dem Staube der Ewigkeit, der von den Hufen ihrer Pferde fällt. Die Invokation der Toten der brasilianischen Geschichte rechnet ohne Zweifel zu den ergreifendsten Anklagen und eindringlichsten Mahnungen des Dichters an die lebende Generation, deren verdammungswürdige Schuld er darin erblicken mußte, das Leichentuch ihrer großen Söhne mit dem Blute der Sklaven befleckt zu haben. Wir erleben hier — ähnlich wie später noch weitaus intensiver in der "Tragèdia no Mar" — einen der schmerzlichsten Konflikte des Dichters und Brasilianers in Castro Alves. Denn wie sehr er sich seiner Heimat verbunden fühlte, zeigen gerade die Sklavengedichte besonders eindringlich. Aber dennoch hindert ihn dieses Gefühl niemals, seinem Abscheu über die Schmach Worte zu verleihen wie diese: "Nos ninhos d'águias que nos restam? — Corvos"152) Dem Charakter dieses Gedichtes entspricht auch seine künstlerisch sprachliche Gestaltung. Die achtzeilige Strophe ist breit angelegt und vermittelt so in jeder einzelnen Zeile eine ganze Reihe von Gedanken, die in einem in sich abgeschlossenen Halbvers nach dem Reimschema "a-b-c-b" zusammengefaßt werden können. Sowohl aus dem visuellen als auch dem akustischen Bereich hat der Dichter jene Elemente zu verwenden gewußt, die ihm zur Herausarbeitung des romantischen Nachtbildes besonders geeignet erschienen: im Lichte der "lúa pálida" hüllen die "neblinas densas" die Erde in ein unendlich weit ausgebreitetes "sudàrio", über welches sich gespenstisch die schattendunklen Gestalten der brasilianischen Geschichte erheben, während der nächtliche Windhauch stöhnend die Weite des Himmels mit seiner Klage erfüllt. Diese "amplidäo celeste" aber vermittelt nicht das erhebende Gefühl des weiten Himmelsrundes, sie gleicht vielmehr einer ungeheuren Kuppel, die den geschlossenen, bedrückenden Charakter eines weltumspannenden Grabes nicht mildert, sondern eher verstärkt. Aus der wehmutsvollen Schwere dieses zeitlosen Schweigens bricht dann um so unvermittelter und grausiger der Schrei hervor, den die "legiäo da morte" ausstößt. Und doppelt bedrückend empfindet der Leser das Schweigen nach dem Verklingen der letzten Stimmen dieses Geisterchores: "E longe, aos ecos ñas quebradas trémulas, Sacode o grito soluçando, — o norte. Sôbre os coreéis dos nevoeiros brancos Pelo infinito a galopar la väo . . . Erguem-se as névoas como pó do espaço Da lúa pálida ao fatal claräo." 153 )

Es konnte nicht ausbleiben, daß diese in der Romantik so sehr bevorzugte Stimmung audi andere brasilianische Dichter inspiriert hat. Es »52) "A visäo dos mortos", VI/5, 'Poesías Escolhidas", 1947, p. 317. 153) Ά visäo dos mortos", VII/3-8, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 317. Textkritisch sei im Vergleich zu den "Obras Completas", 1944, auf diese Ausgabe besonders verwiesen.

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läfit sich daraus allein aber wohl kaum der etwa von Nogueira da Silva erhobene Vorwurf ableiten, Castro Alves "foi c o l h e r . . . as imagens, as expressöes, as f r a s e s . . . como flores cortadas num jardim farto e bem cuidado, na obra de Gonçalves Dias."161) Es ist nicht einzusehen, warum Castro Alves ausgerechnet dem gonçalvinischen "Adeus aos meus amigos do Maranhäo" 155 ' seine Formulierung der "amplidäo celeste" entlehnt haben sollte. Bei G. Dias ist die in der Unendlichkeit des sonnenüberstrahlten Morgens zusammenfließende Weite des Himmels und des Meeres gemeint, bei Castro Alves der Begriff jedoch fast antithetisch dazu verwandt worden. Außerdem aber liegt die Verbindung der "amplidäo" mit dem Wesen des "céu" — oder adjektivisch "celeste" viel zu nahe, als daß ein an Metaphern wahrlich nicht armer Dichter wie Castro Alves hier auf Gonçalves Dias hätte zurückgreifen müssen156'Und selbst dort, wo die castroalvinische "amplidäo celeste"157) der gonçalvanischen "amplidäo sagrada" vergleichbar wäre 159 ', bleiben dodi in der weiteren Ausgestaltung der verwandten, aber in der Romantik j a auch entsprechend häufiger gestalteten Themen derart erhebliche Unterscheidungsmerkmale in Klangbild und kompositorischem Aufbau bestehen, daß der Vorwurf eines Plagiates sich kaum rechtfertigen ließe. Ein völlig anderes Moment aber begegnet uns in der Ausdeutung des Himmelsbegriffes bei dem folgenden Gedicht, durch welches uns Castro Alves erstmalig Einbilde nehmen läßt in die eigentliche Welt der Sklaverei. In den von Schmerz und Verzweiflung gezeichneten Versen der " M a t e r d o l o r o s a " wird der Himmel zum "berço imenso" für den ewigen Schlaf des Kindes, dem die Mutter ein Leben zu ersparen gedachte, dessen Bitternis sie selbst kaum ertrug: "Viva eu captiva a soluçar num ermo . . . Filho, sê livre . . . Sou feliz assim . . . — Ave •— te espera da lufada o açoite, — Estrella — guia-te urna luz fallaz. — Aurora minha — só te aguarda a noite, — Pobre innocente — já maldito estás."169)

Unter dem Schutze der Engel hofft sie, dem Kinde ein besseres Dasein versprechen zu können, über das die Sterne selbst mit mütterlichem Blicke wachen würden (1/3, VII/3). Das Rausdien des Nordwindes trägt für einen Augenblick vorwurfsvolle Klage an ihr Ohr, doch angesichts des sie bedrängenden Bildes von der "fera enchente (que) quebraría o vime", vertraut sie darauf, daß Gott ihr Verzeihung gewähren werde für die Tötung des eigenen Kindes. Dem in seiner irdischen Auswegs154

) Nogueira da Silva, "Gonçalves Dias e Castro Alves", p. 107/8. iss) Gonçalves Dias, "Adeus aos meus amigos do Maranhäo", Zeile 6, in: "Grandes Poetas Románticos do Brasil", p. 387. !5β) Laudelino Freire ("Grande e Novissimo Dicionário da Lingua portuguesa", vol. I, p. 510) gibt sogar ausdrücklich für "amplidäo" die Nebenbedeutungen "Espaço", "Céu". lw ) "A visäo dos mortos", 1/3, 'Poesías Escolhidas", 1947, p. 315. iss) Gonçalves Dias, "Fantasmas", VIII'7, in: "Grandes Poetas Románticos do Brasil", p. 505. Sowohl "celeste" als auch 'sagrado* ist die Komponente des "divinal" eigen. Erwähnt sei am Rande, daß Humberto de Campos gerade den castroalvinischen Vers als ausdrucksvolle und erwähnenswerte Metapher für "céu" zitiert, jedoch hier mit keiner Zeile den sonst häufig angeführten Gonçalves Dias nennt ( Ό Concerto e a imagem na poesia brasileira', p. 70). 159) ' M a t e r dolorosa', IV/3-V/4, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 42.

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losigkeit nur um so unvermittelter hervortretenden Schmerz der Mutter korrespondiert das schlichte, fast anspruchslose äußere Gewand, das der Dichter diesen Versen angelegt hat, die ihre vielleicht ergreifendste Abschiedsklage an die Natur selbst richten: "Ai! borboleta, na gentil chrysalida, As asas de ouro vaes além abrir. Ai! rosa branca no matiz täo pallida, Longe, tâo longe vaes de mim fiorir".160) Es mag vielleicht schwerfallen, in der brasilianischen Literatur ein Bild zu finden, das dieser Ausdeutung des toten Kindesantlitzes als einer vorzeitig gebrochenen Rose gleichkommt, deren seltsam matt schattiertes Weiß nur erahnen läßt, daß ihr ein irdisches Erblühen versagt bleiben wird. So liegt über der "Mater dolorosa" eine ähnlich schicksalhafte Unabwendbarkeit des Sterbens, wie sie bereits aus dem vorangestellten Leitgedanken des englischen Dramatikers Nathaniel Lee spricht. Die Flucht der Sklavin zu dem letzten Mittel, welches einer Mutter gegeben sein mag, ihr Kind vor dem eigenen Schicksale zu bewahren, ist vor allem von manchen Kritikern unserer Zeit bemängelt worden. So hat Edison Carneiro gegen dieses Gedicht eingewandt, es stünde — gleich "A Mäe do Cativo" — "em contradiçâo com todo o seu passado de poeta abolicionista" 161 ). Zunächst aber kann von einer Tradition als Abolitionsdichter damals kaum gesprochen werden, da die "Mater dolorosa" zu den allerersten Versen der Sklavendichtung zählt und so nur wenige Vorläufer besitzt162). Des weiteren scheint es dann aber durchaus, als habe Castro Alves diesen Weg bewußt aufgezeigt. Für ihn erschöpfte sich das Verbrechen der Sklaverei keineswegs im Materiellen. Als Dichter mußten vielmehr in ihm die seelischen Konflikte des Sklaven weitaus nachhaltigere Wirkung zeitigen. So ist es nicht verwunderlich, daß er jenseits allen Flehens um Erlösung aus Schmach und Elend auch jene tiefste Verzweiflung zu einer Anklage werden ließ, die kaum noch großer Worte, wohl aber dumpfer und nur aus dem Unbewußten herzuleitender Handlungen fähig war. Damit aber erhielte gleichzeitig auch jene Frage eine positive Beantwortung, die wissen will, ob eine Sklavin derartiger Regungen überhaupt fähig sein konnte. Es hat sich offenbar in der Kritik der castroalvinischen Sklavendichtung zu stark eine Auffassung durchgesetzt, wonach Sklaven irgendwelcher höheren oder tieferen Empfindungen niemals fähig gewesen sein konnten. In der Behandlung der "Cachoeira de Paulo Affonso" wird noch eingehender auf dieses Problem hinzuweisen sein. Es mag jedoch schon hier vorweggenommen werden, daß sich das Leben der Sklaven keineswegs immer auf einer rein vegetativen Basis vollzog. Es soll nicht bestritten werden, daß in vielen Fällen die materiellen Verhältnisse die Gefahr einer seelischen Abstumpfung in sich bargen. Die Geschichte der brasilianischen Sklaverei verfügt jedoch über manches Zeugnis gerade ιβο) 'Mater dolorosa', II, 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 41. lei) Edison Carneiro, "Trajetória de Castro Alves", p. 95. le2 ) "Mater dolorosa" datiert vom 7-6-1865 und steht somit innerhalb der chronologisch bestimmbaren Gedichte an dritter Stelle, wobei "América" nodi fraglich ist.

