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German Pages [165] Year 2019
Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Herausgegeben von/Edited by Jörg Hardy, Oliver R. Scholz
Advisory Board: Ruben Apressyan, Kurt Bayertz, Dieter Birnbacher, Dagmar Borchers, Shan Chun, Wolfgang Detel, Stefan Gosepath, Thomas Gutmann, Christoph Horn, Ivan Mikirtumov, Michael Quante, George Rudebusch, Peter Schaber, Reinold Schmücker, Gerhard Schurz, Ludwig Siep, Katja Stoppenbrink, Roman Svetlov, Holm Tetens, Paul Woodruff
Call for papers. Applied Philosophy is a peer-reviewed journal. The journal is published annually. Deadline for papers is July 31. The languages of publication are English, German, and French. Please send articles and correspondence regarding editorial matters to either: Oliver R. Scholz: [email protected], or Jörg Hardy: [email protected]
Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal
Heft/Volume 1|2018 herausgegeben von/edited by Rainer Enskat, Oliver R. Scholz
Wissenschaft und Aufklärung / Science and Enlightenment
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-8404 ISBN 978-3-7370-0947-8
Inhalt Themenschwerpunkt: Wissenschaft und Aufklärung / Science and Enlightenment Rainer Enskat Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Enskat / Vera Keiser-Morgenweck Wie die Kernspaltung entdeckt wurde. Ein Paradigma wissenschaftsinterner Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Hucklenbroich Aufklärung durch Wissenschaft – am Beispiel des Krankheitsbegriffs der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oliver R. Scholz Vorläufige Urteile statt Vorurteile – Zur Kritik neuerer Versuche einer Rehabilitierung des Vorurteils in den Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . .
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Dieter Birnbacher Wie »pragmatisch« dürfen Explikationen des Begriffs »Tod des Menschen« sein? Überlegungen anlässlich der Vierten Fortschreibung der Richtlinien für die Todesfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Charpa La vertu du savant – Selbstaufklärung der Wissenschaft als Fortschrittsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Jens Gillessen Aufklärung durch die Klimawissenschaften. Worüber und wozu? . . . . . . 127 Michael Hampe Gibt es eine Dialektik der Informationstechnologie? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Themenschwerpunkt: Wissenschaft und Aufklärung / Science and Enlightenment
Vorwort Rainer Enskat
Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift für Angewandte Philosophie knüpft mit ihrem Schwerpunktthema Wissenschaft und Aufklärung unmittelbar an das Schwerpunktthema Aufklärung heute des Jahrgangs 2016 an. Sie konzentriert sich damit auf ein Spannungsfeld von Problemen, das in nahezu programmatischer Form durch philosophierende Autoren des 18. Jahrhunderts – vor allem durch Montesquieu, Rousseau und die maßgeblichen Autoren der Encyclop#die d!Alembert und Diderot – eröffnet worden ist und die Bemühungen um Klärung des Aufklärungsproblems bis heute in Atem hält. Drei mehr oder weniger inkommensurable Grundauffassungen kommen in diesem Spannungsfeld immer wieder von neuem zum Tragen. Einerseits wird zu bedenken gegeben, dass die kognitiven Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung selbst die bedeutsamsten Beiträge zur Aufklärung bilden. Es wird darüber hinaus aber auch zu bedenken gegeben, dass diese Form des Fortschritts als Muster bzw. Modell für Formen der Aufklärung außerhalb der Wissenschaften in Frage kommt. Von diesen beiden Auffassungen grundverschieden ist die Auffassung, die die Aufklärung grundsätzlich nur von den Fortschritten abhängen sieht, die den Menschen in ihren genuin praktischen Beurteilungen dessen gelingen, was unmittelbar für ihre alltägliche Lebenspraxis aus utilitären, moralischen, rechtlichen bzw. politischen Gründen in mehr oder weniger erheblichem Maß gut ist. Diese Auffassung von praktischer Aufklärung schließt die Fortschritte ein, die ihnen bei der Beurteilung dessen gelingen, was für ihre alltägliche Praxis aus utilitären, moralischen, rechtlichen bzw. politischen Gründen wert ist, gewusst und, sobald es gewusst wird, auch in praktischen Gebrauch genommen zu werden. In den acht Beiträgen zum aktuellen Schwerpunktthema werden diese drei Grundauffassungen mit Blick auf unterschiedliche wissenschaftliche Forschungsfelder fruchtbar gemacht. Rainer Enskat und Vera Keiser machen am Beispiel der bis heute kontroversen Entdeckerschaft der Kernspaltung auf eine außerordentlich komplexe kognitive
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Rainer Enskat
Struktur aufmerksam. Diese Struktur stempelt diese Entdeckung im Spannungsfeld zwischen Kernchemie und Kernphysik nicht nur zu einem außerordentlichen Beispiel wissenschaftsinterner Aufklärung, sondern aus präzisierbaren wissenschaftsgeschichtlichen Gründen sogar zu einem Paradigma einer wissenschaftsinternen Form von Dialektik der Aufklärung. Peter Hucklenbroich gibt am Leitfaden der jüngsten Entwicklungen in der medizinischen Krankheitslehre zwei Aufklärungspotentiale zu bedenken: Zum einen kann die Philosophie der Medizin nur durch aufmerksame Kenntnisnahmen dieser Entwicklungen die disziplineninterne Auflärung gewinnen, deren sie bedarf; vor allem aber profitiert die wichtigste, die praktische Form der Aufklärung von diesen Fortschritte – die diagnostische und therapeutische Sorge des Arztes um seinen individuellen Patienten ebenso wie der diagnostische und therapeutische Nutzen eben dieses Patienten. Oliver R. Scholz gewinnt aus der klassischen, also der vorbildlichen Tradition der Vorurteilskritik des achtzehnten, des Taufjahrhunderts der Aufklärung die Potentiale, um Fehlentwicklungen entlarven zu können, durch die im zwanzigsten Jahrhundert sowohl Theorien der Geisteswissenschaften wie solche der Naturwissenschaften auf Abwege einer grundsätzlichen Rehabilitation der methodischen Rolle von Vorurteilen verführt worden sind. Dieter Birnbacher plädiert am Leitfaden der jüngsten klinischen Fortschritte zur Datierung des Todes eines Menschen dafür, in dieser wahrhaft existenziellen Frage einen entsprechend bedeutsamen medizininternen Fortschritt der Aufklärung zu verzeichnen. Ulrich Charpa erinnert am Leitfaden paradigmatischer wissenschaftshistorischer Zäsuren an die seit langem kontinuierlich gewordene wissenschaftsinterne fortschrittliche Verschränkung von Wissen, Können, Leistung, Rationalität und Personalität. Er mahnt daher, diese »letzte Bastion der aufklärerischen Vorstellung menschheitlichen Fortschritts« keinesfalls aufzugeben, weil verführerische Rhetoriken versuchen, diese unübersehbaren wissenschaftlichen Fortschritte durch verzerrende Darstellungen ihrer unaufhörlichen produktiven Brüche ins Zwielicht von modischen Wandlungen zu rücken. Jens Gillessen macht am Leitfaden der wissenschaftlichen und der öffentlichpolitischen Kontroversen um die Frage des Klimawandels auf die Wichtigkeit aufmerksam, die den Bemühungen um die Form der Aufklärung zukommt, deren das Publikum ebenso wie die politischen Amtsinhaber bedürfen, um in solchen Kontroversen zwischen Wissenschaft und Praxis zu abgewogenen und angemessenen politischen Urteilsbildungen zu gelangen. Michael Hampe zeigt unter Rückgriff auf das Wirklichkeitsverständnis John Deweys, daß und inwiefern die Auffassung unaufgeklärt ist, ein historischer Verlauf, dessen Anfang z. B. durch das Ideal der Aufklärung geprägt ist, sei eindeutig durch diesen Anfang und sein Ideal geprägt. Insgesamt bewährt sich durch die hier dokumentierten Beiträge die schon von Aristoteles zur Sprache gebrachte Erfahrung, daß auch die für philosophische
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Vorwort
Erörterungen und Theorien zentralen Worte in vielfacher Bedeutung gebraucht ˜ & le´getai. Die Bedeutung des Wortes Aufklärung scheint sich werden – pollacw glücklicherweise nicht in allzu viele Bedeutungen zu zerstreuen. Es scheint vor allem eine einzige allgemeine und eine einzige spezielle, vor allem kognitive Bedeutung zu haben: In der allgemeinen, funktional relativierten Bedeutung beschert jede Aufklärung Einsichten, Erkenntnisse, Entdeckungen und andere kognitive Erfolge, die unter bestimmten Aspekten und im Licht bestimmter Kriterien sowie auf bestimmten Feldern menschlicher Erfahrung unvergleichlich wichtig oder bedeutsam sind; in der speziellen, geradezu absoluten Bedeutung sind diese Einsichten, Erkenntnisse, Entdeckungen und anderen kognitiven Erfolge von unvergleichlicher praktischer, also utilitärer, rechtlicher, politischer bzw. moralischer Wichtigkeit bzw. Bedeutsamkeit, weil sie für das praktische Leben aller Menschen wichtig bzw. bedeutsam sind. Der Gastherausgeber dankt Oliver R. Scholz für das Zutrauen, die Beiträge zu diesem Themenheft zu organisieren, aber auch für den Vorzug, meinen mit der Chemikerin und Wissenschaftshistorikerin Vera Keiser gemeinsam erarbeiteten Beitrag dieses Heft eröffnen zu lassen.
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Wie die Kernspaltung entdeckt wurde. Ein Paradigma wissenschaftsinterner Dialektik der Aufklärung Rainer Enskat / Vera Keiser-Morgenweck1 Zum 50. Todesjahr von Otto Hahn und Lise Meitner
1. Irritationen und Irreführungen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung Im Preface ihrer einflußreich und öffentlichkeitswirksam gewordenen Lise Meitner-Biographie behauptet die amerikanische Chemikerin und Wissenschaftshistorikerin Ruth Sime: »By any normal standard of scientific attribution, there would have been no doubt about Meitner!s role in the discovery of fission«2 – kein Zweifel nämlich über ihren Status zumindest als Mit-Entdeckerin der Atomkernspaltung. Doch welches ist ein normal standard, an den Sime appelliert? Viele Publikationen3 anläßlich der 75. Jahreswende 2013–2014 der Entdeckung der Atomkernspaltung haben einmal mehr bewußt gemacht, daß in diesem Fall die Einschätzungen, wer als Entdecker der Kernspaltung gelten kann, heute kontroverser denn je sind: War es Otto Hahn alleine?4 Oder waren Hahn und Fritz Straßmann gemeinsam die Entdecker? Oder ist außerdem Lise Meitner eine Mitentdeckerin?5 Sime behauptet, daß Hahn Meitners Anteil an der Entdeckung der Kernspaltung bewußt unterdrückt habe.6 Wenig ernst zu nehmende, aber öffentlichkeitswirksame Web-Autoren in den USA sehen Meitner sogar als ein1 Besonderen Dank schulden wir Martin Trömel (Universität Frankfurt), Günter Herrmann und Norbert Trautmann (Institut für Kernchemie, Mainz), Friedrich Begemann (Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz), Gunnar Berg und Peter Grau (Institut für Physik, Universität Halle) für wertvolle kritische und informative Hinweise und Ergänzungen. 2 Ruth Lewin Sime, Lise Meitner – A Life in Physics, Berkeley 1996, S. X. 3 Beispiel: Susanne Rehn: »Diese Ergebnisse ließen Hahn und Straßmann zunächst ratlos zurück«, in: Kultur und Technik, Nr. 3, 2013, S. 19–23, hier S. 20. Nach dieser Darstellung fanden Hahn und Straßmann Barium, ohne daß sie sich erklären konnten, was passiert sein könnte. Dies hätte ihnen Lise Meitner erklärt. Video: www.3sat.de/ mediathek/?mode=play&obj=40639. 4 Beispiel: Walter Gerlach: »…welche Rolle [der] Entdecker [der Kernspaltung] in der Naturwissenschaft spielte [und] wie er zu seiner Entdeckung kam« (1969), Walter Gerlach, Dietrich Hahn (Hrsg.), Otto Hahn. Ein Forscherleben unserer Zeit, Stuttgart 1984, hier S. 13. 5 Fritz Straßmann, Kernspaltung – Berlin, Dezember 1938, Mainz 1978, hier: S. 23. 6 Sime, Meitner, S. Xff.
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Wie die Kernspaltung entdeckt wurde
zige Entdeckerin.7 Es gibt auch Autoren, für die es – mit Otto Robert Frisch – insgesamt vier gleichberechtigte Entdecker der Kernspaltung gibt.8 Hahn selbst hat stets nur Straßmann und sich selbst als die Entdecker bezeichnet, ebenso wie auch Lise Meitner diese beiden als solche gesehen hat.9 Lise Meitner und Otto Robert Frisch konnten die von Hahn und Straßmann entdeckte Tatsache der Kernspaltung als erste physikalisch erklären und diese Erklärung auch als erste veröffentlichen. Doch misslich ist nicht nur, daß Sime nicht unmissverständlich klarstellt, welches konkret und genau die normal standards, also die ›normalen‹ Kriterien zur Beurteilung des Entdecker-Status nach ihrer Auffassung sind. Misslich ist noch weit darüber hinaus, daß die Auffassung dieser Kriterien in der jüngeren Wissenschaftsgeschichtsschreibung durch eine Fehlkonzeption Thomas S. Kuhns auf einen Holzweg geführt worden ist. In seinem Aufsatz Die historische Struktur wissenschaftlicher Entdeckungen formuliert er: Ich komme zu dem Ergebnis, daß man zur Analyse von Ereignissen wie der Entdeckung des Sauerstoffs einen neuen Wortschatz und neue Begriffe braucht. Der Satz der Sauerstoff wurde entdeckt ist zwar sicher richtig, aber insofern irreführend als er den Eindruck erweckt, eine Entdeckung sei eine einzige einfache Handlung, die eindeutig einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschrieben werden könnte, wenn man nur genügend Kenntnisse besitze. … Beobachtung und theoretische Erfassung, Tatsache und Einbau der Tatsache in die Theorie sind mit wissenschaftlicher Neuentdeckung untrennbar verbunden.10
Und in seinem nun fast schon legendären Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen11 betont er, »wie eng tatsächliche und theoretische Neuheiten bei einer wissenschaftlichen Entdeckung miteinander verschlungen sind« (unsere Hervorhebung), sowie, daß zumindest die in dieser Hinsicht interessantesten 7 Beispiele: science.org/meitner/2011, www.neatorama.com/2007/10/04/lise-meitnermother-of-the-atom-bomb. 8 Beispiel: Martin Trömel: »Der Zerfall des Urankerns in große Bruchstücke, den Hahn und Straßmann bei ihren chemischen Versuchen erkannt hatten, … erforderte eine Erklärung, und erst mit dieser war die Entdeckung vollständig«, Vera MorgenweckLambrinos, Martin Trömel, 2000. Lise Meitner, Otto Hahn und die Kernspaltung: eine Legende aus unseren Tagen. NTM 8, S. 65–76, hier S. 66. 9 »Als besonders interessanter Abschluß dieser Arbeitsrichtung bietet sich von selbst die Hahn-strassmannsche Entdeckung der Uranspaltung dar«, Lise Meitner, Otto Hahn. Der Entdecker der Uranspaltung, in: Hans Schwerte, Wilhelm Spengler, Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa, Oldenburg, Hamburg, S. 149–157, hier S. 149. 10 Thomas S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/M. 1978, S. 239–53, hier S. 243 f., unsere Hervorhebungen. 11 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (amerik. 11962), Frankfurt/M. 1962, S. 80, unsere Hervorhebungen.
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»Entdeckungen … nicht isolierte Ereignisse, sondern ausgedehnte Episoden … sind«).12 Doch die naturalistische Metaphorik dieses Eng-miteinander-Verschlungenseins führt systematisch in die Irre: ›Tatsächliche und theoretische Neuheit bei einer wissenschaftlichen Entdeckung‹ mögen noch so eng miteinander verschlungen sein; ›Beobachtung und theoretische Erfassung, Tatsache und Einbau der Tatsache in die Theorie bei den zumindest interessantesten Entdeckungen‹ mögen noch so untrennbar verbunden sein und untrennbare ›Episoden‹ bilden. Denn alles derartige enge Miteinander-verschlungen-sein, untrennbare Verbundensein und untrennbare Episodische hindert nicht im geringsten daran, den trennscharfen Unterschied zwischen 1.) mehr oder weniger weitläufigen und methodisch komplizierten Untersuchungen, die zu einer Entdeckung führen, und 2.) dem Erfolg zu respektieren, der schließlich in der Form einer mehr oder weniger anspruchsvollen Entdeckung von irgendjemand erzielt wird. Kuhns Thesen scheitern also schon an der Vernachlässigung des dreizehn Jahre zuvor von Gilbert Ryle geprägten, außerordentlich wichtigen linguistischen Unterscheidung zwischen Unternehmensworten (achievement-words) und Erfolgsworten (success-words).13 Doch Worte wie Entdeckung, Erkenntnis, Lernen u. ä. sind offensichtlich Erfolgsworte, Worte wie Beobachten, Untersuchen, Forschen u. ä. indessen Unternehmensworte. Jenseits dieser elementaren, wenngleich bedeutsamen linguistischen und begrifflichen Klärung kommt es daher vor allem darauf an zu klären, mit welchen Kriterien Antworten auf Fragen nach dem Status von Personen zu beurteilen sind, denen von ihnen selbst oder von anderen Personen der Status von Entdeckern, also von mehr oder weniger erfolgreichen Suchern, Untersuchern oder Forschern attestiert oder abgesprochen wird. Nicht nur im Fall der Entdeckung der Kernspaltung kommt es nicht nur auf sachgebiets-spezifische Beurteilungskriterien an, die sowohl der Chemie wie der Physik gerecht werden müssen. Eine dem Entdecker-Status als solchem angemessene Beurteilung ist nur dann möglich, wenn es gelingt, auch solche Kriterien zu beteiligen, die gegenüber den sachgebiets-spezifischen Methoden, Theorien und Begriffen der Chemie und der Physik neutral sind. Dieses Erfordernis ergibt sich daraus, daß der Begriff der Entdeckung gar kein spezifisch wissenschaftlicher Begriff ist. Menschen machen immer wieder einmal innerhalb ihrer Umwelt mehr oder weniger bedeutsame Entdeckungen. Eben deswegen charakterisiert der 12 a.a.O. S. 80. 13 Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind, Chicago 11949, bes. S. 223 f. Es ist ein schönes Zeichen für Kuhns Bereitschaft zu radikaler Selbstkritik, daß er in einem Gespräch mit Paul Hoyningen-Huene Anfang September 1995 in München über sein dreiunddreißig Jahre früher verfaßtes Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen geäußert hat: »Mein Gott, war ich damals philosophisch naiv«, zitiert bei: Paul Hoyningen-Huene, Thomas Kuhn und die Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001), S. 1–12.
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Wie die Kernspaltung entdeckt wurde
Begriff der Entdeckung einen kognitiven Erfolg, dessen Struktur mit Hilfe entsprechender Kriterien auch unabhängig von den sachgebiets-spezifischen Feldern wissenschaftlicher Tätigkeiten charakterisiert werden können muss. Um die Klärung solcher Kriterien bemühen sich in der Philosophie vor allem die Spezialdisziplinen der Logik, der Erkenntnistheorie und der Handlungstheorie.14 Sie sind planmäßig auf die Klärung von formalen, sachgebiets-neutralen Kriterien für die Beurteilung des Entdecker-Status konzentriert. Nicht nur in der Diskussion speziell um die Entdeckung der Kernspaltung erscheinen diese Kriterien jedoch in einem außerordentlich diffusen Licht. Hier spielt vor allem Kuhns Verwerfung der Auffassung eine wichtige Rolle, »eine Entdeckung sei eine einzige einfache Handlung, die eindeutig einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschrieben werden könnte«.15 Gegen welche Entdeckungskonzeptionen auch immer Kuhn sich mit dieser Charakterisierung abgrenzen mag – am ehesten wird hierfür wohl eine psychologisierende Konzeption eines augenblickshaften Erlebnisses einer überraschenden neuen Erkenntnis in Frage kommen. In jedem Fall ›schüttet er das Kind mit dem Bad aus‹ – ›das Kind‹ – das ist die aus welchen Untersuchungen und Forschungen auch immer resultierende erstmalige Formulierung des Inhalts einer Entdeckung – mit ›dem Bad‹ – das ist die ›ausgedehnte‹ historische ›Episode‹ der mehr oder weniger komplizierten Wege und der mehr oder weniger langen Dauer einer wissenschaftlichen Untersuchung oder Forschungsrichtung. Die Eigenstruktur einer Entdeckung ist jedoch an eine Anzahl formaler sprach- und logikabhängiger Charaktere gebunden: 1.) Eine Entdeckung wird durch den Akt der sprachlichen Formulierung eines mehr oder weniger komplexen Satzes oder Satzgefüges formuliert; 2.) die Formulierung einer Entdeckung durch ihren individuellen Prätendenten folgt den teils grammatischen und teils logischen Regeln einer konventionellen Sprache einer Expertengemeinschaft – und seien es die einer Sprache der Expertise der Alltagserfahrung; 3.) ein Entdeckungsanspruch ist mit dem Anspruch auf erstmalige Erkenntnis eines objektiv bestehenden Sachverhalts verbunden; 3.1) der Anspruch auf Erkenntnis eines objektiv bestehenden Sachverhalts ist auf die Bewährung durch in methodisch-kognitiver Hinsicht ebenbürtige Personen angewiesen; 3.1.1) die wichtigste Bewährungsprobe besteht in der über die Entdeckung einer Tatsache hinausgehende Entdeckung der Erklärung der schon vorher entdeckten Tatsache – man kann noch nicht einmal versuchen, Tatsachen zu erklären die noch von niemand entdeckt worden sind. Wie 14 Vgl. Rainer Enskat, Wahrheit und Entdeckung, Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte, Frankfurt/Main 1986, außerdem die komprimierenden Thesen: ders., Über Wahrheit und Entdeckung. Thesen zur Erkenntnistheorie und zur Ontologie, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2, Band 8 (1983), S. 19–47; weitergeführt und verallgemeinert in: ders., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005. 15 Kuhn, Entstehung, S. 243.
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langwierig die Untersuchungen der ›ausgedehnten Episoden‹ (Kuhn) jeweils auch sein mögen, durch die eine Entdeckung gewonnen wird, ist daher für die Eigenstruktur des Entdeckungsakts ohne Belang. Doch alle diese für die Struktur einer Entdeckung maßgeblichen formalen Charaktere verschwimmen jedenfalls und zumindest im Streit um die Entdeckerschaft der Kernspaltung in einem diffusen Licht von ungeklärten bzw. polemisch über- bzw. unterbelichteten Voraussetzungen über diese Charaktere. Für die Beurteilung der Entdeckerschaft der Kernspaltung macht sich der Artikel daher drei einander ergänzende Typen von Kriterien zunutze: 1.) formale, sachgebiets-neutrale Kriterien der Logik, der Erkenntnistheorie und der Handlungstheorie, 2.) sachgebiets-spezifische Sub-Kriterien der Chemie und der Physik sowie 3.) wissenschaftsspezifische Sub-Kriterien der Wissenschaftstheorie. Unter Zuhilfenahme von Aspekten von Logik, Erkenntnistheorie und Handlungstheorie und ihrer Abstimmung auf die spezifische Chemie- bzw. Physik-Situation von Hahn und Straßmann bzw. von Meitner und Frisch gibt die vorliegende Analyse eine differenzierte, von expliziten Kriterien geleitete Antwort auf die Frage, wer die Kernspaltung auf welchem Weg entdeckt hat. Die komplizierten Irritationen und Irreführungen, denen sowohl Physiker wie Chemiker und Wissenschaftshistoriker mit Blick auf die Beurteilung der Entdeckung der Kernspaltung sowie auf deren Vor- und Nachgeschichte ausgesetzt waren und teilweise immer noch sind, bilden lediglich Oberflächensymptome einer entsprechend komplexen kognitiven Tiefenstruktur. An dieser Tiefenstruktur sind zwei Komponenten beteiligt, die der Entdeckung der Kernspaltung eine paradigmatische doppelte Prägung verleihen: Durch den einen Teil dieser Prägung erweist sie sich als ein paradigmatischer Fall von wissenschaftsinterner Selbst-Aufklärung, durch den anderen Teil in einem präzisierbaren Sinne als ein paradigmatischer Fall sogar von Dialektik der Aufklärung (vgl. hierzu unten S. 16–17).
2. Was war geschehen?16 Seit 1934 entdeckt wurde, daß durch Bestrahlung des Urans mit Neutronen künstliche Elemente schwerer als Uran entstehen, waren – auf Lise Meitners Anregung – am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin Hahn, sie selbst und Fritz Straßmann damit beschäftigt, weitere ›Transurane‹ zu erforschen. Die Chemikerin Ida Noddack hatte zwar schon 1934 zu bedenken gegeben, daß ein Zerbersten des Atomkerns in viele kleinere Teile nicht ausgeschlossen werden 16 Vgl. Vera Keiser, Die zeitliche Abfolge der Erkenntnisse im Prozess der Entdeckung der Atomkernspaltung. Eine kommentierte Zusammenstellung der Primärquellen, in: dies. (Hrsg.), Radiochemie, Fleiß und Intuition. Neue Forschungen zu Otto Hahn, Berlin 2018.
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könne. Doch die Kernphysiker hatten plausible theoretische Gründe, die einer solchen Annahme widersprachen. Auch die Experimente schienen die Transurane zu bestätigen. Meitner musste im Juli 1938 fliehen, weil sie nach dem Anschluss ihres Heimatlandes Österreich an das Deutsche Reich den Rassegesetzen der Nazis unterlag. Hahn und Straßmann arbeiteten an dieser Thematik weiter, als in der dritten Oktoberwoche aus Paris eine Arbeit von Ir&ne JoliotCurie und Paul Savitch über den mysteriösen ›3,5-h-Körper‹ herauskam, über den sie bereits seit einem Jahr mit Hahn und Meitner kontrovers diskutiert hatten. Straßmann schlug Hahn vor, Curies Angaben nachzuarbeiten. Sie merkten, daß die Substanz eine Mischung aus mehreren Isotopen war. Zunächst fiel der Verdacht auf Radiumisotope. Doch bei dem Versuch, das Radium chemisch abzutrennen, um es zu untersuchen, stellte sich heraus, daß bei der Bestrahlung des Urans Bariumisotope entstanden waren. Das war eigentlich unglaublich, weil die Physik es nicht für möglich hielt, daß sich der Atomkern in der Mitte teilen könnte. Hahn vermutete, daß der Urankern in zwei etwa gleichgroße Teile ›zerplatzt‹ war, so daß die Suche nach dem zweiten Bruchstück begann. Ihm kam sofort der Verdacht, daß die Transurane ein Irrtum gewesen sein könnten. Er teilte Meitner diese Vermutung schriftlich mit und fragte, ob dieser Vorgang physikalisch erklärbar sei. Meitner und ihr Neffe Otto Robert Frisch, der in Niels Bohrs Institut arbeitete, publizierten im Januar 1939 ihre physikalische Erklärung des von Hahn und Straßmann entdeckten und am 06. 01. 1939 veröffentlichten Vorgangs.
3. Sachgebiets-neutrale und sachgebiets-spezifische Kriterien der Entdeckung17 3.1. Die sachgebiets-neuralen Beurteilungskriterien Nicht nur die Kontroverse über die Entdeckung der Kernspaltung, vor allem auch Kuhns strukturelle Fehlkonzeption des Begriffs der Entdeckung zeigt, wie wenig gründlich die Kriterien – any normal standard of scientific attribution (Sime) von Entdeckerschaft – in reflektierter und analysierter Form geklärt sind. Die immer wieder von neuem in wissenschaftshistorischen Kontexten auftauchende Vermengung der Genese einer Entdeckung, der Entdeckung einer Tatsache und der nachträglichen Entdeckung der Erklärung einer schon entdeckten Tatsache kann zeigen, auf welchem elementaren Niveau sich die Unsicherheiten im Umgang von Wissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern mit den Entdeckungskriterien abspielen. Was eine Tatsache ist, wurde mit den sachgebiets-neutralen Mitteln 17 Dieser Abschnitt folgt in den Grundzügen den Überlegungen von Enskat, Entdeckung, sowie von Enskat, Thesen, bes. S. 19–47. Für diese Arbeit über den Spezialfall der Entdeckung der Kernspaltung wurden die Grundzüge dieser Entdeckungskonzeption verfeinert und erweitert.
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von Logik und Erkenntnistheorie schon seit längerem ebenso plausibel geklärt18 wie mit den sachgebiets-neutralen Mitteln von Logik und Wissenschaftstheorie die Frage, was eine Erklärung einer Tatsache ist, einer Klärung zugänglich gemacht worden ist.19 In unserer alltäglichen Umwelt können ebenso Entdeckungen gemacht werden wie sie Naturwissenschaftler in den entlegensten makro- bzw. mikroskopischen Regionen ihrer Forschungen gelingen. Daran wird deutlich, daß an den Entdeckungskriterien Komponenten beteiligt sind, die nicht primär an wissenschaftsspezifische Sachgebiete gebunden sind. Ob jemand einen Entdeckungsanspruch erheben bzw. einer anderen Person attestieren kann bzw. wie eine Konkurrenz um die Legitimität eines Anspruchs auf dieselbe Entdeckung beurteilt werden kann, ist daher jedenfalls auch von sachgebiets-neutralen, vorwissenschaftlich relevanten Beurteilungskriterien abhängig. Da Entdeckungen erstmalige Erkenntnisse von Dingen und Tatsachen sind, werden Kriterien berührt, deren Klärung in die Obhut der Erkenntnistheorie und anderer philosophischer Spezialdisziplinen gehören. Im konkreten Einzelfall solcher Beurteilungen müssen selbstverständlich auch sachgebiets-spezifische – z. B. kernchemische – Subkriterien hinzugezogen werden. Vorab ist jedoch daran zu erinnern, daß eine Entdeckung auch eine logische Komponente hat. Zwar hat der Wissenschaftstheoretiker Hans Reichenbach die suggestive These formuliert: »Der Entdeckungsakt selbst ist logischer Analyse unzugänglich«.20 Doch diese Auffassung scheint an mindestens einer von zwei inadäquaten Entdeckungsmodellen orientiert zu sein – an der psychologisierenden Auffassung der Entdeckung als eines ›persönlichen Erlebnisses‹ von Entdeckern oder an der sozial-kognitivistischen Auffassung von der Gunst eines kollektiven ›Geistes‹, an dessen Milieu die ›episodische‹ Genese von Entdeckungen teilhat. Beide Modelle verkennen jedoch, daß der Entdeckungsakt in einem datierbaren, sprachlich formulierten und daher auch dokumentierbaren und mitteilbaren Akt besteht, durch den eine konkrete Person eine mehr oder weniger komplexe Aussage formuliert, die wegen ihrer grammatisch-logischen Form entweder wahr oder falsch sein können muß. Auch wenn ein kollektiver Geist eines wissenschaftlichen Milieus empirisch noch so gut charakterisierbar sein mag, so ist ein solcher Geist gleichwohl aus prinzipiellen Gründen kein mögliches Subjekt eines solchen Entdeckungsakts.21 Nur durch ihren personge18 Vgl. Günther Patzig, Satz und Tatsache (11964), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften IV, Göttingen 1996, S. 9–42. 19 Zu den Basisinformationen vgl. Wolfgang Stegmüller, Erklärung-BegründungKausalität, Berlin/Heidelberg/New York, 1983. 20 Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie (engl. 11953), in: ders. Gesammelte Werke, Braunschweig 1977, S. 260. 21 Vgl. hierzu Max von Laue, Rede zur Enthüllung der Gedenktafel für Otto Hahn und Fritz Straßmann im früheren Kaiser-Wilhelm-Institut, jetzt Otto-Hahn-Bau, Mitteilun-
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bundenen, wahrheitsfähigen, sprachlich wohlformulierten Akt ist eine Entdeckung sowohl der Selbstvergewisserung des Entdeckungsprätendenten wie auch der Überprüfung in einer Gemeinschaft fähig, die mit angemessener Expertise ausgestattet ist. Einem Anspruch auf eine Entdeckung, die nicht in der grammatisch-logischen Form des authentischen Aktes der Formulierung eines wahrheitsfähigen Satzes oder Satzgefüges durch eine individuelle Person dokumentiert werden kann, fehlt daher jegliche Berechtigung. Jede Entdeckung wird von ihrem Autor nicht nur mit einem Entdeckungsanspruch, sondern auch mit einem Anspruch auf objektive Wahrheit verbunden.22 Das Medium für das Anmelden solcher Ansprüche bilden Sätze oder ganze Satzgefüge, deren Wahrheitsbedingungen entweder erfüllt oder aber nicht erfüllt sind. Das gilt auch dann, wenn die Argumente zugunsten der Behauptung eines einzelnen solcher Sätze so komplex sind wie die theoretischen und die experimentellen Komponenten der Theorien, mit denen er verflochten ist. Deswegen hat Hahn den entscheidenden wahrheitsfähigen Satz zwar in der Publikation nicht formvollendet formuliert, wohl aber durch seine Formulierungen impliziert. Das belegt im Brief an Meitner vom 28.12. 38 seine Erwägung, »… daß das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma …«. Dieser Satz wird von der in der Publikation dokumentierten Formulierung offenkundig impliziert, daß »Die Summe der Massenzahlen Ba + Ma, also z. B. 138 + 101 … 239 [ergibt]«, und hat alle weiteren Bewährungsproben von Hahns Entdeckungs- und Wahrheitsanspruch bestanden – und zwar bestanden mit Blick auf die Behauptung, daß Barium ein etwa hälftiges Bruchstück des Urankerns ist –, angefangen mit den Kontrollexperimenten des Physikers Frisch.23 Es ist aufschlußreich, daß Hahn diesen Satz so und nicht anders formuliert hat und daß Meitner, Frisch und alle anderen Experten diesen so formulierten Satz gen aus der MPG 1957, zitiert bei Fritz Straßmann 1978 (wie Anm. 5): »Der Geist, der im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie waltete, war gleichermaßen bestimmt durch Otto Hahn und durch Lise Meitner. Es ist von unerhörter Tragik, daß sie ein halbes Jahr vor dem entscheidenden Dezember 1938 aus Deutschland fliehen musste. Denn sonst wäre sie zweifellos in der einen oder anderen Form an der Entdeckung der Uranspaltung mitbeteiligt …«, hier: S. 23. 22 »… aus [den Gesprächen mit Bohr] .. lernte ich .., daß man .. in der Wissenschaft immer entscheiden kann, was richtig und was falsch ist«, Werner Heisenberg, Wissenschaft als Mittel der Verständigung unter den Völkern (11946), in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft (11947), Stuttgart, 91959, S. 131. 23 Hahn und Straßmann haben eine mit den Mitteln der damaligen kernphysikalischen Theorie intendier-bare, aber bis dahin noch nicht intendier-te Anwendung entdeckt; am 03. 1. 1939 schreibt Frisch an Meitner: »Die Unterhaltung dauerte nur fünf Minuten, da Bohr sofort und in allem mit uns einig war. Er wunderte sich bloß, daß er nicht früher an diese Möglichkeit gedacht hatte, die so direkt aus den jetzigen Vorstellungen über Kernbau folge«, zitiert in: Jost Lemmerich, (Hrsg. TU Berlin), Die Geschichte der Entdeckung der Kernspaltung, Ausstellungskatalog, Berlin 1989, hier S. 177.
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auch so verstanden und bewährt haben, wie Hahn ihn am Ende aller durchgeführten Experimente und kernchemischen Überlegungen verstanden wissen wollte. Hahns rudimentär formulierter Satz hat nach allen in der damaligen Expertengemeinschaft bewährten Kriterien diese grammatisch-logische Form auch dann, wenn er sie gemäß den Kriterien der besten verfügbaren Formalen Logik auf seiner sprachlichen Oberfläche nicht zeigt. Deshalb ist er tauglich, von jedem Adressaten der Expertengemeinschaft24 richtig verstanden und auf seine Wahrheit hin überprüft zu werden. Meitners und Frischs nachträgliche Entdeckung der kernphysikalischen Erklärung der Tatsache der Kernspaltung bildet nicht nur eine physikalische Entdeckung sui generis, sondern auch die erste und wichtigste physikalische Bewährungsprobe des von Hahn mit seinem Satz verbundenen Wahrheits- und Entdeckungsanspruchs. Daß es sich beim Gelingen dieser Erklärung durch Meitner und Frisch um eine Entdeckung sui generis handelt, ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, daß diese Erklärung von der mit ihr strikt verbundenen Entdeckung der bis dahin unbekannten Tatsache abhängt, daß die Bindungsenergien des Kerns entgegen allen bis dahin gehegten Überzeugungen der Physiker unter den Effekten der auftreffenden Neutronen gänzlich unerwarteterweise doch überwunden werden können. Ob es sich allgemein beim Gelingen von Erklärungen um Entdeckungen sui generis handelt, soll damit nicht zu verstehen gegeben werden.25 Mit Mitteln der Erkenntnistheorie und Elementen aus anderen philosophischen Disziplinen wie der Logik und – wegen der Wichtigkeit experimenteller Handlungen – der Handlungstheorie lässt sich daher zeigen, inwiefern die grammatisch-logischen Formen von Aussagen, durch die Entdeckungen wahrheitsfähig dokumentiert werden, für die Beurteilung ihres Entdeckungscharakter generell eine wichtige Rolle spielen. Zwar erschöpft sich eine Entdeckung selbstverständlich nicht darin, eine logische Operation zu sein. Die einzige im engen und strengen Sinne logische Operation ist und bleibt die Schlussfolgerung. Doch die Abhängigkeit einer Entdeckung von der Wahrheitsfähigkeit und daher von der grammatisch-logischen Form der sie formulierenden Aussage macht vor allem auch darauf aufmerksam, daß es eine tiefgreifende Komplexitäts-Differenz gibt, die zwischen Entdeckungen unter den Dingen und Tatsachen unserer alltäglichen Umwelt einerseits und andererseits den wissenschaftlichen Entde24 Hahn an Meitner am 03.03.39: »[Straßmann] meint: Jeder denkende Mensch, der unsere Publikation genau lese, könne nicht im Zweifel sein, daß wir das Zerplatzen des Urans beobachtet und auch behauptet haben … Ich schicke Dir aber z. B. einen Artikel aus der Science, der amerikanischen Nature. Da siehst Du, daß ›ich‹ etwas beobachtet habe, aber keine Erklärung dafür hatte!«, zitiert in: Fritz Krafft, Im Schatten der Sensation, Weinheim, Florida, Basel 1981, S. 325. 25 Ich danke meinem Physiker-Kollegen Gunnar Berg (Halle), daß er mich darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Rede von der Entdeckung der Erklärung durch Meitner und Frisch einer Erläuterung bedarf, R. E.
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ckungen, z. B. im subatomaren Bereich besteht. Dies hat eine beträchtliche Tragweite mit Blick auf die Bedingungen, von denen deren Wahrheitsfähigkeit abhängt, und daher auch mit Blick auf die grammatisch-logischen Formen der Aussagen, die solche Entdeckungen formulieren. So sind es grundlagentheoretisch orientierte Teilnehmer an den Kontroversen z. B. um eine angemessene Interpretation der Quantenmechanik wie Werner Heisenberg, die diese Tragweite mit besonderem Nachdruck auch ausdrücklich zu bedenken gegeben haben: 1.) Die Experimente der [klassischen] Physik und ihre Ergebnisse können beschrieben werden wie die ›Dinge‹ des täglichen Lebens: mit den Begriffen der Raum-Zeitwelt, die uns anschaulich umgibt und mit der gewöhnlichen Sprache, die zu dieser Raum-Zeitwelt passt.26 2.) Das Atom kann nicht mehr ohne Vorbehalt als ein ›Ding‹ im Raum, das sich in der Zeit in einer angebbaren Weise verändert, objektiviert werden.27
1.2 Objekte möglicher Entdeckungen sind sowohl die Dinge und Sachverhalte unserer alltäglichen Ding-Welt wie die Entitäten und Sachverhalte jenseits dieser Ding-Welt. Die Dinge, Ding-Eigenschaften und Ding-Verhaltensweisen der alltäglichen Umwelt bilden die Themen der ursprünglichen den Menschen möglichen Entdeckungen. Sie sind dadurch charakterisiert, 1) daß man sie mithilfe der Sinneswahrnehmungen erschließen kann, 2) daß man sich ihnen leibhaftig nähern kann, 3) daß man sie unmittelbar seinen leibhaftigen Handlungsweisen aussetzen kann und, 4) daß man sich mit Hilfe von Demonstrativpronomina (dieser/diese/dies, jener/ jene/jenes) in grammatisch-logisch wahrheitsfähigen Subjekt-Prädikat-Sätzen nach dem Schema Dies [x] [ist] [ein/e] F(-t) sowie mit Hilfe von leibhaftigen demonstrativen Gesten auf sie beziehen kann.28 26 Werner Heisenberg, Physikalische Prinzipien der Quantentheorie (11930), Mannheim 1958, S. 1, unsere Hervorhebung. 27 Werner Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes (11941), in: Heisenberg (91959), S. 107–128, hier S. 119, unsere Hervorhebung; »… die Atome oder die Elementarteilchen … bilden eher eine Welt von Tendenzen und Möglichkeiten als eine Welt von Dingen und Tatsachen«, ders., Sprache und Wirklichkeit der modernen Physik, in Heisenberg (11959), S. 160–180, hier: S. 180. 28 Vgl. hierzu im einzelnen Enskat, Entdeckung, bes. S. 311–365; eine spezifische Formale Logik der Ding-Sprache hat zuerst der Logiker und Philosoph Rudolf Carnap, Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigungen ihrer Anwendung (11954), Wien 1960, bes. S. 159–163, entworfen; zu weiterführenden Formalen Logiken z. B von Koordinaten-Sprachen und quantitativen, speziell metrischen Sprachen vgl. S. 163–172. Ein Beispiel, das besonders aufschlußreich zeigen kann, wie weit sich eine
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In diesem Sinne lernt jeder Mensch die Bedeutung des Wortes »Ding/e« dadurch, daß er mit Entitäten zu tun hat, die mit ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen in die Reichweiten seiner Sinneswahrnehmungen und Handlungsmöglichkeiten gehören und über die jeder Angehörige einer entsprechenden Sprachgemeinschaft wahrheitsfähige Aussagen der einfachsten grammatisch-logischen Formen machen kann.29 Wegen ihrer Vor-Wissenschaftlichkeit bilden Entdeckungen in dieser alltäglichen Ding-Dimension das Paradigma disziplin-neutraler Entdeckungen. Mit ihnen ist überdies eine in der naturwissenschaftlichen und klinischen Forschung in der Regel nicht mehr mögliche, aber paradigmatische Form logischer, ontologischer, epistemologischer und personeller Einheit realisiert: Eine einzelne Person vermag ihre leibhaftigen Handlungen, ihre Sinneswahrnehmungen und ihre raum-zeitliche Orientierungen in der einfachsten Form eines wahren Satzes der grammatisch-logischen Form Dies [x] [ist] [ein/e] F(-t) selbst, also in authentischer Weise zusammenzufassen und mit einem Entdeckungsanspruch zu verbinden. Doch bei allen Komplizierungen, die auch diese Ding-sprachlichen Sätze nötig machen können, wird in der Regel früher oder später die Auflösung dieser Einheit nötig. Es kann zumeist nicht mehr eine einzelne Person sein, die alle Handlungen, Sinneswahrnehmungen und raum-zeitlichen Orientierungen selbst, also in authentischer Form ausführt, die zu einer Entdeckung und damit zur Verfügung über einen wahrheitsfähigen Satz führen. Dennoch bleibt es trotz der Multidiversität der kognitiven und der personellen Voraussetzungen einer solchen Entdeckung in allen diesen Fällen der Eine wahrheitsfähige Satz bzw. das Eine wahrheitsfähige Satzgefüge, in dem jeweils eine einzelne Person die Untersuchungsresultate aller dieser diversen Voraussetzungen mit Hilfe ihrer persönlichen Urteilskraft zusammenfasst und mit einem authentischen Entdeckungs- und Wahrheitsanspruch verbindet, der auch von allen ebenbürtigen Kommunikationspartnern beurteilbar sein muß. Daher ist es Hahn, der die von ihm und Straßmann – und zeitweise auch von Meitner – während vieler Jahre gewonnenen multidiversen kognitiven und personellen Voraussetzungen des von ihnen angemeldeten Entdeckungsanspruchs selbst (in authentischer Weise) in einem publikationsreifen Satz zusammenfasst (»Die Summe der Massenzahlen Ba + Ma, also z. B. 138 + 101, ergibt 239«). Von den grammatisch-logischen Formen der Aussagen unserer alltäglichen Ding-Sprache ist in solchen wissenschaftlichen Aussagen nur allzu offensichtlich kein Rest geblieben.
Repräsentation der logischen Struktur auch einer einfachen naturwissenschaftlichen Gesetzesformel sogar von der Lehrbuchversion dieser Formel entfernen kann, zeigt Carnap, indem er die logische Struktur des Gasgesetzes p · V = R · T sichtbar macht: (x)(t)[P(x,t) ! (p(x,t) & V(x,t) = R(x) & T(x,t))], vgl. S. 170, hier mit Veränderung zweier logischer Symbole. 29 Vgl. Enskat (1986), bes. S. 183–414.
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Der Fall der Entdeckung der Kernspaltung zeigt exemplarisch eine Entdeckungsstruktur, in der die in dieser Para-Ding-Welt tätigen Menschen und deren Sprache nur noch in komplizierten indirekten Formen mit der alltäglichen DingWelt verflochten sind: Entitäten wie die Produkte einer Kernspaltung können nur indirekt entdeckt werden, also nur insofern sie indirekt mit der raum-zeitlichen Welt unserer alltäglichen Ding-Entitäten in bestimmten Formen verknüpft sind. Mit ihnen sind sie vor allem durch die in unserer raum-zeitlichen Ding-Welt situierten Instrumente, Versuchsanordnungen und leibhaftigen Forscher verbunden. Leibhaftige Messoperationen und Messwertinterpretationen der Forscher sowie die Kausalität, mit der bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen der im Experiment untersuchten Entitäten Effekte in den Versuchsanordnungen auslösen, die von den Forschern zur Kenntnis genommen und in Form von wahrheitsfähigen Aussagen formuliert werden, verbinden diese Para-DingWelt mit unserer natürlichen Ding-Welt.
3.2. Von den sachgebiets-neuralen zu den sachgebiets-spezifischen Beurteilungsungskriterien Die Kriterien für Entdeckungen unterscheiden zunächst zwischen einer Entdeckung und einer Erkenntnis, die keine Entdeckung ist. Ein einfaches Teilkriterium bildet die Erstmaligkeit, mit der eine Entdeckung eine Erkenntnis eines bis dahin unbekannten Sachverhalts liefert. Ausschlaggebend ist allerdings der geschichtliche bzw. wissenschaftsgeschichtliche Rang, der einer erstmaligen Erkenntnis gebührt, wenn sie eine Entdeckung im emphatischen Sinne des Wortes ist und sich von alltäglichen Entdeckungen und von individuellen Lernerfolgen innerhalb der alltäglichen Ding-Welt unterscheidet. Maßgebend für eine Entdeckung im emphatischen Sinne des Wortes ist die kognitive Tragweite, die sie für die Erschließung eines Grundzugs der Welt mit sich bringt – z. B. eines kausalen Grundzugs wie der von der Sonne auf unsere Erde ausgeübten Gravitation. Diese kognitive Tragweite wird zwar im Bereich der Grundlagenforschung oft zunächst nur einem begrenzten Personenkreis klar. Für Laien wird die Bedeutsamkeit der meisten naturwissenschaftlichen Entdeckungen – einschließlich der Entdeckungen der klinischen Forschung – oft erst später durch ihre technische und praktische Tragweite klar. Doch dieses psychologische ›Klarwerden‹ ist unabhängig von dem Maß, in dem eine Entdeckung objektiv dazu beiträgt, die Welt zu erschließen. Schließlich kommt es auf die logischen Formen der Argumentationen an, die hier ins Gewicht fallen: Jeder Forscher muss vor sich selbst wie vor der Expertengemeinschaft mit Hilfe von mehr oder weniger komplexen Argumenten begründen, warum er einer bestimmten Beurteilung eines experimentellen bzw. nicht-experimentellen Befundes vor bestimmten Alternativen den Vorzug gibt.
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Fasst man die hier zunächst um ihrer selbst willen erörterten sachgebietsneutralen Entdeckungskriterien in einem formal leicht stilisierten Katalog von einander ergänzenden Teilkriterien zusammen, dann erhält man folgendes Bedingungsgefüge: Daß eine individuelle Person (P) zur Zeit t eine Erkenntnis-daßp (E) vom Typ einer Entdeckung-daß-p30 erzielt, erkennt man daran, 1.) daß E von P zur Zeit t zum ersten Mal in Form einer (mit Wahrheitsanspruch verbundenen) Behauptung, daß-p, in der Sprache einer Expertengemeinschaft formuliert wird (Teilkriterien der Erstmaligkeit und Satzrelativen Wahrheitsfähigkeit), 2.) a. daß E von P zur Zeit t mithilfe eines methodischen und argumentativen Know-how selbst, also in authentischer Weise erzielt und mitgeteilt wird (Teilkriterium der methodisch-technischen Know-how-Authentizität), und b. auch von jeder know-how-ebenbürtigen Person zu einem späteren Zeitpunkt nachvollzogen und von neuem als wahr bewährt werden kann (Teilkriterium der interexpertisen Bewährungsbedürftigkeit und -fähigkeit), 3.) daß E, beurteilt im Licht der bis zur Zeit t bekannten und akzeptierten Relevanzkriterien für wichtige Tatsachen, Methoden und Theorien, eine entsprechend wichtige Erweiterung der Erkenntnisse im Untersuchungsfeld U liefert (Teilkriterium der Relevanz). Unter Zuhilfenahme dieser sachgebiets-neutralen Kriterien soll im Folgenden unter Berücksichtigung der chemie- bzw. physik-spezifischen Kriterien gezeigt werden, wie man die Berechtigung von Ansprüchen auf die Entdeckung der Kernspaltung angemessener beurteilen kann als bisher.
4. Ergänzung der sachgebiets-neutralen durch sachgebietsspezifische Sub-Kriterien der Entdeckung der Kernspaltung 4.1. Die Struktur der Hahn-Straßmannschen Entdeckung und des Weges zu ihr Hahn und Straßmann gingen bei ihrer Forschungsarbeit über das vermeintliche Radium von einem ganz bestimmten Zeitpunkt an in methodischen Formen vor, aus denen Schritt für Schritt durch gezielte authentische Fragen – und ohne Hilfe der inzwischen emigrierten theoretischen Physikerin Lise Meitner – die spätere Entdeckung hervorgegangen ist. 30 Die daß-p-Phrase wird in der Logik und in der Wissenschaftstheorie der Gegenwart als symbolisches Mittel der Abstraktion benutzt, damit man sich allgemein auf Sätze beziehen kann, durch die beliebig elementare bzw. komplexe Inhalte von Erkenntnissen formuliert werden können, z. B. durch den Satz, daß es regnet, aber auch z. B. durch den Satz, daß Uran 239 in ein Ba und ein Ma zerplatzt ist.
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Eine der gezielten Fragen Hahns und Straßmanns, die sich ihnen aus der Überprüfung der Ergebnisse der Pariser Arbeitsgruppe um Curie und Savitch ergab, ist zum Beispiel die folgende: ›Entsteht aus mit Neutronen bestrahltem Uran Radium?‹. Die Pariser Gruppe hatte ihre fragliche Substanz, den ›3,5 hKörper‹, mit Kalium-Lanthan-Sulfat gefällt und versucht, vermeintliches Actinium vom Träger Lanthan mittels Fraktionierung abzutrennen: Insgesamt sind die Eigenschaften von R 3,5 h die des Lanthans, von dem es, wie es bisher scheint, nur durch Fraktionierung abgetrennt werden kann.31
Straßmann überlegte, daß der oberflächenreiche Sulfatniederschlag auch eventuell vorhandenes Radium – als ein Zwischenprodukt in der postulierten Zerfallsreihe zum Actinium – in den Niederschlag mitgerissen haben könnte. Dies hätte eine Erklärung für Curies ›Abtrennung‹ durch Fraktionierung bieten können.32 Als experimentelles Handlungsschema entwarf Straßmann den Fällungsversuch mit dem niedrigeren Homologen des Radiums, dem Barium in Form seines Chlorids, dessen geringe Oberfläche Mitreißeffekte ausschloß. Die Argumentations-Logik, die mit diesem Entwurf verbunden war, hat im Wesentlichen die folgende Form (die argumentationslogischen Komponenten sind kursiv markiert): Wenn in dem Niederschlag des entworfenen Fällungsversuchs Aktivität festgestellt wird, dann kann es sich nur um Radiumisotope handeln. Eine Mischkristallbildung mit Metallionen anderer Wertigkeiten ist hier ausgeschlossen: Wenn etwas mit Barium ausfällt, dann kann es – nach dem damaligen Kenntnisstand – nur Radium sein. Eine weitere der gezielten Fragen war: ›Entsteht aus Uran Radium, wenn man es mit langsamen oder schnellen Neutronen bestrahlt?‹. Ihrer logischen Form nach ist dies eine kombinierte Frage aus einer Alternative – »Entsteht in einer Uranlösung Radium oder nicht?« – und einer hypothetischen Frage – »… falls man sie mit langsamen Neutronen bestrahlt?« –, die die Entscheidung der Alternative von der Realisierung eines bestimmten experimentellen Handlungsschemas abhängig macht.33 Es wurde darüber hinaus die Hypothese aufgestellt, daß, wenn Uran mit langsamen Neutronen bestrahlt wird, dann ein a-strahlendes Thorium entsteht, welches durch weiteren a-Zerfall zu einem b-strahlenden Radium führt. Dieses zerfällt zu Actinium und schließlich zu Thorium. Was die Entdeckungsfunktion der manuellen (experimentellen) Handlungen betrifft, so ist Hahns und Straßmanns große methodische Sicherheit und Sauberkeit nach dem Urteil aller damals beteiligten Experten – auch der Physiker – ein entscheidender Faktor. Dieser gab ihnen bei der Beobachtung mithilfe ihrer 31 Zitiert bei Otto Hahn, Radiothor zur Uranspaltung, Braunschweig 1962, S. 128. 32 Vgl. Krafft, Straßmann, S. 80. 33 Siehe die Beschreibung des Experiments bei Krafft, Straßmann, S. 80 bzw. 238 f.
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Detektoren – der Messung mittels Geiger-Müller-Zählern – das Selbstvertrauen, daß keine Verunreinigung vorlag, als die Fraktionierung des ›Radiums‹ nicht gelang. Hahns jahrzehntelange Erfahrung, Straßmanns experimenteller Einfallsreichtum und die Indikatorversuche mit größten Verdünnungen ließen mit Blick auf das Ergebnis keine Zweifel offen. Weil das experimentelle Handlungsschema aber nicht allein Radium, sondern die ganze zweite Hauptgruppe erfasste, fügte es sich, dass zwar nicht das Gesuchte, aber ein leichteres Erdalkalimetall gefunden wurde. Dieser Fund wurde von Hahn und Straßmann als Bruchstück einer gravierenden Reaktion des Urankerns gedeutet und beurteilt. Für diese erstmals erkannte Reaktion verwendete Hahn den Begriff des Zerplatzens34. Diese Beschreibung wurde in Form der Publikation am 22.12. bei Die Naturwissenschaften eingereicht.35 Der thematische Bruch im Text, Hahns übervorsichtige Ausdrucksweise und die anfängliche Unklarheit, ob die Masse oder die Ladung betrachtet werden muss – also auch die unausgereifte grammatisch-logische Form der Aussagen –, gehören zum historischen Charakter dieses Dokuments. In einer außerordentlich forschungsintensiven Phase hatte Otto Hahn intuitiv schon mehrere Jahrzehnte früher eine kernphysikalisch relevante Hypothese entwickelt, nämlich das Zerbrechen in genau zwei Teile. Der schon damals verwendete Begriff des Zerplatzens deutet darauf hin, daß er den beobachteten Vorgang mit dem Alpha-Zerfall assoziierte. Die Überprüfung dieser Hypothese konnte mit berechtigter Aussicht auf Erfolg erst mit Hilfe der theoretischen Physik vorgenommen werden. Nach Hahns Wunsch sollte dies damals durch Lise Meitner geschehen. Jedoch trug diese frühe Vorgeschichte anscheinend zu der späteren, aber unzutreffenden Physiker-Behauptung bei, daß Hahn und Straßmann dieses von ihnen entdeckte Phänomen nicht als Spaltung des Urankerns hätten deuten können. Auf die entsprechende Kritik Einsteins36 entgegnete Hahn: Ich habe gelegentlich einmal in einer der zahlreichen Mitteilungen von Professor Einstein gelesen, daß Herr Straßmann und ich gar nicht gewußt hätten, was wir machten,
34 Der Begriff des Zerplatzens ist bei Hahn seit 1908 nachweisbar: »Der Zerfall eines radioaktiven Atoms geschieht bekanntlich explosionsartig, die alpha-Strahlen erreichen eine Geschwindigkeit bis zu 1/10, die Elektronen nahezu volle Lichtgeschwindigkeit. Zerplatzt nun ein derartiges radioaktives Atom, so wird das übrigbleibende Restatom durch das Ausschleudern der Elektronen oder mehr noch der alpha-Strahlen einen Rückstoß bekommen, ähnlich wie eine Kanone, wenn das Geschoss den Lauf verlässt«, Otto Hahn. Über eine neue Erscheinung bei der Aktivierung von Aktinium, in: Physikalische Zeitschrift, 10. Jg, Nr. 3, 1909 S. 81–88. 35 Krafft, Straßmann, S. 255 ff. 36 Vgl. hierzu den bibliographischen Hinweis unten S. 1537.
