Amicitia vocalis: Sechs Kapitel zur frühen italienischen Lyrik mit Seitenblicken auf die Malerei [Reprint 2011 ed.] 9783110944358, 3484523271, 9783484523272

In contrast to prevalent scholarly opinion on the subject, this book proceeds on the assumption that early Italian love

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German Pages 270 [272] Year 2004

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Table of contents :
Einleitung
I. Ein Bote erhält Urlaub
1. Text und Kontext
2. Abschied mit Gesang
3. Ein Axiom
4. Kontext
5. Ein Sänger und Komponist
6. Ein Sängerbild
7. Die Autoren
8. Abschiedszeremoniell
9. Kontrafaktur
10. Weitere Abschiedslieder
11. Höfische Komödie
II. Das Huldritual
1. Wie feudal war die feudale Metapher?
2. Das Liebeshuldritual
III. Theatralität
1. Mario Apollonio
2. Das Zeigen der Zeichen des Liebesleids
3. Lese- und Vortragslyrik nach 1290
4. Buch und Pergament
5. Eine Ergebenheitsgeste und Schlußformeln
IV. Gelegenheiten
1. Im Kreise Friedrichs II
2. Im toskanischen Contado
3. In den Kommunen
V. Das Amorspiel
1. Das Spiel an König Manfreds Hof
2. Spuren des Spiels in der Lyrik
3. Ein erzähltes Amorspiel
4. Amors Hof im Bild
5. Zwei weitere Spiele
VI. Der Engel und der Tod
1. Schöpfungs- und Erkenntnislehre
2. Die Schöne und der Engel
3. Die Schöne und der Tod
4. Dantes Frauentotenbuch und die Konvention
Schlußbemerkungen
Verzeichnisse
1. Literatur
2. Namen
3. Blicke auf Bilder
Abbildungen
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Amicitia vocalis: Sechs Kapitel zur frühen italienischen Lyrik mit Seitenblicken auf die Malerei [Reprint 2011 ed.]
 9783110944358, 3484523271, 9783484523272

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET V O N GUSTAV GRÖBER HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER HOLTUS

Band 327

JOACHIM SCHULZE

Amicitia vocalis Sechs Kapitel zur frühen italienischen Lyrik mit Seitenblicken auf die Malerei

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-52327-1

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Einleitung

1

I. Ein Bote erhält Urlaub 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

14

Text und Kontext Abschied mit Gesang Ein Axiom Kontext Ein Sänger und Komponist Ein Sängerbild Die Autoren Abschiedszeremoniell Kontrafaktur Weitere Abschiedslieder Höfische Komödie

14 15 17 19 25 28 32 37 41 43 45

II. Das Huldritual

48

1. Wie feudal war die feudale Metapher?

48

2. Das Liebeshuldritual

63

III. Theatralität

71

1. Mario Apollonio 2. Das Zeigen der Zeichen des Liebesleids 3. Lese- und Vortragslyrik nach ,1290 4. Buch und Pergament 5. Eine Ergebenheitsgeste und Schlußformeln IV. Gelegenheiten

71 73 82 91 96 99

1. Im Kreise Friedrichs II a. Botenankunft b. Frauentotenlieder c. Aquileia 1232 d. Policoro 1233 e. Sardinien 1238 f. Was der Kaiser gesungen haben könnte

99 99 104 105 110 113 116

V

2. Im toskanischen Contado a. Guittone und der Graf von Santa Fiore b. Guittone und Orlando da Chiusi

120 120 122

3. In den Kommunen a. Die kommunale Ritterschaft und das Fest b. Frauenschau und Schönheitskult c. Ein armer Guelfe in Bologna d. Brunetto Latini und die weiße Lilie e. Introitus dominae f. Sonettvortrag g. Die Aufwartungsszene auf den Miniaturen von Ρ

125 125 130 139 144 150 158 166

V. Das Amorspiel 1. 2. 3. 4. 5.

Das Spiel an König Manfreds Hof Spuren des Spiels in der Lyrik Ein erzähltes Amorspiel Amors Hof im Bild Zwei weitere Spiele

VI. Der Engel und der Tod 1. 2. 3. 4.

Schöpfungs-und Erkenntnislehre Die Schöne und der Engel Die Schöne und der Tod Dantes Frauentotenbuch und die Konvention a. Razo und Liebesvita b. Ratespiel und «schermo» c. Prominenz d. Stimme und Schleier e. Totenklage und Totengedächtnis f. Familieninteresse g. Vita Nova und die Miniaturen in Ρ

. . . .

173 173 176 186 193 195 198 198 202 213 218 218 220 223 224 228 232 233

Schlußbemerkungen

Tbl

Verzeichnisse

243

1. Literatur 2. Namen 3. Bücke auf Bilder

243 256 260

Abbildungen

261

VI

Einleitung

Einer vielzitierten Deutung aus der Feder Roberto Antonellis zufolge hat sich Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen nicht lange nach seiner Rückkehr aus Deutschland, vermutlich gegen Ende der zwanziger Jahre des Duecento, dazu entschlossen, in seinem unteritalienischen Königreich eine Lyrik nach dem Modell der Trobadors, jedoch in der Landessprache ins Leben zu rufen, um ein kulturpolitisches Zeichen zu setzen. Literatur in der Landessprache sollte dazu beitragen, die «Autonomie» seines «Staates» gegen den kulturellen Anspruch der Kirche zu behaupten, deren Sprache das Lateinische war: «Costituire un centro poetico che trasferisse in una lingua locale l'esperienza provenzale significava [...] oggettivamente dotarsi di autonomia e p r e s t i g i o nel settore piü emblematico e raffinato della cultura romanza, inserendo anche la letteratura volgare nella concezione politico-culturale federiciana, volta a dotare lo Stato di tutte quelle caratteristiche che lo individuassero come sovrano rispetto all'altra grande istituzione italiana, la Chiesa» (59).'