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der Kräftigung des geistig-seelischen Widerstandes gegen die Unfreiheit. Durchweg mochte er sich in positiver Betätigung wie etwa der Unterweisung der Kinder äußern. War es aber ausgeschlossen, dafi er auch in negativer Entwicklung zu einem letzten vermeintlichen Siege über das verhafite Dasein in Ketten kommen konnte? Es erscheint als müßig, wollte man nachforschen, ob Castro Alves bei der "Mater dolorosa" das tatsächliche Erlebnis eines Selbstmordes oder einer Kindestötung vorschwebte. Wesentlich bleibt für den Wahrheitsgehalt der Sklavendichtung, daß derartige Vorkommnisse durchaus möglich waren und ihre dichterische Gestaltung im Lichte einer ausweglosen Verzweiflungstat weder eine "estupidez" darstellte, noch ihre abolitionistische Wirkung auf den weiten emotionellen Schwingungsbereich der brasilianischen Volksseele verfehlte. Es mag dabei allerdings die Einschränkung gelten, daß Gedichte wie "Mater dolorosa" — von dem sich übrigens keine frühzeitige Veröffentlichung in Zeitschriften feststellen ließ — stärker unter den Sklaven selbst als unter der freien weißen Bevölkerung bekannt wurden. Gerade die unkomplizierte, mit einem alternierend stumpf und klingend endigenden Reim versehene "Quadra" fand j a bei den Schwarzen so raschen Eingang und trug wohl auch nicht wenig dazu bei, daß dieses Gedicht mit seiner naturverbundenen Darstellungsweise in ihrem Kreise unvergessen blieb. Wesentlich stärker gegliedert hingegen waren bei Verwendung reicher ausgeschmückter Strophen durchweg jene Gedichte, mit denen sich Castro Alves — wie schon in "O Século" — vornehmlich an seine Hörer in der Hauptstadt Recife zu wenden gedachte. Bezeichnend ist dabei, daß der Dichter in ihnen die Sklaverei kaum als Einzelphänomen behandelt, sondern sie in dieser frühen Phase doch meist im Gesamtrahmen allgemein freiheitlichen Gedankengutes beläßt. Dabei gebührt ihr allerdings ein hervorragender Platz und nicht selten nimmt sie sogar durch die synonyme Verwendung von "aboliçâo" für "liberdade" eine geradezu dominierende Stellung ein. Auch diesen Gedichten darf wohl bis zu einem gewissen Grade eine autobiographische Wurzel zugeschrieben werden. So finden sich in " C o n f i d ê n c i a " mehrfach Reminiszenzen an Eindrücke, die dem Dichter in Recife kaum fremd gewesen sein dürften; sei es nun der " rico devasso, Que da música ao languido compasso Embriagado näo vés A criança faminta na rua Abraça u'a rauíher pallida e nua, Tua amante talvez!.. oder gar, als er sich entsann " que o sacerdote As espadoas fustiga com o chicote Ao captivo infeliz; Que o pescador das almas já se esquece Das santas pescarías e adormece Junto da meretriz .. ,"le3) 1«3) ' C o n f i d ê n c i a " , XV, XI, "Obras Completas", 1944, vol. II, pp. 47, 46.

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Aus beiden Strophen spricht deutlich der Abscheu, aber auch die beklemmende Angst, mit welcher Castro Alves die allzu unverhiillten Zeichen des Verfalls geißelt. Mufite er nicht wähnen, dafi auch eines Dichters Mission dieser Welt keine Erlösung mehr zu bringen vermochte? War seine Seele nodi anderes als die halb vergessene "urna da verdade . . . da esperança e do amor" (VIII/5-6)? So finden wir in "Confidência" manche Anklänge an das spätere Gedicht "O derradeiro amor de Byron"; ja, es könnte fast scheinen, als habe sich Castro Alves bereits in jenen Oktobertagen des Jahres 1865 dem freiheitlichen Romantiker Englands wesensverwandt gefühlt. Zunächst tritt in "Confidência" mehr als einmal der italienische Hintergrund hervor, der auch den Rahmen für "O derradeiro amor ..." bildet. Bald ist es eine Anspielung an den "barqueiro de Sorrento (que) fita as nuvens ao luar" (1/5-6), dann wieder klingt es etwas wehmutsvoll und doch von eigenartig fremder Musikalität an unser Ohr: "Tua alma é como as veigas sorrentinas, Onde passam gemendo as cavatinas Cantadas ao luar"164) Andere Assoziationen als an Byron lassen sich kaum für diese Verse finden, die Castro Alves in sichtlichen Gegensatz stellt zu seinen eigenen schmerzlichen Gedanken, die — einem mit mächtig entfalteten Schwingen am Horizont aufsteigenden Condor vergleichbar — alles zu überschatten drohen. In vollendeter Antithese zu den lieblichen Bildern und Gedanken seiner imaginären Maria entsteht des Dichters eigenes Bekenntnis zu einer Welt des Schmerzes und entsagungsvollen Leides: " a selva tem odores, O céu tem astros, os vergeis teem flores Nossas almas o amor." "Ai! tu vés nos teus sonhos de criança A ave de amor que o ramo da esperança Traz no bico ao voar; Eu vejo um negro abutre que esvoaça, Que co'as garras a purpura espedaça Do manto popular." "Eu vejo a noite borbulhar das vagas E a consciencia é quem me aponta as plagas Voltada para Deus" "Tua alma A minha — echo do grito, que soluça, Grito de toda dor que se debruça Do labio a soluçar."106) ι«*) "Confidência", V/l-3, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 44. íes) 'Confidência", II/4-6, III, IV/4-6, V/1, 4-6. 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 44. Für II/4-6 hat Nogueira da Silva ("G. Dias e Castro Alves", p. 109) eine Anlehnung an die "Cançâo do Exilio" vermutet. Die bei beiden Dichtern auftretenden Assoziationen "céu-estrela" (astro), "vergeis (varzeas) — flores" und "alma" (vida) — "amor" sind jedoch m. E. zu allgemeiner Art, als daß sich eine bewußte Inspiration des Autors der "Confidência" durch die 'Cançâo do Exilio' nachweisen ließe.

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Castro Alves erreicht in diesem Gedicht allerdings noch nicht die letzte Konsequenz seines freiheitlichen Denkens, wie sie in dem fünf Jahre später geschriebenen "O derradeiro amor de Byron" sichtbaren Ausdrude finden sollte. Die Freiheit erschien ihm zur Zeit der "Confidência" noch nicht als der letzte Inhalt des menschlichen Daseins. Denn als sich der Schatten der Vergangenheit in nächtlich stiller Einsamkeit aus den Gräbern erhebt16"), weiß der Dichter noch keine Antwort auf die Frage: "Que és tu, poeta? a lampada da orgia Ou a estrella de luz, que os poyos guia À nova redempçâo?" 167 )

Seine Reaktion beschränkt sich auf ein inneres Aufbegehren gegen das heuchlerische Lippenbekenntnis seiner Zeit zu Fortschritt und Freiheit, zu welchem das herzlose Lachen in grauenhaftem Miflklang stehen muß, mit dem die tausendfältigen Schmerzen der Sklaverei begleitet werden. Immer eindringlicher, immer erschütternder wird die Klage des Dichters, bis sie angesichts des "apóstolo — pobre como Jesus — que mendigava, outro'ra à caridade" e "agora adopta a escravidâo por filha" (XII/3-4, XIII/1) in einem verzweifelten Aufschrei endet: "Sinto nâo ter um raio em cada verso Para escrever na fronte do perverso: "Maldiçâo sobre vos!" 188 )

Mit biblischer Gewalt des Wortes flucht er den "tribunos falsos", den "ricos devassos", j a der gesamten Menschheit, die sich christlich zu nennen wage, ohne für ihre Brüder und Schwestern im Unglück auch nur einen Blick des Mitleides zu empfinden. Es mag sein, daß diese castroalvinischen Yerse in ihrer formalen Durchbildung hier und da vielleicht zu beanstanden sind1"9'. Ihre thematische Konzeption sowie symbolhafte Ausdeutung aber lassen sie gleichwohl als überlegen erscheinen, wenn man ihnen etwa Harriet Beecher-Stowe an die Seite stellt. In "The Freedman's Dream: A Parable" geht es auch der nordamerikanischen Autorin um die Unverträglichkeit der Sklaverei mit der göttlichen Schöpfung. Aber nur in einem einzigen Satze erfolgt dort wirklich die Gleichsetzung Gottes mit "one of the least of these my brethren"170). Und im ganzen gesehen beinhaltet ihre Erzählung auch keineswegs jenen kraftvollen Gestaltungswillen, der j a den brasilianischen Autor so sehr auszeichnet. Dennoch haftet der "Confidência" etwas Unvollkommenes an. Das gesamte Gedicht bewegt sich in einer Atmosphäre des Zweifels, vielleicht des Suchens nach einem inneren Zusammenhalt, der ihm zuweilen doch zu mangeln scheint. Die Wurzel ist wohl in tieferen Bereichen als dem Thematischen an sich zu suchen. Es will vielmehr der Eindruck entstehen, als spiegele das Gedicht deutlich die Unausgeglichenheit des i · · ) Auf die ähnlich romantische Grundstimmung in Ά Visäo dos mortos" sei hier verwiesen. 187) "Confidência", VII/4-6, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 45. 108) "Confidência", III/4-6, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 46. t«9) Vgl. die Unzulänglichkeiten in folgenden Reimen: "filha — biblia" (XIII/1-2) allenfalls "rima toante"; "tribuno falso — cadafalso" (XIV/1, 2), "Orgia — tyrannla" (XIV/4, 5). 1 7 °) Harriet Beecher Stowe, 'The Freedman's Dream: A Parable", Washington, "The National Era",1-8-1850.