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Hahns und Straßmanns Publikation (Teilkriterien der Erstmaligkeit, der sprachbzw. satzabhängigen Wahrheitsfähigkeit und durch Publikation ermöglichten Überprüfbarkeit) dokumentiert eindeutig die chemie-methodengerechte Authentizität (Teilkriterium Know-how-Authentizität), die ihnen die Deutung und Beurteilung ihres Bariumfundes als Urankernspaltung ermöglicht (›Die Summe der Massenzahlen Ba + Ma, als z. B. 138 + 101, ergibt 239‹), oder anders ausgedrückt: Der Atomkern ist in zwei Teile zerplatzt, nämlich in Barium und Masurium.38 Ebenso greift das Teilkriterium der Relevanz. Irregeführt durch die gemeinsame Grundeinstellung (Paradigma) vor allem der Physiker, aber auch der Chemiker, daß mit dem Atomkern keine allzu großen Veränderungen geschehen könnten, hatten sie jahrelang mit Spaltprodukten gearbeitet, ohne sie als solche zu erkennen. Man sah die Bindungstärke der Kernkraft als zu stark an, als daß die Hülle irgendwie von außen überwunden werden könnte. Insofern hatte die Entdeckung von Hahn und Straßmann für die Kernphysik eine revolutionäre Tragweite, die ihren innersten theoretischen Kern betraf. Dennoch brauchten die Physiker keine neue Theorie, um die Erklärung der Tatsache der Kernspaltung zu entdecken, sondern konnten auf eine seit einigen Jahren zur Verfügung stehende – Bohrs Tröpfchenmodell des Atoms – zurückgreifen. Das Revolutionäre von Hahns und Straßmanns Entdeckung besteht insofern außer in ihrem unmittelbaren Inhalt darin, daß sie zu wenigstens einer weiteren Entdeckung führt: Durch die Entdeckung der Erklärung der Kernspaltung mit Hilfe ihrer dafür tauglichen Theorie waren die Physiker in unintendierter Form über ihr sowohl mit der Kernspaltung wie mit ihrer eigenen Atomtheorie an sich unverträgliches Paradigma von der Unspaltbarkeit des Atomkerns hinausgewachsen. Erst durch die Entdeckung der Kernspaltung gelangen der Physik daher innerhalb weniger Wochen sogar vier Entdeckungen: 1.) die der Erklärung der Kernspaltung, 2.) die der Freiwerdung großer Energiemengen durch Kernspaltung, 3.) die der Möglichkeit einer Kettenreaktion durch Kernspaltung und 4.) die der Möglichkeit der technischen Nutzung der freiwerdenden Energie durch eine 37 Brief Hahns an Carl Seelig vom 27. 07. 1955 in: Carl Seelig, Helle Zeit – Dunkle Zeit. In Memoriam Albert Einstein, Zürich 1956, S. 107. 38 Der Brief vom 28.12.38 zeigt, daß Hahn über die Frage – Masse oder Ladung? – nachgedacht hat: »Wäre es möglich, daß das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Ein Ba 138 und ein Ma 101 ergäbe 239. Auf die genaue Massenzahl kommt es nicht an. Es könnte auch 136 + 103 oder was Ähnliches sein. Mit den Ordnungszahlen klappt natürlich die Geschichte nicht. Da müßte man einige Neutronen sich in Protonen verwandeln lassen, damit die Ladungen herauskämen. Ist das energetisch möglich? … Wenn etwas dran ist, würden die Trans-Urane … sterben«, zitiert in: Krafft, Straßmann, S. 267.
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Kettenreaktion. Diese Folgeentdeckungen der Entdeckung der Kernspaltung lösten weltweite Forschungen aus. Die entwickelte experimentelle Kernspaltungs-Methode erwies sich auch als das methodisch-technische Know-how, das den Schlüssel zu dem gesamten Know-how bildet, das – zu Hahns späterem Entsetzen – den Bau von Atomwaffen ermöglichte, dann aber auch zugunsten der Energiegewinnung und fortschrittlicher Forschungsmethoden fruchtbar gemacht werden konnte. Unter diesen Folgeentdeckungen ist die einzige der kernchemischen Entdeckung Hahns und Straßmann ebenbürtige kernphysikalische Entdeckung die der theoretischen Erklärung der Kernspaltung durch Lise Meitner und Otto Robert Frisch.
5. Ein Paradigma wissenschaftsinterner Dialektik der Aufklärung Hinter den historiographischen Darstellungen der mehr oder weniger ›ausgedehnten Episoden‹, die zur Entdeckung der Tatsache der Kernspaltung durch Hahn und Straßmann und von hier aus zur Entdeckung der theoretischen Erklärung dieser Tatsache durch Meitner und Frisch ›geführt‹ haben, verbergen sich zwei komplexe kognitive Strukturen. Auch eine noch so minutiöse und sachgerechte Darstellung der chemie-spezifischen und der physik-spezifischen Methodik dieser beiden Entdeckungen läßt immer noch deren spezifisch kognitive Strukturen im Dunkeln. Auf die eine dieser beiden Strukturen paßt der alte, aber inflationär und daher heillos vieldeutig gewordene Name der Aufklärung. Doch wenn Aufklärung darin besteht, daß ein seit langer Zeit tiefverwurzelter Irrtum über eine Strukturkomponente unserer natürlichen Welt durch eine ebenso erstaunliche wie überraschende Einsicht ein für alle Mal überwunden wird, dann ist der Welt – zunächst der Welt der Chemiker und der Physiker – durch die Entdeckung der Kernspaltung »ein Licht aufgegangen«.39 Die seit den vorsokrati39 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Hamburg 1956. Zur ausführlichen Erörterung der Struktur dieser Dialektik am Leitfaden von paradigmatischen wissenschafts- und kulturhistorischen Fällen vgl. Rainer Enskat, Dialektik der Aufklärung. Ihre logische, lognitive und geschichtliche Form, in: Zeitschrift für Angewandte Philosophie, Heft/Volume 1/2016, S. 36–51. Von dieser wissenschaftsinternen Form der Aufklärung ist die praktische Aufklärung kategorial verschieden. Es gibt nicht so etwas wie einen allgemeinen Begriff von Aufklärung, von dem die wissenschaftsinterne und die praktische Aufklärung spezielle Fälle von Aufklärung wären. Denn zur Beurteilung eines wissenschaftsinternen Falles von Aufklärung sind ganz andere, nämlich nicht-praktische Kriterien nötig als zur Beurteilung eines Falles praktischer Aufklärung. Deren Beurteilungen machen den Rückgriff auf normative Kriterien der mehr oder weniger großen Nützlichkeit ihres praktischen Gebrauchs nötig. Sowohl die geringfügigsten wie die großartigsten wissenschaftlichen Errungenschaften müssen erst den kriteriellen Test der mehr oder weniger großen Nützlichkeit ihres praktischen Gebrauchs
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schen Naturphilosophen tradierte Auffassung von einem unspaltbaren Urelement der Materie Namens Atom hatte durch die Chemie und die Physik des 19. und des ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine bis dahin ungeahnte empirische, experimentelle, mathematische und theoretische Vertiefung durchgemacht. Doch trotz alledem wurde bis unmittelbar an die Schwelle zu Hahns und Straßmanns Entdeckung im Dezember 1938 an der Auffassung von der sowohl natürlichen wie technischen, namengebenden Unspaltbarkeit des Atoms festgehalten.40 Es gibt kaum eine andere historisch überlieferte reale Verhaltensweise eines Jahrhundert-Naturwissenschaftlers, die dieses metaphorische Aufgehen eines Lichts so drastisch-suggestiv illustrieren könnte wie die Reaktion Niels Bohrs, als Otto Robert Frisch ihm im Januar 1939 von Hahns und Straßmanns chemie-spezifischer Entdeckung und deren physik-spezifischer Erklärung durch Meitner und ihn selbst berichtete. Nach einem kurzen sprachlosen Innehalten schlug er sich an die Stirn und es brach aus seinem Mund heraus: »Ach, was für Idioten wir doch alle waren. Ach, das ist ja wunderbar! Genauso muß es sein«.41 Die expressive Drastik seiner Reaktion zeigt in einzigartiger Weise, wie sehr Bohr sich im Handumdrehen des Umstands bewußt wurde, daß für die Naturwissenschaftler auf der ganzen Welt durch die chemie-spezifische Entdeckung der Tatsache der Atomspaltung und durch die physikspezifsche Erklärung dieser Tatsache sogar ein doppeltes Licht aufgegangen war. Doch es ist eben dieses doppelte Licht, das nicht nur die wissenschenschaftsinterne Aufklärung, sondern in einem präzisierbaren Sinne sogar auch eine Dialektik dieser Aufklärung symbolisiert. Zu der zuerst von Kant in generalisierbarer Form durchschauten Form der Dialektik42 gehört zunächst vor allem, daß es konkrete Personen gibt, die an dieser Dialektik beteiligt sind. Ausschlaggebend für die kognitive Struktur dieser Dialektik ist indessen, daß sich diese Personen in ihren Bemühungen um Erkenntnis während eines mehr oder weniger langen Zeitraums auf eine unerfüllte Voraussetzung dieser Bemühungen verlassen – in diesem konkreten Fall also auf die unerfüllte Voraussetzung, daß das Atom weder auf natürlichem Weg noch mit technischen Mitteln gespalten werden könne.43 In kognitiver Hinsicht sind diese Personen daher also in einer bestehen, bevor die Einsicht in diese ihre nützliche praktische Brauchbarkeit als Beitrag zur praktischen Aufklärung beurteilt werden kann. 40 Radikal verworfen war allerdings im Licht von Bohrs Theorie der den Kern und die Schale des Atoms bildenden Elementarteilchen selbstverständlich die alte Auffassung von der Einfachheit des Atoms. 41 Zitiert bei Patricia Rife, Lise Meitner. Ein Leben für die Wissenschaft (amerik. 1 1990), Hamburg 1992, S. 264. 42 Vgl. hierzu Rainer Enskat, Die Dialektik der Aufklärung. Ihre logische, kognitive und geschichtliche Form, in: Zeitschrift für Angewandte Philosophie , S. 36–51, bes. S. 39–42. 43 Fälle, in denen unerfüllte Voraussetzungen eine charakteristische Rolle spielen,
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Selbsttäuschung über eine unerfüllte Voraussetzung befangen, die sie zugunsten der von ihnen intendierten Erkenntnisse gleichwohl fruchtbar zu machen suchen. Doch den wirklich springenden Punkt in dieser dialektischen Struktur bildet selbstverständlich der Umstand, daß die beteiligten Personen in Gestalt des Bohrschen Tröpfchenmodells des Atoms schon seit längerer Zeit direkt über die Voraussetzung verfügten, die ihnen die Einsicht in die Spaltbarkeit des Atoms hätte eröffnen können. Sie waren also in einer Selbsttäuschung nicht nur über eine unerfüllte Voraussetzung ihrer Arbeit befangen. Sie waren außerdem sogar auch über die ihnen schon länger in undurchschauter Weise zur Verfügung stehenden theoretischen Mittel in einer Selbsttäuschung befangen, die ihnen zur Einsicht in diese unerfüllte Voraussetzung und damit zu ihrer Überwindung und Korrektur hätten verhelfen können. In Bohrs expressiver, nahezu explosiver Reaktion auf Frischs Bericht verdichten sich wie im Blitz eines Gedankens die extrem komplizierten Formen, in denen direkte persönliche und indirekte, briefliche Gespräche zwischen Hahn, Straßmann und Meitner sowie zwischen Meitner, Frisch und schließlich Bohr zu endgültiger wissenschaftlicher Klarheit geführt haben.44
gehören schon seit vielen Jahrzehnten zum elementaren Übungsmaterial der Logik: Z. B. der Satz, daß der gegenwärtige König von Frankreich glatzköpfig ist, enthält die unerfüllte Voraussetzung, daß Frankreich gegenwärtig einen König zum Staatsoberhaupt hat. Den wohl bedeutsamsten wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Fall dieses Typs bilden die Jahrtausende alten kinematischen Beschreibungen von Himmelskörpern unter der unerfüllten Voraussetzung, daß sich die Sonne um die Erde drehe, vgl. auch hierzu Enskat, Dialektik, bes. S. 41–42. 44 Diese unaufhörlichen Gespräche und ihre eminent klärenden Funktionen verdeutlichen in Form eines einzigen wissenschaftsgeschichtlichen Falls die tiefe Bedeutsamkeit des Umstands, daß Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 11969, die unverzichtbare wissenschaftliche Bedeutsamkeit des Gesprächs im Untertitel seiner Autobiographie in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Bedeutsam ist dieser Aspekt mit Blick auf die ursprüngliche Bedeutung des inflationär gewordenen Redens von Dialektik aber nicht nur, weil dieses Wort auf das griechische Wort diale´gesqai (dialegesthai) für das Sprechen-miteinander zurückgeht. Bedeutsam ist er vor allem, weil die Dialektik (dialektikh´/dialektike) der Aufklärung in Platons Dialogen(!) durch den Mund seiner Sokrates-Gestalt dazu dient, seine Gesprächspartner in unermüdlichen skeptischen Formen des Fragens und Antwortens über unerfüllte Voraussetzungen und andere Fehler aufzuklären, auf die sie sich in ihren Bemühungen um Erkenntnis und um ein gutes situationsgerechtes Handeln zu Unrecht verlassen; vgl. hierzu zuletzt die konzentrierten Klärungen durch Jörg Hardy, Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates«, in: Zeitschrift für Angewandte Philosophie, Heft/Volume 1/2016, S. 52–78.
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Wie die Kernspaltung entdeckt wurde
6. Zum Schluß Kuhns irrige These über die ›ausgedehnte episodische Struktur‹ wissenschaftlicher Entdeckungen hat immerhin eine außerordentlich fruchtbare Konzentration der Wissenschaftshistoriker auf Mikroanalysen der ausgedehnten Episoden ausgelöst, von denen die entdeckungsspezifischen Erfolge wissenschaftlicher Untersuchungen selbstverständlich konditional abhängen. Das kann indessen den empfindlichen Mangel an klar und differenziert geklärten formalen, also logischen, erkenntnistheoretischen und handlungstheoretischen Teil- und Subkriterien nicht ausgleichen, mit deren Hilfe man trennscharf beurteilen kann, ob die satzförmig präsentierten Resultate solcher Untersuchungen kognitive Erfolge vom Typ einer Entdeckung präsentieren oder nicht. Die Verwirrungen und Verirrungen, die die gegenwärtigen Kontroversen um die Entdeckerschaft der Kernspaltung zeigen, bilden lediglich exemplarische Oberflächensymptome für den tiefliegenden Mangel an solchen Kriterien. Vermeintliche Gegenbeispiele zur Unabhängigkeit der Entdeckung der Tatsache der Kernspaltung von der Entdeckung der Erklärung dieser Tatsache zeigen im Licht solcher Kriterien schnell ihr wahres Gesicht. Z. B. die Existenz des 1956 entdeckten Neutrinos45 war schon 1930 von Wolfgang Pauli alleine mit Hilfe von spezifisch quantentheoretischen Überlegungen postuliert worden.46 Hier scheint, wie man wohl gerne formulieren würde, die Theorie der Tatsache, die man in die Theorie ›einbetten‹ kann, ›vorherzugehen‹. Doch weder ist eine postulierte Tatsache eine Tatsache noch ist ein Postulat einer Tatsache eine Entdeckung dieser Tatsache. Im günstigsten Fall kann man im Licht einer Theorie und eines aus ihr gewonnenen Postulats gezielter als sonst nach der postulierten Tatsache suchen. Und im übrigen ›ging‹ zwar auch im Fall der Kernspaltung die Theorie der Tatsache ›voraus‹. Nur hat unglücklicherweise niemand die Kernspaltung trotz der zur Verfügung stehenden entsprechend leistungsfähigen Theorie für eine Tatsache gehalten oder nach ihr gesucht oder sie auch nur postuliert, also für zumindest möglich gehalten. Das vermeintliche Gegenbeispiel zeigt – wie es jedes beliebige andere vermeintliche Gegenbeispiel ebenso zeigen würde –, daß die Antwort auf die Frage nach der Entdeckerschaft weder von irgendwelchen eingebürgerten, aber teils leerlaufenden, teils pseudodesriptiven und teils halbmetaphorischen Redeweisen (›normal standard‹, ›geht voraus‹, ›untrennbar verbunden‹, ›einbetten‹, ›interpretieren‹, ›ausgedehnte Episoden‹ u. ä.) der Wissenschaftler, speziell der Wis45 Vgl. C.L. Cowan, Jr., F. Reines, F.B. Harrison, H.W. Kruse, A.D. McGuire, Detection of the Free Neutrino. A Confirmation, in: Science. 124, 1956, S. 103. 46 Vgl. den Brief Wolfgang Paulis vom 4. Dezember 1930 an die »Gruppe der Radioaktiven«, zitiert bei: Wolfgang Mößbauer, History of Neutrino Physics. Pauli!s Letters, in: Proc. ASTROPHYSICS, Ringberg Castle, Tegernsee, 20–24 Oct., 1997, ed. by M. Altman, W. Hillebrandt, H.-T. Janka, and G. Raffelt (Sonderforschungsbereich 375, Astroteilchenphysik), Technische Universität München, 1998.
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Rainer Enskat / Vera Keiser-Morgenweck
senschaftshistoriker abhängt. Sie hängt ausschließlich vom angemessenen Gebrauch von zur Verfügung stehenden, untrennbar miteinander verbundenen formalen Kriterien ab. Die Klärung solcher Kriterien gehört zwar weder in die Obhut irgendeiner Wissenschaft noch in die der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, sondern in die der entsprechenden Disziplinen der Philosophie. Glücklicherweise wird die Philosophie nur in sehr seltenen Fällen einmal auf den Plan gerufen, wenn es um die Beurteilung wissenschaftlicher Entdeckerschaften geht. Die an der Beurteilung von entsprechenden Entdeckungsansprüchen direkt und indirekt beteiligten Angehörigen eines Fachgebiets haben im Laufe ihrer authentischen Arbeitserfahrungen in der Regel ein immer differenzierter gewordenes und zureichendes kriterielles Gespür für die sachliche und die methodologische Berechtigung bzw. Nicht-Berechtigung eines konkreten Entdeckungsanspruchs entwickelt. Die Entdeckung der Kernspaltung scheint einer von den seltenen Fällen zu sein, in denen komplizierte sachgebiets-spezifische Konkurrenzen Wissenschaftshistoriker durch naive ad-hoc-Kriterien (z. B. Kuhn) und ideologisch-feministische Befangenheiten (z. B. Sime) eine Situation hervorrufen lassen, in der die lange genug trainierte reflexive und analytische Klärung entsprechender Kriterien durch die Philosophie eine nützliche Hilfestellung bieten kann. Gleichwohl gilt selbstverständlich auch weiterhin, daß ein wirklich sicherer Gang der Wissenschaft (Kant) auf irgendwelche Hilfestellungen der Philosophie nicht angewiesen ist.
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Aufklärung durch Wissenschaft – am Beispiel des * Krankheitsbegriffs der Medizin Peter Hucklenbroich Amicus Plato, sed magis amica veritas.
Vorbemerkung: Aufklärung und praktische Medizin Der nachstehende Beitrag beleuchtet das Thema der Aufklärung unter einem ungewohnten, aber praktisch höchst bedeutsamen Blickwinkel: Grundsätzlich ist Aufklärung ja eine Aufgabe sowohl für Philosophie als auch für Wissenschaft, historisch und sachlich in jeweils besonderer Form. So kann philosophische Aufklärung darin bestehen, die Unhaltbarkeit mythisch-religiöser Vorstellungen über den Ursprung von Krankheit(en) aufzuzeigen, und wissenschaftliche Aufklärung kann darin bestehen, für bestimmte Formen von Krankheit die tatsächlichen Ursachen nachzuweisen. Zusätzlich zu dieser parallelen Aufklärungsarbeit kann Aufklärung auch darin bestehen, dass durch philosophische Analyse in wissenschaftskritischer Absicht aufgezeigt wird, dass eine bestimmte für wissenschaftlich gehaltene Erklärung in Wirklichkeit auf weltanschaulichen oder religiösen Vorurteilen beruht. Dies trifft z. B. für die angebliche Krankhaftigkeit der Masturbation oder der sog. »Drapetomanie« zu, die als religiös bzw. politisch motivierte Verfälschungen der wissenschaftlichen Medizin entlarvt werden konnten. In der vorliegenden Studie wird ein noch ungewöhnlicherer Fall der Interaktion von Philosophie und Wissenschaft analysiert: In der Philosophie der Medizin der letzten 50 Jahre werden Krankheitstheorien entwickelt, die eine Aufklärung der Natur von Krankheit(en) liefern sollen. Im gleichen Zeitraum hat die wissenschaftliche Medizin die jahrhundertelangen Unklarheiten über Naur und Erklärbarkeit von Krankheiten durch eine theoretisch und empirisch begründbare Konzeption aufklären und zur Grundlage einer höchst erfolgreichen Entwicklung des ärztlichen Könnens in der praktischen Diagnostik ud Therapeutik machen können, die auch das Bedürfnis des erkrankten Individuums nach einem rationalen Verständnis – mithin nach Aufklärung – seiner Situation erfüllen kann. Dieser wissenschaftliche und praktische Fortschritt in der Krankheitstheorie stimmt nun aber nicht mit den – inzwischen zahlreichen – philosophischen Krankheitstheorien überein, sondern steht in einem nachweisbaren fundamentalen Widerspruch zu ihnen. Die Existenz und Bedeutung dieses Widerspruchs ist * Der Autor dankt Daniel Friedrich, Hans-Georg Hofer, Jan-Ole Reichardt und Bettina Schöne-Seifert für zahlreiche wertvolle Kommentare und hilfreiche Diskussionen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes. Verbliebene Fehler gehen selbstverständlich ausschließlich zu Lasten des Verfassers.
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aber bislang völlig übersehen worden oder aber, in wissenschaftskritischer Wendung, gar als Zeichen für die Inadäquatheit der medizinischen Theorie verkannt worden, was in eklatantem Widerspruch zum praktischen Erfolg der heutigen Medizin steht. Es tritt daher die Situation ein, dass die gegenwärtige Philosophie der Medizin mit ihren Krankheitstheorien selbst der Aufklärung dringend bedürftig ist. Dies kann letztlich nur durch eine wissenschaftstheoretische Analyse der heutigen wissenschaftlichen Medizin gelingen, die minutiös nachzeichnet, auf welchen theoretischen Grundlagen die wissenschaftliche Krankheitslehre beruht und an welchen Stellen die philosophischen Krankheitstheorien diese Grundlagen verfehlen oder ignorieren. Wegen der hohen Bedeutung, die das Wissen über die Natur von Krankheit für die richtige ärztliche Praxis und damit für unser aller gesundheitliches Wohlergehen besitzt, ist eine solche Analyse und Aufklärung keineswegs nur von akademisch-philosophischem Interesse, sondern berührt unmittelbar die Bedürfnisse und Lebensinteressen aller Menschen. Nur ein aufgeklärter und praktisch erfolgreich anwendbarer Begriff von Krankheit kann dem erkrankten Individuum ein angemessenes, hilfreiches Verständnis seiner gestörten praktischen Lebenssituation verschaffen. Die folgende Abhandlung versucht, diesem Grundanliegen der Aufklärung angemessen Rechnung zu tragen.
1. Einleitung 1.1. Fragestellung und Zielsetzung: Ausgang von der Kontroverse um den Krankheitsbegriff Der Zusammenhang von Theorie und Praxis in der Medizin findet in den letzten Jahrzehnten zunehmende Aufmerksamkeit, sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der engeren philosophischen Diskussion. Die Diskussionen entzünden sich vor allem an Fragen, die kontrovers beantwortet werden, und an Problemen, deren Lösung als praktisch wichtig und dringlich erachtet wird. Man kann in der Entwicklung grob zwei Diskussionsstränge unterscheiden: Die medizinethische und die medizintheoretische bzw. medizin-erkenntnistheoretische (auch: medizinphilosophische) Diskussion. Die erstere lässt sich ungefähr seit den 1960er Jahren, vor allem in den englischsprachigen Ländern, in ihrer Entstehung beobachten und ist mittlerweile eine weltweit auch institutionell wohletablierte Disziplin. Letztere startete ebenfalls in den 1960er Jahren, brauchte jedoch erheblich länger, bis sie etwa seit der Jahrtausendwende rasch an akademischem und öffentlichem Interesse gewann und gegenwärtig dabei ist, in dieser Hinsicht zur Medizinethik aufzuschließen. Dies kann man z. B. daran ermessen, dass im Jahre 2017 gleich drei umfangreiche Handbücher erschienen, die beanspruchen, das
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ganze Feld der Medizinphilosophie abzudecken und eine erste Bilanz der Forschungserträge zu präsentieren.1 An diesen Handbüchern kann man aber auch ein grundlegendes Dilemma der bisherigen Medizinphilosophie erkennen: Der grundlegendste Begriff der Medizin überhaupt, der Begriff der Krankheit, wird zwar seit Anbeginn dieser philosophischen Diskussion (um 1970) zu klären versucht, aber diese Versuche waren schon zu Beginn durch eine grundsätzliche Kontroverse gekennzeichnet und sind es bis heute geblieben.2 Obwohl inzwischen Dutzende philosophischer Explikationsversuche vorliegen, sind diese Krankheitstheorien weiterhin kontrovers.3 In den Worten von Dominic Sisti und Arthur Caplan (2017): »[D]ozens of philosophical theories paint starkly different pictures of the essential nature of disease.«4 Diese Situation ist umso befremdlicher, als ihr keineswegs eine ähnlich kontroverse Lage in der substantiellen, theoretischen und praktischen Medizin korrespondiert. Insbesondere bildet die philosophische Kontroverse, die im wesentlichen zwischen den beiden Lagern der sog. Naturalisten und der Normativisten geführt wird, keine entsprechende substantiell-medizinische Kontroverse über Krankheiten und die Begrifflichkeit der Krankheitslehre ab – was ja eigentlich zu erwarten wäre, wenn die strittigen Unterscheidungen nicht im wörtlichen Sinne medizinisch gegenstandslos sein sollen. Wie kann man in dieser Situation überhaupt weiterkommen? Ich werde in diesem Beitrag den unbescheidenen Versuch machen nachzuweisen, 1 Solomon/Simon/Kincaid 2017; Marcum 2017; Schramme/Edwards 2017. Schon früher war mit Gifford 2011 ein vergleichbar umfassendes Handbuch erschienen. 2 Der frühe Aufsatz von H. T. Engelhardt »The concepts of health and disease« (Engelhardt 1975) ist vermutlich mitverantwortlich dafür, dass sich die ganze nachfolgende philosophische Diskussion nicht an der tatsächlichen medizinischen Krankheitslehre orientiert hat. Engelhardt behauptet nämlich, das Konzept der Krankheitsentität sei veraltet und nicht vereinbar mit den Gesetzen von Physiologie und Pathophysiologie. Er hat das moderne Konzept der Krankheitsentitäten, das für die Medizin des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich ist, offensichtlich irrtümlich mit der veralteten substantialistischen Konzeption aus früheren Epochen der Medizingeschichte verwechselt, obwohl Medizinhistoriker wie Owsei Temkin die Neuentwicklung schon längst erkannt hatten (Temkin 1963). Auch Caroline Whitbeeck und Christopher Boorse verkennen die Bedeutung des modernen Konzepts der Krankheitsentität (zu Boorses Position vgl. Fussnote 11). Ich habe diese Fehlentwicklung in der Medizinphilosophie analysiert und die fehlerhafte Argumentation von Engelhardt 1975 und Whitbeck 1977 aufgezeigt in Hucklenbroich 2018a. Die nachfolgenden philosophischen Kontroversen um den Krankheitsbegriff sind teilweise in einigen umfangreichen Sammelbänden dokumentiert, u. a. in Engelhardt/Spicker 1975, Caplan/Engelhardt/McCartney 1981, Humber/ Almeder 1997, Caplan/McCartney/Sisti 2004, Schramme 2012. Vgl. auch Fussnote 3. 3 Vgl. Boorse 2011; Sisti/Caplan 2017; Cooper 2017; Kingma 2017. 4 Sisti/Caplan 2017, 5.
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– dass die bislang diskutierten philosophischen Krankheitstheorien, und zwar sowohl die naturalistischen als auch die normativistischen, bereits im Ansatz auf falschen Voraussetzungen beruhen, die durch Stand und Entwicklung des medizinischen Wissens schon seit längerem als überholt, definitiv widerlegbar oder begrifflich und wissenschaftstheoretisch inadäquat gelten müssen; – dass die heutige wissenschaftliche Medizin in ihrer Krankheitslehre ein System erklärender, experimentell belegbarer Theorien (im Sinne der heutigen Wissenschaftstheorie) beinhaltet, das insbesondere den Krankheitsbegriff und die damit verbundenen begrifflichen Unterscheidungen widerspruchsfrei zu explizieren und zu erklären gestattet; – dass die bislang von philosophischer Seite geübte Kritik an der (rekonstruierten) medizinischen Krankheitslehre auf gravierenden Mißverständnissen, z. B. einem Unverständnis der Methode hypothetisch-kontrafaktischen Argumentierens in der Medizin und einer Verwechslung erfahrungswissenschaftlicher Theorien und Erklärungen mit essentialistischen Spekulationen über die Natur des Menschen beruht. Diese, vielleicht etwas radikal klingende, Vorgehensweise scheint mir angesichts des bisherigen Diskussionsverlaufs angebracht und notwendig, um Status und Bedeutung eines so zentralen wissenschaftlichen Grundbegriffs, wie es der Krankheitsbegriff ist, aufzuklären. Dass diese Aufklärung wesentlich auf bereits vorliegende wissenschaftliche Theorien und Resultate zurückgreift und zurückgreifen muss, sollte nicht einem offenen oder heimlichen »Positivismus« oder »Szientismus« angelastet werden, sondern entspricht der Einsicht, dass auch heute – noch oder wieder – Aufklärung durch Wissenschaft zu leisten bleibt. Dies ist jedenfalls so lange notwendig, wie die philosophische Diskussion nur vermeintlich die wissenschaftliche Erkenntnis transzendiert, aber in Wirklichkeit deren Grundlagen noch gar nicht zur Kenntnis genommen und philosophisch und wissenschaftstheoretisch durchdrungen hat. 1.2. Überblick: Eine Analyse von Grundstrukturen der medizinischen Krankheitslehre und ihrer Verkennung in philosophischen Krankheitstheorien In den folgenden drei Kapiteln werden drei grundlegende strukturelle Aspekte der medizinischen Theorie über Krankheiten (Krankheitslehre oder Allgemeine Pathologie) analysiert, und es wird herausgearbeitet, wo genau und in welcher Hinsicht die heute diskutierten philosophischen Krankheitstheorien davon in einer Weise abweichen, die auf grundsätzlichen Fehlauffassungen beruht und daher zu unlösbaren theoretischen Problemen führt, Die drei Aspekte sind: 1. Die theoretische Grundlage und Struktur der Physiologie und Pathophysiologie, insbesondere in Bezug auf die Begrffe der Wirkung, der Normalität und
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des Lebens/Überlebens, die in den naturalistischen (philosophischen) Krankheitstheorien als Schlüsselbegriffe fungieren. 2. Die Rolle von Krankheitskriterien und des Konzepts der Krankheitsentität in der medizinischen Nosologie, die insbesondere in den normativistischen (philosophischen) Krankheitstheorien entweder ganz übersehen oder in einer fehlerhaften, medizin-fremden Weise aufgefasst werden.5 3. Die Art der Generalisierung in der Krankheitslehre und die Form, die theoretische Erklärungen darin annehmen. Dies wird insbesondere am Beispiel des Kriteriums des vorzeitigen Todes und an der theoretischen Behandlung des Alters diskutiert, und es wird gezeigt, wie eine neuere philosophische Kritik der medizinischen Begriffsbildung deren Methode verkennt und einen unangemessenen, irreführenden »Vergleich« zwischen der medizinischen Theorie und zwei prominenten philosophischen Theorieansätzen vorlegt.
2. Naturalistische Krankheitstheorien und die Fehlinterpretation der Struktur von Physiologie und Pathophysiologie – am Beispiel von Christopher Boorse 2.1. Grundannahmen des funktionalistischen Naturalismus und der Boorseschen Analyse Christopher Boorse gilt als Hauptvertreter des Naturalismus in der philosophischen Krankheitstheorie. Als naturalistisch werden Positionen bezeichnet, die den Krankheitsbegriff als einen wertfreien Begriff auffassen, der durch Konzepte und Erklärungsmodelle der Naturwissenschaft zu definieren ist. Boorse selbst schreibt dazu: »Wenn Krankheiten Abweichungen vom biologischen Design einer Spezies sind, dann ist ihre Feststellung eine Sache der Naturwissenschaft und nicht abhängig von wertenden Entscheidungen.«6 Von vielen Autoren wird Boorses Krankheitsdefinition auch als die Theorie angesehen, die den Krankheitsbegriff der wissenschaftlichen Medizin wiedergibt oder ihm jedenfalls so nahe wie möglich kommt. (Bisweilen wird diese Krankheitstheorie daher auch als szientistisch oder positivistisch bezeichnet, was unter Philosophen allerdings in der Regel pejorativ konnotiert ist.) Sie können sich dabei auf Boorses Selbst5 In Hucklenbroich 2018a habe ich versucht, philosophie- und medizingeschichtlich zu rekonstruieren, wann und bei welchen Autoren es zu dieser Fehlwahrnehmung der Krankheitslehre und zur Auseinanderentwicklung von theoretischer Medizin und Medizinphilosophie gekommen ist. In welchem Verhältnis die krankheitstheoretische Begrifflichkeit der Medizin zur Normativität und zur praktischen Medizin steht, ist ausführlich dargestellt und analysiert in Hucklenbroich 2016. 6 Boorse 2012, 64. Der Aufsatz Boorse 2012 ist die deutsche Übersetzung von Boorses »Hauptwerk« von 1977.
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einschätzung beziehen: »Das Ziel dieses Aufsatzes ist eine Analyse von Gesundheit und Krankheit, so wie sie in der traditionellen physiologischen Medizin verstanden werden.«7 Ob diese Zielsetzung von Boorse erreicht worden ist – diese Frage ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Bevor wir den Boorseschen Vorschlag im Detail analysieren (2.1.–2.3.), ist jedoch ein genauerer Blick darauf zu werfen, was Boorse unter Physiologie bzw. physiologischer Medizin, physiologischen Funktionen und dem natürlichem Design einer Spezies versteht; hier fallen nämlich bereits Schlüsselentscheidungen für die Angemessenheit seiner Analyse. 2.1.1. Das Speziesdesign und die funktionalistische Fehldeutung der Physiologie Für Boorse ist Gesundheit Normalität, und Normalität bedeutet Natürlichkeit: »Ich möchte hier eine Analyse vorschlagen der zufolge Gesundheit in normaler Funktionalität besteht, wobei Normalität statistisch ist und Funktionen biologisch bestimmt sind […] Krankheiten [sind] Zustände […], die der Natur der betreffenden Spezies fremd sind. Mit ›Natur‹ ist hier ein Funktionsdesign gemeint, das sich empirisch als typisch für die betreffende Spezies erweist.«8 Was aber sind ein Funktionsdesign und eine Funktion, und in welchem Sinn können sie empirisch aufgefunden werden? Boorses Vorstellung ist diese: An und in einem in einer Umwelt lebenden Organismus lassen sich zahllose Vorgänge empirisch feststellen. Die Physiologie dieses Organismustyps, z. B. die des Menschen, erforscht, erfasst und beschreibt alle diese Vorgänge sowie alle Dispositionen zu Vorgängen, die bei bestimmten Anlässen oder Auslösern an oder in diesem Organismustyp auftreten können. Sie beschreibt weiterhin alle Wirkungen, die diese Vorgänge und Dispositionen kausal im Organismus bzw. für einen Beobachter erkennbar haben und haben können. Ein bestimmter (kleinerer) Teil dieser Wirkungen besteht (nach Boorse) darin, einen Beitrag dazu zu leisten, dass der einzelne Organismus überlebt oder sich fortpflanzen kann (was ein »Beitrag« genau ist, bleibt begrifflich noch zu klären). Ein anderer Teil der Wirkungen ist für das Überleben irrelevant, ein dritter Teil potentiell oder aktuell nachteilig. Nur der erste Teil der Wirkungen ist nach Boorse funktional, d. h. der betreffende Vorgang realisiert eine Funktion. Am Beispiel erläutert: Dass die abwechselnde Kontraktion und Expansion des Herzmuskels mit seinem Klappenapparat (i) eine Fließbewegung des Blutes bewirkt, ist eine Funktion (Pumpfunktion); dass sie (ii) bestimmte akustische Phänomene (Herztöne und Herzgeräusche) bewirkt, ist keine Funktion; dass sie (iii) in manchen Fällen die Ruptur eines Aneurysmas oder Hämangioms und damit eine innere Blutung bewirkt, ist eine nachteilige Wirkung bzw. dysfunktional. Boorse schreibt: »Deshalb hat das Herz nicht die Funktion, Herzgeräusche zu erzeugen, sondern Blut zu pumpen, und deswegen 7 AaO 65 8 AaO 63, 83.
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hat die Niere nicht die Funktion, die Blase zu füllen, sondern Giftstoffe zu entsorgen.«9 Boorse unterscheidet also begrifflich ganz richtig zwischen den Vorgängen einschließlich ihrer kausalen Wirkungen, die insgesamt im Organismus vorkommen, und dem Anteil an kausalen Wirkungen dieser Vorgänge, denen man eine Funktion zusprechen kann und die daher funktional sind. Nur diese funktionalen Wirkungen bzw. Funktionen gehören nach Boorses Ansatz zum Speziesdesign und machen in ihrer Gesamtheit dieses aus. Genau an dieser Stelle liegt aber der fundamentale Fehler des Ansatzes, der den Funktionalismus von einer erfahrungswissenschaftlich-physiologischen Theorie unterscheidet und dessen Speziesdesign zu einer nicht-empirischen Hypostasierung macht: Boorse und mit ihm jeder funktionalistische Ansatz benötigen ein Kriterium oder irgendeinen Test, das/der für jeden einzelnen physiologischen Vorgang unterscheidet, welche Wirkungen funktional, welche neutral und welche dysfunktional sind. Nun sind aber die physiologischen Vorgänge in dieser Hinsicht gerade nicht eindeutig und situationsinvariant zuordnungsfähig, da sie polyvalent und ambivalent sind: Der Herzschlag kann sowohl den Blutfluß, die Herztöne als auch dysfunktionale Folgen wie die Ruptur von Gefäßwänden oder die Auslösung von Embolien kausal bewirken, je nach situativem Gesamtkontext im Organismus. Solche möglichen Wirkungen sind typisch für den menschlichen Organismus und stellen keineswegs kontingente, theoretisch vernachlässigbare Umstände dar. Diese Poly- und Ambivalenz gilt für alle physiologischen Vorgänge und macht es unmöglich, ein Speziesdesign anzugeben, das nur aus funktionalen Vorgängen bestünde. Anders gesagt: Ein funktionales Speziesdesign (z. B. des Menschen) gibt es nicht! Was es gibt, ist das kausale »Design«, besser: das kausale Modell des Organismus als eines Systems, das sowohl gesunde als auch neutrale und krankhafte Vorgänge enthalten bzw. entwickeln kann. Dieses kausale Modell ist es, das in den Theorien von Physiologie und Pathophysiologie ausgearbeitet ist und in den zugehörigen Lehrbüchern dargestellt wird. Beispielsweise werden die Herztöne und Herzgeräusche in Lehrbüchern der Physiologie detailliert beschrieben und erklärt; sie spielen in der Theorie der Herzleistung und der kardiologischen Diagnostik eine bedeutende Rolle, obwohl der Funktionalist sie als bedeutungslos und daher vernachlässigbar behandelt und nicht als Teil des Speziesdesigns betrachtet. Der grundlegende, schwere Irrtum Boorses besteht darin zu glauben, die Physiologie-Lehrbücher beschrieben ein Organismusmodell, das im Sinne des Funktionalismus ein funktionales Speziesdesign darstellt, und er könne sich einfach auf diese Lehrbücher berufen: »Für jeden Typ [von Organismen] finden wir in Lehrbüchern eine zusammenfassende Darstellung dessen, was ich als Speziesdesign bezeichne […]«10 Das ist nicht nur definitiv falsch, sondern es beschreibt ein unerfüllbares Wunschbild: Die physiologischen Vorgänge sind 9 AaO 85. 10 AaO 87.
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nicht eindeutig und kontextinvariant in funktional und nicht funktional einteilbar, und die Begriffe der Funktion und Dysfunktion eignen sich daher nicht als theoretische Grundbegriffe der Krankheitslehre. Dazu eignet sich vielmehr der Begriff der Krankheitsentität, auf den ich weiter unten genauer eingehen werde. Interessanterweise ist Boorse dieser Begriff durchaus geläufig, und er versteht ihn – etwa im Unterschied zu Engelhardt – auch korrekt im modernen Sinn.11 Aber er lehnt es ab, diesen Begriff als theoretischen Grundbegriff der Krankheitslehre in Betracht zu ziehen, da das medizinische Wissen über Krankheitsentitäten noch zu unvollständig sei. Das war allerdings auch 1977 schon eine Fehlwahrnehmung, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe12, und hat verhindert, dass Boorse die tatsächliche begriffliche Grundlage der medizinischen Krankheitslehre erkannt und analysiert hat. Stattdessen hat er versucht, von seiner irrigen funktionalistischen Fehldeutung der Physiologie her eine eigene Definition von Krankheit zu geben, die wir im folgenden genauer analysieren. 2.1.2. Boorses Krankhetsdefinition und die Physiologie Die Physiologie des Menschen (im folgenden immer kurz: die Physiologie) ist seit der Antike ein Teil der Medizin, genauso wie die Pathologie. Seit dem 19. Jahrhundert ist sie durch Anwendung der experimentellen Methode und durch Anschluss an die Naturwissenschaften zu einer modernen Erfahrungswissenschaft geworden.13 Eine gängige Charakterisierung findet sich z. B. in dem entsprechenden Eintrag der Wikipedia: »Die Physiologie ist die Lehre von den normalen physikalischen und biochemischen Vorgängen in den Zellen, Geweben und Organen […]; sie bezieht das Zusammenwirken aller Lebensvorgänge im gesamten Organismus in ihre Betrachtung ein.«
11 »Heute wäre die genaueste Definition einer Krankheitsentität eine Kombination aus Krankheitsanzeichen, Symptomen und einer Pathologie mit spezifischer Ätiologie und Prognose. […E]ine Einteilung … in solche Entitäten [wird] als Ideal angestrebt, sie ist aber in der Praxis aufgrund unseres begrenzten medizinischen Wissens nur bis zu einem bestimmten Grad möglich. […] In dieser einen Hinsicht werde ich nicht versuchen, meinen Vorschlag an das übliche Verständnis von Krankheit anzupassen.« (AaO 79–80) 12 Hucklenbroich 2018a. Ich habe dort gezeigt, dass seit 1957 in der medizinischen Literatur bei Leiber et al. das Konzept der Krankheitsentität und der ihm korrespondierende Begriff des Syndroms in der Geschichte der Medizin erstmals explizit als theoretische Grundlagen dargestellt und belegt worden sind. 13 Zur Geschichte der Physiologie vgl. z. B. Rothschuh 1953, 1968; Bouvenot/Delboy1983; Ackerknecht 1992. Der aktuelle Stand der Physiologie und Pathophysiologie ist z. B. dargestellt in den Standardwerken Schmidt/Lang 2017 und Blum/Müller-Wieland 2018 (vormals »Siegenthaler«). Einführend dazu: Speckmann/Wittkowski 2015. Zur Pathomorphologie vgl. Böcker et al. 2012 oder Riede/Werner 2017.
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Diese Charakterisierung, die auf den Begriff der Normalität rekurriert, legt den Gedanken nahe, dass ausgehend von ihr eine einfache Abgrenzung und Definition der krankhaften, pathologischen Vorgänge – als den nicht normalen – möglich sein müsste, indem einfach alle anderen, von den physiologischen abweichenden Vorgänge als nicht normal und daher als krankhaft ausgezeichnet werden. Dieser Gedanke liegt letztlich der gegenwärtig meistdiskutierten Form des philosophischen Naturalismus zugrunde, der »biostatistischen Theorie« (BST) von Christopher Boorse.14 Diese fügt lediglich noch hinzu, – dass sich auf der Basis der Lehrbuchdarstellungen der Physiologie eindeutig angeben lässt, welche physiologischen Vorgänge funktional sind bzw. »mit einer Funktion assoziert sind«, wie sich Boorse ausdrückt,15 – dass die physiologischen Vorgänge (bzw. die mit ihnen assoziierten Funktionen) Ziele bzw. Wirkungen haben, die sich hierarchisch ordnen lassen und letztlich zu den obersten Zielen Leben/Überleben oder Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit beitragen, – dass sie einen quantitativen Wirkungsgrad (efficiency) besitzen, der zwischen verschiedenen Individuen variiert und in der Population insgesamt in statistisch erfassbarer Weise verteilt ist, – und dass der statistisch durchschnittliche Wirkungsgrad eines Vorgangs abhängig von Geschlecht und Altersgruppe differiert. Diese Annahmen ermöglichen zusammen die Definition, dass ein Vorgang (eine Funktion) dann krankhaft ist, wenn er bezüglich seines Wirkungsgrades vom statistischen Mittelwert in seiner Bezugsgruppe (Alter und Geschlecht) hinreichend stark quantitativ abweicht. Begründet wird diese Aussage damit, dass der 14 In den Abhandlungen von Boorse zu seiner Krankheitstheorie findet sich die Vorstellung, dass die Physiologie das gültige Kriterium dafür enthalte, was normal und spezies-typisch für den Menschen sei, von Anfang an und bis zur letzten Arbeit von 2014 unverändert. Typisch dafür sind Sätze wie »Now physiology tells us the typical lifespan of cells, which varies with tissue.« (Boorse 2014, 706). Man kann hier zu Recht die Frage stellen, warum Boorse eigentlich nicht die naheliegende Option wählt, für die Definition von Krankhaftigkeit auf die ja ebenfalls vorliegende Pathophysiologie zurückzugreifen. Hat er deren Existenz womöglich übersehen? Allerdings würde er dann erkennen müssen, dass seine eigene philosophische Konstruktion des Pathologischen im strengen Sinn redundant ist. – Übrigens müssten Langanke/Werner, die Boorses Krankheitstheorie für besser als die medizinische Krankheitslehre halten, an der hier zitierten Stelle eigentlich gestutzt haben und Boorse eine »wissenschaftlich suspekte essentialistische Annahme hinsichtlich der Natur des Menschen« ankreiden, denn das tun sie jedenfalls bei meiner Aussage über dasselbe Thema – Lebensdauer und Regeneration menschlicher Zellen (vgl. unten Kap. 4.1., Frage/Zitat/Antwort 2). 15 Wir sehen im folgenden zum Zwecke des Arguments davon ab, dass diese funktionalistische Grundvoraussetzung, wie oben gezeigt, nicht haltbar ist, und verfolgen Boorses Argumentation unabhängig von diesem grundlegenden Einwand.
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jeweilige Vorgang dann nicht mehr genügend zu einem oder beiden der obersten Ziele beiträgt. Boorse hat seine BST seit 1975 in mehreren umfangreichen Aufsätzen vorgelegt und dabei mehrfach Änderungen und Ergänzungen vorgenommen, um Gegenargumente zu entkräften.16 Die letzte und wichtigste Änderung (von 2014) bezieht sich darauf, dass er nunmehr Altern als Krankheit auffasst.17 Die Grundposition ist aber gleich geblieben, wie man aus der letzten, aktuellsten Version erkennen kann:18 »The target of my basic health paper (Boorse, 1977) was scientific medicine!s concept of theoretical health as normality, i. e., the total absence of pathological conditions. The fundamental idea is that a pathological condition is a state of statistically species-subnormal biological part-function […], relative to sex and age. Here is a slightly corrected summary from 1977: 1. The reference class is a natural class of organisms of uniform functional design; specifically, an age group of a sex of a species. 2. A normal function of a part or process within members of the reference class is a statistically typical contribution by it to their individual survival [or] reproduction. 3. Health in a member of the reference class is normal functional ability: the readiness of each internal part to perform all its normal functions on typical occasions with at least typical efficiency. 4. A disease [later, pathological condition] is a type of internal state which impairs health, i. e., reduces one or more functional abilities below typical efficiency [… .C]lause 3 presupposes an explication of »with at least typical efficiency« as »at efficiency levels within or above some chosen central region of their population distribution« […] – that is, not far below the statistical mean.«
Dieser auf den ersten Blick durchaus bestechende Gedankengang leidet jedoch bei näherer Betrachtung an mehreren unterschiedlichen Fehlern: Erstens ist die Auffassung von der Physiologie und ihrem Verhältnis zur Pathophysiologie, die 16 Boorse 1975, 1976, 1977, 1987, 1997, 2002, 2014. Zu der sehr weitläufigen Diskussion über Boorses Theorie vgl. exemplarisch die Beiträge im Journal of Medicine and Philosophy 39 (2014) 565 ff. 17 Im Original schreibt Boorse: »I make no changes in doctrine, except to consider treating »normal aging« as pathological by taking young adults as the standard for all adults.« (Boorse 2014, 683). Diese Änderung erweist sich als besonders delikat, wenn man berücksichtigt, welche Rolle die Behandlung des Alters in der Position von Langanke/ Werner 2015 spielt: Stützen sie doch ihre Behauptung, dass Boorses Krankheitstheorie gegenüber der von mir rekonstruierten medizinischen Auffassung überlegen und zu bevorzugen sei, auf das Argument, nur bei Boorse, nicht in der Medizin, könne ein Unterschied zwischen normalen Alterserscheinungen und krankhaften Veränderungen im Alter gemacht werden. In Kap. 4 zeige ich, dass die Sachlage genau umgekehrt ist. 18 Ebd.
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zugrunde liegt, um den entscheidenden Aspekt verkürzt, nämlich dass schon bei dieser Abgrenzung entschieden wird, was normal und Normalität ist. Das sieht man folgendermaßen ein: Als normal gelten für Boorse diejenigen Vorgänge/ Funktionen, die in den Lehrbüchern der Physiologie aufgelistet sind. Die Autoren dieser Bücher – die Physiologen – haben aber bei der Abfassung ihrer Werke eben nur die Vorgänge/Funktionen aufgenommen, die nach dem medizinischen Wissensstand normal (= nicht pathologisch) sind, und haben die der Medizin ebenfalls bekannten pathologischen Vorgänge in separaten Lehrbüchern oder Buchteilen dargestellt und aufgelistet, nämlich in den Lehrbüchern der Pathophysiologie. Um zwischen diesen beiden Listen unterscheiden zu können, haben sie die üblichen geltenden medizinischen Krankheitskriterien benutzt, die zur Definition von Krankheit/Krankhaftigkeit verwendet werden. Boorse benutzt also unbemerkt und implizit bereits eine Definition von Krankheit oder Krankhaftigkeit, wenn er sich auf die Lehrbücher der Physiologie stützt, um die normalen Vorgänge/Funktionen zu identifizieren. Wird das gesehen und berücksichtigt, lässt sich der ganze Gedankengang nicht mehr in dieser Form durchführen, da er dann als eine petitio principii erkennbar wird. Zweitens ist die Gedankenkonstruktion auch immanent begrifflich betrachtet nicht schlüssig, da die Begriffe von Funktion, Wirkung, Ziel und Wirkungsgrad (efficiency) in diesem Kontext gar nicht klar definiert sind und Boorses Erklärungen bei genauer Analyse wieder auf Zirkularitäten, Widersprüche oder Definitionslücken führen, so dass eine Anwendung auf die empirischen Verhältnisse im Organismus nicht einmal theoretisch vorstellbar ist (und auch nie gezeigt oder vorgeführt wurde). Schließlich liegt auch noch eine Vermischung oder Verwechslung von epistemischen Kriterien – woran erkennt man, ob eine Krankheit vorliegt? – und Realdefinitionen – was ist eine Krankheit? – vor, die die vermeinte relative statistische Seltenheit pathologischer Vorgänge zu einem Definitionsmerkmal werden lässt, was nicht dem intuitiven Verständnis von Krankhaftigkeit entspricht und real-empirisch sogar falsch ist (vgl. unten 2.3.). Insgesamt lässt sich zeigen, dass auf diesem Wege – ausgehend von der Physiologie bzw. dem naturalistischen Bild von ihr – keine Definition oder Abgrenzung der krankhaften Vorgänge von den gesunden zirkelfrei (d. h. ohne Rückgriff auf eine bereits vorliegende Abgrenzung), begrifflich nachvollziehbar und empirisch anwendbar gelingen kann. Dieses Argument wird im folgenden skizziert, wobei wir uns angesichts der extremen Weitläufigkeit und Kleinteiligkeit der zugehörigen philosophischen Diskussion ganz auf die zentralen Punkte konzentrieren werden. 2.1.3. Der Normalitätsbegriff und das Verhältnis von Physiologie und Pathophysiologie Die Physiologie wird, wie oben zitiert, als Lehre von den normalen Lebensvorgängen bezeichnet. Woher aber kann der physiologische Forscher überhaupt wissen, ob der von ihm gerade entdeckte oder untersuchte Vorgang ein normaler und kein krankhafter ist, d. h. ober überhaupt zur Physiologie und nicht zur Pa-
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thophysiologie gehört? Ersichtlich führt die Berufung auf die (z. B. in Lehrbuchform) existierenden theoretischen Darstellungen der Physiologie hier sofort zum Zirkelschluss: Die Physiologie ist kein »vom Himmel gefallenes« Wissensgebäude, sondern sie muss durch Forschung erarbeitet werden, und wenn sie über die Normalität der von ihr untersuchten Vorgänge urteilt und entscheidet, braucht sie eine begründete Methode, nämlich ein Normalitätskriterium. De facto wird in der medizinischen (physiologischen) Forschung eines der folgenden möglichen Verfahren angewendet – Entweder wird bereits bei der Auswahl der untersuchten Versuchspersonen darauf geachtet, dass ausschließlich gesunde Probanden in das untersuchte Kollektiv eingeschlossen werden. – Oder von dem zu untersuchenden Vorgang ist bereits vorab, aufgrund bestehenden medizinischen Wissens, bekannt, dass er Teil oder Manifestation einer Krankheit ist. Dann gehört der Vorgang zur Pathophysiologie, als Schwesterdisziplin der Physiologie, und ist nicht normal. – Ist weder bekannt, ob die Versuchsperson gesund ist, noch, ob der untersuchte Vorgang krankhaft ist, muss auf weitere Kriterien und eventuell weitere Untersuchungen zurückgegriffen werden, um eine Zuordnung zu erreichen. Dies kann entweder durch erweiterte Diagnostik bei der Versuchsperson oder durch Prüfung, ob eine neue, bisher nicht bekannte Krankheitsentität vorliegt, geschehen. Grundlage ist in beiden Fällen die medizinische Nosologie bzw. die nosologische Forschung. In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass bereits eine Methode oder ein Kriterium existiert, um zwischen gesund und krank zu unterscheiden. Damit ist gezeigt, dass die Physiologie oder der Physiologe bereits ein Krankheitskriterium benötigt und voraussetzen muss, um seinen Gegenstandsbereich abzugrenzen. Der Versuch, die krankhaften Vorgänge einfach als das Komplement zu den physiologischen zu definieren, führt zum Zirkelschluss und kann nicht gelingen. Der naturalistische Philosoph, der sich auf das bestehende Wissensgebäude der Physiologie beruft, um auf dieser Grundlage seine Krankheitsdefinition zu entwickeln, übersieht, dass er mit dessen Abgrenzung zur Pathophysiologie bereits implizit medizinische Krankheitskriterien übernommen bzw. vorausgesetzt hat. Es gibt noch ein zweites Argument gegen einen solchen Versuch: Die Pathophysiologie, als die Lehre von den krankhaften, nicht normalen Vorgängen im Organismus, ist keineswegs das Komplement, die triviale »Restmenge« zur (»normalen«) Physiologie, sondern bedarf einer eigenständigen Erforschung der Frage, welche krankhaften Vorgänge im Organismus überhaupt vorkommen und möglich sind. Es ist nämlich empirisch keineswegs alles möglich, was rein denkerisch nicht normal wäre, sondern nur ein sehr bestimmter kleiner Teilbereich davon, der nur durch Erfahrung, d. h. klinische und erfahrungswissenschaftliche Forschung bestimmt werden kann. Wollte man also die nicht normalen Vorgänge in einer naturalistischen »philosophischen« Definition einfach als alle Vorgänge
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definieren, die nicht zur Physiologie gehören, wäre diese Definition inhaltlich unbestimmt und viel zu weit, da sie ja alle philosophisch denkbaren Vorgänge einschlösse, die real-empirisch gar nicht vorkommen oder sogar unmöglich sind. 2.2. Wirkungen und Wirkungsgrade organismischer Vorgänge Wenn, wie gezeigt, keine A-priori-Trennlinie zwischen Physiologie und Pathophysiologie angenommen werden kann, kann im naturalistischen Ansatz nur noch von der Gesamtmenge der im Organismus vorkommenden Vorgänge ausgegangen werden, ohne diese vorab nach normal und nicht normal sortieren zu können. Vielmehr muss diese Sortierung gerade durch die naturalistischen Kriterien geleistet werden. Um dies aber leisten zu können, müssen sich die naturalistischen Kriterien auf alle organismischen Vorgänge sinnvoll anwenden lassen. Dies stößt sowohl bei der Annahme, dass alle organismischen Vorgänge sich auf die Ziele Überleben und Reproduktion als kausale Wirkungen beziehen lassen, als auch bei der Annahme, dass sich ihnen ein einheitlicher quantitativer Wirkungsgrad zuordnen lasse, auf unlösbare Probleme begrifflicher und methodologischer Art. 2.2.1. Das fehlende Kausalmodell Die Physiologie »bezieht das Zusammenwirken aller Lebensvorgänge im gesamten Organismus in ihre Betrachtung ein«, wie oben zitiert. Wie dieses Zusammenwirken organisiert ist, ist die Grundfrage für eine Theorie des Organismus. Hier ist die Vorstellung, dass es sich um eine Art »Summation« kausaler Wirkungen aller Lebensvorgänge (auch der pathologischen!) zu zwei »obersten« (letzten?) Wirkungen (»Zielen«?) handele, äußerst fragwürdig, aus mehreren Gründen: – Wenn Leben/Überleben und Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit als Zustände oder Ereignisse aufgefasst werden sollen, die durch die »synergistische« Wirkung aller Lebensvorgänge (als Teilursachen) als »Gesamteffekte« hervorgerufen werden, braucht man dafür eine Theorie oder ein Modell, in der/ dem diese Kausalrelation als eine gesetzmäßige dargestellt werden kann. Da die »Teilursachen« als quantitativ, d. h. durch ihre variablen »Wirkungsgrade« charakterisierbar gelten, müsste es sich um eine durch quantitative Gesetzmäßigkeiten ausgezeichnete Theorie handeln. Eine solche Theorie gibt es aber nirgendwo in den empirischen Wissenschaften, und es ist überhaupt nicht abzusehen, dass eine solche Theorie möglich ist und tatsächlich gefunden werden könnte. Kein naturalistischer Theoretiker hat auch nur ansatzweise eine solche Theorie vorzulegen versucht, sie bleibt ein philosophischer Wunschtraum (der außerdem intern-begrifflich inkonsistent ist). – Gegen die Möglichkeit einer solchen umfassenden, quantitativen und kausalen Organismustheorie spricht zusätzlich, dass sie ja nicht nur den kausalen Beitrag
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der normalen, gesunden Lebensvorgänge, sondern auch den der pathologischen erfassen und einbeziehen müsste. Wie soll man deren Teilwirkung (quantitativ) definieren und messen? Etwa durch negative Werte? Auch für dieses Projekt gibt es keinerlei Vorbild oder Anhaltspunkt in den Erfahrungswissenschaften. – Der soeben genannte Punkt macht darauf aufmerksam, dass schon die Annahme der Existenz und Definierbarkeit einheitlicher Wirkungsgrade für alle Lebensvorgänge völlig unwahrscheinlich ist und von der naturalistischen Position nicht belegt wird. Die im Organismus vorkommenden Lebensvorgänge sind von ihrer physikalisch-chemischen Natur her extrem heterogen, sie sind keineswegs durchweg quantitativer Art, und die quantitativ beschreibbaren haben unterschiedlichste physikalische Dimensionen. Dass für alle diese Arten von Vorgängen, Zuständen und Parametern ein »Wirkungsgrad« als einheitliche quantitative Kenngröße und Vergleichsgrundlage in einem Kausalmodell angegeben werden könnte, ist vor dem Hintergrund des gesamten heutigen naturwissenschaftlichen Wissens so extrem unplausibel, dass es nicht einmal als utopische Hypothese ernstgenommen werden kann. Boorse hat in seiner vorläufig letzten Diskussion der BST 2014 einige weitere Erläuterungen zu seiner Begrifflichkeit gegeben, anhand derer sich das Dilemma der Definition von »Wirkungsgrad« besonders prägnant vorführen lässt. Er schreibt an dieser Stelle:19 »Now the most obvious logical feature of medical normality is that most functions have a normal range of values. No one value of heart rate, blood pressure, blood urea nitrogen, serum glutamic-oxaloacetic transaminase, forearm strength, height, IQ, and so on is uniquely normal. Rather, there is a range of normal variation around a mean, with either one or two pathological tails […]. The list in my second sentence is very heterogeneous. Some items on it are true functional capacities (forearm strength, IQ). Others are clinically measurable concrete substances or processes that have functions (SGOT, heart rate, blood pressure), and one (BUN) is a clinical item that has no function but measures the function of something else (the kidneys). I did not mean to imply that all the items are functions. After all, I have repeatedly distinguished a concrete process from its function and stated that a true function can only have one tail (subnormality), not two […]. I only meant that these variables! having a normal range implies that their associated functions have a normal range.«
Diese Ausführungen zeigen: – Ein physiologischer Vorgang, Zustand oder Messparameter ist zu unterscheiden von der Funktion, die mit ihm »assoziiert« ist. 19 Boorse 2014, 685 f. – Eine Erklärung, wie man von den physiologischen Vorgängen in systematischer Weise zu den (angeblich) »assoziierten« Funktionen kommen kann, fehlt in Boorses Darstellung.
