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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Herausgegeben von/Edited by Jörg Hardy, Oliver R. Scholz
Editorial Assistants: Laila Filali, Margarita Kaiser, Sibylle Therese Rieck, Mayana Thao Advisory Board: Ruben Apressyan, Kurt Bayertz, Dieter Birnbacher, Dagmar Borchers, Shan Chun, Wolfgang Detel, Stefan Gosepath, Thomas Gutmann, Christoph Horn, Ivan Mikirtumov, Michael Quante, George Rudebusch, Peter Schaber, Reinold Schmücker, Gerhard Schurz, Ludwig Siep, Katja Stoppenbrink, Roman Svetlov, Holm Tetens, Paul Woodruff
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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal
Heft/Volume 1|2015 herausgegeben von/edited by Ludger Jansen, Jörg Hardy
Medizinische Erkenntnistheorie / Medical Epistemology
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-8404 ISBN 978-3-8471-0505-3 ISBN 978-3-8470-0505-6 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0505-0 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung „Menschenwürde weltweit“ in der Verwaltung der Deutschen Stiftungsagentur GmbH, Neuss. © 2015, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Themenschwerpunkt: Medizinische Erkenntnistheorie / Medical Epistemology Ludger Jansen Einleitung: Was weiß die Medizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kazem Sadegh-Zadeh Die Medizin ist eine deontische Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alex Broadbent Is Stability a Stable Category in Medical Epistemology? . . . . . . . . . . . . .
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Heiner Fangerau, Michael Martin Medizinische Diagnostik und das Problem der Darstellung: Methoden der Evidenzerzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ludger Jansen Expiring while the Doctors are Disputing. Principled Limits of Medical Knowledge and the Ontological Square . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marco Stier Im Dickicht der Kategorienfehler, oder: Was weiß die biologische Psychiatrie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion Rainer Enskat Gettier und kein Ende? Das doxastische Dogma der modernen Wissenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Themenschwerpunkt: Medizinische Erkenntnistheorie / Medical Epistemology
Einleitung: Was weiß die Medizin? Ludger Jansen
Unter der Leitfrage „Was weiß die Medizin?“ geben die Beiträge im Themenschwerpunkt dieses Heftes der Zeitschrift Angewandte Philosophie / Applied Philosophy einen Einblick in aktuelle Forschungen zur Theorie der medizinischen Erkenntnis. Nicht alles, was ein Mediziner weiß, ist medizinisches Wissen. Und viele Wissensbestände der Medizin schlummern in Büchern und Aufsätzen, die vielleicht kein zeitgenössischer Mediziner je gelesen hat. Spätestens mit der Erfindung der Schrift fallen diese beiden Weisen des Wissens auseinander. Die Erfindung der Datenbank vergrößert diese Kluft: Vielleicht ,weiß eine elektronische Ressource längst um den gesuchten Zusammenhang, aber die entscheidende Suchanfrage ist noch nicht gestellt worden, so dass der entsprechende Wissensbestand nicht in den Wissensbestand eines Mediziniers gelangen konnte. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich personales und disziplinäres, medizinisches Wissen zueinander verhalten. Welcher Art ist das medizinische Wissen? Kazem Sadegh-Zadeh plädiert in seinem Beitrag in diesem Band dafür, die Medizin als eine deontische Disziplin zu verstehen, also als eine Disziplin, in der es darum geht, was in bestimmten Handlungssituationen getan werden soll (Sadegh-Zadeh 2015) – eine Position, die er ausführlich auch in dem von ihm verfassten Handbook of Analytical Philosophy of Medicine verteidigt hat (Sadegh-Zadeh 2012). Ludger Jansen argumentiert in seinem Beitrag hingegen dafür, dass das medizinische Faktenwissen ein unaufgebbares Fundament medizinischen Handelns ist (Jansen 2015). Die entscheidende Eigenschaft des Wissens ist seine Begründbarkeit. Begründungen sind eine graduelle Angelegenheit: Eine Behauptung kann mehr oder weniger gut begründet sein. Unsere Ansprüche an Rechtfertigungen sind situations- und kontextabhängig (Willaschek 2000). Man sollte annehmen, dass unsere Erwartungen an die Begründung von Aussagen steigen, wenn sie für Handlungen relevant werden, die mit einem hohen Risiko verbunden sind. In der Medizin geht es manchmal um Leben und Tod – und immer um die Gesundheit
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Ludger Jansen
des Patienten, die wiederhergestellt, erhalten oder nicht gefährdet werden soll. Deshalb wird man erwarten dürfen, dass die Begründungsstandards in der Medizin besonders hoch sind. In der Medizin herrscht jedoch die tragische Situation, dass die hohen und berechtigten Erwartungen an die Begründungsstandards aufgrund prinzipieller Probleme gar nicht erfüllt werden können: Der Arzt muss sich oft auf statistische Daten und Wahrscheinlichkeiten verlassen. Alex Broadbent geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob Stabilität von Ergebnissen ein Zeichen von Verlässlichkeit ist. Wenn eine Reihe von medizinischen Studien in dieselbe Richtung weisen, steigert diese Tatsache die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahrheit in dieser Richtung zu suchen ist (Broadbent 2015)? Heiner Fangerau und Michael Martin stellen in ihrem Beitrag dar, wie Begründungsstandards im Laufe der Medizingeschichte thematisiert werden und sich wandeln, wenn neue Methoden und Geräte verfügbar werden (Fangerau/ Martin 2015). Ist mehr Verlass auf den subjektiven, aber direkten und unverfälschten, Blick des untersuchenden Arztes oder auf Geräte, deren Befund zwar weniger subjektiv gefärbt ist, dafür aber mit einer technischen Vermittlung und möglicherweise Verzerrung einhergeht? Und sollen diese Ergebnisse mit idealisierten (mithin manipulierten) Zeichnungen verglichen werden, oder wären allein „objektive“ Fotografien sinnvolle Vergleichsmaßstäbe, die doch immer nur Abbild des Besonderen, nie des Allgemeinen sind? Angesichts der gestiegenen Bedeutung von bildgebenden Verfahren in der Medizin (Röntgen, Ultraschall, CT, MRT, …) haben diese Fragen keineswegs an Aktualität verloren. Wahrheit wird in der Regel als eine Alles-oder-Nichts-Angelegenheit betrachtet: Ein Satz kann wahr oder falsch, aber nicht halbwahr oder mehr oder weniger wahr als ein anderer sein (Keil 2010). Dennoch könnte es sinnvoll sein, von mehr oder weniger großen Annäherungen an die Wirklichkeit zu sprechen: Wer sagt, Berlin habe 3,5 Millionen Einwohner, sagt zwar mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Falsches, gibt uns aber dennoch eine gute Annäherung. Ein Anzeichen dafür könnte sein, dass wir den Satz „Berlin hat ungefähr 3,5 Millionen Einwohner“ wohl als wahr betrachten würden, weil die Angabe für die Einwohnerzahl einer Großstadt hinreichend genau sein könnte, selbst wenn wir sie um, sagen wir, etwa 100 000 Einwohner verfehlen würden. Würden wir die Einwohnerzahl Helgolands um die gleiche Differenz verfehlen, würde das jedoch nicht ausreichen: Der Satz „Helgoland hat ungefähr 100 000 Einwohner“ würde wohl nicht als wahr erachtet werden. Ingvar Johansson und Niels Lynøe haben dafür plädiert, gerade angesichts der erkenntnistheoretischen Probleme der Medizin das Streben nach Wahrheit durch das Streben nach einer hinreichend guten Annäherungen an die Wahrheit zu ersetzen (Johansson/Lynøe 2008). Was als hinreichend genaue Annäherung an die Wirklichkeit angesehen wird, ist wiederum vom jeweiligen Kontext abhängig. Einige der erkenntnistheoretischen Probleme der Medizin hängen eng mit den jeweiligen Arten von Dingen zusammen, über die die Medizin Aussagen trifft. Das ist die These, für die Ludger Jansen in seinem Beitrag argumentiert. Anhand
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Einleitung: Was weiß die Medizin?
des sogenannten „Ontologischen Quadrats“ fragt er zunächst danach, welche allgemeinen ontologischen Kategorien für die Medizin relevant sind und leitet daraus eine Reihe von prinzipiellen erkenntnistheoretischen Problemen ab. Während es viele medizinische Disziplinen wie die Anatomie mit materiellen Dingen zu tun haben, beschäftigt sich die Psychiatrie mit mentalen Sachverhalten: mit dem Geist und seinen möglichen Erkrankungen. Doch auch in dieser medizinischen Subdiziplin spielen freilich materielle Dinge eine Rolle: Gehirne und ihre Substrukturen. Marco Stier erörtert in seinem Beitrag die daraus erwachsenden erkenntnistheoretischen Probleme der biologischen Psychiatrie und das Problem der psychischen Erkrankungen. Er erörtert, welche (Arten von) Verbindungen zwischen dem Bereich des Geistes und dem Gegenstandsbereich der Biologie angenommen werden können, also etwa zwischen Wahnvorstellungen und Angstzuständen auf der einen, Neuronen und Neurotransmittern auf der anderen Seite. Die Beiträge in diesem Band erschließen ein noch wenig erkundetes Forschungsfeld. In einzigartiger Weise verbindet die Medizin naturwissenschaftliches Wissen und Anwendungsbezug in zugleich komplexen und existentiellen Handlungssituationen. Eine genauere Analyse des medizinischen Wissens und der Praxis seiner Anwendung könnte daher auch für ebendiese Praxis hilfreich sein. Es steht daher zu wünschen, dass die hier versammelten Beiträge zu weiteren Arbeiten zur Erkenntnistheorie der Medizin anregen werden.
Literatur Broadbent, A. 2015. Is Stability a Stable Category in Medical Epistemology?, in: Angewandte Philosophie 2, 24–37. Fangerau, H.; Martin M. 2015. Medizinische Diagnostik und das Problem der Darstellung: Methoden der Evidenzerzeugung, in: Angewandte Philosophie 2, 38–68. Jansen, L. 2015. Expiring while the Doctors are Disputing. Limits Medical Knowledge and the Ontological Square, in: Angewandte Philosophie 2, 69–88. Johansson, I., Lynøe, N. 2008. Medicine and Philosophy. A Twenty-First Century Introduction, Frankfurt. Keil, G. 2010. Halbglatzen statt Halbwahrheiten. Über Vagheit, Wahrheits- und Auflösungsgrade, in: M. Grajner, A. Rami (Hrsg.), Wahrheit – Bedeutung – Existenz, Frankfurt/M. 57–86. Sadegh-Zadeh, K. 2012. Handbook of Analytic Philosophy of Medicine (Philosophy of Medicine series, vol. 113), Dordrecht et al. Sadegh-Zadeh, K. 2015. Die Medizin ist eine deontische Disziplin, in: Angewandte Philosophie 2, 10–23. Stier, M. 2015. Im Dickicht der Kategorienfehler, oder: Was weiß die biologische Psychiatrie?, in: Angewandte Philosophie 2, 89–114. Willaschek, M. 2000. Wissen, Zweifel, Kontext. Eine kontextualistische Zurückweisung des Skeptizismus, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 54, 151–172.
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Die Medizin ist eine deontische Disziplin Kazem Sadegh-Zadeh
Abstract. Was ist praktisches Wissen? Die Diskussion über diese Frage hat sich in den letzten Jahrzehnten darauf konzentriert, das praktische Wissen als ein Wissen-wie aufzufassen. Im Folgenden wird eine weitere Differenzierung dieser Ansicht vorgenommen, indem durch eine Analyse der Syntax des klinischpraktischen Wissens dafür geworben wird, dieses Wissen als eine Kategorie von bedingten Geboten für das ärztliche Handeln in der klinischen Entscheidungsfindung zu betrachten. Syntaktisch gesehen, sind diese Gebote deontische Normen („conditional obligations“). Da sie durch die diagnostisch-therapeutische Forschung (= klinische Forschung) aufgestellt und erforscht werden, muss die klinische Forschung als eine deontische Disziplin angesehen werden. Sie ist deshalb dem Bereich der normativen Ethik zuzuordnen. Im direkten Zusammenhang damit ist die klinische Praxis – als eine überzeitliche Institution, nicht als das Handeln von Einzelpersonen – als praktizierte Moral im Dienste der Menschen („Karitas“) einzustufen, weil sie aus dem Versuch besteht, jene Gebote umzusetzen. Schlüsselwörter. Wissen-wie, praktisches Wissen, klinisch-praktisches Wissen, klinische Forschung, ärztliche Praxis, bedingtes Gebot, deontische Disziplin, normative Ethik, praktizierte Moral.
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Einleitung
Seit der Unterscheidung zwischen Wissen-dass und Wissen-wie durch Gilbert Ryle1 wird das praktische Wissen aufgefasst als ein Wissen, wie man etwas Bestimmtes tut, und wird dem propositionalen Wissen, dass etwas Bestimmtes der Fall ist, gegenübergestellt. Das propositionale Wissen verdankt seinen Namen dem Umstand, dass es sich auf Sachverhalte der Welt bezieht und diese durch Aussagen (= Behauptungssätze) beschrieben werden, indem jemand zum Beispiel behauptet, „Ich weiß, dass der Eiffelturm in Paris steht“. Der Inhalt dieses Wissens wird ausgedrückt durch die Aussage „Der Eiffelturm steht in Paris“. Gemäß der traditionellen Erkenntnistheorie kann eine solche Aussage wahr oder falsch sein. Somit hat das propositionale Wissen, über das jemand verfügen kann, der traditionellen Erkenntnistheorie zufolge einen Wahrheitsgehalt. 1 Ryle 1946, 1 ff.
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Die Medizin ist eine deontische Disziplin
Das propositionale Wissen ist nicht praktisches Wissen, das praktische Wissen ist nicht propositional.2 Somit kann das praktische Wissen nicht in Form von wahrheitsfähigen Aussagen über die Welt dargestellt werden. Der Versuch, diese These zu widerlegen,3 wird bis heute kontrovers diskutiert.4 Aus weiter unten, im Abschnitt 5 erläuterten, syntaktischen Gründen hat er auch keine Aussicht auf Erfolg. Worauf bezieht sich dann aber das praktische Wissen und woraus besteht es, wenn es nicht propositional ist, und was hat es zum Inhalt, wenn es ohne Wahrheitsgehalt ist? Diese Frage wird im Ryleschen Ansatz nicht gestellt, und daher auch nicht beantwortet. Nur bei Ryle selbst findet sich an einer einzigen Stelle seines ursprünglichen Beitrags die lapidare Bemerkung: „When a person knows how to do things of a certain sort (e. g., cook omelettes, design dresses or persuade juries), his performance is in some way governed by principles, rules, canons, standards or criteria“.5 Wie diese Prinzipien, Regeln, Kanons, Standards oder Kriterien aussehen, wird nicht thematisiert. Hingegen wird die Betrachtung des praktischen Wissens als Wissen-wie in der Regel dadurch veranschaulicht, dass einer Person, die einer bestimmten Leistung fähig ist, das praktische Wissen zugeschrieben wird, diese Leistung zu vollbringen.6 So wird beispielsweise jemandem, der das Präludium Nr. 17 des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach spielen kann, das praktische Wissen zuerkannt, dieses Präludium zu spielen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Gleichsetzung von praktischer Fähigkeit und Fertigkeit mit praktischem Wissen dieses Wissen adäquat und vollständig charakterisiert. Denn sie überantwortet das erkenntnistheoretische Problem „Was ist praktisches Wissen?“ der Domäne der Psychologie der Fähigkeiten und der Neurophysiologie der sensomotorischen Fertigkeiten, und verdeckt dadurch die Notwendigkeit einer analytisch-philosophischen Erforschung der Natur und Struktur des praktischen Wissens. Die Folge davon ist, dass die Philosophie bis heute keine Auskunft darüber gibt, wie wir uns die Syntax, Semantik und Pragmatik des praktischen Wissens vorzustellen haben. Seine negative Charakterisierung als nicht-propositionales Wissen befriedigt nicht das philosophische Bedürfnis, was es denn nun positiv sei, wenn es kein propositionales Wissen sei. In dem vorliegenden Beitrag wird anhand einer Analyse der Struktur des praktischen Wissens in der Medizin eine Antwort auf diese Frage vorgeschlagen. Weiter unten wird im Abschnitt 4 am Beispiel des klinisch-praktischen Wissens gezeigt, dass dieses Wissen aus deontischen Normen besteht. Da die Medizin als Heilkunde, repräsentiert durch die klinische Medizin, solche deontischen Normen erforscht, institutionalisiert und anwendet, wird sie daher im Abschnitt 5 als eine deontische Disziplin kategorisiert. Im Verlaufe der Untersuchung wird auf 2 3 4 5 6
Ryle 1946, 4 ff. Stanley / Williamson 2001. Vgl. Jung 2012. Vgl. Ryle 1946, 8. Vgl. Jung 2012.
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Kazem Sadegh-Zadeh
den Gebrauch von formal-logischen Hilfsmitteln weitestgehend verzichtet.7 In den nächsten zwei Abschnitten 2–3 wird zunächst die oben angekündigte Antwort kurz vorbereitet.
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Das praktische Wissen in einer praktischen Wissenschaft
Der Rylesche Ansatz ist mit Psychologismus behaftet, der bereits damit begonnen hat, dass Ryle selbst das Wissen-wie als eine Disposition des Wissenden betrachtet hat.8 Dies hat dazu geführt, dass bisher nur der Wissenszustand des wissenden Individuum im Vordergrund der Diskussionen steht.9 Um die Notwendigkeit einer weitergehenden Analyse des Begriffs des praktischen Wissens hervortreten zu lassen, muss man jedoch über das wissende Subjekt (wie zum Beispiel: Koch, Schneider, Fußballspieler) hinausblicken und sich der öffentlichen, intersubjektiven Erscheinungsform des praktischen Wissens selbst zuwenden. Das beste Feld für eine solche Untersuchung sind die praktischen Wissenschaften, weil sie, im Gegensatz zu nicht-akademischen Praktiken wie Kochen, Schneidern und Fußballspielen, ihr Wissen methodisch pflegen und es in Form von lehr- und lernbaren Texten der öffentlichen Analyse, Diskussion und Kritik zugänglich machen. Es ist dieses verbalisierte, als Text kodifizierte und nicht bloß als unsichtbare Disposition im wissenden Individuum verborgene Wissen der Praxis, das untersucht werden muss, wenn man seine Beschaffenheit und Herkunft angemessen verstehen und es mit anderen Wissensarten vergleichen will. Im Folgenden soll uns eine spezielle Variante dieses veröffentlichten praktischen Wissens als Beispiel dienen. Es handelt sich um das praktische Wissen in der klinischen Medizin. Bevor wir jedoch zu seiner Rekonstruktion schreiten, wird im nächsten Abschnitt zunächst die Medizin grob strukturiert, um genau zu lokalisieren, „wo in der Medizin sich dieses Wissen befindet“.
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Die Strukturierung der Medizin
Die Medizin besteht aus zwei Teilgebieten, einem klinischen Teil und einem nicht-klinischen Teil (das altgriechische Wort kli´nh – „kline“ – bedeutet „Lager, Bett, Krankenbett“). Der klinische Teil, genannt klinische Medizin, befasst sich mit Kranken und Krankheiten und umfasst Fachgebiete wie Kinderheilkunde, Frauenheilkunde, Innere Medizin und andere. Der nicht-klinische Teil widmet sich, fern vom Krankenbett, biomedizinischen Themen und Fragestellungen und besteht aus Fachgebieten wie Anatomie, Physiologie, Biochemie, Genetik u. ä. 7 Eine solche, formal präzise Explikation findet man in Sadegh-Zadeh 2015. 8 Ryle 1946, 14; Ryle 1949 [2000], 46. 9 Vgl. Jung 2012, 197–206.
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Die Medizin ist eine deontische Disziplin
Dafür haben sich auch Namen wie Biomedizin und biomedizinische Wissenschaften eingebürgert. Die Heilkunde im eigentlichen Sinne des Wortes ist die klinische Medizin. Bei der Biomedizin handelt es sich lediglich um Naturwissenschaft. Sie ist eine Hilfswissenschaft der Heilkunde und kann daher auch außerhalb der Medizin betrieben werden. Leider aber wird im Volksmund die Biomedizin mit der Medizin verwechselt. Es wird deshalb irrtümlich geglaubt, dass die Medizin als Ganzes Naturwissenschaft sei. Wie es im Folgenden gezeigt wird, ist dies nicht der Fall. Die klinische Medizin als Heilkunde stellt, im Gegensatz zur Biomedizin, keine Naturwissenschaft dar, obwohl sie, neben vielen anderen Methoden, auch naturwissenschaftliche Methoden anwendet. Um dies deutlich werden zu lassen, müssen wir berücksichtigen, dass die klinische Medizin selbst aus zwei ineinander greifenden Teilbereichen besteht, (i) der klinischen oder ärztlichen Praxis einerseits, die kranke Menschen untersucht und behandelt; und (ii) der klinischen Handlungsforschung (kurz: klinische Forschung) im Dienste dieser Praxis andererseits. Nicht zum Selbstzweck, sondern im Dienste der ärztlichen Praxis beschäftigt sich die klinische Forschung mit der Frage, wie der Arzt die einzelnen Krankheiten am besten diagnostizieren und behandeln, und wie er erfolgreich Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung betreiben soll. Sie ist kein selbständiges medizinisches Spezialgebiet, sondern sie wird in allen klinischen Disziplinen und auch interdisziplinär durchgeführt, indem wissenschaftlich interessierte Ärzte nach optimalen Weisen des diagnostisch-therapeutischen und präventiven Handelns suchen. Dafür müssen sie alternative Arten und Weisen solcher Handlungen analysieren und ihre Erfolge und Misserfolge miteinander vergleichen, um die beste Methode der Diagnostik, Therapie und Vorbeugung für eine jeweils bestimmte Krankheit, wie zum Beispiel AIDS oder multiple Sklerose, herauszufinden. Da es dabei nicht primär um die Untersuchung oder Behandlung von Patienten, sondern um die Erforschung und Bewertung des ärztlichen Handelns selbst geht, stellt die klinische Forschung eine Wissenschaft der Praxis dar, das heißt, eine praktische Wissenschaft, speziell, eine ärztliche Handlungstheorie oder Handlungsforschung. Die klinische Forschung ist nicht deshalb eine praktische Wissenschaft, weil man darin etwas tut. Denn auch in allen anderen Wissenschaften tut man etwas, indem man zum Beispiel Wissenschaft betreibt. Vielmehr ist sie eine praktische Wissenschaft, weil sie die ärztliche Praxis (= das ärztliche Handeln) untersucht und dadurch praktisches Wissen produziert. Praktisches Wissen ist Wissen über die Praxis. (Das altgriechische Wort p1a˜ xi& – „praxis“ – bedeutet „Tun, Handeln, Handlung“.) Das Wissen, das sie sucht und produziert, ist ein Wissen über die optimale ärztliche Praxis, ein Wissen, wie der Arzt handeln soll, um bei der Erfüllung seiner ärztlichen Aufgaben erfolgreich zu sein. Wir nennen es daher mit einem Wort klinisch-praktisches Wissen. Wie sieht nun dieses Wissens aus?
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Kazem Sadegh-Zadeh
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Das klinisch-praktische Wissen
Einer verbreiteten Annahme zufolge „lernt man, wie etwas zu tun ist, durchs Tun“. Wäre diese Volksmeinung zutreffend, so bräuchte der Arzt nicht zunächst sechs Jahre lang zu studieren, um erst danach durch Praktikum und Facharztausbildung im Krankenhaus zu lernen, wie man einzelne Krankheiten diagnostiziert und behandelt. Die Realität sieht anders aus: Bevor er im Krankenhaus durch Handeln lernt, wie man Krankheiten diagnostiziert und behandelt, lernt er im Studium das veröffentlichte klinisch-praktische Wissen darüber als Text. Das veröffentlichte klinisch-praktische Wissen in Textform ist die epistemische Komponente, nicht die psychische oder sensomotorische Fähigkeitskomponente, von Wissen, wie der Arzt in der klinischen Entscheidungsfindung optimal handelt soll. Somit stellt es eine Variante dessen dar, was in den Informationswissenschaften als prozedurales Wissen bezeichnet wird. Ein prozedurales Wissen besteht aus einer Anzahl von Regeln, die vorschreiben, wie man in einer bestimmten Situation zu handeln hat, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass jemand von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstelle gehen oder fahren will. Dafür stehen ihm fünf alternative Wege zur Verfügung, die wir Route 1 bis Route 5 nennen wollen. Die schnellste Strecke ist die Route 5. Sie ist eine Abkürzung und besteht aus der Verkettung der drei Straßen A, B und C. Aber aus diversen Gründen ist die Straße C manchmal gesperrt. In einem solchen Falle muss er zur Route 1 zurückkehren, die weiter ist und längere Fahrzeit in Anspruch nimmt. Wenn er in Eile ist, so kann er diesen Algorithmus befolgen, der sein prozedurales Wissen darstellt: 1. Wenn Sie von Ihrer Wohnung zu Ihrer Arbeitsstelle fahren wollen und in Eile sind, dann rufen Sie vorher die Verkehrsinfo an und fragen Sie, ob die Straße C befahrbar ist. Gehen Sie zu 2. 2. Wenn die Straße C befahrbar ist, dann nehmen Sie die Route 5 und gehen Sie zu 4. Andernfalls gehen Sie zu 3. 3. Wenn die Straße C gesperrt ist, dann nehmen Sie die Route 1 und gehen Sie zu 4. 4. Ende. Analog zu diesem Beispiel, enthält das praktische Wissen Kommandos und Imperative der Form: tu! gehe! nimm! u. ä. Es ist daher stets präskriptiv und normativ, niemals deskriptiv (propositional, deklarativ). Es stellt nicht fest und teilt nicht mit, was Leute in einer bestimmten Situation tatsächlich tun, taten oder tun werden. Vielmehr instruiert es, was in einer bestimmten Situation zu tun ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, zum Beispiel, bei einem Patienten, der Fieber, Husten und Atemnot hat, eine Pneumonie (= Lungenentzündung) zu diagnostizieren. Kurz gesagt, ist der Gegenstand des praktischen Wissens das situationsgerechte und zielorientierte, erfolgreiche Handeln.
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Die Medizin ist eine deontische Disziplin
Die praktische Medizin (= klinische Medizin, Heilkunde) gründet im praktischen Wissen. Um diesen wichtigen Grundzug zu verstehen, müssen wir der Tatsache bewusst sein, dass das praktische Wissen zwei öffentliche Erscheinungsformen hat: – implizit-praktisches Wissen, – explizit-praktisches Wissen. Implizit-praktisches Wissen ist syntaktisch degeneriert und gibt sich daher nicht leicht zu erkennen. Allgemein bekannte Beispiele sind solche Äußerungen des Dozenten an den Studenten wie „in einer solchen Situationen untersucht man das Blut des Patienten, um festzustellen, ob er Antikörper gegen das HIV hat“. Der deskriptive Ausdruck „man untersucht“, den der Dozent dabei verwendet, ist irreführend, weil er den Eindruck erweckt, als ob der Dozent dem Studenten eine empirische Feststellung über das tatsächliche Verhalten anderer Ärzte mitteilen wollte. Die Aufgabe seiner Instruktion besteht jedoch nicht darin, den Studenten darüber zu informieren, was Leute in Situationen dieser Art tatsächlich tun – vielleicht tun sie das Falsche –, sondern vielmehr darin, ihn zu belehren und anzuweisen: „In einer solchen Situation untersuchen Sie das Blut des Patienten, um festzustellen, ob er HIV-Antikörper hat!“. Das praktische Wissen wird in der medizinischen Literatur (und anderswo) leider oft und irreführenderweise als implizit-praktisches Wissen wie oben präsentiert. Wir werden es im Folgenden in ein explizit-praktisches Wissen überführen, das auf den ersten Blick als praktisches Wissen deutlich erkennbar ist. Sein Charakter als praktisches Wissen wird auch regelmäßig dadurch verschleiert, dass es in sich eine äußerst komplexe Struktur besitzt und daher stets in TextFragmente zerlegt wird, die es nicht mehr als praktisches Wissen wiedererkennen lassen. In Lehrbüchern erscheinen die Fragmente als einzelne Abschnitte eines Kapitels über eine Krankheit X, Y oder Z, um die es jeweils geht. Dies sei am Beispiel der bereits oben genannten Krankheit Pneumonie kurz demonstriert. Die einzelnen Abschnitte des Kapitels über Pneumonie widmen sich auf folgende Weise der Vorstellung der Krankheit („Krankheitsbild“), ihrer Diagnostik, ihrer Therapie und anderen Themen: – Im Abschnitt „Das Krankheitsbild“ wird berichtet: Pneumonie ist eine Entzündung des Lungengewebes, die durch eine Infektion (Bakterien, Viren, Parasiten) oder durch andere, nicht-infektiöse Faktoren verursacht wird … Ihre Symptome sind akutes oder subakutes Fieber, Husten mit oder ohne Auswurf, Atemnot … usw. Einzelheiten können hier nicht erörtert werden. – Im Abschnitt „Diagnostik“ wird erzählt: Pneumonie wird diagnostiziert durch Untersuchung der Brustkorborgane, Abhorchen der Atemgeräusche, Beklopfen des Brustkorbs, Röntgenaufnahmen der Lungen … usw. Einzelheiten können hier nicht erörtert werden. – Im Abschnitt „Therapie“ werden Optionen konstatiert: Es gibt eine weite Palette von Behandlungsmöglichkeiten, je nach dem, ob es sich um eine bak-
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terielle, virale … Pneumonie handelt. Medikamentöse Optionen sind: (1) Clarithromycin 2-mal täglich 500 mg oral, (2) … usw. Einzelheiten können hier nicht erörtert werden. Diese fragmentierten Texte, die sich als Pseudo-Beschreibungen von Sachverhalten in der Regel über viele Seiten erstrecken, lassen sich als verschachtelte Sätze rekonstruieren, deren Tiefenstruktur deutlich macht, dass sie keineswegs propositionales Wissen, sondern Kommandos, Imperative und Verpflichtungen der folgenden Form darstellen: – Eine Situation des Typs S verpflichtet Sie, die Handlung H durchzuführen, wenn Sie das Ziel Z erreichen wollen, oder im gleichen Sinne: – Gegeben die Situation S, wenn Sie das Ziel Z erreichen wollen, dann tun Sie H. (1) Die drei Bestandteile dieser Handlungsregel sind: 1. S ist irgendeine, mehr oder weniger komplexe Situation, wie zum Beispiel der Zustand eines Patienten mit bestimmten Symptomen, Beschwerden, etc. 2. Z ist ein angestrebtes Ziel wie zum Beispiel die Überprüfung der Verdachtsdiagnose, dass dieser Patient eine bestimmte Krankheit haben könnte. 3. H ist eine mehr oder weniger komplexe Handlung, die durchgeführt werden muss, um jene Verdachtsdiagnose zu überprüfen. Ein Imperativ der obengenannten Art (1) lässt sich einfachheitshalber kurz wiedergeben als zwei verschachtelte Konditionale: – Wenn S, dann (wenn Sie Z erreichen wollen, dann tun Sie H), oder noch kürzer: – Wenn S, dann (wenn Z, dann H). Dieser Satz ist (nach der Importationsregel) äquivalent mit: – Wenn S & Z, dann H.
(2)
Betrachten wir als ein einfaches Beispiel das folgende, unvollständige, klinische Konditional:
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Wenn ein Patient Fieber, Husten und Atemnot hat und Sie wissen wollen, ob … Dieser unvollständige Satz kann hinter dem Wort „ob“ auf verschiedene Arten und Weisen fortgesetzt werden, die in unterschiedliche Richtungen zeigen und zu verschiedenen Zielen führen wie zum Beispiel: … er die Krankheit K1 hat, dann tun Sie H1 … er die Krankheit K2 hat, dann tun Sie H2 … er die Krankheit K3 hat, dann tun Sie H3 und so fort. Hier sind K1, K2, K3, … verschiedene Krankheiten (wie etwa: bakterielle oder virale Pneumonie, Luftröhrenentzündung, Bronchitis, Lungenfellentzündung, etc.), die bei dem gegenwärtigen Patienten mit Fieber, Husten und Atemnot in Frage kommen; und die Handlungen H1, H2, H3, … sind voneinander verschiedene, mehr oder weniger aufwändige diagnostische Maßnahmen, die jeweils durchgeführt werden können, um die betreffende Krankheit zu diagnostizieren. Zur Illustration werden wir nur eine der obengenannten klinischen Situationen exemplifizieren: – WENN ein Patient Fieber, Husten und Atemnot hat UND (3) – Sie wissen wollen, ob er Pneumonie hat, – DANN a. untersuchen Sie seine Brustorgane, um nach veränderten Atemgeräuschen und nach Rasselgeräuschen zu suchen, b. fertigen Sie Röntgenbilder von seinen Brustorganen an, um nach matten und dunklen Stellen in beiden Lungen zu suchen. Dieser Satz (3) hat die Struktur der obigen Muster (1–2) und ist (nach der Exportationsregel) äquivalent mit: – WENN ein Patient Fieber, Husten und Atemnot hat, DANN (4) – WENN Sie wissen wollen, ob er Pneumonie hat, – DANN a. untersuchen Sie seine Brustorgane, um nach veränderten Atemgeräuschen und nach Rasselgeräuschen zu suchen, b. fertigen Sie Röntgenbilder von seinen Brustorganen an, um nach matten und dunklen Stellen in beiden Lungen zu suchen. Dieses verschachtelte Konditional wird jetzt ein wenig präzisiert werden, um seine relativ komplexe Struktur ans Tageslicht zu bringen und unschwer erkennbar zu machen, wie das klinisch-praktische Wissen genau aussieht. Zu diesem Zweck vereinbaren wir einige Satzkonstanten, die die einzelnen Teilsätze von (4) vertreten sollen, sowie Symbole für „und“ und „oder“:
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a1 der Patient hat Fieber, a2 der Patient hat Husten, a3 der Patient hat Atemnot, b Sie wollen wissen, ob er Pneumonie hat, g1 Sie untersuchen seine Brustorgane, um nach veränderten Atemgeräuschen und nach Rasselgeräuschen zu suchen, g2 Sie fertigen Röntgenbilder von seinen Brustorganen an, um nach matten und dunklen Stellen in beiden Lungen zu suchen, ^ „und“ _ „oder“. Die folgende Formalisierung ist sehr vereinfachend und entspricht nicht dem formal-logischen Anspruch des Problems. Der Sachverhalt soll jedoch hier allgemeinverständlich dargestellt werden. Daher sind die Sätze vom prädikatenlogischen auf das aussagenlogische Niveau „heruntergeholt“ worden und lassen die notwendigen Quantoren vermissen. Ein Blick auf den Satz (4) zeigt, dass er die folgende Form hat: Wenn a1 ^ a2 ^ a3, dann (wenn b, dann tun Sie g1 ^ g2)
(5)
Ein Imperativ ist ein Befehlssatz in Form von „tun Sie H!“, wobei H eine Handlung ist wie zum Beispiel „untersuchen Sie den Patienten!“. Dementsprechend ist ein bedingter Imperativ ein Imperativ mit einer Vorbedingung. Er ist also ein Konditional mit einer Vorbedingung in seinem Antezedens und einem Befehl in seinem Sukzedens wie zum Beispiel „wenn es regnet, dann nehmen Sie den Regenschirm!“. Somit handelt es sich bei dem folgenden Satz, der mit (5) äquivalent ist, um einen bedingten Imperativ: Wenn a1 ^ a2 ^ a3 ^ b, dann tun Sie g1 ^ g2 mit der Vorbedingung a1 ^ a2 ^ a3 ^ b. Allerdings kann die Vorbedingung eines bedingten Imperativs beliebig komplex sein. Dies gilt auch für den Befehl in seinem Dann-Teil. Auf diese Weise erhalten wir dieses generelle Muster für bedingte Imperative: Wenn a1 ^ … ^ ak, dann (wenn b1 ^ … ^ bm, dann tun Sie g1 ^ … ^ gn), was dasselbe ist wie: Wenn a1 ^ … ^ ak ^ b1 ^ … ^ bm, dann tun Sie g1 ^ … ^ gn mit k, m, n 1. Nun kann der Befehl in dem Dann-Teil eines solchen Imperativs aus zwei oder mehr Alternativhandlungen bestehen, zwischen denen der Be-
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fehlsempfänger frei wählen kann. Ein Beispiel in einer klinischen Handlungsregel kann etwa der folgende Imperativ an den Arzt sein: (Zeichnen Sie ein Ruhe-EKG auf und führen Sie Echokardiographie durch) oder (zeichnen Sie ein Belastungs-EKG und ein 24-Stunden-EKG auf) oder (führen Sie eine elektrophysiologische Untersuchung des Herzmuskels durch)! Für unseren gesuchten Begriff des klinisch-praktischen Wissens berücksichtigen wir auch die eben genannte Möglichkeit und erhalten schließlich den verallgemeinerten bedingten Imperativ: Wenn a1 ^ … ^ ak, dann (wenn b1 ^ … ^ bm, dann tun Sie (g1 ^ … ^ gn)1 _ … _ (d1 ^ … ^ dp)q)
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mit k, m, n, p, q 1. Der Imperativ wurde zwar anhand von Diagnostik-Beispielen expliziert. Er deckt jedoch auch das therapeutische Procedere ab, wie das folgende Beispiel demonstriert: WENN ein Patient Fieber, Husten und Atemnot hat, DANN – WENN er bakterielle Pneumonie hat, – DANN wählen Sie zwischen den folgenden Optionen: a. geben Sie ihm täglich 2-mal Clarithromycin je 500 mg, oder b. geben Sie ihm ein Breitbandpenicillin, oder c. etc. Es wurde bereits erwähnt, dass das praktische Wissen, das wir oben exemplifiziert haben, in medizinischen Lehrbüchern in der Regel als implizit-praktisches Wissen präsentiert wird. Das geschieht dadurch, dass es in fragmentierter Form als Beschreibung einer Krankheit und als Pseudo-Beschreibung von diagnostischen oder therapeutischen Vorgehensweisen bei dieser Krankheit in mehreren, getrennten Abschnitten eines Kapitels dargeboten wird. Wir haben sie als komplexe bedingte Imperative rekonstruiert. Die folgende, allgemein bekannte Tatsache rechtfertigt jedoch die Verschärfung unseres Ausdrucks „Imperativ“ zu dem Ausdruck „Gebot“: Seit geraumer Zeit („seit die Patienten mündig geworden sind …“) werden wegen falscher Diagnosen und falscher Behandlungen, die durch Unterlassung von Handlungen zustande kommen, sogenannte Kunstfehlerprozesse gegen die Ärzte geführt, die solche Fehler begehen oder denen solche Fehler unterlaufen. Die Existenz dieser Kunstfehlerprozesse zeigt, dass die klinischen Handlungsregeln, gegen die solche Ärzte fahrlässig oder aus anderen Gründen verstoßen haben, juristisch relevante Gebote sein müssen. Ein Gebot wird durch den deontischen Operator „Es ist obligatorisch, dass … “ (oder „es ist geboten, dass …“)
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kodifiziert wie zum Beispiel in dem Gebot „Es ist obligatorisch, dass Sie niemanden töten“, d. h. Du sollst nicht töten! Der Obligationsoperator soll hier kurz durch „OB“ symbolisiert werden, so dass das Gebot: OB (Sie zeichnen ein Ruhe-EKG des Patienten auf) bedeutet, „es ist obligatorisch, dass Sie ein Ruhe-EKG des Patienten aufzeichnen“, oder mit anderen Worten, „die Aufzeichnung eines Ruhe-EKGs ist obligatorisch“ oder „ein Ruhe-EKG ist ein Muss“. Unser oben dargestellter, verallgemeinerter, bedingter, klinischer Imperativ (6) lässt sich demgemäß als ein bedingtes Gebot („conditional obligation“) der folgenden Form reformulieren: Wenn a1 ^ … ^ ak, dann (wenn b1 ^ … ^ bm, dann OB((g1 ^ … ^ gn)1 _ … _ (d1 ^ … ^ dp)q)) oder: a1 ^ … ^ ak ! (b1 ^ … ^ bm ! OB((g1 ^ … ^ gn)1 _ … _ (d1 ^ … ^ dp)q)) (7) wobei das Symbol „!“ für das Konditional „wenn-dann“ steht. Der Satz (7) stellt die Grundstruktur der einzelnen Elemente des klinisch-praktischen Wissens in der klinischen Medizin dar. Er lässt sich durch ein einfaches, klinisches Beispiel konkretisieren, das in drei alternativen Formulierungen vorgelegt wird, die logisch äquivalent sind: WENN ein Patient Anfälle von schweren Herzbeschleunigungen hat, die abrupt beginnen und enden, DANN ist es obligatorisch, dass ein Ruhe-EKG aufgezeichnet und Echokardiographie durchgeführt wird ODER ein Belastungs-EKG und ein 24-Stunden-EKG aufgezeichnet wird ODER eine elektrophysiologische Untersuchung des Herzmuskels durchgeführt wird, SOFERN der Verdacht besteht, dass er ein Wolff-Parkinson-White-Syndrom [WPW-Syndrom] hat.10 WENN ein Patient Anfälle von schweren Herzbeschleunigungen hat, die abrupt beginnen und enden, DANN (WENN der Verdacht besteht, dass er ein WolffParkinson-White-Syndrom [WPW-Syndrom] hat, DANN ist es obligatorisch, dass ein Ruhe-EKG aufgezeichnet und Echokardiographie durchgeführt wird ODER ein Belastungs-EKG und ein 24-Stunden-EKG aufgezeichnet wird 10 Das WPW-Syndrom ist ein anfallsweise auftretendes Herzrasen, das durch im Herzmuskel kreisende Erregungen der Herzmuskelzellen verursacht wird. Sie kommen dadurch zustande, dass es zusätzliche und überflüssige Leitungsbahnen zwischen den Herzvorhöfen und Herzkammern gibt. Die Therapie dieser anatomischen Anomalie besteht in ihrer Beseitigung durch Elektroverschorfung.