Das provenzalische Modell ließ sich jedoch nicht so verwenden, wie es sich darbot, denn die Lyrik der Trobadors hielt einen unter ganz anderen sozialen und politischen Bedingungen entstandenen «höfischen Mechanismus» in Gang und war an ein «inner[höfisch]es Schauspiel» gebunden, was beides sie ungeeignet machte, die «Wirklichkeit» von Friedrichs «neuem Staat» zum Ausdruck zu bringen oder zu «repräsentieren»: «Sviluppo di una tradizione poetica autoctona (contrariamente a ciö che era awenuto, e ancora aweniva, nelle corti del Nord) e atteggiamento tenuto nei confronti dei trovatori sono [...] due aspetti di una stessa realtä che rimandano direttamente ad una spiegazione politica. la funzionalita della poesia Urica a sottolineare l'impegno laico del sovrano e l'autonomia completa dello Stato federiciano; per contro Yinutilitä, se non addirittura la dannositä, dei poeti provenzali agli stessi scopi. La poesia provenzale, in quanto estronea al tessuto storico-sociale del Regno, si presentava soltanto come un fatto di puro spettacolo interne, mentre all'esterno poteva rapprisentare ancora il consueto meccanismo cortese, non la realtä di un nuovo Stato» (69s.).

Der scheinbare Widerspruch zwischen der Nutzung des provenzalischen Modells und dem Desinteresse an seinen «Trägern», den Trobadors, erkläre sich dadurch, daß Friedrich nur an der «politisch-kulturellen Bedeu1

Seitenangaben nach Antonelli (1979). Kursivierungen im Original. Siehe auch id. (1994, 311ss.).

1

tung» einer Lyrik in der Landessprache gelegen war, nicht jedoch an der üblichen Art und Weise, eine solche Lyrik darzubieten, ihrer «höfischspektakulären Manifestation»: «[...] non apparirä contraddittoria, ma anzi fortemente significativa, la posizione di indifferenza manifestata da Federico II [...] nei confronti dei trovatori, o w e r o degli eredi diretti della tradizione provenzale. Una possibile razionaüzzazione dei pochi dati disponibili porta a pensare infatti che a Federico interessasse piü il significato pofitico-culturale che non le manifestazioni effettive (cortesi/spettacolari) della poesia trobadorica» (60s.).

Auf welche Weise man die unteritalienische Liebeslyrik die Autonomie des neuen Staates nach dem Verzicht auf die «effektive», also 'tatsächliche' und 'wirksame' höfisch-spektakuläre Manifestation hat «repräsentieren» lassen, wird nicht erörtert. Die Last, die hier der Lyrik aufgebürdet wird, ist ohne Zweifel beträchtlich. Die wichtigste Einrichtung seines «neuen Staates», die Kanzlei, hat Friedrich bekanntlich nicht mit dem sprachlichen Charakteristikum ausgestattet, mit welchem sie Autonomie hätte demonstrieren können, und wie die Sprache der Gesetzgebung, so blieb auch die Sprache der Wissenschaft am Hof selbstverständlich das Lateinische. Nicht einmal seine Abhandlung über den herrschaftlichen Laiensport par excellence, die Falkenjagd, hat Friedrich, zur Unterstreichung seines «impegno laico», auf italienisch abgefaßt. Nichts war zudem, seitdem sich der Minnesang über ganz Europa ausgebreitet hatte, selbstverständlicher, als von der Liebe in der Landessprache zu singen, und einer Erklärung wäre eher bedürftig, weshalb man sich an den oberitalienischen Höfen und in einigen Kommunen, insbesondere in Genua, nicht an diese Regel gehalten und das Provenzalische bevorzugt hat. Friedrichs «politisch-kulturelles Konzept» hielt sich, aufs Ganze gesehen, also eher im Rahmen des allenthalben Üblichen, und auch der Schluß von seinem Desinteresse an den Trobadors auf das Desinteresse an ihrer Praxis, der «effektiven» höfisch-spektakulären Manifestation, ist nichts weniger als zwingend, denn so wenig man in Deutschland, wo ein Meister solcher Manifestationen, der Dichter-Sänger Walther von der Vogelweide, an Friedrich herangetreten ist, auf die Trobadors angewiesen war, so wenig bedurfte man ihrer Mitwirkung im Regno, da es zum Dichten in der Landessprache gehörte, das Selbstgefertigte, auf welche Weise immer, auch selbst zu «manifestieren». Ferner ist nicht recht zu erkennen, wie durch bloßen Verzicht auf die höfisch-spektakuläre Manifestation die italienische Nachahmung das provenzaüsche Modell so hätte verändern können, daß es nunmehr den neuen «significato politico-culturale» tragen konnte. Man kann sich zwar, etwa nach Blicken auf die Reichssprüche Walthers von der Vogelweide, ohne größere Mühe eine Lyrik vorstellen, die sich in den Dienst der Propagierung eines bestimmten staatlichen Anspruchs stellte, aber der hierfür im provenzalischen Modell bereitstehenden Gattung, des Sirventes, haben sich die Sizilianer bekannt2