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frühen Dichters und jungen Menschen Castro Alves wider. Dann aber greift diese Unsicherheit audi in den Bereich des Abolitionismus selbst hinüber, der sich in dieser Phase offensichtlich noch nicht durch die spätere Durchdringung der gesamten Dichterpersönlichkeit auszeichnet. So erklärt sidi das durch die Stellung im Stropheneingang noch besonders hervorgehobene Bedauern, nicht in jedem Verse einen Blitzstrahl zu besitzen, um die "Sdiriftgelehrten und Pharisäer" 171 ) mit seinem Bannstrahl zu treffen. Und mag es auch in den zwei folgenden Strophen den Anschein haben, als steigere sich dieses Ungewitter zu einem furchtbaren Himmelsgericht, in dessen Kulminationspunkt der Leser nicht erstaunt sein würde, das Motto aus dem Matthäus-Evangelium in dichterischer Umgestaltung zu erkennen, so muli der dann folgende offensichtliche Bruch nur um so eher das Gefühl der inneren Zerrissenheit verstärken: "MaldiçâoP!... Mas que importa? . . . Ella espedaça Acaso a fior olente que se enlaça Ñas c'roas festivaes? Nodôa a veste rica ao sybarita? Que important cantos, se é mais alta a grita Das ricas bacchanaes?" 1 7 2 )

Kennzeidinend für diesen Wechsel mag nicht zuletzt auch die äußere Gestalt dieser Strophe sein: Die erste Zeile verrät deutlich das Sudien nach einem, in die neue Richtung weisenden Gedanken; der vierte Yers erscheint herausgelöst aus der zweiten Halbstrophe, und audi in dem insgesamt stark interrogativen Charakter dieser Strophe zeigen sich merklidie Unterschiede zu dem Gesamtbild des Gedichtes. Castro Alves selbst erhebt sich hier nicht über seine Zeit hinaus. Auf die Frage der Vergangenheit nach seiner freiheitlichen Mission findet er als Diditer keine andere Antwort als die einer Gegenfrage: "'Liberdade' pergunto aos horizontes, 'Quando emfim has de vir?!'"173) Dennoch wäre es abwegig, in "Confidência" ausschließlich die Antithese zwischen der lamartineanisdi verträumten Sicht der "noites bellas, onde voa a poeira das estrellas e das constellaçôes" und dem "abysmo que a meus pés fermenta" zu erblicken (XViII/1-3, 4). Bei einer solchen Betrachtungsweise wäre die Sklaverei tatsächlich nur Thema, nicht aber innerer Gehalt eines Gedichtes, dem damit allerdings jene tragende Idee mangeln würde, die den Vorwurf eines Octaviano von einem Ubermaß antithetischer Gestaltung zu entkräften vermöchte174'. Diese Verse enthalten mehr. Sie beleuchten in ihrer tieferen symbolischen Ausdeutung nichts anderes als den Konflikt zwischen der romantischen Idealwelt und dem realen Geschehen, wie es sich in den Empfindungen des Dichters niederschlägt. Noch scheint in dieser frühen Phase das romantische Ideal dem jungen Castro Alves geläufiger zu sein, wie die fließendere künstlerische Gestaltung leicht erkennen läßt. Andererseits aber zeigt allein schon die Tatsache der Identifizierung des Autors mit 1") ) 173) ι?») 17S

Matthäus-Evangelium, Kap. XXIII, 27. "Confidencia", X V I , "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 47. "Confidência", XVII/5-6, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 47. Francisco Octaviano, "Prefácio" zu Rosendo Muniz Barreto, "Vôos Icários", Rio, 1872.

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dem antiromantischen Moment dieser Verse, welcher Richtung er sich innerlich verpflichtet fühlt. Ihre zwar nodi nicht ganz fehlerfreie, aber dennoch von kräftigen Akzenten getragene dichterische Formgebung verrät des weiteren das Gären neuer Kräfte. Und es mag als Verheißung für das nachfolgende Werk der Sozialdichtung gelten, dafi Castro Alves diesen Kräften gerade in den Schlußzeilen der "Confidência" zum Durchbruch verhilft gegenüber dem von Hugo überlieferten romantischen Ideal der restaurativen Kraft der "bonté" und "clémence": "Eu fito o abysmo que a meus pés fermenta E onde, como santelmos da tormenta, Fulgem revoluçôes!!!.. Immerhin bleibt festzuhalten, daß es sich hier noch nicht um eine voll ausgereifte Erkenntnis handelt, wie auch keineswegs ein in allen Einzelheiten zu dieser Entwicklung führender Weg vom Dichter aufgezeigt werden konnte, sondern sich der Übergang zu einer dem brasilianischen Realismus vorgreifenden Form vielmehr fragmentarisch auf den verschiedensten Bereichen, nicht zuletzt dem der Naturschilderung in der "Cachoeira de Paulo Affonso" vollzog. Im allgemeinen sind jedenfalls die Gedichte dieses Jahres 1865 durchaus nodi "romantisch", einerlei, ob sie nun die europäische Vorliebe für den Orientalismus teilen wie in "O S o l e ο Ρ o v o " , oder jene dem brasilianischen Milieu eigene Ausdrucksform finden, die sich so deutlich in der "Tragèdia no Lar" nachzeichnen läßt. Das hervorstechendste Merkmal des erstgenannten Gedichtes ist die Grenzenlosigkeit seiner Dimensionen. Die Sonne wandelt sich zum hunderthändigen Briaraeus des Himmelsraumes, in der unendlichen Weite der Sahara wird Ägypten zu einem unscheinbaren Wesen, das sich fast furchtsam verneigt vor dem das Erdenrund mit blutigem Rot übergießenden Tagesgestirn. Die Übersteigerung erreicht ihren Scheitelpunkt vielleicht mit dem Vergleich des Sonnenweges in seinem Zenith als dem Ersteigen einer stofflich nicht mehr zu fassenden "montanha do infinito" (1/2). Diese metaphorische Überhöhung aber dient lediglich der folgenden Invokation des Volkes, das dieser strahlenden Sonne großzügig gleichgesetzt wird (III/l). Auch das Volk erhebt sich für den Dichter eines Tages aus dem Dunkel der Nacht, oder — gleich Lazarus — aus der ewigen Finsternis des Grabes. Und die tiefere Ausdeutung des Gleichnisses von der Sonne, zugleich aber auch das Aufgreifen des Leitgedankens von Quintana erhellt die Schlußstrophe. Denn hier verheißt der Aufbruch des Volkes keineswegs nur gleißende Helle, sondern auch — wie eben die sengende Sonne über afrikanischem Wüstenland vernichtende Wirkung zeitigen kann — das drohende Fanal rächender Macht: "Oh! temei-os da turba esfarrapada, Que salva o berço à geraçâo futura. Que vinga a campa à geraçâo passada."175) i " ) "O Sol e o Povo", IV, "Obras Completas', 1944, vol. II, p. 50. Auch die in einem Ms. von Antonio Alves de Carvalhal auftretende Variante der dritten Strophe dieses Gedichtes läßt die gleiche Ausdeutung zu.

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So läßt sidi in diesem Gedicht keine direkte Beziehung zur Sklaverei oder zum abolitionistischen Wirken des Dichters aufzeigen. Man kann lediglich seine Eigenheit anführen, dafi hier die bei Hugo als Stoffwelt für eine antithetische Gestaltung der Dichtung fungierenden Sozialkonflikte auf die Realität des zweiten brasilianischen Kaiserreiches übertragen und somit freiheitliche Ideen unter häufiger Wahrung ihres revolutionären Charakters mit der Sklavenfrage identifiziert werden. Einen sichtbareren Ausdruck findet diese Assoziation jedoch in der bereits genannten " T r a g è d i a no L a r " , die in ihrem stark gegliederten Aufbau ohnehin eine gewisse Sonderstellung innerhalb der castroalvinischen Sklavendichtung einnimmt. In erstaunlich eindrucksvoller Weise vereinigte Castro Alves hier eine fast dem Realismus verwandte Naturschilderung mit romantischem Gedankengut und jenen weder Zeit nodi literarischer Schule eigenen Komponenten, als deren bewegendste die verheißungsvolle Befreiung der Sklaven aufgeht in der Erlösung des Menschen im Zeichen des Kreuzes. Das äußere Bild entspricht der inneren Vielfalt, indem einem raschen Szenenwechsel auch eine Reichhaltigkeit der künstlerischen Ausdrucksmittel zur Seite steht, die überraschend ist. Sie reicht von den vierzeiligen Liedstrophen der Sklavin über die durchweg vierhebigen Sechszeiler der vom Dichter selbst in die Handlung eingeschobenen Betrachtungen zum Lose der Sklaven bis zu dem abrupt und schroff gehaltenen großen Dialog einerseits und einer unschwer die Anlage zu Vierzeilern verratenden Einführung an den Leser andererseits. Befremdend mag es dabei zunächst erscheinen, daß Castro Alves die Worte an den Leser nicht an den Anfang des Gedichtes stellt, sondern ihnen einen Platz zuweist, der sich vielleicht gar etwas bescheiden ausnimmt nach dem bereits eingangs erwähnten freiheitlichen Bekenntnis: "Era o relampejar da liberdade Ñas nuvens do chorar da humanidade, Ou sarça do Sinai, — Relámpagos que ferem de desmaios . . . Revoluçôes, vos delles sois os raios, Escravos esperai!..." 176 )

Es kam dem Dichter jedoch offensichtlich mehr darauf an, den Leser zunächst unmittelbar an den Lebenskreis des Sklaven heranzuführen, ihn Einblick nehmen zu lassen in seine Welt: "Na senzala, húmida, estreita, Brilha a chamma da candêa, No sapé se esgueira o vento E a luz da fogueira atêa."177)

Hier sieht er sich einer Sklavin gegenüber, erblickt ihr Kind und lauscht ihrem wehmutschweren Gesänge, der nur unterbrochen wird, wenn ein Windhauch aus dem Sertäo durch das lockere Laubdach streicht und das Kind ängstlich aufschreien läßt. Mit äußerst zarten Strichen zeichnet ΐ7β) "Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 55. 177) "Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 51.