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ODER eine elektrophysiologische Untersuchung des Herzmuskels durchgeführt wird). WENN 1. ein Patient Anfälle von schweren Herzbeschleunigungen hat, die abrupt beginnen und enden UND 2. der Verdacht besteht, dass er ein Wolff-Parkinson-White-Syndrom [WPWSyndrom] hat, DANN ist es geboten, dass 1. ein Ruhe-EKG aufgezeichnet und Echokardiographie durchgeführt wird ODER 2. ein Belastungs-EKG und ein 24-Stunden-EKG aufgezeichnet wird ODER 3. eine elektrophysiologische Untersuchung des Herzmuskels durchgeführt wird.
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Das oben erzielte Ergebnis (7) zeigt, dass das klinisch-praktische Wissen aus bedingten Geboten („deontischen Konditionalen“)(„conditional obligations“) besteht. Die allgemein bekannten Ausdrücke „Indikation“ und „Kontraindikation“ bezeichnen solche Gebote.11 Als deontische Sätze sind sie keine Behauptungssätze. Folglich können sie durch Erfahrung nicht verifiziert oder falsifiziert werden. Somit sind sie keine Aussagen, was die im Abschnitt 1 zitierte These von Gilbert Ryle bestätigt, der zufolge das praktische Wissen nicht propositional ausgedrückt werden kann. Die Frage, wie solche Gebote in der klinischen Forschung gewonnen werden, ist sowohl erkenntnis- als auch handlungstheoretisch äußerst interessant. Allerdings würde die Erörterung dieses Aspekts den Einsatz des logischen Formalismus erfordern, auf den wir verzichtet haben.12 Wir können jedoch aus unserem Ergebnis den folgenden Schluss ziehen: Die klinische Forschung erwirbt praktisches Wissen im obengenannten Sinne, um das ärztliche Handeln und Verhalten in diagnostisch-therapeutischer und präventiver Entscheidungsfindung zu regulieren. Dieses praktische Wissen besteht aus bedingten Geboten. Sie haben keine Wahrheitswerte, weil sie keine Aussagen über Sachverhalte der Welt, sondern deontische Handlungsanweisungen, also Normen, sind. Abhängig vom Erfolg ihrer Anwendung, haben sie Effektivitätswerte. Diese lassen sich durch statistische Untersuchungen der Anwendungsresultate empirisch ermitteln. Fortschritt in der klinischen Forschung wird dadurch erzielt, dass für neue Krankheiten und Leiden (wie AIDS, Alz11 Vgl. Sadegh-Zadeh 2015, 326–334. 12 Siehe Sadegh-Zadeh 2015.
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heimer) deontische Handlungsnormen gesucht und etabliert werden, die es noch nicht gab, sowie alte Normen durch neue mit höherer Effektivität und Qualität ersetzt werden. Auf alle Fälle handelt es sich bei der klinischen Forschung darum, für das ärztliche Handeln stets bessere deontische Normen zu finden, sie zu begründen und zu rechtfertigen. Aus diesem Grunde erscheint es angemessen, sie als eine deontische Disziplin zu betrachten.
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Zusammenfassung
Anhand des klinischen Wissens über die Diagnostik, Therapie, Prognostik und Präventionen von Krankheiten wurde die Frage untersucht, welche Form (= Syntax) das praktische Wissen-wie in der Medizin aufweist. Es wurde dafür argumentiert, dass es nicht hinreicht, dieses praktische Wissen lediglich als eine Disposition der Wissenden zu betrachten und es auf ihre erworbenen Fähigkeiten und auf ihre sensomotorischen Fertigkeiten zu reduzieren. Denn bekanntlich existiert dieses Wissen auch in einer verbalisierten und veröffentlichten Form, in der es im Medizinstudium gelehrt und gelernt wird und neuerdings auch in Form von speziellen Computerprogrammen („clinical decision support systems“) Eingang in die Maschine findet. Die Syntax dieses veröffentlichten, klinischpraktischen Wissens wurde anhand von Beispielen analysiert. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um bedingte Gebote („deontische Konditionale“) handelt. Die allgemein bekannten Begriffe „Indikation“ und „Kontraindikation“ bezeichnen solche deontischen Konditionale. Da sie der klinischen Forschung entstammen, wurde die klinische Forschung als eine deontische Disziplin klassifiziert. Weil es sich dabei jedoch nicht um juristische Gebote handelt, können sie nur moralische Gebote sein. Aus diesem Grunde wird vorgeschlagen, die klinische Forschung zur normativen Ethik zuzuordnen. Sollte dieser Vorschlag haltbar sein, so wäre einer seiner interessanten Aspekte der, dass es dann eine normative Ethik gäbe, die ihre Gebote durch die Erfahrung gewinnt und sie auch empirisch begründet. Die deontischen Konditionale, die die klinische Forschung als „praktisches Wissen“ in die ärztliche Praxis einführt, dienen dem Zweck, durch ihre Befolgung das Leiden von kranken Menschen zu vermindern und ihr Wohlbefinden zu vermehren. Es erscheint daher ebenso als angemessen, die ärztliche Praxis als praktizierte Moral einzustufen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es dabei um die ärztliche Praxis als eine überzeitliche Institution geht und nicht um das Handeln von moralisch fehlbaren Ärztinnen und Ärzten.
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Literatur Jung, Eva-Maria 2012. Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens. Berlin. Ryle, Gilbert 1946. Knowing how and knowing that. Proceedings of the Aristotelian Society 16:1–16. Ryle Gilbert 1949. The Concept of Mind. London. (Zitate nach der Neuauflage: Penguin Books, London, 2000.) Sadegh-Zadeh, Kazem 2015. Handbook of Analytic Philosophy of Medicine. Dordrecht. (Zweite Auflage.) Stanley, J. / Williamson, T. 2001. Knowing how. The Journal of Philosophy 98, 411–444.
Prof. Dr. Kazem Sadegh-Zadeh, Am Steinkamp 20, D-49545 Tecklenburg.
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Is Stability a Stable Category in Medical Epistemology? Alex Broadbent
Abstract In my recent book I have sought to define a notion of stability and to argue that it is a useful notion for biomedical and especially epidemiological research (Broadbent 2013, 56–80). In this paper I seek to defend the notion of stability against two possible objections: that it fails to be epistemically significant, and that it amounts to nothing more than empirical adequacy. I argue that stability is epistemically significant because to know that a hypothesis is stable is to know something about the world, even if not the truth of the hypothesis. I argue that knowledge of stability of a hypothesis is distinct from knowledge of its approximate truth. And I argue that asserting the stability of a hypothesis is distinct from asserting its empirical adequacy, because it allows that the hypothesis may still be implicated in empirically inadequate claims, entailing only that if the hypothesis is so implicated, it will not be revised soon.
1. Introduction In 2011, the eminent paediatrician John McBride1 urged that there was sufficient evidence linking asthma to acetaminophen (or paracetamol) to warrant taking precautionary measures (McBride 2011). He conceded that the evidence was not yet strong enough to warrant a causal inference. Instead, he based his recommendation on the principle “first do no harm”. There was enough evidence, in this paediatricians view, that harm might be done by giving children acetaminophen, to warrant precautionary measures: specifically, not prescribing acetaminophen to children “at risk” of asthma. The paper was the focus of a number of reports in news media (e. g. Carroll 2011; Gordon 2011; Aschwanden 2011). There are several problems with this line of reasoning. Most philosophically, one cannot rely on the principle of non-maleficence alone to support refraining from a given action without also contemplating the consequences of refraining. In this case, prescribing nothing at all may lead to severe discomfort and uncontrolled fever, since these are indications for acetaminophen. Prescribing aspirin, 1 In philosophy, it is normal to single out individuals and subject their claims to investigation and criticism. In the health sciences, however, singling out by name is sometimes interpreted as an aggressive act. In this paper, criticism, and the singling out of McBride by name, are intended in a friendly philosophical spirit. Indeed I would not have picked work that did not command considerable authority for a philosophical case study.
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ibuprofen, or another non-steroidal anti-inflammatory in place of acetaminophen may lead to asthma attack, since these are known to be capable of causing asthma attacks (see inter alia Debley et al. 2005; Kanabar 2007). Thus it is simply unclear that following the recommendation for children “at risk” of asthma would indeed amount to doing no harm. There are less abstract difficulties with the argument, too. There are unlicensed inferences: for instance, what evidence favours singling out the “at risk” children? And there are flaws in the evidence base: the survey does not include a large prospective cohort study published in 2010 designed to tease out the effect of confounders, and finding no significant association between acetaminophen and asthma (Lowe et al. 2010).2 Nonetheless, I want to set these problems aside, and focus on a part of the underlying motivation for the recommendation. Although the paediatrician in question presents his argument as an ethical one, I think there is an implicit epistemological point underlying the explicit ethical one. What he is seeking to say, it seems to me, is that the association between acetaminophen and asthma is supported by evidence that is sufficient to warrant some action, even if it is not yet sufficient for us to make a truth claim. This suggests that some intermediate category, short of truth and yet more than a mere gamble, is being alluded to. Then again, perhaps no such thought crossed the eminent paediatricians mind. But even if not, I think the idea is worth exploring. In my recent book, I proposed a notion of stability (Broadbent 2013, 56–80), which is supposed to fill a gap between truth, which sometimes seems too much to claim, and a mere guess or gamble, which sometimes fails to do justice to the evidence. In this paper I hope to develop the notion in response to two potential objections. In Section 2 I will set out the notion of stability that I have in mind, and explain why it might be useful for giving expression to the conviction that the evidence warrants action even when it does not yet warrant belief in the truth of a given claim. In Section 3 I will seek to explain the epistemic significance of stability, which on its face looks like a social or historical property. In Section 4 I will seek to show how stability differs from both empirical adequacy and truth. The asthma/ acetaminophen example will be my case study. I will suggest that the notion of stability could have helped give expression to the recommendations made in the paper previously alluded to – even though ultimately I do not think that the association in question is stable, on the evidence I have seen.
2 These points are made in replies to McBrides piece (Lowe et al. 2012; Broadbent 2012).
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2. Stability In my book, I defined stability such that a result, claim, theory, inference, or other scientific output is stable if and only if: (a) in fact, it is not soon contradicted by good scientific evidence; and (b) given best current scientific knowledge, it would probably not be soon contradicted by good scientific evidence, if good research were to be done on the topic (Broadbent 2013, 63). In the remainder of this section I will recap the motivation for this definition and explain how it avoids a couple of obvious objections, before dealing in the following two sections with more substantial objections that I have not considered before. One might immediately object that whether or not a result is overturned could depend on epistemically irrelevant factors: financial pressure, or a cataclysmic war, for example. This immediate objection is a misunderstanding, however. The counterfactual formulation of (b) blocks the objection. Stability is determined in part by what would happen if good research were done, not solely by the actual fortunes of the claim at the hands of actual research. If a huge meteorite collides with Earth so that no further research is done, the result in question is not thereby rendered automatically stable: its stability depends on what would happen if further research were done. It is also important to block the potential misunderstanding that arises from ignoring the word “good” in both clauses. Of course, bent scientists might be bribed by the forces of evil to cook up studies that appear to overturn results which are, otherwise, stable. But only good research is determinative of stability. Defining “good research” is a project in itself, and not one I mean to take up here. Nonetheless, corrupt research is surely not good research. Of course the existence of corruption, along with incompetence, methodological ineptitude, and so forth might present challenges in seeking to assess stability, because it may not be immediately obvious that a study is the result of corruption. My point here simply concerns facts about stability, not yet the important question of how and when we can know these facts. The appearance of the word “soon” in the definition introduces an element of vagueness. How soon? I think the correct answer is to let “soon” depend on context, and borrow from the toolkit of contextualists about knowledge (see inter alia: Lewis 1996; DeRose 1991; DeRose 1992; DeRose 2009). Whether or not contextualism about knowledge is correct, contextualism about stability is prima facie plausible. The whole point of seeking to identify an intermediate status between gamble and sure thing is to give expression to the thought that sometimes, action is warranted even before scientific due diligence has been completed in respect of a theoretical knowledge claim. Given this practical orientation, it is extremely plausible that the extension of stability will depend on contextual
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factors, and among these contextual factors will be the time horizons of the agents concerned. If we lived for 8 or 800 years instead of 80, we might well count different claims as stable. Likewise if we are planning for next year or for the next 20 years, we might count different claims as stable. There is no harm, I think, in admitting a contextualist element to the notion of stability. How might the notion of stability, so defined, have helped McBride express his conviction that action must be taken in the case of a putative asthma/acetaminophen association? It is useful to approach this question by first considering the reasons that a causal inference is not yet warranted in this case. The claim that a causal association exists between asthma and acetaminophen is subject to a number of potential confounders that are difficult to tease out. McBride mentions three: confounding by indication (where fever leads to both asthma and prescription of acetaminophen); reverse causation (where asthma causes increased exposure to acetaminophen); and preferential use of acetaminophen in children at risk of asthma (because aspirin, ibuprofen, and other non-steroidal anti-inflammatories, which might be prescribed as an alternative to acetaminophen, are known to be capable of causing asthma) (McBride 2011, 1183). Another source of possible confounding that escapes mention is recall bias (meaning, here, that parents may be more likely to recall or report having given acetaminophen to children who are or become asthmatic, than parents whose children do not become asthmatic). Because of these difficulties, it is very hard to say whether the association that has been observed in some studies between acetaminophen and asthma would persist if these factors were controlled for. If it would not persist, then it is highly unlikely (though not impossible3) that it would be causal in those cases where an association is observed. Thus until these studies addressing these possible sources of confounding have been conducted, it is not reasonable to assert, with any confidence, that acetaminophen causes asthma. Translating into the idiom of contemporary contextualist epistemology, the evidence does not eliminate every possibility in which acetaminophen fails to cause asthma (Psst! – including some possibilities that are not properly ignored) (Lewis 1996, 554). Hence McBrides reluctance to base the case for action on a causal inference. We cannot say that we know acetaminophen causes asthma while there remain live possibilities, uneliminated by the evidence, on which it does not.
3 It is possible, in principle, that a causal relation could be such that it is instantiated only in cases where it is also confounded. For instance, purely hypothetically, it could be that acetaminophen causes asthma when fever is present but not otherwise. In cases of this sort it may be extremely hard to separate a causal effect from confounding variables. Such a situation would be similar to that of “finkish dispositions” (see Bird 2007, esp. ch. 3). (Of course I am not asserting that the acetaminophen/asthma association is of this sort.)
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We might, however, be able to say that a certain claim is stable, even when we are not able to say that it is true. We might want to say: although we have not done the due diligence to be able to assert that this claim is true, we would nonetheless be very surprised if it turned out to be false. We have not yet done the future research, so we cant say that we know it is true; but we can say that we dont expect the results of future research to upset the claim. To my mind, it is not clear that we can say even this much in the asthma/ acetaminophen case. The potential confounders simply seem to serious, and the weight of evidence supporting a causal link seems not to be sufficiently overwhelming. Thus, in my view, one cannot reasonably claim even that the asthma/ acetaminophen association is stable. However, I suspect that McBride does think it is stable. Otherwise, he would not have made the recommendation that he has made. The precautionary framing of the argument is significantly flawed, for reasons identified at the outset: refraining from prescribing acetaminophen poses its own risks. Presumably a paediatrician will be aware of these risks. Thus the recommendation must be underwritten by some other conviction, not explicitly stated, to the effect that when the results of these further studies are in, they will confirm a causal link between acetaminophen and asthma. There are other apparent cases outside the medical context. Physics offers prime examples. Newtonian physics was in fact stable for a long time, and contemporary physics is also stable in many of its components. Yet we know that contemporary physics is false in some part, since it is incoherent as a whole. The attitude that we adopt, I suggest, is that we take large parts of it to be stable. It is this property of stability that we rely on when using it for practical purposes, and which makes it adequate for practical purposes, even while acknowledging that the theory is strictly inadequate as a literal representation of the world. In my book, I have offered arguments that in a biomedical context, stability is often what is at issue when two other much-discussed ideas are invoked: translation, and best evidence (Broadbent 2013, 73–76). I have argued that often, it is not so much the translation of research into policy that is problematic – there is no issue of a failure of understanding (Broadbent 2013, 57–59). Rather, there is uncertainty on the policy side as to which results can be relied on, and which will be contradicted in a few years or even months (this worry is evident in Rutter 2007). Regarding best evidence, organisations such as the Cochrane Collaboration may risk undermining their goal of getting policy to be based on evidence, if they emphasise latest research and do not express views about stability. For example, publishing a report that seems to show that blood pressure medication may do more harm than good could be counterproductive if, from the outside, there is no apparent difference between this report and previous reports which concluded the opposite, apart from the fact that this report is the latest (Broadbent 2013, 75– 6). In the remainder of this paper I wish to develop the stability proposal by defending it against two further objections that I have not previously considered:
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that stability is, as defined, is a purely historical or social fact, and not epistemically significant; and that stability collapses into empirical adequacy.
3. Is Stability Epistemically Significant? In my book, I have argued that one must reasonably believe that a result is stable if one hopes to rely on it as a guide to action. My argument is as follows: (1) If the prospective user reasonably suspects that results might soon be cast into doubt, then it is hard to use those results. (2) Often, epidemiological results are such that the prospective user reasonably suspects they might soon be cast into doubt. (3) Hence, it is often hard to use epidemiological results. (Broadbent 2013, 59– 60) Perhaps we could extend the argument to other fields of biomedical research, but given that epidemiology is the discipline that tells us what effects given exposures or health interventions actually have “in the wild”, epidemiology is clearly going to be a focus for decision-makers (at least, it ought to be). The argument is valid (or close enough to formal validity for our purposes), and premise (2) seems to be fairly accurate. It has been pointed out on more than one occasion that epidemiological results are prone to embarrassing reversals (e. g. Ioannidis 2005; Rutter 2007; see also Broadbent 2013, 60). The main doubts about the argument concern premise (1). The main difficulty is that (1) is compatible with entirely non-epistemic motivation. One could endorse (1) for no other reason than that one hopes to avoid looking like a fool, or that one hopes for promotion to a better paid position, or similar. This means that the argument establishes no epistemic significance for the property of stability. That is to say, it does not establish that stability is something we should care about qua inquirers, or qua knowledge seekers. It is compatible with being interested only in entirely non-epistemic matters, such as being paid more, or protecting ones ego. In the remainder of this section, I will seek to show that stability does have epistemic significance, and thus that endorsing premise (1) is epistemically significant, even if improving ones epistemic position is not ones reason for doing so. As I have defined stability, to say that a claim is stable is to say that it will not be overturned soon were good further research to be done. The epistemic significance of stability must therefore derive from the epistemic significance of this good further research. I take it that this further research consists in further attempts to find out the truth of the matter under investigation, on a broadly realist interpretation (see inter alia Psillos 1999), and on the most viable contemporary empiricist interpretation too (see esp. van Fraassen 1980).
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If these efforts are legitimate and competent, and if a claim survives a number of such efforts, then it is tempting to say that we should have increasing confidence that a stable claim is true, or approximately true, as these efforts progress. This would link stability to truth: to say a claim is stable would be to say that one expects further reasons to think that it is true. This is enough to give stability epistemic significance, and thus it is a tempting line of thought. However, it is wrong. First, it does not demarcate stability from approximate truth: reasons to think that a claim is stable collapse into reasons to think it is likely to be vindicated. It is hard to see how one could have reason to think that a claim is stable that are anything other than reasons to think that it is true, on this interpretation. The assessment of stability and truth will vary together. Second, the fact that further research does not disturb a claim is not sufficient for further research to confirm that claim. More is needed for confirmation than merely a failure of evidence to overturn a hypothesis. Indeed, we might well think that a hypothesis is ultimately not going to have a place in the Big Book of Science: it may be too vague, or it may already be known not to hold in certain circumstances. Yet I want to say it may be stable nonetheless: we may be in a position to see that a hypothesis is unlikely to be disturbed soon, even if we are also doubtful of its whole and accurate truth. For example, it may be that “smoking causes lung cancer” is not the whole and accurate truth. The “basic science” about the carcinogenic effects of different ingredients of cigarette smoke will be specific to the carcinogen. Some components of tobacco smoke may not be carcinogenic at all; we could even find (hypothetically) that some components have protective effect. Perhaps cigarettes will one day be manufactured that do not cause lung cancer. Likewise on the epidemiological side, the actual carcinogenic effects of tobacco smoke (and indeed of each individual carcinogen) will be specific to a population. Epidemiological claims about causation are population-specific, and moreover are quantified (see Broadbent 2013, ch 3). Thus it may be that for some populations the headline causal claim – “smoking causes lung cancer” – is not true at all. Only a small proportion of smokers get lung cancer; perhaps (purely hypothetically, for purposes of illustration) there is a systematic difference between those who do and those who do not get lung cancer. In the end we might in the end prefer to say that this difference causes lung cancer (in conjunction with smoking cigarettes), just as we prefer not to say simply that phenalynine exposure causes phenylkutenoria, but rather that it is phenylkutenoria is caused by a genetic mutation in conjunction with phenalynine exposure (for a related discussion see: Broadbent 2013, 153). For reasons like these, when the Big Book of Science comes to be written, “smoking causes lung cancer” may not appear. But is the causal hypothesis going to be rejected any time soon? Surely not: the evidence is too various and too strong. We can treat it as true, and be confident that we will not go wrong in doing so (at least, not soon). Our confidence in doing so may greatly exceed our con-
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fidence that “smoking causes lung cancer” will appear in the hypothetical final edition of a hypothetical Big Book of Science. We have seen that the epistemic significance of stability cannot be derived from a direct link with truth without collapsing stability into a kind of truth-likeness. But the discussion of this example suggests another way to characterise the epistemic significance of stability. The key, I think, is to distinguish between different things one can know with respect to a given hypothesis H. One may know H, which I take to be equivalent to, or at least sufficient for, knowing that H is true. In that case, one knows that the world is the way H says it is (assuming, again, a broadly realist-friendly conception of truth). If one knows that H is stable, then one does not necessarily know H, and thus one does not know that the world is the way H says it is. Knowing that H is stable is compatible with the H ultimately being rejected as false, in the long run. But if you know of a hypothesis H that it is stable, then you know something about the world all the same. You know that the world is such as to make H stable: that is, the world is such that efforts to discover what it is like in the matters that H concerns will not force you to drop H soon. That is an contentful piece of knowledge, even if it underdetermines the facts of the matter that H concerns. The epistemic significance of stability is thus sui generis, in the sense that it does not derive from a direct link with the truth of the stable claim, but rather directly from the fact that it tells us something about the world: namely that it is such as to render the claim stable, as defined. The knowledge that H is stable amounts to a contentful piece of knowledge, and also a very useful piece of knowledge. If we are able to arrive at it long before we arrive at a more exact knowledge of the matters that H represents, then we can ground action-decisions on knowledge of stability much sooner. If we knew that the claim “acetaminophen causes asthma” were stable, we could act on it, because we would know that this claim would not be dispensed with soon. We might not be sure of its truth, but we could treat it as if it were true for the purposes of taking action: if we could not do so, that would be tantamount to admitting that there is research that could be done soon which would show the claim to be false, contrary to the claim that it is stable. As I have mentioned, I do not in fact think that the acetaminophen/asthma link passes the test of stability; I merely suggest that something like this might be what McBride had in mind. There are other examples that do pass the test of stability, but where it is not clear that we know the truth of the relevant matters. Physics provides some: we know that physics as a whole cannot be true, but we also know that many parts of physical theory are stable – indeed, paradigmatically so. Perhaps examples from physics are not helpful, since physics is so distant from the health sciences. I have already mentioned an example from epidemiology: the causal link between smoking and lung cancer. The stability of the claim “smoking causes lung cancer” was established before there was any clarity on exactly how smoking caused lung cancer (two historically important publications establishing
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stability are: Cornfield et al. 1959; Advisory Committee to the Surgeon General of the Public Health Service 1964). Indeed, there are many carcinogens in tobacco smoke (over 50), and the exact mechanism by which each operates is still a subject of study. The claim “smoking causes lung cancer” may be too rough to end up in the Big Book of Science. Perhaps cigarette smoke even includes some protective factors too (again, purely hypothetically, for the sake of illustration). Perhaps it does not cause cancer in most smokers, and stands to lung cancer roughly as phenalynine to phenylkutenoria.4 In general, we might expect or hope that many causal claims of this (stable) kind uncovered by epidemiology will ultimately be replaced by something more precise, just as “drinking dirty water causes cholera” has been replaced by “ingesting vibrio cholerae causes cholera”. For many broad-brush causal claims, such as epidemiologists gather evidence about, we might be hesitant to declare that they are true, because they package so much that we do not know.5 Yet we might have good reason to think that they are stable – that they will not soon be shown to be false. In that case, we can rely on them to guide action, since ex hypothesi we know that the action will not show the causal claim to be false. My efforts to show how stability is distinct from truth, and how one might be warranted in believing a hypothesis stable even when one is not warranted in believing it true, might lead to a different objection: that stability threatens to collapse the other way, not into truth, but into empirical adequacy. This is the objection I deal with in the next section.
4. Is Stability Empirical Adequacy? If we know that a claim is stable, we know that empirical evidence worthy of our consideration will not (and would not) soon contradict it. In that case, do we know anything other than that it is empirically adequate in Bas van Fraassens sense – true in what it says about the observable? To answer this objection we must further explore what it is for a claim not to be contradicted by good further research. It is a familiar point that on their own, theoretical claims rarely imply anything empirical (Duhem 1914; Ayer 1946; Quine 1953). For a hypothesis H to be “contradicted”, as I have put it, by evidence, it must first be conjoined with a number of auxiliaries {A1, …, An}, which together entail some observable claim O that turns out to be false. In this situation, we are 4 Not exactly, because phenylkutenoria is defined in terms of exposure to phenalynine, so never occurs without it, whereas lung cancer can occur in non-smokers. This, however, does not necessarily indicate an empirical difference between lung cancer and phenylkutenoria. It is a matter of disease definition: see Broadbent 2013, ch. 10. 5 Perhaps this is a characteristic of causal claims in general (for related thoughts see: Menzies and Price 1993; Price 1996; Norton 2007).
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faced with a choice: we can reject H, or we can reject a member of {A1, …, An}. When I say that a stable claim is not soon contradicted by good future research, I do not mean that it never features in a situation such as the one just described. I mean that when it does, it is not rejected: instead, one of {A1, …, An} is rejected. It belongs to what Lakatos would have described as the core of the body of theory, and not to the belt of auxiliaries (Lakatos 1968). For example, consider the claim that smoking causes lung cancer. This hypothesis has featured in a number of empirically unsuccessful public health interventions.6 For instance, because of the apparent dose-response relationship between smoking and lung cancer, it was hypothesised that smokers who took shallower puffs would suffer less lung cancer. In fact, the reverse turned out to be true. Again, because tar was hypothesised to be a major carcinogen in tobacco smoke, it was hypothesised that low tar cigarettes would reduce the incidence of lung cancer. But it turned out not to make any difference. In each case, the claim that smoking causes lung cancer was preserved by modifying auxiliaries. In the first case, the implicit auxiliary stating that the tissue of the lung is uniformly vulnerable to cancer was revised: the upper parts appear to be more vulnerable, explaining why shallower puffs lead to increased incidence. In the second case, the behaviour of smokers is blamed: smokers take in more smoke, cover ventilation holes with their fingers, and generally modify their behaviour so as to maintain their exposure to tar despite the low-tar cigarette. There is nothing surprising here, and certainly nothing to threaten the claim that smoking causes lung cancer. That claim can be taken as true for practical purposes, not because we are confident that it will have a place in the Big Book of Science, but because we are confident that it is stable. If one had to show that a claim was true in the final analysis before acting on it, we would still be debating the niceties of the smoking/lung cancer link. I take it as uncontroversial that no such debate is necessary, any longer, for the purposes of public health policy. Returning to the challenge that stability is merely empirical adequacy, it turns out not to be as easy as one might think to maintain the claim that “smoking causes lung cancer” is empirically adequate. If empirical adequacy consists in being a member of some set of propositions entailing certain evidence, then any coherent claim at all will count, if there really is no limit to the outlandishness of the auxiliaries we can dream up. If, on the other hand, it consists in being part of a Lakatosian core which withstands empirical refutations by the sacrifice of auxiliaries, then it is no longer clear that the notion is really one of strict adequacy to the empirical evidence. Given that empirical evidence does not dictate one whether we sacrifice an auxiliary or a part of the “core”, the defining features of the core must go beyond mere adequacy to experience, which, once again, is equally achievable for any conjunct of the grand conjunction of core and auxiliaries.
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The examples in this paragraph derive from Parascandola 2011.
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What determines membership of the core? Empirical evidence underdetermines this, but that does not mean that it is entirely “up to the scientist”, so to speak. A research programme can be productive or degenerative, depending on how much ad hoc revision incoming empirical evidence requires. Thus we should not worry that stability is a subjective matter – at least, no more subjective than inductive inference generally. I do not want to lean too heavily on Lakatoss picture of science. The point I wish to extract is that some claims may be implicated in empirical failure, and yet survive. I do not claim that all such claims are stable, or that the Lakatosian core is coextensive with the set of stable hypotheses. All I mean to say is that to assert that a hypothesis is stable is to assert that, like the Lakatosian “core”, it is not likely to be revised soon even if it is implicated in empirical failure. This feature of stability distinguishes it from empirical adequacy. More precisely, it shows that empirical adequacy is not necessary for stability – that one can have stability without empirical adequacy. What about the other way round – is empirical adequacy sufficient for stability? Can one have empirical adequacy without stability? In practice, many hypotheses that appear to be empirically adequate will also be stable, since the sorts of tests one needs to conduct to reach the conclusion that a hypothesis is empirically adequate would often also convince one that compelling evidence for the falsity of the hypothesis is not just about to emerge. Nonetheless, empirical adequacy does not suffice for stability. One can reject an empirically adequate theory – either because one suspects its future empirical inadequacy, or for non-empirical reasons, such as complexity, ad hoc-ness, knowledge of a vested interest by the theory-builder, and so forth. By the same token, one can acknowledge the empirical adequacy of a theory while refusing to assent to the claim that it will not be rejected soon. Thus empirical adequacy is not sufficient for stability, as a matter of logic, even though in practice evidence for empirical adequacy will often be evidence for stability.