lieh nicht bedient. Zu Friedrichs «politisch-kulturellem Konzept» gehörte es also offensichtlich, daß Staatspropaganda — von gewissen Ausnahmen abgesehen — in der Lyrik nicht thematisiert werden sollte. Die sizilianische Lyrik ist deshalb so gut wie ausschließlich Liebeslyrik, und da sich eine solche nicht zur Staatspropaganda eignet, hat man die ganze Last der angenommenen neuen Bedeutung notwendigerweise einem einzigen Merkmal aufbürden müssen, nämlich der Sprache, in welcher sie verfaßt worden ist, dem unteritalienischen «volgare aulico». Antonelli hat dies zwar nicht so deutlich herausgestellt, aber Furio Brugnolo ist in einem Beitrag über die Lyrik der Sizilianer zu einer neueren Literaturgeschichte, nach einer ausführlichen Erörterung oder vielmehr klarsichtigen Adaption von Antonellis Gedankengang, im Jahre 1995 exakt zu diesem Ergebnis gelangt. In der Wahl der Sprache, heißt es dort, «[i]n questa scelta — piu ancora che nella scelta stessa del volgare quale strumento e simbolo di un'affermazione dei valori laici della cultura di contro al predominio e talora all'aroganza della cultura clericale — e certamente da vedere tl vero significato (politico> dell'esperienza siciliana, e uno dei tratti fondamentali del progetto culturale che ne e alia base e che non e azzardato far risaüre alla stessa persona di Federico II. L'alternativa, in altre parole, non e tra il volgare — fra l'altro rigorosamente limitato al genere rarefatto ed elitario della lirica amorosa — e il latino (che resta a lungo esclusivo in tutti gli altri ambiti), ma tra il volgare locale, siciliano, fino a quel momenta mai fissato per iscritto, e l'unica lingua poetica che finora si fosse affermata nel contesto italiano: appunto l'occitanico. Qui, piu che nella volontä di affermare il prestigio della corte attraverso la fondazione anche in Sicilia di una tradizione lirica in grado di competere, autonomamente, con quelle che davano lustro e rinomanza a tutte le grandi corti dell'epoca, e da vedere una vera e propria direttiva imperiale, nel quadro di un progetto che, se mira a contrastare la politica culturale della Chiesa, mira ancor piu a creare i presupposti per rendere immediatamente percettibile e funzionale anche all'esterno del regno la realtä del nuovo Stato federiciano. L'occitanico - simbolo in Italia, malgrado il suo implicito statuta di lingua della poesia, di frammentazione feudale, di particolarismo e municipalismo — non poteva certo diventare la lingua di una letteratura volgare che potesse senza equivoci legarsi al progetto politico e all'idea imperiale di Federico [...]. [...] In definiva, la volontä di autonomia e la for^apolitica della poesia siciliana coinädono con la sua stessa lingua» (277ss.).2

Ihre «politische Kraft» oder «Wucht» wuchs dieser Lyrik also ausschließlich aus der gewählten Sprache zu, oder genauer: aus der Nichtwahl des Provenzalischen und der Nichtbefolgung des oberitalienischen Beispiels. Aber ist es vorstellbar, daß man etwa am päpstlichen Hof, wo man, wie auch überall sonst, wußte, daß es, von den oberitalienischen Höfen und einigen Kommunen abgesehen, nichts Ungewöhnliches war, in weltlichen Kreisen in der Landessprache von der Liebe zu dichten und zu singen, davon wirklich etwas hätte verspüren und sich beeindrucken lassen können? Antonelli hat sich nicht weiter mit der Frage befaßt, wie man nach dem Verzicht auf die bei den Trobadors auch in Oberitalien weiterhin übliche 2

Seitenangaben nach Brugnolo (1995). Kursivierungen von mir.

3

höfisch-spektakuläre Manifestation verfahren ist, um die neue Lyrik nach altem Modell, aber mit neuer Bedeutung, im Regno und darüber hinaus so unter die Leute zu bringen, daß sie ihre «politische Wucht» entfalten konnte. Auch Brugnolo merkt zunächst nur an, daß es Friedrich nicht so sehr um die Erhöhung des Prestiges seines Hofes, als vielmehr, unabhängig von diesem Prestige, um die Wirkung nach außen gegangen sei und die Botschaft von der Wirklichkeit seines neuen Staates, allein aus der gewählten Sprache sprechend, außerhalb des Regno «unmittelbar wahrnehmbar» sein sollte. Dazu mußte die Lyrik wohl außerhalb des Regno verbreitet werden, und der Frage, wie dies geschehen sein könnte, wendet sich Brugnolo auch zu, allerdings mit einem beunruhigenden Ergebnis, denn in der Überlieferung deutet nichts darauf hin, daß man sich mit der Verbreitung sonderliche Mühe gegeben hätte. Man sammelte, ordnete und verbreitete offenbar nicht zielstrebig, sondern überließ die Dinge eher dem Zufall oder Gelegenheitssammlern, wobei zu bemerken ist, daß Mangel an Zeit bei einem kaiserlichen «kulturellen Projekt» mit politischen Implikationen wohl kaum als ausreichende Entschuldigung für organisatorische Versäumnisse geltend gemacht werden kann. Daß man keine Zeit für solche Dinge hatte, spräche eher dafür, daß man sie nicht für wichtig hielt und es ein solches Projekt nicht gab: «E probabile [...] che in epoca federiciana non si sia mai arrivati (anche solo per banali ragioni di tempo) a raccolte antologiche organiche, ordinate e (che si saranno formate solo ρίύ tardi in Toscana per cura delle cerchie degü estimatori ed imitatori ). Un canzoniere siciliano dei Sicilian!, vale a dire un serio trattamento librario della loro produzione poetica, non dev'essere mai esistito; devono essere esistite solo raccolte minori, d'occasione, non ordinate. Se e cosi, si spiegherebbero non solo il totale naufragio della tradizione originaria, che consegue al tramonto della potenza sveva, ma anche le frequenti confusioni attributive nei canzonieri toscani» (286).

Wie es aber immer mit der Verbreitung der siziüanischen Lyrik bestellt gewesen sein mag, man ist sich darin einig, daß «effektive» höfisch-spektakuläre Manifestationen nach der Gewohnheit der Trobadors nicht dazu beigetragen haben können, weil sie an Friedrichs Hof nicht geschätzt wurden. Nach Antonellis Uberzeugung hätten sie die Entfaltung und Wirkung der «politisch-kulturellen Bedeutung» der Lyrik durch Rückbindung an den «gewohnten höfischen Mechanismus» behindert, und Brugnolo nimmt an, daß es im Regno keine Hofkultur gab, in welche sie sich hätten integrieren lassen: «Una vera cultura , nel senso sociale-mondano, manca nel regno di Sicilia. Federico II e piu portato alia caccia che al torneo, piu alio spettacolo del potere (di tipo spesso Orientale) che alia cortese di cui la performance poeticomusicale e parte integrante. Ε risaputa la fredezza dell'imperatore nei riguardi di quei professionisti della poesia che erano i trovatori, e piu ancora la sua awersione nei confronti degli hystriones, categoria in cui sono certo compresi anche quei giullari cui tanto deve la diffusione della Urica trobadorica. Mancano le hat man einen weiteren Beweis für die Richtigkeit von Marigos Axiom gesehen, wenn auch keinen Beweis ersten Ranges, da dies die Folge von Überlieferungslücken sein könne (Roncaglia 1978, 379s.). Nach Bumke (1986, I 248). Siehe ferner Rieger (1987a) sowie id. (1997) mit reichen Belegen aus der erzählenden Literatur. Siehe auch die Beschreibung des königlichen Hochzeitsmahls bei Francesco da Barberino (1995, 49): «Or si convene ogimai di mangiare. / Suonan le trombe e Ii stormenti tutü, / canti soavi e sollazzi dattorno».