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der Dichter dieses Bild des Kindes, das nodi nicht den Schmerz spürt, der in den seine Hände benetzenden Tränen der Mutter liegt. In dem folgenden Gesänge der Sklavin hat der Dichter das Moment der Verzweiflung nachhaltig dadurch verstärkt, daß er die letzte Yerszeile zu Beginn jeder neuen Strophe wiederholt und so diesen sechs Strophen eine eigene, jedes Absinken vermeidende Melodie unterlegt. Bezeichnend ist dabei, daß die Sklavin keineswegs wie etwa in der zwei Jahre zuvor entstandenen "Cançâo do Africano" 178 ) ihre afrikanische Urheimat besingt, sondern eigentlich dieses Lied alle Merkmale eines brasilianischen Volksliedes enthält. Landschaft, Tierwelt und Menschen sind jenem Brasilien entlehnt, das dem Dichter in seiner bahianischen Heimat am bekanntesten war. Und wieder findet sich die von Castro Alves mit Vorliebe gestaltete Antithese der primär den Sertäo reflektierenden freiheitlichen Landschaft mit der Sklaverei, deren Opfern ein härteres Los beschieden ist als den Tieren, die weder Liebe nodi Heimat kennen: "Eu nâo tenho mäe nem filhos, Nem irmâo, nem lar, nem flores."179)

Das Ende des Gesanges koinzidiert mit dem Erscheinen einer nichts Gutes verheißenden Reiterschar. Eis läßt sich an dieser geradezu filmischen Einblendung einer neuen Szene ablesen, wie sehr der Dichter mit dem Milieu vertraut war, das er hier schildert: "Figuras pelo sol tisnadas, lubricas, Sorrisos, sensuaes, sinistro olhar, Os bigodes retorcidos, O cigarro a fumegar, O rebenque prateado Do pulso dependurado, Largas chilenas luzidas, Que väo tinindo no chao, E as garruchas embebidas No bordado cinturáo."180)

Zum anderen aber wird hier deutlich, daß sich in der Sklavendichtung bei Castro Alves zuweilen eine gewisse Verzeichnung des Weißen feststellen läßt. Es mag dabei das einzelne Detail, herausgelöst aus dem Gesamtgehalt eines Gedichtes, durchaus jedes mindernden Charakters entbehren. In der Gegenüberstellung mit dem oftmals physisch besonders gut profilierten Schwarzen aber läßt eine Schilderung wie die der hier erscheinenden Reiterschar einfach für die Sklavin kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen, ohne daß der Dichter audi nur angedeutet hätte, worin der Sinn ihres Auftretens liegen könnte. Aus diesem Gefühl heraus gestaltet Castro Alves dann in wenigen Strophen das eigentliche Kernstück des umfangreichen Gedichtes. Mag auch die Handlung erst später ihren dramatischen Höhepunkt erreichen, so erfolgt dodi hier bereits die Verdichtung des eigentlichen Konflikt178) Für dieses Gedicht vgl. p. 201. i»·) 'Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 53 ISO) "Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 53.

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stoffes in einer Weise, die zumindest in ihrer gedanklichen Konzeption zu einem der stärksten abolitionistischen Bekenntnisse wird und alles äußere Geschehen nur noch als zwangsmäßigen Ablauf eines sich erfüllenden Schicksales erscheinen läfit. Noch einmal entfaltet sich die Natur in ihrem Reichtum, in ihrer Schönheit und in ihrem Frieden. Aber es geschieht lediglich, um die Furcht der Negerin nur nodi eher als etwas Unbegründetes und Geheimnisvolles gestalten zu können. Daher rührt letztlich auch die Wiederholung der verwunderten Frage: "Porque tremes, mulher? A noite é calma, Um bulicio remoto agita a palma Do vasto coqueiral. Porque tremes, mulher Ρ Que estranho crime, Que remorso cruel assim te opprime E te curva a cerviz?"

Kann man nur das geringste Empfinden f ü r die eigenartige Schönheit der tropischen Natur voraussetzen, so vermeint man doch, für einen Moment selbst das ferne Rauschen der im Nachtwinde sich wiegenden Palmen zu vernehmen. Doch des Dichters Anliegen gestattet kein langes Verweilen. Ihm geht es darum, dieser ihm noch unverständlich scheinenden Furcht der Sklavin nachzugehen. Und da er für sie keine Erklärung zu finden vermag, wähnt er nun die Sklavin schuldig, glaubt, daß sie die Verbergende sei und ein Vergehen zu verheimlichen habe: "O que ñas dobras do vestido occultas? É um roubo talvez que ahi sepultas?",

bis ihm die erschütternde Gewißheit wird: "É seu filho . . . Infeliz".

Bezeichnend ist hier nun die augenblicklich einsetzende Wandlung zum Mitleid, sobald erkennbar wird, vor wem die Sklavin ihr Kind verbirgt. Es paart sich mit der Anklage an eine Welt, die das Recht der Mutter auf ihr Kind als ein Verbrechen ansieht und ihr verwehrt, es zu lieben. Hier greift Castro Alves am stärksten über das Individualschicksal einer einzelnen Sklavin hinaus und identifiziert sie mit der Gesamtheit ihresgleichen in seiner Offenbarung des christlichen Erlösungsgedankens. Ist es zu verwundern, daß der Dichter an dieser Stelle, da dem Gedicht der weitere Ablauf mit allen Stationen menschlichen Leides vorgezeichnet erscheint, sich unmittelbar an den Leser wendet? Die folgenden Verse tragen daher audi kaum so sehr den Charakter einer deplacierten Einleitung, als daß sie vielmehr einem Augenblick des Verhaltens und der Besinnung dienen möchten. Dieser Zielsetzung entspricht auch die recht ungebundene Strophenform, der zwar ein Vierzeiler zugrunde liegen mag, die jedoch im Reimschema vor allem des zweiten Teiles die dreihebigen Zeilen einer nur angedeuteten Ordnung unterwirft. Es scheint, als wolle der Dichter auch im Formalen jeden Anschein des Zwanges vermeiden und vielmehr 9 Castro Alves

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den Leser behutsam auf das Bild vorbereiten, welches ihn erwarten wird: "Leitor, se näo tens desprezo De vir descer às senzalas, Trocar tapetes e salas Por um alcouce cruel, Vem commigo, mas . . . cuidado . . . Q u e o teu vestido bordado Nao fique no chao manchado, No chao do immundo bordel." 1 8 1 )

Selten dürfte es in der brasilianischen Romantik eine ähnlich verhaltene und doch so überaus eindringliche Kritik an einer Gesellschaftsschicht gegeben haben, die kaum an den wirklichen Problemen des Landes Anteil nahm: "Näo venham esses que negam A esmola ao leproso, ao pobre, A luva branca do nobre Oh! senhores, näo manchéis . . . Os pés là pisam em lama, Porém as frontes säo puras. Mas vós nas faces impuras Tendes lodo, e luz nos pés."

Nein, Castro Alves wendet sich an jene, die auch bereit sind, in nachtdunkler Tiefe des Ozeans — treffende Metapher für die patriarchalischaristokratische Gesellschaft des damaligen Recife — nach den echten Perlen zu tauchen und den wahrhaft erstrebenswerten Inhalt des Daseins zu erkennen. Und selbst ihnen prophezeit er ein Bild, das in seiner Übersteigerung etwa "guillotinierter Seelen" zwar unserem heutigen Empfinden wenig zusagt, aber durchaus geeignet sein mufite, dem damals propagandistischen Charakter der Abolitionsdichtung dienlich zu sein: "Vinde ver como rasgam-se as entranhas D e uma raça de novos Prometheus, Ai! vamos ver guilhotinadas almas D a senzala nos vivos mausoleus." 1 8 2 )

Und wahrlich, weder flehentliches Bitten nützt der Sklavin, noch findet die Anrufung der Jungfrau Maria Gehör. Noch einmal beschwört sie vor den Sklavenhändlern das trostlose Bild eines Menschen herauf, dessen einziges Glück auf dieser Erde in ihrem Kinde liegt: "Seu riso é minha alvorada, Sua lagrima doirada Minha estrella, minha luz! É da vida o único brilho . . . Meu filho! é m a i s . . . é meu f i l h o . . . Deixai-me o em nome da C r u z ! . . ," 183 ) ) 'Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 55. 182) "Tragèdia no Lar", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 56. 183) 'Tragedia no Lar', "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 58/9. 181