5. Conclusion The notion of stability is vague, but it is epistemically significant: if we know that a hypothesis H is stable then we know something about the world, even if that this is not the truth of H. Moreover stability can be distinguished from both approximate truth and empirical adequacy. One may know that H is stable even if one also suspects that H is false, in the final analysis; and to say H is stable is not to say that H will not be implicated in empirically inadequate pronouncements, but rather that if it is implicated, H will not be sacrificed in the ensuing theory revision. Underlying the discussion is a conviction that, if it can be properly characterised, the notion of stability may have social and political significance. It seems to me that there is a difference between choosing a course of action because it
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seems to come out best in a cost/benefit analysis, and choosing a course of action because one knows that one is right. The former is very similar to a bet, and the latter is not. In law, the distinction is marked by two standards of proof: the balance of probabilities in civil cases, and proof beyond reasonable doubt in criminal cases. It seems to me that a similar distinction is important in policy contexts. The distinction matters because the absolute probability of a given claim might be extremely low, even if it is more likely than any other hypothesis on the table. In such a situation, one might reasonably think that policy makers should be cautious, that legislation should not infringe individual liberties, that scientists in possession of such results should be measured in their presentation of these results to news media, and so on. If our hand is forced, and we absolutely must act as if one of the hypotheses were true and the rest false, it is reasonable to go with the likeliest; but in many health policy situations, this is not the case. Even if the evidence that acetaminophen causes asthma is better than any contrary evidence, it could still be poor; and if it is, we should be cautious about acting on this result, and no more confident just because evidence for other hypotheses is still poorer. McBride frames his case as one of taking a precautionary measure – a sort of gamble. But that case is not strong. What he may have had in mind is something closer to a knowledge claim: a conviction that a certain threshold had been crossed. But by his own admission, that knowledge claim could not concern the truth of a causal inference. My suggestion is that he might have claimed to know something different: the stability of the causal claim. Once that notion is in hand, we can see that in fact a belief in the stability of that causal claim is not warranted any more than a belief in its truth. But that is still a useful result of spelling the notion out. This case is one of very many in which policy makers and scientists go back and forth, uncertain when action is warranted, and on what basis. In particular, one might want to know whether a particular policy is being enacted on a basis akin to the balance of probabilities, or whether it is closer to being beyond reasonable doubt. For example, perhaps a confusion between these categories contibuted to hormone replacement therapy being prescribed for women at risk of cardiac events. The finding that led to that action made the action beneficial on a balance of probabilities, but it probably did not make it beneficial beyond a reasonable doubt – a doubt that was arguable reasonable at the time, and subsequently confirmed by empirical evidence (for details of this and similar examples see Rutter 2007, 67–71). The admonition not to cry “causation” too hastily is always to be balanced, in epidemiology, against the admonition not to hold back from an inference that could save lives. The potential use of the notion of stability is to identify a basis on which action on the basis of a hypothesis H may be warranted,
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in a positive sense distinct from the warrant attaching to a best bet, even when it is clear that we cannot yet claim to know that H is true.7
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Is Stability a Stable Category in Medical Epistemology? Ioannidis, John P.A. 2005. “Why Most Published Research Findings Are Wrong.” PLoS Medicine 2 (8): e124. Kanabar, Dipak. 2007. “Ibuprofen and Asthma in Paediatric Populations: Clinical Concern or Clinical Reality?” Journal of the Royal Society of Medicine 100 Suppl 48: 15–17. Lakatos, Imre. 1968. “Criticism and the Methodology of Scientific Research Programmes.” Proceedings of the Aristotelian Society 69: 149–86. Lewis, David. 1996. “Elusive Knowledge.” Australasian Journal of Philosophy 74 (4): 549–67. Lowe, Adrian J, John B Carlin, Catherine M Bennett, Clifford S Hosking, Katrina JAllen, Colin F Robertson, Christine Axelrad, Michael J Abramson, David J Hill, and Shyamali C Dharmage. 2010. “Paracetamol Use in Early Life and Asthma: Prospective Birth Cohort Study.” British Medical Journal 341: c4616. Lowe, Adrian J, Shyamali C Dharmage, Caroline J Lodge, Michael J Abramson, and Katrie J Allen. 2012. “Does the Evidence Really Indicate That Acetamoniphen Causes Asthma?” Replies to The Association of Acetaminophen and Asthma Prevalence and Severity. http://pediatrics.aappublications.org/content/128/6/1181.abstract/ reply#pediatrics_el_52609. McBride, John T. 2011. “The Association of Acetaminophen and Asthma Prevalence and Severity.” Pediatrics 128: 1181–85. Menzies, Peter, and Huw Price. 1993. “Causation As A Secondary Quality.” British Journal for the Philosophy of Science 44 (2): 187–203. Norton, John. 2007. “Causation as Folk Science.” In Russells Republic Revisited: Causation, Physics, and the Constitution of Reality, edited by Huw Price and Richard Corry, 11–44. Oxford: Oxford University Press. Parascandola, Mark. 2011. “Tobacco Harm Reduction and the Evolution of Nicotine Dependence.” Public Health Then and Now 101 (4): 632–41. Price, Huw. 1996. Times Arrow and Archimedes Point. Oxford: Oxford University Press. Psillos, Stathis. 1999. Scientific Realism: How Science Tracks the Truth. London: Routledge. Quine, W. V.O. 1953. “Two Dogmas of Empiricism.” In From a Logical Point of View, 20– 43. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Rutter, Michael. 2007. Identifying the Environmental Causes of Disease: How Should We Decide What to Believe and When to Take Action? The Academy of Medical Sciences. van Fraassen, Bas. 1980. The Scientific Image. Oxford: Oxford University Press.
Prof. Dr. Alex Broadbent, Department of Philosophy, University of Johannesburg, PO Box 524, Auckland Park 2006, South Africa.
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Medizinische Diagnostik und das Problem der Darstellung: Methoden der Evidenzerzeugung Heiner Fangerau, Michael Martin
1. Einleitung Die Medizinische Praxis unterliegt einem Rechtfertigungsbedürfnis. Medizin verursacht Kosten und Folgen. In Diagnostik, Therapie und medizinischer Forschung bedürfen medizinische Handlungen folglich einer theoretischen Legitimation, die sich aus der Retrospektive als Konzept einer Medizin in ihrer jeweiligen Zeit rekonstruieren lässt (Rothschuh 1978). Der Diagnostik kommt innerhalb dieser Konzepte seit der Neuzeit eine Schlüsselrolle zu, da im diagnostischen Prozess Krankheitserscheinungen, die sich in einem Individuum präsentieren, einer in ihrer Zeit gültigen Krankheitsklassifikation zu- und untergeordnet werden. Aus dieser Zuordnung wiederum ergeben sich im günstigsten Fall therapeutische Konsequenzen und im Sinne einer Prognose Wahrscheinlichkeitsaussagen über die gesundheitliche Zukunft eines Patienten. Wie der Medizintheoretiker Richard Koch es formulierte, ist die Diagnose „ein Ausdruck für die Summe der Erkenntnis, die den Arzt zu seinem Handeln und Verhalten veranlasst“ (Koch 1920, 70). Der diagnostische Prozess muss in dieser Lesart in doppelter Hinsicht überzeugen. Zum einen müssen die in seinem Zuge erhobenen Zeichen reproduzierbar als solche erkennbar sein, um für valide gehalten zu werden, zum anderen muss ihr Sinngehalt, die Begründung ihres Bezugs zu Krankheitstypen, intersubjektiv verlässlich nachvollziehbar erscheinen, um eine allgemeine Aussagekraft zu erlangen. Für die heutigen Diagnosen konstatierte Wolfgang Wieland, dass die Aussage einer Diagnose in einem solchen Sinne in der Regel nicht direkt auf unmittelbare Beobachtung zurückgeführt werden könne, sondern auf Basis einer unmittelbaren Beobachtung nur ge- und erschlossen werden müsse. Selbst die diagnostische Intuition, auf die sich der Erfahrene berufe, sei in Wirklichkeit durch Begründungsketten gekennzeichnet, die eben aufgrund von Erfahrungen nur noch „unterschwellig“ abliefen. Die Begründung einer Verbindung zwischen individueller Krankheitserscheinung und einem Krankheitsbegriff könne sich also nicht „auf angebliche Evidenz oder Augenschein berufen“, vielmehr handele es sich um eine Serie aus Informationsgewinnung und -verarbeitung (Wieland 1983, 22). Die intersubjektive Zugänglichkeit einer Diagnose beruht folglich nicht auf der Wahrnehmung einer einheitlichen inneren Evidenz. Sie fußt hingegen auf externen Erklärungsreihen, die im aktuellen Programm der so genannten „Evidence Based Medicine“ zudem vor allem quantitativ geprägt sind. Augenfällig ist, dass die deutsche Bezeichnung „evidenzbasierte Medizin“ auf einer
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Medizinische Diagnostik und das Problem der Darstellung
inkorrekten Übersetzung der englischen Bezeichnung beruht. Denn das englische Wort „evidence“ bezeichnet einen „available body of facts or information indicating whether a belief or proposition is true or valid“,1 während das deutsche Wort „Evidenz“ im klassischen Sinne gerade das ohne Beweise Offensichtliche, die „self-evidence“, bezeichnet (Holmes, Murray, Perron, & Rail 2006; Schaffer 1992; Weßling 2011, 153 ff.). Ein auf serieller Informationsgewinnung und -verarbeitung zielendes Diagnoseverständnis hat seinen Ursprung in der Medizin des 19. Jahrhunderts, im Laufe dessen nicht nur die medizinische Semiotik als ärztliche Tätigkeit nach und nach in die Diagnostik überging, sondern in dem auch die Zeichenerhebung zunehmend technisch gestaltet wurde. Vermittelt über Instrumente wurden mit den Sinnen wahrnehmbare Erscheinungen in vergleichbare Zahlenwerte und Kurven überführt, darüber hinaus aber auch Krankheitszeichen apparativ aufgezeichnet, die nicht den Sinnen zugänglich waren. Die medizinische Technik ermöglichte neue Formen der Datenerhebung. Behält man dabei die Handlungsorientierung der Medizin, ihre Rolle als Handlungswissenschaft und den Diagnoseprozess selbst als legitimationsbedürftige Handlung (Wieland 1975, 83–99) im Blick, so stellt sich das Problem, dass die propagierten Krankheitszeichen als für ein Krankheitsgeschehen spezifisch, eindeutig und im jeweiligen Krankheitskonzept unbedingt logisch dargestellt werden müssen, umso dringlicher, je komplexer sich die Referenzketten zwischen körperlichem Symptom und technischer Abstraktion gestalten. Der Schritt zwischen Symptomerhebung und der Erklärung des Symptoms durch ein pathologisches Geschehen bei gleichzeitiger Eingliederung des Symptoms in eine Nosologie muss unbedingt überzeugen, wenn er eine nächste Handlung begründen soll. Am überzeugendsten wäre jedoch wiederum eine augenscheinliche Beziehung zwischen Symptom, Pathologie und Diagnose. Im Idealfall müssten die diagnostischen Kriterien für einen jeweiligen Krankheitsprozess evident erscheinen. Zwischen Wielands Verneinung einer Evidenz in der Diagnostik und der medizinischen Handlungsstrategie, die an der Notwendigkeit einer möglichst unmittelbaren Beziehung zwischen Symptom und Diagnose ansetzt, eröffnet sich folglich eine Spannung, die in der Frage mündet, was überhaupt unter Evidenz im diagnostischen Prozess verstanden werden und ob diese durch bestimmte Strategien erzeugt werden kann. Zu diesen Strategien können, wie Cuntz et al. in ihrer Übersicht „Die Listen der Evidenz“ festhalten, etwa die Berufung auf Authentizität, die Eindeutigkeit erzeugende gedankliche Abkürzung komplizierter Sachverhalte, die Abgrenzung eines Gegenstandes (Cuntz, Nitsche, Otto, & Spaniol 2006) oder auch die (sprachliche) Verbildlichung zur Erzeugung „sinnliche(r)“ Konkretheit (Wels 2006, 149) gehören. Die Frage nach der Erzeugung
1 Oxford Dictionaries Online: http://www.oxforddictionaries.com/definition/eviden ce, 26. 11. 2010.
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von Evidenz zielt dabei nicht auf die bewusste oder unbewusste Täuschung,2 sie zielt vielmehr auf die Versuche und Methoden, ein krankhaftes Geschehen und seine Benennung möglichst intersubjektiv nachvollziehbar nah aneinander zu koppeln. Richard Koch bezeichnete die Evidenz im ärztlichen Denken und Verhalten auch als „Sicherheitsgefühl“, das Verhalten dadurch leite, „dass uns manche Urteile einleuchten“ (Koch 1920, 123). Warum und wie sie einleuchten, bleibt aber erklärungsbedürftig. Im folgenden Beitrag möchten wir uns mittels eines historiographischen Ansatzes diesem Problem der Evidenz in der medizinischen Diagnostik annähern, indem wir zunächst rekonstruieren, wie sich im 19. Jahrhundert in der theoretischen Diskussion die Sichtweise auf das, was Diagnostik eigentlich macht, verschob und gleichzeitig analysieren, welche Evidenzansprüche im Zuge der Etablierung des diagnostischen Verfahrens an Krankheitszeichen gestellt wurden bzw. mit Hilfe welcher Strategie Evidenz begründet werden sollte. In einem zweiten Schritt möchten wir dann auf dieser Basis zeigen, wie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die in der neuen Diagnostik geltenden Evidenzansprüche auch auf das Sehen und Abbilden von Krankheitszeichen übertrugen. Hier konzentrieren wir uns auf eine Diagnostik, die zwar auf das unmittelbare Sehen setzte, aber das Problem mit sich führte, dass das zu Sehende dokumentiert, übermittelt diagnostisch verstanden werden musste.3 Besonders gegen Ende des Jahrhunderts waren Versuche, nicht nur mittelbar über die Analyse von Körperbestandteilen, sondern auch unmittelbar über das Auge zu diagnostischen Zwecken in den Körper des Kranken hineinzublicken, zunehmend erfolgreich. Auch wenn etwa die Labordiagnose eine hohe Relevanz erreichte (Büttner 2002), möchten wir uns hier auf die am Patienten direkt stattfindende Diagnose konzentrieren und das Beispiel der Durchsetzung der endoskopischen Diagnostik von Krankheiten des Urogenitaltraktes um 1900 heranziehen, um die Evidenz des diagnostischen Zeichens in vivo zwischen Befund, Bild, nosologischer Klassifikation und therapeutischer Konsequenz zu analysieren. Unsere These lautet, dass es mit der Etablierung der Diagnostik des 19. Jahrhunderts zwar den Anspruch auf Evidenz einer Diagnose gab. Gleichzeitig aber existierte eine „echte“ Evidenz, im Sinne „unmittelbar einleuchtende(r) Selbstbezeugung wahrer Erkenntnis“ (Halbfass & Held 1972, 829) oder „vorausset2 Claus Zittel entwickelt in seinem Aufsatz „Trügerische Evidenzen. Bild-Lektüren in wissenschaftlichen Texten der Frühen Neuzeit“ einen Fragenkatalog, um Bildfunktionen genauer zu beschreiben, zu denen auch die Frage gehört, ob die gelungene Darstellung im Bild Evidenz bei einer wissenschaftlichen Entdeckung stiftet (Zittel 2005, 6). Kernpunkt seiner Untersuchung ist die Folgerung, dass auch wissenschaftliche Bilder „keineswegs evident, sondern vieldeutig, polyfunktional und kulturell codiert“ sind (Zittel 2005, 32). 3 Zur aktuellen Diskussion um Evidenz vor allem im Kontext der Bildproduktion siehe u. a. Harrasser, Lethen, & Timm 2009; Heßler & Mersch 2009a; Peters & Schäfer 2006, 9–21; Wimböck, Leonhard, & Friedrich 2007.
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zungsloser Einsicht“ bzw. „anschaulicher Gewißheit“ (Mittelstraß 2004) nicht einmal mehr im Sehen, das ja in der Begrifflichkeit der „Evidenz“ oder des „Augenscheins“ gespiegelt wird. Dieser Widerspruch zeigt sich auch in den Strategien, die erdacht wurden, Evidenz zu erzeugen und zu vermitteln, was paradox erscheinen muss, wenn die Einsicht doch voraussetzungslos sein soll. Evidenz wird von uns dabei keineswegs als natürliche, anthropologisch konstante oder statische Größe verstanden. Wir betrachten sie eher als Ausdruck einer Denkströmung, die das Evidente erst als Offensichtliches konstruiert. Es bietet sich deshalb an, zur weiteren Bestimmung des Untersuchungfeldes einen zeitgenössischen Evidenzbegriff heranzuziehen, vor dessen Hintergrund sein Geltungsbereich in der medizinischen Diagnostik und die Strategien der Evidenzerzeugung analysiert werden sollen. Da es uns um die Verknüpfung von Krankheitssymptomen und ihre kognitive Deutung als diagnostische Zeichen geht, konzentrieren wir uns hier auf den (später unter anderem von Husserl kritisierten)4 logischen Evidenzbegriff von Wilhelm Wundt (1832–1920). Wundt geht davon aus, „dass nie den einzelnen Bestandtheilen des Denkens, den Begriffen, für sich Evidenz zukommt, sondern dass die letztere immer erst aus der Verknüpfung der Begriffe hervorgehen kann“ (Wundt 1880, 74). Hier unterscheidet er zwei Formen der Evidenz. Neben die unmittelbare, sofort einleuchtende Gewissheit stellt er die mittelbare, „die auf andere vorausgegangene Denkacte gegründet ist“ (Wundt 1880, 74). Im ersteren Fall sei die einem Gedanken innewohnende selbstständige Wahrheit material, im zweiten formal, da erst jeder Denkakt selbst für wahr befunden werden müsste, damit die hypothetische Wahrheit zur materialen werden könne. Die unmittelbare Evidenz fuße nun in der Anschauung (im weitesten Sinne unter Einschluss aller Sinne), wobei diese nicht an der Grenze der anschaulichen Gewissheit halt mache, sondern auch Symbolisiertes, Abstraktes, Vorstellbares und Versinnbildlichtes, Erlerntes mit einschließe. Nicht immer werde bei der Verknüpfung der Gegenstand selbst in der Vorstellung mitgeführt oder bildhaft gedacht, vielmehr würden Worte zu Stellvertretern zahlreicher Gedankenverbindungen. Dies sei etwa der Fall, wenn der Begriff „Hund“ dem des „Tiers“ untergeordnet werde. Letztendlich fuße die Evidenz im verknüpfenden und vergleichenden Denken, wenn etwa Vorstellungen nur in Bezug auf eine Eigenschaft identisch seien (die aber durch Anschauung belegt sein müssten). Die mittelbare Evidenz zeichne sich nun dadurch aus, dass Schlüsse aus der Kombination verschiedener Anschauungen gezogen würden, wie dies etwa bei der logischen Folge „wenn A=B und B=C, dann A=C“ der Fall sei. Allgemeingültigkeit wiederum erlange das, was für jeden evident sei (Wundt 1880, 72–78). Ohne dass der studierte Mediziner Wilhelm Wundt die Praxis der medizinischen Diagnostik mit einem Wort erwähnt, scheint seine Sichtweise auf die Evidenz doch u. a. auch dem Endpunkt einer Entwicklung in der medizinischen 4 Siehe u. a. Fröhlich 2000, 49 ff.
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Theorie zu entsprechen, in der unhinterfragte semiotische Zeichenkonstellationen abgelöst worden waren durch Krankheitsbilder, die vom Arzt im diagnostischen Prozess synthetisiert werden mussten (Eich 1986). Während dieses Prozesses wurde auch eine voraussetzungslose Einsicht in Krankheitszeichen ersetzt durch die Erkenntnis, dass Symptome nicht für sich als Zeichen gedeutet werden können. Sie bedürfen vielmehr einer Interpretation, die, wie im Folgenden gezeigt wird, ihrerseits durch eine Evidenz (im Wundtschen Sinn) überzeugen sollte. Die Hinwendung zu einer neuen Form der Diagnostik bildete dabei die Grundlage für ein neues Evidenzverständnis der zu erhebenden Krankheitszeichen. Zur Erklärung dieses Gedankens soll im Folgenden zunächst das Konzept der „Diagnose“ in seinem Verhältnis zum bis 1850 dominierenden Konzept der „Semiotik“ erklärt werden. Im Wesentlichen rangen die an der Debatte beteiligten Autoren um die Ziele und Arbeitsweise der Krankheitserkennung und -zuordnung im Prozess der ärztlichen Konsultation.
2. Von der Semiotik zur Diagnostik Im 19. Jahrhundert erlebte die „medizinische Diagnostik“, das Erkennen von Krankheiten, sowohl in ihrer Konzeption als auch in ihrer tatsächlichen Praxis die Konsolidierung einer zentralen Verschiebung, die ihr Bild um 1800 wirksam verändert hatte. Die bis dahin geübte Semiotik, die „Zeichenlehre“, die prognostisch orientiert vornehmlich „gesund“ und „krank“ voneinander unterscheiden wollte, wurde abgelöst durch ein Denken in „Krankheitsbildern“ und Krankheitsklassifikationen. Mit der Anerkennung dieser Klassifikationen ergab sich für den Arzt die Aufgabe, individuelle Krankheitszeichen eines Patienten mit einer generalisierten Ordnung der Zeichen in Einklang zu bringen. Die systematisch geordneten Zeichen wiederum mussten in eine jeweils gültige Nosologie eingefügt werden (Eich 1986; Wieland 1975). Den Ausgangspunkt für diese Idee bildeten die Hinwendung zu systematischer klinischer Beobachtung in großen Krankenhäusern an vielen Patienten und die Korrelation von diagnostischen Befunden mit postmortalen Untersuchungen (Foucault 1973; Risse 1987, 139). Äußere Symptome und Veränderungen an den Organen wurden systematisch miteinander in Beziehung gesetzt. Im Rahmen der pathologischen Anatomie wurde diese Herangehensweise zum zentralen Bezugspunkt der Diagnostik, die im nächsten Schritt die an Toten gefundenen pathologischen Befunde in Symptomen, die lebende Patienten präsentierten, wiederfinden sollte.5 Symptomen wurde pathologisch auf den Grund gegangen. Eine bestimmte Symptomkonstellation sollte eindeutig und in der Begründung zwingend mit einem Krankheitsbild assoziiert werden. So wurde die bis dahin 5 Günter B. Risse nennt diese Verlagerung „A Shift in Medical Epistemology“ (Risse 1987).
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geübte Fokussierung auf eine Theorie der Krankheitszeichen, die Semiotik, zunehmend durch diagnostische Befundkonstellationen und numerische Ansätze abgelöst (Hess 1993). In der Praxis ging diese Ablösung mit einer drastischen Zunahme an neuen technischen Diagnoseverfahren einher, die als „physikalische Diagnostik“ Furore machten (Eckart 1996). Lannecs Stethoskop zur indirekten Auskultation, Piorries Plessimeter zur indirekten Perkussion und später die Mikro- und Endoskope zur Erweiterung des Sehraumes sollten zu paradigmatischen Ikonen dieser Entwicklung avancieren. Nach der Einschätzung von Gerhard Rudolph hatten sich dieser grundsätzliche Wandel von der Semiotik zur Diagnostik und die begleitende „methodische Erweiterung“ schon im 18. Jahrhundert angedeutet, als in der Praxis der Symptomdeutung der prognostische Wert von Zeichen in den Hintergrund rückte und Ärzte zunehmend versuchten, Krankheiten rational objektiv zu benennen und zu erkennen (Rudolph 1978, 269 f.). Dennoch bot die Beziehung zwischen Semiotik und Diagnostik um 1800 noch ein unsicheres Terrain, das nach diskursiver Klärung verlangte. So wollte etwa Kurt Sprengel in seinem Handbuch der Semiotik von 1801 die Diagnostik als Teil der Semiotik betrachten und sie als individuelle Einordnung und Deutung, als Erkennen der „subjective(n) Modification“ (Sprengel 1801, 16) eines Krankheitsgeschehens bei einem Patienten beschreiben. Mit dieser Definition grenzte er sich dezidiert vom Gedanken seines Zeitgenossen Johann Wichmann ab, der in seinen „Ideen zur Diagnostik“ von 1794 die Diagnostik als „neue Wissenschaft“ der Semiotik gegenübergestellt hatte. Seiner Ansicht nach diente die Diagnostik dazu, „bekannte und ähnliche Krankheiten (…) von einander“ zu unterscheiden, während die Semiotik die Aufgabe habe, Krankheit allgemein zu erkennen (Wichmann 1794, 6).6 Einen dritten Weg der Einordnung, der sich indes an Wichmann orientierte, wählten Burdach und Leune in ihrer Realbibliothek der Heilkunde von 1803, einer umfassenden Literaturübersicht über die medizinische Literatur ihrer Zeit. Sie hielten Sprengels Ansatz für „promiscue“ und grenzverwischend. Auch für sie stand die Diagnostik der Semiotik, die sie als die Kunst vom Erkennen der Krankheitszeichen definierten, allenfalls nahe. Sie sei im Gegensatz zur „allgemeinen Semiotik“, die Krankheit im Grundsatz (ihren Grad, ihre Heftigkeit, ihre Gefährlichkeit) erkennen sollte, eine „spezielle Semiotik“, die als „Vergleichung und Zusammenstellung verschiedener Symptome zu einem Ganzen“ zum Zweck der Erkennung „der Gattung und Art der vorhandenen Krankheit“ (Burdach & Leune 1803, 93 f.) zu verstehen sei. Dieses Verständnis scheint sich in den folgenden Jahren durchgesetzt zu haben. Jacob Friedrich Sebastian etwa nannte die „Erkenntnis der gegenwärtigen Krankheit“ Diagnose und bezeichnete die Diagnostik als „die Kunst (…) und Wissenschaft die gegenwärtige Krankheit zu erkennen“ und ihre „Eigenheit und Verschiedenheit“ einzusehen (Sebastian 1819, 9). Carl Lutheritz gar versah 1829 6 Vgl. hierzu und zur Rezeption Wichmanns Hess 1993, 87 ff.
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sein Handbuch der medicinischen Diagnostik entsprechend mit dem Untertitel „Eine Anleitung die Krankheiten des menschlichen Körpers richtig zu erkennen und die ähnlichen von einander zu unterscheiden“ (Lutheritz 1829). 50 Jahre später stellt H. Frühauf als letztes Beispiel für diese Entwicklung in seiner Diagnostik der Inneren Krankheiten nur noch relativ lapidar fest, dass die Diagnose die Feststellung der (einen, definierten) Krankheit bei einem Patienten sei (Frühauf 1879, 48). Des unsicheren Grundes einer fliessenden, sich stetig verschiebenden Krankheitsklassifikation, der das Benennen einer definierten Krankheit erschwerte, waren sich die Protagonisten dabei sehr wohl bewusst. Aus diesem Grund bemühten sie sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts darum, Symptome und Zeichen voneinander zu differenzieren, um pathophysiologische Phänomene und Körpererscheinungen von deren Deutung im Sinne eines Krankheitszeichens zu unterscheiden (King 1982, 131 ff.). Während nach Ludwig Meissners Encyclopädie der medicinischen Wissenschaften von 18337 unter Symptomen allgemeine Krankheitserscheinungen verstanden wurden, im Sinne von „für die Sinne wahrnehmbare Veränderung, die in dem physischen Zustande eines Organs oder seiner Thätigkeit stattfindet, und die an das Vorhandensein einer Krankheit gebunden ist“ (Meissner 1830–1834, Bd. 11, 435), so ging das Zeichen über diese Erscheinung hinaus: Als Zeichen galt ein mit Bedeutung aufgeladenes Symptom. Das auf (pathologischen) Körperfunktionen oder -strukturen basierende Symptom war nach Meissners Encyclopädie eine „einfache Sensation, die nur durch eine besondere Operation des Geistes … zum Zeichen wird“ (Meissner 1830–1834, Bd. 13, 199). Somit wurde das individuelle Symptom erst zum Zeichen, wenn es vom ärztlichen Betrachter im Hinblick auf seine Bedeutung für eine Krankheit und in Bezug auf seinen Wert für die Unterscheidung von Krankheiten beurteilt worden war. Seinen „Sinn“ und seine Evidenz für etwas erhielt das Symptom erst durch seine Verbindung mit einer nosologisch vordefinierten Krankheit.8
7 Diese Encyclopädie war seinerseits an das französische Dictionnaire de mdecine von Adelon et al. angelehnt (Adelon, Andral, & Bclard 1821–1828). 8 Diese schon um 1830 eingebürgerte Differenzierung scheint sich jedoch um 1900 wieder verwischt zu haben. In Eulenburgs Realencyclopädie der gesammten Heilkunde etwa werden Symptom und Krankheitszeichen synonym gebraucht. Gleichzeitig aber wird im Prozess der Diagnostik die Sinnzuschreibung als dem Symptombegriff inhärent betrachtet, wenn etwa der Autor des Lemmas „Symptom“ notiert: „Die Diagnose ist also immer ein Schluss, beruhend auf Abwägung aller einzelnen Symptome“ (Eulenburg 1900, 623).
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3. Formen der Zeichenerhebung: Sinne und Instrumente Die konzeptionelle Festlegung auf Zeichen bzw. zu deutende Symptome, die dem Vergleich und der Unterscheidung von Krankheiten dienen sollten, brachte es mit sich, dass der Frage der möglichst sicheren Zeichenerhebung im Laufe des 19. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle zukam und damit indirekt auch die Frage nach der Evidenz klinischer Zeichen für eine bestimmte Diagnose im Raum stand. Zeichen sollten allein oder in Symptomkonstellationen möglichst sicher Auskunft über Art, Sitz und Prognose einer Krankheit geben können. Das Ideal bildeten hier so genannte „pathognomonische Zeichen“, „die mit Nothwendigkeit und Sicherheit nur für eine Krankheit charakteristisch sind, auf welche sich also ein leichter Rückschluss machen lässt“, wie es gegen Ende des hier betrachteten Zeitraums im eben zitierten Beitrag zu Eulenburgs Encyclopädie formuliert wurde (Eulenburg 1900, 625). Die Frage der Sicherheit der erhobenen Zeichen für eine Diagnose spielte entsprechend in der Literatur eine nicht unerhebliche Rolle. Zum einen wurden objektive und subjektive Zeichen unterschieden, zum anderen wurden die anschaulichen mit den Sinnen oder apparativ erfassten Zeichen den allein gedanklich durch Theorie hervorgebrachten Zeichen vorgezogen. So formulierte Gruner bereits 1794: „Alle Zeichen werden durch die Sinne, oder durch Nachdenken, oder durch Muthmaßung erlangt. Die erstern sind die gewöhnlichsten und zulässigsten, die andern die Schlussfolgen aus dem vorigen, die letztern zwar brauch- und anwendbar, aber nur in zweifelhaften Fällen erlaubt“ (Gruner 1794, 9). Die Sinne waren in dieser Lesart die Quelle von Evidenz. Wichmann konkretisierte im gleichen Jahr, dass seiner Ansicht nach der Sehsinn in der Diagnostik den anderen Sinnen überlegen sei (Wichmann 1794, 27). In seinen Ausführungen lassen sich Elemente der von Cuntz et al. differenzierten „Listen der Evidenz“ nachzeichnen (Cuntz et al. 2006), auch wenn er selbst nicht von Evidenz spricht. Die Strategien, die er zur argumentativen Stützung des Werts bestimmter Zeichen einsetzt, zielen auf Betonung ihrer Offensichtlichkeit: Er lobt in Abgrenzung zur rein theoretischen Betrachtung in „nosologischen Tabellen“ durch „philosophische“ Ärzte (Wichmann 1794, 74) die Naturtreue des Ansehens bei der Leichenöffnung als Abkürzung bei der Ursachenerforschung einer Krankheit (Wichmann 1794, 14). Insgesamt betont er auch den Wert der Authentizität der Beobachtung für die diagnostische Beurteilung von Zeichen. So sei auf Schilderungen anderer wenig Verlass und mittelbare Anschauungen über Abbildungen könnten höchstens als Ersatz betrachtet werden, wobei er Kupferstichen zubilligt, „vielleicht die einzige und beste Art“ der Versinnbildlichung zu sein (Wichmann 1794, 35, 37). Mit dem Sehsinn, der Authentizität des Gesehenen, der Abkürzung komplexer theoretischer Vorgänge durch Anschauung und der Orientierung an der empirischen Beobachtung und Naturtreue hatten Gruner und Wichmann eine Grundlage geschaffen, von deren Basis aus viele der folgenden Autoren ausgingen, wenn
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sie bestimmte Zeichen als evident darstellen wollten. Als Zeichen dienten u. a. der Habitus des Kranken, seine Lebensverrichtungen, der Gebrauch seiner Sinne und seine Körperflüssigkeiten. Sprengel etwa unterschied dabei Zeichen, die von jedem wahrgenommen werden (z. B. „Das rothe aufgetriebene Ansehn des Kranken“), Zeichen, die „kunstmäßige“ Untersuchungen voraussetzten (z. B. Urinuntersuchung mittels Chemikalien) und Zeichen, die „bloß der Kranke“ wahrnehme (z. B. berichtete Gefühle), wobei Sprengel den Wert natürlicher Zeichen über den der künstlichen und diesen wiederum über den der willkürlichen, von der Wahrnehmung des Kranken oder „umstehenden“ Dritten ausgehenden Zeichen setzte (Sprengel 1801, 4 ff., 19 ff.). Darüber hinaus stellte Sprengel noch fest, dass durch intellektuelle Verknüpfungen und logische Argumentation die Zuverlässigkeit eines Zeichens wachsen könne, wenn etwa der Grund für die Bedeutung eines Zeichens angegeben werden könne (Sprengel 1801, 7 f) oder aus Erfahrung geschlossen würde. Zuletzt vergaß er es nicht, darauf hinzuweisen, dass es wiederum von Bedeutung sei, wer ein Zeichen beobachtet und in der Folge einen semiotischen Schluss gezogen hatte: „Ist es ein Anhänger dieser oder jener Schule, die sich durch spitzfindige Theorien und philosophische Thesen auszeichnete; so verdient er weit weniger Glauben, als wenn er sich zu gar keiner Schule bekannte, sondern … die Natur selbst, uneingenommen von Hypothesen, beobachtete“ (Sprengel 1801, 10). Jacob Friedrich Christian Sebastian warnte fast 20 Jahre später erneut vor trügerischen willkürlichen Zeichen, die nicht immer notwendigerweise mit der zu diagnostizierenden Erkrankung in Verbindung stünden (Sebastian 1819, 7).9 In seinem Grundriss der allgemeinen pathologischen Zeichenlehre von 1819 (dem Jahr der Publikation von Lannecs Trait de lauscultation mdiate) kam den künstlichen „mittelbar sinnlichen“ Zeichen allerdings eine größere Bedeutung zu als noch in den Übersichten von Wichmann und Sprengel. So stellte er neben die auch schon bei Sprengel diskutierte chemische Untersuchung des Harns als Beispiel für nützliche künstliche Zeichen auch solche, deren Erhebung die Grenzen der natürlichen Sinne überschritten. Hierzu zählt er „geschickte Handgriffe“ und mit Hilfe von Instrumenten wie Sonden, Kathetern oder Spiegeln erhobene Zeichen, wobei er auch Bozzinis 1807 vorgestellten Lichtleiter, einen Vorläufer des Endoskops, nicht zu erwähnen vergaß (Sebastian 1819, 11 f.). Die wiederholte Replizierbarkeit eines Zeichens, dessen Hervorbringung bzw. Wahrnehmung durch „mehrere Sinne, bald nahe, bald in der Ferne betrachtet“ und der Vergleich sowie die Erfahrenheit des Arztes erhöhten zuletzt seiner Meinung nach die Aussagekraft diagnostischer Merkmale. Evident wurde bei ihm das multimodal erfassbare diagnostische Phänomen.
9 In vielen folgenden Werken ist die Simulation, d. h. die vom Patienten vorgetäuschte Evidenz und ihre Erkennung ein stetig wiederkehrendes Thema (Schmalz 1825, XIV).
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Die Multimodalität gewann in der Folge an Gewicht. Schon kurz nach ihrer Initiierung und ,Inszenierung hatten die Perkussion und Auskultation als künstliche Zeichen in umfänglicher Form Eingang in die Darstellung der Diagnostik gefunden und sich hier als wichtige Evidenzproduzenten bis ins 20. Jahrhundert behauptet (Martin & Fangerau 2011b). Aber auch andere künstliche, technische Untersuchungsverfahren erfuhren eine umfängliche Ausweitung und Neubewertung ihrer Aussagekraft. Künstlichkeit tat dem Authentizitätsanspruch und der Forderung nach Naturtreue der Symptomerhebungsinstrumente keinen Abbruch, vielmehr wurden sie auf der einen Seite als legitime Ausdehnung der Sinne und auf der anderen Seite als von sich aus evidente und objektive, vom Untersucher in Teilen abgelöste Zeichenproduzenten verstanden. Adolf Moser urteilte hierzu im Band zur Diagnostik und Semiotik seiner Enzyklopädie der medizinischen Wissenschaften im Jahr 1845: „Während die Resultate der neuern Forschungen an Bestimmtheit, Sicherheit und Genauigkeit gewonnen haben (…) waren die Alten in den einfachen sinnlichen Wahrnehmungen erfahrener, und verstanden es, die feinern, gleichsam lebendigen Nuancierungen in den Beobachtungen mittelst der Sinnesorgane für die praktische Medizin zu benutzen. … Die neuere Medizin will diese Wahrnehmungen erst objectiv hinstellen, dann sie durch den Gedanken nach theoretischen Gesetzen beleben, um so zu einer sichern Basis für das Handeln zu gelangen“ (Moser 1845, V). Im Wechsel von den Sinneswahrnehmungen der Ärzte zu technischen Untersuchungsverfahren deutete sich hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine nicht unwesentliche Verschiebung der Evidenzbegründung an: Die Authentizität, das Selbstsehen als Merkmal des Offensichtlichen, das für Autoren wie Pierre Adolphe Piorry (1794–1879)10 und bedingt auch noch Moser als Evidenzzeichen außer Frage stand, begann sich zumindest unter den Theoretikern zu einer Akzeptanz der Authentizität des objektiven, apparativen, replizierbaren Wahrnehmens zu wandeln. Die Erfahrung der „Alten“ wurde ersetzt durch für objektiv gehaltene technische Erfassungsinstrumente.11 So lobte Moser den Einsatz neuer Hilfsmittel zur technischen Vermehrung des Wahrnehmbaren (Moser 1845, 34) und präsentierte einen drei Seiten langen Katalog an Gerätschaften vom Stethoskop und Thermometer bis hin zur Waage und zu Chemikalien.12 Er rechnete allerdings in letzter Konsequenz immer noch dem erfahrenen Arzt selbst die objektive Wahrnehmung zu und sah ihn selbst als Produzenten objektiver Zeichen im Gegensatz zu den subjektiven Zeichen des Kranken (Moser 1845, 5), 10 Piorry etwa postulierte: „Nur wenn man mit eignen Augen gesehen hat, darf man in der Medicin schreiben. Was man mit den Augen eines Andern gesehen hat, trägt stets das Gepräge eines Systems, des Enthusiasmus oder des Vorurtheils. Besser ist es, ein unvollkommnes, aber Originalgebilde zu schaffen, als die schönste Copie zu liefern“ (Piorry 1846, Bd. 1, XI). 11 Praktiker sahen die technische Objektivität sehr wohl kritisch. 12 Siehe auch Piorry.