25

«Folquetus, episcopus Tolosanus, cum audiebat cantare aliquam cantilenam quam ipse existens in saeculo composuerat, in illa die, in prima hora, non comedebat nisi panem et aquam. Unde etiam accidit semel, cum esset in curia Regis Franciae, in mensa quidem joculator incepit cantare unam de suis cantilenis, et statim episcopus praecepit sibi aquam afferi, et non comedit nisi panem et aquam».

Daraus, daß in der ersten Anekdote nur ein einziger Tag genannt wird, muß man schließen, daß der Bischof sich an demselben Tag mit der Beschränkung auf Wasser und Brot kasteite, an welchem er seine Kanzone gehört hatte, und da er dies «in prima hora» tat, kann er die Kanzone nur kurz zuvor, also zur selben «ersten Stunde», zwischen sechs und acht Uhr morgens, gehört haben. Die zweite Anekdote bestätigt, daß «bei Tisch» gesungen wurde, und wieder kasteit sich der Bischof umgehend («statim»), und nicht erst am nächsten Morgen. Wahrscheinlich wollte der König den Gast mit einem seiner eigenen Werke ehren und rechnete nicht mit einer solchen strengen Verurteilung poetischer Jungendsünden, und ähnlich dürfte auch die Wahl des Lieds zur «ersten Stunde» begründet gewesen sein. Da nicht anzunehmen ist, daß Robert de Sorbon eine der beiden Tugendproben des Bischofs in einer Situation angesiedelt haben könnte, die für die Hörer seiner Predigt völlig unglaubwürdig war, kann man in dem anekdotischen Exempel wohl einen Beleg dafür sehen, daß bereits das Frühstück hoher Herren mit Gesang und Saitenspiel «zelebriert» wurde, und der sangesfreudige Kaiser Friedrich II. dürfte die wenigsten Gründe gehabt haben, eine solche repräsentative Annehmlichkeit oder «iucunditas» zu vernachlässigen, zumal auch diese sich hygienisch rechtfertigen ließ. Aus den Schriften des Boethius wußte man nämlich, daß die Pythagoräer am Abend zu Melodien zu singen pflegten, die geeignet waren, die Sorgen des Tages aufzulösen und in einen ruhigen Schlaf überzuleiten, und am Morgen zu Melodien, die aus der Schlafbefangenheit befreiten und eine dem Tageswerk förderliche harmonische «Stimmung» herstellten, beides Maßnahmen, die auf der Lehre von der «musica humana», der leib-seelischen Harmonie, beruhten. Hierzu noch einmal Roger Bacon: «Et ait Boetius quod in tantum prisca: philosophise studiis vis musica: artis innotuit, ut Pythagorici, cum diurnas in somno resolverent curas, quibusdam cantilenis utebantur, ut eos lastus et quietus somnus arriperet; et expergefacti aliis quibusdam modis stuporem somni conjusionemque purgabant. Hase itaque omnia, ut ait Boetius, docuerunt sapientes, quia seiverunt quod tota animae corporisque compago musica compactione conjuncta sit; nam ut sese affectus corporis habent, ita et pulsus cordis motibus incitantuD>.34

33 34

Mitgeteilt in Folquet de Marselha (1910,112*). Opus tertium (Roger Bacon 1859/1965, 299s.). Zur «musica humana» und zum abendlichen und morgendlichen Gesang Weiteres bei Kümmel (1977, z.B. 93s.). Zur mittelalterlichen Schlafmusik, im Französischen «endormant», in der Intelligenz «indormante», Vecchi (1966, 16). Der Beleg aus der Intelligenter, «d'una dolze viuola udi' sonante, / sonando una donzella lo 'ndormante» (Poeti minori Μ

26

Zu welcher Art von Texten am Morgen gesungen wurde, war offenbar nicht so wichtig. Da es im Werk Folquets und auch in der sonstigen Trobadorlyrik keine Kanzone gibt, die sich, wie etwa das Carmen Buranum 130 vom Schwan am Bratspieß und in der Schüssel,35 gewissermaßen als Servier-Conductus oder auf andere Weise auf das Essen bezöge, können dem Bischof von Toulouse zu den von Robert de Sorbon erwähnten Mahlzeiten nur Liebeskanzonen zu Gehör gebracht worden sein, und wenn seine Liebeslieder nach der Auffassung der Sänger oder ihrer Auftraggeber zur Tischfreude beitrugen, dann konnte dies auch die Frauenschelte des italienischen Anonymus an Friedrichs II. Frühstückstafel.36 Einem Dichter, der schon seinen Zeitgenossen als der beste seines Kreises galt, konnte also zugemutet werden, morgens wohl bei einer solchen Gelegenheit seine Kunst als Sänger zu zeigen! Bevor man dies für vollkommen unmöglich erklärt, weil es mit der Würde eines Dichters nicht zu vereinbaren sei, sollte man sich sicherheitshalber fragen, ob in früheren Zeiten nicht mit anderen Vorstellungen von Würde zu rechnen ist, in diesem Fall etwa mit einer Würde, die keineswegs litt, sondern zunahm, wenn man in Gegenwart oder gar mit seinem Herrn abwechselnd bereits am Morgen eben etwa zur gemeinsamen «Einstimmung» im Sinne der «musica humana» sang. Der wesentliche Punkt dürfte auch dabei die Freude gewesen sein, und daß das Singen oder Anhören von Liedern mit dem Thema «La donna e mobile» Männer nicht in Melancholie versinken läßt, ist bekannt. ,Daß man in den Kreisen der Lyriker mit den hygienischen Vorstellungen von der Wirkung des Gesangs vertraut war, zeigt die oben bereits angeführte Strophe aus der Kanzone eines anderen Anonymus. Wie dem aber im einzelnen auch gewesen sein mag, die an Giacomo da Lentini gerichtete Aufforderung zu allmorgendlichem Singen halte ich für eine der interessantesten Stellen in der gesamten frühen italienischen Lyrik, nicht nur, weil sie Giacomo als Sänger bezeugt. Dafür, daß Giacomo auch Komponist war, spricht indirekt eine Stelle bei Francesco da Barberino. Dieser gibt in den Documenti d'Amore die folgende Definition: «Consonium antiquitus dicebatur omnis inventio verborum que super aliquo caribo, nota, stampita, vel similibus componebantur, precompositis sonis, hodie verba talia nomen soni vel sonum fabricantis secuntur».37