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Diese Verse zählen nächst der "Orfä na Sepultura" zu den ergreifendsten Dichtungen, in denen Castro Alves ein durch Leid und Schmerz getrübt erscheinendes Glück gestaltet hat, das seine — allerdings überirdische — Verklärung erfährt durch die zuweilen fast unhörbar mitschwingenden Gedanken christlicher Liebe und Vergebung. Diese Kraft aber muß vergeblich sein, wo sie nicht Herzen findet, in denen sie zu wirken vermag. Das Flehen um Milde, die Anrufung der Mutter Gottes können nicht erhört werden, da es dem Dichter um die Erweckung menschlichen Mitgefühls geht, das erst durch Opfer reift. Castro Alves — so will es scheinen — war sich der Macht emotioneller Kräfte in jenem Brasilien wohl bewufit, das sogar wirtschaftliche Blüte und Wohlstand opfern sollte, wo die vermeintliche Menschlichkeit solches verlangte. Die größtmögliche Wirkung dieses Gedichtes aber vermochte unter einem solchen Aspekt lediglieli ein tragisches Ende zu zeitigen. Sie konnte nur aus der Klage einer Sklavin erwachsen, die ihr Kind wirklich verloren hatte an jene "homens de pedra" mit ihren "sepulchros onde é morto o coraçâo". Nur um dieser Endphase willen greift der Dichter nochmals auf die brasilianische Natur zurück, die sich nun jedoch in einem völlig anderen Lichte zeigen muß. Gehetzt von der Hundemeute stellt sich der Jaguar — castroalvinisches Sinnbild des freiheitlichen, ungebundenen Naturgeschehens — zum Kampfe und zerfleischt seine Verfolger, ohne jedoch ihrer Überzahl Herr zu werden. In diesem Jaguar erblickt man ohne Schwierigkeiten die Sklavin selbst, die sich nun mit letzter Verzweiflungskraft auf die Schar der Sklavenhändler stürzt: "Nem mais um passo, cobardes! Nem mais um passo, ladrôes! Se os outros roubam as bolsas, Vós roubais os c o r a ç ô e s ! . .

Doch sie kann das Schicksal nicht mehr abwenden, und es bleibt nichts als das Stampfen der Pferde. In ihm erstickt das Weinen des geraubten Kindes wie audi das schrille Lachen einer dem Wahnsinn verfallenden Sklavin... Als ein nicht unwesentliches Merkmal der "Tragedia no Lar" mag ihre enge Verbundenheit mit dem brasilianischen Milieu in Erinnerung bleiben. Dennoch findet sich kaum ein Hinweis auf den rassischen Ursprung der Sklavin, wiewohl man annehmen darf, daß es sich um eine Schwarze handelte. Daraus erhellt bis zu einem gewissen Grade, daß Castro Alv ^s die Sklaverei keineswegs als ein ausschließlich brasilianisches Problem gesehen hat, sondern nur von seinem Standpunkt aus den Kampf um die Abolition in Brasilien als die vordringlichste Aufgabe im Rahmen der gesamten Sklavenbefreiung erblickte. Hinzu kommt allerdings, daß dort, wo sich seine Sklavendichtung innig mit dem heimatlichen Hintergrund verbindet, sie eben jene erstaunliche Leuchtkraft einerseits wie auch jene oftmals unerwartet tiefe seelische Leidensfähigkeit andererseits verrät, die jenseits aller Bemängelung künstlerischer Formgebung die eigentliche Größe dieses Dichters aus9*

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machen. So wird Castro Alves weniger zum "poeta dos negros" als wirklich zum "poeta dos escravos". Das wird besonders deutlich, sobald er sowohl über den nationalen Bereich als audi seine eigene Generation hinausgreift und sich — wie etwa in "O s i b a r i t a r o m a n o " — der Sklaverei im Rom der späten Kaiserzeit zuwendet. Auch ohne Nennung des Namens Victor Hugo bleibt nicht verborgen, daß Castro Alves sich hier nodi in erheblichem Maße dem Orientalismus der französischen Romantiker verpflichtet fühlt. Das "molle perfume do Oriente" (1/4) umfängt das ganze Gedicht mit seinem Duft, der geradezu einlädt zu lasterverheißender Muße. Das stark ausgeprägte sinnliche Empfinden des Dichters kommt hier zu einer Entfaltung, wie sie sonst nur in wenigen Gedichten der "Espumas Flutuantes" zu finden sein dürfte, und es verbindet sich der etwas unglücklich benannte "Tropicalismus" mit der Sinnenfreudigkeit eines spätrömischen Kaiserreiches, dessen Sitz wir nur zu deutlich in Byzanz vermuten dürften, ließe nicht der Titel des Gedichtes audi eine geographische Assoziation an das unteritalienische Sybaris zu. Lediglich in den Ausblicken auf die vom Blute zerfleischter Sklaven gerötete Arena mag eine gewisse Erinnerung an die Auspeitschung eines Sklaven auf den Plätzen von Recife anklingen. Und gleichermaßen verhalten ist audi die Reaktion des Sklaven auf das Begehren des Sybariten, ihm die eigene Schwester zuzuführen: " Escravo desgraçado, A este nome tremeu-te o braço enxangueP Yê . . . Manchaste-me a toga com o phalerno, Irás manchar o Colyseu com o sangue!"184) Nichts findet sich hier, was an Auflehnung, an Rache für die zugefügte Schmach erinnern würde, wie sie in den "brasilianischen" Sklavengedichten auftritt. Und so will es scheinen, daß dieses audi in seiner äußeren Form recht anspruchslose Gedicht mit seinen farbigen Detailschilderungen zwar für die thematische Yersalität des Dichters zu sprechen vermöchte, in seiner abolitionistischen Bedeutung aber doch stark zurücktreten muß, da es allenfalls in einigen Zügen des Sybariten Vergleiche mit der Pernambucaner Sklavenaristokratie zuließe185), hingegen kaum dem Sklaven als Zentralfigur der "poesia abolicionista" gerecht zu werden vermag. Wenn in diesem Zusammenhange von "brasilianischen" Sklavengedichten gesprochen wurde, so möchte der Verfasser darunter diejenigen Verse verstanden wissen, in denen der Dichter sich mit den spezifisch brasilianischen Problemen der Sklaverei auseinandersetzte oder in denen ansonsten der brasilianische Schauplatz eine derartige Zuordnung rechtfertigt, ohne daß allerdings eine scharf umrissene Gruppenbildung dieser Gedichte im Sinne der einleitenden Ausführungen vorgenommen werden könnte. «) "O sibarita romano", XII, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 63. iss) Vgl. Mario de Andrade, "Castro Alves" in: "Revista do Brasil", ano 2, no. 9, março de 18

1939, p. 5.

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Es ist dabei nicht immer notwendig, daß diese Gedichte in ihrer grundlegenden Idee der Inspiration unseres Dichters selbst entstammen. Eine Reaktion, die der des Sklaven aus "O sibarita romano" geradezu entgegengesetzt verläuft, findet sich beispielsweise in " A C r e a n ç a " und damit in einem Gedicht, das — wie bereits erwähnt — vielleicht die unmittelbarsten Bindungen an Victor Hugo aufweist. Im äußeren Yersbilde weisen beide Gedichte eine sechszeilige Strophe auf, doch reimt sie bei Hugo "a-a-c-b-b-c", bei Castro Alves hingegen "a-c-a-b-c-b". Dadurch wird zwar die Zäsur nach der dritten Zeile nicht beeinträchtigt, doch erzeugt Castro Alves innerhalb jeder Halbstrophe einen stärker pulsierenden Rhythmus als Hugo. Ferner tritt bei Castro Alves der Dichter dem Kinde bereits in der ersten Gedichtzeile selbst gegenüber, die zudem nodi interrogativen Charakters ist, während Hugo zunächst weit ausholend gewissermaßen eine deskriptive Einführung gibt. Wesentlich breiter ist sodann bei Hugo auch die Darstellung der möglichen Wünsche des Kindes angelegt. Sie reicht bis in die letzte Halbstrophe, um erst dann in schroffer Antithese Halt zu machen vor dem aus Kindermund so ungeheuerlich klingenden "Je veux de la poudre et des balles".

Bei Castro Alves füllt das Fragen nach des Kindes Wünschen nur eine einzige der vier Strophen aus. Es wird sogleich deutlich, daß hierin kaum die Wurzel des Gedichtes liegen kann, dessen Transposition sich überdies nicht nur auf den Bereich der Sprache beschränkt. Sie findet vielmehr daneben auch in der Gestaltung der Landschaft der "baunilha" und "granadilha" ihren Ausdruck, wenn man nicht gar die Verwendung des Anglizismus "savana" als absichtlichen Mundonovismus zu deuten gedächte. Eigen ist dem brasilianischen Dichter des weiteren auch die verschiedenartige Symbolik des trauernden Kindes: "É triste ver urna alvorada em sombras, Urna ave sem cantar. O veado estendido ñas alfombras. Mocidade, és a aurora da existência, Quero ver-te brilhar. Canta, creança, és a ave da innocência."18®)

Schließlich aber bleibt auch der eigene Wunsch des Kindes nicht so unverständlich wie bei Hugo. Denn Castro Alves gibt bereits vorher einen Blick frei auf das grausame Verbrechen, welches dem Kinde die Mutter nahm, so daß dann die abschließende Antwort kaum so überraschen kann wie bei dem französischen Romantiker: "Amigo, eu quero o ferro da vingança". (IV/4)

Bereits bei der allgemeinen Behandlung des Hugo'schen Einflusses auf Castro Alves wurde diesem Gedicht eine Eigenständigkeit nicht versagt. Castro Alves hat weder den Hugo'schen Gedanken schablonenhaft nacherlebt, noch ist eine sklavische Nachahmung der Form festzustellen. Der Wandlung des inneren Gehaltes steht vollgültig auch eine « · ) Ά Creança*, II, O b r a s Completas', 1944, vol. II, p. 64.