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wenn er denn „durch Uebung, durch gehörige Ausbildung“ seine Sinne geschärft hatte (Moser 1845, 10). So sei es auch am Arzt, um den Wert verschiedener Zeichen zu wissen, die Moser in „wahre, hinreichende, gewisse, und falsche, nicht zureichende, ungewisse, trügliche Zeichen“ unterteilte (Moser 1845, 9). Selbst die in Mosers Augen sichereren und bestimmteren, weil objektivierbarer erfassbaren physikalischen Zeichen konnten dabei trügerisch sein, weshalb auch sie kritisch betrachtet und vom Geübten kontextbezogen interpretiert werden müssten (Moser 1845, 12 f.). Carl Ernst Bock stellte hierzu etwas später in seinem Lehrbuch der Diagnostik von 1853 relativ apodiktisch fest: „Nur die objectiven, hauptsächlich durch die sogenannte physicalische Diagnostik, durch Besichtigen (Inspection), Befühlen (Palpation), Messen (Mensuration), Beklopfen (Percussion) und Behorchen (Auscultation), durch chemische und microscopische Untersuchungen wahrzunehmenden Symptome haben für den Arzt einen diagnostischen Werth“ (Bock 1853, 6). In den folgenden Jahren wurden, Bocks Anschauung entsprechend, neben der Inspektion in die Diagnostik zunehmend quantitative Messverfahren eingeführt, die dem Anspruch genügen sollten, indirekte, aber sichere Zeichen zu bieten. Die sich etablierende „Klinische Chemie“ verfügte hier über ein besonderes Arsenal zahlreicher Apparaturen und Methoden (Polarimeter, Gär-und Nachweisproben etc.), mit denen insbesondere die einzelnen Bestandteile von Blut und Urin mit diagnostischer Zielsetzung quantifiziert wurden, um sie in numerische Zeichen zu konvertieren.13 Diese Quantifizierungen waren aber keineswegs aus sich heraus diagnostisch evident. Es bedurfte des Umweges über die Festlegung von „Normalwerten“, um diagnostische Evidenz zu schaffen (Büttner 1997). Grundlegende Voraussetzung war die Ablösung der traditionellen Dichotomie von Krankheit und Gesundheit. Krankheit durfte nicht mehr als Zustand oder Entität aufgefasst, sondern musste als ein sich unablässig verändernder von einer Norm abweichender Prozess begriffen werden. Diese Prozesshaftigkeit bewegte sich zwischen den Polen des Normalen und des Pathologischen, woraus sich wiederum die doppelte Problematik ergab, dass zum einen eine Kontinuität zwischen diesen beiden Zuständen überhaupt erst einmal akzeptiert werden musste und es zum anderen festgelegter Normwerte bedurfte, um überhaupt sinnvoll Messwerte einordnen zu können (Canguilhem 1977; Link 1997).14 Ähnliches galt auch für die mittels des Sehsinns erhobenen Zeichen: Das nicht direkt in Zahlen messende, aber doch Strukturen und Formen wahr- und maßnehmende Sehen wurde gleichermaßen technisch verstärkt, der Sehraum wurde erweitert und der diagnostische Evidenzgehalt des Gesehenen im Gegenlicht der Norm verhandelt. 13 Vgl. Martin & Fangerau 2009. 14 Schon 1836 hatte Piorry festgestellt, dass Krankheit „eine Abstraction“ darstelle, welche sich aus „organischen, primären oder secundären Zuständen“ zusammensetze (Piorry 1846, 43).
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4. Das Evidenzproblem in der Dokumentation visuell fassbarer Zeichen Neben dem Messen wurde im 19. Jahrhundert auch das Sehen durch die medizinische, physiologische wie psychologische Forschung, durch optische Instrumente oder Experimente mit Licht und Strahlen, zu einem zentralen Gegenstand wissenschaftlicher wie kultureller Diskurse. In der Hierarchie der Sinne nimmt in der westlichen Moderne spätestens seit der Aufklärung das Sehen eine Sonderstellung ein. Etwas zu „sehen“ suggerierte Wahrheit und Erkenntnis. Lagen die Dinge „im Dunkeln“, waren sie unsichtbar, undeutbar, blieben Gegenstand der Spekulation. Im Kontext der Etablierung einer naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin war man darum bemüht, alle subjektiven Elemente auszuschalten und die „Dinge“ zum Objekt zu erheben, das man wissenschaftlich betrachten und dokumentieren konnte. In der medizinischen Diagnostik wurde dem Sehen, wie oben ausgeführt, ebenfalls ein besonderer Status zugestanden. Der Arzt musste etwa für Wichmann „ganz Auge“ sein, wenn andere Sinne wenig brauchbar seien (Wichmann 1794, 27). Um nun einer neuen mitunter technisch vermittelten Art des diagnostischen Sehens allgemeine Evidenzkraft zukommen zu lassen (sie im Sinne Wundts für jeden evident werden zu lassen), wurden zahllose Hand- und Lehrbücher verfasst, die als „Referenzwerke“ für das ,normal Pathologische dienen sollten. Insbesondere ab den 1870er Jahren wurden die diagnostischen Handbücher zunehmend mit Abbildungen illustriert.15 Die Vermittlung diagnostischer Zeichen über mittelbare Visualisierungen brachte aber ein zentrales Problem mit sich. Sie widersprach der alten, schon von Wichmann 1794 problematisierten (vgl. § 3) Forderung nach Unmittelbarkeit und Naturtreue von Zeichen als Merkmale ihrer Evidenz (vgl. § 6). Ein gezeichnetes Bild konnte diese Forderungen nur schwerlich erfüllen. Für bildgebende diagnostische Verfahren ergab sich aus dieser Konstellation eine spannungsreiche Ambivalenz, waren sie doch zum einem dem für den Augenschein so wichtigen Sehsinn zugänglich und direkt, gleichzeitig in ihrer Repräsentation aber an indirekte Verfahren der technischen Reproduktion gebunden. In ihrer sinnlichen Direktheit standen sie in der Logik der Zeit vom Sicherheitsgrad ihrer Deutung hinter indirekten apparativen Zeichen, die sich z. B. quantifizieren ließen, zurück. Die gleichzeitige Unmittelbarkeit (Sehsinn) und Mittelbarkeit (dem Sehsinn nur über Technik zugänglich) der bildgebenden Diagnostik wurde für die Zeitgenossen Gegenstand anhaltender Diskussionen. Das gleiche galt für die Frage der Vermittlung der „neuen“ Bilder aus dem Körper. Die sich hier andeutende Problematik der Evidenz der Darstellung „künstlicher Zeichen“ lässt
15 Ein Beispiel unter vielen bietet das bis 1931 in 26 Auflagen erschienene Lehrbuch von Klemperer (1890), dessen erste Auflage 1890 publiziert wurde.
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sich am besten an Hand der sich um 1900 durchsetzenden Visualisierungsstrategien illustrieren (vgl. § 7). Die Dokumentation der in der Diagnostik zu Zeichen gewordenen Symptome bereitete die meisten Evidenz-Probleme. Notwendig erschien diese Konservierung zum Beispiel zur Verlaufskontrolle, zur Vermittlung zu Ausbildungszwecken oder auch zur diagnostischen Theoriebildung. Ging es etwa um mit dem Sehsinn erfassbare Zeichen, so wurden sprachliche Umschreibungen dem Sichtbaren nicht gerecht und Zeichnungen boten nur eine bedingte diagnostische ZeichenSicherheit, höchstens einen Ersatz. Wie Zielsetzung und Umsetzung hier zueinander gebracht werden sollten, um die Bilder evident zu gestalten, zeigen die Versuche Emil Ponficks, der 1901 mit einem Topographischen Atlas der medizinisch-chirurgischen Diagnostik den Versuch unternahm, die Lücke zwischen Zeichnung und Ursprungsobjekt möglichst zu reduzieren. Ponfick wollte einen Atlas bieten, der auf Tafeln „mit einem Blick“ einen Überblick über pathologische Veränderungen nicht nur eines Organs, sondern einer ganzen Körperregion geben sollte, um so die Beziehungen zwischen Organen diagnostisch sichtbar und nutzbar machen zu können. Die anatomischen Tafeln wurden jeweils mit einem klinisch-diagnostischen Befund korreliert, der Angaben zur Inspektion, Perkussion, Palpation und weiteren diagnostischen Befunden am noch lebenden Patienten enthielt. Der Atlas richtete sich zu Ausbildungszwecken an den „jungen Diagnostiker“ und „angehenden Operateur“, dem er zuverlässig das Typische einer Krankheit vor Augen führen wollte (Ponfick 1901, 1 ff.). In Entsprechung der Forderungen an den Evidenzgehalt von diagnostischen Zeichen strebte Ponfick Anschaulichkeit und „Naturtreue“ an. Um diese Ziele zu erreichen fror er die Leichen verstorbener Patienten ein, zerteilte sie in frontalen und horizontalen Schnitten und bedeckte die Schnittfläche mit einer Milchglasscheibe. Hier wurden die Umrisse des Präparats „durchgezeichnet“, dann auf Pauspapier übertragen und über einen weiteren Schritt auf Zeichenpapier mit Aquarellfarben koloriert. Er arbeitete mit einem Künstler zusammen, verwies aber darauf, dass er die künstlerische Arbeit überwachte und auf einer Wandtafel gleichzeitig ein Abbild des Präparates fertigte, „Denn jedem Kenner muss es ja einleuchten, dass selbst ein naturwissenschaftlich geschulter Zeichner, der zum Erfassen unerwarteter topographischer Verhältnisse noch so befähigt ist, nimmermehr im Stande wäre, die allen Regeln der normalen Anatomie spottende Mannigfaltigkeit der Situationen rasch genug zu begreifen und aufs Papier zu werfen“ (Ponfick 1901, 3). Ponfick ging also davon aus, dass ein bestimmtes medizinisches Wissen nötig sei, den Zeichenprozess korrekt zu gestalten. Konzepte des Zusammenhangs zwischen Pathologie und Diagnose sollten im Bild in theoriekonformer Weise abgebildet sein. Deutlich schildert er auf diese Weise eine Theorieabhängigkeit bzw. Theoriegeladenheit16der doch von ihm als naturtreu und unbestreitbar diagnostisch be16 Für eine Problematisierung dieses Begriffs siehe Heidelberger 2003.
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weisend bezeichneten Bilder, deren beweisenden, für die jeweilige Diagnostik evidenten Status er durch den Verweis auf seine eigene Beteiligung, die Authentizität der Abbildungen, zu belegen sucht. Im gleichen Moment kann Ponficks Vorgehen und seine Darstellung durchaus als spektakulär bezeichnet werden. Sein Atlas und seine Methode der Darstellung versuchten durch das Besondere des Produktionsprozesses, die außergewöhnlichen diagnostischen Abbildungen und ihre drastische Nähe zum Gegenstand zu überzeugen.17 Auch hier offenbart sich eine Strategie der Evidenzproduktion. Zum einen wird auf die Konformität der dargestellten Zeichen mit der diagnostischen Zeichentheorie gedrungen, womit die Korrektheit und Eindeutigkeit der Zeichen unterstrichen werden soll, zum anderen bietet das Aufsehen erregende des Erzeugungsprozesses Anknüpfungsmomente für eine theatralische, durch „sinnliche Konkretheit“ (Wels 2006) erzielte Evidenz. Von Ponfick wurde so über die eindrücklich geschilderte Abnahme des Bildes vom Körper der Evidenzgehalt der Abbildung selbst im Sinne einer Stellvertretung für die eigene Beobachtung gestärkt. Die Technik der Symptomerhebung setzte die Symptome für die Zeitgenossen überzeugend in Szene. Die Einbindung in die Theorie machte aus den Symptomen evidente Krankheitszeichen. Kurzum, es ging Ponfick darum, Symptome als Krankheitserscheinungen so darzustellen, dass sie zu sicheren Zeichen wurden oder als sichere Zeichen gelesen werden konnten. Die Vermittlung zwischen Symptom und Zeichen musste wiederum der Geist leisten, der aber diagnostisch erfahren und ausgebildet werden musste. Besondere Schwierigkeiten im Reproduktionsprozess und eine gleichzeitige sensationelle Spektakularität bei der bildlichen Umsetzung von visueller Diagnostik ergaben sich indes im nächsten Schritt, wenn es nicht darum ging, postmortalen anatomischen Abbildungen oder Darstellungen anhand von Präparaten Evidenz zu verleihen, sondern sich der Gegenstand des Interesses auf das Körperinnere des lebenden Patienten verschob. Hier mussten wiederum komplexe Techniken entwickelt werden, um die unsichtbaren Organe und Strukturen am Lebendigen überhaupt erst sichtbar zu machen und ihre Sichtbarmachung dann auch noch in evidenter Weise diagnostisch nutzbar werden zu lassen. Dies soll im Folgenden anhand der endoskopischen Verfahren dargestellt werden, wie sie zum Beispiel im Umfeld der Endouroskopie entwickelt wurden.18
17 Dieses Vorgehen ist nicht untypisch, wenn es darum geht, Evidenz zu produzieren. Vgl. Schaffer 1992; Schramm, Schwarte, & Lazardzig 2006. 18 Für die folgende Übersicht siehe Martin 2012; Martin & Fangerau 2011a.
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5. In den Körper sehen: Ästhetik und Normvergleich als Evidenzstrategie Neben der Körperoberfläche wurde in der Diagnostik gerade auch das außer in der Anatomie und Pathologie bisher dem Sehsinn weitgehend verschlossene menschliche Körperinnere zu einem zentralen Forschungsobjekt, das seinen sinnfälligsten Ausdruck in der dem Namen nach zuständigen Technik, der Endoskopie (griechisch: ndon ,innen; skopein ,beobachten), fand. Als einer der ersten setzte Phillip Bozzini (1773–1809) die Idee, „die inneren Höhlen des lebenden animalischen Körpers zu erleuchten“, 1806 mit seinem „Lichtleiter“ um. In der Diagnostik der Harnblase etwa sollte das Licht einer Kerze übereinen Spiegel in das Innere der Harnblase reflektiert werden. Damit war die Grundidee für das Kystoskop (wörtlich „Blasenbetrachter“) entwickelt. Das Instrument lieferte jedoch noch wenig wirklichen Einblick und fand daher keine praktische Anwendung. Es sollte mit einem weitreichenderen Einsatz bis in das Jahr 1878 dauern, als Maximilian Nitze (1848–1906) mit dem „Mignonlampen-Zystoskop“ erstmals einen funktionsfähigen Instrumententyp vorstellte, der die Leuchtquelle in das Körperinnere einbrachte, bei gleichzeitiger Unversehrtheit des Patienten.19 Damit waren die technischen Voraussetzungen für den Blick in das Körperinnere geschaffen, der nun eine Methode bot, die in der Lesart der Zeitgenossen „allen bisher geübten diagnostischen Methoden bei weitem überlegen“ sei. Wo Krankheitsformen bisher „nur mit Wahrscheinlichkeit erschlossen“ werden könnten, bringe nun „die Cystoskopie absolute Sicherheit“ (Casper 1903, 35). Die mittels Endoskop erzeugten Zeichen seien „sicher“ und „unzweideutig“ (Casper, 1898, pp. VI, 167). Allerdings war nichts an dieser neuen Sichtweise auf den Körper von sich aus diagnostisch evident, obwohl das Verfahren die zum Beispiel schon von Gruner in der Diagnostik geforderte Abkürzung gedanklicher Schrittfolgen vom Symptom über die Pathologie bis zum Zeichen auf das unmittelbar sichtbar Pathologische bot. Zwar stellte Nitze in Bezug auf Blasensteindiagnostik fest: „Steine und Fremdkörper kann man kystoskopisch so deutlich sehen, als ob sie frei vor uns lägen. Die geringe Größe des Gegenstandes kann niemals die Ursache sein, dass man ihn nicht erblickt. (…) Ja in gewissen Sinne sehen wir kleine Gegenstände besser als große“ (Nitze 1907, 212) und Samuel Jacoby sekundierte: „Das kystoskopische Bild eines Blasensteins ist so charakteristisch, dass es wohl genügt, einen solchen nur einmal gesehen zu haben, um stets die richtige Diagnose zu stellen“ (Jacoby 1911). Für die Zeitgenossen aber stellte das durchs Endoskop Sichtbare ein echtes Novum dar, dessen Interpretation erst erlernt werden musste, um als evident begriffen zu werden. So waren etwa die endoskopischen Bilder durch den Einsatz des Spiegelprismas seitenverkehrt und in ihren anatomischen Größenverhältnissen im Vergleich zum anatomischen Präparat schwer zu erfassen. Vor allem aber musste das, was man 19 Vgl. als Überblick zur technischen Entwicklung Reuter 2006; Shah 2002.
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sah, erst mit diagnostischer Bedeutung versehen werden. Die vermeintlich sichere und unzweideutige Evidenz ergab sich keineswegs immer unmittelbar aus traditionellem Wissen, sondern musste über Analogien oder andere Zwischenschritte vermittelt werden. Das wesentliche Verfahren, um eine Diagnose mittels visualisierender Verfahren zu stellen, bestand dabei im „Vergleich, und der Bezugspunkt“ war wie schon bei den quantitativen Verfahren „das Wissen um das ,Normale“ wie Heintz und Huber prägnant formulieren. Das Gesehene wurde „in Bezug gesetzt zu Musterbeispielen, Normalverteilungen, Referenzbildern“ (Heintz & Huber 2001, 24). Als Referenzwerke dienten neben den schon erwähnten Hand- und Lehrbüchern insbesondere Atlanten. Dabei ist es bezeichnend, dass die Werke weniger die diagnostische Relevanz der jeweiligen Technik herausstellen, als dass sie zunächst und in erster Linie den Rezipienten ihre jeweilige „Bildsprache“ näher bringen wollten. Denn wesentlich für die Durchsetzung der neuen Visualisierungsform war deren „Anschlussfähigkeit“ an bisherige Sehgewohnheiten. So bildete sich ein Spektrum sprachlicher Umschreibungen und Analogiebildern aus, das einherging mit einem System von Zuweisungen eines Bildes zur Diagnose, das über kurz oder lang die diagnostische Evidenz des Bildes selbst konstituieren sollte. Im Sinne dieser Strategie der allmählichen Evidenzproduktion wurden etwa in den kystoskopischen Atlanten in der Regel zunächst Bilder vom ,normalen Zustand („Bilder der normalen Blase“ etc.) gebracht und anschließend solche von diversen pathologischen Erscheinungen. Das ,richtige Sehen sollte mit diversen Hilfsmitteln (Sprache, Medienvergleich etc.) eingeübt werden. Die Autoren lieferten mitunter ausführliche Bildbeschreibungen zur Orientierung des Betrachters, die insbesondere mit Analogien arbeiten, um die neue Bildsprache zu vermitteln.20 Maximillian Nitze etwa beschrieb die „Mannigfaltigkeit der Formen“ von Blasengeschwülsten anschaulich unter Bezugnahme auf Lebensmittel, Fauna und Flora: „Bald sind die Zotten lang und schmal, bald mehr blattförmig (…) Oft zeigt die Geschwulst eine blumenkohlähnliche Oberfläche, mitunter erinnern sie in ihren Faltungen an Morcheln“ oder an ein „dicht gebundenes Bukett von schlanken Gräsern oder Wasserpflanzen.“ Am „schönsten präsentieren sich die gutartigen papillomatösen Gebilde“. Im „kystoskopischen Bilde (bieten sie) mit ihren zierlichen, in der Flüssigkeit flottierenden Zotten einen überaus reizvollen Anblick dar, der oft an gewisse niedere Seetiere, (…) an Seerosen etc. erinnert“ (Nitze 1907, 252 f.). Dieser letzte Verweis auf das Reizvolle und Ästhetische diente ebenfalls als Baustein, spektakuläre sinnliche Evidenz zu begründen. Diese Strategie der Betonung des Schönen im Anzuschauenden stellte keinen Einzelfall dar. Eine Reihe Autoren versuchte, das ästhetische Faszinosum der neuen diagnostischen 20 Nach den Kategorien von Rietti handelt es sich dabei um „analogische Fiktionen“ (Rietti 1924, 398 f.).
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Welten zu unterstreichen. Dies gilt auch für die technische Seite der Bildproduktion (Beleuchtung, Einfluss der Linsen bzw. Prismen, spiegelverkehrte Darstellung, räumliche Relationen, Belichtungszeit, fotochemische Fragen, Reproduktion uvm.).21 Eine diagnostisch-praktische Relevanz, die oben angeführte medizinische Handlungsorientierung, wurde somit rhetorisch gepaart mit der Betonung der Schönheit der Bilder. Nitze etwa konstatierte, die „Kystoskopie“ sei „ihrer ganzen Natur nach für die Gewinnung einer frühen Diagnose geeeignet“. Während uns die anderen Untersuchungsmethoden über die pathologischen Veränderungen der Blase umso zuverlässiger unterrichten, je vorgeschrittener und ausgebreiteter dieselben sind, gibt umgekehrt das Kystoskop gerade im Beginn des Leidens die schönsten und klarsten Bilder. Auch die Zartheit unserer Untersuchungsmethode ist der Erzielung einer Frühdiagnose günstig“ (Nitze 1907, 348). Casper wiederum bezeichnete Bilder von Blasensteinen als „mit zu dem Schönsten“ gehörend, „was man sehen kann“. Sobald „das Prisma in die Blasenhöhle vorgedrungen ist, präsentieren sich uns ein oder mehrere Steine in geradezu überraschender Deutlichkeit“ (Casper 1905, 253). An anderer Stelle hieß es: „von allem, was uns die Cystoskopie zeigt, geben wohl die Blasentumore die markantesten und im Sinne der Pathologie schönsten Bilder. Ich entsinne mich nicht eines einzigen Fachgenossen, der, nachdem ihm zum ersten Mal ein Blasentumor durch das Cystoskop gezeigt worden war, nicht voller Bewunderung und Lob über die Untersuchungsmethode gewesen wäre. Und in der Tat gewährt es ein Gefühl der Befriedigung und Freude, wenn man die Quelle oder den Sitz der scheinbar verborgenen Krankheit mit Exaktheit und Gewissheit vor sich sieht“ (Casper 1905, 138).
6. Dokumentation und Vermittlung des Gesehenen: Zeichnung oder Fotografie? Zur zentralen Frage wurde jetzt, wie das „Gesehene“ dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich zu machen sei. Dabei überblendeten sich die Verwendungskontexte der Diagnostik und die Didaktik der Diagnostik. Es erschien in beiden Fällen notwendig „die Bilder zu fixieren, die man im Kystoskop wahrnahm“ (Fromme & Ringleb 1913, 23). Hierzu bedienten sich die Autoren unterschiedlicher Strategien (Kombinationen Zeichnung, Bild, Text, Foto etc.). Dies galt auch für die technische Seite der Bildproduktion (Beleuchtung, Einfluss der Linsen bzw. Prismen, spiegelverkehrte Darstellung, räumliche Relationen, Belichtungszeit, fotochemische Fragen, Reproduktion uvm.). Wie aus der Mikroskopie oder der oben beschriebenen pathologischen Anatomie bekannt, setzte 21 Diese Praxis existiert auch in anderen wissenschaftlichen Feldern, wenn hier die produzierten Bilder selbst ästhetisch sein sollen, um zu überzeugen (Heßler & Mersch 2009a, 14, 42 ff.).
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man auch hier zunächst auf die künstlerische Darstellung, insbesondere in Form von Zeichnungen oder Aquarellen. Wichtigstes Kriterium für deren Güte war wieder die „Naturtreue“. In seinem wegweisenden „Lehrbuch der Kystoskopie“ aus dem Jahr 1889 konstatierte Maximillian Nitze diesbezüglich, die „kystoskopischen Bilder sind vom Verfasser nach der Natur angefertigt worden“ (Nitze 1889, 329). Otto Kneise betonte in seinem Handatlas der Cystoskopie von 1908, der wegen seiner als künstlerisch besonders gelungenen Abbildungen Berühmtheit erlangen sollte: „Ich habe sie vor dem Cystoskop als absolut getreue, realistische Darstellungen des Gesehenen meist in Aquarell, hie und da in Gouache ausgeführt und habe auf das Herausbringen des Individuellen, so der entsprechenden Farbtöne, die durchaus nicht so gleichbleibend sind, als sie immer geschildert werden, der unendlich verschiedenen Helligkeitswerte, der genauesten Zeichnung, z. B. der Gefäße, den größten Wert gelegt“ (Kneise 1908, 7). Das Beharren auf Naturtreue und Akkuratesse klang neben einem aus ihm sprechenden künstlerischen Stolz schon fast nach einem bestehenden Rechtfertigungsdruck,22 und tatsächlich war die wissenschaftliche Zeichnung mittlerweile in die Kritik geraten. Ihre Evidenz wurde angezweifelt. Maximillian Nitze hatte im Jahr 1893 anlässlich eines Vortrags bei der Berliner Medizinischen Gesellschaft konstatiert, „gewisse kystoskopische Atlanten“ seien „an Unwahrheit und Unnatürlichkeit kaum zu übertreffen“, was ihn veranlasst habe, einen eigenen kystophotographischen Atlas zusammenzustellen, um „einem richtigen Verständnis der kystoskopischen Bilder zu dienen.“ Insbesondere bemängelte er die zeichnerischen Unzulänglichkeiten gegenüber der neuen Technik, „glaubte ich doch an diesen Machwerken keine erfolgreichere Kritik üben zu können, als dadurch, dass ich den bunten Zerrbildern die unretouchirten Photographien gegenüberstellte“ (Nitze 1894b, 150). Für Nitze war die Fotografie zur einzig relevanten Repräsentationsform geworden, wie er im Vorwort zu seinem „Kystophotographischen Atlas“ von 1894 darlegte. In der Lehre ermögliche „die Kystophotographie“ dem Lernenden „objective Abbildungen kystoskopischer Bilder darzubieten. Dieser Umstand ist für unsere Disciplinum so wichtiger, als es in der That auffallend schwierig ist, das im Kystoskop Gesehene richtig zu zeichnen oder gar farbig wiederzugeben, und als andererseits viele pathologische Processe so selten sind, dass der nicht über ein sehr grosses Material Verfügende die sel22 Lorraine Daston und Peter Galison haben die Ablösung der „Naturtreue“ durch die „mechanische Objektivität“ im ausgehenden 19. Jahrhundert als paradigmatischen Vorgang für die Herausbildung des modernen Begriffs von wissenschaftlicher Objektivität bezeichnet (Daston & Galison 2007). An die Stelle der „naturgetreuen“ Zeichnung traten demnach apparative, nicht-intervenierende Darstellungsmethoden. Insbesondere die Fotografie schien ein in diesem Sinne perfektes Verfahren zur Aufzeichnung, das auch im medizinischen Kontext in dieser Zeit zunehmend zum Einsatz kam. Gerade im Bereich der Urologie kam es indes wie hier gezeigt keinesfalls zu einem radikalen „Medienwechsel“.
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teneren Bilder kaum häufiger zu beobachten Gelegenheit hat und so durch den Besitz zuverlässiger Abbildungen vor sonst schwer zu vermeidenden Täuschungen bewahrt wird.“ Die Zeichnungen hingegen seien „weit entfernt, das Verständnis der kystoskopischen Bilder zu erleichtern“, sondern seien „nur zu geeignet“, dem „Unkundigen eine falsche Auffassung beizubringen.“ Hier schienen „unsere Kystophotogramme berufen, die Lücke auszufüllen. Ermangeln dieselben auch des Reizes der Farben, so sind sie doch in ihrer Mehrzahl überaus charakteristisch und liefern im Gegensatz zu den Zeichnungen eine objective Wiedergabe der Wirklichkeit“ (Nitze 1894a, 8 f.). Damit sprach Nitze stellvertretend für viele seiner Kollegen einen entscheidenden Punkt an: Das zentrale Argument für die Fotografie war deren vermeintliche Objektivität, ihr Wirken als „kontrafaktischer Beweis“ (Mößner 2013). William Henry Fox Talbot (1800–1877), einer der wichtigsten Pioniere der Fotografie, sprach bereits 1839 von „photogenic drawings“, von der „Kunst des fotogenen Zeichnens“, durch die „Gegenstände der Natur veranlasst werden, sich selbst abzuzeichnen, ohne den Stift eines Künstlers“. Mit seinem 1844 erschienenen, gleichnamigen Werk wurde das Diktum vom „Pencil of Nature“ zum Credo der Enthusiasten der neuen Technik der Fotografie (Geimer 2009). Doch wenn sich das Gesehene mittels fotochemischer Vorgänge „selbst“ aufzeichnete, und dies als wissenschaftlicher „Mehrwert“ der Fotografie herausgestellt wurde, dann war das oberste Gebot die „Nicht-Intervention“. So wurden auch die Protagonisten der „Kystophotographie“ nicht müde, diese herauszustellen. „Es ist an den Bildern“, hieß es im Vorwort von Leopold Caspers „Handbuch“ von 1898, „nichts retouchirt worden, um sie ganz getreu zu haben. Ich habe um diesen Preis der Treue kleine Fehler auf einigen Platten (Schmutzflecke und dergleichen), die der Eingeweihte leicht als solche erkennt, in den Kauf genommen“(Casper 1898, VI). Nitze äußerte sich indes im Vorwort zu seinem Atlas recht vage: „Im Interesse der objektiven Wiedergabe ist bei den meisten Bildern von jeder Retousche Abstand genommen, ja selbst auf das Ausfüllen von Plattenfehlern verzichtet worden“ (Nitze 1894a, VI). Indirekt räumte er damit allerdings hie und da Manipulationen ein, nur wann und in welcher Form diese erfolgt waren und mit welcher Begründung, dazu schwieg er. Diese indifferente Haltung eröffnete das Feld für massive Vorwürfe. So urteilten Fromme und Ringleb: „Und wo die Konturen infolge der langen Exposition undeutlich sind, hilft fleissig der Stift des Retoucheurs. So ist beispielsweise an den Photogrammen M. Nitzes stark retouchiert worden, wie der in der Beurteilung solcher Bilder geübte sofort erkennt“ (Fromme & Ringleb 1913, 14). Genau hier lag das zentrale Problem dieser Evidenzstrategie der Kopplung einer sinnvollen, sinnlich erfassbaren Darstellung mit dem kontrafaktischen Beweis eines Fotos: Nicht-Intervention war das Maß aller Dinge für den Status der Fotografie als dem Medium der neuen wissenschaftlichen Objektivität. Der korrigierende Eingriff in die Abbildungen wurde tabuisiert und selbst fehlerhafte Reproduktionen sollten nach den strengen ,moralischen Maßgaben, den Ver-
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zicht auf jeden menschlichen Eingriff, ohne Retusche publiziert werden. Doch das Ideal der Selbstaufzeichnung wurde im gesamten fotografischen (Re-)Produktionsprozess unterlaufen. Bildausschnitte, Perspektiven mussten gewählt werden, Parameter wie Brennweite oder Intensität hatten erheblichen Einfluss auf die Abbildung, hinzu traten der chemische Prozess der „Entwicklung“ im Labor und das komplizierte Prozedere der „Übersetzung“ vom Negativ über die Druckvorlage bis hin zum tatsächlichen Abdruck in der Publikation. Auf diesem langen Weg gab es zahllose Möglichkeiten der (unfreiwilligen) Verfälschung wie der (absichtsvollen) Manipulation. Trotz dieses offensichtlich artifiziellen Charakters der Fotografie wurde diese aber zum Korrektiv der Handzeichnung. Der Zeichnung sprach man trotz methodischer Vorgehensweisen wie Ponfick sie gewählt hatte, insbesondere angesichts ihrer Subjektivität, die Erfüllung moderner wissenschaftlicher Standards ab. Die Zeichnungen waren in „einer gewissen Weise schematisiert“, wodurch ihnen zwar „eine leichtere Verständlichkeit ohne Weiteres eigen war“, sie überzeugten durch ihre Theoriekonformität. Dem stand allerdings der Nachteil gegenüber, „dass diesem Verfahren ein subjektiver Charakter anhaftet, und dass dabei Auslassungen und Umdeutungen“ des Realen „nicht zu vermeiden“ seien (Fromme & Ringleb 1913). Dieses Problem war schon aus anderen Bereichen bekannt. Berthold Benecke etwa hatte 1868 in einem historischen Rückblick darauf hingewiesen, dass zahlreiche Mediziner der Einführung der Mikroskopie in die Diagnostik ablehnend gegenüber gestanden hätten, man ihr etwa „Täuschung“ vorgeworfen hatte, und tatsächlich immer wieder Dinge in den Zeichnungen abgebildet wurden, die sich bei näherer Prüfung als „hypothetische Objecte“ erwiesen hatten (Benecke 1868, V). Laut Robert Koch, der bei der Etablierung seiner Bakteriologie als neuer Leitwissenschaft der Medizin ganz auf die Fototechnik gesetzt hatte,23 sind „Zeichnungen mikroskopischer Gegenstände (…) fast niemals naturgetreu, sie sind immer schöner als das Original“. Das unretuschierte „photographische Bild“ sei hingegen „nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück“, an „dessen Glaubwürdigkeit auch nicht der geringste Zweifel haften darf“ (Robert Koch 1881, 14). Im Gegensatz zur Zeichnung sei die Fotografie, und damit benennt Koch einen zentralen Punkt, „von jeder Voreingenommenheit“ frei (Robert Koch 1881, 9). Dieses Diktum galt hinsichtlich der Didaktik im Kontext der Lehre und Forschungsvermittlung, aber auch im Rahmen der Diagnostik. Tatsächlich wurden Fotografien in der Folgezeit zunehmend auch als „Beweismittel“ eingesetzt, etwa bei wissenschaftlichen Disputen, medizinischen Gutachten oder vor Gericht. So sah auch Nitze die „besondere Bedeutung“ der „Kystophotogramme“ in der Diagnostik darin, „dass sie uns geradezu actenmässige Belege“ liefern. Ganz offensichtlich attestierte er den Fotografien auch eine gewisse in ihrer Authentizität begründete Evidenz gegenüber sprachlicher 23 Vgl. hierzu Schlich 1997.
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Umschreibungen: „Photogramme“ sind „wichtige Actenstücke, die sprechender als lange Schilderungen den jeweiligen Zustand einer pathologischen Veränderung darstellen“ (Nitze 1894a, 9). Subjektiven Zeichnungen konnte ein derartiger (aktenmäßiger) Status nur schwer zugewiesen werden. Selbst Autoren, die weiterhin auf die Zeichnung setzten, zumeist weil ihnen bei der Fototechnik die Farbigkeit fehlte, konnten sich dieser Argumentation nicht ganz verschließen. So räumte etwa Otto Kneise, dessen farbige Aquarelle früher hoch gelobt worden waren, 1908 im Vorwort zu seinem Handatlas ein, er habe „zur endgültigen Fertigstellung“ der Abbildungen „eine Unsumme von Studien und Skizzen und als Kontrolle für meine Zeichnungen eine große Zahl endoversikaler Photogramme“ angefertigt“ (Kneise 1908, 7 f.). Er war also bemüht, die „Faktizität“ der Abbildung über die „mechanische Objektivität“ der Fotografie zu gewährleisten. Eine wesentliche Voraussetzung indes dafür, dass diese „faktischen“ Bilder Evidenz erlangten, lag wieder, wie schon bei der Einführung der Endoskopie, in der Einübung des neuen „richtigen Sehens“ durch eine Vielzahl von Akteuren. Evidenz war also auch in diesem Kontext nicht von sich aus offensichtlich und gegeben. Sie musste erlernt und trainiert werden,24 so wie Symptome erst durch Sinngebung zu Zeichen werden konnten. Viele medizinische Bilder sind durch eine prinzipielle „Deutungsoffenheit“ gekennzeichnet. Auch ein diagnostisches Bild spricht nicht für sich, es wird nicht automatisch ,richtig interpretiert. In Verbindung seines Ansatzes vom „Denkstil“ mit dem „Gestaltsehen“ hatte Ludwik Fleck 1947 die Vorstellung einer dem Bild immanenten Anschaulichkeit hinterfragt und formuliert: „Um zu sehen, muss man zuerst wissen. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht“ (Fleck 1983 [1947]). Fleck postulierte zwei Arten von Beobachtung, das „unklare, anfängliche Schauen“, das „explorativ und fragmentarisch“ ist und „nichts erkennt“ sowie das „unmittelbare Gestaltsehen“, das „gerichtet“ ist, eine „geschlossene Einheit“ hat und „Erfahrenheit in einem bestimmten Wissensgebiet“ voraussetzt (Hagner 2010, 583). Der Übergang vom „anfänglichen Schauen“ zum „entwickelten Gestaltsehen“ gelingt seiner Ansicht nach erst dann, wenn ein mit dem Untersuchungsgegenstand im Zusammenhang stehender Denkstil den Blick ordnet und dadurch ein „Sinn-Sehen“ entsteht. In seinem Hauptwerk aus dem Jahr 1935 heißt es explizit: „Das unmittelbare Gestaltsehen verlangt ein Erfahrensein in dem bestimmten Denkgebiete: erst nach vielen Erlebnissen, eventuell nach einer Vorbildung erwirbt man die Fähigkeit, Sinn, Gestalt, geschlossene Einheit unmittelbar wahrzunehmen. Freilich verliert man zugleich die Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen. Solche Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen macht aber den Hauptteil des Denkstils aus. Hiermit ist Gestaltsehen ausgesprochene Denkstilangelegenheit“ (Fleck 1980 [1935], 121). 24 Siehe zum Komplex der Bildtraditionen u. a. die prägnante Übersicht von Heßler und Mersch 2009a, 46 ff.