35 36

37

Trecento 1952, 650: Str. 294). Bei Levi (1908, 347) eine Miniatur, die einen Viellespieler zeigt, der vor einer im Bett liegenden Person spielt. Siehe auch Levis Erläuterung. Carmina Burana (1971,1. 2, 215). Siehe bereits Schulze (2003b, 198ss.). Ein weiterer Beleg für die Zelebrierung des Frühstücks, sogar vor einer Schlacht, mit Gesang und sogar mit Tanz folgt unten, p. 113. Francesco da Barberino (1905-1927, II 263).

27

Früher gab es einmal eine Bezeichnung allein für den Text, der zu einer bereits vorhandenen Melodie geschaffen wurde, um mit ihr zu «konsonieren», «heute», also zur Zeit Francescos und folglich zu der Zeit, zu welcher Giacomos Discordo in V und in den ebenfalls in Florenz entstandenen Teil der Handschrift L eingetragen worden ist, gibt es eine solche Bezeichnung nicht mehr. Wird zu einem Text mit sequenzartiger Form der Name einer Person genannt, handelt es sich um das «nomen sonum fabricantis». Bei den beiden Zuschreibungen «Notaro Giacomo: discordo» (V 5) und «Discordio di Notar Giacomo» (L 110) könnte man daher allenfalls fragen, mit welcher Sicherheit angenommen werden kann, daß auch der Text von Giacomo stammt. Bei dem einem «Messer lo re Giovanni» ohne Gattungsbezeichnung zugeschriebenen Discordo Donna, audite como (V 24) wäre, wenn man in dem König Jehan de Brienne als König von Jerusalem vermutet, zu fragen, ob es sich dabei nicht um ein «nomen soni» handeln könnte. Jehan de Brienne dürfte im Italienischen wohl kaum gut genug bewandert gewesen sein, um darin zu dichten, aber einer Melodie könnte, etwa als er sich gelegentlich der Verheiratung seiner Tochter mit Friedrich II. in Italien aufhielt, zu seinen Ehren ein solcher Name gegeben worden sein. Möglich wäre auch, daß die Melodie diesen Namen erhielt, weil Jehan oder seine Musiker sie nach Italien mitgebracht hatten, wo man sie «einbürgerte», indem man sie mit einem italienischen oder überhaupt erstmals mit einem Text versah, ihre Herkunft dabei mit dem Namen kennzeichnend.38 6. Ein Sängerbild Singende Menschen bildlich darzustellen, ist nicht ganz einfach, aber natürlich auch nicht unmöglich. Dies zeigt z.B. die Ausmalung der Initiale eines Psalms in einer gegen 1267 in Bologna angefertigten Bibel. Die Miniatur stellt eine Gruppe von Mönchen vor einem Lesepult dar, auf dessen schrägem, von einem y-förmigen Ständer gestützten Brett ein aufgeschlagenes Buch liegt. Auf den beiden offenliegenden Seiten sind Linien zu erkennen, zwischen welchen in gerader Linie Punktreihen verlaufen. Diese Punktreihen stehen offenbar für den über vorgezeichnete Linien geschriebenen Text. Unmittelbar vor dem Lesepult steht ein Mann in dunklem Gewand, der mit dem rechten Zeigefinger auf die Unterkante des aufgeschlagenen Buchs weist. Dies ist offenbar der Kantor, der anzeigt, welcher Psalm zu singen ist. Um ihn herum stehen sechs heller gekleidete Mönche, von denen vier im Profil dargestellt sind und die Münder zum Teil recht weit geöffnet haben.39 Es ist zwar deutlich zu erkennen, daß sie 38

39

Ähnlich bereits Schulze (2002c, 67s., n. 21). 103, Planche L (= 50). Erläuterung mit Datierung 85ss. Linien mit Punktreihen dazwischen erkennt man auch auf den aufge-

Manusaits enlumines (1984), Nr. 28

die Münder deswegen geöffnet haben, weil sie einen Psalm singen, aber so würdig diese Tätigkeit auch sein mag, sie wirken doch ein wenig wie Karikaturen. Ein Mensch, der mit offenem Mund dasteht, ohne daß aus diesem Mund hervorgehende Rede oder Gesang zu hören wären, wirkt ohne Zweifel etwas töricht, oder zumindest nicht ganz und gar würdig, und dies könnte der Grund nicht nur dafür sein, daß auf dieser Miniatur zumindest die würdigste Person, der Kantor, mit geschlossenem Mund dargestellt ist, sondern auch dafür, daß in den Trobadorhandschriften die Dichter auch dann, wenn sie in eindeutiger Vortragspose dargestellt sind, den Mund nicht geöffnet haben.411 Später ist man davor jedoch nicht mehr zurückgeschreckt, denn eine der Illustrationen des Meliadus von Rustichello da Pisa in einer um 1352—1362 entstandenen Handschrift zeigt Meliadus vor König Artus auf einer Laute spielend und eindeutig mit geöffnetem Mund singend.41 Was die einzige mit Miniaturen ausgestattete italienische Lyrikhandschrift (P) betrifft, so ist in der Initiale der Kanzone Giä lungamente, Amore (P 28) Giacomo da Lentini eindeutig beim Vortrag und ebenso eindeutig mit geschlossenem Mund dargestellt. Auf dem Rotulus, welchen er mit beiden Händen und, wie beim Singen erforderlich, in ausreichendem Abstand von der Brust hält, sind, wie auf der Miniatur aus der Bologneser Bibel, Linien gezogen, jedoch Doppellinien, und dazwischen verlaufen keine geraden Punktreihen, sondern Krakel, die wie Neumen aussehen (Abb. I42). Als Neumen oder «note musicali» hat denn auch die Musikwissenschaftlerin Beatrice Pescerelli die Krakel gedeutet, die den musikalischen Miniaturen in Ρ einen kurzen Aufsatz gewidmet hat. Über einer vorgezogenen Linie steht jeweils, wie man sagen könnte, eine Notenlinie mit Neumen darüber, gewissermaßen als Notierung einer «musica sine littera», oder anders gedeutet: über der vorgezogenen Linie verläuft eine zweite als Kürzel für den Text unter den Neumen oder Noten. Pescerelli