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– Die Funktion besteht darin zu bewirken, dass ein Zustand erreicht oder aufrechterhalten wird, der letztlich Leben/Überleben oder Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit bewirkt bzw. »mitbewirkt«. – Der Wirkungsgrad (efficiency) ist das quantitative Ausmaß, in dem diese Wirkung erreicht wird. – Der Wirkungsgrad ist weder begrifflich noch in seiner Größe identifizierbar mit dem assoziierten physiologischen Vorgang/Zustand/Parameter bzw. dessen Größe. – Der Versuch, die Größe des Wirkungsgrades zu definieren oder quantitativ zu bestimmen, führt in folgendes fünfarmiges Dilemma (»Quintilemma«): 1. Der Wirkungsgrad ist undefiniert: Dann ist die gesamte begriffliche Konstruktion der BST undurchführbar, da dies der zentrale Begriff ist: die BSTDefinition ist nicht konstruierbar. 2. Der Wirkungsgrad wird entgegen Boorses Aussage doch mit dem Wert des physiologischen Vorgangs/Parameters identifiziert: Dann sind a) Boorses Aussagen inkonsistent und b) die Werte/Wirkungsgrade können wegen ihrer extrem heterogenen physikalisch-chemischen Dimensionen nicht miteinander verglichen oder verrechnet werden, c) die Werte bzw. Wirkungsgrade können nichts über einen »kausalen Beitrag zu Leben/Überleben oder Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit« oder dessen Wert aussagen: die BST- Definition ist nicht konstruierbar. 3. Der Wirkungsgrad wird mit der Größe der Übereinstimmung (z. B. in Prozent) mit dem statistischen Mittel des physiologischen Parameters identifiziert. Dann sagen diese Werte bzw. Wirkungsgrade nichts über einen »kausalen Beitrag zu Leben/Überleben oder Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit« oder dessen Größe aus: die BST- Definition ist nicht konstruierbar. 4. Der Wirkungsgrad wird mit der Größe der Übereinstimmung (z. B. in Prozent) mit dem statistischen Mittel des Wirkungsgrades identifiziert. Das ist begrifflich zirkulär, der Wirkungsgrad ist nicht definiert: die BST- Definition ist nicht konstruierbar. 5. Der Wirkungsgrad kann nur die Funktionswerte »Ziel erreicht« oder »Ziel nicht erreicht« haben: Wenn das Ziel Leben/Überleben ist, heißt das: die beiden möglichen Funktionswerte sind Leben und Tod. Zwischenwerte, insbesondere Krankheit, kann es nicht geben, die BST- Definition ist nicht konstruierbar. 2.2.2. Das medizinische Modell des Organismus Wie in 2.2.1. gezeigt, ist der naturalistische Ansatz vor allem deswegen inadäquat, weil die Vorstellung vom kausalen Zusammenhang und der »hierarchischen« Zuordnung der organismischen Vorgänge auf angenommene »oberste« Ziele/ Wirkungen hin nicht durch ein begrifflich konsistentes, naturwissenschaftlich
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ausformulierbares Modell konkretisiert werden kann. Die reale Physiologie, die seit fast zwei Jahrhunderten als wissenschaftliches Teilgebiet der Medizin entwickelt worden ist, legt ein anderes Modell der Organisation physiologischer Prozesse zugrunde, in dem wechselseitig aufeinander bezogene, zirkuläre und rückgekoppelte Prozesse als Erklärungsgrundlage dienen. Nach diesem Modell handelt es sich im lebenden Organismus um ein Netzwerk, in dem die einzelnen Vorgänge in der Art verknüpft sind, dass das Resultat (oder die Resultate) jedes einzelnen Vorgangs im Netzwerk in der Auslösung und Ermöglichung eines anderen Vorgangs (oder mehrerer) im Netzwerk besteht, so dass wegen der endlichen Größe des Gesamtsystems zirkuläre und rückgekoppelte kausale Zusammenhänge von Vorgangstypen wesentlich dazugehören.20 Dies kann am besten am Beispiel klargemacht werden. 2.2.2.1. Die Organisation physiologischer Prozesse: Das Beispiel Atmung (Lungenatmung) Als Atmung wird der komplexe Vorgang bezeichnet, durch den der Organismus mit der Umgebung bestimmte gasförmige Stoffe (O2 und CO2) austauscht. Dieser Vorgangstyp findet nur beim lebenden Organismus, bei diesem aber lebenslang statt. Fehlende Atmungstätigkeit ist ein Kriterium des – schon eingetretenen oder akut drohenden – Todes. Der Vorgang der Atmung setzt sich folgendermaßen zusammen: – Bestimmte Zellen im Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) senden periodisch neuronale Impulse an den Zwerchfellmuskel und die Atemmuskulatur im Brustkorb. – Durch diese Signale gesteuert, bewegen sich diese Muskeln periodisch so, dass das Volumen des Brustkorbs abwechselnd vergrößert und verkleinert wird. – Der anatomische Bau von Brustkorb, Lunge und Atemwegen ist dergestalt, dass durch die periodische Bewegung und Volumenveränderung abwechselnd Luft aus der Umgebung durch die Atemwege in die Lunge gesaugt (Inspiration, Einatmung) und verändertes Gas wieder ausgestoßen wird (Exspiration, Ausatmung). – Im Innersten der Lunge, an den Lungenbläschen (Alveolen), kommt die Inspirationsluft in engen Kontakt mit durchströmten Blutkapillaren. – Der enge räumliche Kontakt ermöglicht einen teilweisen Austausch der im Blut gelösten und der in den Alveolen vorhandenen Gase (Sauerstoff und Kohlendioxid) durch Diffusion, einen physikalischen Vorgang. 20 Ich habe die im folgenden nur skizzierte Theorie des Organismus unter der Bezeichnung »Organismus als selbstprogrammierendes System« bzw. »Organismus als Selbstprozessor« ausführlich entwickelt und belegt in Hucklenbroich 1986 und 1989; kürzere Zusammenfassungen auch in Hucklenbroich/Chuaqui 1987 und Hucklenbroich 1990.
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– Dabei wird im Blut der gelöste Sauerstoff angereichert und das Kohlendioxid abgereichert. Das Blut besitzt mit den roten Blutzellen (Erythrozyten) und deren Gehalt an rotem Blutfarbstoff (Hämoglobin) einen spezialisierten Träger für Sauerstoff. – Das flüssige Blut befindet sich in einem weitverzweigten System von Blutgefäßen, die im Prinzip jede Zelle des Organismus berühren. – Durch die Tätigkeit des Herzmuskels wird das Blut dazu gebracht, ständig im Gefäßsystem in Bewegung zu bleiben und alle Zellgewebe zu durchströmen (Herzpumpe). Fehlende Herztätigkeit ist ebenfalls ein Kriterium des Todes bzw. der akuten Lebensbedrohung. – Bei der Berührung mit den Zellen findet ein Gasaustausch zwischen den Zellen und dem Blut statt, bei dem insgesamt Sauerstoff in die Zellen und Kohlendioxid aus ihnen heraus diffundieren oder durch spezielle Transportsysteme ausgetauscht werden. – Der in die Zellen aufgenommene Sauerstoff führt über spezielle biochemische Reaktionen dazu, dass in den Zellen spezifische Vorgänge ablaufen können, z. B. aktive Bewegung (Muskelzellen), Aussendung von neuronalen Impulsen (Nervenzellen) oder abwechselnde Kontraktion und Entspannung (Herztätigkeit). Dies sind, wie gerade dargestellt, Vorgänge, die der Atmung selbst wiederum ermöglichend zugrunde liegen. Bei Betrachtung des skizzierten Teilsystems Atmung ist zu erkennen, dass der Vorgang der Atmung sowohl auf seine Teilvorgänge wie Muskel- und Herztätigkeit und neuronale Erregungsvorgänge ermöglichend wirkt, als auch in der Gesamtbilanz als selbstbezüglich, d. h. sich selbst ermöglichend (selbstprozessierend), zu betrachten ist. In diesem Sinne sind die kausalen Vorgänge im System Atmung zirkulär organisiert. Die hier im Beispiel Atmung vorgeführte zirkuläre Organisation lässt sich bei Ausdehnung der betrachteten physiologischen Vorgämge auf das Gesamtsystem des Organismus als generelles Organisationsprinzip wiederfinden: Die physiologischen Vorgänge haben als Wirkungen oder Resultate keine »höheren Ziele«, sondern immer nur andere physiologische Vorgänge, solange der betrachtete menschliche Organismus lebt. Dies gilt analog auch für die pathologischen Vorgänge, die die Pathophysiologie betrachtet: Auch sie wirken nur auf andere Lebensvorgänge, nicht etwa auf »niedrige« oder »negative« Ziele. Pathologische Vorgänge sind in dieser Hinsicht nicht von den physiologischen unterschieden, sie sind Teil des organismischen Lebensprozesses. Erst im Fall des Todes, also bei der Leiche, ändert sich die Organisation der Prozesse im Organismus dahingehend, dass mehr und mehr Vorgänge aufhören bzw. verschwinden – und damit ihre Resultate, also auch die Zirkularität im Organismusprozess. Diese Abbau- und Zerfallsprozesse sind daher auch nicht mehr Gegenstand der Physiologie, sondern der Thanatologie, die ergänzend zur (Patho-) Physiologie des Sterbeprozesses ein theoretisches Teilgebiet der Rechtsmedizin ist, das die postmortalen
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Veränderungen an der Leiche behandelt. Zu sagen, dass Leben oder Überleben eine Wirkung der physiologischen Vorgänge sei, ist eine nicht korrekte, allenfalls metaphorisch zu verstehende Verwendung des Wirkungsbegriffs und damit eine fehlerhafte Anwendung der Kausalanalyse. Die Voraussetzung, dass die Physiologie sich nur auf Prozesse an lebenden Menschen bezieht, wird dabei zum Ergebnis oder Ziel der Prozesse erklärt – eine für teleologisches Denken charakteristische Gedankenfigur, die in den naturalistischen Konzeptionen noch stillschweigend und uneingestanden wirksam zu sein scheint (ebenso wie das funktionalistisch, also quasi-teleologisch verstandene Speziesdesign). 2.2.2.2. Feedback, individuelle Sollwerte und statistische Mittelwerte Die physiologischen Vorgänge lassen sich in der Regel durch quantitative (metrische) Größen und Parameter beschreiben. Im obigen Beispiel der Atmung sind z. B. die Parameter Lungenvolumen, Dauer eines Atemzugs, Partialdruck von Sauerstoff und Kohlendioxid in der Inspirations- und Exspirationsluft, Sauerstoffkonzentration im Blut, Herzfrequenz, Strömungsgeschwindigkeit des Blutes solche Größen. Diese sind quantitativ definierte und messbare Parameter. Beim gesunden Organismus werden viele dieser Parameter in einem bestimmten Größenbereich, dem sogenannten »Normalbereich«, gehalten, indem die zirkuläre Organisation Rückkopplungsschleifen enthält, die die Größe dieser Parameter als »Sollwerte« im Sinne eines Feedback-Systems regulieren. Solche Sollwerte sind aber nicht als statistische Mittelwerte definierbar und zu erklären, sondern es sind individuenspezifische Konstanten, die um einen individuellen Mittel- oder Sollwert herum schwanken, wobei dieser konstante Mittelwert nicht mit dem Mittelwert in der Bezugsgruppe identisch ist und auch kein Maß für die »Gesundheit« oder »Effizienz« der Stellgrößen darstellt. Diese Sachlage ist in der naturalistischen Krankheitstheorie offenbar falsch verstanden worden und hat zur Einführung statistischer Mittelwerte als Kriterium geführt: Krankhafte (pathophysiologische) Vorgänge können die individuellen Feedbacksysteme so beeinflussen, dass die Werte der von ihnen regulierten Parameter nicht mehr im Normalbereich (des Individuums) liegen. Durch die stillschweigende Identifikation individueller und gruppenbezogener Mittelwerte wird der Anschein erweckt, Krankhaftigkeit könne als statistische Abweichung definiert werden. Es muss dabei aber zusätzlich angenommen werden, dass die regulierten Sollwerte mit den angenommenen »Wirkungsgraden« der Stellgrößen im Feedback-System identifiziert werden können, was in Widerspruch zu der Annahme steht, die Wirkungsgrade bezögen sich auf die Größe des kausalen Beitrags zu Leben/ Überleben und Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit. Nur wenn man diese problematischen Identifikationen als Zusatzannahmen unterstellt, lässt sich eine Krankheitsdefinition nach dem Modell der BST konstruieren, nach dem Muster: Wenn die Werte eines physiologischen Parameters sich bei einem Individuum sehr weit vom durchschnittlichen Wert in seiner Geschlechts- und Altersgruppe
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entfernen, gilt dies als Ineffizienz (Dysfunktion) derjenigen Vorgänge (Stellgrößen), die die Größe des Parameters beeinflussen bzw. regulieren, und dies wird als krankhaft definiert. Das wäre in dieser Interpretation ein zweiter zentraler Gedanke der Boorseschen BSTund ihrer Krankheitsdefinition. Zu bedenken ist hier aber: a) Es fehlt jede Angabe dazu und jede Begründung, ab welcher Größe der statistischen Abweichung und warum überhaupt die statistische Variation eines Parameters als pathologisch gelten soll. b) Falls die Begründung darin bestehen sollte, dass solche Variationen durch eine Krankheit oder eine krankhafte Ursache (ein »Pathogen«) bewirkt werden, wird vorausgesetzt, dass man schon weiß, was Krankheiten sind bzw. welche Vorgänge krankhaft oder krankmachend (pathogen) sind. Dadurch wird die Definition von Krankheit im Rahmen der BST erneut zu einer petitio principii: sie setzt das voraus, was durch die Definition erst gewonnen werden soll. c) Als Spezialfall muss der Fall diskutiert werden, dass ein physiologischer Parameter so stark verändert wird, dass dies direkt zum Tode führt. Dann ist der Vorgang nämlich aufgrund dieses Umstands – seiner Letalität – krankhaft, nicht etwa wegen seiner Abweichung vom statistischen Mittelwert. Letalität in diesem Sinne ist in der Tat ein medizinisches Krankheitskriterium (vgl. die Diskussion unten in Kap. 4), das aber ganz ohne die Betrachtung statistischer Häufigkeiten, Mittelwerte oder Verteilungen von Wirkungsgraden anwendbar ist. 2.3. Zusammenfassung Zusammenfassend ergibt sich folgende Argumentation gegen die Möglichkeit, den Krankheitsbegriff im Sinne der naturalistischen Position auf der Basis der Physiologie zu definieren: 1. Die Annahme, dass sich aus dem System der physiologischen Theorrien und Erklärungsmodelle ein funktionales Speziesdesign ableiten ließe, beruht auf einer unzutreffenden Analyse der theoretischen Struktur der Physiologie. 2. Eine Krankheitsdefinition im Sinne des philosophischen Naturalismus, die davon ausgeht, dass die Physiologie den Maßstab für die normale, speziestypische Funktion der Lebensvorgänge vorgibt, ist in dem starken Sinn zirkulär, dass bei der Konstitution des Gegenstandsbereichs der Physiologie und ihrer Abgrenzung zur Pathophysiologie bereits Normalitätskriterien benötigt und benutzt werden. Sie ist damit prinzipiell redundant und abhängig von einer vorgängig bereits erfolgten Definition und Abgrenzung zwischen normal/gesund und nicht normal/ krankhaft, die von der medizinischen Krankheitslehre bereitgestellt wird.21 21 Ich habe diese medizinische Krankheitstheorie bereits 2012 auf dem Boorse-
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3. Eine Definition der Krankhaftigkeit von physiologischen Vorgängen oder Funktionen, die auf die Abweichung ihrer Funktionswerte vom statistischen Mittelwert in der Bezugsguppe rekurriert, muss die Lage der Grenzlinie und die Größe der minimal notwendigen Abweichung für Pathologizität willkürlich (arbitrarily)22 festsetzen, und kann den angeblichen kausalen Beitrag der Funktionen zu den Zielen Leben/Überleben und Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit nicht in einer naturwissenschaftlich fassbaren Weise definieren und operationalisieren. 4. Das Schlüsselkonzept des Wirkungsgrades einer Funktion (efficiency) ist nicht theoretisch-naturwissenschaftlich definierbar, seine angebliche Leistung als Vergleichsmaßstab und Messgröße für physiologische Funktionen lässt sich messtheoretisch nicht rekonstruieren. 5. Wenn man annimmt, dass krankhafte (pathophysiologische) Zustände jeweils seltener als die ihnen korrespondierenden physiologischen sind, scheint man diese geringere Häufigkeit wenigstens als ein Unterscheidungskriterium (epistemisch-extensional), wenn auch nicht als eine Realdefinition (intensional) für Krankheit oder Krankhaftigkeit verwenden zu können. Dies scheitert jedoch an zwei Tatsachen: Erstens gibt es nach dem medizinischen Wissensstand durchaus Krankheiten und pathologische Zustände, die verbreiteter sind als ihr Fehlen, so dass die Entscheidung nach der Mehrheit zum Fehlschluss führt. Zweitens gibt es überhaupt kein A-priori-Argument dafür, dass Krankheit immer seltener als Gesundheit sein müsse. Selbst als bloß epistemisch gemeintes Kriterium ist »statistische Häufigkeit« also kein verlässliches Unterscheidungskriterium.
3. Die Objektivität medizinischer Krankheitskriterien und ihre Verkennung als Werte – am Beispiel von Bernard Gert Die wissenschaftliche Medizin entscheidet auf der Basis theoretisch begründeter Kriterien, welche Zustände und Prozesse krankhaft sind oder als Teil oder Manifestation einer Krankheit zu betrachten sind. Diese Entscheidung folgt einer begründeten und erklärungsfähigen Methode, die grundsätzlich zu eindeutigen, objektiven und intersubjektiv validen Ergebnissen führt. Dieses Verfahren und seine Begründung haben sich seit dem 19.–20. Jahrhundert entwickelt und sind insbesondere mit dem modernen Konzept der Krankheitsentitäten verbunden. Symposium in Hamburg (in Gegenwart von Christopher Boorse) vorgestellt und in der Boorse-Sondernummer des Journal of Medicine and Philosophy auch publiziert (Hucklenbroich 2014a). Boorse hat bis heute darauf nicht reagiert und ist auch in seiner Replik (Boorse 2014) nicht darauf eingegangen. 22 Boorse 2014, 714. Boorses eigene Aussagen über die mögliche ungefähre Lage solcher Grenzen sind in seinen Schriften durchaus wechselnd und widersprüchlich.
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Obwohl dies Verfahren in der theoretischen und klinischen Praxis vollständig etabliert ist und ausnahmslos angewendet wird, gab es bis vor kurzem23 keine aktuelle, eigenständige medizintheoretische Darstellung und Analyse desselben. Dies und die Tatsache, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder aus medizinfremden Gründen, z. B. aus religiösen, politischen, ökonomischen oder weltanschaulichen Vorstellungen und Motiven heraus Zustände oder Verhaltensweisen fälschlich und zu Unrecht als Krankheiten klassifiziert worden sind, hat wohl dazu beigetragen, dass das theoretisch korrekte, objektive Verfahren der Erklärung von Krankhaftigkeit außerhalb der Medizin bisher weitgehend unbekannt geblieben ist – manchmal selbst bei praktizierenden Ärzten. Von der wissenschaftstheoretischen und medizinphilosophischen Diskussion ist es bisher noch überhaupt nicht wahrgenommen worden. In den folgenden Abschnitten wird zuerst dies Verfahren selbst in aller Kürze dargestellt, dann wird der Unterschied zwischen Krankheitskriterien und Werten/Normen erklärt, und es wird der Fehlschluss normativistischer Positionen analysiert, die die Bewertung von Krankheiten und Krankheitszuständen – die ja durchaus möglich und üblich ist – mit der objektiven Erklärung durch Krankheitskriterien verwechseln bzw. jene an die Stelle von dieser setzen (wollen). Dies wird am Beispiel der prominenten malady-Theorie von Gert, Culver und Clouser illustriert, gilt aber für alle bisherigen normativistischen Krankheitstheorien und ist im Lichte dieser Analyse ein prinzipielles, unbehebbares Dilemma dieses Ansatzes.
3.1. Krankheitsentitäten und die Erklärung von Krankhaftigkeit24 Wie erklärt und beantwortet die wissenschaftliche Medizin die Fragen, ob und wenn ja, warum ein Vorgang oder Zustand im Leben eines Menschen krankhaft ist? Es sind hier mehrere Schritte und »Tiefenstufen« der Erklärung zu unterscheiden: 23 Inzwischen habe ich seit 2006 in einer Anzahl von Abhandlungen die Grundprinzipien und verschiedenen Aspekte dieses Verfahrens analysiert, vgl. Fussnote 24. Dies ist ein Resultat der innermedizinisch, auf dem Boden der gültigen Krankheitslehre entwickelten Medizintheorie, die nicht mit den innerphilosophisch entwickelten »Medizintheorien« zu verwechseln ist, welche man zur Vermeidung von Missverständnissen besser als Medizinphilosophie(n) bezeichnet. 24 An dieser Stelle können nur einige wenige Grundprinzipien der medizinischen Kriteriologie und Nosologie genannt werden, soweit es zum Verständnis der Kritik am Normativismus benötigt wird. Ausführliche Darstellungen und Diskussionen dieser Prinzipien und Konzepte finden sich in meinen Abhandlungen zum Krankheitsbegriff seit 2006, insbesondere in Hucklenbroich 2007a, 2007b, 2008, 2010, 2011, 2012a-c, 2013, 2014a, 2014b, 2016, 2017a, 2018a-c. Die Besonderheiten der Konzepte von Definition und Erklärung in der theoretischen Medizin sind abgehandelt in Hucklenbroich 2017b.
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– Erklärung im Einzelfall, als Resultat medizinischer Kriteriologie oder Diagnostik – Erklärung in der Allgemeinen Physiologie und Pathologie, d. h. durch Krankheitskriterien und Krankheitsentitäten als Konzepten der medizinischen Krankheitslehre – Erklärung der Natur von Krankheitsentitäten und Krankheitskriterien 3.1.1. Krankhaftigkeit im Einzelfall Die Frage, ob ein bestimmter singulärer Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt krank ist (im Sinne der heutigen wissenschaftlichen Medizin), stellt sich in der lebensweltlichen Praxis z. B. dann, wenn dieser Mensch an sich selbst bestimmte Phänomene beobachtet, oder wenn solche Phänomene von anderen Menschen festgestellt werden, die möglicherweise, aber nicht mit Sicherheit einen Krankheitswert aufweisen. Dies ist ein klassischer Anwendungsfall für ärztliche Diagnostik: Im einfachsten Fall erkennt der Arzt als medizinischer Fachmann das beobachtete Phänomen als bekanntes, eindeutiges Krankheitssymptom. Die Grundlage für diese Einordnung wird gebildet durch die medizinische Kriteriologie und die systematische Symptomatologie: Das fragliche Phänomen kann entweder direkt unter ein oder mehrere Krankheitskriterien subsumiert werden, d. h. es ist im Rahmen der Symptomatologie bekannt als ein eindeutig krankhaftes, wenn auch differentialdiagnostisch vielleicht mehrdeutiges Symptom, Damit ist die Frage »ob krankhaft« bereits positiv beantwortet, es folgen üblicherweise weitere diagnostische Untersuchungen zur Bestimmung, welche Krankheit in welchem Stadium und Schweregrad vorliegt, welche therapeutischen Indikationen sich ergeben usw. Nicht selten ist das beobachtete Phänomen mehrdeutig hinsichtlich seines Krankheitswertes oder seiner diagnostischen Einordnung. Dann muss eine differentialdiagnostische Abklärung erfolgen, ob es sich um eine normale Variation handelt bzw. welche der denkbaren Erklärungsmöglichkeiten dem beobachteten Phänomen in diesem Fall zugrunde liegt. (Beispielsweise kann eine Rotfärbung des Urins eine harmlose Erklärung haben, aber auch eine ernsthafte Erkrankung anzeigen.) Wenn sowohl die diagnostische als auch die differentialdiagnostische Erklärung ergebnislos bleiben, muss die Möglichkeit des Vorliegens einer unbekannten, neuen Normalvariante oder aber einer neuen Krankheit (bzw. Krankheitsentität) erwogen werden. Dies führt zur nächsten Stufe der Erklärung von Krankhaftigkeit. 3.1.2. Krankheitskriterien und Krankheitsentitäten Um ein sowohl kriteriell als auch diagnostisch mehrdeutiges Phänomen bezüglich Krankhaftigkeit einzuordnen, muss es in seinen kausalen Kontext gestellt werden, d. h. es müssen seine Ätiologie und Pathogenese aufgeklärt werden, so dass erkennbar wird, ob es sich um eine (neue) Krankheitsentität oder um eine physiologische Entität (Normalvariante) handelt. Diese Aufklärung erfordert ent-
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sprechende klinische und Grundlagenforschung und kann sehr langwierig und aufwendig werden; in der Medizingeschichte haben solche Aufklärungsprozesse manchmal Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gedauert. Allerdings muss meist nicht bis zur vollständigen Erklärung gewartet werden, sondern es reicht, wenn entdeckt werden kann, dass das fragliche Phänomen Ursachen oder Folgen haben kann, die eindeutig krankhaft sind. Das nämlich bedeutet, dass die zugrunde liegende Entität auf jeden Fall eine Krankheitsentität sein wird. Ist die Krankheitsentität noch nicht vollständig aufgeklärt, spricht man in diesem Fall von einem krankhaften Syndrom. Die Erfassung, Beschreibung und (vorläufige) Erklärung solcher Syndrome ist ein großer Teilbereich der Krankheitslehre, für den eigene Handbücher und Datenbanken existieren.25 Krankheitsentitäten und Syndrome sind Prozesstypen, keine singulären Erkrankungsfälle (token). Als Typen weisen sie jeweils ein Spektrum verschiedener Verläufe (bzw.Verlaufstypen) auf, die sich in verschiedenen Hinsichten und insbesondere hinsichtlich des Schweregrades unterscheiden. Bei vielen Krankheitsentitäten kennen wir Verläufe, die latent bleiben (auch lanthanisch genannt) oder die vom Betroffenen gar nicht bemerkt werden; letztere werden als asymptomatisch oder inapparent, manchmal auch als stumm (stummer Infarkt), still (stille Feiung) oder okkult (okkulte Blutung) bezeichnet. Nichtsdestoweniger haben sie als Instanzen (token) einer Krankheitsentität einen Krankheitswert – ein Faktum, das von medizinischen Laien oft übersehen, bezweifelt oder sogar bestritten wird. Solche Zweifel sind in der Regel dadurch zu erklären, dass Laien die Unterscheidung zwischen Krankheit im theoretischen Sinn und behandlungsbedürftiger Krankheit – oder medizinischer Behandlungsbedürftigkeit – nicht kennen oder nicht beachten. Letztgenannter Begriff gehört jedoch zum theoretisch-praktischen Brückenbereich der Medizin, in den Kontext der Indikation und der klinischen Methodologie: Nicht jede singuläre Erkrankung ist behandlungsbedürftig! Ein Syndrom oder eine vollständig aufgeklärte Krankheitsentität haben deswegen Krankheitswert (= Krankhaftigkeit), – weil sie entweder in ihrem Verlaufsspektrum solche Verläufe enthalten, die direkt unter die primären Krankheitskriterien zu subsumieren sind – oder weil sie Verläufe enthalten, die Ursachen für andere, bereits bekannte Krankheiten sind (Prädispositionen) – oder weil sie kausale Folgen (Symptome) von bereits bekannten Krankheiten sind.
25 Das Standardwerk zur Syndromatologie ist das von Leiber et al. herausgegebene Handbuch, das von 1957 bis 1997 8 Auflagen erlebte (Leiber 1997). Dieses Handbuch enthält auch erstmalig eine Definition und Beschreibung des Konzepts der Krankheitsentität. Vgl. auch Hucklenbroich 2017b und 2018a.
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Prädispositionen und Symptome, die selbst nicht unter primäre Krankheitskriterien fallen, sind im abgeleiteten, sekundären Sinn krankhaft. Die primären Krankheitskriterien lassen sich in fünf Bedingungen formulieren: Ein Lebensvorgang ist krankhaft, wenn er (im Spontanverlauf, also unbehandelt) – zum vorzeitigen Tod oder zur definitiven Verkürzung der sonst zu erwartenden Lebensdauer führt – mit Schmerz oder anderen körperlichen, vegetativen oder psychosomatischen Leiden oder Beschwerden identisch oder zwingend verbunden ist – die Fähigkeit zur biologischen Reproduktion beeinträchtigt oder ganz ausschließt – die Fähigkeit zum sozialen Zusammenleben beeinträchtigt oder ganz ausschließt – eine Prädisposition oder einen individuell zurechenbaren Risikofaktor für das Zutreffen mindestens eines dieser fünf Kriterien darstellt. Die diesen Kriterien zugrunde liegende Begrifflichkeit und die involvierten Anwendungsbedingungen sind ziemlich komplex und können hier nicht in extenso dargestellt und diskutiert werden. Im gegenwärtigen Zusammenhang sind folgende Punkte von zentraler Bedeutung: Die Kriterien sind alle als autonome, nicht (direkt) willentlich beeinflussbare Sachverhalte zu verstehen. Das bedarf insbesondere bei Kriterium 2 einer Erläuterung: Bei den hier genannten Leiden und Beschwerden handelt es sich neben dem Schmerz um Vorgänge wie Übelkeit, Atemnot, Schwindel, Juckreiz, Nies- und Hustenreiz, Benommenheit und Bewusstlosigkeit und noch viele weitere Vorgänge, die allgemein auch als sichere Krankheitssymptome bekannt sind, hier aber die spezifische Funktion der Krankheitskriterien erfüllen. Sie sind in vielen Fällen aversiv, d. h. unangenehm bis unerträglich in einem willensunabhängigen Sinn: Sie können nicht durch subjektive Wünsche und Entscheidungen oder soziokulturelle Wertungen oder Normen ihre Aversivität verlieren, sondern sie können höchstens von solchen subjektiven oder soziokulturellen Wertungen und Normen überlagert und (um-) interpretiert werden. Ihre Aversivität ist durch die Natur des menschlichen Organismus determiniert, d. h. sie ist eine pathophysiologische, psychosomatische Gesetzmäßigkeit. Dass diese Aversivität eine subjektiv empfundene ist, ändert nichts daran, dass sie im Sinne der Natur- und Lebenswissenschaften eine objektiv vorgegebene ist. Diese Objektivität teilen die in Kriterium 2 gemeinten Vorgänge mit den anderen Kriterien, bei denen vielleicht einfacher einzusehen ist, dass es sich jeweils um nicht willensabhängige, objektiv feststellbare Vorgänge handelt. 3.1.3. Die Natur von Krankheiten und Krankheitskriterien Warum gibt es überhaupt Krankheiten und die in den Krankheitskriterien aufgezählten krankhaften Lebensvorgänge? Wem die Erklärung nicht genügt, dass es sich um Gesetze und gesetzmäßige Vorgänge der menschlichen Physiologie und Pathophysiologie handelt, die für alle Menschen gelten und die daher als an-
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thropologische Konstanten bezeichnet werden können, dem hilft vielleicht noch folgende Erklärung weiter: – Der Mensch – Homo sapiens – ist ein irdisches Lebewesen, hat sich im Lauf der Evolution aus tierischen Vorfahren aufgrund der gemeinsamen Fähigkeit zur biologischen Reproduktion entwickelt und steht genau wie diese Vorfahren und alle anderen Tiere, Pflanzen und sonstigen Organismen unter den Grundbedingungen organischen Lebens: Er ist an einen strukturierten Körper und an Interaktionsprozesse mit dessen Umwelt gebunden, die einen permanenten Stoff- und Energieaustausch voraussetzen. Spezifisch für den Menschen gilt: Ohne einen mütterlichen Organismus ist ein neu gezeugter, ohne eine soziale Einbindung ist ein neugeborener Mensch nicht überlebensfähig. Darüber hinaus steht er mit seinen elterlichen Vorfahren (und gegebenenfalls seinen Nachkommen) über die Keimbahn, also über seine Keimzellen und deren genetisches Material, in direkter Verbindung und unterliegt selbst einer dadurch und durch äußere Umwelteinflüsse gesteuerten onto-genetischen Entwicklung mit Wachstum und Alterung, die auf einen natürlichen Tod hinausläuft. Auch wenn keine spezifische Krankheitsursache eintritt, ist das menschliche Leben endlich. – Dieser menschliche Organismus ist aufgrund seiner natürlichen Ausstattung und mithilfe von in der kulturellen Evolution entstandenen und tradierten Techniken in der Lage, in sehr verschiedenen Umwelten zu überleben. Dabei ist insbesondere eine Reihe von somatischen, psychosomatischen und psychischen Fähigkeiten und Mechanismen essentiell, die wir generell als Schutz-, Reparatur- und Selbstheilungsmechanismen zusammenfassen. Zu ihnen gehören z. B. die mechanische und biochemische Barrierefunktion der Körperhaut, die Fähigkeit zur Blutgerinnung und Wundheilung, die (begrenzte) Fähigkeit zur Regeneration verletzten oder verlorenen Gewebes und zur Neubildung von Zellen, das zelluläre und humorale Immunsystem, eine Anzahl von Schutzreflexen und bestimmte autonome psychische Erlebens- und Reaktionsweisen wie Freude, Angst und Schmerz. – Trotz dieser sehr vielfältigen Selbsterhaltungs- und Selbstheilungsfähigkeiten gibt es Situationen, in denen diese überfordert, überlastet oder einfach überrannt werden oder in denen sie sogar in das Gegenteil von Schutz umschlagen: Die Fähigkeiten zum Überleben, zur Selbsterhaltung und zum Selbstschutz haben eine endliche Größe und einen begrenzten Aktionsradius, sie sind erschöpfbar und umgehbar, und sie müssen als autonom funktionierende Mechanismen gewissermaßen blind operieren, d. h. ohne bewusste oder bewusstseinsvermittelte Einsichts- und Lernfähigkeit. – Diese Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit des Selbsterhaltungssystems bedeutet, dass der menschliche Organismus verletzbar und an-
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greifbar ist bis hin zur letalen Verletzung. Dafür wurden die Bezeichnungen der Vulnerabilität und Pathibilität des menschlichen Organismus geprägt.26 Jedes der oben genannten fünf Krankheitskriterien ist hinreichend für Krankhaftigkeit und zeigt eine bestimmte Dimension der Pathibilität auf, obgleich nicht selten mehrere Kriterien zugleich erfüllt sind. Es ist auch einsichtig, dass alle eine bestimmte Art der Bedrohung des Lebens oder der Lebensfähigkeit zum Ausdruck bringen. Dass dies auch bei Kriterium 2 zutrifft, sieht man, wenn man sich klar macht, was mit körperlich-seelischen Beschwerden genau gemeint ist: Es geht, wie oben bereits angedeutet, neben Schmerz in jeder seiner Formen um solche Phänomene wie Atemnot, Schwäche, Hinfälligkeit, Lähmungen, Übelkeit, Heißhungerattacken, Panikanfälle, Schwindel, Ohnmacht, Schlafstörungen, Tinnitus (Ohrgeräusche), Anhedonie (Unfähigkeit, sich zu freuen), und noch sehr viele weitere Beschwerden, die in der medizinischen Symptomatologie systematisch erfasst sind. Für alle diese Phänomene gilt, dass sie entweder die sinnfällige Anzeige einer Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität sind (Schmerz, Atemnot, Übelkeit, Schwäche) oder eine solche Anzeige fälschlicherweise vortäuschen und damit selbst zur Gefahr und zu biologisch widersinnigem Leiden werden (Heißhunger, Panik, Tinnitus) oder den Verlust einer zum Lebensschutz benötigten Fähigkeit darstellen (Lähmung, Schwindel, Ohnmacht, Schlafstörung, Anhedonie).
Alle drei Gruppen umfassen krankhafte Phänomene, wobei in Gruppe 1 die Krankhaftigkeit gleichzeitig mit einer Warnfunktion und teilweise mit Schutzreflexen direkt verbunden, sozusagen «fest verdrahtet« ist. – Die Fähigkeit des menschlichen Organismus zu erkranken resultiert somit direkt aus seiner organischen, bio-psycho-sozialen Natur und Lebensform, sie ist nicht etwa das Ergebnis einer sozialen Konvention, einer kulturellen Konstruktion, einer moralischen Norm oder einer ethischen Entscheidung. Da sie in diesem Sinne eine natürliche, naturgesetzlich konstant vorgegebene Bedingung menschlichen Lebens ist, darf man hier zu Recht von einer anthropologischen Konstante sprechen, die allen spezifischen menschlichen Kulturentwicklungen in allen historischen Zeiten und Epochen vorausliegt. Diese natürliche Grenze kann nur auf der Basis rationaler, empirisch fundierter medizinischer Erkenntnis prinzipiell überwunden werden. Die auf solchem medizinischem Wissen beruhenden therapeutischen Eingriffe bedienen sich zwar der Naturgesetzlichkeit, sind aber künstlich in dem Sinne, dass sie aus dem (natürlichen) Spontanverlauf von Krankheiten einen künstlich veränderten Verlauf machen. 26 Der ältere Begriff der Pathibilität wurde von Karl E. Rothschuh in seiner Theorie des Organismus geprägt (Rothschuh 1959, 224 ff.).
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3.2. Der Irrtum des Normativismus Nach den ausführlichen Erklärungen im vorigen Abschnitt kann jetzt ganz kurz festgehalten werden, worin der grundsätzliche Irrtum aller normativistischen Krankheitstheorien besteht: Normativistische Ansätze gehen per definitionem davon aus, dass es subjektiv-individuelle, soziokulturelle oder »objektive« Werte oder Normen seien, die festlegen, was Krankheiten sind und welche Phänomene krankhaft sind. Dabei verwechseln sie die Tatsache, dass Krankheiten bewertet werden können und in der Tat von Individuen und Kulturen – meist negativ – bewertet werden, mit der Tatsache, dass unabhängig von solchen Bewertungen und vorgängig durch die Natur des menschlichen Organismus und die geltenden Gesetze objektiv determiniert ist, welche Vorgänge das Leben und Lebenkönnen einschränken oder unmöglich machen oder das subjektive Erleben und Empfinden aversiv werden lassen. Die subjektive oder soziale Bewertung und Normsetzung können diese natürliche Prädetermination zwar überlagern, dabei sie bestätigen und verstärken oder aber ihr widersprechen, sie ableugnen oder bestreiten – aber aufheben können sie sie nicht. Schmerz bleibt schmerzhaft und aversiv, auch wenn man ihn verleugnet; ein vorzeitiger Tod bleibt objektiv vorzeitig, selbst wenn er gesucht und subjektiv gewollt sein sollte (zum Letalitätskriterium vgl. ausführlich Kap. 4). Als Beispiel für normativistische Positionen wird im folgenden die prominente Krankheitstheorie analysiert, die von dem Philosophen Bernard Gert im Rahmen seiner Ethikbegründung, unter Mitarbeit von Charles M. Culver (Medizinethiker, Psychiater) und K. Danner Clouser (Bioethiker, Philosoph) entwickelt worden ist.27 3.2.1. Krankheit als Unwert und Übel: die malady-Theorie Die Krankheitstheorie von Gert et al. lässt sich in den folgenden Sätzen thesenhaft zusammenfassen. Ich sehe dabei davon ab, dass die Autoren für »ihren« Krankheitsbegriff die unübliche Bezeichnung malady verwenden, und unterstelle, dass eine Explikation und Begründung des medizinischen Krankheitsbegriffs intendiert ist. Die Thesen sind: 1. Die Krankheitstheorie und der Krankheitsbegriff sind eine Angelegenheit der medizinischen Ethik, die wiederum ein Teilgebiet der allgemeinen Ethik bzw. der praktischen Philosophie oder Moralphilosophie ist. Die Ethik befasst sich mit den moralischen Regeln, Werten und Unwerten (»negativen« Werten). Die Unwerte werden auch als Übel (evil) oder Schaden (harm) bezeichnet. 27 Die malady-Konzeption wurde entwickelt, dargestellt und diskutiert in Clouser/ Culver/Gert 1981, Culver/Gert 1982, Gert 1988, Gert et al. 1996, Clouser/Culver/Gert 1997, Gert/Culver/Clouser 1997, Sinnott-Armstrong/Audi 2002, Gert/Culver/Clouser 2006. In deutscher Sprache bzw. Übersetzung liegen vor; Gert 1983, Gert 2012, Clouser/ Culver/Gert 2012 (gekürzte Übersetzung von Clouser/Culver/Gert 1981).
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2. Es gibt nach Gert 10 Unwerte bzw. Übel, denen 10 Regeln oder Gebote korrespondieren, die fordern, dass man diese Übel nicht verursachen oder verwirklichen soll.28 Gert formuliert die Regeln bewusst in Analogie zum biblischen Dekalog als»Du sollst nicht«-Sätze. 3. Die 10 Übel sind i. Tod ii. Schmerz iii. Verlust von Fähigkeiten iv. Verlust von Freiheit oder Chancen v. Verlust von Lust (pleasure) vi. Täuschung vii. Bruch von Versprechen viii. Betrug ix. Gesetzesbruch x. Pflichtverletzung 4. Von diesen Übeln sind nur die ersten fünf für die Medizin und Krankheitstheorie relevant. Eine Krankheit liegt vor, wenn eine Person eines oder mehrere dieser fünf Übel erleidet oder mit erhöhter Wahrscheinlichkeit erleiden wird. Die philosophische Rechtfertigung für diese Definition von Krankheit besteht in einem Rationalitätsprinzip: Jede rationale Person vermeidet die genannten fünf Übel, es sei denn, sie hat einen adäquaten (rationalen) Grund, sie nicht zu vermeiden. Dieses Prinzip und die aus ihm folgenden Gebote und Werte/Unwerte werden von Gert als objektiv gültig für alle Menschen betrachtet. Die Conclusio ist, dass Krankheiten als Realisierungen von Unwerten bzw. Übeln im moralischen Sinn zu betrachten sind, und dass dies objektiv, für alle Menschen und in jeder Kultur und Epoche gilt. Die Position von Gert et al. ist daher als ein »objektivistischer« Normativismus zu bezeichnen. 3.2.2. Die Kritik am objektivistischen Normativismus Die oben in 3.2. bereits angedeutete Kritik an normativistischen Krankheitstheorien lässt sich vollständig auf die Gertsche malady-Theorie anwenden. Dazu sind folgende Punkte zu berücksichtigen: 1. Es ist richtig, dass die von Gert angeführten fünf Übel Tod, Schmerz, Verlust von Fähigkeiten, Freiheit, Chancen und Lust nicht nur als bloß faktische Ereignisse, sondern auch als wertbehaftete (value-laden) Fakten zu betrachten sind. 2. Daraus folgt nicht, dass solche Ereignisse erst durch die Wertkomponente zu krankhaften Ereignissen oder Krankheiten werden. Vielmehr sind Schmerzen 28 Die 10 Übel werden zitiert nach Gert 1983, besonders S. 128 und S. 176.
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(und andere Beschwerden, siehe 3.1.) aversive Empfindungen und sind vorzeitiger Tod, Infertilität, fehlende soziale Integrationsfähigkeit Einschränkungen des Lebens und der Lebensfähigkeit, die objektiv und wissenschaftlich erklärbar durch die Natur des Menschen vorgegeben sind. Auch wenn man die Wertkomponente dieser Ereignisse ins Gegenteil verkehren würde, also z. B. den Tod als erstrebenswertes Gut bewerten würde, bliebe der vorzeitige Tod ein Krankheitszeichen und Krankheitskriterium; ebenso bliebe der Schmerz aversiv, wie immer man ihn bewerten wollte. 3. Normativistische Krankheitstheorien müssen generell diese Argumente und sachlichen Zusammenhänge ignorieren oder leugnen. Speziell die objektivistische, rationalistische Variante des Normativismus bei Gert et al. unterliegt dem Gegenargument, dass es nicht die Ratio, die menschliche Vernunft ist, die den Schmerz aversiv, das todbringende Gift lebensschädlich macht, sondern die natürliche Gesetzmäßigkeit: die brute facts der lebendigen Natur. Dazu noch ein Argument aus der Neurologie: Es gibt bestimmte (krankhafte) Zustände, bei denen die Schmerzempfindung ganz aufgehoben ist oder ihren aversiven Charakter verliert. Hierbei spielen aber weder Werthaltungen noch Vernunftgründe irgendeine Rolle, sondern es sind ausschließlich gesetzmäßige pathophysiologische und pathoanatomische Vorgänge, die diese Zustände herbeiführen.29 4. Die spezielle Ausformulierung der fünf Übel, die Gert et al. als eine Art Krankheitskriterien vorstellen, unterliegt noch einem weiteren wesentlichen Einwand: Der Verlust von Freiheit, Chancen oder Lust und je nach Interpretation auch der von »Fähigkeiten« (z. B. der »Fähigkeit«, eine bestimmte Krankheit zu erleiden, durch Prävention oder Impfung) ist ein viel zu weites Krankheitskriterium. Es würde erlauben, eine sehr große Anzahl von Zuständen als Krankheiten zu klassifizieren, die medizinisch keinesfalls Krankheiten sind. Zum Beispiel ist der Verlust der Chance, eine sportliche Höchstleistung zu erbringen, der durch das »Vorenthalten« von Dopingmitteln bewirkt wird, nach den Kriterien von Gert et al. als Übel, also als Krankheit zu bewerten. Dieses Argument wird tatsächlich, mit Berufung auf Gert et al., als Begründung für die angebliche Nichtunterscheidbarkeit von Therapie und Doping/Enhancement, in der medizinethiischen Literatur vertreten (»to fail to enhance is to disable«).30 Würde man diese Argumentation akzeptieren, wogegen nach Gert et al. kaum etwas eingewendet werden könnte, müsste man jeden Zustand, der sich noch »optimieren« oder positiv steigern lässt, als krankhaft einstufen, weil er ja – gesehen vom Optimum – einen Verlust oder Verzicht (an/auf Freiheit, Chancen, Lust oder Fähigkeiten) darstellen würde. Dass eine solche Entgrenzung des Krankheitsbegriffs sowohl vom intuitiven 29 Diese seltenen krankhaften Störungen des Schmerzempfindens werden in der Fachliteratur zur Neurologie und Schmerzmedizin ausführlich dargestellt und erklärt. 30 Quigley/Harris 2010. Direkt dazu die Kritik bei Hucklenbroich 2012a, 471 ff.
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Standpunkt aus wie auch aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht eine geradezu absurde, aberwitzige Konsequenz des Normativismus darstellt, liegt auf der Hand. Um diesen Einwand auszuräumen, müsste der Normativismus (bzw. die Position von Gert et al.) die Begriffe von Fähigkeiten, Freiheit, Chancen und Lust so eingrenzen und präzisieren, dass nur Einschränkungen, Verluste und Behinderungen im medizinischen Sinn als Übel zählen. Das würde aber wohl dazu führen, dass medizinische Krankheitskriterien zu den als Übel zählenden (Un-) Werten hinzugenommen werden müssten, womit eine rein moralphilosophische Begründung der Krankheitslehre verlassen wäre. 5. Die absurden Konsequenzen des rein moralphilosophischen Begründungsversuchs sind vom wissenschaftlichen Standpunkt aus leicht erklärbar: Die normativistischen Krankheitstheorien gehen – per definitionem – von menschlichen Normen, Werten, Zielen und Zwecksetzungen aus. Krankheiten sind aber als Naturphänomene nicht nach solchen Gesichtspunkten geordnet und erklärbar, sondern folgen sozusagen »der Ordnung der Natur«: Ihre Erklärung und Klassifikation muss sich an die Naturgesetzlichkeit halten, nicht an die menschliche oder gesellschaftliche Wertordnung. Deswegen kann eine normativistische Krankheitstheorie prinzipiell nicht erfolgreich sein. Wenn man aber – das sei als abschließende Anmerkung gesagt – die normativistische Position im Sinne eines Hybridansatzes mit zusätzlichen medizinischen Kriterien kombinieren wollte31, um ihn an die wirkliche wissenschaftliche Medizin anzupassen, dann ist zu bedenken, ob nicht diese zusätzlichen medizinischen Kriterien schon allein ausreichend zur Grundlegung der Krankheitslehre sind und die moralischen Werte eher eine philosophische Interpretation oder eine überlagernde Wertung des medizinischen Sachverhalts »Krankheit« darstellen.
4. Häufige Fehlverständnisse der wissenschaftlichen Medizin und ihres Krankheitsbegriffs – am Beispiel von Langanke/Werner 2015 In diesem abschließenden Kapitel sollen einige wichtige Punkte aufgeklärt werden, hinsichtlich derer medizinische Laien die Medizin als Wissenschaft und das wissenschaftliche Verständnis von Krankheit erfahrungsgemäß nicht vollständig und richtig kennen oder verstehen und daher fehlinterpretieren und nicht selten sogar kritisieren und ablehnen. Zu medizinischen Laien sind dabei alle Personen zu zählen, die über keine professionelle wissenschaftliche Ausbildung in einem Gesundheitsberuf verfügen, wofür das Medizinstudium und die Ausbildung zum Arzt als Paradigma angesehen werden können. Zu den Laien gehören also auch 31 Dies wird in der Literatur häufiger vorgeschlagen, z. B. von Jerome Wakefield (Wakefield 2012).
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viele Autoren, die gegenwärtig im Bereich Medizinphilosophie und Medizinethik publizieren, z. B. auch die in den beiden vorigen Kapiteln besprochenen Autoren Boorse und Gert, aber auch der sogenannte »gebildete Laie«. Ich gehe daher in diesem Kapitel so vor, dass ich die zu klärenden Punkte zunächst in einer – oft kritisch gemeinten – Frage anspreche, dann die Laienposition anhand eines Zitats oder der Paraphrase einer Literaturstelle exemplarisch belege, und dann die Antwort aus der Sicht der Medizintheorie und der wissenschaftlichen Medizin darstelle. Dabei wird aufgezeigt, welche Fehl- und Missverständnisse der Laienposition zugrunde liegen und in der Literatur und im Gespräch typischerweise anzutreffen sind. Die als Beleg zitierten Textstellen (einschließlich der von mir paraphrasierten Abschnitte) stammen durchweg aus einem neueren deutschen Aufsatz zur Medizinphilosophie, der alle diese Fehl- und Missverständnisse versammelt. Es handelt sich um den Beitrag »Der kranke Mensch. Die Pathologisierung menschlicher Endlichkeit im Lichte medizinischer und medizintheoretischer Krankheitsbegriffe« von Martin Langanke (Philosoph und Theologe) und Micha H. Werner (Philosoph).32 Sie vergleichen in diesem Aufsatz den medizinischen Krankheitsbegriff, den ich in meinen Arbeiten rekonstruiert habe33, mit den philosophischen Krankheitsbegriffen von Christopher Boorse und Dirk Lanzerath. Es ist wenig überraschend, dass sie im Ergebnis der Theorie von Boorse den Vorzug vor der medizinischen Krankheitslehre geben, da sie die medizinische Theorie und Praxis nicht aus erster Hand kennen und dadurch zu teilweise erheblichen Fehleinschätzungen kommen, die keinem professionellen Mediziner unterlaufen könnten. Dieses Kapitel ist also gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit und Replik zu der Analyse von Langanke und Werner. Die folgende Diskussion ist in 9 durchnummerierte Abschnitte aufgeteilt, die jeweils nach Frage (F), Zitat/Paraphrase (Z, mit Seitenangabe bei Langanke/ Werner = LW) und Antwort (A) gegliedert sind.
4.1. Fragen und Antworten zum Verständnis von Medizin und Krankheit, Altern und Tod F1: Wieso beansprucht die Medizintheorie, einen verbindlichen Krankheitsbegriff angeben zu können, wenn doch hochgradig strittig ist, was Krankheiten sind? Z1: »Da ist […] die Schwierigkeit, dass der Prädikator ›krank‹, traditioneller: der ›Krankheitsbegriff‹, selbst in hohem Maße strittig und also keineswegs klar ist, was denn von einem Menschen überhaupt ausgesagt wird, wenn er sich selbst oder andere als ›krank‹ bezeichnet oder von anderen so tituliert wird.« (LW 443). Es 32 Langanke/Werner 2015. 33 Vgl. Fussnote 24.