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Im Prozess des Erlernens der Deutung der neuen Bilder aus dem Körper erschwerte beim Einüben des Denkstils zum einen das Fehlen der Farbe das Verständnis der neuen Fotografien erheblich, zum anderen wurde die fehlende Bildschärfe moniert. Die der Evidenz innewohnende Augenscheinlichkeit schien zu fehlen. So urteilten Fromme und Ringleb in ihrem „Lehrbuch der Kystophotographie“ aus dem Jahr 1914 über ihre Vorgänger, wenn man „die Photographie auf ihre Dunkelheit und Schärfe hin prüft, so handelt es sich meist nur um Aufnahmen, die die Blasenwand als undeutliches Wolkengebilde zeigen. Jede Gefäßzeichnung fehlt“ (Fromme & Ringleb 1913, 14). Leopold Casper wiederum sah mit der neuen Technik wohl noch andere Probleme verbunden als die „Lesbarkeit“ der ungewohnten Bilder. Er ging daher bei der Publikation seines Handbuchs einen Doppelweg. Auf den beigegebenen Farbtafeln lieferte er einerseits „Originalphotogramme“, an denen „nichts retouchiert“ wurde, um sie „ganz getreu zu haben“. Andererseits bot er von Hand gefertigte Illustrationen dar. Da aber „Photographien dem weniger geübten keine rechte Vorstellung der Bilder verschaffen, so habe ich sie [die Gegenstände; H.F.; M.M.] nach der Natur malen lassen.“ Damit verfolgte er offensichtlich das Ziel, die Inhalte der mitunter grauen und konturlosen Fotografien durch die Farbgebung, hervorzuheben und zu verdeutlichen. „Die Nebeneinanderstellung der Photographien und Gemälde“, so der Autor, „erleichtert das Verständnis der Bilder außerordentlich“(Casper 1905, VI). Die Tafeln zeigen Bilder aus dem Blaseninnern in identischer Perspektive und mit gleichartigem Gegenstand (Steine, Zysten etc.), wobei links ein Schwarzweiß-Foto und rechts eine farbige Zeichnung zu sehen sind. Wie vorher über den Vergleich vom Normalen und Pathologischen sollte nun über den „Medienvergleich“ zwischen der neuartigen Fotografie und der herkömmlichen Zeichnung der Anschluss an traditionelle Sehgewohnheiten vollzogen werden, um so die neue ,Bildsemantik als evident einzuüben.25 Dabei ging es um die Deutung des Abgebildeten unter der Prämisse des eigenen Wissens. Pathologisches Wissen, klinisches Wissen und prognostisches Wissen flossen in die Erklärung des zu Sehenden mit ein. Sehen bzw. Erkennen und auch das Erkennen des Offensichtlichen entpuppt sich hier als ein komplexer, theoriegeladener Vorgang, der – so Scott Curtis – in hohem Maße von Instrumenten abhängt, die wiederum den Zweck haben, den Wissenschaftler davor zu bewahren, mit vorgefertigten Vorstellungen an ein Bild heranzutreten (Curtis 2012, 68 f.). Ein schwer zu erreichendes Ziel, dem sich – wie die hier aufgeführten Debatten zeigen – auch in der visuellen medizinischen Diagnostik durch instrumentelle Verfahren wie die Photoendoskopie nur angenähert werden konnte.
25 Zur „Sichtbarmachung durch Medienvergleich“ am Beispiel der Röntgenbilder vgl. Dünkel 2010.
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7. Diskussion: Zeichen, Sehen und Evidenz lernen Evidenz kann also zumindest im frühen 20. Jahrhundert in der Diagnostik von Krankheiten nicht allein durch den ,Augenschein und das Sehen von etwas Gezeigtem hergestellt werden, weil das Gesehene eingeordnet werden muss und überhaupt erst erlernt werden muss, was zu sehen sein soll. Dieses ,Sehen Lernen hat inzwischen eine Tradition. Neue Bilder einzuordnen ist auch für den heutigen Wissenschaftler eine komplexe kognitive Transformationsleistung, die schon um 1900 wenig mit der alten Wortbedeutung der Evidenz, nämlich der „Augenscheinlichkeit, Einsicht, intuitiv fundierte(n) Gewissheit, unmittelbare(n) Gewissheit des anschaulich Eingesehenen oder des notwendig zu Denkenden“ (Eisler 1904), gemein hat. Der langjährige Direktor des Tübinger Max-PlanckInstituts für biologische Kybernetik, Valentin Braitenberg, stellte etwa in einem Festvortrag diesbezüglich fest: „Wenn ich zum ersten Mal ein Präparat von einem mir unbekannten Stück Gehirn, vielleicht mit einer neuartigen Präparationstechnik hergestellt, im Mikroskop betrachte, so ist der erste Eindruck der einer wirren Ansammlung von Abfällen verschiedener Sorten exotischer Gemüse. Der Anblick wäre zum Verzweifeln, wüsste ich nicht aus Erfahrung, dass die ruhige Betrachtung der Strukturen jedesmal langsam eine Klärung bringt“ (Braitenberg 1984, 35). Voraussetzung für diesen Prozess ist das Einüben bestimmter Parameter der jeweiligen Bildsprache, die ja zwischen den Techniken höchst unterschiedlich ist, über Referenzwerke. Auf der Basis des so erworbenen „geschulten Blicks“ lassen sich dann praktische Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen und mit ihnen das Erfahrensein scheinen die Brückenelemente zu bieten, die in der medizinischen Diagnostik die Kluft zwischen dem Wunsch nach Evidenz eines Zeichens und der Begründungskette, die erst das Symptom zum Zeichen macht, überspannt. Der geschulte und „konditionierte“ Arzt muss beim Anblick eines diagnostischen Bildes nicht erst die gesamte Referenzkette zwischen körperlichem Symptom und technischer Abstraktion durchlaufen, um die Evidenz eines Zeichens für eine Diagnose zu erkennen. Er erkennt die Zusammenhänge ,auf einen Blick, so dass sich beim erfahrenen Arzt die Evidenz, wie Richard Koch es ausdrückte, als ein „Sicherheitsgefühl“ manifestiert, das sich wiederum emotional und rational einstellt (Koch 1920, 123). Dabei scheint für die Medizin das Absolute der empfundenen Evidenz, des Sicherheitsgefühls, von enormer Bedeutung zu sein. Wie Heßler und Mersch zu Recht konstatieren, gibt es Evidenz eben nur uneingeschränkt, „entweder ist etwas einleuchtend oder nicht“ (Heßler & Mersch 2009b, 29). Visualisierungsstrategien geraten so „in ein prekäres Verhältnis zur generellen Vorläufigkeit wissenschaftlicher Theorien und ihrem exoterischen Selbstverständnis von Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit“ (Heßler & Mersch 2009b, 29). Diese theoretische Einschätzung stimmt zwar auch für die wissenschaftliche Seite der Medizin. In der diagnostischen Praxis der Medizin aber wird dieser Aspekt durch die Zielorientierung der Bildproduktion zur Erzeugung von Evidenz überlagert.
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Hier dient Evidenz dazu, medizinische Handlungen zu legitimieren, die vielfach unangenehm sind und Folgen nach sich ziehen, die letztendlich von denjenigen getragen werden, die ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Vorläufigkeit ist hier nicht gewünscht, so dass die Idee im Vordergrund steht, Symptome und ihre Repräsentanten, wie zum Beispiel die diskutierten Abbildungen, in ihrer Aussagekraft für eine Diagnosestellung für so einleuchtend hinzunehmen, als ob die verschiedenen Begründungs- und Referenzschritte, die im Deutungsprozess notwendig sind, nicht existierten. Evidenz im klassischen Sinne bleibt so eine „nützliche Fiktion“, die schließlich diagnostisches bzw. therapeutisches Handeln legitimiert. Schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dieser Gesichtspunkt der nützlichen Fiktion als Ermöglichungsbedingung von Handeln unter Medizinern unter Rückgriff auf Hans Vaihingers populäre – es gab sogar eine Volksausgabe (Vaihinger 1924) – Philosophie des Als-Ob diskutiert.26 Vaihinger hatte seine Philosophie des Als Ob in den Jahren 1876–1878 verfasst, sie aber erst im Jahr 1911 das erste Mal publiziert (Vaihinger 1911). Seine Ideen korrespondieren also zeitlich mit den hier behandelten Entwicklungen in der Medizin. Er ging davon aus, dass Wissensproduktionen bewusst und gezielt zu Fiktionen führen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie entweder für die weitere Entwicklung von Wissen über einen Gegenstand notwendig oder auf praktischer Ebene für das Handeln nützlich seien (Müller & Fangerau 2012). Derartige „Fiktionen“ hätten auch in der Medizin ihren Wert für das Handeln (wie dies Vaihinger grundsätzlich für alles Handeln behauptete), für theoretische Grundannahmen (Krankheit und Diagnose als Fiktion) oder etwa als „Ordnungssystem“ (Kulenkampff 1925; Rietti 1924, 386 f.). Insbesondere auch der bereits genannte Richard Koch griff diesen Gedanken auf und beschrieb in seiner Abhandlung über Das Als-Ob im ärztlichen Denken das Handeln als ein elementares, konstitutives Element der Medizin, innerhalb dessen das „Als-Ob“ eine zentrale Rolle spiele. In der medizinischen Diagnostik etwa komme es darauf an, Fiktionen der Erkennbarkeit und der Sicherheit aufrechtzuerhalten. Erkennbarkeit und Sicherheit können dabei in unserer Lesart durchaus auch als Elemente einer Evidenz gesehen werden. Am Beispiel eines differentialdiagnostischen Komplexes, in dem über die Diagnose Unklarheit herrscht, verdeutlicht Koch seinen Gedanken, dass der Arzt sich so verhalten müsse, „als ob eine dieser Möglichkeiten Wirklichkeit wäre. […] Wir machen eine Aufstellung über das, was alles vorliegen könnte, und richten unsere Maßnahmen so ein, daß sie allen Möglichkeiten gerecht werden. Wir verhalten uns, als ob der nur mögliche Zustand A, B oder C wirklich vorläge. Diese Fiktionen mag man Existenzfiktionen nennen“ (Richard Koch 1924, 40 f.). Nur so sei es dem Arzt überhaupt möglich zu handeln, die Existenzfiktion sei also eine nützliche Fiktion. 26 Richard Koch bietet in seiner Betrachtung über die Philosophie des Als Ob in der Medizin eine Literaturübersicht über die medizinische Rezeption (Koch 1924). Siehe auch Büttner 1997, 28.
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Die Hinwendung zu einem Evidenzverständnis, das in der medizinischen Diagnostik das Offensichtliche als Serie von Begründungen sieht, ist im sich im 19. Jahrhundert etablierenden Verständnis der Diagnostik selbst angelegt. War in der Semiotik ein deutbares Symptom das Zeichen von Krankheit und musste es damit evident für das Vorliegen eines allgemeinen Krankheitszustands sein, so verlangte das diagnostische Denken nach Symptomen, die als Zeichen für eine ganz bestimmte Krankheit Ansprüchen an Evidenz genügen mussten. Die hiermit einsetzende Differenzierung der Symptomdeutung, die gleichen Symptomen einen unterschiedlichen Grad an Evidenz für eine bestimmte Krankheit einräumte, spiegelte sich in der theoretischen Debatte in der Diagnostik ebenso wieder wie in der praktischen Umsetzung. Absolute Evidenz für bestimmte Krankheitsentitäten wurde nur noch den pathognomonischen Zeichen zugewiesen. Im diagnostischen Verständnis konnte Evidenz jetzt erst entstehen, wenn verschiedene möglichst eindeutige Zeichen gemeinsam unzweideutig für eine Diagnose standen. Die durch technische Apparate zunehmend in die Diagnostik einzubeziehenden mittelbaren und indirekten Symptome stellten dabei ein besonderes Problem für die diagnostische Evidenz dar. Ihr Gehalt als evidente Zeichen musste in besonderer Form präsentiert werden. Während beispielsweise durch Auskultation oder Messapparate zu ermittelnde Symptome nur indirekt Aufschluss über den Zustand eines Kranken bzw. eine physiologische Störung gaben, waren unmittelbar der (endoskopischen) Inspektion zugängliche Symptome zum Teil direkt und offensichtlich erkennbar. Gleichzeitig aber wurden gerade die indirekten Zeichen für umso sicherer eine Krankheit vorhersagend gehalten, „je mehr es möglich ist, auch dies Resultat von der Sinnesfeinheit des Beobachters, also objectiv an Instrumenten … abzulesen“, wie es in Eulenburgs Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde von 1900 hieß (Eulenburg 1900, 624). Evidenz sollte in diesen Fällen über Abbildungen, Graphen oder Zahlen, das heißt Abstraktionen der Symptome hergestellt werden. Damit war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen der gedankliche Resonanzboden gelegt worden für eine in dieser Weise orientierte physikalische und physiologische Diagnostik, deren Darstellung sich in den Folgejahren immer mehr in Organsysteme und/oder Fachrichtungen der Medizin spezialisierte, gleichzeitig aber auch eine Differenzierung und Vermehrung der technischen diagnostischen Apparaturen und Auswertestrategien zeigte. Aus der zeitgenössischen Sicht mancher Ärzte ging (wie schon von Moser angedeutet) mit dieser Entwicklung auch eine Verschiebung der Evidenz-erzeugenden Kraft einher. Am Instrument gewonnene Erfahrung trat an die Stelle der alten „ärztliche Kunst“. Mittels Technik erzeugte Zeichen brachten eine „Entwertung“ des Erfahrungswissens der alten Eliten mit sich (Van Eikels 2006). Die früheren „Autoritäten“ sahen sich zunehmend durch technische Verfahren „bedroht“ (Martin 2007), die jetzt – in Ergänzung bzw. Substitution der für trügerisch ge-
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haltenen menschlichen Sinne – zur Generierung von Evidenz in der Diagnostik eingesetzt wurden (Martin & Fangerau 2007, 2009). Eine vergleichbare Verschiebung betraf gegen Ende des 19. Jahrhunderts wie gezeigt auch die diagnostische Evidenzkraft von bildlich darstellbaren Sympomen. In der Endoskopie zum Beispiel wurde der im Wundtschen Sinne eher formalen Evidenz, die etwa mittels Messungen von physiologischen Prozessen erzielt werden sollte, eine materiale, bildliche gegenübergestellt. Anders als die zahlreichen Körperfunktionen aufzeichnenden Techniken zielten diese endoskopischen Abbildungen auf die Struktur. In der Diagnostik und in der Vermittlung und Konservierung ihrer aus dem Körper erzeugten Bilder setzten die Proponenten des endoskopischen Verfahrens Evidenzstrategien ein, die von „naturgetreuen“ Zeichnungen bis zu Fotografien als „Abdruck der Natur“ reichten. Diese Abdrücke sollten in letzter Konsequenz als „Beweismittel“ für die Diagnose dienen. Die unterschiedlichen Visualisierungsstrategien führten aber auch keine offensichtliche Augenscheinlichkeit mehr mit sich. Ihnen war eine eigene Bildsemantik eigen, deren Evidenz es zu erlernen galt. Die Produzenten waren sich dessen bewusst. Zu den in den Lernprozess eingearbeiteten Begründungsstrategien für visuelle Evidenz in der endoskopischen Diagnostik gehörte zunächst die Authentizität der Beobachtung. Neben der Authentizität dienten die Replizierbarkeit eines Zeichens, Ästhetik, gedankliche Abkürzungen, statistische Bezüge, Spektakularität, Analogiebilder und die Unmittelbarkeit der Zeichen in Verbindung mit Objektivität sowie unberührter, unretuschierter „Naturtreue“ als weitere Strategien der Evidenzbegründung. Das Evidente in der medizinischen Diagnostik um 1900 ist damit folglich keineswegs ein apparativ objektiv festgestelltes „es ist“ oder „es ist nicht“. Auch ist es nicht allein abhängig von den biologischen Sinnen eines authentisch bezeugenden Gewährsmannes. Vielmehr geht es in der Diagnostik darum, Zeichen zum einen anschaulich zu gestalten und sie zum anderen so in ein Gedankengefüge einzubinden, dass diese Anschaulichkeit im Verknüpfungsprozess von Krankheitsgrund und Krankheitsdiagnose nicht verloren geht. Mitunter muss der Blick durch Schulung und Erfahrung auf das – im epistemischen Sinn – Wesentliche fokussiert werden, damit sich Evidenz einstellt. Die Zuschreibung von Evidenz erscheint so zumindest in der Diagnostik des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eine Begründungsstrategie, mit deren Hilfe ein erdenklich sicheres Gefühl des diagnostischen Handelns ermöglicht werden sollte. Der Wunsch nach Evidenz als „Sicherheitsgefühl“ bleibt also mit dem diagnostischen Denken relativ erhalten, während das Verständnis dafür, was als evident gilt, sich differenziert.
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Prof. Dr. Heiner Fangerau, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude 23.12.04, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf. Dr. Michael Martin, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude 23.12.04, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf.
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Expiring while the Doctors are Disputing. Principled Limits of Medical Knowledge and the Ontological Square Ludger Jansen
1. Introduction “Expires while the Doctors are Disputing” – thus is the title of a trenchant etching by William Hogart (1697–1764; cf. Figure 1). The patient, painfully sitting in her chair, is facing her near death, and another woman is already searching the possessions of the still living for valuables while two well-nourished doctors are merrily discussing which of the drugs of their own making would help the patient best. The message is clear: In the face of death there is no time for discussion about the best medication. It is high time for action. In fact, the pressure to act decreases only slightly if we add more time for clinical reasoning or medical research. There will always be the need to help the patient before one has finished disputation, often even before a clear and precise diagnostic result. For, given the complexity of human physiology and pathology, the time required for a thorough study of the subject matter always outruns the deliberation time provided. Human life is finite, and shortish when compared to the potentially infinite history of the medical discipline. This dilemma has been known ever since Hippocrates; it was briefly expressed by the dictum “Ars longa, vita brevis”. True, both diagnostic and therapeutic processes have to come to an end for any individual patient. One might, however, object that medical research is an intergenerational collective endeavour that can be continued beyond the death of individual researchers. But not only individual lives are finite; any finite concatenation of lives is finite as well. Therefore it is likely that medical knowledge, too, will always be finite and restricted. Fragmentarity is, of course, not limited to medicine; similar arguments apply to virtually all scientific disciplines. Not all problems of medical knowledge, however, are due to the incomplete character of present-day medicine. Some problems persist even under the assumption that, one day, ultimate medicine will have discovered everything there is to know about human health and diseases. These problems are not due to any contingently restricted state of the medical profession, but are caused by the structure of medical reasoning. This paper will discuss several such problems that are all rooted, or so I will argue, in the distinct ontological categories of the entities referred to in medical reasoning. I will bring to bear these categorial distinctions on the question of what medicine as an art or a science (or, as some prefer, as an evidence-based practise) can possibly know and how doctors can apply this knowledge. I will argue that there are a number of principled limits which can be
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Ludger Jansen
Figure 1: Hogarth, The Harlots Progress, Plate V: Expires while the Doctors are Disputing (Source: Wikimedia).
traced back to basic ontological distinctions which can be illustrated by means of the so-called ontological square. These epistemological problems are not new, but to my knowledge they have never been traced back to the ontological square. Before I can name and discuss the epistemological limits in question, I will first have to introduce these basic ontological categories.
2. Two Ontological Distinctions In this paper, I will make use of two crucial ontological distinctions. First, I will make use of the contrast between the universal and the particular. Sometimes this contrast is also expressed by comparing types and their tokens. This contrast can be nicely drawn by considering the number of letters in the name Anna: this name is composed of four letter tokens that belong to two letter types. In this paper, I will talk about universals and types interchangeably and will follow the convention to italicise terms for universals:1 human is a universal and so are brain, 1 Cf., e. g., Arp/Smith/Spear 2015.
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Expiring while the Doctors are Disputing
cell and polysaccharide, but also health, rhesus factor positive and mitosis. Universals can have instances, indeed some universals have a vast number of instances. The universal human has presently more than 7,000,000,000 instances, the universal brain many more and the universal polysaccharide is instantiated by even more molecules. Second, I will distinguish, in a certain technical sense, between concrete and abstract entities. The material things which we encounter in everyday life are concrete particulars. Concrete particulars are thick entities; a thick entity is “thought of as involving its properties”.2 Thick entities come along with a huge variety of properties and a multitude of relations. Infinitely many monadic and relational predicates can truly be predicated of them. For this reason, they cannot have a correct description that is both finite and complete. In other words, they are not finitely describable; any finite list of predications will fail to exhaust all their properties and the relations they stand in. This is traditionally called the ineffability of concrete particulars. If we now choose among this plethora of properties and disregard the others, we end up with an abstract particular. Abstract particulars, in this sense, are dependent entities: They need a bearer in order to exist; they are, as Aristotle puts it, “in another thing”.3 In the medical domain, patients are concrete things, as are organs, cells, and molecules. Health, on the other hand, is an abstract thing; it cannot exist without some concrete organism as its bearer. In combination, these two distinctions yield four very general ontological categories which can be neatly displayed in the so-called ontological square, depicted in Table 1. This table is, of course, inspired by Aristotles four general ontological categories in the second section of his Categories. Similar four-category schemes have been contended by Jonathan Lowe and Barry Smith.4 In such four-category schemes, the universal/particular dichotomy is often combined with the essential/accidental dichotomy, i. e. with the contrast between accidental properties on the one hand and essential natures on the other.5 Here, however, I stress the abstract character of properties rather than their contingency. Properties, then, can be considered abstractly (whiteness, dryness etc.) as well as be used to pick out concrete things (white things, dry things etc.). Similarly, natures or essences can be considered both in an abstract way (humanity, doghood etc.) and insofar as they inhere in a concrete particular (human, dog etc.).
2 Armstrong 1989, 95. 3 Aristotle, Categories 2 4 Cf. Lowe 2006, Smith 2005. Ultimately, Smith wants to extend this schema to a sixcategory ontology. Cf. Jansen 2008. For the history of such tables cf. Angelelli 1985. 5 I have used such schemes in Jansen 2007a and 2008.
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Ludger Jansen Table 1: The So-Called Ontological Square Abstract
Concrete
Universal Universals of abstract things; e. g., whiteness, humanity
Universals of concrete things; e. g., white thing, human
Particular Abstract particulars; e. g., this particular whiteness, this particular humanity
Concrete particulars; e. g., this white thing, this human
The ontological square is under attack from two sides. On the one hand, many philosophers would like to do with less than these four fields in the table. Often, for example, the abstract and the universal are identified, as well as the particular and the concrete.6 However, some philosophers have made a successful case for the category of individual properties – or abstract particulars – and some even go so far as to insist that abstract particulars (often called tropes or modes in the philosophers jargon7) are the most basic kind of being.8 Questions of basality are, however, beyond the scope of this paper, as they are not relevant to the questions at stake here. On the other hand, other philosophers argue that more categories are needed, first and foremost particular processes and process universals.9 There are important relations between processes and the four edges of the ontological square: concrete particulars participate in particular processes and during a process a concrete particular will be bearer to a succession of different abstract particulars. Again, I will not worry here whether these entities are somehow basic or not. Having laid out these ontological categories, the question now is which of these categories play which roles in medical knowledge? I will first argue that much of medical knowledge that is taught to future doctors is concerned with the level of universals (section 3). I will then proceed with the discussion of the following four problems: (1) the type-token gap between these universals and the individual patient in the application of medical knowledge, leading to the problem of many models (section 4); (2) the problem of competing types which a concrete patient can instantiate (section 5); (3) the abstraction gap between the concreteness of patients and the abstractness of health which is a challenge in causal reasoning (section 6); and, finally,
6 This is, prominently, the position of David Armstrong. Cf. Armstrong 1978 and 1989. 7 These terms are derived from Greek tropos and Latin modus, respectively, both refering to the way in which a thing is. Other meanings of these terms, for example in the jargon of grammar or rhetorics, are unrelated to their present use. 8 Cf. Williams 1953. 9 Cf., e. g., Smith 2005.
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Expiring while the Doctors are Disputing
(4) the micro-macro problem that is due to abstract entities having as bearers concrete entities at different levels (section 4).
3. Medical Knowledge Is About Universals The first question that I proposed to discuss in this paper was what medicine as an art or a science can possibly know. An obvious way to approach this question is to look at the things taught at medical schools. For heuristic purposes, I will assume here that what is considered to be medical knowledge comprises the totality of what can or could be taught or learned at medical schools. From the point of view of many philosophers, this approach is an aberration from the philosophically correct definition of knowledge as justified true belief. However, due to the insurmountable problems of this definition,10 many philosophers ceased to treat knowledge as a necessarily veridical phenomenon. Under my heuristic assumption, what is considered to be knowledge cannot be veridical either: If anything I learned at school was considered knowledge (at least at the time I learned it), much of this will be false.11 It might be oversimplified for didactic reasons, later falsified by new evidence, or thrown out of the curriculum in the vogue of introducing a new paradigm. Hence, if I speak about knowledge in this paper, what is considered to be known need not be true. It should, however, be justified and backed up by evidence to a sufficient degree. Medical schools today often phrase their aim as conveying certain competences to their students, like diagnostic or methodological competences.12 They teach scientific methods, in particular about statistics, and “how to read a paper”.13 Students acquire implicit norms of the medical community and acquire various forms of personal knowledge: how to recognise typical haptic impressions, typical smells and – using the stethoscope – sounds. They acquire, that is, haptic, optic, acoustic and olfactory “knowledge” to recognise certain phenomena. They “learn to see” – and to feel, hear and smell. Part of this personal knowledge will be the ability of Gestalt perception of important phenomena, be it of the patient appearance typical for a certain disease or typical patterns visible through a microscope.14 This kind of implicit knowledge is acquired by imitation and training. 10 Cf. Gettier 1963 and the avalanche of literature triggered by this short paper (as well as the extensive literature predating Gettier). 11 For this reason, Schulz/Jansen 2013 use the phrase medical information instead, but this does not work here because it would be a strange term to cover know how as well. 12 In Germany, even a national catalogue of such competences has been comiled; cf. MFT 2015. 13 Greenhalg 2010. 14 Cf. Fleck 1935 und 1947.
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Ludger Jansen
It is stored in the personal skills of people and it can only be disseminated by direct training.15 There is, however, a large corpus of medical knowledge that can be learned from books and journal articles. This is explicit knowledge, or knowledge-that, which has a propositional content and can be expressed in declarative sentences. It consists of loads of tiny little facts which will sometimes be woven into a coherent net by means of medical theories. This kind of knowledge is acquired through research and stored and distributed in publications or databases. Increasing this kind of knowledge is an integral part of scientific progress. Acquisition and dissemination of explicit knowledge is much easier than acquisition of implicit knowledge, which takes a long time to train. In fact, there is something like an explosion of this kind of knowledge: every year more than 10 million new scientific and technical publications are published. It would take several weeks to read a days output of new medical knowledge. Even in a single field like toxicology approximately 120.000 new papers are published per year. To keep up with this field, a doctor would need to read more than 300 papers every single day of the year, which is far from possible.16 Now, what is the content of medical books and journal articles? What do doctors-to-be learn there? Medical students learn, first and foremost, about the existence of certain types of entities: they learn about anatomical parts of the human body, types of diseases, biochemical molecules and pharmaceutical ingredients. They also learn about certain relations between these types: a human has a head and normally two kidneys, a fetus grows in the womb etc. These relations can be of different kinds. Again, I follow convention and use the underscore to connect lexical parts of a relation term:17 – Taxonomic relations (subsumption): human is_a mammal. – Mereological relations: human has_part some head; womb part_of only mammal. – Topological relations: fetus located_in womb; cell lumen location_of some cell nucleus. – Properties: stem cell bearer_of multipotency; lung bearer_of some respiratory function. – Participation relation: mitosis has_participant some cell; fetus participant_of some ontogenesis. In addition, medical schools teach about the existence of causal relations (aetiology): smoking can cause cancer; AIDS is caused by an infection with the HI virus etc. Teaching causal structures involves, on the one hand, imparting knowledge about causal properties (dispositions, tendencies) of the anatomical, 15 Polany 1958; cf. Jung (ed.) 2014 and Johansson 2015. 16 Cf. Gaus 2005, 22. 17 Cf., again, Arp/Smith/Spear 2015.
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biochemical or pharmaceutical entities involved, and, on the other hand, imparting knowledge about causal mechanisms typically at work in a human body. Of course medical schools also have to teach their students signs and cures of diseases (diagnostics and therapy). Note that such causal, diagnostic and therapeutic knowledge involves entities at different levels, from biomolecules via cells, tissues and organs up to whole organisms and populations. In the medical profession, knowledge about good practices and other procedural knowledge are often made explicit and codified in clinical guidelines and recommendations. Necessarily, however, the content of formerly implicit knowledge changes when being codified, i. e. when being put into a finite number of fixed rules. Implicit knowledge can be much more reactive to context variables while fixed rules are bound to deal with a rather small and fixed number of variables only. As these guidelines are appropriated by various institutions of the medical profession (or even by legal acts), one could presume that medical knowledge is basically social and prescriptive, as some philosophers of medicine claim.18 However, the state of the medical discipline would be very poor if medical knowledge consisted only of such institutionally enacted rules. An integral part of medical knowledge is the rationale for such rules that is not to be found in other rules, but in empirical knowledge about human biology, about chemistry and in the results of experimental studies. Also, conflicts between rules cannot always be solved by reference to other rules, for these could themselves be in conflict, and so on in infinity. Moreover, sometimes it will be the case that the patient can only be healed by breaking the fixed rules in this particular case.19 In the end, that is, the justification of medical practise has to bottom out at the level of explicit propositional knowledge.
4. Bridging the Type-Token Gap The upshot of the last section is that medical schools typically teach knowledge about types of medical entities. The propositions taught typically express relations between such types, but only few of these relations will translate into universal statements about their instances. The statement “organism has_part some cell” can indeed be paraphrased correctly as “Every organism has among his parts some cells”. But “cell has_part some nucleus” cannot be so paraphrased, as not all cells have a nucleus. While it is indeed typical that cells have a nucleus, there are exceptions like, for example, mature red blood cells: for red blood cells it is typical not to have a nucelus. Moreover, many medical statements ascribe only statistical correlations between types. This is due to two related aspects of the complex 18 Cf. Sadegh-Zadeh 2012, as well as his contribution in this issue, Sadegh-Zadeh 2015. Cf. also Jansen 2014. 19 Possible reasons for this are discussed in the next sections.
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human body system: First, causal mechanisms may be complex and hidden, which makes it difficult to infer the relevant factors. Second, tiny differences between subjects, be they on the level of genetic factors or bodily constitution, can lead to quite different reactions in a medical study. Hence, a uniform behaviour of whole study groups is rarely observed. In combination, these two phenomena explain the prevalence of statistical methods in medical research. Hence, typical medical research findings will be statistical statements like the following: – After 8 weeks of treatment with Lu AA21004 10 mg, there was a significant reduction in HDRS-24 total score compared with placebo in adults with MDD. – Urinary TGF-beta1 increased significantly in the placebo group but did not change significantly in the sulodexide group. – The overall response rate was 63.6 % (95 % confidence interval [CI] 45.1– 79.6 %).20 In order to be useful for medical practise, such a statistical result must fulfil at least two conditions: First, the observed effect must be relevant, i. e. it must be large enough to be of any help. Second, the result must be statistically significant, i. e. the hypothesised result has been observed in a majority of patients. All the twists and turns of statistical reasoning apply here. The important point, however, is that any knowledge gained by such statistical methods is knowledge about groups sharing certain universal features. The goal of the application of medical knowledge, however, is the health of individuals: it is an individual person who is to be cured.21 Hence, a bridge between type-level statements and individuals is needed. This is still the case in the so-called personalised medicine. In this approach, medication is administered according to the genetic profile of a particular patient. In the background, however, are still typelevel statements of the form “Patients with genetic profile X are best treated with medication Y”. There is still the need to assign the particular patient to the type Bearer of Genetic Profile X. Standard ontological relations that bridge the gap between these levels are instantiation and exemplification.22 Instantiation is a relation between a concrete or abstract particular and a type of concrete or abstract particulars to which the former belongs. For example, Peter instantiates Homo sapiens, and the colour of Peters hair may instantiate the colour universal Black. Exemplification, by contrast, is a relation between a concrete particular and a property type such that the concrete particular is the bearer of a property that belongs to that type. For example, Peter may exemplify the property type rhesus factor positive. 20 These examples have been adapted from PubMed abstracts no. 22901346, 25918727 and 26334293, available at http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed; all italics are mine. 21 This has already been noted by Aristotle in Metaphysics I 1, 981a 18–20. 22 I adopt the terminology from Lowe 2006, but restrict exemplification to what Lowe would call occurrent exemplification; cf. Lowe 2006, 207 and Jansen 2007c.
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Universals of concrete particulars
Universals of abstract particulars exemplify
instantiate
Abstract particulars instantiate bearer_of Concrete particulars Figure 2: Important dependence relations between the four fields of the ontological square. Note the central role of concrete particulars.
These bridges are sufficient in many cases. If, for example, Peter exemplifies the property type rhesus factor positive, his blood should only be used for transfusions to patients who also exemplify the rhesus factor positive type. More difficult cases arise from the fact that individual patients will always instantiate a lot of different types of concrete entities, and they will exemplify various types of abstract entities. Depending on which of these types one refers to, one may arrive at contradictory conclusions. Such a situation I call a type-type conflict. I will now elaborate in more detail the challenges imposed on medical deliberations by type-type conflicts.
5. Type-type Conflicts and the Multi-Model Problem As we have seen, medical knowledge is in general knowledge about universals or types. As patients are particulars, the problem is, of course, how to apply the knowledge about universals to particular cases. So far I have discussed the relation of single universals to single particulars. However, a single concrete particular will always instantiate or exemplify a huge range of universals. Once we take this into account, the picture becomes more complicated. A variety of tricky cases has been discussed in the literature on causation and explanation. A first group of problems is provided by overriding causes. A pet example in the philosophy of causation is the following story: Miller gets a lethal dose of poison. However, before he dies from this cause, he gets shot and he dies because of the bullet wound. Although a lethal dose of poison is a cause of death, and although Miller gets a lethal dose and dies indeed, he does not die from poisoning. The shot and the bullet wound caused by it override the causal chain
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that starts with the poisoning. It is not an essential bit of this story that the overriding cause (i. e. the shot) is temporally posterior to the cause overridden. This is shown by another popular example: A regular intake of contraceptive pills causes pregnancy prevention, but if Peter takes the contraceptive pill, his intake of the pills is not the cause of his not becoming pregnant. Intake of contraceptive pills only makes a difference for fertile female persons, not for male Peter. Peter, that is, belongs to a type whose instances never become pregnant for anatomical reasons. Hence, intake of contraceptive pills will not change anything here. Or, in medical jargon, contraceptive pills (at least in their traditional varieties) are simply not indicated for male patients. This is because being male overrides the intake of oral contraceptives as the cause of not becoming pregnant. Or, in other words, being an instance of the type active participant of some regular intake of oral contraceptives is overridden by being an instance of the type Male. We have, thus, a conflict between two types which are both instantiated by Peter. While being an instance of the type active participant of some regular intake of oral contraceptives is normally a causal explanation of not becoming pregnant, it is not a good explanation when the type male is instantiated by the same individual. In a similar vein, taking malaria prophylaxis can be a cause for not developing malaria symptoms – which can, however, be overridden by living in, say, Scandinavia or by being immune to malaria because of sickle cell anaemia. Another group of problem cases is the co-occurrence of alternative contraacting causal effects. In medicine, this is infamously illustrated by the side-effects of drugs. For example, pregnancy often causes thrombosis, and as contraceptive pills prevent pregnancy, they also prevent a cause of thrombosis and thus, in turn, are likely to prevent thrombosis. At the same time, the hormones in contraceptive pills increase blood coagulation which, in turn, increases the risk of thrombosis. Now, do contraceptive pills cause or prevent thrombosis?23 While this question on the type-level might be considered purely academic and idle, it is clearly of medical significance on the token-level: if Lucy is going to take oral contraceptives on a regular basis, will this cause or prevent thrombosis? On the level of particular patients, this is clearly a relevant question, though it is hard to answer prognostically. Nevertheless, this is part of everyday medical business. For example, a sanguine complexion may indicate a state of good health, while high blood pressure indicates disease. Now Peter may have a sanguine complexion and high blood pressure at the same time. Should we infer that he is both healthy and diseased? Of course not, as high blood pressure can be an alternative cause for a sanguine complexion. Here high blood pressure overrides the sanguine complexion. We could express this by saying that a sanguine complexion indicates health only if the subject does not have high blood pressure. This way the standard bridges between the type-level and the token-level can be put to work here: if Peter instantiates the type humans with a sanguine complexion, this indicates that 23 The example is taken from Cartwright 1989.