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Umformung des Menschen zur Seite. Er verrät selbst in den feinsten Regungen nodi deutlich, den brasilianischen Autor, wie die folgende Metapher erkennen läßt: "Dou-te um ninho, urna fior, dou-te urna palma, Para em teus lábios ver O riso — a estrella no horizonte da alma". 187 )

Die Weite, die dieser Horizont unausgesprochen umschließt, ist wiederum der frühen Heimat des bahianischen Recôncavo oder gar des Sertäo entnommen. Es ist die gleiche Welt, die jener Wanderer einsam durchmißt, den der Dichter auch in den Versen "A C r u z d a E s t r a d a " anspricht: "Caminheiro que passas pela estrada, Seguindo pelo rumo do sertào," 1 8 8 )

Das Landschaftsbild des Sertäo ist hier erneut mit zartesten Farben behutsam getönt. Kein einziger greller Mißton beeinträchtigt die Harmonie. Und an den Wanderer richtet sich auch die Bitte des Dichters, dieses Bild des Friedens nicht zu stören, indem er etwa einen Zweig bräche und ihn auf das Grab des Sklaven am Wegesrande legte. Die Behutsamkeit des Dichters geht dabei so weit, daß selbst dieser Zweig noch in sich etwas von dem Versöhnlichen birgt, das die gesamte Atmosphäre atmet. Es ist ihm nicht um irgendeinen beliebigen Zweig zu tun, sondern der Dichter greift zum duftenden "ramo de alecrim" und bleibt somit in einer Welt, die "borboletas", "gaturamos" und "juritis" erfüllen. Diese Natur aber ist nicht nur rein szenische Kulisse mit ihrem Sertäo, ihrem Taquaral. Sie vereint sich weitaus inniger mit dem Geschehen, indem sie es ist, die den toten Sklaven betrauert, dem Menschen kein Andenken bewahren und dem daher Gott in ihrem Schöße ein "leito de verdura" bereitet. Nichts kann mit besserem Verständnis den Frieden des spätnachmittäglichen Sertäo schildern als die Stimmen jener Vögel, die ihm gleich Vorboten des nächtlichen Schlummers das nahende Ende des Tages verkünden und deren Gesang hier der Dichter mit so feinem Gehör aufnimmt und zur Totenklage für den Sklaven werden läßt: " O gaturamo Geme por êle, à tarde, no sertâo. E a juriti, do taquaral no ramo, Povoa, soluçando, a solidâo." 189 )

Selbst sie verstummen jedoch, als dann wirklich die Nacht hereinbricht, die — wie so häufig bei Castro Alves — nicht nach herkömmlich romantischer Art bleiches Mondlicht über einen von drohenden Wolken teils verhangenen Schauplatz ausgießt. Die Tropennacht ist weit und klar, ihre Sterne überstrahlen das Firmament, und die nächtliche Stille « ? ) "A Creança", III/4-6, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 65. íes) Ά Cruz da Estrada", 1/1-2, 'Poesías Escolhidas", 1947, p. 347. 189) Ά Cruz da Estrada", IV, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 348. Vgl. auch Η. Lopes Rodrigues Ferreira, "Castro Alves", p. 654.

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läßt das ferne Rauschen eines Wasserfalles zum Zwiegespräch des allgegenwärtigen Gottes mit dem Grabe am Wegesrande werden: "Quando, à noite, o silêncio habita as matas, A sepultura fala a sos com D e u s . . . Prende-se a voz na bôca das cascatas, E as asas de ouro aos astros là nos céus."180)

Fast scheint es, als stünden wir am Grabe eines Sklaven, dem eine Mutter nicht — wie in "Mater dolorosa" — das Leiden eines irdischen Daseins in Ketten hatte ersparen können. Es sind die gleichen "borboletas" und "asas de ouro" wie in jenem n u r zwei Wochen zuvor entstandenen Gedicht und es fehlt auch nicht die analoge Assoziation an den ewigen Schlaf: "Caminheiro! do escravo desgraçado O sono agora mesmo começou!" (VII/1-2).

In diesen Versen mit ihrer äußerst behutsam geführten Sprache offenbart sich Castro Alves weitaus unmittelbarer als in seiner Liebeslyrik als einer der ausdrucksvollsten und zugleich feinfühligsten Lyriker der brasilianischen Romantik. Und fast scheint es f ü r einen Moment unvorstellbar, daß der gleiche Dichter über jene Gewalt des Wortes und Fülle des sonoren Verses verfügen konnte, wie wir sie bereits beobachten konnten und wie sie auch jetzt wieder aus dem " B a n d i d o N e g r o " aufklingt. Eine wilde Schar glaubt der Leser in gestrecktem Galopp an sich vorbeijagen zu sehen. Das Stampfen ihrer Hufe wird weit nachhallend untermalt durch den nach jeder Strophe eingeschobenen Zwischenvers: "Cahe, orvalho de sangue do escravo, Cahe, orvalho, na face do algoz. Cresce, cresce, seara vermelha, Cresce, cresce, vingança feroz".

Aber wie viel mehr liegt in diesen Zeilen als eine rein akustische Klangfülle! Wie viel Elend vereinigt sich hier, wie stark bri dit stets wieder das Gefühl der Rache sich Bahn, harrend der Stunde, da die keimende Saat aufgehe! Unter dieser drohenden Rache aber erzittert bereits heute die Erde, und der Wind trägt ihren Freiheitsruf in alle Himmelsrichtungen. Dem Fazendeiro lähmt er die das Glas zum Munde führende Hand, läßt ihn erstarren beim Anblick dieser wilden Schar: "Que demonios säo estes medonhos, Que là passam famintos e nús?"191)

Doch nichts anderes erbitten sie von ihm als ihre Frauen, ihre Mütter. Freilich — und darin liegt die verhaltene Tragik dieser Verse — sdiwingt in ihrem Flehen nicht nur das Leid mit, sondern weitaus stärker noch «o) Ά Cruz da Estrada", VI, "Poesías Escolhidas", 1947, p. 348. " i ) 'Bandido Negro", VII/5-6, 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 70.

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eine bittere Anklage gegen die Grausamkeiten, die ihnen der Fazendeiro zugefügt hat: "Este é o filho do anciâo que mataste, Éste — irmäo da mulher que manchaste ... Oh! näo tremas, senhor, säo teus caes. Sâo teus câes, que têm frío e têm fonie, Que há dez sec'los a sède consome .. ,"192) Aus dieser Sicht wird verständlich, dafi der Dichter die Sklaven in einer redit glorifizierenden Beleuchtung zeichnet, die ihnen manche Züge vermittelt, denen das heutige Bild von der Sklaverei nicht in allen Einzelheiten zu entsprechen vermag. Einmal mufi aber dem Dichter zugute gehalten werden, daß seine eigene Zeit die Schwarzen nodi anders betrachtete, als eine spätere Dichtergeneration etwa mit Jorge de Lima es zu tun vermochte. Des weiteren aber entsprach eine gewisse Verherrlichung audi durchaus den Gebräuchen der Romantik. Man denke lediglieli' an den Indianismus eines Gonçalves Dias in der Yerskunst oder an den nicht minder exaltierten Indianerkult eines José de Alencar im Roman. Dabei wird dodi wohl deutlich, wie zurückhaltend eigentlich Castro Alves blieb, wenn er im Kontrast zu dem Sklavenhalter die Schar der "Negros Bandidos" zu "leôes africanos" (XIII/1) oder einer "rajada de heroes" (XV/3) erhebt. Diese Überhöhung entspricht letztlich einer im Rahmen der normalen Vorstellungswelt unbefriedigt bleibenden Suche des Dichters nach geeigneten Metaphern für das Kernstück seines Gedichtes, mögen es nun in diesem Gedichte die "Bandidos negros" sein oder im folgenden Falle der gesamte amerikanische Kontinent: Denn in dem Gedicht " A m e r i c a " ist auch die "filha das mattas" lediglich Synonym eines Kontinents, wenn sie ihr Haupt auf die Anden bettet, während sich zu ihren Füßen der Atlantische Ozean erstreckt. Allerdings handelt es sich hier im Gegensatz zu manch anderer Ausdeutung des Begriffes "América" kaum um den Gesamtkontinent als vielmehr um Südamerika. Dafür sprechen nicht nur die "pampas do Sul" (1/2), die "palmas brilhantes" (1/3) und das Idealbild eines immerblauen Tropenhimmels, es ist vor allem die einzig südamerikanisch und besonders brasilianisch auszudeutende "filha das mattas" als einer "cabôcla morena" (II/l). Selbst wenn man einmal nicht unterstellen wollte, daß dem Dichter hierbei der autochthone Ursprung des Wortes "cabôclo" vorgeschwebt hätte, so läßt doch auch die explicite durchgeführte Assoziation an "moreno" erkennen, daß es sich hier um einen Menschen seines eigenen Landes, wenn nicht gar des Sertäo selbst handelt193). Es ist also eine Landschaft, in der "onças", "cipos", ιβ2) "Bandido Negro*, IX/4-6, X I / l - 2 / O b r a s Completas', 1944, vol. II, p. 70. 193) Laudelino Freire gibt in seinem 'Grande e Novissimo Dicionário da Lingua Portuguesa", vol. II, p. 1131, für cabôclo u. a. folgende Bedeutungen an: 1) "indigena brasileiro de cor acobreada", 2) "homen do sertäo de cor morena acobreada, caipira, roeeiro, sertanejo", 3) "mulato de cor de cobre, descendente de bugres". Der Ursprung für "cabôclo" ist im Tupi-Guarani zu suchen, 'caa + boc" = de cor de cobre, acobreado.