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habe sich innerhalb der Medizintheorie bisher kein einheitliches Verständnis herausgebildet, sondern es konkurrierten dort viele höchst verschiedenartige Vorschläge miteinander (LW 452). A1: a) Dass der (medizinische) Krankheitsbegriff strittig sei, wird hauptsächlich von Philosophen behauptet. In der Tat sind die von Philosophen entwickelten und vorgeschlagenen Krankheitsbegriffe und Krankheitstheorien extrem divergent und kontrovers, und es gibt mittlerweile Dutzende von ihnen, die sich zudem ständig vermehren, da regelmäßig neue Varianten vorgeschlagen werden. Darauf hatte ich schon in der Einleitung hingewiesen. Aber dieser innerphilosophischen Diskussion und Kontroverse korrespondiert überhaupt keine entsprechende kontroverse Situation in der (theoretischen und praktischen) wissenschaftlichen Medizin. Vielmehr besteht dort große Einigkeit darüber, welche Krankheiten die Medizin bislang kennt, anhand welcher Kriterien die Krankhaftigkeit von Organismuszuständen und -prozessen beurteilt werden muss, und welche offenen Probleme der Nosologie noch der empirisch-wissenschaftlichen Weiterbearbeitung und Aufklärung bedürfen. Richtig ist allerdings: Eine explizite und systematische eigenständige Darstellung dieses Kriteriensystems hat es lange Zeit nicht gegeben. Diese Aufgabe ist aber von der Medizintheorie (also innermedizinisch und auf dem Boden der Krankheitslehre selbst) inzwischen übernommen und gelöst worden. Das – wie immer vorläufige – Ergebnis liegt in einer größeren Zahl von Abhandlungen vor, die den Krankheitsbegriff der Medizin in einer rekonstruierten Form darstellen und diskutieren.34 Wer den Krankheitsbegriff weiterhin als strittig darstellt, kann nur meinen, dass die (vielen konkurrierenden) philosophischen Krankheitstheorien auch in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Medizin treten oder gar zu einer Alternativmedizin hin entwickelt werden sollten. Das würde aber eine Herausforderung darstellen, der sich bisher noch kein philosophischer Autor wirklich gestellt, geschweige denn gewachsen gezeigt hätte (vgl. unten F9/A9 c). b) Die Behauptung von Langanke/Werner, in der Medizintheorie konkurrierten viele verschiedenartige Krankheitsbegriffe miteinander, verwechselt die in der Medizin entwickelte Medizintheorie mit den von Philosophen in der Medizinphilosophie entwickelten Krankheitstheorien. Bezeichnenderweise ist die einzige von Langanke/Werner als Beleg zitierte Literaturstelle eine Übersichtsarbeit von zwei Theologen, die fast ausschließlich Arbeiten von Theologen, Philosophen und anderen Nichtmedizinern berücksichtigt!35 F2: Wieso beansprucht die medizinische Krankheitslehre, generelle Aussagen über alle Menschen oder »den Menschen« machen zu können? Setzt das nicht wissenschaftlich unseriöse unmittelbare, »essentialistische« Einsichtsfähigkeiten 34 Vgl. Fussnote 24. 35 Pöder/Assel 2014.
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in das »Wesen« des Menschen voraus, die es gar nicht gibt, weil wir höchstens statistische oder partikulare Aussagen über zahlreiche, aber nicht alle Menschen machen können? Z2: Langanke/Werner zitieren eine Textstelle aus meiner Arbeit (Hucklenbroich 2013, S. 42), wo es heißt: »Das Ausbleiben einer Regeneration von untergegangenen Herzmuskelzellen nach massivem Herzinfarkt […] ist nicht krankhaft, weil beim Menschen eine Regeneration von Herzmuskelzellen unter natürlichen Bedingungen nicht vorkommt […].«36 Dazu bemerken Langanke/Werner mokant: »[…] die Tatsache, dass »beim Menschen« – womit, solange uns keine unmittelbaren Einsichten in das Wesen des Menschen gegönnt sind, nur gemeint sein kann: bei zahlreichen anderen Menschen – […]«. (LW 455) A2: Die Aussage über die fehlende Regenerationsfähigkeit beim Menschen stellt eine Gesetzmäßigkeit der wissenschaftlichen Pathologie37 dar, die hier in Parallele zur wissenschaftlichen Biologie oder Zoologie zu sehen ist, die zahlreiche solche Gesetzmäßigkeiten für alle Arten von Lebewesen formulieren. Große Teile der medizinischen Krankheitslehre kann man als Analogon zu einer Humanbiologie sehen, also einer Naturwissenschaft vom Menschen, die ja auch unter der Bezeichnung »medizinische Anthropologie« oder »naturwissenschaftliche Anthropologie« bekannt ist38. Diese Feststellung ist nicht zu verwchseln mit der Behauptung, die gesamte medizinische Krankheitslehre sei ein Zweig der Biologie oder bestehe vollständig aus biologischen Aussagen. Vielmehr liegt der Krankheitslehre insgesamt ein bio-psycho-soziales Verständnis des Menschen und der Krankheit(en) zugrunde, das aber natürlich den großen Anteil naturwissenschaftlicher Theorien am medizinischen Wissen nicht verleugnet. Die naturwissenschaftlichen Theorien von Physik, Chemie und Biologie sind immer 36 Zitiert aus Hucklenbroich 2013, 42. 37 Vgl. auch Fussnote 14. – Die wissenschaftliche Pathologie im Sinne der Pathologischen Anatomie, Histologie (Gewebelehre) und Cytologie (Zellenlehre) wird dargestellt in Standardwerken wie Böcker et al. 2012 oder Riede/Werner 2017. Das medizinische Wissen über Gewebe, Zellen und deren Regenerationsfähigkeit ist in dieser Fachliteratur zusammengetragen, und die zugrunde liegenden Forschungen sind dort nachgewiesen. – Vgl. auch oben Fussnote 13. 38 In die naturwissenschaftliche und medizinische Anthropologie fließen z. B. Resultate aus der Psychobiologie, Neurowissenschaft, Neuropsychologie, Psychosomatik, Ethologie, Soziobiologie und der Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychiatrie ein, die auf harten empirischen und experimentellen Daten und erklärenden Theorien beruhen und weder essentialistisch noch suspekt genannt werden können. Frühere philosophische Anthropologen wie Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner haben wissenschaftliche Erkenntnisse aus diesen Bereichen immer auch zu berücksichtigen gesucht.
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generelle Aussagen (selbst wenn sie, wie in der Quantenphysik, mit statistischen Begriffen formuliert werden), und sie beschreiben sehr erfolgreich experimentell reproduzierbare Sachverhalte. Die mokante Kritik von Langanke/Werner an einer Aussage der medizinischen Pathologie, der sie einen »Kryptoessentialismus« unterstellen wollen, erweist sich somit als wissenschaftstheoretischer Fehlgriff. Oder: Langanke/Werner wollen sogar die gesamte Naturwissenschaft, als »(krypto-)essentialistisch« charakterisieren. Das würde aber nicht mehr dazu passen, dass sie solche Essentialismen als »wissenschaftlich suspekt« bezeichnen, denn das wäre eine contradictio in adiecto. Die essentialistische Deutung von Naturwissenschaft sollte spätestens seit Popper als Fehldeutung erkannt sein. F3: Es gibt wichtige generelle Erkenntnisse über den Menschen, die man schon vorwissenschaftlich kennt und erkennen kann, ohne eine Naturwissenschaft zu benötigen. Dazu gehört die Einsicht, dass der Mensch endlich ist, dass er bedürftig ist, und dass er erkranken kann. Gehören diese Einsichten als vorwissenschaftliche daher nicht in die Philosophische Anthropologie statt in die Naturwissenschaft oder die Medizin? Z3: Die Prädikatoren »bedürftig« und »sterblich«/»endlich« bezeichnen generelle Merkmale »des« Menschen, die schon vorwissenschaftlich verfügbar sind, ohne ein spezifisch biologisches Wissen vom Menschen vorauszusetzen (LW 445). »Sie gehen […] auf Eigenschaften des Menschen, die epistemisch zugänglich sind, ohne dass es dazu einer Naturwissenschaft vom Menschen im anspruchsvollen Sinn bedarf« (LW 446). Zu diesen Eigenschaften der Fragilität gehören auch die Verletzbarkeit und die Fähigkeit, krank werden zu können. Daher sind auch die Begriffe Krankheit und Altern legitimer Gegenstand der Philosophischen Anthropologie (LW 447 f.). A3: Das Verhältnis von vorwissenschaftlich verfügbaren Erkenntnissen und Begriffen zur Wissenschaft ist nicht in dem Sinne exklusiv, dass die Wissenschaft auf diese Erkenntnisse und Begriffe zu verzichten hätte. Vielmehr inkorporieren und integrieren Wissenschaften in ihre Theorien selbstverständlich alles, was sich aus dem vorwissenschaftlichen Status bewährt hat und bestätigen lässt. In der Regel wird dabei das vorwissenschaftliche Wissen systematisiert, präzisiert und verbessert, aber auch korrigiert. So ist die wissenschaftliche Krankheitslehre eine extreme Verbesserung des vorwissenschaftlichen Krankheitswissens, und zwar in dem Maße, dass das heutige vorwissenschaftliche (oder »lebensweltliche«) Alltagswissen über Krankheiten inzwischen großenteils ein »abgesunkenes«, popularisiertes medizinisches Wissen ist, neben alten, überholten Restvorstellungen aus der eigentlichen vor-wissenschaftlichen Phase in der Geschichte der Medizin sowie Überbleibseln von Ammenmärchen und Aberglauben. Ein Beispiel dafür, was mit Präzisierung und Verbesserung gemeint ist: Es scheint schon vorwissenschaftlich klar zu sein, was »vitale Grundbedürfnisse« des Menschen sind (LW
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446). Aber erst durch die wissenschaftliche Medizin wurde erkannt, dass die Zufuhr von Vitaminen ein essentielles, vitales Grundbedürfnis ist. (Welchen Status eine Philosophische Anthropologie bezüglich des Krankheitsbegriffs haben sollte, ist sicher strittig, er könnte aber darin bestehen, das medizinische Wissen über Krankheit im Hinblick auf seine Bedeutung für das Selbstverständnis von Menschen zu interpretieren.). F4: Ist der Tod ein normales Ereignis? Wie kann er normal sein, wenn er (immer) auf krankhafte Ursachen zurückgeht? Z4: a) Der Tod ist unvermeidlich, also normal. b) Ein natürlicher Tod hat keine krankhaften Ursachen. c) Lebensbedrohliche Zustände (= mögliche Todesursachen) sind krankheitswertig. d) Krankheitszustände sind nicht normal (LW450). Aus a)-d) folgt der Widerspruch, dass der Tod normal und nicht normal ist. Lösung: Wir interpretieren Normalität statistisch als Häufigkeit. Dann gilt: Der Tod ist normal, weil er als »Summe« aller möglichen krankhaften (= wenig normalen = seltenen) Zustände selbst höchstwahrscheinlich (= normal) ist. (LW 450 f.). A4: Der Frage, dem konstatierten Widerspruch und der »Lösung« von Langanke/ Werner liegt ein begrifflicher Irrtum, nämlich eine Äquivokation im Normalitätsbegriff, zugrunde. Voneinander zu unterscheiden sind: a) normal (in der Statistik) = häufig (bzw. beim Tod: sicher eintretend) und b) normal (in der Medizin) = nicht krankhaft = gesund.39 Die Lösung ist also: Der Tod ist normal im statistischen Sinn, aber zum Teil nicht normal im medizinischen Sinn, nämlich wenn er vorzeitig erfolgt, weil er auf eine krankhafte Ursache zurückgeht. Langanke/Werner verheddern sich in der Äquivokation von »Normalität«, offenbar weil sie die von Boorse stammende Identifikation von Gesundheit mit Häufigkeit als begriffliche Identität übernehmen (vgl. oben Kap. 2). F5: Zielt die Medizin auf die Unsterblichkeit des Menschen? Muss man ihr nicht dieses Ziel unterstellen,wenn ihr Ziel darin besteht, Krankheit generell, also alle Krankheiten und damit alle Todesursachen zu beseitigen? Betreibt die Medizin damit eine Pathologisierung des Alters und der menschlichen Endlichkeit? Z5: Unter der Annahme, dass der Tod stets – auch im hohen Alter – auf pathologische Prozesse zurückzuführen sei, erscheint es nicht aussichtslos, diese Prozesse einer kausalen medizinischen Behandlung zum Zwecke der Verlängerung oder »Entfristung« unserer Existenz zugänglich zu machen (LW 447–448). Am medizinischen Krankheitsverständnis müsste sich ablesen lassen, ob die Medizin a) sich auch im höchsten Alter noch für therapeutisch zuständig hält, oder b) eine 39 Zur Äquivokation von Normalität und zum medizinischen Normalitätsbegriff vgl. Hucklenbroich 2008.
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(Alters-) Grenze der Zuständigkeit anerkennt oder c) durch ihre therapeutische Zielsetzung die »Entfristung« des Lebens (= Unsterblichkeit) nolens volens als Ziel akzeptiert hat, wie Ernst Bloch vermutet (LW 449 f.). A5: a) Aus dem in A4 Gesagten ergibt sich auch, warum die Alternative in F5 und Z5 unvollständig ist und die Antwort in bestimmter Hinsicht offen bleiben muss: Unter der Voraussetzung, dass a) alle Todesursachen krankhaft seien und b) alle Krankheiten »besiegt« werden sollten, wäre die Zielsetzung der Medizin in der Tat identisch mit der »Unsterblichkeit« (aber womöglich als »Tattergreis« mit allen nicht therapierbaren, unvermeidbaren Altersbeschwerden, oder gar als künstlich am Leben gehaltenes Gehirnpräparat). Aber die Voraussetzung a) wird in der wissenschaftlichen Medizin bestritten mit dem Hinweis, dass unvermeidbare Zustände und Vorgänge keinen Krankheitswert besitzen und im natürlichen Spontanverlauf unvermeidbare Altersbeschwerden, auch wenn sie zum Tod führen, allenfalls als phänotypisch krankheitsanalog, aber nicht als krankheitswertig zu betrachten sind. Es muss dabei (vorläufig?) offengelassen werden, ob alle Altersbeschwerden, die im Spontanverlauf unvermeidlich sind, durch künstliche therapeutische Maßnahmen zu vermeidbaren gemacht werden könnten. Beim gegenwärtigen Stand des gerontologischen und geriatrischen Wissens erscheint diese Annahme allerdings äußerst unplausibel.40 b) Die Voraussetzung b) – »alle Krankheiten sollten ›besiegt‹ werden« – unterliegt ebenfalls einer Art Äquivokation, nämlich der Wendung »eine Krankheit besiegen«. Das kann nämlich bedeuten »eine erfolgversprechende Therapie für diese Krankheit zu finden« (Ziel 1) oder »die Krankheit in jedem Fall erfolgreich zu behandeln und damit auszurotten« (Ziel 2). Ziel 1 kann man einer wissenschaftlichen Medizin durchaus für alle Krankheiten unterstellen, Ziel 2 für alle Krankheiten erreichen zu wollen, gehört dagegen nicht zum Selbstverständnis und zur Selbstverpflichtung der praktischen Medizin, sondern eher in die Ideenwelt einer »Pflicht zur Gesundheit« oder gar eines utopischen »Transhumanismus.« F6: Suggeriert das Kriterium, dass Zustände, die zu einem vorzeitigen Tod führen, krankhaft sind (Vorzeitigkeitskriterium), dass es auch einen »zeitigen« oder »rechtzeitigen« Tod gibt? Z6: »Die Rede von der ›Vorzeitigkeit‹ des Todes suggeriert ganz offenkundig, es könne außer einem ›vorzeitigen‹ auch einen zum richtigen Zeitpunkt erfolgenden Tod geben.« (LW 453) A6: Der Ausdruck »vorzeitig« impliziert lediglich, dass es mindestens einen Vergleichszustand oder -vorgang geben muss, der nicht vorzeitig ist. Von richtig 40 Vgl. das umfangreiche »Handbuch Geriatrie« von Raem et al. 2005.
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oder falsch ist überhaupt nicht die Rede. Eine solche Suggestion mag sich aber einem Leser aufdrängen, der in Fragen von Krankheit und Tod automatisch nach sozialen oder moralischen Bewertungen sucht. Der medizinische Begriff der Vorzeitigkeit ist aber rein beschreibend und daher wertfrei. Er spielt seine Rolle primär im Kontext der Frage, ob ein bestimmter Vorgang V krankhaft ist, und gibt dafür ein positives Kriterium an: Angenommen, der Vorgang V träte bei einem Individuum I ein: Würde I dann sofort sterben oder früher sterben, als es ohne das Eintreten von V der Fall wäre? Wenn die Antwort »ja« lautet (und das NichtEintreten von V unter natürlichen, spontanen Bedingungen möglich ist), dann ist V krankhaft. Es handelt sich also um einen hypothetischen, kontrafaktischen Test vor dem Hintergrund physiologischen und pathophysiologischen Gesetzeswissens, das auch auf interindividuellen Vergleichen beruht. Durch dieses Kriterium wird ein Bedeutungsaspekt von Krankhaftigkeit erklärt. Das Vorzeitigkeitskriterium kann aber auch zur Beantwortung der Frage nach der Natürlichkeit (im medizinischen, nicht im juristischen oder kriminologischen Sinn) eines faktischen Todesfalls herangezogen werden (siehe A 7). F7: a) Lässt sich das Kriterium, dass ein vorzeitiger Tod krankhaft ist, korrekt und konsistent präzisieren? b) Ist die Rede von »beim Menschen« möglichen oder unmöglichen spontanen Verläufen nicht auf entweder essentialistische Annahmen über die Natur des Menschen oder interindividuelle biostatistische Vergleiche angewiesen? c) Gibt es immer einen natürlichen Alternativverlauf zum spontan letalen Verlauf ? Z7: Langanke/Werner behaupten, dass Aussagen darüber, was »beim Menschen« unmöglich ist, entweder auf suspekte essentialistische Annahmen über die Natur des Menschen oder auf ein überindividuelles Normalitätskriterium zurückgreifen müssten (LW 455). Dagegen würden Aussagen darüber, was bei einem individuellen Menschen als Alternative zu einem spontanen letalen Verlauf möglich ist, in das Trilemma führen, dass man entweder irgendwelche früheren Ereignisse willkürlich »wegdenken« müsse (Horn 1), oder bestreiten müsse, dass an einem faktisch eingetretenen Verlauf »kein Jota« geändert werden kann (Horn 2), oder aber auf wissenschaftlich suspekte essentialistische oder rein biostatistische Argumente für das natürlicherweise Mögliche rekurrieren müsse (Horn 3) (LW 455– 456).41 41 Das Trilemma im Originaltext: »Entweder lassen wir zu, dass wir uns alle individualspezifischen Umstände […], die im Fall dieser Patientin zu einem schmerzhaften oder lebensbedrohlichen Organismuszustand geführt haben. gewissermaßen ›wegdenken‹ und auf diese Weise einen möglichen und besseren Spontanverlauf konstruieren, oder wir bestreiten, dass es für diese konkrete Patientin überhaupt auch nur einen einzigen möglichen Alternativverlauf gibt, da es unmöglich ist, den faktisch eingetretenen Gang der Dinge auch nur um ein Jota zu ändern, oder wir führen zusätzliche Kriterien für
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A7: Die Argumentation von Langanke/Werner gegen das Vorzeitigkeitskriterium beruht auf zwei Fehlern: Sie missverstehen die Methode des hypothetischen, kontrafaktisch-konditionalen Argumentierens, und sie ignorieren oder übersehen Existenz, Natur und Inhalt des biomedizinischen Wissens über den Menschen und seine natürliche Entwicklung und Alterung. a) Das Vorzeitigkeitskriterium beruht auf folgender Überlegung: Gibt es in der Kausalkette, die zum Tod T geführt hat, ein Ereignis E als notwendige Bedingung für T, das keine entwicklungsgesetzlich unvermeidliche Alterserscheinung ist und zu dem ein hypothetisches alternatives Ereignis E* angegeben werden kann, das nicht zum Tod geführt hätte? Nur wenn es ein solches Ereignis E – als Todesursache – gibt, ist der Tod T vorzeitig und ist E krankhaft. Sind dagegen alle kausal für den Tod verantwortlichen Faktoren als Alterserscheinungen im Spontanverlauf unvermeidlich gewesen, so ist der Tod nicht vorzeitig. Noch einmal anders gesagt: Der Tod eines Menschen kann entweder (i) auf im Spontanverlauf naturgesetzlich unvermeidliche Ursachen zurückgehen oder (ii) auf ursächliche Ereignisse E, zu denen man sich Alternativereignisse und Alternativverläufe E* ohne Versterben hypothetisch vorstellen kann, ohne dabei dem biomedizinischen Wissen und insbesondere dem Wissen über die gesetzmäßig eintretenden Alterserscheinungen und ihre Folgen widersprechen zu müssen. Im zweiten Fall sind die Todesursachen krankhafte Prozesse. Dazu zwei Beispiele: – Patient A.B. ist im Alter von 95 Jahren an einem Herz-Kreislauf-Versagen verstorben. Bei Pat. A.B. lag eine seit 10 Jahren bekannte progrediente Verschlechterung der Herzleistung vor, die durch altersbedingte Hypo- und Atrophie des Herzmuskels bedingt war. Eine spezifische Herzerkrankung lag nicht vor. Patient A.B. hatte sich immer geweigert, die nachlassende Herzleistung durch Medikamente oder andere stützende Maßnahmen zu verbessern. »Er wolle der Natur ihren Lauf lassen«, war seine Begründung. Die medizinische Bewertung des Falls lautet: Der Tod von A.B. war nicht krankhaft, sondern natürlich und unvermeidlich, obwohl das Herz-Kreislauf-Versagen kontrafaktisch durch künstliche Maßnahmen noch erheblich hätte hinausgezögert werden können. – Patient C.D. ist im gleichen Alter von 95 Jahren ebenfalls an einem HerzKreislauf-Versagen verstorben. Die Obduktion und Fremdanamnese ergeben, dass ein massiver Herzinfarkt zugrunde lag, der seinerseits durch eine körperliche Überlastung in einer Stresssituation bedingt war. Die medizinische Bewertung des Falls lautet: Patient C.D. ist durch ein krankhaftes Ereignis verstorben, da hypothetisch ohne weiteres vorstellbar ist, dass C.D. nicht in die
die Abgrenzung des natürlicherweise Möglichen ein, ohne dass jedoch einstweilen erkennbar wäre, welcher Art diese Kriterien sein könnten, solange wir nicht doch auf biostatistische Überlegungen oder wissenschaftlich suspekte essentialistische Annahmen rekurrieren.« (LW 455 f.)
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Stresssituation mit körperlicher Überlastung gekommen wäre und dann keinen tödlichen Herzinfarkt erlitten , sondern weitergelebt hätte. Das Langanke/Werner-Trilemma tritt also in der medizintheoretischen Analyse nicht auf, weil a) die Argumentation hypothetisch ist und nicht vorausgesetzt wird, dass sich faktisch »irgendein Jota ändert« (Horn 2), weil b) nicht irgendwelche Ereignisse im Leben des verstorbenen Patienten willkürlich hypothetisch verändert und neu zusammengesetzt werden, sondern nur faktische Todesursachen, d. h. notwendige Vorbedingungen für das faktische Versterben, durch hypothetische Alternativen ersetzt gedacht werden (wenn naturgesetzlich möglich) (Horn 1), und weil c) in der ganzen Argumentation nirgends auf suspekte essentialistische Spekulationen über die Natur des Menschen oder auf interindividuelle biostatistische Vergleiche zurückgegriffen werden muss, sondern lediglich auf seriöses wissenschaftliches Wissen über Altern und Alterserscheinungen (wie z. B. Muskel- und Herzatrophie, Verminderung der Immunität und Infektresistenz, langsamere Wundheilung und Gewebserneuerung, Demineralisierung der Knochensubstanz usw.). Solche Alterserscheinungen sind im Spontanverlauf, solange ihnen nicht gezielt therapeutisch oder präventiv entgegengewirkt wird, gesetzmäßig zu erwarten, also unvermeidlich und deshalb normal. Sie sind in demselben Sinn normal, wie es normal und unvermeidlich ist, dass man vor Erreichen des Alters eine Phase der pränatalen Entwicklung, der Kindheit und der Jugend durchlaufen haben muss – dies ist ebenso naturgesetzlich unvermeidlich wie das Altern. b) Das biomedizinische Wissen über den Menschen umfasst zahlreiche generelle kausale Gesetzmäßigkeiten. Das ist das Charakteristikum der Erfahrungswissenschaften Physik, Chemie, Biologie und Medizin. Auf diese Gesetzmäßigkeiten rekurrieren Gedankenexperimente wie das hypothetische, kontrafaktische Argumentieren – nicht auf obskure Essentialismen, aber auch nicht auf bloß partikulare Aussagen über Häufiges. Die Physiologie und Pathophysiologie z. B. von Herzmuskelgewebe formulieren experimentell bestätigbare und reproduzierbare Kausalgesetze. Das ist kein Essentialismus, oder wenn man das doch so nennen will, dann ist dieser Essentialismus nicht »wissenschaftlich suspekt«, sondern gerade die erfolgreichste wissenschaftliche Erkenntnis- und Erklärungsmethode, die wir kennen. Die Existenz dieser Art wissenschaftlichen Wissens scheinen Langanke/Werner vollständig übersehen zu haben (vgl. auch oben A2). c) Zur Frage nach der Existenz alternativer (hypothetischer) Spontanverläufe: Krankheiten werden immer durch eine Interaktion zwischen Organismus und Umwelt (= ätiologischer Faktor) ausgelöst. (Bei genetischen Krankheiten liegt dieses Ereignis u. U. in der Vorgeschichte des betroffenen Individuums.) Auf diese Krankheitsursache folgt eine Kette oder Kaskade krankhafter Folgeereignisse (Pathogenese) mit bestimmten typischen Manifestationen (Symptomatik). Die Krankheit kann, mit und ohne Behandlung, auf verschiedene Weisen ausgehen
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(Exitus). Der Ausgang kann zwischen völliger Heilung, Defektheilung, Chronifizierung ohne oder mit Progredienz und vorzeitigem Tod (exitus letalis) variieren. Das ist der Spontanverlauf; eine kausale Therapie besteht immer in einem Eingriff in diese Kausalkette, der die weiteren Folgen verhindert oder abmildert. Das ist dann kein Spontanverlauf mehr, sondern ein künstlich veränderter, behandelter Verlauf. Um hypothetisch einen alternativen Spontanverlauf annehmen zu können, muss hypothetisch die Krankheitsursache, also der ätiologische Faktor, oder eine seiner Folgen in der Pathogenese als verändert oder ganz fehlend angenommen werden, ohne dass eine Behandlung stattgefunden hätte. Solche Annahmen stehen generell im Widerspruch zu den Gesetzen der Pathologie und Pathophysiologie außer bei den Erstursachen (ätiologischen Faktoren), die kontingente Interaktionen zwischen Orgamismus und Umwelt sind. In summa gibt es also spontane, nicht krankheitswertige Alternativverläufe (insbesondere beim letalen Verlauf) immer dann, wenn eine kontingente krankhafte Erstursache den Verlauf ausgelöst hat, die also nicht naturnotwendig eingetreten ist und auch anders oder gar nicht hätte eintreten können. d) Die Behauptung von Langanke/Werner, in meiner Rekonstruktion der Krankheitskriterien seien interindividuelle Vergleiche generell nicht zugelassen, beruht auf einem Missverständnis. Selbstverständlich sind solche Vergleiche im Kontext der Krankheitslehre zulässig, solange sie sinnvoll eingesetzt werden, also nicht Unvergleichbares verglichen werden soll (z. B. gynäkologische Erkrankungen und ihre Verläufe mit denen eines männlichen Patienten). Die von Langanke/Werner zitierte Stelle aus meiner Arbeit42 schließt nicht solche sinnvollen Vergleiche aus, sondern richtet sich gegen Boorses Rekurs auf Statistiken für die Definition von Krankhaftigkeit, da es in diesem Kontext um naturgesetzlich (Un-) Mögliches und nicht um Häufigkeiten geht (vgl. oben Kap. 2). Interindividuelle Vergleiche können z. B. dabei helfen, Hypothesen über Todesursachen zu prüfen, wie das folgende Beispiel zeigt: Beispiel: Ein Kind ist in der Wiege verstorben. Zuvor hatte ein Fremder es betrachtet. Es wird behauptet, das Kind sei durch den Anblick des Fremden gestorben, da dieser den »bösen Blick« habe. Hier kann der interindividuelle Vergleich eine Hypothese über Todesursachen widerlegen, indem gezeigt wird, dass in vielen anderen Fällen fremde Kinder von dem Beschuldigten betrachtet worden sind, ohne dass es jemals zu Krankheit oder Tod bei den betrachteten Kindern gekommen wäre. F8: a) Impliziert das medizinische Verständnis von Krankheit, Altern und Tod eine Pathologisierung des Alters? b) Muss der Krankheitsbegriff der Medizin geändert, ergänzt oder relativiert werden, um eine Übertherapie im Alter zu vermeiden?
42 Hucklenbroich 2013, 72.
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Z8: In Situationen der eigenen Erkrankung »können wir die Erfahrung machen, dass […] wir vielleicht nicht so leben sollten, als hätten wir unbegrenzt Zeit« (LW 447). Unter der Annahme, dass der Tod stets – auch im hohen Alter – auf pathologische Prozesse zurückzuführen sei, erscheint es nicht aussichtslos, diese Prozesse einer kausalen medizinischen Behandlung zum Zwecke der Verlängerung oder »Entfristung« unserer Existenz zugänglich zu machen (LW 447–448). A8: In A5 wurde gezeigt, dass der medizinische Krankheitsbegriff keineswegs das Alter generell »pathologisiert«, sondern durchaus zwischen dem normalen Alter mit normalen Alterbeschwerden bzw. Rückbildungsprozessen und echten Alterskrankheiten, d. h. Krankheiten mit Prädilektion im höheren Alter, unterscheidet. Zusätzlich gilt: Selbst wenn man die Therapie echter Krankheiten im hohen Alter für fragwürdig und überdenkenswert hält, bedarf es nicht einer Änderung oder Revision des generellen Krankheitsbegriffs, sondern nur einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Behandlungsbedürftigkeit oder behandlungsbedürftigen Erkrankung. Dies ist aber keine Sache der allgemeinen medizinischen Krankheitstheorie oder der philosophischen Ethik und Anthropologie, sondern eine höchst individuelle und persönliche Entscheidungsfrage im praktisch-medizinischen Kontext der Indikationsstellung und Therapieentscheidung, d. h. in der individuellen Arzt-Patient-Kommunikation. Wenn hier allgemeine Aussagen zur Vermeidung von Überversorgung und Übertherapie erforderlich sind, kann es sich nur um alters- und krankheitsbezogene Indikationsregeln handeln, nicht um Krankheitstheorien oder allgemeine philosophische Grundsätze. F9: a) Ist es möglich und sinnvoll, den rekonstruierten Krankheitsbegriff der medizinischen Krankheitslehre mit philosophischen Krankheitstheorien zu vergleichen und diese in Konkurrenz zu jenem zu setzen? b) Ist die Krankheitsdefinition von Boorse ein möglicherweise leistungsfähigerer oder differenzierterer Krankheitsbegriff als der der wissenschaftlichen Medizin? c) Ist das angeblich »aus der Patientenperspektive« gebildete Krankheitsverständnis von Lanzerath ein wissenschaftlich und medizinisch korrekter und möglicherweise ethisch besserer Krankheitsbegriff als der theoretisch-wissenschaftliche? Z9: »Die einzige der untersuchten Positionen, die Funktionsstörungen […] im Zuge des Alterns zu depathologisieren vermag, ist […] die […] biostatistische Krankheitskonzeption von Christopher Boorse. Denn diese Position bestimmt die Krankhaftigkeit einer Funktionsstörung relativ zu einer Referenzgruppe, die aus Individuen […] gleichen Alters gebildet wird. Damit aber verschafft sie sich methodisch die Möglichkeit, bestimmte Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen als ›alterstypisch‹ einzuordnen. Hingegen ist weder die […] Konzeption von Peter Hucklenbroich noch die […] Konzeption von Dirk Lanzerath geeignet, einer Pathologisierung menschlichen Alter(n)s zu wehren. Im ersten Fall hat dies
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seinen Grund wesentlich darin, dass auf interindividuelle Vergleiche zur Bestimmung des ›Krankhaften‹ methodisch bewusst verzichtet wird […]«(LW 466) A9: a) Langanke/Werner übernehmen ungeprüft die Behauptungen Boorses hinsichtlich der Leistungsfähigkeit seines Definitionsvorschlags. Wie ich aber oben in Kap. 2 ausführlich gezeigt habe, setzt dieser erstens bei der Bezugnahme auf die Physiologie als Lehre von den normalen Lebensvorgängen unbemerkt ein Normalitäts- oder Krankheitskriterium für die Abgrenzung zur Pathophysiologie voraus, das de facto von der medizinischen Krankheitslehre geliefert wird – auch in Boorses Selbstdarstellung klar erkennbar. Dies allein macht seine BST bereits entweder zirkulär oder abhängig vom medizinischen Krankheitswissen. Zweitens, und das wiegt für die Frage der Leistungsfähigkeit noch schwerer, beruft er sich auf ein präsumtives Konzept des Wirkungsgrades physiologischer Vorgänge oder Funktionen, das angeblich einen intra- wie interindividuellen Vergleichsmaßstab für alle physiologischen Vorgänge und zugleich ein universelles quantitatives Maß für ihren (angeblichen) kausalen Beitrag zu Leben/Überleben (und Reproduktion/Reproduktionsfähigkeit) darstellt. Dieses angeblich existierende Konzept, gedacht als eine Art begrifflicher Wunderwaffe, ist jedoch ein naturwissenschaftliches Unding, bestenfalls ein philosophischer Wunschtraum; es gibt keinen seriösen Versuch, dieses Konzept als ein wissenschaftliches physiologisch zu definieren (vgl. Kap. 2.2 ff.). Die behauptete Leistungsfähigkeit, Krankhaftigkeit überhaupt verbindlich definieren und sogar geordnet nach Altersgruppen vergleichen zu können, ist nicht eingelöst und auch nicht einlösbar.43 Dagegen ist die medizinische Krankheitslehre mit ihrem differenzierten nosologischen System aus Krankheitsentitäten und Syndromen ohne weiteres in der Lage, Altersprädilektionen zu berücksichtigen und insbesondere zwischen normalen Alterserscheinungen und Alterskrankheiten zu unterscheiden. Auch das Verfahren, Vorzeitigkeit von Todesursachen nachzuweisen und dabei ggf. interindividuelle Vergleiche nachvollziehbar heranzuziehen, ist ein naturwissenschaftlich-medizinisches Standardverfahren und wurde von Hucklenbroich in seiner Rekonstruktion berücksichtigt (vgl. oben A7), entgegen der Darstellung bei Langanke/ Werner. b) Der Vorschlag von Lanzerath, vom Krankheitsverständnis des Patienten in seiner Selbstpräsentation auszugehen, ist nur richtig für die individuelle ArztPatient-Kommunikation, nicht für ein allgemeines wissenschaftliches Krankheitsverständnis. Schon die Unterstellung, es gebe ein oder das Patientenverständnis als einheitliches und allgemeines, ist nicht haltbar in einer multikultu43 Wenn man einbezieht, dass Boorse in sinen jüngsten Arbeiten offenbar zu der Position übergewechselt ist, dass Altern eine Krankheit sei, erledigt sich Langanke/ Werners Argument für die Überlegenheit von Boorses Krankheitstheorie ironischerweise ganz von selbst, da dann eine ausdrückliche Pathologisierung des Alters bei Boorse vorliegt (vgl. Fussnote 17 und Text).
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rellen und pluralistischen Welt. Wichtiger ist aber, dass die Laienverständnisse – die sogenannten »subjektiven Krankheitstheorien« – sehr häufig korrekturbedürftig sind und vom Arzt bei der Diagnostik und Indikationsstellung keinesfalls unbefragt übernommen werden dürfen – das zu tun stellt vielmehr einen klassischen Kunstfehler dar. Vielmehr braucht der Arzt einen intersubjektiven, wissenschaftlich validierten theoretischen Krankheitsbegriff und eine darauf beruhende Krankheitslehre als Korrektiv und »Widerlager« zu den Laienvorstellungen und -wünschen des Patienten. Das ist keine paternalistische Position, sondern eine ethisch gebotene Verantwortlichkeit des Arztes gegenüber dem Patienten, der Anspruch auf die beste wissenschaftlich-medizinische Versorgungs-Empfehlung hat. c) Es ist,, zumindest zum gegenwärtigen wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Zeitpunkt, nicht sinnvoll, philosophische Krankheitstheorien in Konkurrenz zur medizinischen Krankheitslehre zu setzen. Die seit fast zwei Jahrhunderten erforschte und seitdem millionenfach praktisch erprobte Krankheitslehre, die im Vergleich zu allen früheren Epochen der Medizingeschichte einen beispiellosen Fortschritt bei den therapeutischen Möglichkeiten gebracht hat, kann nicht seriöserweise mit philosophischen Spekulationen über eine alternative Krankheitstheorie in Konkurrenz gesehen werden. Das ist angesichts der verworrenen, hochkontroversen Diskussionslage in der Medizinphilosophie wissenschaftstheoretisch ebenso unplausibel, wie es ethisch unverantwortlich gegenüber den Patienten – also uns allen – wäre.
5. Schlussbemerkung Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Kardinalfehler aller bisherigen philosophischen Krankheitstheorien darin besteht, die medizinische Krankheitslehre, in ihrer komplexen und diffizilen wissenschaftstheoretischen Struktur, zu ignorieren oder sogar ihre Existenz zu bestreiten, anstatt die hier vorliegende Herausforderung zu einer philosophischen Analyse und Rekonstruktion anzunehmen. Es ist noch nicht an der Zeit, durch die in der Medizinphilosophie entwickelten Krankheitstheorien eine Aufklärung neben oder trotz einer existierenden einschläggen Wissenschaft zu versuchen. Zunächst muss verstanden werden, was in der wissenschaftlichen Medizin und ihrer Krankheitslehre an Erklärungen erarbeitet worden ist, Um es paradox zu formulieren: Solange die Medizinphilosophie die medizinische Krankheitslehre noch nicht verstanden und wissenschaftstheoretisch durchdrungen hat, bedarf sie selbst einer Aufklärung durch Wissenschaft, nämlich durch die wissenschaftliche Medizin. Dies ist, wie eingangs betont, keineswegs nur eine Aufgabe für die akademischphilosophische Diskussion. Die Geschichte der Medizin der vergangenen zweieinhalbtausend Jahre zeigt in drastischer Weise, welche extrem praktische Be-
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deutung der Krankheitsbegriff und die Krankheitslehre für die ärztliche Diagnostik und Therapie und darüber hinaus für das Selbstverständnis des Menschen in Gesundheit und Krankheit haben. Wenn man, einer Unterscheidung von Rainer Enskat folgend, eine akademisch restringierte Form von Aufklärung von der eigentlichen, absoluten, weil alle Menschen betreffenden und unteressierenden Form auch terminologisch abgrenzt, dann darf gesagt werden, dass die Entwicklung der medizinischen Krankheitslehre erst mit dem modernen Begriff der Krankheitsentität den Durchbruch zur echten, absoluten Aufklärung im Bereich der ärztlichen Theorie und Praxis gefunden hat.
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Vorläufige Urteile statt Vorurteile – Zur Kritik neuerer Versuche einer Rehabilitierung des Vorurteils in den Wissenschaften Oliver R. Scholz Für Nadja
1. Einleitung Die Kritik an Vorurteilen gehörte seit jeher zum programmatischen Kern der Aufklärung. Vorurteile galten als etwas Schlechtes: als unvernünftig im Sinne von »irrational motiviert«, als unmoralisch und vor allem als in ihren absehbaren Folgen für den Einzelnen und die Gemeinschaft insgesamt eher schädlich als nützlich. Sie galten als Quellen von Unwissenheit und Irrtümern, als Hindernisse bei der Suche nach Erkenntnis und auf dem Wege zur Mündigkeit. Deshalb wurden sie mehrheitlich abgelehnt und bekämpft. Man dachte über ihre Kennzeichen und Ursachen nach und suchte nach Mitteln, wie sie vermieden oder zumindest reduziert werden könnten. Vor diesem Hintergrund muss es überraschen, dass in neuerer Zeit1 immer wieder versucht wird, den Vorurteilen positive Seiten abzugewinnen, ja sie schön zu reden. Noch überraschender ist, dass diese Initiativen heutzutage gerade aus der Philosophie und den Wissenschaften kommen. In meinem Beitrag argumentiere ich dafür, dass die Versuche einer Rehabilitierung oder gar Nobilitierung von Vorurteilen auf begrifflichen Missverständnissen beruhen, noch dazu auf Missverständnissen, die im Zeitalter der Aufklärung bereits aufgedeckt und ausgeräumt werden konnten. Aus diesem Grunde bemühe ich mich deshalb zunächst um eine Bestandsaufnahme der begrifflich differenziertesten Vorurteilstheorien der Aufklärung. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Unterscheidung zwischen Vorurteilen auf der einen und vorläufigen Urteilen auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund setze ich mich dann kritisch mit zwei neueren Versuchen auseinander, Vorurteile als unvermeidlich oder sogar wünschenswert darzustellen. Da es in diesem Rahmen um das Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung geht, wähle ich jeweils ein Beispiel, das die Geisteswissenschaften betrifft, und eines, das sich auf die Naturwissenschaften bezieht. 1 Ansätze zu einer milderen Beurteilung der Vorurteile gab es schon im 18. Jahrhundert, etwa bei dem Politiker Friedrich Carl Freiherr von Moser (vgl. Moser 1761; dazu Schneiders 1983: 233–236) oder in der (späten) Vorurteilslehre des Georg Friedrich Meier (vgl. Meier 1766; dazu Schneiders 1983: 213–228). Auf Meier kommen wir noch zurück.
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2. Aufklärung und Vorurteilskritik Die Vorurteilskritik gehörte zum harten Kern des Aufklärungsprogramms. Schon in der griechischen Aufklärung und ihren römischen Nachklängen – bei Sokrates und in der Stoa (besonders bei Cicero) – spielte die Kritik an bloßen Meinungen im Sinne von irrational motivierten Voreingenommenheiten eine zentrale Rolle (Reisinger/Scholz 2001). In der neuzeitlichen Aufklärung avancierte die Kritik der Vorurteile zu der wichtigsten Kampfidee dieser Bewegung (Hinske 1990: 427–431). Von Francis Bacon, Ren& Descartes und Baruch Spinoza über John Locke, Christian Thomasius und Georg Friedrich Meier bis hin zu Immanuel Kant und seinen Schülern wurden differenzierte Vorurteilstheorien ausgearbeitet (Schneiders 1983; Reisinger/Scholz 2001). Wenn Aberglauben, wie Kant sagt, »das größte unter allen« Vorurteilen ist (AA V: 294),2 dann ist »Befreiung vom Aberglauben« (ebd.) eo ipso Befreiung von einem Vorurteil. Und wenn Voltaire recht haben sollte, dass der Fanatismus für den Aberglauben ist, was das Delirium für das Fieber, was die Raserei für den Zorn ist (Voltaire 1954: 196), dann ist der Kampf gegen die Vorurteile, indem er zugleich Aberglauben und Fanatismus bekämpft, wohl die grundlegendste und umfassendste Kampfidee der Aufklärung überhaupt. Aber auch die Verbindung zu den positiven Zielen der Aufklärung wurde im Laufe der Ausarbeitung des Aufklärungsprogramms immer deutlicher: Mit den Vorurteilen sollte ein grundsätzliches Übel bekämpft werden: der Hang zur passiven, zur faulen Vernunft, genauer gesagt: zur Heteronomie der Vernunft. Diesem schon von Locke beklagten Hang wurde von Kant die Maxime des Selbstdenkens als Maxime der vorurteilsfreien, allgemeiner: der niemals passiven Vernunft, entgegengesetzt (AA V: 294).
3. Der systematische Ertrag der Vorurteilsdiskussion der Aufklärung In diesem Rahmen kann ich nur einige der wichtigsten Resultate aus einer mehr als hundert Jahre umspannenden Diskussion herausheben. Als Leitfaden kann uns der Fragenkatalog aus dem Artikel »Vorurteil« in dem Philosophischen Lexicon (1726, 4. Aufl. 1775) von Johann Georg Walch dienen. Man kann demnach fragen: 2 Kants Schriften werden nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachf.) herausgegebenen Ausgabe (Berlin 1900 ff.) mit der Sigle AA (= Akademie-Ausgabe) unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft wird wie üblich mit der Sigle KrVunter Angabe der Seitenzahl der ersten (= A) und zweiten Auflage (= B) zitiert.
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was sie sind (Definition), »wie vielerley sie sind« (Einteilung in Arten), »woher sie entstehen« (Ursachen und Anlässe) und wie sie zu verhüten sind (Heilmittel).
Die Frage, wie sie zu verhüten sind, geht offenbar von der Voraussetzung aus, dass man sie vermeiden sollte. Dies können wir natürlich im Kontext unserer Fragestellung nicht einfach voraussetzen, da es ja gerade strittig ist. In jedem Falle kommen normative Fragen ins Spiel, die wir der Liste von Walch hinzufügen wollen, die wir jedoch konditional formulieren müssen: – Wenn Vorurteile irrational sind (was noch zu zeigen ist), was ist an ihnen irrational? – Wenn Vorurteile unmoralisch sind (was noch zu zeigen ist), was ist an ihnen unmoralisch? Als systematischer Ort der Vorurteilslehren galt zunächst die Logik. Das hat mehrere Gründe. Zum einen begann die philosophische Vorurteilstheorie, als das Vorurteil im logischen Sinne vom Präjudiz im rechtlichen Sinne abgegrenzt wurde (Schneiders 1983: 38–49). Die meisten Vorurteilslehren fassten das Vorurteil zunächst als Urteil, wenn auch als defektes Urteil, auf. Entsprechend wurde es in vielen Logiken in der Lehre vom Urteil behandelt, in anderen erörterte man es in der Lehre von den Erkenntnishindernissen und Irrtümern. Erst Kants Abgrenzung einer reinen allgemeinen (formalen) Logik von einerseits besonderen, d. h. disziplinspezifischen, Logiken und andererseits angewandten (»praktischen«) Logiken, in denen die empirischen Bedingungen des Verstandesgebrauchs untersucht werden, hatte zur Folge, dass die Vorurteilslehre schließlich mehr und mehr in die empirische Psychologie und Anthropologie transferiert wurde.3 Gleichwohl behielt auch Kant, dem Logik-Kompendium von Georg Friedrich Meier und wohl auch den Interessen seiner Zuhörer folgend, zunächst den Usus bei, die Vorurteilslehre in seinen Logik-Vorlesungen vorzutragen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die philosophisch besonders fruchtbare Entwicklung von Georg Friedrich Meier (1718–1777) über Johann Heinrich Lambert (1728–1777) bis zu Immanuel Kant (1724–1804). Einen guten Ansatzpunkt bietet Lamberts Kritik an Meiers Beyträge[n] zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts (1766). In seiner Vernunftlehre (1752) und dem Kompendium Auszug aus der Vernunftlehre (1752) hatte sich Meier noch überzeugt gezeigt, dass alle Vorurteile, d. h. jede »ungewisse Erkenntnis, die wir aus Übereilung annehmen oder verwerfen« (Meier 1752b: § 168; vgl. Meier 1752a: § 200), »[…] in der gelehrten 3 Zum Logikbegriff: Kant, KrVA 52-55/B 77-79; B VIII. Zum systematischen Ort der Vorurteilslehre: AA XVI: 783 (Refl. 3332); AA XXIV: 879; vgl. Reisinger/Scholz 2001, 1258.
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Erkenntniss vermieden werden« können und »demnach ein unverantwortlicher Schandfleck derselben« seien (1752b: § 169; vgl. 1752a: § 200), und dass in jedem Vorurteil, auch wenn es zufälligerweise materialiter wahr sein sollte, etwas »Irriges und Falsches« stecke, nämlich: »weil wir gewiss zu sein glauben, da wir doch nicht gewiss sind« (1752b: § 169; vgl. 1752a: § 201) (ebd.). In der späteren ausführlichen Abhandlung Beyträge[n] zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts (1766) zeigte sich Meier im Hinblick auf ihre Vermeidung weit weniger optimistisch (§ 46). Da sie oft unbewusst (§§ 28, 46), dabei hartnäckig und gegen Argumente weitgehend immun seien, hielt er eine völlige Befreiung von Vorurteilen wenn überhaupt, dann nur annäherungsweise möglich. Ja, er hielt eine Vermeidung jeglichen Vorurteils nicht einmal für ratsam und empfahl sogar, manche Vorurteile, insbesondere in »unwichtigen Fragen«, auf sich beruhen zu lassen (§ 50) und andere Personen »unter Umständen in ihren Vorurteilen belassen« (§ 51). Beispielsweise sei es nicht ratsam, die Christen von dem Vorurteil zu befreien, alle Unglücksfälle seien Strafen Gottes; da es »sehr nützlich« angewendet werden könne, um in ihnen die Gottesfurcht und den »Abscheu vor den Sünden zu befördern« (§ 51). Ein erstaunliches Resultat für eine Vorurteilslehre, die der Aufklärung dienen soll! Lambert wandte in seiner Rezension gegen Meier ein, dass dieser mit seiner Bestimmung – jedes Urteil, das man aus Übereilung oder ohne vorhergehende zureichende Prüfung der Gründe für wahr hält (Meier 1766: § 4, vgl. § 9) – den Begriff eines Vorurteils »sehr erweitert« habe (Lambert [1769] 1787: 207). Seine paradoxen Konsequenzen hätte Meier nach Lambert »glücklich vermeiden« können, »wenn er den Begriff eines Vorurtheils mehr eingeschränkt hätte« (209). Als methodologische Regel empfahl Lambert die Anweisung, den Vorurteilsbegriff von verwandten Begriffen in demselben Wort- bzw. Begriffsfeld abzugrenzen: Sowohl das Wort als der Begriff eines Vorurtheils gehört in diejenige Classe, wo man, um alles genau zu bestimmen, die damit verwandten Wörter und Begriffe mitnehmen, und ihre Grenzen so bezeichnen muß, daß alles behörig [sic!] vertheilt, und dadurch die Verwirrung vermieden werde. (209)
Insbesondere dürfe man Vorurteile nicht mit »dem, was ein vorläufiges Urtheil heißt« vermengen (210): »Letzteres hat etwas bescheidenes, ersteres immer etwas verhasstes an sich.« (210) Lambert betonte auch, wie vor ihm Locke (Locke [1706] 1823: 216 f., 228), dass die Vorurteile strenggenommen fehlerhafte Maximen des Urteilens seien, an denen man trotz kritischer Einwände festhalte (Lambert [1769] 1787: 210), oder letztlich sogar der falsche »Vorsatz dabey zu beharren, der aus dem Zutrauen zu seinen oder anderen ihren Kräften entspringt […]« (211). Kant hat die bei Lambert angedeutete Unterscheidung zwischen vorläufigen Urteilen und Vorurteilen weiterentwickelt, indem er sie mit der Unterscheidung
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zweier Verstandesoperationen verbindet (vgl. KrV A 260 f./B 316 f.). Verstand und Vernunft bestehen ihrer Natur nach in Tätigkeit, sind mit anderen Worten: aktive Vermögen. Zwei Handlungen der Spontaneität des Verstandes müssen dabei streng unterschieden werden: das Überlegen und die Untersuchung (vgl. KrV A 260 f./B 316 f.). Unter Überlegung (reflexio) versteht Kant eine Verstandesoperation, bei der ich die potentielle Erkenntnis mit denjenigen Erkenntnisvermögen vergleiche, aus denen sie entspringen soll, insbesondere den Vergleich mit den Gesetzen des Verstandes oder der Vernunft (AA XVI: 403; AA XXIV: 547, 559). Bei der Untersuchung richten wir unsere Aufmerksamkeit »auf die Gründe der Wahrheit« (vgl. KrV A 261/B 316). Während alle Urteile einer Überlegung bedürfen, bedürfen nicht alle einer Untersuchung, insbesondere dann nicht, wenn sie »unmittelbar gewiß« sind (vgl. KrVA 261/B 316 f.; AA XVI: 403). In seinem Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786) hat Kant einen Test beschrieben, den jeder durchführen kann, bevor er eine Sache nach ihren objektiven Gründen untersucht, und auch wenn er gar nicht in die Lage kommen sollte, sie zu untersuchen: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauch seines Erkenntnisvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauch derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei4 bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objektiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich bloß der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. (AAVIII 146 f.)
In der Untersuchung geht es dann darum, ob das Urteil durch Gründe gerechtfertigt ist, die für seine Wahrheit sprechen. Kant sieht vollkommen klar die beiden Schwierigkeiten, dass (a) niemand alles untersuchen, und (b) jeder von uns das allermeiste nicht selbst untersuchen kann. Vorläufige Urteile (iudicia praevia) gehen der Untersuchung voran; bestimmende Urteile (iudicia determinantia) folgen der Untersuchung (AA XXIV 546, vgl. 426). Ihrer Urteilsmodalität nach sind vorläufige Urteile problematische Urteile im Unterschied zu assertorischen und apodiktischen Urteilen (vgl. KrV B 100 f.; AA IX: 66 f., 74, 108; vgl. AA XXIV: 737). Entscheidend ist: Das vorläufige Urteil ist ein mit Bewusstsein problematisches Urteil (AA IX: 74); es ist 4 Man darf wohl hinzufügen: »und Vorurteile«.
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ein »vor der Untersuchung, aber mit der Überlegung« gefälltes Urteil (AA XXIV: 737; vgl. 861). Wenn die Erkenntnisvermögen richtig gebraucht werden, leitet uns das vorläufige Urteil zu einem wohlbegründeten bestimmenden Urteil (AA XXIV: 640; vgl. AA IX: 75 f.). An einem vorläufigen Urteil ist also weder kognitiv noch moralisch etwas auszusetzen, da es mit dem Bewusstsein der Vorläufigkeit und mit der Offenheit für eine weitere Untersuchung verbunden ist (vgl. AA XXIV: 862; vgl. 426). Werden die Erkenntniskräfte hingegen schlecht gebraucht, kann ein Kandidat für ein vorläufiges Urteil durch »Vorwitz« zu einem Vorurteil degenerieren (AA XXIV: 640; vgl. IX 75 f.). Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch bestimmen, was an Vorurteilen irrational ist: (a) Vorurteile sind erstens insofern widervernünftig, als sie einen Gebrauch der Vernunft als passives Vermögen darstellen, was der aktiven Natur der Vernunft widerspricht. (b) Vorurteile entspringen zweitens nicht-rationalen Quellen. Zu solchen nicht-rationalen Ursachen des Fürwahrhaltens zählt Kant: Nachahmung, Neigung und Gewohnheit, allgemein: den Hang des Verstandes oder der Vernunft, im Widerspruch zu ihrer Natur nicht selbst zu denken (AA XVI: 403; XXIV: 162 ff., 165, 187, 425, 547 f., 640 f., 865). Als Mittel, durch die wir uns an die Nachahmung gewöhnen, nennt Kant: Canones, Satzungen, Formeln, Sentenzen, Denksprüche und Redensarten. (c) Vorurteile immunisieren sich gegen Kritik. (d) Vorurteile gehen in der Regel mit einer Selbsttäuschung des Urteilenden einher. Besonders strittig war und ist die moralische Bewertung der Vorurteile. Nach Kant ist das Vorurteil ist nicht nur ein Mangel oder Defekt (also Privation), sondern geradezu ein Laster (vitium), also Realität (AA XVI: 417; Schneiders 1983: 293; Reisinger/Scholz 2001: 1259). Teils gegen Moser und Meier gerichtet, teils zur berühmten Preisfrage der Berliner Akademie zum Volksbetrug Stellung nehmend, fragt Kant, ob es erlaubt sei, Vorurteile zu befördern oder zumindest unangetastet zu lassen. Seine Antwort ist eindeutig: Es ist »nicht erlaubt« (AA XXIV: 170), ja: »ganz unverzeihlich« (AA XXIV: 186 f.) und »an sich strafbar, wenn man Vorurtheile in andern pflanzt.« (AA XXIX/1: 25) Da in der Moral, wie Kant selbst häufig betont hat, das Prinzip »Sollen impliziert Können« gilt (vgl. Timmermann 2003), wirft seine moralische Verurteilung der Vorurteile die Frage auf: Inwieweit unterliegen Urteile und Überzeugungen – insbesondere Vorurteile – unserer willentliche Kontrolle? Welche unserer Wahrnehmungen, Erinnerungen etc. wir für wahr halten, hängt sicher nicht unmittelbar davon ab, was wir wollen. Was wir aber in jedem Falle beeinflussen und steuern können, ist die Art und Weise, wie wir etwas untersuchen. Mit anderen Worten: Was wir wählen können, sind Untersuchungs- oder Forschungsmaximen. Wenn ich nicht erkennen kann, ob ein Turm, den ich in der Ferne erblicke, rund oder eckig ist, kann ich näher herangehen. Wenn ich ein Geräusch nicht identifizieren kann, kann ich versuchen, genauer hinzuhören oder störende Nebengeräusche auszuschalten. Wenn ich unsicher bin, ob das Resultat der Rechnung stimmt, kann ich noch einmal nachrechnen. Wenn ich im Zweifel bin,
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ob ich einem Zeitungsbericht Glauben schenken soll, kann ich Berichte aus anderen Zeitungen zum Vergleich heranziehen etc. Allgemein gesagt: wir sind oft in der Lage unsere epistemische Position zu verbessern. Vor allem aber sind wir in der Lage zwischen allgemeinen epistemischen Hintergrundeinstellungen und den entsprechenden Forschungsmaximen zu wählen; und für die jeweilige Wahl sind wir dann auch verantwortlich. Kant hat das Problem klar gesehen. In der Jäsche-Logik wirft er die Frage auf: »[…] Ob das Wollen einen Einfluß auf unsere Urteile habe?« (AA IX: 73) Kant räumt ein: »Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies wäre auch sehr ungereimt.« (AA IX: 73; vgl. AA XVI: 398) Er erkennt jedoch die Möglichkeit eines Einflusses auf den Verstandesgebrauch und damit eines indirekten Einflusses auf die zu bildende Überzeugung an: »Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt.« (AA IX: 74) Und schließlich ist nach Kant eine kritische Zurückhaltung des Urteils möglich; wir können (und sollen) der Maxime folgen, »ein bloß vorläufiges Urtheil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen.« (AA IX: 74) Handelt man gegen diese Maxime, drohen – wie gesehen – Vorurteile. Der Aufklärer Kant braucht also keineswegs vorauszusetzen, jede einzelne Überzeugung unterliege einer direkten willentlichen Kontrolle. Er hält Menschen allerdings für frei, zwischen Maximen der Urteilsbildung zu wählen und sich so für eine bestimmte Denkungsart zu entscheiden. Dabei unterlag er keineswegs einer naiven Illusion, dies sei stets leicht; es ist vielmehr schwer, aber eben durchaus möglich: »Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: »der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Statt dessen, daß bis dahin andere für ihn dachten und er bloß nachahmte oder am Gängelbande sich leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn gleich noch wackelnd, fortzuschreiten. (AA VII: 229) Bei Kant wird noch entschiedener als bei seinen Vorgängern Locke und Lambert herausgearbeitet, dass Vorurteile primär keine Einzelurteile, sondern Prinzipien oder Maximen von Urteilen sind. Vorurteile sind nicht etwa fehlerhafte Einzelurteile, sondern verkehrte subjektive Grundsätze zu urteilen, verkehrte Urteilsmaximen. Das Irrationale an Vorurteilen ist nicht das Versäumen einer vorausgehenden Untersuchung, die oft nicht leicht möglich ist und deren auch die unvermeidlichen vorläufigen Urteile ermangeln, sondern die Unterlassung der »Überlegung«, d. h. der Reflexion, ob sich das Urteil dem autonomen Verstand oder der passiven Sinnlichkeit verdankt. In einer Art von Selbsttäuschung wird das subjektive Vorurteil gleichwohl für ein bestimmendes, d. h. objektive Gültigkeit beanspruchendes Urteil gehalten. Das Vorurteil läuft somit, näher besehen, auf den »Hang […] zur Heteronomie der Vernunft« (AA V: 294) hinaus, der bei vielen Menschen durch »Faulheit und Feigheit« (AA VIII: 35) aufrechterhalten wird.