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Peter exemplifies good health only if Peter does not instantiate the type human with high blood pressure. Other examples, however, are not resolved so neatly. Assume that Peters father died from gastric cancer. Assume further that Peter lacks the risk factors for the gastric cancer his father displayed. Has Peter a cancer risk? Persons with a family history of gastric cancer are normally ascribed such a risk. Now a possible explanation for the gastric cancer of Peters father is that the father displayed a certain risk factor. If Peter did not inherit this risk factor, he may not have inherited the cancer risk. Even taken together, however, this information is inconclusive with regard to the question of whether Peter has, in fact, a cancer risk: On the one hand, Peter could have inherited other risk factors from either of his parents. On the other hand, he could have non-genetic risk-factors due to, say, his nutrition or smoking habits. The only thing we might reasonably say is that he does not possess one genetic factor that is related to increased cancer risk. Another group of examples involves statistical statements. Assume that 90 out of 100 patients were cured by a certain medication and that 1 out of 100 patients died because of adverse reactions. Assume that Peter is treated with this medication. Will Peter be cured? Will he die? If we do not know more about Peters case, all we can say is that there is a high probability for Peter to be cured. To be sure, this would be a mere statistical probability that carries a group index: in different groups, different proportions of patients may be cured. However, as soon as we learn more about the causal mechanisms at work, it becomes possible to ascribe to patients a certain tendency to be cured. If there is no indication of any other relevant factor (i. e. if the proportion of cured patients stays the same in different patient groups), then it is reasonable to ascribe to all patients a tendency to be healed with a probability of 90 % (Model A in Table 2). Table 2: Two models explaining the same statistical data Model A
Share of the population
Model B
Share of the population
90 %-tendency to be cured
100 %
X-pos. = ^ surefire disposition to be cured X-neg. = ^ surefire disposition not to be cured
90 % 10 %
However, the probability distribution may have an alternative causal background, which would justify different property ascriptions. If, for example, we learn that exactly those patients are cured who have genetic factor X, then it is reasonable to ascribe those patients a surefire disposition to be cured – i. e. a disposition that will invariably realise itself if the necessary trigger conditions are given. If we learn
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that exactly those patients lacking the factor X are not cured, this is a good reason to ascribe the disposition not to be cured to these patients. On these assumptions, the probability of 90 % can also be explained if the study group consists of 90 % patients with factor X and 10 % of patients lacking factor X (model B in Table 2). This is, of course, only one out of infinitely many possible alternative models. That means that there is always a multitude of possible alternative causal stories that could explain a given statistical distribution, and we need a lot of causal assumptions to decide between these alternative options. This would allow us to be more informative when answering the question of whether Peter will be cured: if Peter possesses the factor X, then he will be cured; not so if he lacks factor X. Would we have ascribed tendencies instead of sure-fire dispositions to the various subgroups, the result would have been less determined, but still more reliable. This way we can combine knowledge about the dispositions and tendencies of an individual with knowledge about the properties it exemplifies to infer the causal mechanisms that are relevant for this particular case. It is an open question whether all statistical correlations can be reduced to model-B-like stories.24 There is a strong case that this is not possible in quantum mechanics where there is strong evidence for irreducibly probabilistic dispositions. This effect may or may not carry over to medicine. In any case, there are often plenty of models ready to lend a hand to explain certain phenomena.
6. Causal Inference and the Concrete/Abstract Distinction A crucial problem both in the generation and application of medical knowledge is the contrast between concrete and abstract entities: patients are concrete things; their health, however, is one of their properties. That means that, according to the ontological square introduced in § 2, health is an abstract thing. This gap between abstract and concrete things is relevant in many cases of causal reasoning. This will become clear when we look at Kochs postulates which are a typical token of causal reasoning in medicine. Koch postulates that a certain infectious disease is caused by instances of a certain kind of microorganisms if instances of this kind be found in all diseased people, but not in healthy ones, and if the disease can be artificially induced if such microorganisms are introduced into previously healthy organisms. On closer inspection, Kochs postulates turn out to be a combination of two of John Stuart Mills “experimental methods”25 – which are, in fact, general strategies for causal inferences which are regularly used in both scientific and everyday reasoning. Let us start with a close look at Mills first method, the method of agreement. “If two or more instances of the phenomenon under investigation have only one circumstance in common,” Mill writes, “the 24 Cf. Jansen 2007b. 25 Cf. Mill, System of Logic, Book III, ch. 8.
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circumstance in which alone all the instances agree, is the cause (or effect) of the given phenomenon.”26 That is, if we observe that a combination of circumstances A, B and X is followed by an effect E, and also that a combination of circumstances C, D and X is followed by E, we conclude that X is the cause of E and not A, B, C or D. For example, in all of Kochs patients the microorganisms in question were found in abundance while they were normally not found in healthy persons. Mind that in light of what has been said in § 2, Mills circumstances are universals and that agreeing in circumstances is a short way to express that in some way or other instances of the same universal are involved: either relevant concrete particulars are bearers of abstract particulars that instantiate the same universal or relevant concrete particulars participate in events of the same type etc. The first problem is that Mill postulates that X is to be the “one circumstance in common” (my italics). Kochs patients had, of course, a lot of features in common. To start with, they were all humans. Moreover, Mills description suggests that A, B, C, D and X are all the circumstances present. This is, of course, also false. Situations are concrete, i. e. they come along with infinitely many abstract circumstances. Not all of these are causally relevant for X. Normally we invest previously existing causal knowledge in order to preselect potentially relevant circumstances. Nevertheless, we need to acknowledge the infinity of circumstances, for we may be wrong in our selection, missing the right causes for lack of creativity. Also, it is important to describe the circumstances with an appropriate specificity. An additional source for causal knowledge is provided by Mills second method, the method of difference. Mill describes this inference thus: “If an instance in which the phenomenon under investigation occurs, and an instance in which it does not occur, have every circumstance save one in common, that one occurring only in the former; the circumstance in which alone the two instances differ, is the effect, or cause, or a necessary part of the cause, of the phenomenon.”27 If we observe, thus, that a combination of circumstances A, B, C and X is followed by an effect E, but that a combination of circumstances A, B and C, but without X, is not followed by E, we conclude that X is the cause of E and not A, B and C. Again, Mill postulates that X is to be “the circumstance in which alone the two instances differ” (my italics). As a rule, however, there is always more than one circumstance in which two situations differ. Of course we could try to combine descriptions of circumstances in a Boolean way in order to construct a unified description of all the circumstances in which the two situations differ. In a way, this would be the one (complex) circumstance in which the two differ. It would, however, not be satisfactory to point to this complex circumstance as a causal explanation of the phenomenon, as this complex circumstance contains a lot of irrelevant aspects of the situation and does not yield to generalisation. 26 Mill, System of Logic, Vol. 1. 1843. p. 454. 27 Mill, System of Logic, Vol. 1. 1843. p. 455.
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Ludger Jansen Table 3: A fictive RCT example
Effect occurs Effect does not occur
Treatment (n = 500)
Control group (n = 500)
391 (78,2 %) 109 (21,8 %)
117 (23,4 %) 383 (76,6 %)
These problems also affect Mills other methods, the method of residue and the method of concomitant variations. The problems, however, are neither peculiar to Mills methods nor to the medical domain, but a general feature of all causal reasoning. In particular, they also affect Randomised Controlled Trials (RCTs), which are presently the method of choice for much medical research. An RCT is basically the attempt to distribute all other causally relevant factors by chance equally among the treatment and the control group. According to the law of large numbers, the probability of a successful equal distribution will increase with the size of the groups.28 A fictive example is detailed in Table 3: out of a cohort of a thousand people, 500 have been randomly assigned to the treatment group and the control group, respectively. People in the treatment group receive the treatment to be tested; people in the control group do not receive this treatment. In socalled “double-blind” studies, neither the study subjects nor the participating doctors know whether they deal with the real treatment to be researched or a mere placebo. This is meant to bar confounding causal factors, for example to secure that participants are not biased and that subjects in both study groups receive the same amount of medical attention, comforting words and confidence. In the example, 109 people receive the treatment, but the hypothesised effect does not occur. The vast majority of treatment cases, however, display the expected effect. Very probably, not all of these outcomes can be ascribed to the treatment to be tested because the hypothesised effect does also occur in a considerable amount of control cases that did not receive the treatment. These cases indicate that the treatment is not necessary for the effect. The results in the treatment group, however, show that the effect is very probable given the treatment. For this reason, a study with such an outcome would be good (though defeasible) evidence for the hypothesis that has been tested, namely that the treatment tested causes the hypothesised effect because it is the common element to which all people in the treatment group have been subjected. An RCT is, thus, a statistical variant of the method of agreement and it inherits all the problems connected with this first of Mills methods.29 The only help is to repeatedly and critically use several of 28 For philosophical evaluations of RCT studies cf. Cartwright 1989 and Johansson/ Lynøe 2008, 191–200. 29 Mills non-statistical version of the method of agreement does not, of course, allow to draw any conclusion from these data. Mills method of difference would, in fact, hinder us from identifying the treatment as a relevant cause.
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these methods in combination, and iteratively, to select the right circumstances as candidate causes.30
7. Bridging the Micro-Macro Gap: The Multi-Level Problem In the previous section, I discussed the gap between the patient as a concrete particular organism on the one hand and health as an abstract entity on the other. I will now introduce an additional twist to the problem: a lot of the type-related facts taught in medical schools are not at all directly about organims, but belong to the molecular level. Medical students learn about genes and molecules, enzymes and inhibitors. In contrast, the goal of medicine is the health of patients and this is situated on the level of organisms. What these facts do is to relate health to a wide range of properties – and only some of these inhere directly in organisms while others are properties of organs, tissues, cells or molecules. Health is, of course, a complex and difficult phenomenon and there has been a long debate in the philosophy of medicine about what precisely health is. I will not recapitulate this debate in this paper, nor will I be able to do justice to all problems connected with health. For sure, health combines objective and subjective elements: while a person can be diseased without knowing it, she cannot be perfectly healthy when she permanently feels ill. (One could put it thus: the hypochondriac person is not falsely imagining that she is diseased, rather she is merely in error about the nature of her disease, for hypochondria itself is a disease – and probably one of few diseases that is never object of a hypochondriac illusion.) The problem at stake here is not, however, this subjective component of health as such, but rather the fact that the goal of medicine is to restore or preserve health at the organismic level. This is not to say that the predicate “… is healthy” cannot be applied to things at sub-organismic level. To the contrary, a doctor may well say such things like “Your liver is perfectly healthy” or “Your muscles are in a good state of health”. This does not, however, imply that organs and bodily tissues are healthy in the same way as whole organisms are. As was notably observed by Aristotle, doctors may also say things like “Low-fat food is healthy” or “Your urine is healthy”. The predicate “… is healthy” can thus also be applied to things contributing to the health of organisms (like food or drugs) or indicating it (like body temperature or chemical profiles of bodily fluids).31 Similar things can, obviously, be said about the health of entities at the sub-organismic level: certain states of organs or tissues indicate the health of the organism, and they certainly 30 In the end, RCTs can lead to the ascriptions of dispositions or tendencies. That there is no direct route from RCTs to tendency ascriptions should be clear for two reasons: First, the numerical results of a particular study hinges on many contingent factors; other studies will show different numbers. Second, the multi-model problem applies (§ 5). 31 Cf. Aristotle, Metaphysics IV 2 (to hygieinon).
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contribute to it. In both cases, a statement of the form “The sub-organismic entity X is healthy” can mean, roughly, “The sub-organismic entity X is in such a state as we would expect if X is (or was) part of a healthy organism”. Thus, health attributions at the sub-organismic level have to be explained with reference to health at the organismic level. Health is, thus, primarily situated at the organismic level. For we cannot explain health by simply enumerating necessary requirements situated at the sub-organismic level. Healthy persons need not share all their sub-organismic properties. There is no single combination of sub-organismic properties that is necessary for a healthy organism.32 Health, that is, can be multiply realised in terms of suborganismic states. But how, then, does knowledge about micro-level entities contribute to knowledge about health? In order to account for this, we are in need of bridges between the micro-level and the macro-level. Faced with this situation, it would not be a good idea simply to dispense with the more complex higher-up levels. For if we give up talk about health of organisms, we would deprive ourselves of the one unifying goal guiding medical research and practise. Nor can we identify health with a specific pattern of molecules or molecular processes in our bodies. One reason for this is that healthy patients may display a wide variety of such patterns, depending, for example, on genetic factors, nutritional input and age. Again, health is multiply realisable, and that forbids reducing health to a certain type of molecular pattern. It is, however, plausible that any change in health status implies some change in the molecular pattern of the body. To adopt David Lewis phrase,33 there is no difference in health without a difference in the molecular pattern of the body. Health, that is, locally supervenes on molecular patterns. It could be asked whether extrinsic factors like the social and biological environment might be constitutive for health. Whoever wants to include extrinsic factors for health should rephrase the last sentence in terms of global supervenience. Supervenience claims of any variety are, however, not very informative. Remember that the supervenience of mental states on brain states would be both compatible with a variant of mind-brain identity as well as with the prestabilised harmony of Leibnizian dualism.34 If we want to give a more informative account of the relations between different levels of granularity, we need to describe causal mechanisms on the one 32 Some even argue that no combination of sub-organismic properties is sufficient for being healthy because judgements about health often involve comparisons with the statistical average within a certain reference group. Health, then, would not be an intrinsic, but an extrinsic property, at least in part. The downside of this approach is, of course, that someone can become healthy or diseased without any intrinsic change through a fluctuation of the average in the reference group. 33 Cf. Lewis 1986, 14: “no difference of one sort without differences of another sort”. 34 Cf. Weber 2005, 80–81.
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hand and constitution relations on the other. Causal mechanisms are networks of possible interactions between, e. g., molecules in the cells of the body which can be described as typical patterns of bearers of relevant dispositions or functions.35 As long as cause and effect remain at the micro-level, however, the description is not complete. In addition, we need a bridge between the micro-level and the macrolevel. Such a bridge between two states of different levels is provided by the socalled constitution relation: roughly, an entity of type G is constituted by an entity of type F if any entity of type F in G-favourable circumstances spatially coincides with an entity of type G, while it is possible that an entity of type F does not coincide with an entity of type G.36 (This is compatible with the possibility that other entities of type G are constituted by entities that are not of type F.) For example, the ancient characterisation of health as a harmony or natural equilibrium of elements in an organism would follow the pattern that a certain mixture of the four elements constitutes health if situated in a living body. Today, of course, no account as simple as that can be given of the material constituents of health. In a modern account, the presence of certain molecules in the body may rather constitute a risk factor for the organism. Theoretically challenging is the fact that even non-existing entities may be important in constitution relations. For example, it is not the presence, but rather the lack of certain enzymes on the molecular level that constitutes lactose intolerance on the organismic level. In sum, we need to combine the description of causal mechanisms with the relevant information about which micro-states constitute which macro-states. Only together will they allow bridging the micro-macro gap in medicine.
8. The Limits of Medical Knowledge The aim of this paper was to point out principled problems of medicine based on ontological analysis. I started from two basic ontological dichotomies, i. e. the distinction between the universal and the particular on the one hand and the distinction between the concrete and abstract on the other hand. The first bundle of problems arose from the contrast between the universal and the particular: the type-character of medical knowledge brings with it the challenge to apply it to particular cases. But patients are particulars instantiating a wide range of types and a certain patient may, indeed, instantiate types that lead to contradictory claims about his health status. Of course it will never be possible to consider all types under which a phenomenon can be subsumed, which is one of the causes of the fragmentation of our medical knowledge. A second bundle of problems arose from the contrast between the concrete and the abstract. Concrete patients are bearers of infinitely many abstract properties. 35 Cf. Röhl 2012 and the references given there. 36 Cf. Baker 2000, 95 and Jansen 2009.
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Again, medical practitioners have to choose a small set of types that they consider being relevant – and they may be in error both about the causal or diagnostic relevance of the chosen property types as well as the irrelevance of the types not chosen. A further challenge is that medical knowledge covers various levels of granularity, from molecules and cells via tissues and organs to organisms and populations. Health, in particular, is an abstract particular, a property primarily of organisms. Much medical knowledge, however, is knowledge about types of suborganismic level. Researchers as well as practitioners have to relate these distinct levels of granularity in order to apply this knowledge for the benefit of the patient. Again, not all levels of granularity can be used in a decision making process; practitioners do not only need to decide on their choice of granularity, but also about the precision necessary in the case in question. Based on an ontological analysis, I have pointed to some reasons why medical science and medical practise is so difficult. These problems affect the generation of knowledge in medical research as well as the application of medical knowledge in decision making processes by practitioners. Much of what has been said in this paper is, of course, not only relevant for medicine, but of general relevance. The problems of causal reasoning, for example, affect all areas of (non-formal) knowledge and practise. The problems are, however, of particular relevance for medicine because there it is a matter of life and death for the patient, to not expire while the doctors are disputing.37
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PD Dr. Ludger Jansen, Institute of Philosophy, University of Rostock, D-18051 Rostock.
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Im Dickicht der Kategorienfehler, oder: Was weiß die biologische Psychiatrie? Marco Stier
„But one persons category error is another persons deep theory about the nature of the universe, and what is deemed appropriate or inappropriate in the application of categories depends tremendously on ones empirical beliefs and ones theoretical imagination.“ Patricia Churchland (1989, 273)
In der Ethik gibt es eine Reihe wirksamer Diskussionsstopper.1 Als ein solcher fungiert in vielen Fällen etwa der Begriff „Menschenwürde“: Einerlei ob es um den moralischen Status von Embryonen geht, die Sterbehilfe, die Humanforschung oder anderes, oft wird an einem kritischen Punkt der Diskussion auf die Menschenwürde verwiesen. Begriffe dieser Art sind häufig „multifunktional“, weil sie von allen beteiligten Diskussionsparteien zugleich – wenn auch mit unterschiedlichen Zielen – vorgebracht werden können. Dadurch kommen Diskussionen nicht selten faktisch zum Erliegen. Das bedeutet freilich nicht, das Prinzip Menschenwürde sei leer und nichtig. Der Diskussionsstopper, um den es vor dem Hintergrund der Debatte um die biologische Psychiatrie im Folgenden gehen soll, ist der Vorwurf des „Kategorienfehlers“. Folgt man Ryle, begeht einen solchen Fehler, wer sagt: „Sie kam heim in einer Flut von Tränen und in einer Sänfte“2, denn man kann, so wenigstens Ryle, Ausdrücke nur dann sinnvoll in einem Satz verknüpfen, wenn sie demselben logischen Typ (derselben Kategorie) angehören.3 Dabei geht es nicht um die Ausdrücke als solche oder darum, ob ein Satz grammatisch wohlgeformt ist; auch ein grammatisch richtig gebildeter Satz kann einen Kategorienfehler beinhalten. Vielmehr geht es um die Signifikate der Ausdrücke, d. h. was sie bezeichnen. Wenn die Signifikate unterschiedlichen Typen angehören, dann kann ihre Verknüpfung zu einer absurden Proposition führen: Was „eine Flut von Tränen“ 1 Ich danke Bettina Schöne-Seifert und Ludger Jansen für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. 2 Ryle 1949, 11. 3 Ryle 1938. Eine Diskussion des Ryleschen Verständnisses von Kategorien und Kategorienfehlern kann hier nicht geleistet werden, sie ist für den Gegenstand dieses Aufsatzes aber auch nicht notwendig.
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bezeichnet, gehört einer anderen Kategorie an (einem anderen logischen Typ), als das, worauf „Sänfte“ referiert.4 Auch ein Kategorienfehlervorwurf kann multifunktional sein. Dass bis heute weder klar ist, was Kategorien genau sind, noch wie man zwischen konkurrierenden Kategoriensystemen oder unterschiedlichen Kategorien unterscheidet5, tut dem offensichtlich keinen Abbruch. Indes ist im Einzelfall zu klären, ob es sich tatsächlich um einen Kategorienfehler handelt und, wenn ja, welche Konsequenzen er hat. Im Folgenden soll zunächst mit der „biologischen Psychiatrie“ der Gegenstand der Debatte umrissen werden. Im zweiten Schritt werden einige typische Kategorienfehler identifiziert, die sich die Diskussionsparteien z. T. gegenseitig vorwerfen. Drittens gilt es dann, unter Rückgriff auf drei Themen aus der Philosophie des Geistes, zu einer Einschätzung zu gelangen, wie schwerwiegend die der biologischen Psychiatrie vorgeworfenen Kategorienfehler sind und – viertens – inwiefern sich dies auf die Belastbarkeit ihrer Aussagen auswirkt.
1. Was heißt „biologische Psychiatrie“? Die biologische Psychiatrie setzt dort an, wo vor dem Hintergrund einer – im weitesten Sinne – psychoanalytisch und/oder phänomenologisch geprägten psychiatrischen Krankheitslehre die Auffassung vertreten wird, psychische Störungen seien etwas irreduzibel Psychisches. Biologisch orientierte Psychiater postulieren nämlich, dass psychische Störungen organische Störungen sind. Aufgrund dieses im Kontext des „molecular turn“6 stehenden Postulats – das als Identitätsbehauptung zu lesen zwar naheliegen mag, aber nicht zwingend ist – wird folglich erwartet, dass biologische Marker auch zu objektiveren als den gegenwärtig noch vorherrschenden symptombasierten Diagnosen führen werden.7 Letztere seien für die Kausalforschung eher ein Handicap als hilfreich.8 Konsequenterweise sollten psychiatrische Störungen im Rahmen eines biologischen Gesamtverständnisses auch als solche des Nervensystems reklassifiziert 4 Kategorienfehler stellen an sich nur „Sphärenvermengungen“ oder Fälle von „sortaler Inkorrektheit“ dar (vgl. etwa Kannetzky 2010), wobei es sich nicht um ontologische Kategorien handeln muss. Dies gilt umso mehr, als die Definition von und die Unterscheidungskriterien für ontologische Kategorien selbst umstritten sind (siehe Westerhoff 2002). Freilich wären die ontologischen Implikationen bestimmter Kategorienzuordnungen oder Kategorienverwechslungen dennoch zu prüfen. 5 Thomasson 2013, 13, 27. 6 Rudnick 2002. 7 Akil et al. 2010, 1581. 8 Holsboer 2010, 1308.
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werden9, da die eigentlichen Entdeckungen auf molekularer Ebene zu erwarten seien.10 Kritiker sprechen an dieser Stelle regelmäßig von einem „Biologismus“, der in der Psychiatrie zu einer problematischen und für den Patienten nachteiligen Verengung des Krankheitsverständnisses und der Therapieoptionen führe. Die Fokussierung auf die Neurobiologie sei ebenso unberechtigt wie unangemessen. Die ihr zugrundeliegende monistische Auffassung des menschlichen Geistes sei lediglich eine Ideologie, und die biologische Psychiatrie genüge nicht nur den Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie nicht, sondern könne auch prinzipiell nicht dahin gebracht werden.11 Ohne an dieser Stelle auf die Debatte näher eingehen zu können12, sei festgehalten, dass die biologische Psychiatrie auf drei Ebenen kritisiert wird. Erstens übersehe sie die sozialen Bedingungen und Ursachen psychischer Störungen.13 Zweitens wird unter Rückgriff auf Jaspers Unterscheidung von „Erklären“ und „Verstehen“14 befürchtet, in einer rein biologischen Erklärung psychischer Probleme könne die subjektive Perspektive des Betroffenen nicht berücksichtigt werden.15 Beides werde, so die dritte Kritik, zu einer Beschränkung des Therapiespektrums führen. Der Verlust pluralistischer Erklärungsmodelle, mit dem reduktionistische oder gar eliminativistische Modelle psychischer Krankheit mutmaßlich einhergehen, führe unweigerlich zu einseitigen (biologischen) Therapievorstellungen und sei in jedem Fall für den Patienten von Nachteil.16 Folgt man dieser Kritik, wäre das Wissen der biologischen Psychiatrie also gleich dreifach begrenzt: (1) Sie würde entscheidende Kausalfaktoren nicht anerkennen, (2) sie könnte das subjektive und erstpersönliche Erleben einer psychischen Störung nicht beschreiben, und (3) sie müsste in der Konsequenz blind bleiben für nichtphysiologische Behandlungsformen. Ob es sich indes wirklich so verhält, ist Gegenstand einer anhaltenden Debatte. Sollten die epistemologischen, ontologischen und methodologischen Fundamente der biologischen Psychiatrie aber tatsächlich schwere Kategorienfehler einschließen, und die skizzierte Kritik berechtigt sein, dann wäre ihr Wissen nicht nur defizitär, sie könnte die Defizite auch prinzipiell nicht beheben. Weil es aber nicht zielführend wäre, biologische Ansätze in der Psychiatrie schon deshalb als kategorial fehler9 White, Rickards, Zeman 2012, 1; Rietschel 2014. 10 Bickle 2006. 11 McLaren 2010. 12 Zur Übersicht Stier et al. 2013. 13 Bentall 2004; Glannon 2009; Paris 2009. 14 Die Unterscheidung geht auf Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey zurück, in der Diskussion um die biologische Psychiatrie wird aber weit überwiegend auf Jaspers verwiesen. 15 Broome, Bortolotti 2009; Fuchs 2010; Banner 2013. 16 Brendel 2002; Helmchen 2013.
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haft anzusehen, weil es sich um biologische handelt, sollen im nun folgenden Abschnitt die im Fokus der Debatte stehenden Kategorienfehler zunächst identifiziert werden.
2. Kategorienfehlervorwürfe Ungeachtet der eingangs erwähnten Probleme bei der Definition und Unterscheidung von Kategorien und Kategoriensystemen kann grundsätzlich festgehalten werden, dass es sich bei den in Frage stehenden Kategorienfehlern um begriffliche Phänomene handelt. Ein ebenso einfaches wie instruktives Beispiel für einen Kategorienfehler liefert der Begriff des Hirntods: Wer die Frage, ob der dissoziierte Hirntod der Tod des Menschen ist, rein medizinisch zu beantworten versucht, der übersieht, dass es dafür anderer Ressourcen bedarf, nämlich metaphysischer. Es ist eine ontologische Frage, ob wir den kompletten und irreversiblen Funktionsausfall des Gehirns als den Tod des Menschen ansehen sollten, keine medizinische.17 Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Feststellung dieses Funktionsausfalls eine rein medizinische Angelegenheit mit juristischer Relevanz ist. Die „biologische Psychiatrie“ sieht sich dem Vorwurf von Kategorienfehlern von wenigstens zwei Seiten ausgesetzt: Auf der einen Seite wird sie kritisiert, weil sie als Psychiatrie die Existenz „psychischer“ Krankheiten oder Störungen annimmt, auf der anderen Seite, weil sie diese als biologisches Geschehen interpretiert. Beide Seiten bringen ihre Kritik auf allen drei der oben erwähnten Ebenen an (soziale Bedingungen, Erklären vs. Verstehen, Therapiespektrum). 2.1 Kategorienfehler I: Die biologische Psychiatrie als Psychiatrie Nach Thomas Szasz sind psychische Krankheiten ein Mythos. Krankheiten seien immer und ausschließlich auf den Körper und auf physiologische Störungen bezogen. Spreche man dennoch von psychischen Krankheiten, dann führe dies zu einem linguistischen und epistemologischen Kuddelmuddel.18 Als Gewährsmann für diesen mutmaßlichen Kategorienfehler dient ihm dabei nicht erst Ryle, sondern Moritz Schlick, der bereits 1935 mit Blick auf das Geist-Körper-Problem Ähnliches beklagt.19 Die in Szasz Augen vermischten Kategorien beschreiben 17 Schöne-Seifert 2014, 133 f. 18 Szasz 1961, 85. 19 Wörtlich schreibt Schlick in der deutschen Urfassung des Aufsatzes: „Das sogenannte „psychophysische Problem“ entspringt daraus, dass man beide Darstellungsarten in einem und demselben Satze gemischt verwendet. Man gebraucht nämlich Worte nebeneinander, die bei konsequenter Verwendung eigentlich verschiedenen Sprachen
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nicht etwa unterschiedliche Substanzen. Vielmehr handelt es sich hierbei um jenen – im Kontext der Debatte um die Willensfreiheit auch heute wieder vielbeschworenen – Dualismus von Gründen und Ursachen, der auf einen geistigen und einen physikalischen (hier neurobiologischen) Bereich und die jeweils dazugehörige Terminologie verweist: Krankheiten haben Ursachen, Personen haben Gründe: „Diseases of the body have causes, such as infectious agents or nutritional deficiencies, and often can be prevented or cured by dealing with these causes. Persons said to have mental diseases, on the other hand, have reasons for their actions that must be understood. They cannot be treated or cured by drugs or other medical interventions, but may be benefited by persons who respect them, understand their predicament and help them to help themselves overcome the obstacles they face.“20
Es geht bei Szasz allerdings nicht nur um Gründe und Ursachen. Auch die dahinter stehende Behauptung der Irreduzibilität des Mentalen, die es unmöglich mache, psychische „Krankheiten“ physisch zu erklären und (etwa pharmakologisch) zu behandeln, ist nicht die ganze Geschichte. Vielmehr, so konstatiert Szasz, beruhe die (somatische) Medizin auf wissenschaftlichen Fakten, während die Psychiatrie auf sozialen und politischen Normen beruhe. In diesem Sinne sei die Medizin eine Wissenschaft, die Psychiatrie nicht. Noch einmal anders formuliert: Krankheiten sind als physische Vorgänge und Umstände Abweichungen relativ zu physischen Gegebenheiten und werden physisch behandelt. Psychische „Krankheiten“ sind nach Szasz hingegen Abweichung relativ zu Verhaltensnormen – doch sie werden ebenfalls physisch behandelt. Hier werde ein weiteres Paar unterschiedlicher Kategorien vermischt, und zwar Fakten auf der einen und soziale Normen auf der anderen Seite. Darin liegt für Szasz der eigentliche Skandal. Pikanterweise ist der erstgenannte dieser beiden von Szasz konstatierten Hauptfehler (der Dualismus von Gründen und Ursachen), mit dem er den Begriff „psychische Krankheit“ ablehnt, ebenjener, mit dem viele gegenwärtige Antireduktionisten ihn gegen eine vorgebliche biologistische Okkupation zu verteidigen suchen. Während Szasz aus der Prämisse (i), dass die Sphäre der Gründe von der Sphäre der Ursachen geschieden ist, und (ii) der Annahme, dass Psyche und Verhalten auf Gründen beruhen sowie (iii) der Annahme, dass Krankheiten (allein) auf Ursachen beruhen, auf die Nichtexistenz psychischer Krankheiten schließt, schließen andere Autoren von der gleichen Prämisse (i), dass die Sphäre der Gründe von der Sphäre der Ursachen geschieden ist, und der ebenso gleichen Annahme (ii), dass Psyche und Verhalten auf Gründen beruhen, sowie der abweichenden Annahme (iii), dass Krankheiten auf Ursachen und Gründen beruangehören.“ (Schlick 2013, 383). Szasz bezieht sich auf die englische Übersetzung von 1949; Französische Erstveröffentlichung 1935. 20 Szasz 2011, 181.
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hen, auf das genaue Gegenteil, nämlich dass psychische Krankheiten (heute eher als „Störungen“ bezeichnet) tatsächlich und eigenständig existieren.21 Dabei handelt es sich nicht etwa um einen Dissens zwischen Reduktionisten und Antireduktionisten, denn zu letzteren ist auch Szasz zu rechnen (letztlich ist es für seinen Ansatz aber gleichgültig, ob die Psyche auf das Gehirn reduzierbar ist oder nicht22). Szasz Anliegen ist letztlich ein ethisches, denn seine Arbeiten zur Psychiatrie sind nur vor dem Hintergrund seiner Ablehnung von Zwangsbehandlungen zu verstehen, auf die er die Psychiatrie permanent verkürzt.23 Es ließe sich vermuten, dass die von Szasz seit den 1950er Jahren im Wesentlichen unverändert vorgebrachte Kritik an der Psychiatrie angesichts der genetischen und neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre obsolet geworden und der Vorwurf des Kategorienfehlers somit wiederlegt sei. Doch es ist gerade die Erklärbarkeit von Verhaltensabweichungen mit biologischen Prozessen, durch die sich Szasz bestätigt fühlt. So erklärt er: „If all the conditions now called mental illnesses proved to be brain diseases, there would be no need for the notion of mental illness and the term would become devoid of meaning.“24 Für das Wissen der Psychiatrie hätte das fatale Folgen: Völlig unabhängig davon, ob es sich um eine biologisch oder phänomenologisch inspirierte Psychiatrie handelt, der Begriff „psychische Krankheit“ gehört als solcher – folgt man Szasz – ins Reich der Mythen und Märchen, da mag die Psychiatrie so biologisch werden, wie sie nur will. Das stellt zugegebenermaßen keine Kritik an der biologischen Psychiatrie dar, insofern sie biologisch ist. Gleichwohl ist der Rekurs auf Szasz geeignet zu zeigen, dass der Vorwurf eines Kategorienfehlers mit unterschiedlichster Intention und relativ zum jeweiligen metaphysischen Bekenntnis formuliert werden kann. Diese „Multifunktionalität“ des Vorwurfs führt nicht nur dazu, dass sich vielen Theorien Kategorienfehler unterstellen lassen. Vielmehr wird mitunter aus ein und denselben Ausgangsprämissen ganz Gegenteiliges geschlossen, sodass eine genauere Untersuchung eben dieser Prämissen und der zu den gegenteiligen Konklusionen führenden Zusatzannahmen notwendig wird.25 21 An die Frage, ob psychische Störungen natürliche Arten (natural kinds) darstellen oder nicht, knüpft sich eine eigene Debatte, die hier nicht weiter verfolgt werden kann; siehe stattdessen Cooper 2005, Kapitel 2. 22 Diese Besonderheit des Szaszschen Ansatzes beruht auf folgender Überlegung: Wenn die Psyche auf das Gehirn reduzierbar ist, dann gibt es keine genuin psychischen Krankheiten, denn die betreffenden Störungen stellen sich als physische heraus; ist die Psyche hingegen nicht reduzierbar, dann existieren psychische Krankheiten ebenfalls nicht, weil Krankheiten immer physischer Natur sind. 23 Siehe weiterführend z. B. Cresswell 2008. 24 Szasz 2011, 180. 25 Es wäre naheliegend, aus der Beliebigkeit der Schlussmöglichkeiten die Falschheit der Prämisse (hier, dass Ursachen und Gründe etwas Verschiedenes sind) zu folgern.
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Am Ende des vorigen Abschnitts wurde festgestellt, dass die biologische Psychiatrie von zwei Seiten kritisiert wird: Die eine Seite greift sie mit Ansätzen wie dem von Szasz als Psychiatrie an; die andere Seite – um die es im Folgenden geht – wirft ihr vor, dass sie eine biologische Psychiatrie ist. Letzteres ist die breitere Kritikfront.