40

41 42

schlagenen Büchern des Professors und der Studenten in einer Lehrszene: Nr. 134, Planche LXVIII (1. Viertel des 14. Jh.). Quelle und Erläuterung 109. Siehe die 223 Abbildungen aus den Trobadorhandschriften Α, Η, I und Κ bei Riquer (1995). In A, f. 172r, sollte Bartolomeo Zorzi nach Anweisung als ein Edelmann dargestellt werden, der im Gefängnis «singt». Er sitzt auch mit Sprechergebärde hinter Gittern, aber sein im Profil dargestelltes Gesicht zeigt eindeutig einen geschlossenen Mund (ibid., 314). Corpus der italienischen Zeichnungen (1968, I. 1, 145, 147): London, British Museum Ms. Add. 12228, f. 223. Abbildungen im Anhang. Die Miniaturen sind jetzt bequem zugänglich in II Cansptiiere Palatino (2000). Hier Ρ 28, f. 18r. Zu vergleichen ist die Darstellung Mazzeos di Ricco zu Ρ 26, f. 17r. Er hält den Rotulus mit der Linken und hebt rechts den «digitus argumentalis». Doppellinien und Krakel sind verblaßt oder abgesprungen, die Reste aber noch gut zu erkennen. Zu Ρ 22, f. 15r., sitzt Rugieri d'Amici mit einem Rotulus auf übergeschlagenem Knie, den Blick nicht auf das Blatt, sondern nach rechts geradeaus aus dem Bild gerichtet. Auch hier ist die Beschriftung noch schwach zu erkennen. Selbstverständlich sind die Münder in allen Fällen fest verschlossen.

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nahm an, daß die Anregung zu den Bildern von den Texten ausgegangen sein müsse, und in diesem Fall glaubte sie den Textstimulus in den Versen «Or sono in tal tenore / si k'eo giamai non poria / partire» (P 28, 4ss.) erkennen zu können. Der Maler habe das Wort «tenore» als musikalischen Terminus aufgefaßt, also im Sinne von 'Unterstimme eines mehrstimmigen Satzes', einer Motette.43 Die Bedeutung des Wortes ist hier aber eindeutig nicht musikalisch, es handelt sich vielmehr um einen geläufigen Ausdruck mit der Bedeutung 'Abhängigkeit', 'Gehaltensein' oder 'Besitz' (an angelsächsischen Universitäten noch heute «tenure»). Der Liebende bekennt, so sehr der 'Mann' der Verehrten zu sein, daß er sich aus diesem Verhältnis nicht lösen kann.44 Um in einem solchen Zusammenhang das Wort in musikalischer Bedeutung zu verstehen, hätte es dem Maler wohl so ergehen müssen wie dem Mann, der immer «Agamemnon» statt «angenommen» las, weil ihm seine Klassiker so gegenwärtig waren (Lichtenberg), d.h. der Maler hätte in einem Milieu wirken müssen, in welchem man so tief mit der Musik vertraut war, daß man wohl auch nicht davor zurückgeschreckt wäre, mit Kanzonen dieser Art das zu tun, was man bisher immer damit getan hatte, nämlich sie zu singen, und in einem solchen Milieu hätte man wohl auch ohne einschlägigen Textstimulus darauf verfallen können, Giacomo als Sänger darzustellen. Unterstellt man dem Maler hingegen keine solche Vertrautheit mit der Musik, konnte er im Text keinen einschlägigen Stimulus vorfindet, und wenn er Giacomo trotzdem beim Vortrag und als Sänger dargestellt hat, dann wohl deshalb, weil sich für ihn mit dessen Kanzonenkunst noch ganz selbstverständlich die Vorstellung von Vortrag und Gesang verband. Fredi - oder Inghilfredi — da Lucca hat der Maler vor einem Lesepult der gleichen Art wie dasjenige dargestellt, vor welchem in der Bologneser Bibel die Mönche singen. Der Dichter sitzt in diesem Fall jedoch, hält mit der rechten Hand das aufgeschlagene Buch oder Faltblatt und stützt in der Pose des Melancholikers mit der linken Handfläche Kinn und Wange, weil die Kanzone mit dem Wort «Dogüosamente» beginnt (P 86). Wieder sind auf den beiden Seiten, anders als in der Psalmenilluminierung, Doppellinien mit neumenartigen Krakeln dazwischen zu erkennen. Von Gesang ist im zweiten Vers der Kanzone die Rede: «conven k'io canti», und am Schluß der Strophe folgt ein Vergleich mit dem Schwan, «ke more cantando». In diesem Fall ist der Dichter also nicht beim Vortrag und Singen, sondern als über seinem melancholischen Lied melancholisch sinnend dargestellt.45 43 44

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Pescerelli (1985, 197). Auf den musikalischen Aspekt gehen Moleta (1976) und Storey (2000) nicht näher ein. In dieser Bedeutung kommt «tenore» z.B. auch im Text von Re Giovannis Discordo Donna, audite (V 24, 4ss.) vor: «La mia vita fina / voi l'avete in dotrina / ed in vostro tenore». Zu vergleichen ist die Miniatur zu Fra Guittones Oraparrä s'io saverö cantare (P 93, f. 55r.), der programmatischen Kanzone, in welcher er seine Abwendung von der weltlichen Liebesdichtung verkündet. Der Dichter sitzt hier allerdings nicht