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4. Sollten wir die Vorurteile rehabilitieren? Im zweiten Teil des Vortrags möchte ich nun kurz zwei neuere Versuche zu einer Rehabilitation der Vorurteile vor dem Hintergrund der Vorurteilsdiskussion des 18. Jahrhunderts betrachten und kommentieren. Da es in diesem Heft um das Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung geht, wähle ich ein Beispiel, das die Geisteswissenschaften betrifft, und eines, bei dem vor allem an die Naturwissenschaften gedacht war. 4.1. Rehabilitierung der Vorurteile in den Geisteswissenschaften? Ich beginne mit Hans-Georg Gadamers Versuch einer hermeneutischen Rettung der Vorurteile. Gadamer hat sich in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (11960; 41975) an einer »Rehabilitierung von Autorität und Tradition« versucht, einschließlich einer »grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffs des Vorurteils und einer Anerkennung dessen, daß es legitime Vorurteile gibt« (Gadamer 41975: 261). Um diese Rehabilitierung zu motivieren, bemühte er die Behauptung einer »grundsätzliche[n] Diskreditierung aller Vorurteile« (a. a. O.: 260, vgl. 256) und die »Diffamierung aller Autorität« (263) durch die Aufklärung als düstere Kontrastfolie. Die Aufklärung habe ein »Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt« (255) gehegt, um so die »Entmachtung der Überlieferung« (255) und jeglicher Autorität zu betreiben. In Wahrheit seien, so Gadamers Gegenthese, »die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins« (261). Gadamers Thesen beruhen zunächst auf einer tendenziösen Auswahl der historischen Tatsachen, vor allem aber auf dem Rückfall hinter begriffliche Differenzierungen, die in der Aufklärung bereits geleistet worden waren. So haben die avancierten Aufklärer, wie wir sahen, sorgfältig zwischen zulässigen vorläufigen Urteilen, die der Untersuchung vorangehen, um sie vernünftig zu leiten, und schädlichen Vorurteilen unterschieden, die verwendet werden, um sich der Untersuchung zu überheben, da sie aus irrationalen Ursachen für bereits bestimmende Urteile gehalten werden. Die von Gadamer angeführten Bedingungen des Verstehens sind keine Vorurteile, sondern, wie von Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Weise, Christian August Crusius und Georg Friedrich Meier (um nur diese zu nennen) klar herausgearbeitet wurde, rationale Präsumtionen, genauer: Präsumtionsregeln mit anfechtbaren Präsumtionen (Scholz 1999). Den vorläufigen, für kritische Revisionen offenen, Charakter der hermeneutischen Präsumtionen, bringen Klauseln wie »bis das Gegenteil erwiesen werden kann« zum Ausdruck, die in der einen oder anderen Variante in allen Formulierungen vorkommen (Scholz 1999). Gadamers eigenes »Axiom aller Hermeneutik« (Gadamer 41975: 352), der sog. »Vorgriff der Vollkommenheit«, ist nur eine unpräzise und durch den Jargon
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Heideggers verdeckte Wiederaufnahme altbekannter hermeneutischer Prinzipien (vgl. Scholz 2005).
4.2. Vorurteile in den Naturwissenschaften? Mein zweites Beispiel einer Rehabilitierung findet sich bei dem Wissenschaftsphilosophen Karl Raimund Popper. Ich beginne mit einem Auszug aus einem Text aus den 1970er Jahren mit dem schönen Titel »Gegen die großen Worte«, der gut an die bisherigen Ausführungen anschließt. Das zitierte Textstück beginnt sogar mit einem überraschenden Schulterschluss mit Gadamer. In Wahrheit bin ich ebenso weit vom Positivismus entfernt wie (zum Beispiel) Gadamer: Ich habe nämlich entdeckt – und darauf begründet sich meine Kritik des Positivismus –, dass die Naturwissenschaft nicht positivistisch vorgeht, sondern im wesentlichen eine Methode verwendet, die mit »Vorurteilen« arbeitet; nur verwendet sie womöglich neue Vorurteile und Vorurteile, die kritisierbar sind, und unterwirft sie einer strengen Kritik. (Alles das findet sich schon in »Logik der Forschung«, 1934.) Ich habe sogar das Wort »Vorurteil« (»prejudice«) in diesem Sinn verwendet und gezeigt, dass Bacon, der gegen Vorurteile gewettert hat, die Methode der Naturwissenschaft missverstanden hat; siehe mein kleines Büchlein »On the Sources of Knowledge and Ignorance«, 1960, wiederabgedruckt in meinem Sammelband »Conjectures and Refutations«, siehe insbesondere S. 14. (Popper 1984, 107 f.)
Mir geht es um Poppers These, die Naturwissenschaft, oder besser im Plural: die Naturwissenschaften, verwendeten eine Methode, die mit Vorurteilen arbeitet: (Popper) Die Naturwissenschaften verwenden eine Methode, die mit Vorurteilen arbeitet.
Popper weist darauf hin, dass er seine These schon früher vertreten hat, und zwar bereits in seiner Logik der Forschung (erschienen 1934 mit der Jahreszahl 1935) und in einem Vortrag mit dem Titel On the Sources of Knowledge and Ignorance, den er im Januar 1960 vor der British Academy gehalten hat, und der in dem Sammelband Conjectures and Refutations (1963) nachgedruckt ist (Popper [1963] 1965: 3–30). Popper hat seine These nicht schamhaft in einer Anmerkung versteckt, sondern mit großer Emphase an prominenten Stellen vorgetragen. In der Logik der Forschung erscheint sie auf den letzten Seiten der Originalfassung von 1934, auf denen sich Popper in grundsätzlicher Weise »Rechenschaft geben« will, »welches Bild der Wissenschaft und der Forschung sie entwerfen« (Popper [1935] 91989: 223). Eine zentrale Stelle lautet:
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Vorläufige Urteile statt Vorurteile Zwar geben wir zu: Wir wissen nicht, sondern wir raten. Und unser Raten ist geleitet von dem unwissenschaftlichen, metaphysischen (aber biologisch erklärbaren) Glauben, dass es Gesetzmäßigkeiten gibt, die wir entschleiern, entdecken können. Mit Bacon könnten wir die »… Auffassung, der sich jetzt die Wissenschaft bedient, … Antizipationen …, leichtsinnige und voreilige Annahmen« […] nennen.« (223)
Francis Bacon hatte in seinem Novum Organum (1620) der von ihm abgelehnten Methode der »Antizipationen des Geistes« die seiner Ansicht nach richtige Methode der »Interpretation der Natur« gegenübergestellt. In dieser Methode spielen induktive Verfahren die entscheidende Rolle. In demselben Werk hat Bacon bekanntlich auch seine Idolenlehre entwickelt, eine der ersten systematischen Vorurteilstheorien (vgl. Schneiders 1983: 49–56). Popper hielt Bacons induktivistische Auffassung von der wissenschaftlichen Methode bekanntlich für grundfalsch. Dabei griff er das von Bacon abgelehnte Konzept einer Antizipation positiv auf. Wir finden also in der Logik der Forschung eine frühere Version der These: (Popper 1934) Die Naturwissenschaften verwenden eine Methode, die mit Antizipationen (im Sinne Francis Bacons) arbeitet.
In On the Sources of Knowledge and Ignorance (1960) hat Popper seine Kritik an Bacon wiederholt. Hier betonte er ausdrücklich, dass »Antizipation« »›prejudice‹ or even ›superstition‹«, also: »Vorurteil« oder sogar »Aberglauben«, bedeute (Popper [1963] 1965: 14). So gelangte er schließlich zu seiner These: (Popper) Die Naturwissenschaften verwenden eine Methode, die mit Vorurteilen arbeitet.
Poppers Kritik an Bacon wirft eine Reihe Fragen auf, die zum einen die Angemessenheit seiner Bacon-Interpretation angehen, zum anderen die sachliche Berechtigung seiner Kritik an Bacons induktivistischer Methodologie. Diese Fragen können in diesem Rahmen natürlich nicht erörtert werden. Mich interessiert in unserem Zusammenhang eine andere Frage: Ist Poppers Kernthese berechtigt? Verwenden die Naturwissenschaften tatsächlich eine Methode, die mit Vorurteilen arbeitet? Klären wir zunächst, wie Poppers These zu verstehen ist. Offenbar wollte er nicht nur sagen, dass es in der Geschichte der Naturwissenschaften hin und wieder Vorurteile gab, die Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung der Naturwissenschaften hatten. Das wäre trivial; man denke nur an die unkritische Berufung auf Aristoteles und andere antike Autoritäten im Mittelalter. Offenbar wollte Popper etwas ungleich Stärkeres sagen:
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Oliver R. Scholz (Popper +) Die Naturwissenschaften verwenden notwendigerweise eine Methode, die mit Vorurteilen arbeitet.
Nun ist eine Methode »ein nach Mittel und Zweck planmäßiges […] Verfahren, das zu technischer Fertigkeit bei der Lösung theoretischer und praktischer Aufgaben führt« (Lorenz 1984: 876; ders. 2013: 379) Arbeiten Wissenschaftler also, wie Popper nahegelegt hat, planmäßig mit Vorurteilen? Nun, jede Erfahrungswissenschaft sammelt Daten und formuliert Annahmen, die mit der Zeit zu einem umfangreichen System von Annahmen anwachsen. Deshalb muss sich jede empirische Disziplin Rechenschaft ablegen über die Beziehungen zwischen den Daten oder Belegen (e1, e2, …, en) auf der einen und den aufgestellten Hypothesen (h1, h2, …, hn) und Theorien auf der anderen Seite. So müssen Wissenschaftler die evidentielle Bedeutung der gesammelten Daten beurteilen, d. h.: beurteilen, ob ein Datum, sei es durch Beobachtung, Messung oder Experiment gewonnen, eine gegebene Hypothese h (i) stützt oder (ii) entkräftet oder ob sie (iii) irrelevant für h ist. Und wenn eine für den jeweiligen Untersuchungszweck hinreichende Auswahl der verfügbaren Daten oder Belege gesammelt worden ist, müssen die Wissenschaftler beurteilen, ob die fragliche Hypothese akzeptiert oder zurückgewiesen werden sollte oder keines von beiden (vgl. Lipton 2000: 184; ders. 22004). Weder die einzelnen Hypothesen noch die allgemeineren forschungsleitenden Prinzipien (z. B. die Annahme einer Gleichförmigkeit der Natur, Einfachheitsannahmen etc.) brauchen dabei als Vorurteile verwendet zu werden. Solange sie im Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit und Revidierbarkeit gebraucht werden, handelt es sich um vernünftige vorläufige Urteile in dem von Lambert und Kant erläuterten Sinne.
5. Schluss Soweit meine beiden Beispiele von Versuchen, die Vorurteile schön zu reden. Die Beispiele ließen sich vermehren. Besonders in den Kulturwissenschaften haben Rehabilitationen und Nobilitierungen von Vorurteilen und anderen Formen des Irrationalen heutzutage Hochkonjunktur. Ein unlängst erschienener Sammelband adelt den Aberglauben zur Kulturtechnik (Kreissl (Hg.) 2013); das Parallelunternehmen Kulturtechnik Vorurteile dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Trotz Gadamer, Popper und ihren »Nachfolgern« bleibt es dabei: Vorurteile und Aberglauben sind irrationale Maximen der Bildung und Festigung von Urteilen, die dann fälschlich für definitive Urteile gehalten werden und so gegen Kritik abgeschirmt werden. Da wir in der Wahl von Urteilsmaximen grundsätzlich frei sind, sind wir auch für unsere Vorurteile verantwortlich, zumindest mitverantwortlich. An Vorurteilen festzuhalten oder sie gar zu pflegen, ist aus epistemischen und moralischen Gründen falsch. Andere Personen vorsätzlich in ihren
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Vorurteilen zu belassen oder gar ihnen neue Vorurteile einzupflanzen, ist ein großes Unrecht. Was die Geschichte der Wissenschaften angeht, so gab und gibt es in ihnen immer wieder folgenreiche Vorurteile, insbesondere Vorurteile der Autorität. Aber weder in den Geisteswissenschaften noch in den Naturwissenschaften sind wir gezwungen, mit Vorurteilen zu arbeiten, wie Gadamer und Popper nahelegen wollten. Von vorläufigen Urteilen müssen wir dagegen in allen Forschungsprozessen ständig Gebrauch machen; aber das ist auch in bester Ordnung, solange wir uns ihrer Vorläufigkeit bewusst bleiben und sie nicht gegen Kritik immunisieren.
Literatur Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960; 4. Auflage, Tübingen 1975. Hinske, Norbert: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone (Hrsg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, Deutsche Bearbeitung von Rainer Specht und Norbert Hinske, Stuttgart 1990, S. 407–458. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff. (= AA) Kreissl, Eva (Hg.): Kulturtechnik Aberglaube: Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls, Bielefeld 2013. Lambert, Johann Heinrich: G.F. Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts […], in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 10/I, 1769, S. 184– 189; zitiert nach: ders.: Philosophische Schriften, Band VII/2: Logische und philosophische Abhandlungen, hg. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim 1969, S. 206–212. Lipton, Peter: Inference to the best Explanation, in: Newton-Smith, W.H. (Hg.): A Companion to the Philosophy of Science, Oxford 2000, S. 184–193. Lipton, Peter: Inference to the best Explanation, London und New York 22004. Locke, John: Of the Conduct of the Understanding [1706], in: ders.: The Works, Band 3, London 1823 (ND 1963), S. 203–289. Locke, John: Anleitung des menschlichen Verstandes & Eine Abhandlung von den Wunderwerken, in der Übersetzung von Georg David Kypke, hg. v. Terry Boswell, Riccardo Pozzo u. Clemens Schwaiger, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996. Lorenz, Kuno: »Methode«, in: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, Mannheim, Wien und Zürich 1984, S. 876–878; 2., neubearbeitete und wesentlich ergänzte Auflage, Band 5, Stuttgart und Weimar 2013, S. 379–383. Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre, Halle im Magdeburgischen 1752 (ND Hildesheim 2015). [= Meier 1752a] Meier, Georg Friedrich: Auszug aus der Vernunftlehre, Halle im Magdeburgischen 1752. [= Meier 1752b]
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Oliver R. Scholz Meier, Georg Friedrich: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle im Magdeburgischen 1766; Edizione critica – Kritische Ausgabe, Italienisch – deutsch, hg. v. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske und Paola Rumore, Pisa 2005. Moser, Friedrich Carl Freiherr von: Beherzigungen, Frankfurt am Main 1761. Petrocchi, Ivano: Lockes Nachlaßschrift »Of the Conduct of the Understanding« und ihr Einfluß auf Kant. Das Gleichgewicht des Verstandes – Zum Einfluß des späten Locke auf Kant und die deutsche Aufklärung, Frankfurt am Main (etc.) 2004. Popper, Karl R.: Logik der Forschung, Wien 1935; 9., verbesserte Auflage, Tübingen 1989. Popper, Karl R.: Conjectures and Refutations, London 1963, Revised edition, London 1965. Popper, Karl R.: Gegen die großen Worte, in: ders. 1984: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1984, S. 99–113. Reisinger, Klaus: Urteil, vorläufiges, in: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried/ Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11: U-V, Basel 2001, Sp. 473–479. Reisinger, Klaus/Scholz, Oliver R.: Vorurteil I., in: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried/ Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11: U-V, Basel 2001, Sp. 1250–1263. Schneiders, Werner: Irrtum, Schein und Vorurteil. Zu Lamberts Theorie der Scheinerkenntnis, in: CNRS (Hrsg.): Colloque international et interdisciplinaire Jean-Henri Lambert (Mulhouse, 26–30 septembre 1977), Paris 1979, S. 147–152. Schneiders, Werner: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart – Bad Cannstatt 1983. Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität, Frankfurt am Main 1999, 22001, 32016. Scholz, Oliver R.: Die Vorstruktur des Verstehens. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses zwischen traditioneller Hermeneutik und ›philosophischer Hermeneutik‹, in: Schönert, Jörg/ Vollhardt, Friedrich (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin und New York 2005, S. 443– 472. Timmermann, Jens: Sollen und Können. ›Du kannst, denn du sollst‹ und ›Sollen impliziert Können‹ im Vergleich, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 6, 2003, S. 113–122. Voltaire: Dictionnaire philosophique, herausgegeben von Julien Benda und Raymond Naves, Paris 1954. Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon, 4. Auflage, hg. v. J. Chr. Hennings, Leipzig 1775 (ND Hildesheim 1968).
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Wie »pragmatisch« dürfen Explikationen des Begriffs »Tod des Menschen« sein? Überlegungen anlässlich der Vierten Fortschreibung der Richtlinien für die Todesfeststellung Dieter Birnbacher
1. Einleitung Wissenschaft war und ist eine Triebkraft von Aufklärung. Indem sie die Welt Stück für Stück transparenter macht, macht sie auch uns selbst für uns transparenter, stiftet über Welterkenntnis hinaus Selbsterkenntnis. Zur Selbsterkenntnis gehört es aber auch, die Grenzen zu erkennen, die der Wissenschaft bei Fragen der Weltdeutung und der Handlungsorientierung gesetzt sind. Auch das Verständnis davon, wo die Grenzen menschlichen Lebens zu ziehen sind, ist nicht vollständig »wissenschaftlich« zu begründen. Es bleibt ein »anthropologischer Rest«, über den über alle Befunde der Wissenschaften vom Menschen hinaus diskursiv verhandelt werden muss. Handelte es sich bei der Frage der Todesdefinition um eine bloße Faktenfrage, wäre schwer erklärlich, dass der Dissens über das angemessene Todesverständnis bereits so lange fortdauert. Wie tiefgreifend der Dissens ist, hat zuletzt noch einmal die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats gezeigt (Deutscher Ethikrat 2015), die nach umfassender Würdigung aller relevanten Argumente pro und contra lediglich zu einem gespaltenen Votum geführt hat. Bemerkenswert ist, dass diese seit mehreren Jahrzehnten anhaltende Kontroverse die in der Praxis mit der Todesfeststellung befasste Ärzteschaft von Anfang an merkwürdig unbeeindruckt gelassen hat. Die kritischen Thesen des amerikanischen Neurologen Alan Shewmon zur Gleichsetzung des Todes des Menschen mit dem irreversiblen Ausfall seiner Hirnfunktionen und die ausführliche Befassung des US-amerikanischen President!s Council mit ihnen (President!s Council 2008) haben daran ebenso wenig geändert wie die Kontroverse im Deutschen Ethikrat. Von einem »Revival der Hirntod-Debatte« (Müller 2010) konnte, was die Medizin betrifft, zu keinem Zeitpunkt ernsthaft die Rede sein. Dies ist um so merkwürdiger, als sich u. a. auch ein Teil der im Deutschen Ethikrat vertretenen Ärzte (darunter auch die Vorsitzende) dem Minderheitsvotum angeschlossen hat, das gegen eine Gleichsetzung argumentiert. Auch die am 30. 3. 2015 veröffentlichte und damit für alle Ärzte verbindliche Vierte Fortschreibung der Richtlinien für die Todesfeststellung durch die Bundesärztekammer hält an der Identifikation des Todes des Menschen mit dem »Hirntod«, verstanden als irreversibler Funktionsverlust des Gesamtgehirns, fest. In einem der ersten Absätze findet man die Aussage:
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Dieter Birnbacher »Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.« (Bundesärztekammer 2016, 2)
Diese Formulierung unterscheidet sich nur sprachlich von den entsprechenden Aussagen der Dritten Fortschreibung von 1997: »Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. […] Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms.« (Bundesärztekammer 1998)
Auch wenn in beiden Fassungen lediglich von der Feststellung des Todes und nicht vom Tod selbst die Rede ist, wird doch beide Male unterstellt, dass mit dem irreversiblen Hirnausfall der Tod eingetreten ist. Da der Tod selbst nicht eindeutig zeitlich datiert und stets nur verbindlich »festgestellt« werden kann, dass der Tod zum Zeitpunkt der Feststellung eingetreten ist, dient der Hinweis auf die »Feststellung« lediglich der Eindeutigkeit der Datierung. Eine nicht unwichtige Änderung der neuen Formulierung gegenüber der älteren ist allerdings die Vermeidung des Ausdrucks »Hirntod«. Diese Änderung ist begrüßenswert. Der Ausdruck »Hirntod« ist missverständlich, insofern er nahelegt, zwischen den Begriffen Tod und Hirntod bestehe eine analytische Verbindung, mit der Folge, dass die Gleichsetzung von Hirntod und Tod bereits aus begrifflichen Gründen gegen eine Infragestellung immun wäre. »Hirntod« ist aber zunächst nichts anderes als der irreversible Funktionsausfall des Gehirns. Wie weit damit auch der Tod des Menschen eingetreten ist, ist damit nicht präjudiziert, jedenfalls nicht bereits aus semantischen Gründen. Dennoch ist zu bezweifeln, dass es der neuerlichen Fortschreibung gelingen wird, die Fraktion der Gegner der Gleichsetzung von irreversiblem Hirnfunktionsausfall und Tod zu überzeugen, Dazu wurzelt der Konflikt zu tief in differierenden kulturellen Vorstellungen von Leben und Tod. Auch wenn die die Gleichsetzung von irreversiblem Hirnausfall und Tod mittlerweile in nahezu allen Rechtsordnungen verankert ist, wird sie weiterhin in großen Teilen der Welt in Frage gestellt, vielfach aus Gründen der Loyalität gegenüber kulturellen und religiösen Überlieferungen, die Leben und Tod eher mit der Intaktheit zentraler Organfunktionen wie Atmung und Blutkreislauf als mit der Aufrechterhaltung von Hirn- oder Bewusstseinsaktivität verknüpfen. Skeptische Stimmen finden sich auch in der akademischen Welt, nicht zuletzt in der Bioethik. Einer der einflussreichsten philosophischen Kritiker der Gleichsetzung von Hirntod und Tod war Hans Jonas, der bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung der Todesdefinition des Harvard Ad hoc Committees im Jahr 1968 von einer »pragmatischen Umdefinierung« des Todes sprach (vgl. Jonas 1985, 219 ff.). Er unter-
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stellte dem Harvard-Komitee, dass es sich wesentlich von der Intention leiten ließ, die aufkommende Praxis der postmortalen Organtransplantation durchbluteter Organe abzusichern, die andernfalls – falls die Organe vom noch Lebenden entnommen würden – die dead donor rule verletzen würde. Zwar war die Ermöglichung postmortaler Organtransplantationen nicht die einzige leitende Intention der Autoren der Harvard-Definition. Es ging ihnen auch darum, einen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem auf jede weitere Behandlung – kurativ oder palliativ – verzichtet werden sollte. Aber es steht außer Zweifel, dass das zeitliche Zusammenfallen von beginnender Transplantationspraxis und Neubestimmung des Todes keineswegs zufällig war. Jonas legte seiner Polemik allerdings philosophisch zweifelhafte Prämissen zugrunde. Sein Hauptargument war, dass die Definition des Todes durch den vollständigen und unumkehrbaren Ausfall der Hirnfunktion »unsicher« sei (Jonas 1985, 233). Er schien von der Annahme auszugehen, es könne so etwas wie »richtige« Definition geben. Aber wenn etwas hinsichtlich des Todesbegriffs unsicher ist, dann nicht, ob eine Definition richtig oder falsch ist, sondern ob ihr ein angemessenes oder akzeptables Verständnis des Todes zugrunde liegt. Die Unsicherheit bezieht sich nicht darauf, ob ein Hirntoter – einem verbreiteten Argwohn entsprechend – möglicherweise doch noch zu einem bewussten Erleben fähig ist, sondern darauf, welche Todesdefinitionen als überzeugend gelten kann. Nicht um eine Faktenfrage geht es, sondern um eine Frage des Verständnisses. Die Frage ist, welche der miteinander konkurrierenden Definitionsvorschläge als der angemessenste und plausibelste gelten kann und wie weit man sich angesichts der Unsicherheit darüber – im Sinne eines »definitional tutiorism« (Walton 1980, 22) – konservativ verhalten und die althergebrachte Definition unangetastet lassen sollte, wie immer prohibitiv sich diese auch auf die medizinische Praxis auswirken mag.
2. Hirntod = Tod: Definition, Analyse oder Explikation? Eine »richtige« Definition des Todes kann es auch deshalb nicht geben, weil der Tod keine Tatsache ist wie andere von der wissenschaftlichen Medizin beschriebene Tatsachen. Systematische Gründe sprechen dagegen, die Frage nach dem angemessenen Todesverständnis für eine empirisch zu klärende oder im weiteren Sinne naturwissenschaftliche Frage zu halten. Leider ist auch das deutsche Transplantationsgesetz nicht ganz frei von der Suggestion, diese Frage ließe sich wissenschaftlich klären, wenn es fordert, die Feststellung des Todes habe dem »Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft« zu entsprechen. Selbstverständlich müssen die Modalitäten der Feststellung des Todes dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Aber sie sind für sich genommen nicht hinreichend, das Festzustellende, den Tod des Menschen, zu definieren und damit zu
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klären, was der Gegenstand der Feststellung ist und wonach sich die Eignung der jeweiligen Methoden im Einzelnen bemisst. Bei der »Hirntoddefinition« handelt es sich nicht um eine wie immer geartete empirische oder theoretische Erkenntnis, sondern um eine Definition, d. h. um die normativ geleitete Festlegung der Bedeutung und der Anwendungskriterien des Begriffs »Tod eines Menschen«. »Festlegung« soll dabei nicht besagen, dass es sich um eine bloß willkürliche Konvention handelt. Es soll nur besagen, dass die Gründe ihrer Akzeptabilität anderer Art sind als die Gründe für die Akzeptierung einer wissenschaftlichen Hypothese. Man kann sich über alle wissenschaftlichen Fragen, die den Tod betreffen, einig sein, und dennoch abweichende Auffassungen darüber vertreten, was als »Tod eines Menschen« gelten soll. Damit wird die Rolle der wissenschaftlichen Medizin in keiner Weise geschmälert. Sie leistet zu einer sachgerechten Bestimmung der Grenze zwischen Leben und Tod unverzichtbare Hilfestellungen. Sie entscheidet etwa über die Zuverlässigkeit der Tests, mit deren Hilfe der Tod festgestellt werden kann. Wird das Hirntodkriterium zugrunde gelegt, ist es Sache der Neurologie zu entscheiden, wie zuverlässig ein bestimmtes klinisches oder apparatives Testverfahren (oder eine Kombination solcher Verfahren) anzeigt, dass die Hirntätigkeit eines Menschen vollständig und irreversibel ausgefallen ist. Wird ein Herz-KreislaufKriterium zugrunde gelegt, ist es Sache der Physiologie sowie der medizinischen Erfahrung zu entscheiden, wann eine Reanimation aussichtslos und der Tod unumkehrbar eingetreten ist. Das heißt jedoch nicht, dass die wissenschaftliche Medizin auch die Kompetenz besitzt, die diesen Verfahren zugrundeliegende Definitionen von Leben und Tod festzulegen. Welche Definition vernünftig und angemessen ist, lässt sich zwar nur unter Berücksichtigung empirischer Befunde, aber nicht auf der Grundlage empirischer Befunde entscheiden. Ob ein Testverfahren oder ein Kriterium gültig ist, hängt von den Verhältnissen in der Welt ab. Ob eine Definition adäquat oder zweckmäßig ist, hängt von den Maßstäben ab, die wir für die Angemessenheit oder Zweckmäßigkeit einer Definition gelten lassen. Definitionen sind man made und nicht – wie Tests und Kriterien, empirische Verallgemeinerungen und Gesetzesaussagen – wahr oder falsch. Sie sind allenfalls sinnvoll oder sinnlos, angemessen oder unangemessen, zweckmäßig oder unzweckmäßig. Zu fragen ist allerdings, ob der Ausdruck »Definition« in der Zusammensetzung »Hirntoddefinition« seinerseits angemessen ist. Dagegen spricht, dass ihrem herkömmlichen Verständnis nach für »Definitionen« ein Spielraum der sprachlichen Festlegung besteht, der für die »Definition« des Todes durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall nicht besteht. Diese »Definition« ist anerkanntermaßen mehr als eine bloße Sprachregelung. Sie soll zwar an im Alltagsverständnis und Alltagssprachgebrauch etablierte Merkmale anknüpfen und sich nicht nur von theoretischen oder praktischen Zweckmäßigkeitserwägungen leiten lassen. Aber auf der anderen Seite muss sie schon deshalb mehr sein als eine bloße Analyse herrschender Denkweisen, weil es keine einheitliche »herrschende
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Denkweise« gibt, die zum Gegenstand einer Analyse gemacht werden könnte. Das Bemühen um eine Begriffsanalyse würde eher nur den Dissens über die »richtigen« Kriterien des Todes aufdecken als auf eine Begriffsbestimmung führen, die Adäquatheit beanspruchen könnte. (Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach dem Zeitpunkt des Lebensbeginns, vgl. Krones u. a. 2006). Auch wenn es den Anschein hat, dass die »Hirntoddefinition« u. a. aufgrund ihrer rechtlichen Geltung zunehmend Akzeptanz findet, existieren signifikante Minderheiten, die sie als inakzeptabel ablehnen. In Japan und anderen Ländern Ostasiens wird es von den Bevölkerungen weitgehend abgelehnt und in der ärztlichen Praxis nach wie vor nur zögerlich befolgt (vgl. Lock 2001). In den US-Bundesstaaten New York und New Jersey ist den Bürgern sogar die Möglichkeit eingeräumt worden, das Hirntodkriterium für sich durch individuelle Willenserklärung abzulehnen – eine Regelung, die den orthodoxen Juden entgegenkommt, für die der Tod mit dem »letzten Atemzug« zusammenfällt. Angemessener denn als medizinisch-naturwissenschaftliche Tatsache, Definition oder Analyse wird die »Hirntoddefinition« als das verstanden, was in der Wissenschaftstheorie Explikation heißt – als eine Begriffserklärung, die an ein bestehendes Begriffsverständnis anknüpft, dieses aber nicht einfach abbildet. Anders als eine stipulative Definition ist sie andererseits nicht ausschließlich an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientiert, sondern schließt an bestehende Vorverständnisse an. Was sie von einer Analyse unterscheidet, die ähnlich wie eine Tatsachenbeschreibung zutreffend oder unzutreffend sein kann, ist, dass sie stärker unter normativen Zwecken steht. Ob eine Explikation angemessen ist, entscheidet sich u. a. an den sie leitenden Zwecksetzungen. Diese können dabei durchaus auch kontextspezifisch sein. Anders als bei einer Analyse können alternative und unvereinbare Explikationen für ein und denselben Ausgangsbegriff nebeneinander existieren, entweder weil damit unterschiedliche Zwecke verfolgt werden, oder weil sie in Bezug auf ein und denselben Zweck gleichwertig erscheinen. Neben ihren Sachaspekten tragen Explikationen insofern unverkennbar konventionelle Züge. Am deutlichsten machen sich diese konventionellen Züge bei Explikationen von Begriffen in formalen Sprachen bemerkbar, etwa in Gestalt unterschiedlicher Formalisierungen. So ist es eine reine Sache der Konvention, ob man in der Mengentheorie bei der Darstellung geordneter Paare den Formalisierungsvorschlägen von Wiener oder von Kuratowski folgt (Quine 1980, 447). Jeder mit einer derartigen Entscheidung verbundene »Anflug von Paradoxie« rührt Quine zufolge »nur von der Annahme her, es gebe eine einzige richtige Analyse – ein Irrtum« (Quine 1980, 448). Auch Carnap, auf den das Konzept der Explikation wesentlich zurückgeht, räumte die Möglichkeit ein, dass es für ein und dasselbe Explikandum mehr als ein Explikat geben kann. Den Grund dafür sah er darin, dass ein Explikat mehrere Anforderungen zugleich erfüllen soll und dass diesen Anforderungen jeweils unterschiedliches Gewicht beigemessen werden kann. So ist etwa die Kontinuität der Bedeutung des Explikats mit der Bedeutung des
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Explikandumbegriffs nur eine von mehreren Anforderungen. Für den vorwissenschaftlichen Begriff »Fisch« könnte es deshalb mehr als ein wissenschaftliches Explikat geben, je nachdem, welche Aufgaben dem Explikat innerhalb einer Theorie zugewiesen werden und wieviel Nähe zum umgangssprachlichen Begriff dafür wünschenswert scheint (Carnap 1963, 6). Trotz der Vielfalt der Optionen dürfte sich innerhalb relativ homogener Kontexte zur Erleichterung der Kommunikation die Festlegung auf eine einzige Explikation empfehlen. Andernfalls wären Missverständnisse vorprogrammiert. Dies gilt angesichts ihrer zentralen anthropologischen Bedeutung und die grenzüberschreitende Debatte in Medizin und Bioethik insbesondere auch für den Todesbegriff. Es wäre höchst misslich, statt mit einem univoken Todesbegriff mit zwei oder mehreren solcher Begriffe umgehen zu müssen, etwa einem mentalistischen und einem davon unterschiedenen biologischen Todesbegriff (McMahan 2002, 423) oder zwischen zwei Begriffen (»passing away« und »deanimation«), die verschiedene Zeitpunkte eines Sterbeprozesses bezeichnen (Shewmon 2010).
3. Anforderungen an Explikationen Die von Carnap angeführten vier Anforderungen an Explikationen sind zunächst nur auf logische und naturwissenschaftliche Anwendungskontexte bezogen. Einige von ihnen können aber problemlos so interpretiert werden, dass sie auch für praktische Kontexte gelten. Die erste Anforderung, Ähnlichkeit mit dem Explikandum, gilt zweifellos generell für alle Explikationen. Diese Anforderung besagt, dass das Explikat in der Mehrzahl der Fälle, in denen das Explikandum faktisch verwendet wird, das Explikandum ersetzen können soll. Gleichzeitig soll es sich aber von diesem unterscheiden, wobei die Unterschiede durchaus auch erheblich sein können (Carnap 1963, 7). Die zweite Anforderung, die der Exaktheit, verlangt, dass die Explikation geeignet ist, in einen systematischen Theoriezusammenhang eingebettet zu werden. Anders als der Explikandumbegriff soll sie sich in die für den jeweiligen Bereich geltenden wissenschaftlichen Theorien integrieren lassen. Impliziert ist damit, dass die Hinzufügung des Explikats in den jeweiligen Theoriekontext weder die Kohärenz noch die Erklärungskraft dieses Kontexts gefährdet. Für einen praktisch relevanten Begriff wie den Begriff des Todes heißt das, dass das Explikat mit den anthropologisch-medizinischen Standardtheorien soweit übereinstimmt, dass es nicht zu Widersprüchen kommt und dass sie keine heterogenen Elemente einbringt, die die Kohärenz und Erklärungskraft dieser Theorien mindert. Es ist klar, dass nicht alle denkbaren Explikate für den Todesbegriff dieser Anforderung gerecht werden. So lassen sich etwa zahlreiche esoterische Vorstellungen, etwa die einer die organischen Lebensfunktionen steuernden
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Geistseele oder die eines Astralleibs, nur schwer mit dem Stand des anthropologischen Wissens vereinbaren. Sie bleiben innerhalb der Wissenschaft vom Menschen ein nicht integrierbarer Fremdkörper. Für das Desiderat der Exaktheit liegt, soweit praktische Kontexte betroffen sind, noch eine weitere Interpretation nahe, die in den Theoriekontexten, an die Carnap dachte, weniger relevant ist: die Anforderung, dass das Explikat hinreichend operationalisierbar ist, um über das Vorliegen der mit seiner Hilfe konstituierten Sachverhalte verlässlich entscheiden zu können. Das Explikat sollte wenn immer möglich so gefasst sein, dass geprüft werden kann, ob es in real gegebenen Fällen erfüllt ist (vgl. Radnirtzky 1989, 74). Für den Fall des Todes bedeutet das, dass wissenschaftlich gesicherte Todeskriterien und Testverfahren zur Todesfeststellung zur Verfügung stehen. Solche sind insbesondere auch für einen zivil- wie strafrechtlich so zentralen Begriff unentbehrlich. Wann immer ein Explikat zur Grundlage rechtlicher Normierungen wird, ist »Exaktheit« in diesem Sinne u. a. ein Gebot der Rechtssicherheit. Das dritte von Carnaps Anforderungen, Fruchtbarkeit, bezieht sich zu eindeutig auf logische und wissenschaftliche Kontexte, um auf praktische Kontexte übertragbar zu sein. Carnap dachte bei diesem Kriterium primär an die Chance eines Explikats, innerhalb wissenschaftlicher Theorien zur Erklärung von wissenschaftlichen Befunden mithilfe von Gesetzen beizutragen. Ein wissenschaftlicher Begriff sei um so fruchtbarer, je mehr er zur Formulierung von Gesetzen verwendet werden kann, und ein Explikat sei in diesem Sinn häufig fruchtbarer als das jeweilige der Alltagssprache entnommene Explikandum (Carnap 1983, 6). Für praktische Kontexte, in denen es primär nicht um theoretische Erklärung, sondern um Normierung und Handlungsorientierung geht, lässt sich dieses Desiderat nur so weit aufrechterhalten, als es auf das System von praktischen Begriffen angewendet wird, die für denselben jeweiligen Handlungskontext relevant sind. »Fruchtbarkeit« bedeutet dann weniger die Chance, in Gesetze mit Erklärungsfunktion einzugehen, als vielmehr die Chance, neue Handlungskonzepte, Verfahrensregeln und Verhaltensanforderungen zu generieren. Carnaps vierte Anforderung, Einfachheit, ist ebenfalls primär an wissenschaftlichen Kontexten orientiert und insbesondere an dem Erfordernis, ein Explikat so einfach zu halten, dass es gelehrt und gelernt und für eine kulturell heterogene globale Gemeinschaft von Wissenschaftlern akzeptierbar ist. Carnap räumt allerdings ein, dass dieses Desiderat nur von sekundärer Bedeutung sein kann. Es soll nur so weit zum Zuge kommen, als nicht bereits die übrigen drei Desiderate den Ausschlag geben. Viele in der Wissenschaft gebräuchlichen Explikate seien alles andere als einfach, bewährten sich aber dennoch aufgrund ihrer wissenschaftlichen Zweckmäßigkeit (Carnap 1983, 7). Einfachheit ist zweifellos auch in praktischen Kontexten ein Desiderat, insbesondere dann, wenn ein Explikat nicht nur intersubjektiv, sondern auch interkulturell vermittelbar sein soll. Es sollte soweit verständlich gemacht werden können, dass es auch für Menschen,
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die sich anderen als der wissenschaftlichem Weltsicht verpflichtet fühlen, akzeptabel sein kann.
4. Wie »pragmatisch« sind die Standanforderungen an Explikationen? »Pragmatisch« ist ein offener Begriff, der sich in vielerlei Weise ausdifferenzieren lässt. Seinem Kerngehalt nach bezieht er sich in Bezug auf sprachliche und gedankliche Phänomene auf deren Anwendungsdimension im Gegensatz zu ihren semantischen und sachlichen Dimensionen. »Pragmatisch« in diesem Sinne ist eine Charakterisierung, die zweifellos sowohl auf die Grundidee der Explikation als auch auf jede einzelne ihrer »klassischen« Anforderungen zutrifft. Explikationen haben das erklärte Ziel, vage und in ihrem Gebrauch uneindeutige Begriffe einer Sprache durch ein Explikat zu ersetzen, das ein Mehr an Eindeutigkeit, Exaktheit, Konsensfähigkeit und Operationalisierbarkeit bietet und insofern einerseits dem Erkenntnisfortschritt, andererseits der effizienten und abgestimmten Verfolgung praktisch gerechtfertigter Zwecke besser dient als die vorhandenen begrifflichen Mittel. Eine »pragmatische« Funktion ist insofern jeder Explikation wesentlich. Explikationen für praktische Begriffe haben allerdings eine »pragmatische« Dimension mehr. Sie sind nicht nur auf Wahrheit, sondern auch auf das Gute verpflichtet. Entsprechend tritt bei ihnen zu den Anforderungen an ihre theoretische Angemessenheit eine spezifische Anforderung hinzu, die bei den rein erkenntnisbezogenen Mitteln in der Regel vernachlässigt werden kann: die Anforderung der ethischen Akzeptabilität ihrer Anwendung in der Praxis. Ein Explikat, das in praktischen Kontexten mit einer gewissen Verbindlichkeit ausgestattet wird – etwa dadurch, dass es in rechtliche Regelungen eingeht –, muss sich über die von Carnap genannten erkenntnisbezogenen Kriterien hinaus u a. auch danach fragen lassen, wie weit seine Anwendung eine unter moralischen Gesichtspunkten gerechtfertigte Praxis konstituiert, ermöglicht oder unterstützt. Unterstützt wird eine Praxis von praktisch relevanten Explikaten dabei nicht erst dann, wenn sie in ausdrückliche Normierungen wie Gesetze, Verfahrensregeln oder Leitlinien eingeht, sondern auch unabhängig davon bzw. in deren Vorfeld durch ihren akzeptierenden Gebrauch. Wie andere praktisch relevante und damit handlungsleitende Begriffe sind auch zu Zwecken der Vereindeutigung eingeführten Explikate in der Regel in sehr viel höherem Maße mit werthaften Konnotationen besetzt als ausschließlich erkenntnisrelevante und wirken auf Werthaltungen und normative Einstellungen zurück. Das ist insbesondere ablesbar an dem Streit um die angemessene Begriffswahl in moralisch kontroversen Bereichen. Wer etwa den assistierten Suizid unter den Begriff »aktive Sterbehilfe« subsumiert, ist mit großer Wahrscheinlichkeit jemand, der moralische Vorbehalte gegen diese Praxis hat. Wer ihn sogar unter »Tötung« einordnet, ist es mit Si-
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cherheit. Entsprechendes gilt für Explikate wie »Tötung auf Verlangen« (statt des mehrdeutigeren und stärker positiv konnotierten Begriffs »Sterbehilfe«) oder die »Verwerfung« von unerwünschten künstlich erzeugten Embryonen (statt der stärker negativ konnotierten »Selektion«). Erhalten die »pragmatischen« Merkmale der Angemessenheit einer Explikation dadurch eine besondere Qualität, dass sie im Fall von praktisch relevanten Begriffen u. a. die moralische Vertretbarkeit der durch sie ermöglichten oder unterstützten Praktiken berücksichtigen müssen? Das ist nicht zu sehen. Was durch das Merkmal der moralischen Gerechtfertigtheit der Verwendungszwecke hinzukommt, ist eine weitere Dimension der Zwecke, in Bezug auf die von Explikationen Funktionalität erwartet wird. Sie sollen nicht nur zweckrational in dem Sinne sein, dass sie für die Zwecke, auf die sie bezogen sind, geeignet sind, sondern die Zwecke selbst, denen sie dienen, sollen im ethischen Sinn rational sein. Damit erweitert sich der Katalog der von Explikationen in praktischen Kontexten erwarteten Leistungen. Nicht erweitert wird dadurch jedoch der Sinn, in dem in Bezug auf diese erweiterten Zwecke von Explikationen gesagt werden kann, dass sie partiell immer auch »pragmatisch« motiviert sind.
5. Der Stein des Anstoßes In der Tat scheint der Stein des Anstoßes bei der Explikation des Todesbegriffs durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall für die Gegner dieser Explikation weder die primären Zwecke (bzw. einer der Zwecke) dieser Explikation noch die Zweckdienlichkeit dieser Explikation in Bezug auf diese Zwecke. Die primären Zwecke der Explikation werden vielmehr auch von den Gegnern für sich genommen durchaus akzeptiert: die Festlegung des Hirnfunktionsausfalls als äußerste Grenze der Zulässigkeit medizinischer Behandlung und die Ermöglichung der Transplantation durchbluteter Organe ohne Verletzung der dead donor rule. Ebenso akzeptiert wird in der Regel, dass die Explikation des Todes durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall in dieser Hinsicht eine durchaus zweckdienliche Konventionen darstellt. Eine Aufgabe der »Hirntoddefinition« würde entweder die Praxis der Organtransplantation erheblich einschränken oder die dead donor rule verletzen. Diese wird nicht nur von der Mehrzahl der Ärzte für unaufgebbar gehalten; ihre Aufgabe würde auch die rechtlichen Regelungen im Umfeld des Todes in fataler Weise komplizieren. Nicht übersehen werden darf allerdings, dass die Anwendung des Explikats in der Praxis neben der von vielen als segensreich empfundenen Chance auf ein transplantiertes Organ ethisch nicht unproblematische Begleiterscheinungen aufweist, vor allem die Zumutungen, die die zum Zweck der Explantation künstlich aufrechterhaltenen Organfunktionen für Angehörige und Pflegenden beinhalten. Maschinell beatmete Patienten, die zur Organtransplantation vorgesehen sind, unterscheiden sich in der Zeitspanne zwischen Eintritt des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls und der Transplantation
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dem Anschein nach nicht von Lebenden. Eine ganze Reihe von Lebensfunktionen werden durch die Beatmung direkt oder indirekt aufrechterhalten, darunter Herzschlag, Blutkreislauf, Verdauung, Wundheilung und (auf einem basalen Niveau) Temperaturregulation. Der Körper des gemäß dem Kriterium des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls Toten ist, da durchblutet, weiterhin rosig, seine Reflexe, soweit diese im Rückenmark verschaltet sind, intakt. (Im Fall einer Schwangerschaft werden die körperlichen Prozesse der Mutter im Wesentlichen durch den Fötus selbst gesteuert.) Dass ein Hirntoter, der alle Zeichen von Lebendigkeit zeigt, tot sein soll, verlangt Angehörigen und Pflegenden ab, zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie wissen, eine beträchtliche kognitive Dissonanz auszuhalten. »Pragmatisch« im polemischen Sinn ist aus der Sicht der Kritiker die Explikation des Todes durch den irreversiblen Hirnausfall in der Tat nicht primär deshalb, weil sie Zwecke verfolgt oder weil sie u. a. unter dem Zweck steht, Organtransplantationen post mortem zu ermöglichen, und auch nicht, weil diese Zwecke nicht für sich genommen verfolgenswert sind, sondern weil sie sich opportunistisch über zentrale Bedeutungsgehalte des herkömmlichen Todesbegriffs hinwegsetzt und damit die von Carnap an erster Stelle genannte Anforderung der Ähnlichkeit mit dem Ursprungsbegriff verletzt. »Pragmatisch« sei die Explikation in dem Sinne, dass das Ausmaß an Unähnlichkeit zwischen Ursprungsbegriff und Explikat zu erheblich ist, um für die von der Explikation verfolgten Zwecke in Kauf genommen zu werden. Das Opfer an semantischer Ähnlichkeit sei schlicht zu groß, um akzeptabel zu sein. In einigen der anderen für die Einschätzung von Explikationen relevanten Hinsichten können allerdings die Kritiker der »Hirntoddefinition« nicht anders als zuzugestehen, dass sie die Anforderungen an eine Explikation ebenso erfüllt (oder dieser sogar besser gerecht wird) wie Todesdefinitionen, die das Lebensende mit dem irreversiblen Verlust zentraler Körperfunktionen, insbesondere mit dem irreversiblen Zusammenbruch des Blutkreislaufs gleichsetzen. Das gilt insbesondere für die Anforderung der Exaktheit sowie der Verfügbarkeit eindeutiger Kriterien und Tests. Für keine der alternativen Explikationen des Todesbegriffs besteht dasselbe Maß an Sicherheit wie für die Explikation des Todes als irreversibler Hirnfunktionsausfall. Gerade der Rechtfertigungsdruck, der von der verbreiteten Nichtakzeptanz dieser Explikation ausgeht, hat dazu geführt, dass die Kriterien fortwährend verfeinert und für eine große Vielfalt von Sondersituationen ausdifferenziert worden sind. Mit der Vierten Fortschreibung der Richtlinien zur Todesfeststellung sind in Deutschland diese Kriterien noch einmal der medizinischen Erfahrung angepasst worden, u. a. durch eine Einbeziehung von Vertretern aller relevanter medizinischer Einzeldisziplinen. Die nunmehr geltenden Kriterien für den Todeszeitpunkt gewähren ein anerkannt hohes Maß an Rechtsicherheit – im Gegensatz zu anderen Begriffen im Umfeld des Todes, die weiterhin erhebliche Unschärfen aufweisen (etwa »Sterbeprozess«). Dagegen sind die Kriterien, nach denen der Herz-Kreislauf-Tod festgestellt werden kann,
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sehr viel weniger eindeutig als die für die Todesfeststellung nach dem Kriterium des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls. Das zeigt sich bereits in den unterschiedlich langen Wartezeiten, die in Ländern, in denen die Entnahme von Organen nach Herztod (donation after cardica death – DCD) zulässig ist, zwischen Kreislaufstillstand bzw. Ende der Wiederbelebungsversuche und Organentnahme gefordert werden. Auch die für viele Menschen wichtige Sicherheit, dass mit dem Eintritt der in den Richtlinien genannten Bedingungen kein Bewusstseinsleben mehr möglich ist (und etwa die Entnahme der Organe im Fall einer Explantation gespürt werden könne) könnte größer nicht sein. Mit dem irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen ist auch ein bewusstes Erleben nicht mehr möglich, mögen dies auch einige der im Rückenmark verschalteten Reflexe des Hirntoten (wie dem Zusammenzucken bei Einschnitten in die Haut) nahelegen. Auch Autoren, die bezweifeln, dass der Hirntod als Todesdefinition akzeptabel ist, müssen konzedieren, dass bisher kein Fall bekannt geworden ist, in dem jemand nach einer korrekt vorgenommenen Hirntoddiagnose das Bewusstsein wiedererlangt hat. Nicht in gleicher Weise erfolgreich schneidet die Explikation des Todes als irreversibler Hirnfunktionsausfall in der Dimension der Einfachheit bzw. Verständlichkeit ab. Diese Explikation ist nicht zuletzt deshalb schwer vermittelbar, weil sie angesichts der Erfahrung des Umgangs mit einem Todkranken zu abstrakt und zu einseitig kognitiv orientiert ist, um den Tod – so wie im Fall der Agonie – zu etwas konkret Erlebbarem zu machen. Sie sorgt dafür, dass der Tod in den Fällen, in denen auf sie zurückgegriffen wird, kein Gegenstand der Lebenswelt mehr ist, sondern nur noch auf dem Umweg über medizinische Verfahren – wenn auch in der Regel klinische, nicht-apparative Verfahren – ermittelbar ist. Die Frage, an der der Vorwurf des allzu »pragmatischen« Opportunismus hängt, ist demnach, wie weit man sagen kann, dass die »Hirntoddefinition« von den Inhalten des herkömmlichen Todesbegriffs so stark abweicht, dass die Verletzung der Anforderung der Ähnlichkeit schwerer wiegt als einerseits die Zugewinne an Exaktheit und diagnostischer Sicherheit, andererseits die Ermöglichung der Aufrechterhaltung der Praxis der Transplantation post mortem ohne Verletzung der dead donor rule.
6. Wo liegt die Differenz? Dass zwischen Explikandumbegriff und Explikat signifikante semantische Differenzen bestehen, ist nicht zu bestreiten. Die entscheidende Differenz besteht darin, dass das herkömmliche Verständnis von Leben und Tod das Bestehen oder Nichtbestehen integrierter Körperfunktionen in den Mittelpunkt stellt, gleichgültig, ob diese durch die vegetativen Funktionskreise des Gehirns und insbesondere das Stammhirn oder durch einen externen Impulsgeber gesteuert werden. Dagegen ist nach dem Explikat des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls die
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Frage, wodurch die Körperfunktionen gesteuert werden und wie weit sie von körpereigenen oder externen Ursachen abhängen, nicht nur bedeutsam, sondern für die Frage nach Leben und Tod ausschlaggebend: Falls die Körperfunktionen nicht vom Gehirn, sondern von einem externen Impulsgeber (wie dem Beatmungsgerät) gesteuert werden, der Organismus also nicht mehr eigenständig den Atemimpuls oder andere körperliche Prozesse auslösen kann, ist ihr zufolge ein Mensch tot, gleichgültig, wie weit sein äußeres Erscheinungsbild weiterhin das eines Lebenden ist. Die entscheidende Differenz zwischen Explikandum und Explikat besteht demnach darin, dass das Explikandum von den kausalen Zusammenhängen der (scheinbaren) Lebendigkeit des Organismus absieht, während das Explikat diese nicht nur mitberücksichtigt, sondern in den Mittelpunkt rückt. Dadurch wird es in einer bestimmten Hinsicht abstrakter – es löst sich von der phänomenologischen Lebendigkeit des beatmeten Hirntoten –, in anderer Hinsicht aber auch umfassender und integraler. Indem es zusätzlich zu den phänomenologischen die kausalen Verhältnisse in den Blick nimmt, wird es dem Gesamtphänomen des Hirntoten vollständiger gerecht als die phänomenologische Sichtweise. Bedauerlicherweise ist die Differenz zwischen »Hirntoddefinition« und herkömmlichem Todesverständnis durch die Konzentration auf die Frage verschleiert worden, von welcher Instanz die Integrationsleistungen ausgehen, die die Körperfunktionen aufeinander abstimmen und zeitlich synchronisieren. Vertreter der »Hirntoddefinition« haben sich bemüht, diese Integrationsleistungen ausschließlich dem Gehirn als zentralem Steuerungsorgan zuzuweisen. Ihre Gegner haben darauf bestanden, dass auch andere Instanzen als das Gehirn zu einem Großteil dieser Integrationsleistungen imstande sind. Der US-amerikanische President!s Council hat sich von den Argumenten des amerikanischen Neurologen Shewmon für diese letztere Auffassung (vgl. Shewmon 2002) sogar so weit beeindrucken lassen, dass er es für erforderlich hielt, eine – ihrerseits problematische – neue Todesdefinition vorzuschlagen (vgl. Birnbacher 2017, 52 ff.). Aber das Merkmal »Integration der Körperfunktionen« scheint wenig geeignet, die semantische Differenz zwischen herkömmlicher Todesauffassung und »Hirntoddefinition« angemessen zu charakterisieren. Dass Körperfunktionen wie Kreislauf, Verdauung und Wundheilung, die beim Hirntoten erhalten sind, ein Zusammenwirken von Organe und Organsystemen erfordern, wird auch der erpichteste Vertreter der »Hirntoddefinition« nicht leugnen. Diese komplexen Prozesse sind undenkbar ohne ein integriertes Zusammenspiel verschiedenster biologischer Mechanismen, die miteinander wechselwirken und sich zielführend ergänzen. Für den Vertreter der herkömmlichen Todesauffassung wie für den Vertreter der »Hirntoddefinition« sind dies gleichermaßen »ganzheitliche« Phänomene, die nicht auf eine singuläre Steuerungsinstanz wie das Gehirn zurückgeführt werden können und die in beeindruckender Weise auch ein Hirntoter, dessen Gehirn seine Funktionen vollständig eingebüßt hat, noch aufweisen kann. Wie anders sollte etwa das bei Hirntoten beobachtete so genannte »Lazarus-
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Zeichen«, das Aufrichten bei Berührung eines Pflegenden ohne eine solche Integration möglich sein? Immerhin erfordert es das abgestimmte Zusammenwirken von unbewusster Wahrnehmung, Bewegungsimpulsen und Muskelinnervation. Es exemplifiziert in geradezu klassischer Weise Spinozas denkwürdigen, auf das Beispiel des Schlafwandlers gemünzten Satz: »Das zeigt … zur Genüge, daß der Körper an sich nach den bloßen Gesetzen seiner Natur vieles vermag, worüber sich sein eigener Geist wundert.« (Spinoza 1977, 263). Die Differenz zwischen Explikandum und Explikat liegt im Fall des Todes nicht in einer fehlenden Integration von Körperfunktionen – durch eine einzige zentrale oder mehrere dezentrale Integrationsinstanzen –, sondern in der Abhängigkeit der Integration – ob zentralisiert oder dezentral – von einem externen Impulsgeber. Dabei ist es gleichgültig, ob dieser räumlich wortwörtlich »von außen«, also von außerhalb oder von innerhalb der Körpergrenzen auf den Organismus einwirkt. Es kommt nicht darauf an, ob die Körperfunktionen bei einem Patienten, dessen Organismus die Fähigkeit irreversibel verloren hat, diese eigenständig aufrechtzuerhalten, durch ein Beatmungsgerät außerhalb seines Körpers aufrechterhalten werden oder durch ein in seinen Körper implantiertes Aggregat mit derselben Funktion. Das Mittel dazu muss auch nicht notwendig »künstlich« sein, also keine Maschine oder Apparatur und nicht einmal ein anderweitiges Produkt menschlicher Kunst, etwa ein bestimmtes Arzneimittel. Es kann auch ein natürlich vorkommendes, aber dem Organismus fremdes Mittel sein, das dasselbe bewirkt. Entscheidend ist lediglich, dass es nicht aus dem Organismus selbst stammt, sondern ihm zusätzlich zugeführt wird. Was würde der Vertreter der »Hirntoddefinition« zu der Science-Fiction-Vision eines Computers sagen, der fähig wären, nach irreversiblem Funktionsausfall des Gesamtgehirns die vegetativen Steuerungsfunktionen des Gehirns zu ersetzen und den Körper wie einen lebendigen Menschen agieren zu lassen? Würde man von einem solchen Menschen sagen können, dass er lebt? Diese Frage müsste er nach der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion seiner Position verneinen, während sie ein Vertreter des herkömmlichen Todesverständnisses bejahen müsste. Zwar wäre in diesem Fall die Integration der Körperfunktionen zu einer Einheit durch eine zentrale Instanz vollständig geleistet. Aber in diesem Fall wird diese Integrationsleistung in keiner Weise mehr von dem Menschen oder seinem Organismus selbst erbracht. Wenn es bei der Grenzziehung zwischen Leben und Tod darauf ankommt, ob der Organismus fähig ist, die Steuerung seiner Körperfunktionen »aus eigener Kraft« zu leisten, ist ein Mensch auch dann tot, wenn nach irreversiblem Erlöschen seiner Bewusstseinsfähigkeit einzelne seiner Körperfunktionen und die Integration einzelner seiner Körperfunktionen aufrechterhalten bleiben, aber nicht mehr von ihm selbst. Dagegen könnte eingewandt werden, dass uns eine Abhängigkeit der Körperfunktionen von einem externen Mechanismus auch sonst nicht davon abhält, von einem lebenden Organismus zu sprechen, etwa im Fall der Vielzahl von nichthirntoten Patienten, die aufgrund ihrer Erkrankung auf ein Beatmungsgerät oder
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auf einen Herzschrittmacher zur Lebenserhaltung angewiesen sind. Es scheint abwegig, einen Menschen als einen Toten zu betrachten, nur weil sein Organismus ohne externe Unterstützung nicht lebensfähig wäre (vgl. Deutscher Ethikrat 2015, 92 f.). Aber dieser Einwand berücksichtigt nicht, dass zwar auch ein Lungenkranker, der ein Beatmungsgerät mit sich führt, oder ein Herzpatient mit Herzschrittmacher in gewisser Weise »von Gnaden« eines Apparats lebt. Aber er berücksichtigt nicht, dass beide über eine ganze Reihe weiterer typischer Lebensfunktionen verfügen, die diese Abhängigkeit in ihrer Bedeutung relativieren. Vor allem verfügen sie über Bewusstseinsfähigkeit. Niemand wird der Idee etwas abgewinnen können, dass jemand, der bewusstseinsfähig ist, möglicherweise nicht mehr lebt (jedenfalls solange es noch keine technischen Möglichkeiten der Herstellung von Bewusstsein in Robotern oder Computern gibt). Bewusstseinsfähigkeit schließt den Tod kategorisch aus. Niemand kann zugleich tot und bewusstseinsfähig sein. Andererseits ist Leben ohne Bewusstseinsfähigkeit eine reale Möglichkeit. Ob jemand lebt oder tot ist, hängt weder von der An- oder Abwesenheit einer Bewusstseinsaktivität noch vom Besitz der Fähigkeit dazu ab.