2.2 Kategorienfehler II: Die biologische Psychiatrie als biologisch Kritiker der biologischen Psychiatrie berufen sich regelmäßig auf Karl Jaspers, wenn sie dieser vorhalten, sie bringe Sachverhalte zusammen, „die gar keine Beziehung zueinander haben, wie Rindenzelle und Erinnerungsbild, Hirnfaser und psychologische Assoziation“.26 In diesem Vorwurf sind mehrere potenzielle Kategorienfehler versammelt. Will man verstehen, warum „Rindenzelle und Erinnerungsbild“ keine Beziehung zu einander haben sollen, müssen diese Kategorienfehler identifiziert und auseinandergehalten werden. Anderenfalls verbleibt die Diskussion pro und kontra biologische Psychiatrie auf der Ebene weltanschaulicher Intuitionen. Zunächst kehrt die Unterscheidung von Gründen und Ursachen wieder. So wird Kendell von Parnas und Bovet vorgeworfen, einen Kategorienfehler zu begehen, wenn er meint, die meisten psychischen Störungen würden nur deshalb noch über ihre Symptome definiert, weil das Gehirn so unendlich viel komplizierter sei als beispielsweise die Leber.27 Kendell vermische die im Bereich des Physischen herrschenden kausalen Teil-Ganzes-Relationen mit Relationen wie Implikation oder Motivation, um die es im Bereich des Mentalen gehe, so die Autoren.28 Ganz ähnlich meinen Bennett und Hacker, „[a]scribing mental states to the brain makes no more sense than ascribing them to the kidneys (i. e. to any other part of the animal)“.29 Das hieße, Begriffe wie „mentales Ereignis“, „mentaler Zustand“ und „mentaler Prozess“ falsch zu verwenden. Allgemeiner lässt sich dies auch mit den Worten von Steven Morse charakterisieren: „Brains do not convince each other; people do.“30 Die hier ins Feld geführte kategoriale Verschiedenheit von Ursachen und Gründen soll in diesem Fall indes den Begriff der psychischen Krankheit/Störung als psychischer gerade als unverzichtbar ausweisen; der Vorwurf hat also ein dem Szaszschen Ansatz diametral entgegengesetztes Ziel. Wenn monistisch gesinnte Autoren dieser Kritik entgegen-
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Jaspers 1919, 16. Kendell 2002, 13. Parnas, Bovet 2015, 202. Bennett, Hacker 2003, 112. Morse 2011, 840.
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halten, sie führe in einen althergebrachten Substanzdualismus31, so ist dies ebenso oft zurückgewiesen worden.32 Nun leugnen auch Antireduktionisten nicht, dass Verhalten und Erleben von Personen auf Hirnvorgängen beruhen. Sie weisen aber darauf hin, dass weder der phänomenale Gehalt individuellen Erlebens noch die Art und Weise personalen Handelns Neuronenvorgängen zugeschrieben werden können. In diesem Sinne erklärt George Graham: „To say, for instance, that Alice and Ian are subjects of a mental disorder is to say that how they think, feel and deliberately or intentionally act are among the sources or propensity conditions of their disorders and that how they think, feel and act is not attributable to a neural impairment or disorder even if, or though, neural activity is involved.“33
Wir haben es also mit weiteren mutmaßlichen Kategorienfehlern zu tun: Zum einen werden vermeintlich essenziell phänomenale mit nichtphänomenalen Zuständen vermischt, wenn beispielsweise eine Depression ausschließlich neuronal oder genetisch erklärt wird. Dabei wird nicht lediglich beklagt, der psychiatrische Biologismus vernachlässige die Perspektive des betroffenen Individuums, die für ein über bloßes Erklären hinausgehendes Verstehen unerlässlich sei. Vielmehr ist die Kritik, dass sich die Logik phänomenaler Gehalte nicht mit der Logik physiologischer Vorgänge erfassen lasse.34 Weil psychische Störungen sich nicht im Erleben des Betroffenen erschöpfen, sondern sich in der Regel auch in dessen Verhalten widerspiegeln, würde eine rein biologische Erklärung darüber hinaus den kategorialen Unterschied zwischen biologischen und sozialen (Dys-)Funktionen nicht beachten. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung beispielsweise würde sich demnach neuronal nicht beschreiben lassen, weil sie wesentlich das Verhalten betrifft, zumal hier soziale Verhaltensnormen und -erwartungen ins Spiel kommen.35 Hier ist allerdings nicht der von Szasz postulierte Kategorienfehler gemeint, dem zufolge psychische „Krankheiten“ aufgrund der Normativität der Psychiatrie gar nicht existieren (Fakten vs. Normen). Verhaltensnormen sind zwar auch bei der Differenz von
31 Schaffner, Tabb 2015, 218; Matthews 2013, 540. 32 Ganz einschlägig etwa Schramme 2013. 33 Graham 2010, 24 (Hervorh. MS). 34 Frank Jacksons in einer schwarz-weißen Umgebung lebende Mary ist das klassische Beispiel in der Philosophie des Geistes (Jackson 1986). 35 Broome, Bortolotti 2009. Inwiefern der Begriff der psychischen Störung wesentlich normativ ist und ob dieser Umstand allein schon eine „Reduktion“ von Erleben und Verhalten auf neuronale Vorgänge unmöglich macht, ist Gegenstand der Diskussion. Siehe stellvertretend für viele andere Stier (2013) für die These einer normativ begründeten Nichtreduzierbarkeit, Rietschel (2014) für eine biologische Gegenthese, und Muders (2014) sowie Rüther (2014) für metaphysische Bedenken.
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biologischen und sozialen (Dys-)Funktionen im Spiel, der Betroffene hält sie aber störungsbedingt nicht ein. Es mag sein, dass sich menschliches Verhalten und somit auch Verhaltensauffälligkeiten bei weiterem Fortschritt der Medizin eines Tages vollständig in biologisch-physikalischen Kausalbegriffen werden erklären lassen. Doch darum geht es nicht. Es ist vielmehr begriffslogisch unmöglich, das eine in Begriffen des anderen – Verhalten in neurobiologischen Begriffen – zu erfassen. Dem schließen sich zwei weitere Kandidaten für Kategorienfehler an, die der biologischen Psychiatrie unterstellt werden. Erstens konstituiere sich soziales Verhalten durch Handlungen, die etwas anderes seien als bloße Ereignisse, welche man auf physiologischer Ebene findet und dort adäquat als solche beschreiben kann. Man kann also von einem Kategorienfehler sprechen, der in der Vermischung von Handlungen und Ereignissen besteht. Handlungen erschließen sich sowohl theoretisch als auch praktisch nur über Bedeutung und Intentionalität36, die beide nicht mit biologischen Fakten vermischt werden dürfen, was bei einer biologischen „Reduktion“ psychischer Störungen jedoch unweigerlich geschehe: Nervenzellen können keine Sinnkrise haben; und sie können sich nicht vornehmen, diese zu überwinden. Hier werden Bedeutungen und Fakten vermischt. Dass Paul eine Tablette schluckt, kann sowohl bedeuten, dass er etwas gegen seine Kopfschmerzen tun will, als auch, dass er lebensmüde ist und es in suizidaler Absicht tut.37 All diese Kategorienfehler, die letztlich in jeweils spezifischer Perspektive auf ein und dieselbe Kategorienvermischung hinauslaufen – nämlich die von „Geist“ auf der einen Seite und „Gehirn“ auf der anderen –, kulminieren im alten Disput um das Problem der mentalen Verursachung. So erklärt beispielsweise Walter Glannon: „A chronic misperception of ones surroundings, or a prolonged stress response to them, can trigger a cascade of pathophysiological events that result in the symptoms of depression and anxiety. The causal pathway goes from the mind, or the subjective experience of the situation, to the brain and body, and then back to the mind.“38
Es sei, so die Kernthese, nicht das Gehirn allein, welches die psychische Störung hervorruft, vielmehr seien die auffälligen physiologischen Vorgänge die Wirkung einer chronisch falschen Wahrnehmung der Umwelt durch das Individuum. Die auf diese Weise verursachten neuronalen Fehlfunktionen führten dann wiederum 36 Siehe etwa Rohs 2000. 37 Vgl. Matthews 2013, 538 f. Der Einwand, man könne ja schon an der Zusammensetzung der Tablette ersehen, ob es sich um Schmerzbekämpfung oder einen Suizidversuch handelt, verfinge hier nicht, denn man kann auch eine Kopfschmerztablette in suizidaler Absicht einnehmen. 38 Glannon 2009, 328.
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zu den klassischen mentalen Symptomen beispielsweise einer Depression. Prinzipiell ähnlich, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied, beschreibt Richard Bentall die kausalen Zusammenhänge. Auch er erkennt die Relevanz neuronaler Vorgänge für die Entstehung psychischer Probleme durchaus an, erklärt aber weiter: „This does not mean that the delusions seen in patients are caused by an abnormality of the dopamine system. It seems more likely that, in patients, the dopamine system becomes sensitized as a consequence of adverse experiences that predate the onset of illness.“39
Während es bei Glannon wohl tatsächlich um die klassische Frage mentaler Verursachung geht, weist Bentall lediglich auf die Bedeutung widriger Lebenserfahrungen für die Entstehung psychischer Krankheiten hin. Wer aber den Einfluss beispielsweise einer von Vernachlässigung und Missbrauch gekennzeichneten Kindheit auf die Entwicklung des Gehirns und in der Konsequenz auf die psychische Entwicklung der Person anerkennt, der anerkennt damit noch keineswegs „mentale Verursachung“.40 Insgesamt müssen also sieben unterschiedliche Kategorienfehler-Vorwürfe unterschieden werden: – Kategorienfehler I: Die biologische Psychiatrie als Psychiatrie – Gründe vs. Ursachen – Fakten vs. Normen – Kategorienfehler II: die biologische Psychiatrie als biologisch – Gründe vs. Ursachen – phänomenale vs. nichtphänomenale Vorgänge – biologische vs. soziale (Dys-)Funktionen – Handlungen vs. Ereignisse – Bedeutungen vs. Fakten Um die Implikationen dieser gemutmaßten Kategorienfehler einschätzen zu können, müssen im nächsten Schritt einige Hauptprobleme aus der Philosophie des Geistes in Erinnerung gerufen werden. Ohne deren Kenntnis kann die Frage danach, was die biologische Psychiatrie weiß und was sie gegebenenfalls nicht wissen kann, nicht angemessen beantwortet werden.
39 Bentall 2009, 175. 40 Diesen Fehler macht beispielsweise Mohr, wenn er annimmt, dass es sich bereits um mentale Verursachung handele, wenn „Erfahrungen und deren Auswertungen Eingang in die kausale Geschichte des Gehirns Eingang finden“ (Mohr 2008, 90).
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3. Die Psychiatrie und das Geist-Gehirn Problem Die Debatte für und wider die biologische Psychiatrie oszilliert zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite befürchten antireduktionistische Autoren, der biologische Ansatz führe dazu, dass die menschliche Psyche und damit die Psychiatrie als genuine Erklärungsressource verschwinden. In diesem Sinne stellen Broome und Bortolotti fest: „The process may start as a process of reduction (from the disorder behaviourally defined to its neurobiological basis), but in the end psychiatry as we know it will not just be given solid scientific foundations by being reduced to neurobiology; it will disappear altogether.“41
Am entgegengesetzten Ende des Spektrums warnen diejenigen Autoren, die biologischen Erklärungen psychischer Störungen gegenüber aufgeschlossen sind, jede Behauptung, die Psychiatrie sei prinzipiell nicht unter Rekurs auf Hirnvorgänge erfassbar, führe unweigerlich in einen Substanzdualismus: „If one claims that psychiatric objects would, even in an ideal world (that is, not just given the limits on human knowledge) be inexplicable in terms of the brain and its interactions with its environment, what ontology other than substance dualism could one claim allegiance to?“42
Die Frage, ob und inwiefern die biologische Psychiatrie eliminativistisch ist und inwiefern nichtreduktive Ansätze in einen Substanzdualismus führen, bildet jedoch nur einen von zwei Brennpunkten der Diskussion. Während hier genuine Fragen der Philosophie des Geistes verhandelt werden, bildet der Unterschied von Erklären und Verstehen, zu dem überwiegend auf Jaspers verwiesen wird, den zweiten Brennpunkt. Dass beide Brennpunkte nicht deckungsgleich sind, lässt sich schon mit Jaspers selbst zeigen. Einerseits wendet er sich zwar mit dem Schlagwort „Hirnmythologie“ gegen das „somatische Vorurteil“, dass „die eigentliche Wirklichkeit des Menschen […] ein somatisches Geschehen sei“.43 Andererseits aber „rücken alle Begriffe der Phänomenologie und der verstehenden Psychologie in das Reich kausalen Denkens hinein“.44 Man könnte es ganz im Sinne der von erklärten Jaspers-Jüngern gescholtenen biologischen Psychiatrie verstehen, wenn er feststellt, „daß alle kausalen Zusammenhänge, daß der ganze außerbewußte Unterbau des Seelischen in körperlichen Vorgängen ihre Grundlage haben. Das Außerbewußte kann in der 41 42 43 44
Broome, Bortolotti 2009, 27. Schaffner, Tabb 2015, 218. Jaspers 1919, 13. Jaspers 1919, 253 f.
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Marco Stier Welt nur als Körperliches gefunden werden. Diese körperlichen Vorgänge vermuten wir im Gehirn, speziell in der Großhirnrinde und im Hirnstamm, und denken sie als höchst komplizierte biologische Vorgänge. Von deren Erforschung sind wir unendlich weit entfernt.“45
Es ist also keineswegs ein Widerspruch, zu fordern, die Psychiatrie müsse sich darum bemühen, den Patienten zu verstehen, und zugleich darauf zu verweisen, dass alle psychischen Vorgänge – und so deren Störungen – nicht ohne Berücksichtigung körperlicher Vorgänge erklärt werden können. Die postulierten Kategorienfehler berühren vor allem zwei Hauptthemen der Philosophie des Geistes: die mentale Verursachung und das Argument der Erklärungslücke. Die in vielerlei Hinsicht unterkomplexe Verwendung des Terminus „Reduktionismus“ bildet zusätzlich den Basso continuo der ganzen Debatte. Eine Lösung dieser drei an sich schon komplexen Probleme wird in der Diskussion um die biologische Psychiatrie zudem in zweifacher Hinsicht weiter erschwert: Zum einen verweist jedes dieser Problemfelder auf die beiden anderen, zum zweiten werden die jeweils verwendeten Begriffe von den Verfechtern und Kritikern biologischer Erklärungen unterschiedlich verwendet.
3.1 Mentale Verursachung Vor allem der mutmaßliche Dualismus von Gründen und Ursachen wirft die Frage auf, inwiefern nichtphysische Sachverhalte für das Verhalten einer Person kausal wirksam werden können. Der Vorwurf, dass Gründe und Ursachen unterschiedlichen Kategorien angehören und daher nicht vermischt oder verwechselt werden dürfen, ist vor allem im Zuge der neueren Diskussion um die Willensfreiheit wieder verstärkt erhoben worden.46 Sobald man aber postuliert, dass Gründe etwas anderes als Ursachen und bei der Handlungsgenese unentbehrlich sind, fragt es sich, wie sie kausal wirksam werden können. Sollten Gründe kausal unwirksam sein, dann sind sie zumindest für die Handlungsgenese doch entbehrlich. Nimmt man aber an, Gründe seien entweder Epiphänomene oder sie seien mit physischen Ursachen identisch, so fragt sich, inwiefern sie als Gründe eine spezifische Relevanz haben können. Eine Identitätstheorie rettet zwar in gewisser Weise die Kausalität mentaler Eigenschaften (denn mentale Substanzen sind ja aufgrund der psychophysischen Identität ausgeschlossen), dies aber nur um den Preis, das Postulat ihres kategorialen Andersseins aufgeben zu müssen. Die Alternativen laufen also darauf hinaus, dass Gründe entweder (in physikalischer Perspektive) keine Erklärungsrelevanz besitzen, weil sie kausal unwirksam sind, oder aber dass sie (in nichtphysikalischer Perspektive) qua Gründe eine 45 Jaspers 1919, 380 f., Hervorh. orig. 46 Vgl. Stier 2011, 165 ff.
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spezifische kausale Erklärungsrelevanz besitzen. In letzterem Fall muss gezeigt werden, welche Art der Verursachung dabei im Spiel ist. Nun leuchtet es ein, dass in einem biologischen Erklärungsansatz eo ipso kein Platz für mentale Verursachung ist.47 Das wäre allerdings nur bedauerlich, wenn für letztere ein belastbares Konzept existierte, sodass man der biologischen Theorie Versäumnisse vorhalten könnte. Überdies darf nicht vergessen werden, dass sich mentale Verursachung nicht auf eine Geist-Körper-Kausalität beschränkt, sie schließt auch die Geist-Geist-Verursachung unter Umgehung des Körpers ein: Letztere ist es vor allem, die für psychische Störungen angenommen werden müsste. Der Betroffene macht eine belastende Erfahrung, die sich unmittelbar auf sein Verhalten auswirkt, ohne dass neuronale Vorgänge dabei eine entscheidende Rolle spielen. Zwar vertritt gegenwärtig kaum jemand einen expliziten Substanzdualismus la Descartes, sondern eher die eine oder andere Variante eines Eigenschaftsdualismus, das Kernproblem ist jedoch identisch. Wie kann etwas qua Mentales – seien es nun Substanzen, Ereignisse oder Eigenschaften – kausal effizient sein? Nicht nur die neueren, in der Tradition der LibetExperimente gewonnenen Erkenntnisse sprechen dagegen48, auch zahlreiche psychologische Experimente lassen vermuten, dass wir uns den kausalen Einfluss des Mentalen in der Regel nur zuschreiben. In diesem Sinne hat Daniel Wegner pointiert und anschaulich erklärt, es verhalte sich mit unseren Handlungen und der bewussten Erfahrung wie mit einem Schiff und dessen Kompass: Der Kompass zeigt zwar die Richtung an, in die das Schiff fährt, steuert es aber nicht. Genauso vermittle uns die bewusste Erfahrung ein Gefühl der Urheberschaft von Handlungen, verursache sie aber nicht.49 Welches Gewicht psychische Eigenschaften und psychisches Erleben unabhängig von einer physischen Realisierung bei der Erklärung der Entstehung psychischer Störungen haben, hängt maßgeblich davon ab, ob und in welcher Weise mentale Verursachung möglich ist. Zumindest im Rahmen einer wissenschaftlichen Weltauffassung ist das bislang nicht überzeugend gezeigt worden. Auch wenn es durchaus möglich sein mag, metaphysische Argumente für die Möglichkeit einer kausalen Kraft des Mentalen ins Feld zu führen, so haben sie in einer Wissenschaft, als die sich die Psychiatrie ja versteht, nicht viel zu suchen. Andererseits könnte man gerade hier einen Kategorienfehler sehen. Er bestünde darin, eine metaphysische These neurobiologisch widerlegen zu wollen. Dass dies nicht gutgeht, wird man einsehen müssen. Die für eine Bewertung der biologischen Psychiatrie eigentlich entscheidende Frage ist aber eine andere: Ist eine
47 Es sei allerdings eingeräumt, dass Top-down-Kausalität nicht notwendig als mentale Verursachung aufgefasst werden muss und innerhalb eines mechanistischen Ansatzes durchaus erklärbar ist (siehe etwa Craver, Bechtel 2006). 48 Siehe etwa Soon et al. 2013. 49 Wegner 2002, 317–318.
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Psychiatrie defizitär, in der um des Patienten willen metaphysische Annahmen hintangestellt werden? Wer den Unterschied von Gründen und Ursachen vernachlässigt, begeht nur dann einen Kategorienfehler, wenn beide etwas essenziell Unterschiedliches sind, und selbst wenn sie es sind, wäre dieser Kategorienfehler für die biologische Psychiatrie nur dann von Bedeutung, wenn mit diesem Unterschied auch verschiedene Kategorien der Verursachung vermischt werden oder eine davon vernachlässigt wird. Neben der Frage nach einer rein mentalen Verursachung ist auch die Beschreibbarkeit mentaler Zustände und Ereignisse in (im weitesten Sinne) physikalischen Begriffen eines der zentralen Themen der Philosophie des Geistes. Wenn sich das psychische Erleben einer Person prinzipiell nicht (rein) biologisch beschreiben lässt, sodass eine unüberbrückbare „Erklärungslücke“ zwischen dem Physischen und dem Psychischen besteht, dann muss die biologische Psychiatrie von vornherein scheitern. Ob und gegebenenfalls in welchem Sinne dies der Fall ist, soll im Folgenden geklärt werden.
3.2 Erklärungslücke In den vergangenen einhundert Jahren wurde eine Vielzahl an Gedankenexperimenten angestellt, um zu illustrieren, dass subjektives, phänomenales Erleben physikalisch nicht beschrieben werden kann. Angefangen von Broads Erzengel, der trotz umfassender chemischer und mathematischer Kenntnisse den Geruch von Ammoniak nicht kennt, über Feigls Marsianer, der menschliches Verhalten studiert, aber ihre Gefühle nicht versteht, weiter über Nagels Versuch, sich in eine Fledermaus hineinzuversetzen, bis hin zu Jacksons in einer schwarz-weißen Umgebung lebender Mary und anderen Szenarien.50 Im Licht der oben identifizierten mutmaßlichen Kategorienfehler hieße das: Mag ein biologischer Psychiater auch über komplettes (neuro)biologisches Wissen verfügen, er könnte damit allein weder verstehen, „wie es ist“ deprimiert zu sein, noch die Zusammenhänge und Komplexitäten im Erleben eines Betroffenen erklären. Konkreter: Nach in der Philosophie des Geistes verbreiteter Ansicht lassen sich qualitative Erlebniszustände aus physikalischen Gegebenheiten weder kausaltheoretisch, noch epistemisch oder semantisch erklären. Wie lässt sich dann aus einem konkreten physikalischen Zustand P schließen, dass ein konkreter qualitativer Erlebniszustand Q der Fall ist? Wenn man Q nicht aus P schließen kann, wie soll es dann möglich sein, die Wahrheit von Q in ausschließlich physischen Begriffen zu erklären? Darüber hinaus sei es denkbar – so die Argumentation weiter – dass P ganz ohne Q vorliegt. Daraus würden sich für die biologische Psychiatrie zwei Probleme ergeben: 50 Vgl. Nida-Rümelin 2010.
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(I) Aus physischen Vorgängen bzw. dem Vorliegen eines bestimmten physischen Gesamtzustandes lassen sich die Erlebniszustände beispielsweise einer Depression nicht ableiten. Eine physische Kausalerklärung von Erlebniszuständen ist damit unmöglich. (II) In physischer Perspektive lassen sich Erlebniszustände beispielsweise einer Depression einer Person nicht verstehen. Auch wenn der Psychiater über ein idealiter vollständiges (neuro)physiologisches Wissen verfügte, er könnte in dieser Perspektive den betroffenen Patienten weder verstehen, noch eine (bestimmte) psychische Störung ableiten.51 Bei nichtphänomenalen Sachverhalten bestehen diese Lücken nicht; beispielsweise kann man aus rein physiologischen Zuständen erkennen, ob eine Person gelähmt ist oder nicht. Vor diesem Hintergrund würde es sich bei der Vermischung phänomenaler und nichtphänomenaler Gegebenheiten in der Tat um einen Kategorienfehler handeln – nicht nur, weil beides verschiedenen Begriffsräumen angehört, sondern auch, weil zwischen ihnen eine kausale wie epistemologische Lücke besteht. Die qualitativen Erlebniszustände des Betroffenen sind zudem ein wesentlicher Teil seiner Erkrankung und ebenso ihres Bedeutungszusammenhangs, sodass der kategoriale Unterschied von phänomenalen und nichtphänomenalen Zuständen einen Teil jenes Unterschieds von Bedeutungen und Fakten ausmacht. Subjektive Bedeutungen beruhen zumindest partiell auf individuellen phänomenalen Eindrücken in dem Sinne, dass ein bestimmtes phänomenales Erleben wie beispielsweise die durch eine Depression phänomenal „gefärbte“ Wahrnehmung eines Objekts in den Bedeutungskontext eben dieses Objekts einfließt. Im Rahmen physiologischer Fakten könnte dies weder beschrieben noch kausal abgeleitet oder gar verstanden werden. Im Anschluss an den Einfluss der kategorialen Phänomenal-nichtphänomenalDifferenz auf den Unterschied von Bedeutungen und Fakten muss zusätzlich eine weitere Auswirkung auf die Differenz von Gründen und Ursachen angenommen werden. Insofern Gründe für das Subjekt nicht nur etwas bedeuten, sondern selbst maßgeblich auf Bedeutungen beruhen, sind auch sie von der Phänomenalnichtphänomenal-Differenz und damit von der Erklärungslücke betroffen. Ferner sind Handlungen nach verbreiteter Auffassung nur im Rahmen von Gründen verstehbar, sodass sich die Unterbestimmtheit der Gründe auf die Erklärbarkeit von Handlungen erstreckt. Für die biologische Psychiatrie hätte die Wahrheit der These von der Erklärungslücke somit außerordentlich weitreichende Folgen, weil die verschiedenen Kategorienfehler in einer Art Kettenreaktion auseinander hervorgehen bzw. die 51 Andere damit zusammenhängende Fragen wie etwa die, ob die Erklärungslücke tatsächlich ein Wissen betrifft und, wenn ja, um welche Art von Wissen es sich dabei handelt, können hier nicht weiter verfolgt werden.
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Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens verstärken. In Kurzform dargestellt wäre die „Kettenreaktion“ also: Eine Vernachlässigung der Phänomenal-nichtphänomenal-Differenz verstärkt die Gefahr, dass der Unterschied von Bedeutungen und Fakten übersehen wird, wodurch wiederum der kategoriale Unterschied zwischen Gründen und Ursachen nicht klar erfasst werden kann, was schließlich die Differenzierung von Handlungen und Ereignissen erschwert. Tatsächlich sind die Zusammenhänge weit komplexer. Wer den phänomenalen Charakter subjektiven Erlebens nicht darstellen kann, der kann auch den Unterschied zwischen Bedeutungen und Fakten zumindest nicht vollständig erfassen und damit wiederum die Gründe einer (psychisch erkrankten) Person nicht nachvollziehen und – in der Konsequenz – einen Teil dessen, was eine Handlung zur Handlung macht, nicht abbilden. Der biologischen Psychiatrie würden somit entscheidende Informationen fehlen und sie wäre extrem defizitär. Das gilt zumindest, wenn es sich tatsächlich um Kategorienfehler handelt und wenn diese Fehler die von den Kritikern der biologischen Psychiatrie befürchteten Konsequenzen haben. Einschränkend kann aber schon hier konstatiert werden, dass die Konsequenzen ganz erheblich davon abhängen, was man unter einer „Reduktion“ versteht und davon, in welchem Sinne die biologische Psychiatrie reduktiv ist. Das wird als nächstes zu klären sein.
3.3 Reduktion und Elimination Der biologischen Psychiatrie wird immer wieder vorgehalten, sie wolle die Psychiatrie als ein mit der Psyche beschäftigtes Fach „reduzieren“ und in der Folge davon abschaffen. Dieser Vorwurf wird im Gewand ganz uneinheitlicher Terminologie erhoben. Bald wird von „Reduktionismus“ gesprochen, bald von „Materialismus“, „Physikalismus“ oder „Naturalismus“, oft genug gar von „Eliminativismus“. Was damit jeweils gemeint ist, bleibt häufig unklar. So wird z. B. regelmäßig unterschlagen, dass zumindest die Begriffe Materialismus, Physikalismus und Naturalismus jeweils auch mit dem Epitheton „nichtreduktiv“ vorkommen. Ganz unübersichtlich wird es, wenn von „Biologismus“ die Rede ist. Dabei ist es mehr als nur ein kurioses Faktum, dass sich Biologen ihrerseits gegen eine „Reduktion“ ihres Faches wehren.52 Um zu verstehen, in welcher Hinsicht die in der Diskussion stets mitschwingende Gleichsetzung von Reduktion und Elimination nicht nur unterkomplex, sondern auch falsch ist, seien hierzu einige einschlägige Autoren befragt. Im nächsten Abschnitt wird dann vor dem Hintergrund des bis hierher Gesagten eine Antwort auf die Frage gegeben werden, was die biologische Psychiatrie weiß – und ggf. was sie nicht weiß. Selbst wenn Reduktion und Elimination bei Lichte betrachtet ganz unterschiedliche und gegeneinander abzugrenzende Verfahren sind, darf man nicht 52 Siehe z. B. den Sammelband von Regenmortel, Hull 2002.
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erwarten, dass sich in der Literatur eine einheitliche Terminologie etabliert hätte. Rorty verwendet die Ausdrücke beispielsweise in einem engen Zusammenhang, wenn er Identitätsaussagen im Sinne einer Existenzleugnung („disappearance form“) von Identitätsaussagen im Sinne einer Reduktion („translation form“) unterscheidet.53 Allerdings sind weder die Elimination (Existenzleugnung) noch die Reduktion Weisen der Identifikation. Dass eine Identitätsbeziehung keinen Reduktionismus implizieren kann, folgt schon aus der Symmetrie von Identitätsgleichungen: Aus „P = M“ folgt notwendig „M = P“. Es ist damit nicht nur das Mentale mit dem Physischen identisch, sondern auch umgekehrt das Physische mit dem Mentalen. Das bedeutet nicht nur, dass mentale Prozesse physische Eigenschaften haben, sondern auch, dass physische Prozesse mentale Eigenschaften haben.54 Daher ist es unsinnig, wenn Rorty von einer „disappearance form“ der Identitätszuschreibung spricht, denn man kann nicht die Identität zweier „Entitäten“ annehmen, von denen eine gar nicht existiert. Zu behaupten, X sei nichts anderes als Y, um dann im nächsten Schritt zu verkünden, X existiere nicht, ergibt keinen Sinn; die Annahme wäre ja: „Y ist mit etwas identisch, dass nicht existiert“. Man kann jedoch die Identitätsbehauptung fallenlassen und stattdessen allein annehmen, dass mentale Prozesse – als etwas Nichtmaterielles – überhaupt nicht existieren. Das Mentale wird als Mentales aus dem ontologischen Repertoire eliminiert. Die Reichweite einer solchen Elimination kann verschieden ausfallen. Während Feyerabend sich noch auf die These beschränkt, dass eine neue Theorie z. B. weder die Schmerzen ändere noch den Kausalzusammenhang zwischen einem Schmerzerlebnis und der Äußerung „Ich habe Schmerzen“ tangiere, sondern vielmehr deren Bedeutung verändere55, sind Rortys Schlussfolgerungen radikaler. Sein Vorschlag ist, dass wir eigentlich „Meine C-Fasern feuern“ sagen sollten, statt von Schmerzen zu sprechen, auch wenn er durchaus zugibt, dass eine derartige Veränderung unseres Sprachgebrauchs aus ganz pragmatischen Gründen nicht erfolgen wird. Zumindest sei eine Elimination mentalistischer Ausdrücke ohne Informationsverlust möglich.56 Bei Paul Churchland finden sich konkretere Hinweise zum Verhältnis von Reduktion und Elimination. Letztere beruhe darauf, dass unser Alltagsverständnis psychischer Phänomene zu einer Theorie führt, die so radikal falsch ist, dass sowohl ihre Prinzipien wie auch ihre Ontologie durch eine (künftige) vollständige Neurowissenschaft ersetzt werden wird. Unter dieser Ersetzung versteht Churchland explizit keine reibungslose Reduktion, denn der Eliminativist ist „pessimistic about the prospects for reduction“.57 53 54 55 56 57
Rorty 1965, 26. Feyerabend 1963a, 295. Feyerabend 1963b, 58. Rorty 1965, 37. Churchland 1981, 72.
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Während Paul Churchland in seinen frühen Arbeiten noch die gesamte Alltagspsychologie abschaffen möchte, ist der Ton in den später zusammen mit Patricia Churchland entstandenen Arbeiten zumindest bezüglich der Psychologie als akademischem Fach deutlich gemäßigter. Dabei wird, wenn auch auf anderem Wege, einmal mehr deutlich, dass der Reduktionismus als solcher gerade zu keiner Elimination der reduzierten Theorie führt. Der Übergang von der Reduktion zur Elimination wird hier als mehrstufiger beschrieben: Zunächst gibt es (1) Fälle, in denen sich die alte Theorie reibungslos („smoothly“) reduzieren lässt, wobei ihre Ontologie (d. h. die von ihr postulierten Gegenstände und Eigenschaften) erhalten bleibt. Sodann können (2) die alte und die neue (reduzierende) Theorie in einem gespannteren Verhältnis zu einander stehen. In einem solchen Fall bleibt die Ontologie der alten Theorie nur in erheblich modifizierter Form erhalten. Ist auch das nicht möglich, dann wird (3) die alte Theorie und mit ihr deren Ontologie zugunsten der nützlicheren Ontologie und der erfolgreicheren Gesetzmäßigkeiten der neuen eliminiert.58 Der Eliminativist teilt mit dem Antireduktionisten also die These der Nichtreduzierbarkeit, zieht aber andere Schlussfolgerungen daraus. Genaugenommen ist also auch der Eliminativismus ein „nichtreduktiver Materialismus“, sodass man folgende Materialismusvarianten59 unterscheiden muss: a) nichtreduktiver (nichteliminativer) Materialismus60 b) reduktiver (nichteliminativer) Materialismus c) (nichtreduktiver) eliminativer Materialismus Ist wie bei (1) eine reibungslose Reduktion möglich, dann hat das den Churchlands zufolge sogar Vorteile für die höherstufige (reduzierte) Theorie. Sie wird nämlich grundsätzlich bestätigt und ggf. korrigiert, wobei die Reduktion tiefere Einsichten in und bessere Kontrolle über die Phänomene der alten Theorie ermöglicht. Die allgemeinere (reduzierende) Theorie „erbt“ dabei alle Evidenzen, die sich in der alten Theorie angesammelt haben. In diesem Zuge verschafft uns die Reduktion einen einfacheren allgemeinen Zugang zur Natur.61 Vor diesem Hintergrund lässt sich einsehen, dass Reduktion etwas anderes ist als Elimination und dass letztere nicht notwendig auf erstere folgt. In allen Fällen, 58 Churchland, Churchland 1994, 71. Eine andere Strategie wäre es freilich, aus der Nichtreduzierbarkeit die Eigenständigkeit einer Theorie und (wenigstens Teile) ihrer Ontologie zu folgern. 59 Wie zu Beginn dieses Abschnitts angemerkt, werden die Ausdrücke „Physikalismus“, „Materialismus“ und „Naturalismus“ uneinheitlich verwendet. Daher hat der hier verwendete Ausdruck „Materialismus“ die Funktion eines Platzhalters. 60 Der nichtreduktive Materialismus stellt – als Materialismus – zumindest keinen Substanzdualismus dar; welche anderen der zahlreichen Dualismusformen hier angenommen werden könnten, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. 61 Churchland, Churchland 1994, 73.
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in denen die Reduktion wenigstens in Teilen erfolgreich durchgeführt werden kann, ist eine vollständige Elimination sogar ausgeschlossen, da eine ihrer Möglichkeitsbedingungen die Undurchführbarkeit einer Reduktion ist. Zusammen mit der mittlerweile als klassisch anzusehenden Einsicht, dass zwischen einer methodologischen, epistemologischen und ontologischen Reduktion unterschieden werden muss62, lassen sich hieraus wichtige Einsichten hinsichtlich des Wissens und der Wissensgrenzen der biologischen Psychiatrie gewinnen, die im Folgenden ausgearbeitet werden sollen.
4. Was weiß die biologische Psychiatrie? In Abschnitt 2 wurden mehrere mutmaßliche Kategorienfehler identifiziert, die sich – in den Augen der jeweiligen Autoren – auf den Bereich dessen auswirken, was die biologische Psychiatrie wissen kann. Inwiefern diese Vorwürfe berechtigt sind, soll im Licht der Klarstellungen aus Abschnitt 3 nun abschließend untersucht werden.
4.1 Im Dickicht der Kategorienfehler Man stelle sich einen Psychiater vor, der allein anhand neurophysiologischer Untersuchungen herausfinden will, wie sich ein Patient fühlt und unter welchen Stimmungen oder Halluzinationen er leidet. Ihm könnte man viele der besprochenen Kategorienfehler nachweisen. Das wäre indes nur die Karikatur eines Psychiaters. Was einen biologischen Psychiater eigentlich interessiert, ist, welche Hirnvorgänge zu den Symptomen führen, unter denen Patienten leiden. Zu diesem Zweck bedient er sich neurowissenschaftlicher Methoden, mit deren Hilfe er im glücklichen Fall Erklärungen findet, die vordem nicht zur Verfügung standen. Er hofft, auf dieser Grundlage die sich in spezifischen psychischen Symptomen manifestierende Erkrankung des Patienten zu heilen oder wenigstens zu lindern. Dieser Psychiater unterscheidet sich von der Karikatur wesentlich darin, dass er das psychische Erleben seines Patienten ernstnimmt. Eine seiner Maximen ist folgende: Physische Krankheiten werden nicht nach ihren Symptomen eingeteilt (es gibt keine Erkrankung die „stechender Schmerz in der linken Schulter“ heißt), warum sollte dies also bei psychischen Störungen anders sein? Dennoch leugnet er keineswegs die Existenz des Leidens seines Patienten als eines sich psychisch manifestierenden. Wenn beispielsweise Rietschel erklärt, dass psychische Störungen im Grunde somatische Störungen sind, so ist dies entweder als Identitätsaussage oder als eine Churchland-Reduktion der Stufe (1) oder (2) zu lesen. Wie oben angemerkt sind 62 Ayala 1974; Schaffner 2011.