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"arapongas" und "tropeiros" nicht fremd, sondern geradezu Bestandteile ihres charakteristischen Wesens sind. Vor allem am Beispiele der "araponga" und des "tropeiro" läfit sich dabei die Feinheit des akustischen Einfühlungsvermögens bei Castro Alves ablauschen. Zunächst mag es nämlich scheinen, als habe der Dichter beide Elemente in recht unglücklicher Weise verwandt, wenn er sagt: "E a triste araponga que geme chorosa E a voz dos tropeiros em terna cançâo".194)

Entsinnt man sich der harten, metallischen Stimme des benannten Vogels, ruft man sich die meist doch recht rauhe Stimme der Maultiertreiber in die Erinnerung zurück, so will es sicherlich scheinen, als ließe sich das vom Dichter geschaffene Klangbild kaum rechtfertigen, es sei denn unter· der verklärenden Macht eines Traumbildes, das ja seine "cabôcla morena" gefangen nimmt (Y/i). Nun liegt ohne jeden Zweifel darin ein poetischer Kunstgriff, das Rauhe, Unmelodische durch einen Traum im betäubend duftenden Sertäo völlig zu wandeln. Daneben aber bleibt noci zu erwähnen, daß gerade in dieser Stimmung der Gesang der Treiber durch die Weite der Landschaft, wie vielleicht auch ihr eigenes Empfinden zur tagentrückten Stunde dieser "tarde saudosa" einen seltsam sehnsuchtsvollen Klang annimmt, der dem Dichter durchaus als eine "terna cançâo" erscheinen konnte. Und audi dem Ruf der "arapongas" wird dann leicht ein etwas klagender Unterton eigen, der kaum noch an das bekannte metallische Klirren erinnert, das dem Yogel im Volksmund die Bezeichnung eines Hufschmiedes gab. Angesichts der hereinbrechenden Nacht aber ersteht Castro Alves erneut als Lyriker der brasilianischen Tropen, die ihre ganze Weite nur erahnen lassen, ihre tiefste Schönheit nur enthüllen, "Se a ilha de prata, se a pallida lúa Clarea o levante, que amores nao tem! Parece que os astros sao anjos pendidos Das frouxas neblinas da abobada azul, Que miram, que adoram ardentes, perdidos, A filha morena das pampas do Sul."195)

Wo diese Stimmung jedoch ihre stärkste Verinnerlichung erfährt, wo die Sterne des weiten Nachthimmels — Engelswesen des Schöpfers dieser Welt — herabsinken, um zu vergehen im morgenfrischen Tau, da wandelt audi der Dichter seine Sprache, wird er wieder zum Epiker. Mit einem Streich zerstört er die Traumlandschaft und beschwört eine Wirklichkeit herauf, die nur in den Antipoden schlaglichtartig aufleuchtet, da sie nur Reichtum und Armut kennt, nur Freiheit oder Versklavung gelten läßt. Hier setzt des Dichters eigenstes Wesen sich durch: Nichts gelten ihm die Güter dieser Welt, wenn sie mit dem Blute der Sklaven benetzt sind. Die Freiheit erscheint ihm selbst dann als Losung jedes neu anbrechenden Tages, wenn sie von der Armut getragen wird. Und i " ) 'América", V/3-4, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 74. «») "América", VI/3-4, VII, 'Obras Completas', 1944, vol. II, p. 74.

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gleich seinem so häufig in diesem Sinne angerufenen Condor erhebt sich Castro Alves hier erneut zu den aufragenden Gipfeln der Anden: "Sé pobre, que importa? Sê livre . . . és gigante, Beni como os condores dos pincaros teus!" 1 8 6 )

Eine völlig andere, weitaus eher dem romantischen Empfinden angepaßte Nachtstimmung als in "América" aber tritt uns dann in dem Gedicht " R e m o r s o " entgegen. Sie erinnert in mancher Beziehung an die "Visäo dos Mortos". Dort war es etwa das von Heine aufgegriffene Moment der Kyffhäusersage, das den Leitgedanken abgab. Hier ließe sich — sofern man ein Pendant in der deutschen Literatur zu suchen bestrebt ist — vielleicht ein gewisser Anklang an den "Erlkönig" verzeichnen. Der äußere Anlaß für diese Verse ist vom Dichter selbst mit der Ermordung des nordamerikanischen Präsidenten und Abolitionisten Abraham Lincoln gegeben worden, doch geht es ihm weder um den politischen Aspekt des Verbrechens noch um die Frage der weltlichen Bestrafung des Verdammten. Für Castro Alves liegt das Problem tiefer, er gewinnt der Tat als solcher ihre menschlichen Aspekte ab, gestaltet das Verdammungswürdige des Mordes wie auch — in noch stärkerem Maße — das Gefühl der Ausgeschlossenheit, dessen sich der Mörder nicht erwehren kann. Die sprachliche Ausgestaltung des Gedichtes ist dabei teils redit gut gelungen, wie etwa die häufige Verwendung dumpfer Vokale in den ersten Verszeilen zeigt, wodurch die vom Nebel halb verschluckten Hufschläge des galoppierenden Pferdes eine überraschend "echte" Untermalung erfahren: "Cavaleiro, sinistro, embuçado, Neste negro cavallo montado, Onde vaes galopando veloz?" 1 9 7 )

Das Moment des Ruhelosen kommt ferner durch den Aufbau der "a-a-c-b-b-c" reimenden Strophe noch besonders zur Geltung, in der die Schlußzeilen jeder Halbstrophe männlich endigen und überdies ein- oder höchstens zweisilbig ausklingen 108 '. Die klangliche Ausschmückung aber verstärkt auch noch den Charakter des Unheimlichen romantischer Nachtstimmung, wie etwa mit dem "ulular" der "lugubre voz". Noch weitaus eindringlicher ist letztlich die visuelle Darstellungskraft des Dichters. Er versetzt den flüchtigen Reiter wahrlich in eine Landschaft, die von gespenstischem Leben erfüllt zu sein scheint. Im fahlen Nachtlichte wallen Nebel; sie scheinen bizarre Gestalten zu umweben, während drohend aufragende Wälder plötzlich in Bewegung geraten, auf den Weg des Reiters zueilen und sich aus ihnen einzelne Wesen mit häßlich gerechten Hälsen lösen, die nach dem Flüchtenden greifen wollen. Einen einzigen Blick aber werfen sie lediglich auf die Stirn des Verruchten und selbst sie — Sinnbild des gespenstisch Verzerrten —wenden lee) 'América', XI/1-2, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 75. 107) "Remorso", 1/1-3, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 76. 1B8) A u s n a h m e : II/6: a m p l i d â o , ΙΙΙ/6: h i b e r n a l .

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sich voll Grauen ab, fliehen zurück und sind einen Augenblick später Verseilungen von den undurchdringlich wogenden Nebelfeldern. Mag der Reiter auch seinem Pferde die Sporen versetzen, mag es mit weit ausgreifenden Schritten durch das Dunkel j a g e n . . . , vergebens muß dodi sein Trachten bleiben. Denn niemals wird er dem Zeichen entfliehen können, das eingebrannt in seine Stirn grausames Zeugnis ablegt von seiner Tat: "Ai! debalde galopas a est'hora! É debalde que sangra na espora Negro flanco do negro corcel. Näo apagas da fronte o ferrete Onde o crime com frió estilete Nome estranho bem fundo gravou."190)

Es gibt für ihn kein Entrinnen vor dem eigenen Gewissen, das ihm in hundertfacher Gestalt entgegentritt und verfolgen wird bis in die Unendlichkeit: Onde o crime com frío estilete Mesmo oculto nos veus do infinito Tua sombra te morde nos pés."200)

Vor allem in dem Reichtum düsterer Metaphern liegt der romantische Gehalt dieses Gedichtes, dessen einzige Verbindungslinie zu dem Problem der Sklaverei über die Ermordung Lincolns führt und somit rein äußerlich beschränkt bleibt. Denn in den Versen selbst hat Castro Alves nicht ein einziges Mal auf dieses oder irgendein anderes Vorkommnis Bezug genommen, sondern sich lediglich des besagten Gesdiehens als Ausgangspunkt für seine zuweilen in den Bereich des Mystischen weisenden Gedanken bedient. Es mangelt dem Gedicht zweifellos an jedweder realer Handlung, dodi verliert es dadurch keineswegs an innerer Spannung, da diese mehr von einer Steigerung des eigenen Angstgefühles genährt wird als von einer ja nicht vorhandenen aktiven Dramatik. So mögen diese Verse für den abolitionistisdien Gehalt des Gesamtwerkes von untergeordneter Bedeutung sein, dodi geben sie sicher nützliche Hinweise f ü r die innere Verhaftung des Diditers in manchen Wurzeln der europäischen Romantik. Aber nicht nur die unheimliche Nachtstimmung hat j a der europäischen Romantik ihr eigenes Gepräge gegeben. Auch ihr Exotismus bereicherte sie um manches unvergessene Gedicht. In Frankreich fand er seine vollkommenste Gestaltung vielleicht im Orientalismus eines Victor Hugo, und es kann nicht übersehen werden, daß Castro Alves auch hier den einen oder anderen Blick auf das ihm lebendig erhaltene Werk des französisdien Romantikers geworfen hat. Seine Bindung an Hugo ist dabei zuweilen redit eng und führte so im " C a n t o d o B u g - J a r g a l " zu einer direkten Übertragung aus dem Französischen. Es bleibt eine redit schwierige Aufgabe, wollte man ent«») "Remorso", V/l-3, VI/1-3, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 77/8. 20°) "Remorso", VIII/4-6, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 78.