7. Die Historizität der Todesdefinitionen Man kann darüber streiten, ob die semantischen Verschiebungen, die die Explikation des herkömmlichen Todesverständnis durch die irreversiblen Hirnfunktionsausfall erfahren hat, so gravierend sind, dass sie die anderweitigen Vorzüge dieser Explikation überwiegen – einschließlich des zu Recht, aber zu Unrecht in einem negativen Sinn, als »pragmatisch« bezeichneten Vorzugs, die Explantation von Organen bei künstlich beatmeten hirntoten Patienten ohne Verletzung der dead donor rule zu ermöglichen. Mir persönlich scheinen die »pragmatischen« Vorzüge Priorität beanspruchen zu können. Wichtig erscheint mir vor allem, das Argument der »Integration der Körperfunktionen«, das bereits bei der Erstformulierung der Richtlinien zur Todesfeststellung der Bundesärztekammer eine prominente Rolle gespielt hat (vgl. Birnbacher et al. 1993), fallen zu lassen und die Legitimität der Explikation des Todes durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall auf die auch von der Mehrheit des President!s Council in den Mittelpunkt gestellte Autonomie des Organismus in der Initiierung seines Verhaltens zu gründen – von der Atemfunktion bis zu komplexen Aktivitäten wie Verdauung und Temperaturregulation. Entscheidend für den Tod des Menschen scheint mir nicht, dass das Gehirn des Menschen nicht mehr funktioniert, sondern dass der Organismus eines Menschen, der die Fähigkeit zu einem bewussten Erleben irreversibel eingebüßt hat, nur mithilfe organismusfremder Hilfsmittel weiterfunktionieren kann. Das Integrationsargument scheint mir für diese Rolle ungeeignet, da es – paradoxerweise – auf beiden Seiten der Debatte verwendet wird. Befürworter der Gleichsetzung argumentieren für die Sonderstellung des Gehirns mit dem Argument, mit dem Ausfall des Gehirns als zentraler Integrationsinstanz
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der Körperfunktionen sei der Tod des Menschen besiegelt. Gegner der Gleichsetzung argumentieren gegen diese Sonderstellung mit dem Argument, auch bei ausgefallenem Gehirn seien die durch die Beatmung ermöglichten komplexen organischen Abläufe ohne eine Reihe weiterer Integrationszentren jenseits des Gehirns nicht denkbar, so dass der Ausfall der Hirnfunktionen nicht diejenige radikale Grenze markieren könne, die Leben und Tod voneinander trennt. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Bestimmung der Grenze zwischen Leben und Tod als eine im Kern menschliche Setzung dem historischen Wandel unterliegt. Da diese Grenze weder durch die Alltagserfahrung noch durch die Wissenschaft vorgegeben ist, sondern einer Entscheidung nach Plausibilitätskriterien verlangt, in denen sich ihrerseits kulturelle Wertvorstellungen und Erfahrungen niederschlagen, wäre es vermessen, für die eine wie die andere Deutung überzeitliche Geltung zu beanspruchen. Im Fall des Wandels von der herkömmlichen Herz-Kreislauf-Definition des Todes liegt eine Historisierung besonders nahe angesichts der neuartigen medizinischen Möglichkeiten, auf die diese Explikation reagiert. Die Herz-Kreislauf-Definition des Todes konnte so lange angemessen erscheinen, wie keine Möglichkeit bestand, den Organismus eines Menschen bei abgestorbenen Gehirn längere Zeit künstlich aufrechtzuerhalten. Erst mit dem Aufkommen dieser Möglichkeit und nicht zuletzt ihrer Nutzung im Zusammenhang mit der Explantation von durchbluteten Organen zum Zweck der Übertragung auf andere Patienten hat dieses Todesverständnis einem neuen Verständnis Platz gemacht.
8. Schluss Der von Hans Jonas und anderen erhobene Vorwurf, bei der Definition des Todes durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall handele es sich um eine »pragmatische Umdefinierung« war polemisch gemeint, drückt aber letztlich eine Trivialität aus: Da der herkömmliche Todesbegriff beträchtliche Unbestimmtheiten aufweist, die sich unter den Bedingungen der modernen Medizin insbesondere für rechtliche Normierungen als unzureichend erweisen, bedarf es statt einer Analyse einer Explikation. Eine solche steht aber von vornherein in einem Zweckzusammenhang und ist undenkbar ohne eine im weitesten Sinne »pragmatische« Orientierung. Die Explikation des Begriffs »Tod des Menschen« durch den irreversiblen Hirnfunktionsausfall erfüllt die für Explikationen für praktische Kontexte nach der vorgenommenen Einschätzung in so hohem Maße, dass es gerechtfertigt erscheint, die signifikanten semantischen Differenzen zum herkömmlichen Todesbegriff dafür in Kauf zu nehmen. Weitere Züge einer »pragmatischen« Orientierung – die über die »pragmatischen« Merkmale der Todesdefinition hinausgehen – finden sich in den Kriterien für die Feststellung des Hirntods. Sie zeigen sich u. a. in den unterschiedlichen Sicherheitsstandards, die die nationalen Gesetz- und Richtlinien-
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geber den in ihrem Bereich geltenden Regelungen zugrunde legen. Während etwa in Deutschland vorgeschrieben ist, dass jede klinische Diagnose des eingetretenen irreversiblen Hirnfunktionsausfalls entweder durch eine frühestens 12 Stunden später wiederholte klinische Untersuchung oder durch sich zeitlich anschließende apparative Untersuchungen bestätigt werden muss (vgl. Bundesärztekammer 2015, 3 f.), verlangen die in der Schweiz geltenden Richtlinien lediglich eine einmalige klinische und nur in Zweifelsfällen eine zusätzliche apparative Diagnostik (SAMW 2011, 6). Auch bei der in Deutschland verbotenen Entnahme von Organen nach anhaltendem Kreislaufstillstand (nonheart-beating donor), deren Einführung in der Schweiz zu einer signifikanten Erhöhung des Aufkommens an Transplantaten geführt hat, erfolgt dort nur eine einmalige klinische Untersuchung. Bei einer Wartezeit von 10 Minuten nach Kreislaufstillstand wird angenommen, dass sich eine zusätzliche apparative Untersuchung erübrigt (SAMW 2011, 7). Diese Regelungsunterschiede lassen sich nur »pragmatisch« verstehen, wenn auch in einem vordergründigeren, kommunikationstechnischen Sinn – als Reaktionen auf unterschiedliche gesellschaftliche Diskussionslagen. In Deutschland mit seiner ausgeprägteren »Misstrauenskultur« scheint ein Mehr an Sicherheit opportuner als in der Schweiz, auch dann, wenn sich dieser Weg problemverschärfend auf das im internationalen Vergleich ohnehin schwache Organaufkommen auswirkt.
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1. Fortschritt und bloßer Wandel Es gibt gute Gründe dafür, Wissenschaft für ein fortschreitendes Geschehen zu halten. Man denke nur an die Kumulation ungezählter Daten über soziale bzw. kulturelle Kontexte hinweg oder an die verblüffende consilience1 unabhängig voneinander entwickelter Theoriestränge.2 Andererseits wird Wissenschaft von Menschen betrieben, d. h. wir begegnen Bündeln von Handlungen, und die erklärt man gemeinhin aus den mehr oder minder plausiblen Motiven der Akteure. Unter diesem Aspekt erscheint Wissenschaft als ein bunt bestimmtes Geschehen, in dem die jeweils bevorzugten Auffassungen und Praktiken lediglich wechseln wie etwa Kleidungsmoden. Die Alternative hat weittragende gedankliche Konsequenzen, insofern eine Relativierung der Wissenschaft die letzte Bastion der aufklärerischen Vorstellung menschheitlichen Fortschritts untergräbt.3 Es existieren verschiedene Versuche, die Kluft zwischen beiden Auffassungen zu schließen, darunter – bei erstem Hinsehen durchaus schlagend – David Hulls und Philipp Kitchers Adaptionen von Adam Smiths Idee der ›unsichtbaren Hand‹: So wie aus den eigensüchtigen Motiven der Marktteilnehmer am Ende allgemeine Wohlfahrt resultiere, so ereigne sich wissenschaftlicher Fortschritt sozusagen über die Köpfe der Beteiligten hinweg.4 Aus Gründen, die noch 1 Die Idee des ›Zusammenspringens‹ geht auf Whewell zurück und findet ihre plausible Anwendung zum Beispiel, indem Genetik und Vergleichende Physiologie sich unter evolutionistischen Aspekten problemlos fügen. 2 Erinnert sei auch an minimalistische Intuitionen des Typs, dass – wie auch immer theoretische Alternativen sich in Wechselsituationen zueinander verhalten haben mögen – es nach einem gewissen zeitlichen Abstand nicht mehr vertretbar gewesen wäre, dem unterlegenen Ansatz zu folgen, also etwa um 1800, in der hohen Zeit der Analytischen Mechanik, noch der aristotelischen Physik den Vorrang gegenüber der newtonischen zu geben. Vgl. Larry Laudan, Progress and Its Problems, Berkeley 1977, 160. 3 Siehe dazu manifestartig die Stellungnahmen von Holton u. a. in The Flight from Science and Reason, hg. v. P. R. Gross u. a. (Annals of the New York Academy of Sciences Bd. 775), New York 1996. 4 David Hull, Science as a Process: An Evolutionary Account of the Social and Conceptual Development of Science, Chicago 1988; Philip Kitcher, The Advancement of Science, Oxford 1993. Kitcher verdanken wir auch den Versuch eines Brückenschlages ohne Unsichtbarkeiten, die Vorstellung einer dank ihrer Wertebasis ›wohlorientierten‹ Wissenschaft: Science in a Democratic Society, Amherst 2011, Kap. 5. Nun liegt aller-
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deutlich werden, wird im weiteren ein ›dritter Weg‹ anderer Anlage beschritten, um die Fortschrittsintuition mit der Feststellung des Menschlich-Allzumenschlichen in der Forschung zu vermitteln. Dies könnte den Eindruck nahelegen, hier solle originell angesetzt oder wenigstens derlei beansprucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Dass – wie in der Folge ausgeführt – wissenschaftlicher Fortschritt durchaus eine Sache von Menschen, ihres Wissens und Könnens, sowie deren systematischen und historischen Verhältnissetzungen ist, gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Wissenschaftsreflexion bis zum Ausklang des ›langen‹ 19. Jahrhunderts. Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutet demnach wesentlich etwas, das rezente Forschung unter Einrechnung des früher Geleisteten vollzieht.5 »Jedoch auch die Lehren dieser Wissenschaften, oder ihr Vortrag in Schriften, ist sehr alt in der Welt«6 heißt es wie selbstverständlich im Vorwort zum kameralwissenschaftlichen Aufriss des Aufklärers Johann Heinrich Gottlob von Justi. Dieser Sachlage entgegen steht die gegenläufige Auffassung, dass der Weg zur modernen Wissenschaft durchgehend von der Idee eines personenthobenen Neubeginns von Grund auf bestimmt gewesen sei. Man denkt dabei zuvorderst an Descartes und den Cartesianismus, aber natürlich auch an Kants berühmten Imperativ aus »Was ist Aufklärung?«. Tatsächlich gewinnt man aber ideenhistorisch erst das rechte Maß, wenn man sich vor Augen führt, dass Kant, wie schon vorher schon Wolff und seine Schüler, davor wiederum ein Herold der Moderne wie Grotius sich gründlich etwa mit der erkenntnismäßigen Angewiesenheit auf andere auseinandergesetzt haben.7 Und jedem Leser der Einträge zu den Cartesianern in Fontenelles "loges wird schnell deutlich, dass rationalistische Aufklärung und der Blick auf personale Verhältnisse sich bestens vertragen können. Und diese Tendenz erlischt in der Folge nicht. Wer die Nachrufe auf Johannes Müller, Du Bois-Reymond, Heinrich Hertz u.v.a. aus dem Jahrhundert dings die Überzeugungskraft wisssenschaftshistorischer Relativismen gerade darin, an immer neuen Beispielen zeigen zu können, in welchem Umfang klassische Forschungsideale in praxi zugunsten weniger hehrer Motive unterlaufen werden können. M.a.W., die unbestrittene erklärende Leistung der ›unsichtbaren Hand‹ wird durch eine Werteorientierung nicht ersetzt. Das gilt auch für die mit Kitchers ›demokratischem‹ Ansatz teilweise konform gehende Idealvorstellung der Forschergemeinschaft bei Helen Longino, The Fate of Knowledge, Princeton 2002. 5 Eine Vielzahl von Materialien dazu enthält Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg 1979. 6 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung […], Teil I, 2. Aufl. Leipzig 1758, S. XI. 7 Diejenige Tugend des einen, die den abhängigen Wissenserwerb seitens eines anderen möglich macht, ist die Wahrhaftigkeit. S. als Überblick Martin Annen, Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung, Würzburg 1997.
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nach dem Tod des ›ewigen Sekretärs‹ der Acad#mie liest, kann nicht übersehen, dass die aufklärerische »Botschaft der Tugend«8 in der Selbstreflexion der Wissenschaft weitergewirkt hat,und zwar bis in die Nachrufe unserer Tage. Betrachten wir unter dem personalen Aspekt einmal den scheinbar widrigsten Fall,9 nämlich denjenigen Descartes! selbst bzw. seiner wissenschaftlichen Beiträge. In der Tat zeigen sich Descartes! wissenschaftliche Ausführungen über weite Strecken als Konkretisierungen eines Tabula-rasa-Denkens. Aber dennoch gibt es sogar bei Descartes Spuren der gegenläufigen Tendenz. So beginnt La dioptrique nicht mit Konstruktionen, sondern dem Lob vorgefundener Errungenschaften: »[…] il n!y a point de doute que les inventions qui servent " augmenter sa puissance ne soient des plus utiles qui puissent Þtre«10. Und im Blick auf das Fernrohr fällt bald sogar ein Name, nämlich der eines niederländischen Instrumentenbauers: »Jacques M&tius, de la ville d!Alcmar en Hollande, homme qui n!avoit jamais &tudi&, bien qu!il e#t un p$re et un fr$re qui ont fait profession des math&matiques, mais qui prenoit particuli$rement plaisir " faire des miroirs et des verres br#lants, en composant mÞme l!hiver avec de la glace, ainsi que l!exp&rience a montr& qu!on en peut faire; ayant " cette occasion plusieurs verres de diverses formes, s!avisa par bonheur de regarder au travers de deux, dont l!un &toit un peu plus &pais au milieu qu!aux extr&mit&s, et l!autre, au contraire, beaucoup plus &pais aux extr&mit&s qu!au milieu, et il les appliqua si heureusement aux deux bouts d!un tuyau, que la premi$re des lunettes dont nous parlons en fut compos&e.«11
Zwar kein gelehrter Mann, aber ein handwerklich geübter ›Pröbler‹ hat mit der Kombination eines konvexen und eines konkaven Glases in einer Röhre Beachtliches zum Fortschritt beigetragen, den nun wiederum Descartes weiter voranbringen will. 8 Vgl. den Titel von Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971. 9 Vgl. die Einbettung bei Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, übers. v. H. Vetter, Frankfurt/M. 1991. Nebenbei bemerkt hat auch Toulmins vermeintlich apersonalistische Bezugsinstanz des 20. Jahrhunderts, der Wiener Kreis, seine Tücken. Auf der ersten Seite von dessen Geburtsurkunde finden sich nicht nur eine Widmung (Moritz Schlick) und eine Aufzählung von Mitgliedern und »nahestehenden Autoren«, sondern auch noch die Namen der »führenden Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung« (Einstein, Russell, Wittgenstein). S. Wissenschaftliche Weltanschauung. Der Wiener Kreis, in: Veröffentlichungen des Vereins Ernst Mach, hg. v. Verein Ernst Mach, Wien 1929, S. 299–332, S. 299. 10 La dioptrique, in: OEuvres de Descartes, hg. v. V. Cousin, Bd. 5, Paris 1824, S. 3–153, S. 4. Die Stelle wird prominent wiedergegeben in Joseph Priestley. Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Optik […], Leipzig 1775, S. 49. 11 Descartes, Dioptrique, S. 4.
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In der Folge wird der hier exemplarisch gegebenen Gedankenfigur unter den nächstliegenden allgemeinen Aspekten entsprochen: Im ersten Schritt wird geklärt, inwieweit Handlungsbeschreibungen überhaupt als einigermaßen stabile Komponenten einer Forschungsreflexion aufgefasst werden können. Anschließend werden die handlungslogische Seite sowie der personale Aspekt untersucht. Dabei werden wir auf zwei herkömmlicherweise anerkannte Momente wissenschaftlicher Praxis stoßen, nämlich Kompetenz und Rationalität im Sinne von Individualtugenden. Die Pointe ergibt sich daraus, dass beide in ihrer komparativen Anlage begriffen werden. Im Vorfeld dieses Ansatzes, genauer gesagt im Zuge der Diskussion kontrastiv begriffener Handlungen, wird auch der schwache Punkt der Idee einer unsichtbaren Hand in der Wissenschaft sichtbar werden. Der alternativ darzustellende Fortschrittszusammenhang stellt keine reine Konstruktion dar, sondern etwas, das mit dem forschungsbegleitenden historischen Verweis indiziert wird. Dass unter den bekannten Modellen wissenschaftlichen Fortschritts am ehesten die Ideen von Kumulation und Umbau des Kumulierten als Hintergrund taugen, deutet sich bereits mit der Rückbezüglichkeit der historischen Notiz an und erläutert sich im weiteren fast von selbst.12 Wissenschaftlicher Fortschritt wird verständlich als Anwachsen der Fähigkeiten von Wissenschaftlern, vornehmlich ihres Wissens und Könnens in Verbindung mit Daten, Theorien, Methoden u. a.m.13
2. Die wissenschaftshistorische Notiz Kurze Bezugnahmen auf frühere Beiträge und ihre Urheber finden sich in den weitaus meisten wissenschaftlichen Texten. Zu den wenigen Ausnahmen unter den Dokumenten des wissenschaftshistorischen Kanons gehört Lavoisiers Trait# #l#mentaire de chimie14, wobei sich freilich ein vollständiges Bild erst ergibt, wenn 12 Die Überholtheit des Kumulationsmodells lässt sich nach den genaueren Untersuchungen der bekanntesten Fälle sog. Wissenschaftlicher Revolutionen kaum mehr behaupten. Besonders verwiesen sei auf den vermeintlich widrigen Fall des Einsteinschen Ansatzes. S. die von Jürgen Renn herausgegebene Sammlung The Genesis of General Relativity, 4 Bde., Dordrecht 2006, und das Resümee unter dem bezeichnenden Titel von Jürgen Renn, Auf den Schultern von Riesen und Zwergen, Weinheim 2006. Systematisch zu den möglichen Komponenten kumulativen Fortschritts s. Verf., Philosophische Wissenschaftshistorie – Grundsatzfragen / Verlaufsmodelle, Braunschweig/ Wiesbaden 1995, Kap II, 1. 13 Dass am Rande dieser Gesamttendenz zuweilen auch Kompetenzen verloren gehen, muss nicht geleugnet werden. Man denke etwa an den dramatischen Rückgang taxonomischer Fähigkeiten in der Biologie. Damit ist aber nicht entschieden, dass verschwundene Kompetenzen nicht evtl. auch wieder hergestellt werden könnten. Bestimmungsschlüssel sind in ungezählten älteren Lehrwerken weiterhin zugänglich. 14 2 Bde., Paris 1789.
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man weiß, dass Lavoisier in anderen Schriften umfängliche Zusammenfassungen der Vorgaben von Forschern wie Hales oder Helmont bereitstellt.15 Die in ungezählten Traktaten bezeugte tatsächliche Gedankenfigur des wissenschaftlichen Fortschritts ist auch bei Lavoisier nicht die der tabula rasa, sondern der Nutzung von Vorgefundenem zugunsten des Angestrebten, und daran ändert sich nichts bis auf den heutigen Tag, wie allein schon die Fußnoten in den meisten rezenten wissenschaftlichen Darstellungen belegen.16 Jede wissenschaftliche Leistung hat ihre Herren aus Alkmaar. Das ergibt sich bereits aus der akademischen Einbettung wissenschaftlicher Forschung. Folgen wir Descartes! Thema, der Optik, zu einem ihrer großen Vertreter im 19. Jahrhundert, so stammt die Person diesmal aus Straubing: »… und Fraunhofer gab endlich messende Bestimmungen für die Grösse der Farbzerstreuung«17 heißt es beispielsweise in Hermann von Helmholtz! kleiner Schrift über Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. Der Text erschien 1868, im Folgejahr des Abschlusses der großen Systematisierung seiner Forschungen im Handbuch der Physiologischen Optik (1856, 1860, 1867). Man könnte vielleicht annehmen, ein Folgebericht dieser Art präsentiere nur systematische Ergänzungen, aber wie das angeführte Zitat und Dutzende ähnlicher belegen, stoßen wir darin auf eingestreute Brocken von Wissenschaftshistorie, schlichte Hinweise, zuweilen eine bloße Literaturangabe, aber auch kleine Narrative.18 Worin nun besteht die Eigenart von in Forschungsmitteilungen integrierter Wissenschaftshistorie? Hervorzuheben sind zuerst vor allem zwei Eigenschaften. Erstens haben sie offenkundig einen doppelten Verweischarakter: Descartes! und Helmholtz! Bemerkungen teilen etwas über M&tius! und Fraunhofers Arbeit mit, zielen aber gerade damit auch auf Descartes! und Helmholtz! Arbeit bzw. verweisen zugleich auf deren Situation als Eigenhistoriker. Zweitens indiziert die Bemerkung ein Fortschrittsmoment. Die älteren Beiträge werden hervorgehoben, weil sie – in der Wahrnehmung der referierenden Autoren – die Wissenschaft vorangebracht haben. Die historische Notiz ist versteckt komparativ – berührt
15 S. vor allem Lavoisiers erste große Schrift und die Bearbeitung älterer Gasexperimente: Opuscules Physiques, et Chimiques, Paris 1774, ND London 1970. 16 Man kann es auch entschiedener formulieren: Die Fußnote ist kein vergessener Rest aus der Vormoderne, sondern ein Kennzeichen der Verwissenschaftlichung der historischen Perspektive. Vgl. unter diesem Aspekt Anthony Graftons Footnote-Buch, deutsch unter dem albernen Titel: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995. 17 Hermann v. Helmholtz, »Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens«, 1868, nachgedruckt in: ders. Philosophische und populärwissenschaftliche Schriften, hg. v. M. Heidelberger, H. Pulte u. G. Schiemann, Hamburg 2017, S. 458–553, 474. 18 Auf der nächsten Komplexitätsstufe fänden sich wechselseitige Bezugnahmen, wie sie wissenschaftliche Briefwechsel dokumentieren.
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mehr oder weniger direkt stets auch andere, die weniger geleistet bzw. weniger von der für wertvoll erachteten Vorarbeit geleistet haben. Ein hier nur kurz zu behandelnder Seitenaspekt findet sich in Fällen, wo die eigentlich anstehende historische Bezugnahme (in simpelster Form womöglich nur als Fußnote) nicht vorgenommen wird. Hier liegt der Betrugsverdacht nahe, wobei in manchen durchaus prominenten Fällen die Situation äußerst verzweigt sein kann. Bei der Einführung des Doppelhelix-Modells der DNA beispielsweise finden wir stützende historische Hinweise genauso wie ein merkwürdiges Aussparen wichtiger hinführender Beiträge etwa derjenigen der Röntgen-Kristallographen (Franklin, Wilkins).19 Aufschlussreicher als das Ehrlichkeitsthema ist die hinter solchen Befremdlichkeiten stehende Verschiebung des wissenschaftlichen Prestiges zugunsten der Zuschreibung von Heureka-Momenten unabhängiger Originalität. Die tatsächliche Formierung der modernen Wissenschaften seit dem ausklingenden 17. Jahrhundert ist die Entstehung eines sich verdichtenden Kosmos aus brieflichen Mitteilungen, akademischer Gemeinschaft und anspruchsvollen Austauschjournalen, in denen sich die Forscherleistungen den Kollegen zeigten. Die professionell einschränkenden Ansprüche zeigen sich in den Titeln der Journale für die savants und eruditi. Noch für Helmholtz ist die Nichtberücksichtigung des kollegialen Beitrages das Kennzeichen des Amateurs20. Im Jahrhundert der originalistischen Einstein-Legenden kann davon nicht mehr unbedingt die Rede mehr sein.
3. Der Handlungsaspekt Fragt man nach dem ontologischen Status des in der wissenschaftshistorischen Notiz Mitgeteilten, wird man sich leicht darüber verständigen können, dass wir es nicht mit einem Ding zu tun haben, sondern einem Ereignis, d. h. mit etwas, das sich im Gegensatz etwa zu einer Theorie oder einer Bestätigungsrelation nicht mehr ändert. Der erste Teleskopbau ist einmal geschehen (dass im konkreten Fall 19 Verf., »On How Watson and Crick Discovered what Watson and Crick had Suggested. The ›Folk‹ Concept of Discovery Rediscovered«, History and Philosophy of the Life Sciences 30 (2008), S. 7–30, 26 ff. 20 S. besonders H. v. Helmholtz, »Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft« [1869], abgedr. in Helmholtz, Schriften, Bd. 1, S. 576–605; vgl. auch Helmholtz! heikle Auseinandersetzung mit Julius Robert Mayer: »Ueber die Erhaltung der Kraft« [1862/63], abgedr. in Schriften, Bd. 1, S. 208–48; s. auch den Anhang »Robert Mayer!s Priorität« [1883] zu »Ueber die Wechselwirkungen der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik« [1854/1883], Helmholtz, Schriften, Bd.1, S. 50–99; 85–96. Zur Geschichte der Verknüpfung von wissenschaftlichem Prestige mit Originalitätsanspruch s. William Clarke, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2006.
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M&tius in einen Prioritätsstreit verwickelt war, verschiebt den Sachverhalt nur) und nicht mehr für Veränderungen in Raum und Zeit offen. Was von der Seite des einen oder anderen ›wiederholt‹ wird, sind neue Handlungen, die in einer Ähnlichkeitsrelation zur Ausgangshandlung stehen. Nun sind Handlungen Ereignisse bevorzugter Sorte, von deren kognitiver Handhabbarkeit unser gesamter Alltag abhängt, so dass sie sich auch für wissenschaftsphilosophische Zwecke als geeignet anzubieten scheinen. In der Tat haben sich speziell die WissenschaftlerPhilosophien des 18. und 19. Jahrhunderts in beträchtlichem Umfang mit Forscherhandlungen befasst. Diese Tendenz ist aber mit der Hauptbewegung der Wissenschaftsphilosophie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgelaufen, was seinen Hauptgrund in den sich damals besonders drängend stellenden Fragen nach der Geltung physikalischer Theorien gehabt haben mag, Es zeichnen sich philosophische Geltungsfragen gerade dadurch aus, dass Lokales und Zeitgebundenes ausgeblendet wird. M.a.W. hat der Ereignischarakter von Handlungen es mit sich gebracht, dass wissenschaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert zunächst kaum mehr philosophische Aufmerksamkeit gefunden haben. Als sich dies änderte, sei es in populärer Kuhn-Adaption, sei es in dem, was man heute ›Foucaultismus‹ nennen mag, geschah dies bezeichnenderweise in Verbindung mit einem naiven erkenntnistheoretischen Relativismus. Forschungshandlungen gerieten dabei in den Verdacht der Beliebigkeit, nicht kontrolliert identifizierbar, zugehörig einer Sphäre des ungeordneten Quodlibet, unvereinbar mit der Vorstellung fortschreitender und nicht nur sich verändernder Wissenschaft. In der Folge wird dem entgegengestellt, dass – die Beschreibungsvarianz von Aktionen sich hinreichend bearbeiten lässt, um auf den ersten Blick bunte Handlungen mit dem Fortschrittsgedanken in Harmonie zu bringen – die Eigenart forschungsbegleitender historischer Notizen uns zu verstehen hilft, inwieweit fortschrittsrelevante Handlungen Aktionen eines besonderen Typs sind, die in der Hauptsache anders als motivational plausibel zu machen sind. 3.1. Handlungsstufen Grundsätzlich könnte man M&tius! Praxis sowohl etwa als eher zufälligen bastlerischen Vorgang beschreiben als auch etwa davon sprechen, er habe das Teleskop erfunden oder den Astronomen und der Schiffahrt neue Möglichkeiten geschaffen. Daran ist nicht notwendig etwas Irritierendes. Was uns im Alltag bei Vorliegen von Beschreibungsvarianzen vor Verwirrung bewahrt, liegt in der stillen Selbstverständlichkeit, Beschreibungsmöglichkeiten zu ordnen, indem wir sie in Relationen bestimmter Sorte setzen. Joel Feinberg und ihm folgende Autoren wie Donald Davidson nannten dies den Akkordeon-Effekt der Hand-
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lungsbeschreibungen.21 In anderer Redeweise könnte eine Verknüpfung sich im Beispielfall so darstellen: Descartes bezieht sich auf M&tius! Arbeit, indem er beschreibt, was der Mann aus Alkmaar vollbracht hat. Entsprechend ließen sich passende Formulierungen für die anderen beiden Bezüge wählen. Bedeutet hierbei die Tatsache, dass wir einschlägige Handlungen stets ›unter einer Beschreibung‹ haben, dass jeder Beschreibung eine eigene Handlung entspräche? Dann gerieten wir in der Tat auf heilloses Gelände einer ins Unermessliche ausgeweiteten Ontologie, entstünde doch mit jeder neuen Beschreibung zugleich eine neue Aktion, die aufgrund der Verbindung mit dem Ereignischarakter von Handlungen wiederum am nämlichen Ort in der nämlichen Zeitspanne statthätte. Es liegt stattdessen nahe, von Varianten in Bezug auf ein und dieselbe Aktion zu sprechen, die als mehr oder weniger basal anzusehen wären.22 Wenden wir den Blick in die Gegenrichtung, nach ›oben‹, so könnte man davon sprechen, M&tius habe etwas ›geschafft‹ bzw. ›geleistet‹ usw. Insofern wir dabei Erfolgsverben verwenden, bewegen wir uns auf dem Feld der Handlungsbewertung unter einem bestimmten Aspekt, dem des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Beliebigkeit der Handlungsbeschreibungen bzw. die Verbindung mit dem Relativismus ist durchaus nicht zwingend. Man muss allerdings sehen, dass der Relativismus sich durchaus parallel entfalten lässt, nur dass er statt beispielsweise ›trägt zum wissenschaftlichen Fortschritt bei‹ Beschreibungen des Typs ›gewinnt institutionelle Macht‹ o. ä. plaziert.
3.2. Kontrastiv zu erklärende Handlungen Halten wir also fest, dass die in Forschungsmitteilungen eingestreuten historischen Brocken sich als Handlungsbeschreibungen auffassen lassen, die wir mit derselben Berechtigung als Ausgangsinstanzen handlungslogischer Verknüpfungen ansehen können wie die in der gängigen Literatur üblicherweise verwendeten Aussagen des Typs ›Peter öffnet das Fenster‹ o. ä. m. Dies sollte uns indes nicht verleiten, die handlungslogische Verwertbarkeit von Handlungsbeschreibungen mit deren üblicher Verwertung ineinszusetzen. Handlungen der Sorte von M&tius! Erfindung oder Fraunhofers quantitativer Bestimmung sind keine gewöhnlichen, sondern ausgezeichnete. Sie sind Leistungen, und dies wiederum erweist sich darin, dass sie anders erklärt werden als bloße Aktionen. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich auch, warum die von Kitcher u. a. zu Hilfe genommene ›unsichtbare Hand‹ nicht allzuweit führt. Gehen wir noch einmal zurück auf die Ursprungsdarstellung in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments und die spätere, berühmte Darstellung in Wealth of Nations. Der Grundgedanke 21 Joel Feinberg, »Action and Responsibility« (1965), nachgedruckt in Alan R. White (Hg.), The Philosophy of Action, Oxford 1968, 95–119. 22 Jennifer Hornsby, Actions, London 1980, Kap 5 u. 6.
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ist vielfach kommentiert worden: Kaum jemand habe bewusst vor, das Allgemeinwohl zu fördern, kaum jemand habe auch nur eine ungefähre Ahnung, wie groß der eigene Anteil daran sei. Vielmehr strebe jeder nach eigenem Gewinn und werde dabei von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er gar nicht beabsichtigt habe.23 Eine Handlung wie M&tius! Erfindung wäre demnach von zwei Handlungsdeterminanten bestimmt: erstens durch eine wie auch immer zu charakterisierende Absicht des Akteurs, zweitens durch einen übermenschlichen Mechanismus, der M&tius! Handlung eine Position im Fortschrittsgeschehen zuwiese. Denken wir uns dazu einen erfolgreichen Marktteilnehmer, der ein attraktives Produkt zu einem annehmbaren Preis anböte. Was genau leisten die beiden Erklärungsfaktoren? Doch wohl nicht mehr, als dass der Markterfolg angestrebt wird und im weiteren der Markt insgesamt sich optimiert. Beides hilft nicht zu verstehen, warum Marktteilnehmer A sich durchsetzt und B nicht. Aber dies genau entspräche dem Fortschrittsgedanken verweisend auf Fragen des Typs ›Warum sind M&tius oder Fraunhofers Beiträge zur Optik in die Fachgeschichte eingegangen und sind die Versuche eines Goethe fachlich marginalisiert worden?‹ Die Antwort ergibt sich, wenn man aus der Enge der üblichen Handlungserklärungen hinaustritt. Die Buntheit möglicher Handlungsgründe ist in der Philosophie selten gewürdigt worden,24 was mit der üblichen Einführung des Handlungsbegriffs zusammenhängt: Man unterscheidet Handlungen von bloßem Verhalten, indem man auf Zielsetzungen des Handelnden abhebt. Und entsprechend verlaufen Handlungserklärungen oft einsinnig als praktische Syllogismen mit einer Absichtsprämisse und einer Zweck-Mittel-Verknüpfung. Damit ist freilich im Blick auf Fortschritt und Forschungshandlungen nichts gewonnen. Man kann Fortschritt anstreben, ohne ihm tatsächlich zu dienen, und man kann die Wissenschaft fördern, indem man elende Motive verfolgt. In der Nachfolge von Adam Smiths Modell wird durch den Jupitereingriff ein gemeinschaftlicher Gewinn erläutert, aber sowohl die Motive als auch die ergriffenen Mittel der Beteiligten sind unerheblich. Wir haben es mit einer quasi naturhaften Bestimmtheit zu tun.
23 Vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, hg. u. übers. von H. C. Recktenwald, München, 4. Aufl. 1988, S. 370 f. 24 Der klassische philosophische Ort für Fähigkeitserklärungen wäre die Tugendlehre, die aber vorrangig in der Engführung einer ethischen Option aufgegriffen wird. Die nützlichsten neueren Hinweise stammen aus der empirischen Psychologie. S. etwa John McClure u. Denis Hilton, »For you can!t always get what you want: When preconditions are better explanations than goals«, British Journal of Social Psychology 36 (1997), S. 223–240; Bertram F. Malle, »Folk Explanations of Intentional Actions«, in: Intentions and Intentionality, hg. v. Bertram F. Malle u. a., Cambridge/Mass. 2001, S. 265–286.
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Setzen wir folgende Alltagssituation dagegen und denken uns eine deutliche Besserung der Marktsituation eines Restaurants und dazu passend Stammgäste, die eine erfreuliche Verbesserung des servierten Essens bemerken. Die überzeugende Erklärung wäre wohl die, dass der Restaurantbesitzer einen besseren Koch angestellt hat. Der Inhaber hat entsprechend dem Muster des praktischen Schlusses zu dieser förderlichen Maßnahme gegriffen. Warum ist seine Entscheidung plausibel? Weil gutes Essen sich dem Umstand verdankt, dass der Koch es entstehen lassen kann, er ein guter Koch ist. Die wichtigsten Erklärungsgründe sind in Fällen wie diesen die Fähigkeiten der Akteure, besseres als andere zu leisten. Was nun die Bedeutung von Absichten angeht, so denke man sich in einem Kochwettbewerb als zufällige Gegner einen ehrgeizigen, aber ungeübten Amateur A und einen routinierten Sternekoch B, wobei es naheliegt anzunehmen, dass der Siegeswunsch des Amateurs intensiver ist und eine fortwährende motivationale Stärke seiner Anstrengungen darstellt, wohingegen der Sternekoch womöglich gelangweilt ist und längst den Pausenkaffee im Kopf hat. Aber es wird dem Amateur wenig einbringen. Es findet die Handlung ›B kocht ein besseres Essen als A‹ einen plausiblen Grund in den unterschiedlichen Kompetenzen der Kontrahenten. Die Übertragbarkeit von derlei Beispielen auf unser Thema hat damit zu tun, dass wissenschaftshistorische Notizen (womöglich aufgrund der unvermeidlichen Selektivität die Wissenschaftshistorie überhaupt) wesentlich auf mehr oder minder verdeckten oder offenen Vergleichen beruhen: Helmholtz zollt Fraunhofers Arbeit besondere Aufmerksamkeit, weil er sie im Vergleich zu anderen Arbeiten für überlegen hält. Lesen wir unter diesem Aspekt den Nachruf auf Fraunhofer, in dem Helmholtz den Politiker und Physiker David Brewster mit seiner kollektiv kontrastierenden Reaktion auf Fraunhofers für die Universität Dorpat hergestelltes Fernglas zitiert: »Wir halten dafür, dass kein Engländer diese Beschreibung wird lesen können, ohne die Empfindung des heftigsten Schmerzes, weil England seinen Vorrang in der Verfertigung der Achromate […] verloren hat. Sie [die Regierung] wird hiernach in wenigen Jahren die Ueberlegenheit englischer Künstler im Verfertigen von Instrumenten mit weitgehender Theilung für feste Observatorien nicht mehr zu behaupten vermögen.«25
In einfachster Form lassen sich kompetenz-, altertümlicher ausgedrückt, tugendbezogene kontrastive Erklärungen so auffassen:26 (i.) Die Personen A und B streben jeweils Ziel Z bzw. Y an. (ii.) A hat die Qualität Q, B nicht.
25 Hermann v. Helmholtz, »Joseph Fraunhofer«, in Schriften, Bd. 2, S. 1052–1062, 1061. 26 Vgl. als weiter ausgreifende Rekonstruktion Verf., Wissen und Handeln. Grundzüge einer Forschungstheorie, Stuttgart 2000, S. 80–87.
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(iii.) A und B gehen davon aus, dass H ein geeignetes Mittel für die Erlangung von Z bzw. Y ist. (iv.) Q ist funktional für die Durchführung von H. Ergo führt A H aus; B führt H nicht aus. Falls H tatsächlich ein geeignetes Mittel ist, erlangt A eher Z als B Y. Soweit sich eine fortschrittsbezogene Indem-Kette herstellen lässt, kann die Durchführung von H eine fortschrittliche Bewegung bedeuten. Die Belanglosigkeit der jeweiligen Zielsetzungen in Bezug auf die Erlangung des vorher von Jupiter gesetzten weiteren Ziels irritiert nicht mehr. Es reicht, dass irgendetwas angestrebt wird, um dem Handlungscharakter des Ereignisses zu entsprechen. Entscheidend ist die Eignung der durchgeführten Handlungen bzw. der Ausführenden. Die Handlung einer befähigten Person und somit diese selbst können zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen, auch wenn der Ausführende womöglich keinerlei einschlägige Zwecke verfolgt haben mag. Zur Nachrangigkeit der Zielsetzungen passend erweist sich manches ›bloße Verhalten‹ dank der zugrundeliegenden Fähigkeiten als herausragender Prozess. Erinnert sei beispielsweise an die ›Schulen des Sehens‹27 oder auch den mühsamen Erwerb anderer Formen von erfahrungsmäßigem Können: »Aber der Naturforscher braucht ausser dem Wissen, das ihm Vorlesungen und Bücher zufliessen lassen, auch noch Kenntnisse, die nur eine reiche und aufmerksame sinnliche Anschauung geben kann; er braucht Fertigkeiten, welche nur durch oft wiederholte Versuche und durch lange Uebung zu gewinnen sind. Seine Sinne müssen geschärft sein für gewisse Arten der Beobachtung, für leise Verschiedenheiten der Form, der Farbe, der Festigkeit des Geruchs u.s.w. der untersuchten Objecte; seine Hand muss geübt sein, bald die Arbeit des Schmiedes, des Schlossers und Tischlers, bald die des Zeichners oder Violinspielers auszuführen […].«28
In solchen Hinsichten zeigt sich zwar nicht die völlige Entbehrlichkeit von Absichten, aber dass sie gegenüber den vom Können bzw. Nichtkönnen gesteuerten Verläufen machtlos sein mögen. Der Mikroskopiker kann nicht erfolgreich beschließen, keine ›fliegenden Mücken‹ mehr zu sehen oder im Gegenteil sie zu erblicken, weil ihm daran liegt. Man kann das Gesichtsfeld kontrollieren, einen Augenarzt den Glaskörper des Auges behandeln lassen, aber den Sehvorgang selbst nicht einer Absicht unterwerfen.
27 S. als klassische Texte Jean Senebier, Essai sur l!art d!observer et de faire des exp&riences, 3 Bde, Genf 1802; Schleiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, 4. Aufl. Leipzig 1861; Georg von Neumayer, Hg., Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen, Berlin 1875. 28 Helmholtz, »Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft«, S. 578 f.
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4. Personalität und Sozialität Es gibt durchaus historische Äußerungen in wissenschaftlichen Texten, in denen der Träger der historisierten Handlung nicht genannt ist. Genaueres Hinsehen klärt die personale Seite meist schnell auf. Zuweilen ist auch die Gemeinsamkeit einer nicht genau bezeichneten Gruppe gemeint, von der sich aber wenigstens einzelne Individuen ausmachen lassen. Man denke an die Anfangsseite des berühmtesten Dokuments der Physik des 20. Jahrhunderts: »Beispiele ähnlicher Art, sowie die misslungenen Versuche, eine Bewegung der Erde relativ zum ›Lichtmedium‹ zu konstatieren, führten zu der Vermutung […]«29. Was als Bezug am nächsten liegt, sind die von Albert Michelson und Edward Morley angestellten Versuche, Effekte des Äthers nachzuweisen. Was evtl. noch einfließt, könnten in geringerem Umfang auch eigene erfolglose Überlegungen oder die die Ätherhypothese stützenden Überlegungen von Hendrik Lorentz, womöglich auch noch Bemühungen weiterer Forscher sein. Einstein bezieht sich als Nahhistoriker seines Problems auf eine für ihn hinreichend umrissene Personengruppe. Es sind für ihn die im verdeckten Vergleich mit anderen Physikern wichtigen Personen. Wie selbstverständlich die personalisierende Tendenz ist, mag man auch daran ersehen, dass die vielleicht berühmteste anonyme Forschergruppe der Wissenschaftsgeschichte sich mit einem Pseudonym (N. Bourbaki) präsentierte. Versuchen wir, die Personalität der wissenschaftshistorischen Notiz genauer zu fassen, können wir uns zuerst mit den Kategorien klassischer Grammatik helfen:30 Handlungsbeschreibung der Sorte ›Descartes erinnert an M&tius‹, ›Helmholtz lobt Fraunhofer‹ oder ›Einstein hebt Maxwells Ansatz hervor‹ sind jeweils eine Sache von wenigstens vier personae, von denen man die eine als qua loqueretur und die andere als de qua (prima) und eine weitere – im offenen oder stillschweigenden Vergleich de qua (secunda, evtl. muta) einstufen würde. Insofern die Umgebung der Äußerung ein wissenschaftlicher Text und nicht etwa ein spontaner Selbstausdruck ist, haben wir implizit noch eine weitere personale Instanz (ad quam), nämlich den akademischen Leser. Betrachten wir zuerst das Moment der qua loqueretur. Wie andere Handlungen verdanken sich sprachliche Handlungen einem Akteur, jemandem, der dieses oder jenes tut. Mit den Beispielen dafür haben wir es uns in dieser Hinsicht bislang einfach gemacht und den Träger der Handlung mit einem Eigennamen belegt, m.a.W.: Wir haben Descartes und Helmholtz agieren lassen. Indem außer Frage bleibt, dass da ein die Handlung tragendes Individuum korrekt erfasst ist, bedeutet dies nicht, dass dieses Individuum in jeder beliebigen Hinsicht sinnvoll als Akteur aufgefasst werden kann. Würden wir Descartes durchaus korrekt bei29 Albert Einstein, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, Annalen der Physik 17 (1905), S. 891–921, S. 891. 30 Vgl. Varro, De Lingua Latina, VIII, 20. Im Unterschied zum hier Ausgeführten setzt Varro die Explikation des Femininums persona mit maskulinen Pronomina fort.
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spielsweise als den ›Soldaten Descartes‹ bezeichnen und diesem die Handlung ›erwähnte M&tius! Erfindung‹ zuschreiben, machte das die Aussage nicht falsch, aber sie erschiene sachlich missglückt. Hier kollidiert die Charakterisierung ›Soldat‹ mit der stillen Voraussetzung, nämlich der, dass es der Wissenschaftler, genauer gesagt, der Physiker Descartes ist, der M&tius wegen gelungener Taten lobend erwähnt. Für Literaturwissenschaftler und Literaten sind solche Unterscheidungen zwischen der jeweils eingenommenen Rolle (der persona im weiteren antiken Sinne31) und dem dieses bestimmte Rollenverständnis ergreifenden Individuum Selbstverständlichkeiten. Nicht einmal der Ich-Erzähler der Autobiographie gilt unter Philologen als ohne weiteres mit dem Autor identisch. Das literarische Subjekt ist sozusagen eine in vielen Hinsichten, etwa intentional, selbstständige Person, die zwar ohne den realen Autor nicht existierte, aber durchaus stark von ihm abweichende Züge haben kann.32 Unabhängig von der poetologischen Diskussion hat sich Wissenschaftshistorie bestimmten Typs dem Thema genähert und den Begriff der ›wissenschaftlichen Person‹ entfaltet.33 Angeregt wurde dieser Ansatz seitens der Ethnologie, speziell durch die Überlegungen von Marcel Mauss. Für ihn stellte sich die Personalität innerhalb einer ethnischen Gruppe als Präfiguration (›le r%le exact‹) mittels derjenigen Epitheta dar, die der Clan an ein Individuum vergeben hat,34 ganz analog dazu wie Descartes innerhalb seiner Forschergemeinschaft eben nicht schlichtweg als Descartes, noch weniger als Soldat Descartes, sondern zuvorderst als pionierhafter Savant im Aufklärungssinne wahrgenommen wird.35 Die erwähnten wissenschaftshistorischen Ansätze haben sich als ›Foucaultismen‹ ohne philosophische Notwendigkeit darauf festgelegt, dass die sich im geschichtlichen Verlauf verändernden Weisen, ein Wissenschaftler bzw. Fachwissenschaftler zu sein, es zugleich mit sich bringen, dass wissenschaftliche Resultate nie etwas anderes sein können als Töchter der Zeit. Objektivität ist demgemäß eine zeitabhängige persönliche Haltung, aber nichts, was Befunden über die jeweiligen geschichtlichen Kontexte hinweg gemeinsam wäre. Ohne dies hier weiter ausführen zu können, mag erwähnt sein, dass der in der Wissenschaftshistorie populäre Relativismus auf große Schwierigkeiten stößt, wenn er die Robustheit ungezählter empirischer Feststellungen bzw. den Fortschritt im Umgang mit ihnen erklären soll. Ein modernes Elektronenmiskroskop wird bei der Darstel31 Manfred Fuhrmann, »Persona, ein römischer Rollenbegriff«, in: Poetik und Hermeneutik VIII, Identität, hg. v. O. Marquard u. K. Stierle, München 1979, S. 83–106. 32 Charpa, Ulrich, »Das poetische Ich – Persona per quam«, Poetica 17/1985, 149–169. 33 In diesem Sinne Lorraine Daston u. Peter Galison, Objectivity, Brooklyn 2007; S. auch die von L. Daston und H. O. Sibum herausgegebene Sammlung von Arbeiten in Science in Context 16, 1–2 (2003). 34 Marcel Mauss, Une cat&gorie de l!esprit humain: la notion de personne celle de ›moi‹, Journal of the Royal Anthropological Institute 58 (1938). 35 Vgl. Gaston Milhaud, Savant Descartes, Paris 1921.
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lung einer Zellteilung – aller technischen und darstellerischen Andersheit zum Trotz – durchaus in wesentlichen Zügen stützen, was gute Mikroskopiker vor einem Jahrhundert mit einem Linsensystem festgestellt haben. Zellkerne verschwinden nicht, weil und wenn wir sie mit den Gerätschaften unserer Tage weitaus genauer bzw. in verdeutlichender Bildgebung erfassen können. Allgemein wird die traditionelle Vorstellung des Wissenserwerbs in vermeintlich kritischer Einstellung vorschnell aus der Hand gegeben.36 Und dies betrifft auch unser theoretisches Wissen. Es ist einerseits trivial, andererseits im Blick auf gängige Vermischungen wohl nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die geltungsmäßige Problematisierung einer theoretischen Konzeption nicht bedeutet, dass das über eine Theorie und ihre Anwendung erworbene Wissen keinen Bestand hätte. Natürlich kann sich jemand unserer Tage solides Wissen über den Almagest erarbeiten, ohne ein gläubiger Geozentriker zu werden. Neben der Personalität des mitteilenden Subjektes steht als zweite persona diejenige de qua, die sich mittels der Namensnennung in der historischen Bezugnahme zeigt. Bezogen wird sich auf die Arbeit bestimmter Akteure wie beispielsweise diejenige M&tius!. Bei längeren Texten entsteht – wie etwa in Helmholtz! Bericht Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens – im Zuge der Lektüre das Bild eines Kollegiums aus älteren und aktuellen Kollegen. Sie werden präsentiert als Vorgänger oder aktuelle Mitarbeiter. Vielfach charakterisiert Helmholtz ihre Fähigkeiten und Vorgehensweisen: »Andere der hierher gehörenden Erscheinungen sind durch Zufall und dann meist auch nur von in dieser Beziehung begabten Individuen, deren Aufmerksamkeit dafür mehr als bei anderen geschärft war, entdeckt worden. Unter diesen Beobachtern sind besonders Goethe, Purkinje und Johannes Müller zu nennen.«37 Eine wissenschaftliche Person zu sein, bedeutet stets auch die Einbettung in eine Gemeinschaft von Fachkollegen, wobei ältere Verhältnisse die Gemeinsamkeit in der Vertretung bzw. Kultivierung eines tradierten Bestandes vorsehen, wohingegen um die Wende zum 19. Jahrhundert zunehmend auf die Rolle des Wissenschaftlers innerhalb einer Dynamik abgehoben wird.38 Die wissenschaftliche Person wird zum Teil einer an der Forscherreputation ausgerichteten und dank des individuellen Beitrages ›klüger‹ werdenden Kompetenzgemeinschaft, wobei die Reputation wiederum auf ein durch Neues, durch Fortschritt, verdientes Charisma hinaus-
36 S. dagegen Rainer Enskat, Wahrheit und Entdeckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte, Frankfurt 1986; ders., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005; Alvin I. Goldman, Knowledge in a Social World, Oxford 1999. 37 Helmholtz, »Ueber das Ziel und die Fortschritte«, S. 482. 38 Zum Hintergrund, der Erschütterung der klassischen Mechanik, s. Helmut Pulte, Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur Mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann, Darmstadt 2005, Kap.VI.
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läuft.39 Der von Euler und Maupertuis hoch geschätzte aufklärerische Buntschriftsteller von Justi hat diesen Vorgang als Marktgeschehen charakterisiert: »Man muss aber wissen, dass die gelehrte Republik eine Art Münze schlagen läßt, welche der Ruhm genannt wird. Nach der Maaße wie die Waare tüchtig ist, hat man viel Geld zu gewarten. […] Man öffnet seinen gelehrten Laden und leget die Waare der Gelehrsamkeit darinnen wohl ausgeputzt, und von der besten Seite öffentlich aus. […] ist der Vorübergehende selbst ein Kaufmann, und die Waare hat ihm besonders wohlgefallen, so läßt er sich wohl zuweilen auf den anderen Kaufmann eine besondre Münze prägen und leget sie unter seinen eigenen Waaren zu jedermanns Betrachtung mit aus. Diese Münze heißt in der gelehrten Sprache: Einen anderen mit viel Ruhm in seinen Schriften erwähnen.«40
Es ist wichtig auf die genaue Ausdrucksweise zu achten. Was der Käufer bzw. Fachkollege erwirbt, ist nicht eine Theorie oder eine empirische Evidenz, sondern Gelehrsamkeit, d. h. das Wissen um derlei. Es bildet sich eine Kette der Forschertugend. Der Einwand, der solcherart vollzogene Fortschritt könne doch durchaus nur scheinbar neu, tatsächlich verhandlungs- bzw. machtabhängig oder sonstwie auf den Weg gebracht worden sein, berührt den Fortschrittshabitus als Teilnehmereinstellung nicht. Nicht zufällig haben auch spätere Wissenschaftsbeobachter auf den Marktcharakter der akademischen Szene und damit auf den Anreiz zur Innovation hingewiesen.41 Der Markt regelt nicht unsichtbar, sondern gerade dank der Sichtbarkeit des Neugewonnenen. Hier liegt auf der Inhaltsebene die Bedeutung der Möglichkeit von Indem-Verknüpfungen. Wir werden im nächsten Schritt sehen, wie die Verbindung der wissenschaftlichen Person mit einem Fortschrittsanspruch uns zu einem angemessenen Verständnis von Handlungen in der Art der expliziten Anerkennung M&tius! oder Fraunhofers verhilft. Wem gegenüber wird ein Fortschrittsanspruch erhoben? Mit dieser Frage sind wir bei der dritten beteiligten persona angelangt, derjenigen ad quam, der Leserschaft. Wir sehen leicht, wie sich die drei personae zueinander fügen und wie sich die Besonderheit wissenschaftlicher Kontexte auswirkt. Während ein poetisches Ich, derjenige über den es sich äußert und der Leser in ganz und gar verschiedenen Kontexten beheimatet sein mögen, gehören Forscher vergleichsweise einheitlichen Gruppen, denen der jeweiligen Experten an. M.a.W., der Blick auf die personale Dimension historischer Aussagen des hier diskutierten Typs führt nicht in relativierende Buntheit, sondern zeigt ein gemäß einer fach39 Clarke, Academic Charisma. 40 Johann Heinrich Gottlob von Justi, »Die Beschaffenheit und Verfassung der Republik der Gelehrten«, in: ders., Scherzhafte und Satyrische Schriften, Bd. 2, Berlin 1760, S. 341–374, S. 351. 41 S. etwa Joseph Ben David, The Scientist!s Role in Society: A Comparative Study, New Jersey 1971.