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Identitätsaussagen nur in einem uneigentlichen Sinne reduktiv und sie sind – ebenso wie Reduktionen – nicht eliminativ. Die hier enthaltene ontologische Aussage ist als eine Zurückweisung des Substanzdualismus zu lesen, der auch die meisten antireduktionistischen Autoren zustimmen können. Keineswegs wird damit die kausale Relevanz etwa sozialer Faktoren geleugnet. So heißt es denn auch folgerichtig bei Rietschel: „While I would argue that all mental disorders are in fact somatic disorders (including the brain as an organ), this implies neither that the cause must originate in the soma, nor that conclusions may be drawn concerning the optimal mode of treatment.“63
Bezüglich des Reduktionismusvorwurfs ist also folgende Klarstellung am Platze: Es handelt sich gewiss um einen methodologischen Reduktionismus und ebenso um einen explanatorischen, während von einer ontologischen Reduktion nur bedingt gesprochen werden kann. Wenn Kandel vom Zusammenwirken psychotherapeutischer und pharmakologischer Methoden synergistische Effekte erwartet64, so liegt diesem Gedanken ebenfalls eine Reduktion der Stufe (1) oder (2) zugrunde. Während die erste die Ontologie der zu reduzierenden Theorie noch unangetastet lässt und diese sogar bestätigt, wird sie im Schritt (2) schon verändert, aber im Grundsatz noch immer nicht eliminiert. Ähnliche Aussagen finden sich bei zahlreichen Autoren, denen „Biologismus“ oder „Reduktionismus“ vorgeworfen wird. Eine Elimination besteht nur hinsichtlich etwaiger nichtmaterieller Kausalverhältnisse, zu denen soziale Einflüsse nicht gehören. Wer der biologischen Psychiatrie vorwirft, sie könne nichts über die sozialen Ursachen psychischer Störungen aussagen, der irrt. Zum einen hält ein vernünftiger biologischer Psychiater sie nicht für irrelevant, zum anderen ist er bemüht herauszufinden, wie sich diese Einflüsse im Gehirn niederschlagen. Der Vorwurf notwendiger Kategorienfehler der biologischen Psychiatrie muss vor diesem Hintergrund als unplausibel angesehen werden. Wie geschildert, kann man von der Prämisse, dass Gründe etwas kategorial anderes sind als Ursachen, zu entgegengesetzten Schlüssen gelangen. Szasz nimmt an, Krankheiten seien per definitionem etwas Körperliches, woraus er zusammen mit dem Gründe-Ursachen-Dualismus auf die Nichtexistenz psychischer Krankheiten schließt. Ganz anders schließen Kritiker der biologischen Psychiatrie von diesem Dualismus auf die tatsächliche und von physischen Erklärungen unabhängige Existenz psychischer Störungen. Der kritische Punkt ist in diesem Fall mithin nicht der Gründe-Ursachen-Dualismus selbst, sondern der zugrunde gelegte Krankheitsbegriff.
63 Rietschel 2014, 2. 64 Kandel 1998, 466.
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An dieser Stelle müssen auch der Unterschied von Fakten und Normen sowie die Differenz von biologischen und sozialen (Dys-)Funktionen aufgegriffen werden. Normen – einerlei ob sie sich auf Verhalten beziehen oder auf physische Funktionserwartungen – lassen sich nicht aus biologischen Daten allein ableiten.65 Auch der psychiatrische Antireduktionist kann aus den von ihm angenommenen irreduziblen Entitäten und Vorgängen allein keine Normen ableiten. Psychisches So-und-so-Funktionieren folgt einer anderen Logik als Normen, denen entsprechend etwas funktionieren sollte. Die Probleme des Unterschieds von Fakten und Normen und jenes von biologischen und sozialen (Dys-)Funktionen treffen die biologische und nichtbiologische Psychiatrie daher gleichermaßen. Der unterschiedliche Akzent von beiden ändert daran nichts. Einerseits wird angenommen, die Psychiatrie könne keine Krankheiten beschreiben, weil sie es mit Normen zu tun habe und nicht mit Fakten, auf denen Krankheiten beruhten. Der Verweis auf den Unterschied zwischen biologischen und sozialen Sachverhalten läuft hingegen darauf hinaus, dass das Einhalten oder Verfehlen einer Verhaltensnorm (rein) neurobiologisch nicht beschrieben werden kann; es wird also gerade hervorgehoben, dass es bei der Psychiatrie unter anderem auch um Normen gehe. Wiederum lässt sich aus der Annahme eines bestimmten Kategorienfehlers (oder doch aus zwei sehr ähnlichen) ganz Entgegengesetzes schließen: in einem Fall, dass es psychische Krankheiten nicht gebe, im anderen lediglich, dass sie nicht physischer Natur seien. Zutreffend und folgenreich wäre der Vorwurf des Kategorienfehlers nur, wenn man ihn gegen obigen KarikaturPsychiater vorbrächte.
4.2 Das Wissen der biologischen Psychiatrie Das Wissen der biologischen Psychiatrie ist ihren Kritikern zufolge dreifach begrenzt: (1) Sie kennt entscheidende Kausalfaktoren nicht an, (2) sie kann das subjektive und erstpersönliche Erleben einer psychischen Störung nicht beschreiben, und (3) sie muss in der Konsequenz blind bleiben für nichtphysiologische Behandlungsformen. Die mutmaßlichen Kategorienfehler spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wie ist dieser Vorwurf nun vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen zu beurteilen? (1) Die biologische Psychiatrie kennt lediglich keine rein psychischen Kausalfaktoren im Sinne der mentalen Verursachung. Deren Existenz ist aber ohnehin hochumstritten. Entweder sind Gründe Ursachen oder hängen derart von ihrer physischen Realisierung ab, dass sie als Ursachen wirken können, dann fehlt der biologischen Psychiatrie kein Kausalwissen. Oder aber Gründe sind keine Ursachen, dann sind sie kausal irrelevant und ihr fehlt wiederum kein Kausal65 Hier schließt freilich die Diskussion um Naturalismus oder Normativismus des Krankheitsbegriffs an.
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wissen. Anderenfalls müsste zunächst gezeigt werden können, dass Gründe als Gründe und unter Umgehung physischer Mechanismen kausal wirksam sind, was bislang jedoch nicht gelungen ist und wenig aussichtsreich scheint. Der Vorwurf, die biologische Psychiatrie könne die sozialen und sonstigen Umweltbedingungen psychischer Erkrankungen nicht erfassen und müsse sie folglich leugnen, ist unbegründet. Zum einen lassen sich soziale Bedingungen durchaus innerhalb eines biologischen Ansatzes beschreiben, denn die Biologie beschränkt sich nicht auf die molekulare oder neuronale als einziger Erklärungsebene. Zudem haben soziale Krankheitsfaktoren – Stress, Missbrauch oder andere belastende Lebensumstände – nichts mit mentaler Verursachung zu tun. Auf welche Weise sich Erfahrungen und Lebensumstände neurobiologisch so auswirken, dass eine psychische Störung entsteht, ist eine der zentralen Fragen der biologischen Psychiatrie; schon deshalb wäre die Annahme falsch, sie könne soziale Faktoren nicht berücksichtigen. Der Vorwurf, die biologische Psychiatrie kenne entscheidende Kausalfaktoren nicht, ist somit zurückzuweisen. (2) Auch wenn man eingesteht, dass die Qualiaproblematik aufgrund der Erklärungslücke nicht ohne Weiteres gelöst werden kann, bedeutet dies nicht, dass in der biologischen Psychiatrie kein Platz für die phänomenalen Erlebnisse ihrer Patienten wäre. Dasselbe gilt für die erstpersönliche Perspektive. Zwar lässt sich das So-Sein einer subjektiven Wahrnehmung oder eines Gedankens nicht ausschließlich in neuronalen Netzwerkformeln oder molekularen Vorgängen beschreiben, sein Zustandekommen ist aber kausal zumindest prinzipiell nachvollziehbar. Nach Jaspers bleibt neben dem Erklärbaren und dem Verstehbaren ein „großer Rest von Unbegreiflichem, Unanschaulichem, Unverständlichem“.66 Es sind gerade die sich nach Jaspers dem therapeutischen Verstehen entziehenden „primären Wahnerlebnisse“, deren Entstehungsmechanismen die biologische Psychiatrie auf die Spur zu kommen und die sie verstehbar zu machen sucht. Kendler und Campbell nennen diese Strategie explizit „explanation-aided understanding“.67 Auch wenn es logisch unmöglich ist, die Erste-Person-Perspektive ohne Rest in Begriffen der unpersönlichen Beobachterperspektive auszudrücken, ist doch der Diskursraum der biologischen Psychiatrie nicht auf neurobiologische oder molekulare Termini beschränkt. Vor allem darin liegt das ganze Unglück der Debatte: Die biologische Psychiatrie wird von ihren Kritikern auf etwas heruntergestutzt, das zwar ihre Grundlage darstellt, aber eben nur diese. Darüber hinaus ist einfühlendes Verstehen ebenso möglich wie die Anwendung von Psychotherapien, deren Auswirkungen auf das Gehirn sich bekanntermaßen nachweisen lassen. (3) Damit ist die dritte der mutmaßlichen Wissensbegrenzungen angesprochen. Der biologischen Psychiatrie geht es in erster Linie um die physischen Kausalmechanismen psychischer Erkrankungen. Wie bereits geschildert schließt 66 Jaspers 1919, 82. 67 Kendler, Campbell 2014.
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das nicht aus, soziale Krankheitsmechanismen zu berücksichtigen. Es erzwingt ebenso wenig pharmakologische Therapien. Das bedeutet andererseits nicht, dass die biologische Psychiatrie nicht der Gefahr unterläge, die ihr unterstellten Fehler tatsächlich zu begehen und ihr eigenes Wissen ohne Not zu begrenzen. Sollte es unter dem Einfluss einer zunehmend physisch-funktionalen Deutung des Menschen zum Empathieverlust und zur Vernachlässigung der erstpersönlichen Perspektive kommen, zu einer dogmatischen Ablehnung psychotherapeutischer Verfahren und Verstehensbemühungen, sollte die biologische Psychiatrie lediglich aus Opportunitätsgründen sozialpsychiatrische und sozialpolitische Anstrengungen vernachlässigen, dann wäre sie in der Tat von Übel und von Nachteil für die Patienten. Aus ihrem biologischen Ansatz allein folgt das freilich nicht.68
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Dr. Marco Stier, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universität Münster, Von Esmarch-Str. 62, D-48149 Münster.
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Diskussion
Gettier und kein Ende? Das doxastische Dogma der modernen Wissenstheorie Rainer Enskat
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Band: Das Gettier-Problem. Eine Bilanz nach 50 Jahren (Hrsg. Gerhard Ernst und Lisa Marani) (Mit Beiträgen u. a. von P. Baumann, E. Brendel, G. Ernst, G. Keil, D. Koppelberg, W. Spohn), MentisVerlag, Münster 2013, 222 S.
I Die moderne philosophische Wissens- und Erkenntnistheorie ist 50 Jahre alt. Diesen Zeitraum und diese Gestalt der Wissens- und Erkenntnistheorie sucht das vorliegende Buch in der knappsten Form zu bilanzieren. Das wahre Alter der philosophischen Wissens- und Erkenntnistheorie bemißt sich indessen, wie Baumann, S. 10 f., Bernecker, S. 29, und Koppelberg, S. 147 f., 170 f, 171 f., in allerdings gegen Null tendierenden Reminiszenzen mitteilen, spätestens seit dem Publikationsdatum von Platons Dialog Theaitet.1 Die zu Recht berühmte Wissenscharakterisierung vom Schlußteil dieses Dialoges – Wissen ist begründete bzw. gerechtfertigte wahre Meinung2 – führt in den Diskussionen, die durch Gettiers Miszelle ausgelöst worden sind – zunächst unscheinbar und untergründig wie durch ein Seebeben und schließlich wie in einer riesigen Flutwelle – eher das Scheinleben eines Untoten. Aus einem sich selbst mißverstehenden, eher museal gestimmten Respekt für eine klassische Gestalt der Philosophiegeschichte geistert eine sogenannte Wissensdefinition Platons von Anfang an durch diese Dis1 Die Anspielung auf das einschlägige Schlußstück von Platons Dialog Menon durch Spohn, S. 193 f., dient lediglich der philosophiehistorischen Reminiszenz an einen für Spohn im übrigen nicht weiter diskussionswürdigen Auftakt der „Frage nach dem Wert des Wissens“, ebd.; ebenso Koppelberg, S.170 f. Zu der Frage, wie Platon selbst diesen Auftakt fruchtbar zu machen gewußt hat, vgl. Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1983. 2 Vgl. Tht. 201 c, 202 b–c.
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kussionen. Zwar zeigen diese Diskussionen gerade in ihrer flutwellenförmigen Vervielfältigung und in ihren immer mikroskopischer gewordenen Analysen und wechselseitigen Kritiken ein außerordentliches Maß einer zumindest intradisziplinär geübten Variante der philosophischen Tugend der Skepsis. Allerdings reicht diese intradisziplinäre Form der Skepsis nicht so weit, die Berechtigung der mit Gettier selbst beginnenden Zuschreibung einer sogenannten Wissensdefinition Platons durch einen Blick über die disziplinären Schranken in Zweifel zu ziehen. Denn Platon selbst war der erste, der die Endgültigkeit der formellen Wissenscharakteristik skeptisch erörtert hat, die in seinem Dialog Theaitet als vorläufiges Zwischenergebnis der Gesprächspartner Sokrates und Theaitet festgehalten wird.3 Eine Ausnahme unter den Beiträgen dieses Sammelbandes bildet insofern die Platon-Digression von Geert Keil, S. 110–13.Ein letztes formelles Wort zur Beantwortung der Frage, was Wissen ist, findet sich daher bei Platon – aus welchen Gründen auch immer (vgl. hierzu unten) – ebenso wenig wie in der Gettier-Tradition.4 Es bleibt indessen die Frage, wie gut die Gründe sind, aus denen in beiden Fällen ein solches letztes und sachlich tragfähiges Wort fehlt. Einen Wink in die Richtung zumindest des Typs von Gründen, die man wegen dieser Frage mit Blick auf die Gettier-Tradition inspizieren sollte, bietet der auch in diesem Sammelband nicht fehlende Hinweis auf die Wichtigkeit der beiden vielzitierten Diagnosen Wittgensteins, daß philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert (PU § 38) – also nicht arbeitet! –, und daß die Hauptquelle unseres in solchen Problemen sich zeigenden Unverständnisses eine fehlende Übersicht über unseren Sprachgebrauch sei (§ 122), Ernst, S. 81 ff. Gerhard Ernst selbst kennt anscheinend nur zwei Formen des arbeitenden Gebrauchs der WissensSprache: „Wissen für den Wissenden und … Wissen für den Unwissenden sozusagen“, ebd. Der Unterschied wird von ihm an den Unterschied gebunden, der zwischen „Interesse an Informationsempfängern“ und „an Informationsgebern“, ebd.5, besteht. Einer der Altmeister der sprachanalytischen Philosophie, Gilbert Ryle, scheint in dieser exklusiven Wahrnehmung der Formen, in denen unsere Sprache-des-Wissens arbeitet, mehr tot als lebendig zu sein. Gewiß ist Ryles zu Recht berühmt gewordener Hinweis auf den ordinary-language-Unterschied 3 Vgl. 202d–209c. 4 Zur direkten Verflechtung von Platons verstreuten Wissenserörterungen mit dem genuinen Gettier-Problem vgl. die Interpretationen, Analysen und die radikale konstruktive Gegenkonzeption des Verf., Authentisches Wissen. Was die Erkenntnistheorie beim Platonischen Sokrates lernen kann, in: Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 1998, S. 101–43. 5 Die Theorie von Edward Craig, Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff , Frankfurt/Main 1993, in der dieser Unterschied systematisch ausgearbeitet wird, scheint Ernst nicht zu kennen oder für vernachlässigenswert zu halten.
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zwischen Wissen-daß, Wissen-was und Wissen-wie gelegentlich überbewertet worden und nicht selten vielleicht auch ein wenig zu unbedacht rezipiert worden. Der Philosoph George Edward Moore, der gewiß nicht an einem Mangel an analytischem Scharfsinn für die arbeitende, also die nicht-feiernde ordinary language gelitten hat, hat mit Blick auf die Phrase to get to know allerdings schon eine Generation vor Ryle betont, „this is by far the most important of all the senses of the word ,know“6. Auf derselben Linie wie Moore und Ryle gibt John L. Austin zu bedenken, daß jeder, der einen Anspruch auf Wissen(-daß-p) erhebt, die Frage How do you know? beantworten können müsse.7 Und Ryle spezifiziert dies Know-how offensichtlich, indem er es im selben Atemzug als eine notwendige Bedingung des Know-that und des Know-what zu bedenken gibt: „To know a truth I must have discovered it“8. Dies alles wäre mit Blick auf die Gettier-Tradition der Wissenstheorie vielleicht gar sonderlich wichtig, wenn die Angehörigen dieser Tradition diese und verwandte Überlegungen nicht zunehmend nach dem Pseudo-Kriterium behandeln würden, daß Überlegung eines Philosophen um so veralteter und daher umso diskussionsunwürdiger sind je älter die Texte sind, in denen sie dokumentiert und überliefert sind. Es fällt daher zwar auf, daß Gettier selbst in der allerersten Reaktion auf seine Miszelle auf der Linie von Moore, Austin und Ryle daran erinnert worden ist: „Kowing implies having found out“9, also daran, daß das Herausgefunden-haben-daß-p eine notwendige Bedingung des Wissens-daß-p ist. Doch das unmittelbare Clark-Echo und ebenso die unterschiedlichen Prä-Gettier-Varianten dieser Know-how-Bedingung durch Moore, Austin, Ryle und Clark sind in der Springflut der Gettier-Tradition fast spurlos untergegangen oder – wie die okkasionellen jüngeren Post-Gettier-Varianten10 – wie versprengtes Treibgut mitgeschleppt worden. 6 Georg Edward Moore, Some Main Problems of Philosophy (1910–11), S. 81. 7 Vgl. John L. Austin, Philosophical Papers (11946), Oxford 31990, S. 76–89, 97–111. 8 Gilbert Ryle, Knowing-how and Knowing-that (11946), wieder abgedr. in: ders., Collected Papers vol. II, London 1971, S. 224, Hervorhebungen R.E. Zum formalen Zusammenhang von Wissen, Entdecken und Wahrheit vgl. die Analysen des Verf., Ist Wissen der epistemisch paradoxe Fall von Wahrheit ohne Wissen? Platon, Gettier, Sartwell und die Folgen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 57/3 (2003) S. 431– 45. 9 Michael Clark, Knowledge on Grounds: A Commentary on Mr. Gettiers Paper, in: Analysis 24 (1963), S. 46–48, hier: S. 48. 10 Vgl. z. B. J. Koethe, Stanley and Williamson on Knowing How, in: The Journal of Philosophy 99 (2002), S. 325–328; K. Hawley, Success and Knowledge-How, in: American Philosophical Quarterly 40 (2003), S. 19–31; I. Rumfitt, Savoir faire, in The Journal of Philosophy 100 (2003), S. 158–164; T. Rosefeldt Is Knowing-how Simple a Case of Knowing-that?, in: Philosophical Investigations 27 (2004), S. 370–379; A. No, Against Intellectualism, in: Analysis 65 (2005), S. 278–290; S. Hetherington, How to Know (that Knowledge-That is Knowledge-How), in S. Hetherington (Hrsg.), Epistemology Futures,
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Nicht nur mit Blick auf die 2500 Jahre alten Texte von Platons wirklicher Wissens-Konzeption, noch nicht einmal mit Blick auf die unmittelbare, wenige Jahrzehnte alte Latenz- und Kindheitsgeschichte der Gettier-Tradition hat die wie auch immer hochkultivierte analytische Binnenskepsis der Träger und Förderer dieser Tradition über ihren eigenen intradisziplinären Schatten springen können: Einer Bewährungsprobe, die diesen Namen wirklich verdient hätte, hat sie ihre inzwischen unzähligen Konzeptionen nicht auszusetzen vermocht – der Bewährungsprobe durch die Auseinandersetzung mit den so unscheinar informell daherkommenden Thesen Austins, Ryles und Clarks zur konditional notwendigen Rolle des Wissens-wie für das Wissen-daß-p, das wegen seiner propositionalen Komponente stets auch ein Wissen-was ist. Zu inkommensurabel scheint der kategoriale Unterschied zwischen dem Wissen-wie und den beiden propositionalen Wissensformen zu sein, als daß die Träger und Förderer der Gettier-Tradition auch nur versucht sein könnten, ernsthaft nach einem formalen Zusammenhang zwischen ihnen zu suchen.11 Daran können auch nichts die mehr oder weniger sporadischen Kenntnisnahmen einiger älterer und einiger jüngerer konzeptioneller Versuche einer Know-how-orientierten Gegensteuerung ändern. Sie degenerieren in der Wahrnehmung ihrer Gesprächspartner in der Regel sogleich zu Repräsentanten einer sogenannten „Position … des tugenderkenntnistheoretischen Programms“, Koppelberg, S. 171.12 Was ist dem philosophischen Wissensproblem durch die methodischen und die konzeptionellen Einstellungen der Gettier-Tradition widerfahren?13
Oxford 2006, S. 71–94; ders., Knowing-That, Knowing-How, and Knowing Philosophically, in: Grazer Philosophische Studien 77 (2008), S. 307–324; F. Lihoreau, KnowledgeHow and Ability, in: Grazer Philosophische Studien 77 (2008), S. 263–305; J. Stanley, Knowing (How), in Nous 45 (2011), S. 207–238; J.N. Williams, Propositional Knowledge and Know-How, in: Synthese 165 (2008), S. 107–125. 11 Zu einer kohärenten Erörterung dieses Zusammenhangs vgl. vom Verf. Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, S. 118. 12 Was man einem dem Denken Verpflichteten ansinnt, wenn man ihm eine Position zuschreibt, hat Günther Patzig in einem unnachahmlich trefflichen Aphorismus durch eine Reflexion über Maulwurfshügel klargestellt – vorhersehbarerweise leider ohne nennenswerte Wirkung, vgl. Günther Patzig, Nachwort, in: Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit. Nachwort von Günther Patzig, Frankfurt am Main 1966, S. 85 f. 13 Zu den internen methodischen und konzeptionellen Mißhelligkeiten der GettierTradition, an denen das liegt, vgl. die Analysen des Verf., Methodenprobleme und Scheinprobleme in der Gettier-Tradition der Wissenstheorie, in: Annuario Filosofico 27 (2011), S. 269–30.
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II Selbstverständlich sind auch die Angehörigen dieser Tradition nicht gänzlich blind für Quellen dieses Geschicks: „… bis in die Gegenwart ist die Geschichte der Erkenntnistheorie zu großen Teilen eine Geschichte der philosophischen Untersuchung propositionalen Wissens“, Koppelberg, S. 171, also des Wissensdaß-p und des damit trivialerweise verbundenen Wissens-was. Wenn diese Bestandsaufnahme jedoch mit der Einleitung beginnt „Von Platon bis …“, ebd., dann zeigt sich eine viel wichtigere partielle Blindheit. Denn bei keinem anderen Wissenstheoretiker zeigt sich früher und überzeugender als bei Platon, daß Wissen-daß-p nur derjenige erwerben kann, der mit Hilfe eines dem Sachverhalt-daßp adäquaten Wissen-wie eine zuvor schon erlangte, vielleicht sogar wahre Meinung-daß-p überwinden kann.14 1.) In der wohl prominentesten thematisch einschlägigen Passage der Apologie wird den Handwerkern die kognitive Überlegenheit über die anderen von Sokrates geprüften Wissensambitionen der Politiker und der Dichter mit der Begründung attestiert, das ausschließlich ihr technisches Herstellungs-Knowhow jemand befähigt, selber durch sich selbst zu dem Wissen-daß-p zu gelangen, das die Qualität ihrer Hervorbringungen betrifft15. 2.) In der bekannten Geometrie-Stunde seines Dialogs Menon zeigt Platon, wie Sokrates einem geometrisch gänzlich ungebildeten Sklaven die wahre Meinung vermittelt, daß das Quadrat über der Diagonale eines gegebenen Quadrats doppelt so groß ist wie dies gegebene Quadrat.16 Doch der Weg, auf dem dieser Sklave zu dieser wahren Meinung gelangt, wird von Sokrates gemeinsam mit diesem Sklaven in einer minutiösen sowohl dialogischen wie konstruktiven Schrittfolge zurückgelegt, durch die Sokrates mit Hilfe seines persönlichen Wissens-wie diesem Sklaven durch Zeichnungen und gezielte Fragen zeigt, wie man im Ausgang von einem gegebenen Quadrat – sogar in Form von trial and error – zum Entwurf eines doppelt so großen Quadrats gelangen kann. Anschließend läßt Platon Sokrates sich mit seinem Hauptgesprächspartner Menon darüber verständigen, daß der auch am Ende dieser Geometrie-Lektion (noch) nicht wissende17 Sklave seine okkasionell erworbene wahre Meinung18 erst und nur dann zugunsten eines Wissens überwunden haben wird, wenn er denselben Sachverhalt oftmals immer wieder
14 Vgl. hierzu die vorzüglichen Untersuchungen von Theodor Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum ,Charmides, ,Menon und ,Staat, Berlin/New York 1974, bes. 40 ff. 15 Apologie 21d, 22c, 22c–d, 22d. 16 Vgl. Platon, Men. 82b9–84a2, 84d3–85b7. 17 Vgl. 85c6. 18 Vgl. c6–7.
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von neuem mit Hilfe von Fragen durchdacht hat, so daß er zu diesem Wissen schließlich selbst aus sich selbst gelangt sein wird.19 3.) Dieselbe kognitive Struktur wird am Ende desselben Dialogs durch eine kurze Fallerörterung beleuchtet: Es geht darum, daß jemand durch Zurücklegen des Wegs von Athen nach Larissa Wissen über diesen Weg selbst durch sich selbst erworben hat, aber jemand anders, dem er entsprechende Mitteilungen über diesen Weg macht, dadurch lediglich zu einer wahren Meinung über diesen Wegverhilft.20 4.) In Platons für das Wissens-Problem thematisch zentralem Dialog Theaitet wird derselbe strukturelle kognitive Unterschied mit Hilfe eines forensischen Szenarios beleuchtet: Der Richter, der in einem Prozeß Zeugen verhört, verfügt auf Grund von deren Mitteilungen über den zur Verhandlungen stehenden Sachverhalt im günstigsten Fall über entsprechende wahre Meinungen, jedoch nur ein Zeuge, der ein Augenzeuge dieses Sachverhalts ist, kommt als Inhaber eines selbst durch sich selbst erworbenen Wissens-daß-p wenigstens in Frage.21 Damit zeigen sich die beiden wichtigsten spezifischen Gründe, warum Platon im Schlußteil seines Dialogs Theaitet in der Rolle des Sokrates skeptische Bedenken gegen die zwischen Sokrates und Theaitet scheinbar gewonnene Wissens-Definition entwickelt: 1.) Auch das Verfügen einer Person über eine wahre Meinungdaß-p ist in keinem Sinne konditional dafür, daß diese Person über ein Wissen, daß-p verfügt – auch wahre Meinungen bilden stets nur ein vorläufiges und überwindungsfähiges und -bedürftiges kognitives Zwischenstadium auf dem Weg 19 Vgl. c10–d4. – Jacob Klein, A Commentary on Platos Meno (11969), Chicago/ London 1989, sieht in diesem durch die Selbst-durch-sich-selbst-Phrasen thematisierten Authentizitäts-Aspekt Sokrates „main point“, S. 177, vgl. auch S. 105–06. 20 Vgl. 97a9–b4. 21 Der von Keil, S. 1128, in Erinnerung gerufenen Umstand, daß auch Augenzeugen notorisch nicht irrtumsresistent sind, darf dem sich selbst in der Gestalt des Sokrates als chronisch skeptisch inszenierenden Platon als Inhalt einer Binsenweisheit zugute gehalten werden. Das in Platons Szenario evozierte kognitive Format der Augenzeugenschaft fungiert daher lediglich als Typus eines kognitiven Formats, das das charakteristische wahrnehmungsbasierte Potential enthält, selbst durch sich selbst zu einem Wissendaß-p des durch Augenzeugenschaft zugänglich gewordenen Sachverhalts-daß-p zu erwerben. Keil schneidet in seiner Platon-Digression, S. 110–13, insbesondere das logosProblem aus der vorläufigen Wissenscharakteristik des Theaitet an und verbindet es mit Blick auf Theaitet, 143d8–144a1, 144d8–145a13, mit dem Problem der Beurteilung von Einzelfällen physiognomischer Ähnlichkeit sowie mit Blick auf Theaitet, 208d5 ff., mit der Verallgemeinerung dieses Beurteilungs-Problems. Doch in der von Platon begrifflich noch nicht zureichend aufgehellten Grauzone zwischen Definitions- und Kriterien-Problem des Wissens gehört es als Problem der Beurteilung von Einzelfällen eindeutig in den Umkreis des Kriterien-Problems.
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zum Wissen; 2.) das jeweils inhaltsspezifische Wissen-daß-p, das Personen in exemplarischen Formen selbst durch sich selbst mit Hilfe eines mathematischen Konstruktions-Know-how, mit Hilfe eines alltäglichen Allerwelts-Know-how in Form der Wegekundigkeit oder mit Hilfe einer wahrnehmungsrelativen Zeugenschaft erwerben können, ist in allen Fällen an die notwendige Bedingung eines jeweils sachgebietsspezifischen Know-how gebunden. Die von Platon nicht nur im Dialog Menon verwendete Wendung des von einer Person selbst durch sich selbst erworbenen Wissens hat Nicholas White in seinem Buch Plato on Knowledge and Reality zu Recht zum Ausgangspunkt für The Question of Authenticity in der Wissenstheorie genommen.22
III Was also ist der mit Platons Dialogen beginnenden Auseinandersetzung mit dem philosophischen Wissensproblem durch die Gettier-Tradition widerfahren? Wenn, wie Koppelberg zu bedenken gibt, die Gettier-Tradition von einer Konzentration auf das propositionale Wissen-daß-p dominiert wird, dann trifft man mit Blick auf Moores, Austins, Ryles, Clarks und Platons Wissenskonzeptionen in einem präzisierbaren Sinne lediglich ein Drittel der Wahrheit über dies Widerfahrnis. Das zweite Drittel dieser Wahrheit gibt ebenfalls Koppelberg zu bedenken, wenn er betont, daß das Zentrum des Streits innerhalb der GettierTradition die Spezifikation der Rechtfertigung betrifft, auf die kognitive Einstellungen wie die Meinung-, Überzeugung-, oder Gewißheit-daß-p einer Person angewiesen sind, falls eine solche Einstellung eine notwendige Bedingung ihres Wissens-daß-p bildet, vgl. Koppelberg, S. 148 f.23 Doch das dritte Drittel dieser Wahrheit kann Platon zu bedenken geben, indem er im Haben auch einer wahren Meinung-daß-p überhaupt keine irgendwie konditionale Rolle für das Wissendaß-p sieht. Wenn Platon dies zu bedenken gibt, dann ist dies selbstverständlich nicht zwingend dafür, die Meinungs-Bedingung für das Wissen-daß-p fallen zu lassen. 22 Vgl. Nicholas White, Plato on Knowledge and Reality, Indianapolis 1976, S. 200– 01, sowie S. 37 f. – Zu einem systematischen Vorschlag, das propositionale Wissen-daß-p formal strikt mit der klassischen unstrittigen Wahrheitsbedingung, der Know-how-Bedingung Platons, Moores, Austins, Ryles und Clarks sowie mit vier weiteren Know-howspezifischen Bedingungen zu verflechten, vgl. vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Wissenstheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, vor allem 1.–3. Kap. sowie darin vor allem die schrittweise komplettierte Wissenscharakteristik S. 76 f., 124 f. 23 C. Sartwell, Knowledge is Merely True Belief, in: American Philosophical Quarterly 28 (1991), S. 157–165; ders., Why Knowledge is Merely True Belief, in: The Journal of Philosophy 89 (1992), S. 167–180, hat diese Kontroverse dadurch zu beenden gesucht, daß er Gründe entwickelt hat, die Rechtfertigungsbedingung fallen zu lassen.
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Doch es kann auch dann, wenn man kein sogenannter Platoniker oder dogmatischer Advokat von Klassikern der Philosophie ist, immer noch einen ernst zu nehmenden Anlaß bieten, nach einem Aspekt zu suchen, unter dem Platons unmißverständliche Einstellung in diesem Punkt es aus sachlichen Gründen nötig macht, die in der Gettier-Tradition – und in dem vorliegenden Sammelband – gänzlich unbezweifelte konditionale Rolle der (wahren) Meinung-daß-p für das Wissen-daß-p auf den Prüfstand zu stellen. Dieser Aspekt ergibt sich aus einer an sich ganz einfachen Kohärenz- und Konsistenz-Prüfung, die zwei gänzlich unbestrittene Prämissen nicht nur der Gettier-Tradition, sondern der gesamten Geschichte des philosophischen Wissens-Problems betrifft: 1.) Wissen-daß-p impliziert (aus begriffsanalytischen Gründen), daß es wahr ist, daß-p – also: Wenn S weiß, daß-p, dann p; 2.) Meinungdaß-p impliziert (aus begriffsanalytischen Gründen, also wegen der strukturellen Irrtumsanfälligkeit von Meinungen), daß es entweder wahr ist, daß-p, oder daß es falsch ist, daß-p – also: Wenn S meint, daß-p, dann entweder p oder nicht-p. Die Meinungs-Prämisse macht darauf aufmerksam, daß 3.) Wissen-daß-p (aus begriffsanalytischen Gründen) nicht impliziert, daß entweder p oder nicht-p. Wenn unter diesen Voraussetzungen das Haben einer Meinung-daß-p im Rahmen einer begrifflichen Wissenscharakteristik als (notwendige) Bedingung fungiert, dann gilt innerhalb dieses Rahmens, daß Wissen-daß p nicht impliziert, daß entweder p oder nicht-p, und im selben Atemzug – via Meinung-daß-p –, daß entweder p oder nicht-p impliziert wird. Daher ist jede Wissenscharakteristik widersprüchlich, in der die Meinung-daß-p irgendeine konditionale Rolle spielt.24 Da die Beiträge zu dem vorliegenden Sammelband durchweg, wenngleich in komplexen begrifflichen, kriteriologischen und argumentativen Formen an der konditionalen Rolle der Meinung-daß-p für das Wissen-daß-p festhalten,25 bieten sie in ihrer Ge24 Daran kann auch der vielleicht naheliegende Einwand nichts ändern, daß auch das Implikat p des Wissens-daß-p aus junktorenlogischen Gründen impliziert, daß entweder p oder nicht-p. Denn das junktorenlogische Implikat ergibt sich aus extensionalistischwahrheitswertsemantischen Gründen, das unmittelbare Implikat p des Wissens-daß-p ergibt sich stattdessen ganz sachgemäß aus intensionalistisch-begriffsanalytischen Gründen. Es ist daher gar nicht charakteristisch für den Begriff des Wissens. – Eine kontextsensible, die dialogischen Rollen in Platons Dialogen mikroskopisch analysierende Interpretation dürfte genügend viele und genügend starke Indizien sammeln können, die dafür sprechen, daß sich auch Platon an einer nicht unmittelbar auf der Oberfläche der Sprache liegenden Inkonsistenz zwischen dem wahrheitsgarantierenden Wissen, daß-p, und der irrtumsanfälligen Meinung, daß-p, orientiert. 25 Daß und inwiefern Überzeugungen-daß-p, Gewißheiten-daß-p, Sicherheiten-daßp, Evidenzen-daß-p und andere nicht-wissensförmige propositionale kognitive Formate durchweg zum kognitiven Format der Meinung-daß-p gehören und sich ausschließlich durch die formalen Qualitäten der rechtfertigenden Gründe unterscheiden, hat Roderick Chisholm, Erkenntnistheorie (amerik. 11966), München 1976, plausibel gemacht.
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Gettier und kein Ende? Das doxastische Dogma der modernen Wissenstheorie
samtheit nicht nur eine auf hohem analytischem Niveau präsentierte Bilanz und Fortsetzung der bisherigen Gettier-Tradition. Sie bilden auch ein unmittelbar an diese Tradition gebundenes weiteres Symptom für die Zählebigkeit des inkonsistenzträchtigen doxastischen Dogmas dieser modernen wissenstheoretischen Untersuchungsrichtung.26 Doch vielleicht ist ja die Know-how-basierte Wissenskonzeption in der sporadischen Tradition Platons trotz ihres hohen Alters lebenstüchtiger als es die doxastisch fixierten Wissenskonzeptionen sind. Daß die Kontroversen um diese Konzeptionen in der jünger als jugendlichen GettierTradition zumindest an Lebendigkeit kaum noch zu überbieten sind, kann allerdings nicht gut bezweifelt werden. Prof. Dr. Rainer Enskat, Emil Abderhalden-Straße 26/27, 1. OG, 1.47.0, D-06108 Halle (Saale).
26 Zu einer ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit besonders potenten Wissenskonzeptionen der Gettier-Tradition vgl. vom Verf., Methodenprobleme und Scheinprobleme in der Gettier-Tradition der Wissenstheorie, in: Annuario Filosofico 27 (2011), S. 269–300.
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