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Wie die Miniatur zeigt, auf welcher Giacomo da Lentini beim Vortrag mit Neumen auf seinem Rotulus dargestellt ist, wußte der Maler offenbar nichts davon, daß Kanzonen schon zu Giacomos Zeiten nicht mehr gesungen wurden. Pescerelli kennt aber natürlich die Lehre vom «divorzio» und gedenkt ihrer auch, ohne ihr jedoch zu folgen: «II ormai in atto a quell'epoca sconsiglierebbe di vedere in queste rappresentazioni una prova dell'intonazione musicale dello stesso repertorio poetico conservato nel codice (prevalentemente canzoni), ma la notissima descrizione dantesca di Casella che intona la canzone e qualche altra precisa testimonianza finiscono per lasciare aperta la questione». Sie selbst läßt die Frage allerdings keineswegs offen, sondern schließt wie folgt: «Nell'insieme, le sei figure offrono un minusculo, ma coerente e articolato, panorama della pratica musicale profana tra Due e Trecento. Testimonianza tanto piü preziosa, ancorche indiretta, in quanto relativa ad un repertorio per il quale manca qualsiasi documentazione musicale diretta».46 Anders hingegen noch vor kurzem der Verfasser des jüngsten biographischen Artikels über Giacomo da Lentini. Dieser geht auch auf die Frage ein, ob Giacomo seine Kanzonen noch gesungen und der Maler ihn in Ρ zutreffend dargestellt haben könnte, und berücksichtigt zudem die Aufforderung zum Singen, durch welche Giacomo durch einen Dichterkollegen als Sänger bezeugt wird. Sein Urteil lautet jedoch: «Owiamente non si tratta di prove, perche tanto il verbo quanto l'immagine dello spartito possono avere significato metaforico».47 Man sieht, die Wirkung von Marigos Axiom ist ungebrochen. Es verhilft zu so starker Gewißheit, daß man nicht einmal mehr genötigt ist, Vermutungen darüber anzustellen, wofür eine Aufforderung zum Singen und Neumen auf einem Rotulus Metaphern sein könnten. Es muß einfach so sein, oder es gilt, anders ausgedrückt, der Morgensternsche Syllogismus, demzufolge «nicht sein kann, was nicht sein dar&>.48

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in Melancholikerpose, sondern trägt mit erhobenem rechten «digitus argumentalis» lehrend vor. Die Doppellinien und Krakel auf dem Doppelblatt sind verblaßt oder abgesprungen, aber noch in schwachen Spuren zu erkennen. Pescerelli sieht in dem Faltblatt auf dem Lesepult merkwürdigerweise ein Klavikord auf den Knien des Dichters. Pescerelli (1985, 197, 199). Daß nicht jegliche direkte musikalische Dokumentation fehlt, konnte sie noch nicht wissen. In der Frage von Casellas Gesang (Purg. 2, 106ss.) hat Plona (1953) auf Marigos Spuren den divorzistischen Standpunkt vertreten, Bisogni (1971) hingegen zu mehr Achtung vor den musikgeschichtlichen Quellen aufgefordert. De Propris (2000, 212b). Morgenstern (1964,166): Die unmögliche Tatsache, Schluß. 31

7. Die Autoren Die Geleitstrophe der Frauenschelte ist immer wieder einmal herangezogen worden, wenn es um die Frage ging, ob auch die Sizilianer ihre Gedichte, wie bei den Trobadors üblich, in dem einen oder anderen Fall mit einer Adressierung versehen hätten, von einer Würdigung der darin enthaltenen Aufforderung zum Singen hat man jedoch in der Regel abgesehen. Der Grund dafür war, daß nach allgemeiner Überzeugung ein Notar gänzlich ungeeignet war, einer solchen Aufforderung Folge zu leisten, und damit sind wir bei der Frage der «Träger» der frühen italienischen Lyrik. Das einzige nicht oder scheinbar nicht als Postulat aus Mangos Axiom abgeleitete Argument zur Begründung der Lehre vom «divorzio» besagte nämlich, daß, wer zum Notar oder Richter ausgebildet worden war, von Musik und Gesang nichts verstanden haben könne. Weil in ihrem Curriculum die Beschäftigung mit Musik nicht vorgesehen war, hätten Juristen Gedichte nur noch schreiben, aber nicht mehr singen, geschweige denn vertonen können.49 Und Juristen hätten den Kern der Sizilianischen Schule gebildet: «La realtä e che in Sicilia, e in generale in Italia, le forze propulsive della cultura piu elevata si affidavano a un indirizzo di studi cui la musica era sostanzialmente estranea, quanto meno marginale. II nucleo piü consistente della Scuola siciliana e costituito da notai, giudici, alti funzionari di cancelleria: tutti forniti d'un'eccellente preparazione retorica e giuridica, non perö musicale. [...] I caratteri di questo ripo di formazione, delle basi sociali cui inerisce e delle dominanti culturali che ne emergono, non possono non riflettersi sulla produzione poeüca [...]».

Der Kaiser stand mit seiner Sangeslust und Kunst als «caso particolare, e magari particolarissimo» an seinem eigenen Hof am Rand. Was er konnte und tat, konnten Giacomo da Lentini (seiner Bezeugung als Sänger ungeachtet), Pier delle Vigne, der Richter Guido delle Colonne und Stefano Protonotaro infolge ihrer Herkunft, ihrer Ausbildung, ihrer andersartigen Interessen und kulturellen Ausrichtung nicht.50 Dagegen, daß Notare und Richter den Kern der Schule gebildet haben könnten, müßte nicht unbedingt sprechen, daß sie rein zahlenmäßig eine unbedeutende Minderheit waren. Vier Juristen, nämlich Pier delle Vigne, Giacomo da Lentini, Guido delle Colonne und Mazzeo di Ricco, stehen 49

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Das Argument ist merkwürdig, da jeder Leute kennt, die, ohne in ihrem Studium zur Beschäftigung mit der Musik angehalten worden zu sein, tüchdge Musiker sind. Um einen nachschlagbaren Fall zu nennen: Franz Josef Degenhardt (*1931) hat Jura studiert und ist Rechtsanwalt geworden, aber in jüngeren Jahren hat er Lieder gedichtet, vertont und zur Gitarre gesungen, wovon Schallplatten zeugen (Brockhaus Erngklopädie in vierund%u>an%ig Bänden, vol. 5, Mannheim 1988, p. 200). Um auszuschließen, daß solche Doppelkarrieren schon im Mittelalter möglich waren, genügt gewiß nicht der Hinweis auf das Curriculum. Dennoch hat das Argument gewirkt, wohl weil etwas in dieser Art zu postulieren war. Roncaglia (1978, 383, 187s.), ähnlich noch Brugnolo (1995, 265, 328), der herrschenden Lehre entsprechend.