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lichen Fortschrittstendenz ausgerichtetes Ensemble. Aus dem individuellen Gewinn an Wissen und Können wird ein gemeinschaftliches. Und in diesen Verbund gehören zur Fortschrittsmarkierung auch Kontrastfiguren, also diejenigen, die wie »unser grosser Dichter vergebens gearbeitet«42 haben, oder schlicht solche, die gar nicht einmal ausdrückliche Erwähnung verdienen, es sei denn der Erbauung oder Unterhaltung wegen.43
5. Rationalität Wissenschaftshistorische Notizen positionieren den jeweiligen Autor. Sie können plausibel machen, warum er dieses tut und jenes lässt – sei es im Blick auf Arbeitspraktiken, aber auch theoretische Präferenzen, empirische Daten, metaphysische und methodologische Rahmengebungen, Argumentationsweisen u. a.m. Eine erste Annäherung an die Eigenart solcher historischer Anbindungen wäre die, dass wir es mit einem Zwecksetzung-Mittel-Verbund zu tun haben: Eine Person A knüpft an etwa eine früher entstandene Forschungspraxis an, weil sie ihr als geeignetes Mittel zum Zweck Z erscheint. Der Fortschrittsanspruch und die früher herausgestellte Kontrastierung zeigen sich im wertenden Attribut ›geeignet‹, etwas deutlicher noch in Formulierungen wie ›das beste (oder wenigstens ein gutes) Mittel‹.44 Nun würden wir auch den tüchtigsten Forschern nicht zuschreiben, definitiv alle grundsätzlich verfügbaren Optionen, d. h. vor allem die Kollegenbeiträge, in einer bestimmten Situation der Forschung überblickt und sich optimal entschieden zu haben. Dieter Schmidmaier verdanken wir in diesem Zusammenhang den bemerkenswerten Hinweis, dass die aufklärerische Bibliothek sehr viel stärker an den Erfordernissen und eingeschränkten Auswahlmöglichkeiten des Lesers orientiert gewesen sei als ihre Nachfolger.45 Die Voraussetzungen einer Entscheidung für eine bestimmte Anknüpfung dürfte sich aus der Vertrautheit mit den Arbeiten der auf diesem Feld als führend Angesehenen ergeben, soweit sie in den gängigen akademischen Publikationen und in den vertrauten Kultursprachen zugänglich waren. Die Nennung spiegelt die Relevanz für die Arbeit der jeweils Späteren. M&tius! Teleskop und Fraunhofers Messungen haben eine im Vergleich zu anderen Beiträgen herausragende Funktionalität im Blick auf die Arbeit der darauf Verweisenden. Die Vorgaben sind nicht notwendig die besten aller ein42 Helmholtz, »Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens«, S. 501. 43 S. Jean Sylvain Bailly, Lettre sur l!Alantide […], Paris 1779, S. VII; zit. in Engelhardt, Historisches Bewußtsein, S. 100. 44 Vage Attribute wie ›gut‹ oder ›geeignet‹ sind logisch gesehen komparativ und relativ. 45 Dieter Schmidmaier, Die Entstehung der bürgerlichen Bibliothekswissenschaft. Versuch einer Würdigung aus der Literatur von 1600–1760, Freiberg 1974.
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schlägigen Mittel; sie sind lediglich taugliche bzw. die in der Konkurrenz zu einigen anderen Optionen überlegen erscheinenden. Idealisierende Konzeptionen der Vernunft, wonach die Rationalität einer Entscheidung darauf gründet, dass jemand sämtliche Alternativen im Blick auf eine Mittelwahl geprüft habe, verfehlen nicht nur unsere alltäglichen Kalkulationen, sondern auch die Forschungspraxis. Der in dieser Hinsicht passende Begriff ist jener der eingeschränkten Rationalität.46 Eingeschränkte Rationalität ist das optimale Ergebnis der vertretbaren Erwägung einer Person oder Personengruppe mit begrenzten kognitiven Möglichkeiten, Resourcen u. ä.m. Das liest sich nicht gerade philosophisch vielversprechend. Aber ein einfaches Beispiel mag die anfängliche Intuition schärfen: Man stelle sich einen verirrten Wanderer vor, der an einer Wegkreuzung im Wald auf eine veraltete Tafelkarte stößt. Womöglich ist der beste aus dem Wald führende Pfad – weil neu – noch nicht eingezeichnet, aber es gibt immerhin Wegangaben und damit eine Chance, den Irrungen ein Ende zu machen. Wir hielten deshalb jemandem für vernünftig, der sich an der alten Karte orientierte, und für unvernünftig, wenn er planlos weiterginge. »[…] rational behavior in the real world is as much determined by the ›inner environment‹ of the people!s minds, both their memory contents and their processes, as by the ›outer environment‹ of the world on which they act, and which acts on them«47. Begeben wir uns unter diesem Aspekt zu Descartes Anknüpfung an M&tius zurück, wird schnell klar, dass ein wichtiger Punkt zwar in der Begrenztheit des Überblicks liegt, ein weiterer aber darin, dass diese Begrenztheit möglicherweise ihre eigene Funktionalität hat. Es hätte Descartes wohl kaum einen Vorteil gebracht, wenn er angenommen hätte, dass nicht der jüngere Bruder seines Hochschullehrers Adrian M&tius, sondern jemand anderes die Pioniertat vollbracht hätte. Rückbezogen auf die Situation des Wanderers: Womöglich wüsste er besser Bescheid als mittels einer veralteten Karte, wenn er den nächsten hohen Berg erstiege, um einen überlegenen Aussichtspunkt zu haben. Die Frage ist nur, in welchem Verhältnis dieser Aufwand zur Verbesserung der kognitiven Lage stünde, ob nicht womöglich nach der erforderlichen Zeitdauer die Sicht weniger klar ist usw. Anders ausgedrückt, der prima vista negativ aufgefassten Einschränkung der Rationalität einer Zweck-Mittel-Erwägung kann durchaus eine vernünftige Entscheidung, etwa eine Einschätzung der Effizienz, der Geschwindigkeit des Informationsgewinns, der Verlässlichkeit, der Fruchtbarkeit, der Re-
46 Ronald N. Giere, Explaining Science. A Cognitive Approach, Chicago 1988, S. 7; Herbert A. Simon, Models of Man, New York 1957, ders., »Bounded Rationality in Social Science: Today and Tomorrow«, Mind and Society 1 (2000), S. 25–39; Gerd Gigerenzer u. a., Simple Heuristics That Make Us Smart, Oxford 1999; ders. u. Reinhard Selten, Bounded Rationality, Cambridge/Mass. 2002. 47 Simon, »Bounded Rationality «, S. 25.
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levanz hinsichtlich bestimmter Vorgehensweisen vorauslaufen, was jeweils wiederum genauer zu untersuchen wäre.48 Soweit derlei Standards guter Praxis mit stabilen Dispositionen korrespondieren, führt uns dieses Thema zurück in die Tugendvorstellung individueller und kollektiver Befähigungen. Manches davon mag erworbenes Wissen sein, anderes Talent, wiederum anderes besteht aus erworbenen Routinen des Beurteilens, der verlässlichen Beobachtung usw. Zur Rationalität des Forschens gehört, dass solche Präferenzen nicht mehr nach eindeutig bestimmenden Regeln ergriffen werden, sondern diese Regeln selbst zu balancieren sind, wobei professionelle Erfahrung zu entscheiden hilft. Z. B. bedeutet der Rückgriff auf Fraunhofer die sinnvolle Anlehnung an einen über Jahrzehnte als sorgsam arbeitend ausgewiesenen Kollegen, aber dies besagt nicht, dass in einer anderen Situation aus einem guten Grund vielleicht der noch ungenügend entfaltete originelle Einfall eines Nachwuchskollegen Beachtung verdienen könnte. Fruchtbarkeit und Verlässlichkeit sind eben zuweilen konkurrierende Standards, und der Umgang mit diesem Sachverhalt ist eine Sache der entwickelten Forschertugend. Philosophiehistorisch auf der Hand hier liegt die Verbindung zum Begriff der Urteilskraft, auf dessen wissenschaftsphilosophischen Nutzen hier nur verwiesen werden kann.49 Im gewählten engeren Themenrahmen entfaltet sich im Blick auf die wissenschaftshistorische Notiz der Zusammenhang von Kompetenz, kontrastierenden Handlungen, eingeschränkter Rationalität und Fortschrittsanspruch – eine Sachlage, die Helmholtz mit einfachen Worten so gefasst hat: »[…] das schon Geleistete mag die Erreichung weiterer Fortschritte verbürgen.«50 Damit ist ein großer Vorteil gegenüber den bekannten Versuchen gegeben, den Fortschrittsgedanken mit reversiblen Zu48 Zu den oben nicht weiter ausgeführten Standards guter Praxis s. Alvin I. Goodman, »Foundations of Social Epistemics« in: ders., Liaisons. S. 179–208, 195, und Paul Thagard, »Collaborative Knowledge«, Nous, 31 (1997); S. 242–261; Verf. u. Ute Deichmann, U. (2004). »Vertrauensvorschuss und wissenschaftliches Fehlverhalten – Eine reliabilistische Modellierung der Fälle Abderhalden, Goldschmidt, Moewus und WaldschmidtLeitz«, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), S. 187–204. 49 S. außer Enskat, Wahrheit und Entdeckung, u. ders., Authentisches Wissen, die Beiträge in Erfahrung und Urteilskraft, hg. v. R. Enskat, Würzburg 2000. Die Vorstellung des ›Balancierens‹ ist wesentlich beeinflusst von Gerd Buchdahl, etwa »History of Science and Criteria of Choice«, Minnesota Studies in the Philosophy of Science 5/1970, S. 204–30; zur Verknüpfung seines Ansatzes mit klassischen philosophischen Stellungnahmen s. das Hauptwerk Metaphysics and Philosophy of Science, Oxford 1969; zum Zusammenhang mit den Wissenschaftler-Philosophen des 19. Jahrhunderts s. G. Buchdahl, »Leitende Prinzipien und Induktion: Matthias Schleiden und die Methodologie der Botanik«, im Anhang zu Schleiden, Schriften, S. 305–45; kritisch dazu U. Charpa, »Darwin, Schleiden,Whewell, and the ›London Doctors‹: Evolutionism and Microscopical Research«, Journal for General Philosophy of Science 41/2010, S. 61–84. 50 Helmholtz, »Ueber das Ziel und die Fortschritte«, S. 602.
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ständen des Glaubens an Theorien zu verknüpfen. Wissenschaftlicher Fortschritt steht für die jeweils im Vergleich überlegene Praxis, erklärbar vorrangig aus den Vermögen der Akteure. Geleistet bleibt auch, was womöglich nicht mehr aktuell ist. Wir verfügen im günstigen Fall über Wissen und Können auch in Bezug auf ältere Hypothesen, Daten, Praktiken u. a.m. Das von einem forschenden Individuum inhaltlich und/oder methodisch Geleistete – soweit diesem noch eine aktuelle Funktion eignet – wird in dem oben beschriebenen Marktprozess von anderen erworben und geht damit in das Leistungspotential der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein. Es liegt in der Tendenz der Aufklärung, dass Forscher und Forschergemeinschaft nur vorwegnehmen, was Allgemeingut werden soll. In der Encyclop#die heißt es dazu: »Mais la physique exp&rimentale cultiv&e & le tableau de la nature pr&sent& par des hommes d!une trempe forte & rare pourront donner " l!esprit humain un spectacle qui &tendra ses vues, & fera na'tre un nouvel ordre de choses.«51
Nun ist diese szientistische Ansage zu unbesorgt, insofern Wissenschaft ihre Grundlagen und Orientierungen nicht selbst bestimmen kann. Und die Verhältnissetzung von wissenschaftlichem und menschheitlichem Wandel ist eine Aufgabe, die sich nicht in der einsinnigen Anlehnung an aufklärerische Vorstellungen erledigt. Bezogen auf das engere Thema war – in der Anbindung an die Aufklärung und ihre in der Wissenschaft fortwirkende Verschränkung von Wissen, Können, Leistung, Rationalität und Personalität – lediglich festzustellen, dass die aktuelle Suche nach dem ›dritten Weg‹ im Blick auf gegensätzliche Deutungen der Wissenschaftsgeschichte sich zwanglos auf eine bemerkenswerte Vorgeschichte stützen kann.
51 »L!homme«, in: Jean Le Rond d!Alembert u. a., Encyclop&die, ou Dictionnaire […], Bd. XVII, Paris S. 646–687, S. 680. Zur damaligen Begeisterung speziell über Experimentalphysik s. Andreas Kleinert, »Mathematik und anorganische Naturwissenschaften«, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. R. Vierhaus, Göttingen 1985, S. 218–248, bes. S. 245 ff. Zur wie selbstverständlichen Verknüpfung mit der Idee des politischen Progresses s. etwa von Justi: »Es wird wohl niemand läugnen, daß die Vollkommenheit der Wissenschaften ihren Einfluß in die Glückseligkeit eines Staates habe«, aus »Untersuchung, ob eine monarchische Regierungsform dem Wachstume der Wissenschaften zuträglich sey«, in: Justi, Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. Berlin 1765, S. 166–187, S. 166.
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Aufklärung durch die Klimawissenschaften. Worüber und wozu? Jens Gillessen
1. Aufklärung über den Klimawandel Seit dem Ende der Europäischen Aufklärung vor über 200 Jahren sind ihre Ideen zwar in den Sog immer neuer Wellen von Kritik geraten. Doch zeichnen die Schriften ihrer Zentralgestalten auch in der Gegenwart dem Nachdenken über Autoritäten auf allen Gebieten des Lebens seine Bahnen vor. Diese ständige Wiederkehr der Aufklärung (vgl. jüngst Enskat 2008) hat vielfältige Ursachen. Zum einen gründet sie in der anhaltenden Plausibilität von Kants berühmter Forderung, selbst zu denken (vgl. Kant, Ak. Bd. VIII, S. 33–42); also den »obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst« zu suchen. Aufgeklärte Personen zeichnen sich nach Kant dadurch aus, dass sie sich bei jeder Meinung, die sie akzeptieren, selbst fragen, ob sie es »wohl tunlich finde[n], […] die Regel«, an der sie sich dabei orientieren, »zum allgemeinen Grundsatze [ihres] Vernunftgebrauchs zu machen« (vgl. Kant, Ak. Bd. VIII, S. 146 f.). Damit ist die wohl einflussreichste Idee der Aufklärung überhaupt aufgerufen: die der Autonomie. Darüber hinaus erweist sich der systematische Begriff ›Aufklärung‹ (vgl. Enskat 2008, 33–37) als nützlich bei der Analyse einer Grundkonstellation der technisierten Moderne, die sich einstellt, wenn demokratisch verfasste Gemeinwesen die Institution der Wissenschaft in Anspruch nehmen, um sich gegen Katastrophen aller Arten zu wappnen und ihre Geschicke in gedeihliche Bahnen zu lenken. Der vorliegende Beitrag illustriert die Nützlichkeit des systematischen Aufklärungsbegriffs anhand eines politisch-praktischen Problems an der Schnittstelle von Klimawissenschaften, Politik und Öffentlichkeit. Dessen Grundzüge werden rasch deutlich, wenn man den gegenwärtigen akademischen Diskurs über die Problematik des Klimawandels in den Blick nimmt. Ein Beispiel kann dazu dienen, den gemeinten Diskurs zu kennzeichnen. Für ›Lernende jeden Alters‹ (so das Titelblatt) hat das United States Global Change Research Program im Jahr 2009 die Handreichung »Climate Literacy. The Essential Principles of Climate Science« im Internet verfügbar gemacht (USGCRP 2009). Auf 18 Druckseiten präsentiert die visuell ansprechende Broschüre Informationen, die aus Sicht der Herausgeber wichtig sind, um das Erdklima, die Auswirkungen des Klimawandels sowie einschlägige Problemlösungen zu verstehen. Die Handreichung richtet sich primär an Pädagogen allgemeinbildender Schulen in den USA. In ihren Darlegungen spiegelt sich das Selbstverständnis einer regelrechten Bewegung zur Klima-Alphabetisierung, in der Klimawissenschaftler, Klimaethiker, Sozialwissenschaftler und Kommunikationsexperten seit
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mehr als 20 Jahren praktisch kooperieren und sich über kollektive Handlungsmöglichkeiten verständigen (vgl. Shwom et al. 2017, 377). Die Broschüre ist aufschlussreich, weil sie die Ziele von climate literacy ausführlich erläutert. Beabsichtigt ist eine enorm breitenwirksame Form der Aufklärung der Öffentlichkeit, wie sie nur unter Mithilfe des Schulwesens einer Gesellschaft geleistet werden kann. So knüpft ja der titelgebende Begriff »climate literacy« an nichts geringeres als ein wesentliches Ziel der Europäischen Aufklärung an, nämlich die Alphabetisierung immer weiterer Bevölkerungsschichten. Climate (science) literacy wird dabei definiert als das ›Verständnis des eigenen Einflusses auf das Klima sowie der Wirkungen des Klimas auf die je eigene Person sowie die Gesellschaft‹. Die ›klima-alphabetisierte Person‹ soll die ›essentiellen Prinzipien des Klimasystems der Erde verstehen; wissen, wie wissenschaftlich glaubwürdige Informationen über das Klima einzuschätzen sind; sinnvolle Redebeiträge über den Klimawandel beisteuern können, und informierte und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können hinsichtlich klimarelevanter Handlungen‹ (USGCRP 2009, 4, Übers. J.G.). Wichtig erscheinen den Herausgebern diese Kompetenzen, weil die Gesellschaft aus ihrer Sicht ›Bürger braucht, die das Klimasystem verstehen und wissen, wie sie dieses Verständnis in ihrer Karriere und ihren Engagements als aktive Mitglieder ihrer jeweiligen Gemeinschaft anwenden können‹. Das Verständnis des Klimawandels soll ›alle Menschen‹ insbesondere befähigen, Nachrichtenbeiträge einzuschätzen und Alltagskonversationen als informierte Bürger*innen zu bestreiten (ebd.). Damit ist eine doppelte Zielstellung formuliert. Erstens geht es darum, Individuen bessere Entscheidungen in ihren jeweiligen Lebens- und Arbeitszusammenhängen zu ermöglichen; als Konsumenten, Unternehmer oder in anderen beruflichen Rollen. Zweitens liegt eine genuin politische Komponente auf der Hand. Offenbar kommt es aus Sicht der Herausgeber in einer Demokratie vor allem auch darauf an, dass möglichst viele Individuen in ihren politischen Rollen – etwa als gewählte Abgeordnete, potentielle Wähler, Parteimitglieder oder schlicht als Teilnehmer politischer Alltagsdiskurse – gute Entscheidungen treffen. Bedeutsam erscheint die zweite eher als die erste Komponente. Dass man den Klimawandel effektiv bekämpfen kann, indem man hinreichend viele Konsumenten und Unternehmer zur je individuellen Einsicht in die praktischen und ethischen Zusammenhänge führt und so klimaschonende Verhaltensänderungen im größeren Maßstab herbeiführt, ist in der klimaethischen Debatte zwar ebenfalls vertreten worden (vgl. z. B. Jamieson 2010). Eine noch rechtzeitige Lösung des Problems wird man sich aber heute vor allem von multilateralen Abkommen, gesetzgeberischen Maßnahmen und kollektiv implementierten Innovationen erhoffen müssen, die den Ausstoß von Treibhausgasen limitieren (z. B. direkte staatliche Subventionierung alternativer Energieerzeugung, cap and trade, Kohlenstoffsteuern o. ä.).1 Allerdings betonen die Verfechter kollektiv-institutionel1 Vgl. Broome 2012. Auch Birnbacher 2016 verortet die »Hauptverantwortung« für
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Aufklärung durch die Klimawissenschaften. Worüber und wozu?
ler Lösungen, dass diese nur ins Werk gesetzt werden können, wenn klimawissenschaftliche Aufklärungsbemühungen die Menschen auch in ihrer Rolle als Bürger adressieren (vgl. z. B. Singer 2013, 417; Birnbacher 2016, 138 f., 147). Schließlich haben in der Demokratie langfristig angelegte Agenden nur dann Aussicht auf Verwirklichung, wenn sie von breiten Wählerschichten zumindest akzeptiert, wenn nicht gar eingefordert werden; zumal wenn sie hohe staatliche Investitionen erforderlich machen, mit Umverteilungseffekten einhergehen oder den weniger wohlhabenden Bürger*innen Einschränkungen ihres Lebensstils abverlangen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich deshalb auf die politische Komponente von Klima-Aufklärung. Er fragt nach einer normativen Idee, die geeignet wäre, Versuche einer klimabezogenen Aufklärung der Bürger anzuleiten; d.i. nach einem adäquaten Aufklärungs-Modell (vgl. Enskat 2008, 15 f.). Zwei szientistische Modelle werden herausgearbeitet und bewertet. Im letzten Abschnitt wird das aus dem Vergleich als überlegen hervorgehende Modell dann mit einem dritten Aufklärungsmodell verglichen: dem Modell der Aufklärung der Urteilskraft.
2. Das direkt-szientistische Aufklärungsmodell In der Broschüre »Climate Literacy« spiegelt sich ein Aufklärungs-Modell, das man als direkten Szientismus2 klassifizieren kann: D1 Die Bürger*innen demokratischer Staaten sind verpflichtet, bevor sie ihren politischen Einfluss ausüben, sich mit Hilfe hinreichend verlässlicher Informationsquellen selbst ein wohlbegründetes Urteil darüber zu bilden, welches die gerade objektiv vordringlichsten Elemente einer vernünftigen politischen Agenda sind. D2 Die Klimawissenschaftler*innen sind verpflichtet, die Bürger*innen so zu informieren, dass diese sich selbst ein wohlbegründetes Urteil im Sinne von D1 bilden können.3 Dass diese Normenbehauptungen ein Aufklärungsmodell andeuten, ergibt sich aus zwei Überlegungen. Zum einen hat die Befähigung der Menschen, in den wichtigsten Lebensfragen selbst zu urteilen, seit Kants Aufklärungsschrift so den Klimawandel primär bei den »Akteuren der Weltpolitik« (ebd., 133). SinnottArmstrong 2010 argumentiert gar, den individuellen Bürgern sei keine individuelle Verantwortung für den Klimawandel nachweisbar. 2 Unter ›Szientismus‹ verstehe ich in Anlehnung an Enskat (2008, 17 f., 99, 357–67) Konzeptionen, die der Wissenschaft in Aufklärungsprojekten eine zentrale Rolle zuweisen. 3 Zu D2 vgl. Coady/Corry 2013, 106.
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etwas wie den Dreh- und Angelpunkt aufklärerischer Bemühungen gebildet; und D1/D2 formulieren ja gar nichts anderes als Gebote epistemischer Autonomie. Zum anderen legt sich insofern ganz zwanglos die Verwendung des systematischen Begriffs der Aufklärung nahe, als in dem angedeuteten Modell die Wissenschaften die Menschen über für sie wichtige Wahrheiten in ihrem jeweiligen Objektbereich aufzuklären haben. Die Menschen wirken dabei an ihrer eigenen Aufklärung mit, indem sie, in Auseinandersetzung mit von den Wissenschaften präsentierten Informationen, sich ein (nach Maßgabe ihrer Ressourcen genügend) gerechtfertigtes Urteil erarbeiten. An dem skizzierten Modell ließen sich gewiss zahllose Verfeinerungen vornehmen. Beispielsweise blendet es Verpflichtungen der (und gegenüber den) Medien gänzlich aus. Das könnte misslich erscheinen, weil im Klimadiskurs gerade die Medien bevorzugt verantwortlich gemacht werden, wenn die politischen Urteile der Bürger nicht so ausfallen, wie es aus einer wohlinformierten Perspektive nötig erscheint (vgl. z. B. Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 83–87; Coady/ Corry 2013, 106.). So mögen verzerrend-ausgleichende Formen der Berichterstattung (vgl. Boykoff/Boykoff 2004; Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 84) über den Klimawandel in den USA die Bürger, gewollt oder ungewollt, in die Irre geführt haben. In der Tat fielen den Medien in einem voll ausgearbeiteten Modell wichtige Funktionen zu. Sie können hier aber ausgeblendet bleiben. Wie zu sehen sein wird, lassen sich in der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zwei zentrale Hindernisse ausmachen: Übersetzungsprobleme und Vertrauensprobleme. Es steht zu erwarten, dass Hindernisse genau derselben Art sich auch an den Schnittstellen von Wissenschaft und Medien sowie von Medien und Öffentlichkeit einstellen würden, wollte man die Medien als vermittelnde Instanz einbauen. Damit die Bürger ihre politische Rolle in gemeinwohlförderlicher Weise wahrnehmen können, genügt es natürlich nicht, dass sie über relevante wahre Informationen verfügen. Richtige Entscheidungen kommen zustande, wenn wahre Informationen dazu verwendet werden, Zwecke zu realisieren, die es wert sind, verfolgt zu werden, und wenn dabei ethische Normen umfassend respektiert werden. Das direkt-szientistische Modell ist mit dieser Einsicht vollständig kompatibel. Da eine Aufklärung über ethische Normen und Werte, wenn sie denn möglich ist, aber jedenfalls nicht den Klimawissenschaften zufällt, soll auch sie hier ausgeblendet bleiben. Freilich könnte man der Auffassung sein, dass die Bürger vor allem dazu verpflichtet sind, sich hinsichtlich der relevanten Wertfragen ein eigenes Urteil zu erarbeiten; insbesondere ein Urteil bezüglich der normativen Grundlagen klimaökonomischer Kosten-Nutzen-Rechnung. Eine solche Auffassung liegt z. B. John Broomes jüngster Monographie zur Klimaethik zugrunde (Broome 2012). Wie ist der drohende Verlust einer bestimmten Anzahl von Menschenleben zu bewerten? Wie hohe Kosten sind (noch) akzeptabel, um ihren wahrscheinlichen Verlust abzuwenden? Solche Fragen lassen sich offenkundig nur unter Einbeziehung
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genuin normativ-praktischer Reflexion beantworten, wenn überhaupt. Broome versteht seine Monographie denn auch als an eine nicht weiter eingegrenzte Öffentlichkeit gerichtet, der er bei der Reflexion auf von den Ökonomen nicht mehr hinterfragte Wertannahmen Hilfestellungen geben möchte (vgl. Broome 2012, 8 f.). Das zugrundeliegende normative Aufklärungsmodell besagt dann anscheinend, dass die Bürger verpflichtet sind, sich von ethischen Experten so unterrichten zu lassen, dass sie sich hinsichtlich der axiologisch-normativen Grundlagen des Klimaproblems selbst ein wohlbegründetes Urteil bilden können. Indessen demonstriert gerade Broomes Beitrag, dass selbst die meisterlichste Darstellung der ethischen Grundlagen an die Leser ganz erhebliche Anforderungen stellt, was akademische Vorbildung, Zeit- und Aufmerksamkeits-Ressourcen angeht. Obwohl seinem Modell zufolge über ethische statt wissenschaftliche Sachverhalte aufzuklären wäre, stellen sich in der Folge ungefähr dieselben strukturellen Probleme im Verhältnis von aufklärenden und aufzuklärenden Instanzen ein. Deshalb soll von einer gesonderten Besprechung des ›wertaufklärerischen‹ Modells hier ebenfalls abgesehen werden. Es stellt sich als eine Variante des direkten Szientismus dar – jedenfalls wenn man mit einem weiten Wissenschaftsbegriff arbeitet, der die akademisch-philosophische Ethik mit einschließt.
3. Das Klimaproblem als Testfall Die Popularität des direkten Szientismus im Klimadiskurs steht in einer auffälligen Spannung zu der politischen Rolle, die man der Wissenschaft weithin primär zuschreibt. Das ist zweifellos die Rolle der Politikberatung, wie sie durch Jürgen Habermas! »pragmatistisches Modell« umrissen wird (vgl. Enskat 2008, 66 f.; Habermas 1966). Politiker treten diesem Modell zufolge an die Wissenschaft heran in der Hoffnung, mit Hilfe wissenschaftlichen Sachverstands möglichst taugliche Agenden zur Lösung wahrgenommener Probleme entwerfen zu können. Dazu treten beide Seiten in einen wechselseitigen Dialog, in dem die Agenden weder ›dezisionistisch‹ durch die Politiker, noch ›technokratisch‹ durch die Wissenschaft bestimmt werden. Vielmehr nehmen die Problemwahrnehmungen und Handlungsoptionen im Dialog selbst erst allmählich Gestalt an (vgl. Habermas 1966; ders. 1992; Weingart 2003, 89–95). Dieser Beratungsprozess findet zwar vor dem Hintergrund der politischen Öffentlichkeit statt. Auch schließt Habermas! »pragmatistisches Modell« eine direkte »Dauerkommunikation« der Wissenschaft mit der »öffentlichen Meinung« keineswegs aus. Allerdings hat schon Habermas die »Schwierigkeiten der Übersetzung« wissenschaftlicher Informationen in die »Umgangssprache der Praxis« beobachtet und festgestellt, dass sie einer Anwendung des Modells »auf die politische Willensbildung in den modernen Massendemokratien« entgegenstehe (Habermas 1966, 136, 142). In einer an Habermas orientierten Perspektive stünde daher eigentlich zu erwarten, dass das Gespräch der Wissenschaft mit den
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Bürgern sich hauptsächlich vermittelt durch politische Repräsentanten und Amtsträger vollzieht. Denn diese sind ja letzten Endes gezwungen, die politischen Entscheidungen, die sie auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertisen treffen, vor der politischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Hingegen sinnen szientistische Aufklärungsmodelle den Klimawissenschaften (und den Medien) an, auf die Meinungsbildung der Bürger direkt Einfluss zu nehmen. Zwar besteht zwischen dem »pragmatistischen« Modell und dem aufklärerischen Szientismus kein Widerspruch; schon deshalb nicht, weil Habermas eine Beschreibung des Vorfindlichen beansprucht, wohingegen das hier thematische Aufklärungsmodell Normen formuliert. Gleichwohl fragt sich, ob diese Normen eine Aussicht auf Realisierung haben. Habermas! Beschreibung weckt genau daran Zweifel. Nun stehen allerdings einige implizite Voraussetzungen von Habermas! Modell in der Klimapolitik gegenwärtig in Frage. Dass in der Demokratie Wissenschaft und Politik in das Habermas!sche Wechselgespräch eintreten, setzt voraus, dass die politischen Amtsträger das Gespräch genauso suchen wie die Wissenschaft, und dass die Politiker prinzipiell bereit sind, wissenschaftlichen Prognosen der Folgen ihres (Nicht-) Handelns in politischen Entscheidungen das ihnen gebührende Gewicht einzuräumen; und zwar auch dann, wenn sie mit den lebensweltlich geprägten Wahrnehmungen der Politiker konfligieren. Diese ›Wissenschaftsaffinität‹ der Politiker hängt in der Demokratie wiederum strikt davon ab, dass die Bürger in Wahlen solchen Parteien und Kandidaten den Vorzug geben, die der wissenschaftlichen Beratung zumindest nicht erkennbar abgeneigt sind. Sie hängt überdies davon ab, dass die öffentliche Meinung es den Regierenden gestattet, die aus der Beratung resultierenden Agenden zu verfolgen, ohne für die resultierenden Lasten mit Vertrauensentzug bestraft zu werden. Diese Voraussetzungen scheinen gegenwärtig nicht, oder zumindest in abnehmendem Maße, erfüllt. Zum einen sind die Klimawissenschaften längst in den Sog eines übergreifenden Langfristtrends geraten, den der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart als ›Politisierung der Wissenschaft‹ beschrieben hat. Sie stellt sich als Langzeitwirkung genau derjenigen ›Verwissenschaftlichung der Politik‹ ein, die das ›pragmatistische Modell‹ beschreibt (vgl. Weingart 1999, bes. 156 f.). Wenn etwa wissenschaftliche Expertise anzeigt, dass klimaschonende Maßnahmen ergriffen werden müssen, dann geraten die Klimawissenschaften nolens volens in die Lage, von gesellschaftlichen Kräften, zu deren Lasten die jeweiligen Maßnahmen gehen, als politische Gegner behandelt zu werden.4 Und die vielversprechendste Strategie, den Einfluss der Klimawissenschaften zu unterminieren, besteht in demokratischen Gesellschaften nun einmal darin, in der Öffentlichkeit Zweifel am Erkenntnisinteresse der Wissenschaftler zu wecken und die Grenzen zwischen politischem Aktivismus und Wissenschaft möglichst zu verwischen. Zum anderen legen die Anführer der neuen populistischen Bewegungen in den 4 Zum Lobbyismus emissionsintensiver US-Industrien vgl. Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 84.
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USA und Europa gegenüber den Wissenschaften generell Skepsis, mitunter sogar Feindseligkeit an den Tag. Wenn sich, wie etwa gegenwärtig in den USA (vgl. The New York Times 2017), die obersten politischen Entscheidungsträger klimawissenschaftlicher Beratung praktisch verweigern, bleibt den Klimawissenschaften offenbar gar keine andere Möglichkeit mehr, als sich selbst in den öffentlichen Diskurs einzuschalten. Diese Beobachtungen betreffen nicht nur die Klimawissenschaften. Gleichwohl muss man sich fragen, warum gerade sie so extrem betroffen sind von Politisierung und Dialogabbruch. Eine plausible Erklärung setzt bei der räumlichzeitlichen Eigenart des Klimaproblems an, wie sie in der Klimaethik längst mit großer Tiefenschärfe analysiert worden ist (vgl. z.F. Gardiner 2010). In räumlicher Hinsicht wirkt sich die lokale Emission von Treibhausgasen an einer bestimmten Stelle auf der Erde, vermittelt durch die allmähliche, aber unbeschränkte Diffusion in der Atmosphäre, stets zunächst auf die Zusammensetzung der Erdatmosphäre insgesamt aus. Nur mittelbar resultieren aus dieser globalen Veränderung wiederum lokale Effekte wie z. B. regionale Temperaturund Niederschlagsveränderungen oder regionale Häufungen bestimmter Arten von Schwerwetterereignissen; und zwar stets so, dass konkrete lokal beobachtbare Veränderungen nicht auf das lokalisierbare Emissionshandeln irgendwelcher bestimmten Individuen, Organisationen oder Staaten zurückgeführt werden können (vgl. ebd., 88). In aller Regel können selbst Klimawissenschaftler nicht zuverlässig abschätzen, in welchem Ausmaß z. B. ein bestimmter verheerender Zyklon durch menschliches Emissionshandeln verursacht wurde. Kausalen Erklärungen sind einzelne mutmaßliche Folgen anthropogenen Klimawandels nur insofern zugänglich, als menschliches Handeln globale Veränderungen bewirkt hat, durch die Ereignisse der beobachten Art und Schwere weitaus häufiger sind, als sie es ohne menschliches Emissionshandeln gewesen wären. Oft erschließt sich die gemeinsame Ursache einschlägiger Phänomene überhaupt nur aus der statistischen Auswertung von Messreihen, die sich (mit Hilfe von Proxy-Variablen) teils über geradezu geologische Zeiträume erstrecken und in denen atmosphärische und andere Messungen von allen Enden der Erde aggregiert worden sind.5 Hierzu bilden selbst der Anstieg des Meeresspiegels und das Verschwinden von Gletschern keine Ausnahme – auch wenn in der klimaethischen Literatur gelegentlich der gegenteilige Anschein erweckt wird.6 Denn auch Größen wie die lokale Höhe des Meeresspiegels oder die Ausdehnung eines Gletschers sind regelmäßigen Schwankungen unterworfen, so dass sich relevante Veränderungen überhaupt nur als statistische Trends auf der Basis lokaler Langzeitbeobachtun5 Vgl. z. B. Schellnhuber/Rahmstorf 2012, Kap. 1 u. 2, bes. 9–12, 37 f. 6 So z. B. bei Birnbacher 2016, 19 f., der es für »auch ohne klimatheoretische Kenntnisse beobachtbar« hält, dass sich die »klimatischen Verhältnisse in Deutschland […] denen der Mittelmeerländer an[ähneln], die Sommertemperaturen […] Rekordhöhen« erreichen usw.
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gen diagnostizieren lassen. Wie kaum ein anderes vom Menschen verursachtes Phänomen entzieht sich der Klimawandel damit der Feststellbarkeit durch Nichtwissenschaftler, ja sogar durch den Einzelnen überhaupt. Verschärfend tritt im Fall des Klimawandels noch hinzu (in der zeitlichen Dimension), dass die einschlägigen Wirkungen menschlichen Handelns aufgrund der Trägheit des Erdklimas mit so enormem Zeitversatz eintreten, dass von den gravierendsten Konsequenzen gegenwärtigen Wirtschaftens der Großteil aller Voraussicht nach Menschen betreffen wird, die heute noch nicht einmal geboren sind (vgl. Gardiner 2010, 91–94). Die gravierendsten Konsequenzen gegenwärtiger Treibhausgasemissionen sind für den Einzelnen nicht nur lokal kaum dingfest zu machen, sondern schon deshalb gegenwärtig unbeobachtbar, weil sie noch in der Zukunft liegen. Manches an dieser Analyse trifft gewiss auch auf andere Herausforderungen zu. Auch die Kausalzusammenhänge z. B. zwischen bestimmten lokalen Emissionen und lokal auftretendem Smog, zwischen dem Platzen von Preisblasen auf bestimmten Märkten und der eigenen Arbeitslosigkeit usw. usf. erschließen sich in der Regel allenfalls Gemeinschaften einschlägiger wissenschaftlicher Experten. Doch kann man in diesen Fällen immerhin noch von selbst auf Vorgänge aufmerksam werden, die auch vom rationalen Standpunkt eines Laien danach verlangen, auf menschliches Handeln zurückgeführt zu werden (auch wenn die Ermittlung der konkreten Ursachen dann wieder den Expert*innen obliegt). Beim Klimawandel ist jedoch nicht einmal das der Fall: Selbst demjenigen, der z. B. oberhalb eines über die Jahre erkennbar schmaler werdenden Meeresstrandes lebt, wird durch seine lokalen Beobachtungen allein noch kein guter Grund an die Hand gegeben, auf ein menschliches Zutun zu diesen Vorgängen zu schließen. Der Klimawandel zeichnet sich mithin dadurch aus, dass weder er selbst noch seine Wirkungen noch seine Ursachen von irgend jemand entdeckt werden können, ohne die Wissenschaft zur Hilfe zu rufen. Im Hinblick auf die politischen Urteile der Bürger hat dieser Zuschnitt des Problems drei ungünstige Folgen. – Klima-Prognosen nehmen eine dem Laien nur schwer zu vermittelnde logische Form an. Was die prognostischen Modelle der Klimawissenschaftler liefern, sind nicht einfach Aussagen über künftige Ereignisse oder Zustände. Vielmehr liefern sie Wahrscheinlichkeitsverteilungen künftiger Ereignisse oder Zustände in Abhängigkeit von Handlungsoptionen in der Gegenwart (policies). Den unter dem jeweiligen Emissionshandeln prognostizierten Folgen eignet dabei der oben beschriebene, räumlich diffuse Charakter. – Der Zeitversatz der prognostizierten Folgen lässt fragwürdig werden, in welchem Ausmaß Klimaschutzmaßnahmen überhaupt im rationalen Eigeninteresse der gegenwärtigen Generation von Bürgern in den Industriestaaten liegt (von emissionsintensiven Schwellenländern gar nicht zu reden). In der Klimaethik jedenfalls gilt als ausgemacht, dass die Abwendung katastrophaler
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Folgen der gegenwärtigen Generation eine gehörige Portion Altruismus abverlangt (vgl. Gardiner 2010, 92). – Die mangelnde Feststellbarkeit durch klimawissenschaftliche Laien führt dazu, dass trotz weitestgehender Einigkeit der Wissenschaftler über den Klimawandel als Prozess, seine Ursachen (vgl. Oreskes 2004), seine Folgen und bestehende Handlungsoptionen in vielen Ländern teils beträchtliche Bevölkerungsanteile in Klima-Skepsis verharren.7 Das wäre vermutlich auch ohne das epistemische Störfeuer nicht anders, mit dem sogenannte Klimaleugner unter falscher Vorspiegelung wissenschaftlicher Expertise die politische Öffentlichkeit vor allem in den USA belegt haben.8 Zusammengenommen zeigen diese Konsequenzen, dass das Klimaproblem der Autonomie des politischen Urteils der Bürger so abträglich ist wie eine politische Herausforderung es nur sein kann. So erklärt sich, warum dem Klimaproblem im politischen Bewusstsein der Bürger aufs Ganze gesehen gegenüber anderen, ebenfalls als dringend wahrgenommenen Problemen derzeit eine untergeordnete Priorität zukommt. Und dies wiederum erklärt hinlänglich, warum die meisten demokratische Regierungen auf die Warnungen der Klimawissenschaften träge bis renitent reagieren. Dabei muss man den gefangenendilemmatischen Zuschnitt des Problems (vgl. Gardiner 2010, 89) gar nicht besonders betonen, zumal dieser auch solchen Umweltproblemen eignet, die bereits erfolgreich einer Lösung zugeführt worden sind.9 Offenbar ist der Zuschnitt des Klimaproblems der Autonomie des politischen Urteils der Bürger*innen so abträglich wie nur möglich. In ihrer einschlägigen Meinungsbildung sind sie den Aussagen der Wissenschaft noch radikaler ausgeliefert als in der technisierten Moderne ohnehin unumgänglich. Deshalb bildet der Klimadiskurs für wissenschaftsorientierte Aufklärungsmodelle einen Testfall von maximaler Schwierigkeit.
7 In einer Umfrage von Ipsos MORI aus dem Jahr 2016 hielten immer noch weltweit 20 % der Befragten den Klimwandel für nicht anthropogen (vgl. Ipsos MORI 2017, 127), und der Aussage »Even the scientists don!t really know what they are talking about on environmental issues« stimmten weltweit 44 % der Befragten zu (Deutschland: 56 %; ebd., 29). Eine detaillierte globale Verlaufsgeschichte von Einstellungen zum Klimawandel zeichnen Capstick et al. 2015. 8 Vgl. Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 84 f. sowie die Charakteristik der sog. climate denialists bei Hansson 2017. 9 Das gilt z. B. für die Problematik der Ozonschicht: Das Montreal-Protokoll aus dem Jahr 1987 führte zur globalen Abschaffung von FCKWs. Vgl. Birnbacher 2016, 40 f.
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4. Die Inadäquatheit des direkten Szientismus Das direkt-szientistische Modell erweist sich am Testfall der Klimawissenschaften als inadäquat, wenn man es auf zwei implizite Voraussetzungen hin durchdenkt. – Ressourcenintensität. Das direkt-szientistische Modell verlangt den Bürger*innen ab, sich selbst so umfänglich über den Klimawandel zu informieren, dass sie allein aufgrund der erworbenen Kenntnisse in rationaler Weise zu dem Urteil gelangen können, dass der Klimawandel ein vordringliches politisches Problem darstellt. Der Umfang der dazu nötigen Kenntnisse ist jedoch immens; ihre Aneignung verschlingt ein Ausmaß an kognitiven Ressourcen (Zeit, Aufmerksamkeit), über das die Bürger in Anbetracht ihrer beruflichen und privaten Rollen schlicht nicht verfügen. – Vertrauen in die Wissenschaft. Offenkundig können diese Kenntnisse nicht von den Bürgern selbst hervorgebracht werden; sie benötigen ›gute Informanten‹.10 Als Quelle verlässlicher Informationen über den Klimawandel kommen letztlich nur die Klimawissenschaften in Frage. Doch um zu einem wohlbegründeten Urteil zu gelangen, genügt es nicht, sich an und für sich verlässlichen Informationsströmen auszusetzen. Die Bürger müssen die ihnen präsentierten Informationen auch in rationaler Weise als wahr akzeptieren können. Mit anderen Worten, sie müssen dem Zeugnis der Klimawissenschaftler in rationaler Weise Glauben schenken können. Das Modell verlangt den Bürgern mithin ab, den Klimawissenschaften zu vertrauen. Diese beiden Voraussetzungen haben zwei Schwächen des Modells im Gefolge. Aufgrund seiner Ressourcenintensität leidet das Modell unter einem Überschuss an Utopismus. Und indem es überspringt, dass autonome Urteilssubjekte sich eine Meinung über die Vertrauenswürdigkeit von Informationsquellen bilden müssen, wenn sie deren Mitteilungen rational akzeptieren können sollen, lenkt das Modell von einem viel geeigneteren Ansatzpunkt für die Optimierung aufklärerischen Handelns sogar ab. Für beide Behauptungen soll hier kurz argumentiert werden. 4.1. Der Utopismus des direkten Szientismus Würde das direkt-szientistische Modell hinsichtlich seiner Ressourcenintensität ernstgenommen, müssten Wissenschaftler und Bürger ihre chronisch knappen Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen auf ein nicht erreichbares Ziel verwenden, sie also verschwenden. Am Beispiel des Klimawandels lässt sich das besonders eindrücklich plausibel machen. Die Prognosen der Klimawissenschaften beruhen auf komplexen Klimamodellen, die in dem Maß als verlässlich gelten, in dem sie 10 Vgl. Craig 1993; für die Klimawissenschaften: Almassi 2012, 32.
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die klimatischen Entwicklungen der Vergangenheit zu erklären vermögen. Erfolgreiche Erklärungen eines so komplexen Systems wie des Erdklimas sind jedoch grundsätzlich multikausal, quantitativ statt bloß qualitativ, und systematisch mit Unsicherheiten behaftet; sie interpretieren Korrelationen im Hinblick auf zugrundeliegende Kausalitäten, und ziehen kausale Feedback-Schleifen positiver und negativer Art heran. Nur klimawissenschaftliche Expert*innen (i.F. kurz: Experten) sind in der Lage, derart komplexe Erklärungen zustandezubringen. Das Wissen hingegen, das Nicht-Experten (i.F. kurz: Laien) in zumutbarer Zeit erwerben können, reicht nicht hin, um Urteile über künftige klimatische Entwicklungen zu begründen. Um dies zu zeigen, genügt es, nur einmal die quantitative Dimension klimawissenschaftlichen Erklärens und Prognostizierens ins Auge zu fassen. Die Konsequenzen gegenwärtigen Emissionshandelns hängen ganz entscheidend davon ab, wie stark sich eine Erhöhung der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre (z. B. eine Verdopplung der CO2-Konzentration) auf die globale Mitteltemperatur auswirken würde (unter ansonsten konstanten Bedingungen). Niemand kann die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen selbst beurteilen, ohne auch selbst wenigstens annäherungsweise die Maßzahl zu kennen, die diesen Zusammenhang beschreibt, die sog. Klimasensitivität der Erde (vgl. Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 42). Nun findet diese sich in populärwissenschaftlichen Darstellungen gelegentlich durchaus angegeben. Bei den renommierten Klimaforschern Hans Joachim Schellnhuber und Stefan Rahmstorf etwa kann der interessierte Laie in Erfahrung bringen, dass eine Verdopplung der CO2-Konzentration zu einem Temperaturanstieg von 3!1 8C führen würde (auf einem statistischen Signifikanzniveau von 5 %; vgl. ebd., 44). Doch fragt sich natürlich, inwieweit der Laie damit eigentlich zu einem autonomen Urteil über den Klimawandel befähigt wird. Schließlich können nur Klimawissenschaftler diese Information selbst benutzen, um etwa die Wahrscheinlichkeit gravierender Schäden bei anhaltend unverminderten Emissionen zu berechnen; und nur sie können ihre Richtigkeit selbst überprüfen. Freilich präsentieren Schellnhuber/Rahmstorf für den Wertebereich von 3!1 8C wiederum eine Argumentation, die genau diese Eingrenzung der Klimasensitivität plausibel machen soll. Hier erfährt der Leser beispielsweise, dass sich bei direkter Labormessung der Strahlungswirkung von CO2 ein Wert von 1,2 8C ergibt, oder dass bei einer Simulationsstudie des Potsdam-Instituts für Klimaforschung »in den extremsten Modellversionen Klimasensitivitäten von 1,3 8C und 5,5 8C« resultierten (ebd., 42 f.). Dabei erfährt der Leser nicht im Einzelnen, wie diese Ergebnisse zustandegekommen sind. Das wäre in einem Buch, das kurz und verständlich genug ist, um von Laien noch rezipiert werden zu können, auch gar nicht möglich. Das bedeutet dann jedoch, dass sich wohlbegründete Urteile über sinnvolle Klima-Agenden nur auf der Grundlage von Berechnungen fällen lassen, die nur wissenschaftliche Experten vornehmen können. Für die Laien sind ›die Zahlen‹ letztlich nicht nachvollziehbar. Freilich rezipieren
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Laien vereinfachte Darstellungen komplexer Themen manchmal mit dem Ergebnis, dass sie sich selbst ein Sachurteil zuzutrauen. Doch neigen sie dann dazu, ihre eigenen Urteilsfähigkeiten systematisch zu überschätzen (vgl. Scharrer et al. 2017). Ihre Urteile sind dann zwar autonom, aber nicht wohlbegründet. Wohlbegründete und autonome Sachurteile über den Klimawandel wären von den Bürgern nur zu erwarten in einer Gesellschaft aus Klimawissenschaftlern.11 Der direkte Szientismus formuliert somit utopische Normen. Dagegen mag man zwar einwenden, dass ideale Ethiken häufig utopische Normen formulieren (vgl. Valentini 2012, 57 f.). Doch fragt sich, ob Bemühungen, die Bürger mit möglichst vielen und guten Informationen über den Klimawandel zu versorgen auch nur im geringsten sinnvoll sind, wenn die Bürger sich dem Ideal autonomen Urteilens dabei niemals auch nur so weit annähern, dass sie in ihrem politischen Handeln (etwa in Wahlentscheidungen) darin gerechtfertigt wären, sich auf ihr eigenes Sachurteil zu verlassen. Es scheint zumindest so, als ob die Option, sich schlicht auf die Sachurteile der Experten zu verlassen, im Vergleich mit der Alternative, sich selbst ein Sachurteil zu erarbeiten, wenigstens im Fall des Klimawandels chronisch rationaler ist. Gewiss ist die Einsicht, dass eigentlich nur Klimaexperten in Sachen Klimawandel selbst urteilen können, nicht neu (vgl. z. B. Coady/Corry 2013, 17; Almassi 2012, 31 f.). Trotzdem ist der direkte Szientismus als praktisch wirksame Leitvorstellung quicklebendig. Das fällt auf, sobald man darauf achtet, welche Rollen Sachinformationen über den Klimawandel in einschlägigen populärwissenschaftlichen Darstellungen und in der klimaethischen Literatur spielen. Zwei Rollen verdienen besondere Hervorhebung: 1. Vermitteln eines ›Grundverständnisses‹: Weder der USGCRP noch Schellnhuber/Rahmstorf (2012) geben sich damit zufrieden, den Laien die politisch relevanten Schlussfolgerungen der Klimaexperten mitzuteilen. Vielmehr halten sie es für dringlich, die Laien über die Geschichte und die wichtigsten Determinanten des Erdklimas zumindest so weit aufzuklären, dass sie das erwerben, was man gemeinhin ein ›Grundverständnis der Abläufe‹ nennt. Das Scheitern des direkt-szientistischen Modells lässt jedoch zunächst einmal fragwürdig werden, warum das Vermitteln solcher ›Grundverständnisse‹ eigentlich wichtig sein sollte. 2. Ineffektive Argumentationen: Eine Spezialität vor allem klimaethischer Beiträge besteht darin, im Rahmen von Kurzzusammenfassungen ›wesentlicher‹ Resultate der Klimawissenschaften Sachinformationen so zu präsentieren, als ob sie an und für sich schon gute Gründe darstellten, auf einen dringenden politischen Handlungsbedarf zu schließen.
11 Diese Kritik ist im Grunde schon von Rousseau geübt worden, dem dabei das szientistische Aufklärungsmodell der Enzyklopädisten vor Augen stand; vgl. dazu i.E. Enskat 2008, 25 f., 242.
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Ein Beispiel für letzteres liefert etwa Dieter Birnbachers Monographie »Klimaethik. Nach uns die Sintflut?«. Dort argumentiert Birnbacher unter Anführung einschlägiger Sachinformationen im Umfang von ca. sieben Buchseiten für die folgende Konklusion: ZWEI GRAD
Bei einer Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um mehr als 2 8C gegenüber dem vorindustriellen Niveau droht eine Katastrophe.12
Sieht man genauer zu, beruht die Begründung allerdings ausschließlich auf der folgenden Prämisse: Klimamodelle lege es nahe, dass oberhalb der Schwelle von 2 8C »die weiteren Verläufe der klimatischen Parameter unkalkulierbar werden« und irreversible Schäden drohen (Birnbacher 2016, 21 f.). Solche formallogisch nicht zu beanstandenden Argumente leiden unter einer auffallenden dialektischen Schwäche. Um ZWEI GRAD auf der Grundlage dieser Prämisse akzeptieren zu können, muss man offenbar zu klimawissenschaftlichen Modellen schon erhebliches Zutrauen gefasst haben. Wer den Klimawissenschaften vertraut, braucht jedoch von der Wahrheit von ZWEI GRAD nicht argumentativ überzeugt zu werden. Er kann sich von Klimawissenschaftlern dann ebensogut direkt über die Wahrheit von ZWEI GRAD informieren lassen. Das Argument erweist sich somit als eine petitio principii, und die vorgetragene Argumentation als mutmaßlich ineffektiv.
4.2. Das Vertrauensdilemma des direkten Szientismus Mit dem zuletzt gegebenen Beispiel lässt sich eine noch viel weitergehende These motivieren. Offenbar stellt das direkt-szientistische Modell jeden einzelnen Bürger (B) vor ein ganz allgemeines Vertrauens-Dilemma. – Entweder, es mangelt B an Vertrauen in die Aussagen der Klimawissenschaften. Dann werden die informatorischen Akte der Klimawissenschaften auf Bs Meinungen keinen Einfluss haben. Sie helfen B dann nicht dabei, sich ein eigenes Urteil über die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen zu bilden. – Oder aber, B hat (ein gewisses Maß an) Vertrauen in die Aussagen der Klimawissenschaften. Dann allerdings dürfte B sich fragen, warum B abverlangt wird, sich aus dieser Quelle zunächst umfangreiche Informationen über die Determinanten des Erdklimas anzueignen. Schließlich kann B sich, weil B den Klimawissenschaften vertraut, auch ohne Umschweife darüber informieren lassen, dass Klimaschutzmaßnahmen nötig sind, wenn diese und jene Risiken abgewendet werden sollen. 12 Vgl. Birnbacher 2016, 25; vgl. auch Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 100 f.
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Das Dilemma suggeriert, dass B in keinem Fall von der Praxis profitieren kann, die Öffentlichkeit von den Klimaexperten mit detaillierten Sachinformationen versorgen zu lassen. Vielmehr scheint es, als ob eine angemessenere Aufklärungskonzeption sich darauf konzentriert, Bedingungen zu schaffen, die rationales Vertrauen der Bürger in die Klimawissenschaften begünstigen.
5. Das indirekt-szientistische Modell Ein Aufklärungsmodell, das das Vertrauen der Bürger in die Wissenschaft in den Mittelpunkt rückt, lässt sich sowohl im Konzept der climate literacy als auch in der Klimaethik ausmachen. Wenn etwa die Broschüre des USGCRP unter der Überschrift »How do we know what is scientifically correct?« eine halbe Seite dem Peer Review-Verfahren widmet, dann geschieht dies offenkundig in der Absicht, den Addressaten Gründe zu geben, die Klimawissenschaften generell als eine glaubwürdige Informationsquelle zu beurteilen (USGCRP 2009, 6). Die epistemische Abhängigkeit der Bürger von den Klimawissenschaftlern betonen auch Ben Almassi (2012) und Coady/Coary (2013). Almassi zieht daraus den Schluss, dass es gelte, zwischen Experten und Laien moralisch gesunde ›Vertrauenswürdigkeitsbeziehungen‹ zu kultivieren.13 Derartige Äußerungen deuten auf eine Vorstellung hin, die ich als das indirekt-szientistische Aufklärungsmodell auf den Punkt bringen möchte. Man kann sich freilich fragen, ob es sich dabei überhaupt noch um ein Aufklärungsmodell handelt. Die Bezeichnung erscheint jedenfalls um so weniger angemessen, je weniger Gewicht eine Aufklärungskonzeption dem Ideal epistemischer Autonomie einräumt. In der Tat wäre der Einwand schlagend, wenn das Modell den Bürgern abverlangte, dem Sachurteil der Klimawissenschaftler blind zu vertrauen. Wenn die Bürger als die autonomen Urteilssubjekte respektiert werden sollen, die sie sind, dann muss ein akzeptables Aufklärungsmodell ihnen freistellen, welchen als epistemische Autoritäten auftretenden Instanzen sie ihr Vertrauen schenken wollen und welchen nicht. Was ein Aufklärungsmodell ihnen auch dann allerdings noch abverlangen kann, ist das Bemühen, bei ihrer Entscheidung die ihnen vorliegenden Belege über die Vertrauenswürdigkeit der Experten so zu berücksichtigen, dass ihre Entscheidung rational ausfällt. Der Begriff des Vertrauens ist in der Philosophie umfänglich analysiert worden; hier mögen einige wenige Bemerkungen genügen. Die Rede ist hier nicht von der Relation interpersonalen Vertrauens, wie sie etwa Freundschaften zugrundeliegt, sondern von einer Art von Vertrauen, das Individuen gegenüber Institutionen hegen, oder gegenüber individuellen Trägern institutioneller Rollen als solchen. Dieses Vertrauen ist ferner bereichsspezifisch: Jemand (das Subjekt) 13 »[…] sustained cultivation of morally healthy expert/non-expert relationships of mutual and reciprocal trustworthiness«, Almassi 2012, 48.