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scheiden, ob sich Castro Alves mehr d u r i die Liebeslyrik dieser Verse angezogen fühlte, oder ob ihn die K o n f r o n t i e r u n g der "branca filha de Hespanhola " mit dem Schwarzen anregte, die Übertragung vorzunehmen. Beide Seiten dieses Gedichtes entbehren nicht schimmernder P e r l e n dichterischer Gestaltung, dodi läßt wohl der Einschlufi dieser Verse in die Sklavendichtung die Vermutung zu, dafi es Castro Alves eher u m die H e r a u s a r b e i t u n g des rassischen Problemkreises ging 201 '. Ihm ordnete er somit audi die lyrischen Aspekte unter, v e r w a n d t e sie zu einer farbprächtigen Ausschmückung des Liebeswerbens, das vergebens sein mufi angesichts der u n ü b e r b r ü c k b a r scheinenden Gegensätze der Rasse. K e r n p u n k t des im A u f b a u wie im Reim recht lockeren Gedichtes ist d a n n die Ü b e r w i n d u n g dieses Konfliktes im Schwarzen durch die Macht der Liebe selbst: "Eu sei que és branca e eu negro, mas precisa O dia unir-se à noite feia, escura, Para crear as tardes e as auroras, Mais bellas do que a luz, mais do que as trevas!"202) Man könnte bei Kenntnis der Behutsamkeit, mit welcher der Dichter die Schönheiten der tropischen Nacht zu gestalten weiß, fast annehmen, es sei ihm nicht sonderlich, ernst um diese "noite feia, escura" gewesen. Es darf aber wohl nicht außer acht gelassen werden, daß hier die Nacht nicht n u r als Gegensatz zum lichterfüllten Tage gedacht ist, daß nicht n u r dem oft im Schwarzen zu beobachtenden Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem, oder s t ä r k e r noch gegenüber d e r Weißen Rechnung getragen w e r d e n soll, sondern es sich hier in erster Linie um die verständliche Selbsterniedrigung des Liebe erflehenden Mannes gegenüber "Ah, sou bem formidavel na verdade. Sei ter amor, ter dores e ter cantos!"203) der Angebeteten handelt. Das wird besonders deutlich, da es j a um eine geistig-seelische Bescheidung geht, w ä h r e n d e r seine körperliche Liebesk r a f t keineswegs geschmälert sehen will: Castro Alves r ü h r t damit an ein Problem, das nicht n u r innerhalb der brasilianischen L i t e r a t u r zu mancher Kontroverse Anlaß gegeben hat. Die F r a g e nämlich, inwieweit das autochthone Element — und hier im besonderen Maße der Negersklave — ü b e r h a u p t tieferer Regungen als d e r j e n i g e n des physischen Lebens fähig ist, steht erneut zur Debatte. D e r Verfasser muß es sich jedoch aus R a u m g r ü n d e n versagen, hier ausführlicher auf diesen Komplex einzugehen, als es etwa bereits anläßlich der Betrachtung der "Mater Dolorosa" geschehen ist. In diesem Falle n u n besitzt Castro Alves sogar das u n m i t t e l b a r e Vorbild Victor Hugos. Und wieder geht es eigentlich im G r u n d e um seelische Konflikte. Man k a n n allerdings einwenden, daß auch Hugo eine eingehendere Kenntnis der f r e m d e n Völker sogenannter niederer K u l t u r s t u f e gefehlt haben muß, also auch er nicht gut vermeiden konnte, ein letztlich irref ü h r e n d e s Bild zu zeichnen. 2 °!) Auch Lopes Rodrigues Ferreira behandelt dieses Gedicht unter einem abolitionistischen Aspekt. ("Castro Alves", p. 574.) 2 2 » ) "Canto do Bug-Jargal", "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 81.

203) "Canto d o Bug-Jargal", "Obras Completas", 1944, v o l . II, p . 79.

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Ei tritt jedoch im "Canto do Bug-jargal" nodi ein Problem auf, das bei Castro Alves nodi ein anderes Mal, nämlich in der "Cachoeira de Paulo Affonso" ausführlich behandelt werden mufi, ohne dafi in jenem Falle ein Hugo'sdier Einfluß nachweisbar wäre. Es handelt sich dabei um das Vermögen des schwarzen Sklaven, aus der Kraft einer nur zu häufig als Reservat einer Gruppe abendländischer Kulturvölker gedeuteten Liebe verzichten zu können auf die rächende Ahndung eines an ihm begangenen Unrechtes. Diese Frage ist im "Canto do Bug-Jargal" völlig bewußt aufgeworfen worden und bildet keineswegs eine zufällige Assoziation an die verwandte Problematik der brasilianischen Sklaverei. Das hat der Dichter deutlich genug unterstrichen durch die Wiederholung der "vingança", die ihm somit doch wohl als wesentlicher erscheinen muß denn alle anderen Opfer, die er seiner Liebe zu bringen vermag: "Tudo por t i . . . esqueceria tudo, A familia, o dever, reino e vingança. Sim até a v i n g a n ç a ! . . . ainda que cedo Tenha emfim de colher este acre fruto, Acre e doce que tarde amadurece." 2 0 4 )

Daraus erhellt wiederum die Fähigkeit des Dichters, derart antithetische Elemente, wie sie in diesem Gedicht auftreten, zu verbinden durch die zwingende Kraft seines dichterischen Gestaltungswillens, der nicht selten seine Inspiration aus den Tiefen seelischer Konflikte empfängt. Einen ähnlich tiefen Empfindungsbereich aber verrät auch "A O r f ä na S e p u l t u r a " , wenngleich es hier schon erheblich schwieriger lokalisierbare Sphären sind, die Castro Alves ansprechen will. Die brasilianische Literaturkritik hat vor allem das darin enthaltene Gebet der Sklavenmutter aufgegriffen. Und Lopes Rodrigues, der diese Verse geradezu als eine "balada mística" bezeichnet hat205), fühlt sich besonders von der castroalvinischen Invokation der Heiligen Jungfrau Maria angeregt, dem Mystizismus des Dichters eingehende Darlegungen zu widmen. Nun stellt zweifellos die Transposition des mütterlichen Gedankens mit Einsdiluß aller mütterlichen Liebe und Sorge für das Kind in einen so transzendentalen Bereich wohl einen der tiefsten Gedanken dar, der sich bei Betrachtung der castroalvinischen Sklavendichtung unter einem religiösen Aspekt auffinden ließe. Er erfährt aber zudem noch seine besondere Bedeutung für den abolitionistischen Gehalt des Gedichtes durch die Verknüpfung des Flehens um mütterliche Liebe mit der Hoffnung, das Kind möge eines Tages ein Dasein in Freiheit leben können. " Q u e minha filha algum dia Eu v e j a livre e f e l i z ! . . . O' Santa Virgem Maria, Sé mäe da pobre infeliz." 2 0 6 )

Es ersdieint aber nicht einmal als abwegig, sogar von einem noch engeren Zusammenhange zu sprechen, indem die Transposition geradezu 204) "Canto do Bug-Jargal', 'Obras Completas", 1944, vol. II, p. 80. so») H. Lopes Rodrigues, "Castro Alves", p. 657 ff. 200) Ά Orfä na Sepultura", XIV, "Obras Completas", 1944, vol. II, p. 85.

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in der Absicht erfolgt, dem Kinde die Freiheit zu sichern. Dieser Gedankengang wird deutlicher, wenn man sein Augenmerk auf die Art und Weise richtet, in welcher Castro Alves diese Strophe innerhalb des Gebetes und dieses wiederum im Rahmen des gesamten Gedichtes angeordnet hat. Das Gebet beinhaltet in seinem weitaus größten Teile die an Gott gerichtete Bitte, in Ansehung seiner Allmacht sich auch dieses Kindes anzunehmen, ihm Trost zu spenden in seinem irdischen Dasein voller Leid und Schmerzen: "Tu que dás à flor o orvalho, Às aves o ceu e o ar, Quei dás as frutas ao galho, Ao desgraçado o chorar. Senhor Deus, tu que perdoas A toda alma que chorou, "Faze da alma da innocente O ninho do teu amor, Vèrte o orvalho da virtude Na minha pequeña flor."207)

Es ist der gleiche Trost, den die Mutter im Vertrauen auf die Erfüllung dieses Gebetes ihrerseits dem Kinde zu geben vermochte: "Ai! têm orvalhos as flores Tu, filha dos meus amores, Tem o orvalho do chorar."208)

Die Ausschmückung des Gebetes im Sinne einer Schilderung der Allmacht Gottes kommt dabei zuweilen einer völligen Durchdringung der Natur mit göttlichem Wirken gleich und rechtfertigt so bis zu einem gewissen Grade die von Lopes Rodrigues und kürzlich erneut von Jamil Almansur Haddad geknüpften Assoziationen an Lamartine 208 ). Sie bewegt sich jedoch stets im Rahmen des gegenwärtig vorgezeichneten Schicksales des Sklavenkindes. Die einerseits aus dem Rahmen des Allgemeinen heraustretende, zum anderen auch deutlich in eine nicht zeitlich bestimmbare Zukunft führende Verheißung der Freiheit aber erwartet die Sklavin nicht von Gott. Hierfür bedarf es der Hinwendung an die Heilige Jungfrau Maria. Angesichts des besonders innigen Verhältnisses der brasilianischen Negerin zum Marienkult dürfte diesem Umstand nicht geringe Bedeutung zukommen. Gleichzeitig aber erhellt daraus, mit welchem Einfühlungsvermögen Castro Alves hier jenseits einer von der literarischen Kritik so bereitwillig gerühmten "piedade" einmal wirklich tiefreligiöse, dann aber auch abolitionistische Elemente miteinander verwoben hat. Aber auch die Einordnung des Gebetes in das Gedicht selbst ist offenbar nicht so völlig willkürlich erfolgt, wie es zunächst den Anschein haben mag. In der Erinnerung des Kindes spiegelt sich nicht nur der 2

)

AMRRfCANA — N 2 5 H H

t. !r

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3m, : Druckvermerk der Ausgabe von 1888

ZUSÄTZE UND B E R I C H T I G U N G E N Vorwort, erste Seite, 2. Ζ. v. u. lies: "Espumas Flutuantes" statt "Os Escravos" S. 41,8. Ζ. v. u. lies: Anthologie. S. 42, Anm. 63

D e r fragliche Brief befindet sich heute im Besitz der Nationalbibliothek zu Rio de Janeiro.

S. 83, Anm. 61

lies: s. Seite 80.

S. 112, Z. 15

Die von Castro Alves benutzte Schreibweise "Canaris" ist wenig gebräuchlich für den Griechen Konstantin Kanaris.

S. 242, no. 18 S. 262, no. 70

D e r Verfasser konnte nach Drucklegung der Arbeit ein Exemplar dieser Ausgabe erwerben.

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