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vertraut jemandem (dem ›Adressaten‹ oder trustee) hinsichtlich einer Domäne D (vgl. Hardin 2002, 9). Wenn nun die Bürger den Klimawissenschaftlern rational vertrauen können sollen, müssen in der Regel zwei Bedingungen erfüllt sein:14 VB Die Bürger müssen auf Grundlage guter Belege meinen, dass die Klimawissenschaftler (1) kompetent sind, ihrerseits wahre Urteile über den Klimawandel zu fällen und (2) motiviert sind, den Bürgern (2a) über den Klimawandel immer nur von ihnen selbst für wahr gehaltene Informationen mitzuteilen, und (2b) die ihrer eigenen Meinung nach für die Bürger relevantesten Informationen über den Klimawandel mitzuteilen. Die Begründung der Kompetenzkomponente dürfte auf der Hand liegen: Wer den Klimawissenschaften nicht zutraut, über Methoden zu verfügen, die es sehr wahrscheinlich machen, dass ihre einschlägigen Prognosen tatsächlich eintreten, wird sich als leichtgläubig erweisen statt als rational, falls er ihren Warnungen Glauben schenkt. (2a) und (2b) lassen sich in einem Minimalbegriff von Wahrhaftigkeit zusammenfassen. Die Wahrhaftigkeitskomponente trägt der Möglichkeit Rechnung, dass Experten ihre Kompetenz dazu missbrauchen könnten, Unwahrheiten zu verbreiten oder die Bürger von den eigentlich wichtigen Wahrheiten abzulenken, indem sie diese verschweigen oder in einem Nebel unwichtiger Wahrheiten verbergen. Wenn die Bürger die Experten zutreffenderweise als kompetent und wahrhaftig einschätzen, werden die Experten in der Regel vertrauenswürdig sein. Ob die Bürger ihren Aussagen auch rational Vertrauen schenken können, ist selbst damit jedoch noch nicht beantwortet. Soll die epistemische Autonomie der Bürger gewahrt bleiben, so müssen sie rational vertrauen können. Eine Minimalbedingung dafür ist, dass gute Belege für die Vertrauenswürdigkeit der Experten nicht nur existieren, sondern von den Bürgern auch in irgendeiner Weise geistig repräsentiert werden – etwa in Form erinnerter Wahrnehmungen, in Form von Meinungen über das Vorliegen guter Belege o. ä.15 Diese Bedingung ist keineswegs utopisch.16 Sie bedeutet nicht, dass die Bürger in der Lage sein müssen, 14 Vgl. z. B. Hardin 2002. Kontrovers in der philosophischen Diskussion ist vor allem, ob rationales Vertrauen aufseiten der trustees noch spezifischere Motivationen erforderlich voraussetzt als VB in (2). Vgl. zur Übersicht McLeod 2015, Abschn. 1. In Form von »Annullierungsbedingungen« könnten auch Antireduktionisten bezüglich des Zeugnisses anderer den Bedingungen der Kompetenz und Wahrhaftigkeit zustimmen; vgl. etwa Scholz 2001, 361, 365. 15 Denn wie Broome (2013, 89) in Anschluss an Ralph Wedgwood betont: »rationality supervenes on the mind«. 16 In der Theorie testimonialer Erkenntnis hat Oliver Scholz einen ähnlichen Einwand erhoben gegen Elizabeth Frickers Vorschlag, rationales Vertrauen in das Zeugnis anderer setze ein »aktives […] Monitoring des Sprechers durch den Hörer« voraus; vgl. Scholz 2001, 372.
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die Belege aufzuzählen. Diese könnten ja aus über lange Zeiträume verteilten Einzelbeobachtungen bestehen; und wie Gilbert Harman hervorgehoben hat, werden die Lernereignisse selbst, die die eigenen Meinungen prägen, in aller Regel nach kurzer Zeit vergessen (vgl. Harman 1986, 38.). Um VB zu erfüllen, muss es daher genügen, dass die Meinungen der Bürger über die Klimawissenschaftler auf rationale Weise aus der Konfrontation mit geeigneten Belegen hervorgegangen sind. Diese Überlegungen führen zu folgender Formulierung des indirekt-szientistischen Aufklärungsmodells. I1 Die Bürger*innen demokratischer Staaten sind verpflichtet, bevor sie ihren politischen Einfluss ausüben, sich mit Hilfe hinreichend verlässlicher Informationsquellen selbst ein wohlbegründetes Urteil darüber zu bilden: (1) wer als wissenschaftlicher Experte gilt; (2) welche Gewähr man hat, dass die Experten (2a) einschlägig kompetent und (2b) wahrhaftig sind; und (3), welches aus Sicht der Experten die gerade objektiv vordringlichsten Elemente einer vernünftigen politischen Agenda sind. Sodann sind sie verpflichtet, (4) beim Fällen ihres eigenen politischen Urteils ihren Urteilen (1) bis (3) das ihnen rationalerweise zukommende Gewicht zuzubilligen. I2 Die Klimawissenschaftler*innen sind verpflichtet, die Bürger*innen so zu informieren, dass diese sich selbst ein wohlbegründetes Urteil im Sinne von I1 bilden können. Es sticht nun geradezu ins Auge, dass I1/I2 der Realität moderner, kognitiv hochgradig arbeitsteiliger Gesellschaften so weit entgegenkommt wie nur möglich, ohne die epistemische Autonomie der Bürger ganz aufzuheben. Und im Rückblick auf D1/D2 dürfte deutlich werden, dass das direkt-szientistische Modell gerade dadurch so utopisch gerät, dass es nicht in Rechnung stellt, welche extremen Grade die kognitive Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedern praktischer aller Gesellschaften der Gegenwart eigentlich angenommen hat (ähnlich Enskat 2008, 56). Es liegt nahe zu vermuten, dass der indirekte Szientismus auf die beiden Probleme eine Antwort liefert, an denen das direkt-szientistische Modell scheitert. Zu zeigen wäre, dass er realiter erfüllbare Normen behauptet und dem Vertrauensdilemma entkommt. Das damit angedeutete Arbeitsprogramm ist zu umfangreich, um an dieser Stelle durchgeführt zu werden, doch sollen einige kurze Bemerkungen deutlich machen, in welcher Weise es sich bearbeiten ließe.
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6. Desiderate im Zusammenhang mit dem indirekten Szientismus Zu beurteilen, ob das indirekt-szientistische Modell realistisch ist, erfordert vor allem, zu überlegen, ob die Bürger genügend verlässliche Belege dafür erwerben können, dass die Klimawissenschaftler vertrauenswürdig sind – also wahrhaftig und einschlägig kompetent. Hierbei empfiehlt es sich, an Überlegungen zum seit Platon diskutierten17 Laie-Experten-Problem anzuknüpfen: Wie kann man erkennen, dass eine Person in einer Domäne D über Wissen verfügt, wenn man selbst nicht über nennenswertes einschlägiges Wissen verfügt? Dieses muss unterschieden werden von dem Problem, wie ein Laie herausfinden kann, welchem von zwei einander widersprechenden Experten Glauben zu schenken ist (sog. Experte-Experte-Problem). Im Fall der Klimawissenschaften besteht unter den einschlägigen Experten über die politisch relevanten Wahrheiten, z. B. ZWEI GRAD, so wenig Dissens wie über kaum eine andere wissenschaftliche Frage von politischer Relevanz (vgl. Oreskes 2004; Schellnhuber/Rahmstorf 2012, 83). Die Klassen von Belegen, die Alvin Goldman zur Lösung des letzteren Problems vorgeschlagen hat, bilden jedoch auch für die Diskussion des ersteren einen vielversprechenden Ausgangspunkt.18 Für die Beurteilung der Experten als wahrhaftig kommen vor allem Belege bezüglich ihrer ›Interessen und Voreingenommenheiten‹ in Frage (vgl. Goldman 2001, 93). Es liegt z. B. nahe zu vermuten, dass die in den anglophonen Medien als Climategate-Skandal titulierten Ereignisse19 aus dem Jahr 2009 die Einschätzung der Klimawissenschaftler*innen als wahrhaftig zeitweise beschädigt haben. Offenbar sind die seinerzeit veröffentlichten Emails von Mitgliedern des Weltklimarats IPCC in Teilen der Öffentlichkeit als Belege für das Nichterfülltsein von Vertrauensbedingung VB (2a) gedeutet worden. Einzelne derartige Vorkommnisse würden jedoch selbst dann kein generelles Misstrauen in die Wahrhaftigkeit einer ganzen Wissenschaftsgruppe rechtfertigen, wenn die Klimaskeptiker mit ihren Urteilen über die Tragweite von Climategate recht gehabt hätten.20 Schließlich lassen sich unwahrhaftige Verhaltensweisen auch in den vertrauenswürdigsten Institutionen niemals ganz ausschließen. Immerhin macht das Beispiel deutlich, dass die Wissenschaft ihrerseits eines tief eingewurzelten Ethos der Wahrhaftigkeit bedarf, wenn sie an der Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten mitwirken soll.
17 Vgl. Platon, Charm. 170d–172c. 18 Vgl. Goldman 2001, Goldman 1999. Vgl. dazu außerdem Scholz 2009. Sowohl Almassi 2012 als auch Coady/Corry 2013 wenden Goldmans Klassifikationsschema für Belege auf das Problem des Vertrauens in die Klimawissenschaften an. 19 Einen Überblick geben Coady/Corry 2013, 37–39. 20 Vgl. Coady/Corry ebd.
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Welche Belege könnten die Bürger für die Kompetenz der Klimawissenschaftler*innen haben? Hierzu werden in der Literatur vor allem zwei Belegarten diskutiert: Argumente, die die Experten selbst gegenüber den Laien vorbringen (vgl. Goldman 2001, 93; Matheson 2005), sowie Belege einschlägiger erfolgreicher Vorhersagen durch die Experten in der Vergangenheit – der sog. track record (vgl. Goldman 2001, 93). Es liegt nahe zu vermuten, dass selbst unter den gegenwärtigen Umständen Belege dieser beiden Arten zusammen die Kompetenz der Klimawissenschaften für die Laien hinreichend erkennbar machen. Allerdings sind hier noch wichtige Fragen offen. Hinsichtlich des track record der Klimawissenschaften bleibt etwa zu klären, ob Laien über die Zeit und die Kompetenz verfügen, sich die entsprechende Belege anzueignen, ohne dabei bereits erhebliches Vertrauen in Instanzen wie die Medien oder die Autoren von Meta-Studien über die Klimawissenschaften zu investieren. Es steht jedenfalls zu vermuten, dass der direkte Abgleich von vergangenen Prognosen mit eingetretenen Klimaveränderungen seinerseits eine Angelegenheit für Experten ist. Noch überhaupt keine Aufmerksamkeit ist bisher einer bedenklichen Konsequenz widerfahren, die sich aus dem oben geschilderten Vertrauensdilemma ergibt. Gerade dann, wenn die Bürger rationales Vertrauen in die Kompetenz der Klimawissenschaften fassen können, scheint es ja zunächst einmal so, als ob die gegenwärtige Praxis, den Bürgern ein ›Grundverständnis der klimatischen Abläufe‹ zu vermitteln, schlicht überflüssig ist. Aber muss man aus dem indirekten Szientismus nun wirklich eine derart radikale Konsequenz ziehen? Sollten Klimawissenschaften, Medien und Schulwesen künftig darauf verzichten, klimatische Abläufe verständlich zu machen – und sei es nur in popularisierender Form? Man sollte sich hüten, hier vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Möglicherweise sind track records nicht der einzige relevante Kompetenzindikator. Es lohnt sich jedenfalls, darüber nachzudenken, ob nicht die von Klimawissenschaftlern in der Öffentlichkeit vorgetragenen Sachargumente in ihrer Bedeutsamkeit bisher missverstanden worden sind. Zwar bleibt es dabei, dass diese Argumente ungeeignet sind, irgend jemanden direkt-argumentativ von politisch wichtigen Konklusionen wie ZWEI GRAD zu überzeugen. Doch könnte die im Vortragen der Argumente sich zeigende ›explanatorische‹ Kompetenz der Klimawissenschaftler (vgl. Matheson 2005) den Bürgern ein entscheidendes Indiz für deren prognostische Kompetenz liefern. All diese Fragen wären zu klären, bevor sich sicher urteilen lässt, dass das indirekt-szientistische Modell dem direkt-szientistischen tatsächlich überlegen ist. Der gegenwärtige Stand ihrer Bearbeitung in der Sozialen Erkenntnistheorie gibt jedoch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
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7. Aufklärung der praktischen Urteilskraft statt Aufklärung durch die Wissenschaft? Zum Abschluss soll das indirekt-szientistische Modell mit dem von Rainer Enskat ausgearbeiteten Modell verglichen werden: dem Modell der Aufklärung der Urteilskraft. Diesem Modell zufolge sind die »wahren Klienten« der Aufklärung die »Bürger republikanischer Gemeinwesen«. Dem Modell zufolge soll deren Aufklärung es sich zum Ziel setzen, die praktische Urteilskraft der Bürger zu kultivieren; und zwar dergestalt, dass ihre Urteilskraft lernt, »mit angemessener Treffsicherheit, Differenzierung und Zähigkeit die Informationen und die Orientierungen zu Hilfe« zu nehmen, die sie »zu sachgemäßen, situationsgerechten und zweckdienlichen Diagnosen dessen« führen, »was jeweils aus praktischen Gründen wichtig und richtig ist« (Enskat 2008, 27). An szientistischen Aufklärungsmodellen hat Enskat unter anderem kritisiert, sie führten zu einer Vernachlässigung der Kultivierung der praktischen Urteilskraft. Diese bedürfe der Kultivierung in vordringlicher Weise, weil sie durch die seit dem 18. Jahrhundert immer weiter angewachsene Informationsflut zunehmend überfordert sei mit den Aufgaben, zu unterscheiden, was wissenswert ist und was nicht, und zu bestimmen, wie man von dem Wissenswerten guten Gebrauch machen kann (vgl. ebd., 52–55). Die immer intensivere Proliferation von Informationen durch die Wissenschaften scheint diese Problematik in der Tat eher zu verschärfen als einer Lösung zuzuführen. Aus diesen und einer Vielzahl weiterer Überlegungen resultiert Enskats pointierte Schlussfolgerung: »Das szientistische Aufklärungsmodell ist inkonsistent. Aufklärung durch Wissenschaft ist unmöglich« (Enskat 2008, 367). Nun unterscheidet Enskat allerdings nicht zwischen einem direkten und einem indirekten szientistischen Modell. Wenn er das szientistische Modell als inkonsistent kritisiert, nimmt er ins Visier, was hier als direkter Szientismus diskutiert worden ist. Es ist deshalb eine offene und auch nicht definitiv zu klärende Frage, wie sich das von ihm favorisierte Modell zum indirekt-szientistischen verhält. Den Abschluss bilden daher zwei vorläufige Überlegungen. Gegen eine enge Verwandtschaft der Modelle spricht, dass Enskats Modell den Bürger*innen nicht ansinnt, sich mit der Wissenschaft als der verlässlichsten Informationsquelle in irgendeiner Form auseinanderzusetzen. Der Schwerpunkt breit angelegter Aufklärungsbemühungen soll, Enskat zufolge, nicht auf den epistemischen, sondern ausschließlich auf den genuin praktischen Komponenten der Urteilskraft liegen. Das Modell ist anti-szientistisch gerade darin, dass es von der Wissenschaft dabei eher ablenkende als konstruktive, und schlimmstenfalls störende, Beiträge zu erwarten scheint; schließlich reift die praktische Urteilskraft durch authentisches Deliberieren über moralische, rechtliche, politische und utilitäre Urteile in konkreten Lebenssituationen, nicht aber durch wissenschaftliche Unterrichtung.
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Für eine enge Verwandtschaft der Modelle spricht, dass gerade das Fällen zutreffender politischer Urteile durch die Bürger demokratischer Gemeinwesen – also ihre politische Urteilskraft – unter den Bedingungen der technisierten Moderne davon abhängt, dass sie sich der verlässlichsten Informationsquelle, der Wissenschaft, wenigstens in minimalistischen Formen zu bedienen wissen; und sei es nur, dass sie z. B. die mit Vehemenz vorgetragenen Warnungen der Klimawissenschaften deshalb ernst nehmen können, weil sie imstande sind, die Belege der Vertrauenswürdigkeit der Klimawissenschaften angemessen in ihre Urteile einfließen zu lassen. Inwieweit die dabei zum Zuge kommende ›testimoniale Urteilskraft‹ (wie man sie nennen könnte)21 ertüchtigt werden kann, ohne dass dies auf Kosten der genuin praktischen Komponenten der Urteilskraft geht, ist damit zwar noch nicht beantwortet. Es scheint aber ganz so, als ob das indirektszientistische Modell der praktischen Urteilskraft gerade diejenige informatorische Entlastung verschaffen könnte, die ihr der direkte Szientismus versagt.
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Gibt es eine Dialektik der Informationstechnologie? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung1 Michael Hampe
Einleitung Im Folgenden wird die Ratlosigkeit und Furcht, mit der in der Öffentlichkeit (und auch teilweise in der Fachwelt) die Entwicklung nicht transparenter autonomer Systeme der Informationstechnologie zuweilen beobachtet wird, mit geschichtsphilosophischen Fragen in Zusammenhang gebracht, die einst unter der Überschrift »Dialektik der Aufklärung« verhandelt wurden. Das mag zunächst überraschen. Doch die Vorstellung, dass die Ideale, unter denen eine bestimmte gesellschaftliche, wissenschaftliche und technologische Entwicklung begonnen wurde, auch den Verlauf dieser Entwicklung quasi nomologisch bestimmen, ist sowohl beim Thema »Grausamkeit« wie auch beim Thema »Wissenstransparenz« von Bedeutung. Diese Vorstellung lässt es erstaunlich und unplausibel erscheinen, dass eine gesellschaftliche Entwicklung, die unter dem Ideal, dass Grausamkeiten vermieden werden sollten, selbst zu Grausamkeiten führt oder dass eine wissenschaftliche und technische Entwicklung, die unter dem Ideal des transparenten Wissens begonnen wurde, epistemisch intransparente Systeme hervorbringt. Doch, so soll im Anschluss an das Wirklichkeitsverständnis von John Dewey gezeigt werden, der Gedanke, dass historische Verläufe durch die Ideale ihres Anfangs eindeutig festgelegt werden, ist selbst ein unaufgeklärter, ein weder empirisch noch anderweitig rechtfertigbarer Gedanke, der mit einem aufgeklärten Verständnis der Entwicklung von Wissenschaft und Technik eigentlich gar nicht vereinbar ist. Werfen wir für die Plausibilisierung dieses Gedankenganges zunächst einmal einen Blick auf die Entwicklung neuerer informationstechnologischer Systeme.
1 Für kritische Hinweise zu einer früheren Version dieses Textes danke ich Mirjam Beerli, Feldbach und Arno Schubbach, Zürich. Ich habe aus den Diskussionen zur Technikphilosophie mit Olivier Del Fabbro und Daniel Strassberg, beide Zürich, viele Einsichten gewonnen, die in diesen Text eingeflossen sind.
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Lernende Maschinen und das Ideal transparenten Wissens Künstliche neuronale Netze in Computern, die zu so genanntem »deep learning« in der Lage sind, existieren seit den 1990er Jahren.2 »Deep learning« bezeichnet einen Prozess, bei dem die Bewertungen von Reaktionen eines Netzwerkes nicht durch einen externen menschlichen Beobachter erfolgen, sondern innerhalb der künstlichen Intelligenz »unsupervised« vor sich gehen. Teilweise geschehen diese »unüberwachten« Lernprozesse in Form einer selbständigen Interaktion der künstlichen Intelligenz mit ihrer Umwelt, sofern sie in einem Roboter installiert (»verkörpert«) ist. Zwischen der Eingabe (dem »input«) der künstlichen Intelligenz und ihrer Ausgabe (»dem output«) sind mehrere mittlere, verborgene Schichten (»hidden layers«) von künstlichen Neuronen angelegt. In diesen mittleren Schichten findet eine Auswertung der in das künstliche Neuronensystem eingegeben Rohdaten statt. Die Auswertung führt zu einer vorab nicht in dem programmierten Algorithmus festgelegten, also autonomen Musterbildung in dem betreffenden System. Diese Musterbildung ist eine Form des autonomen Maschinenlernens, die man mit der menschlichen Fähigkeit, Begriffe zu bilden, vergleichen kann.3 Selbstlernende neuronale Netze sind entwickelt worden, um vor allem intuitives Wissen von Menschen auch in Computern zu realisieren. Mit »intuitivem Wissen« ist hier bspw. das Wiedererkennen eines Gesichtes oder einer Stimme, die Entzifferung einer Handschrift oder das Verstehen der Handlung einer einfachen Erzählung gemeint. Wir wissen, wie unsere Mutter aussieht, erkennen ihr Gesicht auch nach Jahren wieder; das fällt uns nicht schwer. Wir erkennen die Wörter, die eine Stimme in unserer Muttersprache zu uns sagt, ohne Probleme, auch wenn wir die konkrete Stimme noch nie gehört haben. Wir wissen bspw. wie man »Haus« oder »Hase« ausspricht. Wir wissen, wie ein handgeschriebener Satz zu entziffern ist, auch wenn wir manchmal Mühe damit haben. Und es macht uns keine Probleme, die Geschichte zu verstehen, dass Fred morgens um sieben aufsteht, die Kaffeemaschine anstellt und sich dann mit seinem elektrischen Rasierer im Bad rasieren geht. Wir wissen, was wir uns unter einer solchen Erzählung vorzustellen haben. Einem Computer fällt es dagegen schwer, solches Wissen zu erwerben. So verstand die künstliche Intelligenz Cyc nicht, dass Fred, wenn er sich mit einem elektrischen Rasierer rasiert, noch ein Mensch ist, weil sie gelernt hatte, dass 2 Vgl. Jürgen Schmidhuber, Deep learning in neural networks: an overview, in: Neural Networks (61), 2015, p. 85–117. 3 Vgl. Dazu: Thomas Mitchell, Machine Learning, London 1997. Die Informatik hat die Begriffe des Neurons und des Moduls aus der Neurophysiologie für ihre Schaltkreise übernommen. Nicht immer ist diese Übernahme mit der Überzeugung verbunden, dass die entsprechenden Informationstechnologien auch Simulationen von Vorgängen im menschlichen Gehirn darstellen.
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Menschen keine elektrischen Teile haben und deshalb offenbar »glaubte«, dass Fred, der einen elektrischen Rasierer in der Hand hält, kein Mensch mehr sein kann.4 Auch war es sehr schwer, Computern beizubringen, Gesichter oder Handschriften zu erkennen. Inzwischen sollen sie, anders als Menschen, die sexuelle Orientierung einer Person mit grosser Sicherheit an ihrem Gesicht ablesen.5 Was Menschen als Denk- oder Gedächtnisleistung anstrengt oder unmöglich ist, wie ein komplexes Gleichungssystem zu lösen oder 1000 Schachpartien zu behalten, fiel Computern schon sehr früh leicht. Sie liessen sich auf diese Leistungen programmieren. Abstrakte formale Aufgaben, die Menschen nur mit Mühe bewältigen können, bewältigten die Maschinen ohne Probleme, weil der Lösungsweg in einer Liste formaler Regeln vorgegeben, in einer Befehlskette programmiert werden konnte. Menschen haben Schwierigkeiten, solche abstrakten Regeln über lange Zeit zu befolgen, weil ihr Gedächtnis sie im Stich lassen mag oder ihre Aufmerksamkeit erlahmt, wenn andere, aufregendere, »inhaltsvollere« Gedanken in ihrem Kopf aufsteigen, die sie von der ursprünglich vorgenommenen Aufgabe ablenken. So etwas geschieht in einer Maschine nicht. Bei Aufgaben wie Gesichts- oder Spracherkennung ist es dagegen nicht möglich gewesen, eine formale Befehlskette zu finden, die es der Maschine erlaubt, fehlerfrei die entsprechenden Muster wieder zu identifizieren. Erst als Maschinen entwickelt wurden, die selbst »aus Erfahrung lernen« und ihre »eigenen Begriffe« oder »Schemata« entwickeln konnten,6 waren die künstlichen Systeme in der Lage, die entsprechenden Kompetenzen bzw. das gefragte intuitive Wissen zu erwerben. Weit entfernt sind Maschinen offenbar noch davon, Witze und Ironie in einem Gespräch zu erkennen oder Stimmungsnuancen einer Sprecherin aus dem Ton ihrer Äusserungen zu erschliessen, etwas, zu dem bereits Säuglinge bei ihrer Mutter in der Lage sind.7 Doch ist zu erwarten, dass selbstlernende künstliche Intelligenzen auch dies irgendwann leisten werden. 4 Ian Goodfellow / Yoshua Bengio / Aaron Courville, Deep Learning, Cambridge / Mass., 2016, S. 2. 5 Michal Kosinski / Yilun Wang, »Deep Neural Networks are More Accurate than Humans at Detecting Sexual Orientation from Facial Images«, in: Journal of Personality and Social Psychology 114/2, 2018, S. 246–257. Warum KIs von wissenschaftlichen Psychologen beigebracht wird, sexuelle Orientierungen am Gesicht zu erkennen, erschliesst sich mir freilich nicht. Denn das Interesse dahinter kann ja allenfalls pekuniärer oder politischer Art sein (Menschen mit einer bestimmten Orientierung bestimmte Werbung zukommen zu lassen resp. sie zu diskriminieren). Dass »sexuelle Orientierung« selbst, bzw. »heterosexuell« und »homosexuell«, anders als »rot« oder »ist ein Baum« sehr problematische Prädikate sind, deren empirische Kontrollierbarkeit fraglich ist, sei hier nur angemerkt, aber nicht weiter diskutiert. 6 Ian Goodfellow / Yoshua Bengio / Aaron Courville, op. cit., S. 1. 7 Vgl. Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992, S. 213 f.
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Das Wissen, das durch »deep learning« entsteht, wird auch für Entscheidungsprozesse in so genannten Expertensystemen verwendet, die es schon lange unabhängig vor diesen künstlichen Intelligenzen gab. So kann man beispielsweise die Entscheidung, ob eine Frau ein Kind mit einem Kaiserschnitt zur Welt bringen soll oder nicht, an eine künstliche Intelligenz delegieren, die, wenn ihr bestimmte Daten der Schwangeren in klarer Weise zugänglich gemacht werden, das Risiko für einen solchen Eingriff bzw. der so genannten »natürlichen« Geburt einschätzen und eine entsprechende Empfehlung aussprechen kann.8 Mit solchen künstlichen Intelligenzen ausgestattete Expertensysteme werden nicht nur im medizinischen Bereich, sondern inzwischen fast überall entwickelt. Nun können die selbst lernenden künstlichen Intelligenzen nicht über die Prozesse Auskunft geben, die in ihren verborgenen Neuronenschichten, den »hidden middle layers«, ablaufen, wenn sie aufgrund von Rohdaten eine Musterbildung oder Begriffs- bzw. Schemabildung vollziehen. Sie haben kein Selbstbewusstsein, das es ihnen erlauben würde, öffentlich zu machen, welche Muster sie aus den Inputs erzeugt haben, damit sie eine entsprechende Leistung erbringen bzw. ein bestimmtes Wissen erwerben können. Die künstlichen Intelligenzen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von Personen, die aufgrund einer langen Erfahrung eine bestimmte Unterscheidungsfähigkeit, ein bestimmtes implizites Wissen oder eine Urteilskraft erworben haben, die es ihnen erlaubt, bestimmte Urteile oder Empfehlungen auszusprechen, ohne sie jedoch wirklich rechtfertigen zu können. So mag eine Kunstkennerin ein Gemälde als ein erstklassiges frühes Bild von Picasso einschätzen und ein erfahrener Arzt mag es für richtig oder falsch halten, einen Patienten zu operieren oder auch nicht. Doch beide, die Kunstkennerin wie der Arzt mögen auf die Frage, warum sie zu ihren Urteilen kommen, diese Empfehlungen geben, sagen, dass sie über keine Begründung verfügen, aber ihr »Bauchgefühl« oder ihre »Intuition« ihnen sage, dass es so ist, wie sie meinen. Nun geht es mir in diesem Zusammenhang nicht um die Theorie der Urteilskraft, die hier im Spiele ist und die seit Kants dritter Kritik ein eigenes philosophisches Gebiet darstellt. Sicherlich muss sie in diesem Zusammenhang der ärztlichen Diagnose und der Kunstkennerschaft und dem Problem, welche Rolle Begriffe in den Erkennungsfähigkeiten oder dem Fachwissen dieser Gebiete eigentlich spielen, zurecht als relevant angesehen werden.9 Ich will an dieser Stelle jedoch nur vereinfachend festhalten, dass es eine Sache ist, ein Muster des Erkennens oder Handelns auszubilden und eine andere, über dieses Muster in Form einer rechtfertigenden Begrifflichkeit Auskunft geben zu können. Ein gewöhn8 Ian Goodfellow / Yoshua Bengio / Aaron Courville, op. cit., S. 4. 9 Vgl. Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975. Ders., Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001. Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008.
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licher Schwimmer, der weiss, wie man im Schmetterlings-Stil schwimmt, das entsprechende Handlungswissen erworben, die entsprechenden Bewegungsmuster ausgebildet hat, kann noch lange nicht darüber Auskunft geben, wie er schwimmt. (Bei einem Hochleistungssportler und seinem Trainer mag das anders sein.) Eine Person, die den Heimatdialekt ihrer Muttersprache verstehen und sprechen kann, also über ein entsprechendes Erkennungs- und Handlungswissen verfügt, kann meist weder darüber Auskunft geben, wie sie es macht, dass sie ein Wort erkennt oder hervorbringt, noch weiss sie sich zu rechtfertigen, warum sie das kann und tut. Das Merkwürdige ist nun, dass dieses menschliche Phänomen, über ein begrifflich nicht explizierbares Handlungs- und intuitives Erkennungswissen zu verfügen, uns im Bereich der selbstlernend künstlichen Intelligenzen wieder begegnet. Denn die erfahrene Person, die über ein solches nicht weiter oder nur schwer begründbares Wissen verfügt, stellte eine kaum zu hinterfragende Autorität auf einem bestimmten Gebiet dar und damit etwas, was dem aufgeklärten Denken zumindest suspekt sein müsste. Dieses Denken wehrte sich ja u. a. gegen Bevormundung, die daraus resultierende Unmündigkeit und verlangte deshalb danach, dass Wissensansprüche auch ausgewiesen, allgemein verständlich gerechtfertigt werden müssen. Seit Sokrates die Wissensansprüche seiner Gesprächspartner in Frage stellte und Rechtfertigungen einforderte, ist dies für aufgeklärtes Denken charakteristisch. Mit einer Merkwürdigkeit haben wir es hier insofern zu tun, weil programmierbare Maschinen ursprünglich ja das Paradigma der Instanziierung oder das Resultat von transparenten Wissens darstellten. Das Schritt-für-Schritt-Vorgehen in einem mathematischen Beweis, die Umformung einer Gleichung nach bestimmten logischen oder algebraischen Regeln und die Befehlskette eines Computerprogramms lassen nichts im Unklaren oder Verborgenen. Wer die entsprechenden formalen Sprachen beherrscht, dem wird nichts vorenthalten, dem dürften keine Rechtfertigungen fehlen in diesen Wissensprozessen, die der Lösung bestimmter abstrakter Probleme dienen. Und weil diese Sprachen eigentlich auch einfach Schritt für Schritt erlernbar sind, so hat dieses formale Wissen einen Aspekt, der es besonders klar von den begrifflich nicht explizierbaren Wissensformen unterscheidet: Es scheint prinzipiell jedem zugänglich zu sein und nicht von Autoritäten abzuhängen. Schon Descartes hat in seinem Discours de la M#thode 1637 behauptet, der bon sens sei »die bestverteilte Sache der Welt«, die Menschen unterschieden sich in ihm nicht wesentlich.10 Wenn man nur das als wahr akzeptiert, was man zweifelsfrei klar und deutlich einsehe, jedes Problem, das man zu lösen versuche, in so viele Teilprobleme wie nötig sei, um es leicht zu lösen, zerlege und dann in einer
10 Ren& Descartes, Discours de la M#thode / Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt und herausgegeben von Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 3/4.
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richtigen, leicht zu durchschauenden Ordnung bei der Problemlösung vorgehe,11 dann reiche der so gerecht verteilte bon sens auch aus, um das betreffende Problem tatsächlich zu lösen. Was, wenn nicht das algebraische, logische und programmiersprachliche Vorgehen, entspricht diesen Empfehlungen: Zerteilung eines Problems in Teilprobleme und schrittweise Lösung dieser Teilprobleme nach explizit gemachten Regeln? Die Cartesische Behauptung einer unter den Menschen gleich verteilten natürlichen Vernunft (eines »natürlichen Lichtes«) und seine Anleitung zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Wissensansprüchen und Problemlösungsverfahren durch Zerlegung des Komplexen in Einfaches und strikter Regelbefolgung beim Denken ist neben Kants Aufruf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien,12 vielleicht die wirkungsmächtigste philosophische Gedankenfigur im Denken der Aufklärung. Und es erscheint vielen sehr merkwürdig, dass gerade die Wissenschaft der Informatik als maschinell angewandte Logik, die diesen Cartesianismus bis in unsere nächste Gegenwart transportiert hat, nun Gebilde hervorbringt, die nicht mehr transparent sind, die uns quasi als erfahrene Autoritäten gegenübertreten, die selbstständig Daten auswerten, aus ihnen gelernt, an ihnen ihre eigenen Muster gebildet haben, sie uns Menschen gegenüber jedoch nicht explizieren und deshalb ihr Wissen und die aus ihm entstehenden Empfehlungen nicht rechtfertigen können. Auch wenn diese Maschinen lernen sollten, über ihre interne Muster-, Schemaoder Begriffsbildung Auskunft zu geben, ist nicht sichergestellt, ob wir sie verstehen würden. Angenommen, die Fähigkeit der Gesichts- oder Stimmerkennung sei in der Maschine der entsprechenden menschlichen Fähigkeit äquivalent (oder, wie im Falle der Erkennung der sexuellen Orientierung, sogar überlegen), so muss diese Äquivalenz nicht bedeuten, dass sie durch dieselben Allgemeinheiten (Muster, Schemata, Begriffe) realisiert wird. Sowohl ein Flugzeug wie ein Helikopter realisieren die Fähigkeit zu fliegen. Aber sie tun dies auf ganz verschiedene Weise. Doch obwohl die Maschinen, die über diese Fähigkeiten verfügen, sich nicht explizieren können, vertrauen wir ihnen und delegieren an sie Entscheidungen. Und, so möchte ich spekulieren, auch wenn sie sich explizieren können würden, wir sie aber nicht verstünden, würden wir diesen Maschinen nichtdestotrotz vertrauen, ja, vielleicht sogar noch mehr als dem erfahrenen Arzt und der erfahrenen Kunstkennerin. Was wird aber, wenn diese lernenden künstlichen Intelligenzen die Steuerungssysteme nicht nur unserer Flugzeuge und Autos, sondern auch unsere Krankhäuser und öffentlichen Verwaltungen bevölkern? Werden wir, weil wir ihre Leistungen in Anspruch nehmen wollen, das Ideal des transparenten Wissens der gerechtfertigten Entscheidung aufgeben? 11 Ren& Descartes, op. cit., S. 30/31. 12 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung, in: Was ist Aufklärung. Beiträge aus der Berliner Monatsschrift. In Zusammenhang mit Michael Albrecht ausgewählt, einlegleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinske, Darmstadt 1973, S. 452–465.
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Gibt es eine Dialektik der Informationstechnologie?
Haben wir es hier mit einem Fall der berühmten Dialektik der Aufklärung zu tun: dass das transparenteste formale Wissenssystem der mit Algorithmen und Befehlsketten arbeitenden Informatik künstliche Gebilde hervorbringt, die etwas wissen, unterscheiden und entscheiden können, aber intransparent sind? Liefern wir uns also an nicht-menschliche quasi nachaufklärerische künstliche Autoritäten aus, wenn wir uns an diesem Wissen orientieren und die Entscheidungen der selbst lernenden künstlichen Intelligenzen befolgen? Bedeutet das nicht eine neue selbstverschuldete Unmündigkeit?
Dialektik der Aufklärung Unter »Dialektik der Aufklärung« versteht man im Anschluss an das gleichnamige Werk von Horkheimer und Adorno einen Prozess, bei dem Naturbeherrschung durch Selbstbeherrschung erreicht wird, diese jedoch zu einer Selbstentfremdung und zu einer vermeintlichen Internalisierung von Gewalt führt, die denjenigen, die glaubten, sich durch Naturbeherrschung in ihrer Lage zu verbessern, dann doch irgendwann zum Nachteil geraten kann. Dies kann vermeintlicher Weise etwa dadurch geschehen, dass die in der Selbstbeherrschung reflexiv gewordene Gewalt, die sich früher »nach aussen«, gegen natürliche nichtmenschliche Feinde wandte, sich aus der Internalisierung löst und wieder nach aussen wirkt, diesmal jedoch gegen andere Menschen wendet. Odysseus, der die eigenen Affekte beherrscht, sich an den Mast fesselt, um die Sirenen zu hören und den aufwallenden Zorn im eigenen Herz überwindet, um so andere, nämlich die mit den Mägden seines Hauses verkehrenden Freier, die seinen Besitz verzehren und seine Ehefrau belagern, letztlich besiegen zu können, ist für Horkheimer und Adorno in diesem Zusammenhang ein einschlägiges frühes Beispiel aus der europäischen Kulturgeschichte.13 Sind die Naturverhältnisse für Menschen ursprünglich »grausam« in dem Sinne, dass sie von Not, Leiden und Kampf gekennzeichnet sind, so lernen Menschen im Laufe der Kulturgeschichte, so der Gedanke, indem sie ihre Triebe (die die Natur, die in ihnen selbst ist, darstellen) beherrschen, ihre äussere Lage zu verbessern. Wenn sie bspw. nicht alle Körner, die sie von Gräsern gesammelt haben, aufessen, sondern sich in ihrer Gier nach Essen zurückhalten können, einige Körner als Saatgut aufsparen und später wieder aussäen, dann können sie im darauffolgenden Jahr in einer besseren Lage sein, was ihre Nahrung und die Möglichkeit den Hunger zu stillen, angeht. Zu diesem Zweck müssen sie jedoch die Naturverhältnisse, in diesem Fall die Jahreszeiten und den Fruchtbarkeitszyklus der Pflanzen, studieren, um zu wissen, wann man säen und ernten kann. Auch diese Erforschung der Natur verlangt 13 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Band 3, Frankfurt am Main 1984, S. 65.
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Selbstbeherrschung: Statt der Nahrungssuche und unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung nachzugehen, muss die Natur »objektiv«, unabhängig von der eigenen Situation, studiert werden. Man könnte jetzt mit einer sehr groben und langen historischen Linie eine Verbindung herstellen zwischen dem Studium der Jahreszeiten und Fruchtbarkeitszyklen der ersten Bauern zur modernen Kernphysikforschung und der Entwicklung der Atomwaffen als Produkten der wissenschaftlichen Revolution und modernen Aufklärung. In den Waffen manifestierte sich dann nach aussen die Gewalt, die die Menschen nach innen wenden mussten, um die Selbstbeherrschung zu erlangen, die für ihre in der Kernphysik enorm vorangeschrittene Naturforschung und technische »Natureroberung« nötig war. Vielleicht wäre das ein Räsonnement im Sinne des Geschichtsverständnisses von Horkheimer und Adorno. Doch es wäre kaum haltbar vor dem Hintergrund der Ansprüche historischer Forschung in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Es würde auch nicht helfen, um zu verstehen, warum ausgerechnet in den neuesten technischen Produkten der formalen Wissenschaften: den Wissenssystemen der Informatik, der aufklärerische Transparenzanspruch gegenüber dem in ihnen generierten Wissen nicht mehr eingelöst werden kann. Es wäre eine blosse und ziemlich plumpe Analogie zu sagen, dass dann, wenn die Versuche der Vermeidung von Not und Gewalt in den Naturverhältnissen der Menschen zu Not und Gewalt in ihrer kulturellen Situation führt, dann auch das Streben nach Vermeidung von impliziten oder intransparenten Wissen in den Wissenstechnologien irgendwann zu Intransparenzen führen muss. Trotzdem ist der Bezug auf die Dialektik der Aufklärung für unsere Zusammenhänge hilfreich. Denn durch ihn können wir uns einen unaufgeklärten Zug in der Geschichtsbetrachtung selbst verdeutlichen. Horkheimer und Adorno betrachten in ihrem dialektischen Geschichtsdenken beispielsweise den Faschismus als Rückfall in die Barbarei. Sie sehen wie Friedrich Engels und Rosa Luxemburg im Anschluss an Karl Marx den »Gang der Geschichte« von gesetzmässiger Notwendigkeit angetrieben und auf klare Ziele festgelegt. Die Entwicklung zum Sozialismus konnte in den Augen von Marx, Engels und Luxemburg zwar kurzzeitig gehemmt, aber nicht endgültig aufgehalten werden.14 Das marxistische Denken erbt hier, was Peirce Hegels Nezessitarismus genannt hat und was das aufklärerische Geschichtsdenken der Neuzeit nach Blumenberg von Anfang an prägte und vergiftet hat: die Illusion eine »mögliche Totalität der Geschichte zu entwerfen«, die es erlaubt, deren Wendungen und »Ende« zu antizipieren.15 Für Blumenberg ist dieses Erbe als »theologisch« zu charakterisieren, weil es nicht nur an die Vorstellung einer prädestinierten Heilsgeschichte anknüpft, sondern auch nicht durch empirische 14 Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Zürich 1916, S. 1. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno. Op. cit., S. 15. 15 Zu Blumenberg siehe seine Legitimität der Neuzeit, Berlin 2012, S. 60.
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Belege gestützt wird und deshalb eine Wahrheit jenseits von Erfahrung und Logik zu sein scheint. Sowohl der Fortschrittsglaube in der Geschichte wie auch der Glaube an dialektische Um- oder Rückschläge im Fortschritt erscheinen jedoch, weil sie zumindest seit Marx der Geschichte eine Gesetzmässigkeit unterstellten, wissenschaftlich. Engels vergleicht die Marxsche Geschichtstheorie mit der Darwinschen Evolutionstheorie der natürlichen Arten: Darwin habe die Gesetze der Naturgeschichte gefunden, Marx die der Menschengeschichte.16 Nun ist der Begriff des Naturgesetzes ohnehin theologischen Ursprungs.17 Das hindert viele aber nicht daran, Versuche, den »Gang der Geschichte« mithilfe von Gesetzmässigkeiten zu konstruieren, für wissenschaftlich im modernen Sinne zu halten. In Blumenbergs Augen manifestiert sich in dieser Haltung jedoch eine Einstellung, die die Geschichte als etwas ansieht, das von einem unwandelbaren Wesen, eben von Gesetzen, gesteuert wird und damit gar nicht wirklich genuin Neues hervorbringen könne. Diesen Gedanken hat Blumenberg einst als Einwand gegen Karl Löwiths Deutung der modernen, wissenschaftlich-technisch determinierten Kulturgeschichte als Transformation der vormodernen Heilgeschichte vorgebracht.18 Man könnte diesen Einwand auch gegen die trivialisierenden Universalgeschichten von Spenglers goetheanisch morphologisierendem Untergang des Abendlandes, über Ian Morris! materialistisch-energetische Weltgeschichte mit dem Titel Why the West Rules – For Now bis zu Yuval Hararis Homo Deus vorbringen,19 Narrationen, die neuerdings wieder eine hohe Konjunktur haben. Sie alle haben gemeinsam, dass sie einen unwandelbaren Motor der Geschichte und ein Ziel aller Entwicklungen zu kennen glauben.
16 Vgl. Michael Hampe, Gesetze, Befehle und Theorien der Kausalität, in: Neue Hefte für Philosophie 1992, Bd. 32/33, S. 15–49. 17 Vgl. Michael Hampe, Kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt am Main 2007. 18 Vgl. dazu Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie und seine Besprechung von Blumenbergs Legitimität der Neuzeit, in: ders. Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (=Sämtliche Schriften 2), Stuttgart 1983. Und: Michael Hampe, Nach der Aufklärung. Blumenbergs Legitimität der Neuzeit nach 50 Jahren in »postsäkularen« Zeiten, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016; 64 (5), S. 852–863. 19 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923. Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Waltraud Götting und Andreas Simon dos Santos, Frankfurt am Main 2011. Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn, München 2016.
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Die Geschichte ernst nehmen oder der gemischte Charakter der Wirklichkeit Was haben diese Betrachtungen über den mythischen oder theologischen Charakter nomologischer Geschichtsbetrachtungen mit dem Problem zu tun, dass die Informationstechnologie intransparentes Wissen erzeugt? Es scheint schwer verständlich zu sein, dass eine Entwicklung, die mit transparenten formalen Wissenssystemen begann und einem egalitären Wissensideal des »natürlichen Lichts« verpflichtet war, intransparente Wissenssysteme und Problemlösungsmaschinen hervorbringt, so wie es schwer verständlich scheint, dass eine Entwicklung, die auf die Reduktion von Gewalt und Grausamkeit ausgerichtet war, eben das, was sie vermeiden wollte, in Massenvernichtungswaffen nach sich zieht. Doch diese Unverständlichkeit ergibt sich lediglich aus der Grundannahme, dass historische Prozesse entweder von menschlichen Intentionen oder von Gesetzmässigkeiten anderer Art mit Notwendigkeit gesteuert werden. Beides ist nicht der Fall. Historische Prozesse sind deshalb auch nicht zufällig. Sie stellen vielmehr, wie John Dewey hervorgehoben hat, ein Gemisch aus Wiederholungen, berechenbaren Iterationen und Zufällen, Neuigkeiten, Unberechenbarkeiten dar: »Die Welt, in der wir leben, ist eine eindrucksvolle und unwiderstehliche Mischung aus Fülle, Vollständigkeit, Ordnung und Wiederholungen, die Voraussage und Kontrolle ermöglichen, und Einzigartigkeiten, Mehrdeutigkeiten, ungewissen Möglichkeiten und Prozessen, die zu Ergebnissen führen, die noch ungewiss sind.«20
Für Dewey war die Aufklärung lange Zeit dem Irrtum erlegen, den zweiten Aspekt der Wirklichkeit, die Mehrdeutigkeit, die ungewissen Möglichkeiten und Zufälle zu leugnen oder für Schein zu halten. Sie setzte in dieser Hinsicht ein magisches Denken oder den Aberglauben fort, der glaubte durch Beschwörungsformeln oder Wunschvorstellungen Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen zu können, so dass ihnen ihre Eigendynamik genommen wird und sie sich ganz den Interessen der Menschen entsprechend entwickeln. Noch einmal Dewey: »Wir haben den Aberglauben durch Aufgeklärtheit ersetzt, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber die Aufgeklärtheit ist oft ebenso irrational und ebenso der Gnade der Worte ausgeliefert wie der Aberglaube, den sie ersetzt. Unsere magische Absicherung gegen den ungewissen Charakter der Welt besteht darin, die Existenz des Zufalls zu leugnen, »allgemeines und notwendiges Gesetz«, Allgegenwart von Ursache und Wirkung, Einheit der Natur, allgemeiner Fortschritt und inhärente Rationalität des Uni-
20 John Dewey, Erfahrung und Natur. Übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt am Main 1995, S. 61. Meine Hervorhebung.
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Gibt es eine Dialektik der Informationstechnologie? versums zu murmeln. Diese magischen Formeln entlehnen ihre Kraft Bedingungen, die nicht magisch sind. Durch die Wissenschaft haben wir uns einen bestimmten Grad an Fähigkeit zur Voraussage und Kontrolle gesichert; durch Werkzeuge, Maschinerie und begleitende Technik haben wir die Welt unseren Bedürfnissen angepasst … Aber wenn alles gesagt und getan ist, ist der grundlegende Charakter der Welt nicht ernsthaft modifiziert, viel weniger beseitigt. Ein Ereignis wie der letzte Krieg und die Vorbereitungen für den nächsten erinnern uns daran, dass es leicht ist, das Ausmass zu übersehen, bis zu dem unsere Errungenschaften schliesslich nur Mittel sind, die unerfreuliche Anerkennung einer Tatsache zu verschleiern, anstatt die Tatsache selbst zu ändern.«21
Diese zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenen Sätze machen deutlich, dass Dewey die Kriegsereignisse selbst nicht als einen Rückfall oder ein Stocken in der notwendigen Fortschrittsbewegung ansah, sondern als eine Manifestation der Tatsache, dass die Geschichte von Ereignissen durchzogen ist, die weder berechen- noch planbar waren und auch nicht unbedingt von den in sie involvierten Personen gewollt wurden. Der Krieg wurde von jeher als ein Prozess angesehen, in dem Menschen der Ungewissheit ausgesetzt sind und ist in dieser Hinsicht seit Heraklit paradigmatisch für das Weltgeschehen überhaupt.22 So schrieb Clausewitz in einer berühmten Passage seines Werkes über den Krieg vom »Nebel« des Krieges: »Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit, drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger grossen Ungewissheit. (…) Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. (…) Er vermehrt die Ungewissheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.«23 Zweifellos ist der Krieg aber etwas Wirkliches und in Deweys Sinn zeigt sich in ihm der aus Zufall und Notwendigkeit gemischte Charakter der Wirklichkeit. Es passiert, was Menschen wollen. Sie marschieren bspw. auf eine Stadt, um sie zu belagern. Doch widrige Wetterbedingungen, vielleicht Regen und Kälte, machen die Belagerung zu einer grösseren Katastrophe für die Belagerer als für die in der Stadt Belagerten. Das Wetter war zum Zeitpunkt als die Armee in Richtung der Stadt in Marsch gesetzt wurde nicht vorauszusehen. Doch es bestimmt letztlich die strategische Situation, wie gut sie die betreffende Generalität auch glaubt vorausgeplant zu haben. Weder der Krieg, noch die Geschichte überhaupt gleicht einem Schachspiel, das allein durch die vorausberechenbaren Züge der beteiligten Gegner bestimmt wäre. Es wird auch durch sie bestimmt, aber nicht nur durch sie.
21 Dewey, op. cit., S. 58 f. 22 »Man soll aber wissen, dass Krieg Gemeinsamkeit ist und Gerechtigkeit Streit und dass alles geschieht durch Streit und Notwendigkeit.« (DK 22 B80) M. Laura Gemelli Marciano (Hg.), Die Vorsokratiker. Griechisch-lateinisch-deutsch, Band 1, Düsseldorf 2007, S. 307. 23 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1952, S. 131 f.
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Wenn wir die Wissens- und Technikgeschichte betrachten, so war nicht vorauszusehen, wie sich die Wissenssysteme und vor allem ihre technischen Anwendungen entwickeln. Es mag sein, dass im Zuge der wissenschaftlichen Aufklärung universal zugängliches und transparentes Wissen ein Ziel der an dieser Geschichte beteiligten Personen gewesen ist. Doch am Bespiel der zum deep learning fähigen neuronalen Netze zeigt sich, dass alle technischen Systeme nicht allein Manifestationen menschlicher Wünsche und Nützlichkeitsvorstellungen sind, sondern dass sie ein Eigenleben haben.24 Und es ist dieses Eigenleben der Dinge, das, je grösser ihre interne Komplexität ist, umso augenfälliger wird und ihre Entwicklung unvorhersehbar macht. Grade weil die technische Absicht bei den selbst lernenden Systemen darauf zielte, diesen möglichst schnell eine möglichst grosse Problemlösungskompetenz angedeihen zu lassen, hat man sie autonomen Lernprozessen überlassen, ihnen eine eigene, nicht vorgeplante Entwicklung zugestanden, sie nicht vollständig in ihrem Verhalten programmiert. Dadurch wurde noch wahrscheinlicher, dass Unerwartetes in der Entwicklung dieses Systems eintritt als bei allen anderen technischen Systemen, bei denen dies auch, aber nicht in derselben Prägnanz geschieht. Wenn man den Kontrast von »Design« und »Entwicklung« auf diese Lernprozesse anwendet, dann durchlaufen künstliche neuronale Netze, die zu deep learning in der Lage sind, nachdem sie designed worden sind, eine Entwicklung, die nicht mehr von ihren Designern gesteuert wird und deshalb als »natürlich« bezeichnet werden kann. Die Methoden und Ideale der Problemlösung, die am Anfang ihres Designs durch die Menschen standen: die Anwendung einer transparenten Programmiersprache, werden von diesen technischen Gebilden in ihrer autonomen Entwicklung nicht mehr angewandt. Deshalb darf es nicht erstaunen, dass sie den Idealen dieses Anfangs nicht mehr entsprechen, wenn sie sich eine Weile autonom entwickelt haben. Sie treten in dieser Entwicklung gewissermassen in einen neuen Wirklichkeitsbereich ein, so wie wir einen neuen Wirklichkeitsbereich betreten, wenn wir von der anorganischen in die organische Natur übergehen. Denn so wenig die allgemeine Entwicklung der Lebewesen vorausberechenbar ist (etwa das Aussterben einer Art aufgrund einer kosmischen Katastrophe wie einem Meteoriteneinschlag), ebenso wenig ist die Entwicklung von technischen Systemen vorausberechenbar, wenn diese nicht mehr nach einem vorgeschriebenen Programm verläuft. Die technischen Systeme verhalten sich dann wie Personen, die potentiell in ihrer Entwicklung »immer freier« werden, je weniger die Eltern das Verhalten ihrer Sprösslinge durch feste Programme reglementieren. Mit welchen Idealen auch immer Eltern an ihre Erziehung gehen: wenn ihre Kinder erst einmal selbstständig sind, müssen sie in ihrem Handeln diesen Idealen nicht mehr entsprechen, denn sie steuern den weiteren Entwick24 Das hat vor allem der für die Technikphilosophie bis heute wenig rezipierte George Simondon hervorgehoben. Vgl. sein: Die Existenzweise technischer Objekte. Übersetzt von Michael Cuntz, Zürich 2012.
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lungsprozess dann nicht mehr. Und ebenso wie uns Personen, die eine lange Entwicklung hinter sich haben, nicht vollständig transparent sein können, weil wir nicht wissen, wie sie »die Welt sehen«, welche Muster sie ausgebildet haben, um in einer Wirklichkeit zurecht zu kommen, die eine Mischung aus Zufall und Notwendigkeit ist, ebenso werden uns sich entwickelnde Apparate intransparent, die solche Entwicklungen durchmachen. Wäre die Wirklichkeit keine Deweysche, wäre sie vollständig gesetzmässig, so wäre auch vorauszusehen, wie eine Anpassungsgeschichte an sie verlaufen würde. Doch weil sie nicht so beschaffen ist, sind die Anpassungsgeschichten der Einzelwesen in der Welt, ob sie nun natürlichen oder technischen Ursprungs sind, verschiedene. Die Verschiedenheit von Wesen, die eine Geschichte durchlaufen, kommt nicht nur dadurch zustande, dass es unterschiedliche Anpassungslösungen für dieselben Probleme gibt (wie Flugzeugflügel und Rotorblätter), sondern dass die Einzelwesen verschiedenen Zufällen ausgesetzt sind, die ihre interne Musteroder Begriffsbildung beeinflussen, sie haben nie den vollständig identischen Input. Doch welchen Status hat eigentlich die Feststellung, dass die Wirklichkeit eine Deweysche ist, dass sie gemischt ist aus Zufall und Notwendigkeit? Seit Kant wissen wir, dass eine wissenschaftliche Kosmologie unmöglich, der Begriff »Welt« empirisch als Ausdruck für das »Ganze der Erscheinungen« in seiner Bedeutung schwer kontrollierbar ist.25 Wir haben immer nur Erfahrungen von Weltausschnitten, nicht von der Welt als Ganzer, von der wir ein Teil sind. Wenn wir die Wissenschaften betrachten, so sind wir in der subatomaren Region der Quantenereignisse mit einer Zufallswelt konfrontiert, in der Region der mittelgrossen Objekte geht es im Unlebendigen weitgehend deterministisch zu. Im Bereich des Organischen mischen sich Zufall (der Mutation) und Notwendigkeit (der Selektion). Und wenn wir unsere Lebenserfahrung, die Alltags- oder »Lebenswelt« betrachten, so sind wir da ebenfalls mit einer Mischung aus Mustern und Notwendigkeiten auf der einen und Neuheiten und Zufälligkeiten auf der anderen Seite konfrontiert. Wenn wir all dies in der Welt erfahren, so kann man zumindest die Existenz von deterministischen Mustern und aleatorischen Ereignissen als Vorkommnissen nicht leugnen. Ob diese Mischung »im Grossenganzen« in einem Zufallsprozess oder einem deterministischen Zusammenhang »aufgehoben« ist, kann niemand wissen. Dewey muss das aber auch nicht behaupten. Er muss keine wissenschaftliche Kosmologie (gegen Kant) anstreben um auch nur auf unserer Alltagserfahrung zu pochen, als einer Erfahrung von einer solchen gemischten Wirklichkeit. Die Intransparenz der selbstlernenden Systeme ist deshalb kein Fehler oder Unfall, nicht das sonderbare Ergebnis einer Dialektik der Informationstechnologie, sondern nichts anderes als ein weiterer Beleg der Angemessenheit eines 25 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, Zweites Hauptstück: »System der kosmologischen Ideen«, Hamburg 1956, S. 447 (B446 f).
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Wirklichkeitsverständnisses im Sinne Deweys. Eine aufgeklärte Wissenschaft wird die Tatsache, dass die Welt eine Mischung aus Zufall und Notwendigkeit ist, nicht nur als für die biologischen Wesen relevant ansehen, sondern für alle Wesen, die eine Geschichte in dieser Welt durchlaufen. Und welche täten das nicht?
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