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einundzwanzig Lyrikern gegenüber, 51 von deren juristischer Ausbildung wir nichts wissen. Stefano di Protonotaro war kein Protonotar, dafür ist Mazzeo di Ricco inzwischen als Notar bezeugt. 52 Ganz und gar unvorstellbar ist jedoch, daß ausgerechnet Friedrich II. und seine hohen Herren, von denen hier nur sein Sohn Enzo und die hochadeligen Rugieri d'Amici und Folco Ruffo di Calabria genannt seien, 53 sich von einer so unbedeutenden Gruppe eine neue Mode und gar den Verzicht auf das an allen bedeutenderen Höfen Europas bis hin zu demjenigen Karls von Anjou übliche und hochgeachtete höfische Singen hätten aufdrängen lassen. Man müßte schon ein ganz neues Bild von Friedrich II. entwerfen, u m dies für möglich zu halten. Auch hat man die Wirkung der «preparazione retorica» auf eine recht moderne Weise aufgefaßt und die «ars dictaminis» offenbar als eine stille Welt der Feder und des lesenden Auges verstanden. Ihre oratorische Dimension übersah man dabei vollkommen. Die Rechtspflege hatte aber ihre höchst oratorischen und sogar theatralischen Formen, und darauf bereitete man sich während der Ausbildung vor. 54 Der Jurist Pier delle Vigne hatte zudem u.a. das Amt des Logotheten inne, und was ein solcher sei oder zu tun habe, hat Salimbene de Adam folgendermaßen definiert: «qui sermonem facit in populo vel qui edictum imperatoris vel alicuius principis populo nuntiat». 55 Zu den Obliegenheiten der in der kaiserlichen Kanzlei Tätigen gehörte der öffentliche Vortrag und sogar die feierliche Rezitation der dort ausgestellten Urkunden, insbesondere wenn deren Proömien als «amtliche Zeugnisse der Sakralisierung des Kaisertums» dienten. 56 Und daß auch sonst im politischen Leben Italiens das rhetorisch-oratorische Wort reich, wenn nicht gar in Strömen flöß, ist für Kenner der Materie eine wohlbekannte Tatsache. 57 Bei Brunetto Latini heißt es in der Rettoma denn auch kategorisch: «Et al ver dire poco vale trovare, ordinäre, omare parole et avere memoria chi non sae profferere e dicere le sue parole con avenimento».

Und zum «orator» heißt es am Beispiel Piers delle Vigne: 51 52 53

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Nach der Zählung bei Brugnolo (1995, 287). Ciccarelli (1984,103ss.) und id. (1986, LVIIss.). Mazzeo ist ab 1252 bezeugt. Zu der Familie d'Amici Sciascia (2000, 29), zu Folco Vitale (1953, 142s.) und Pontieri (1956, 145, n. 13): der 1276 im Duell mit Simon von Montfort gefallene Folco ist nicht der Dichter (f1266), sondern sein Sohn. Zur «theatrical form of judgement ritual» siehe das Kapitel Theatrical Space and the Orator's Stage, zu der Ausbildung dafür das Kapitel Wars of Words bei Enders (1992, 74ss., 89ss.). Siehe auch Guittones Richterschelte in dem Brief in Versen No e da dir Gioane α tat che node (L 171, V 164, 51): «O non giudice giä, ma gioculare». Salimbene de Adam (1966, II 501). Schaller (1958, 310-324), Fichtenau (1975,145-162). Zu den «ondate di parole» insbesondere der Vertreter der Kommunen Artifoni (1994, 146). Zur Bezeichnung der «nuncii» als «oratores» und den königlichen und kaiserlichen Gesandten als «Stimme ihres Herrn» Queller (1967, 3, 7, 62).

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«Orator e colui che poi che elli äe bene appresa l'arte, si ll'usa in dire et in dittare sopra le quistioni apposte, si come sono fi buoni parlatori e dittatori, si come fue maestro Piero dalle Vigne, il quale percio fue agozetto di Federigo secondo imperadore di Roma et tutto sire di lui e dello 'mperio».58

Wie da den - vier - Juristen ausgerechnet an der Magna Curia der Sinn fur den Vortrag der Lyrik abhandengekommen sein sollte, wäre nicht leicht zu verstehen. Die Behauptung, daß die italienischen Lyriker, besonders wenn sie Notare waren, nur noch «uomini da penna, non da liuto» gewesen seien, wie Vincenzo De Bartholomaeis auf Marigos Spuren bereits 1943 einprägsam und daher folgenreich formuliert hat,59 ist zudem von der Musikwissenschafderin Alessandra Fiori gerade fur die Verhältnisse in den Kommunen aus Bologneser Quellen als eindeutig nicht zutreffend erwiesen worden. In den Händen von Notaren lassen sich reichlich Lauten und andere Musikinstrumente nachweisen, und nicht zuletzt ist die Sangeslust solcher Notare bezeugt, die Gedichte in Memoriali eingetragen haben.60 Unter dem Einfluß von Marigos Axiom hat sich in der Literaturwissenschaft, zumindest wenn es um die Lyrik ging, offenbar ein etwas eigenwilliger Blick auf die mittelalterliche Rhetorik und Musikkultur herausgebildet. Nicht weniger eigenwillig war der Blick auf die «soziale Basis» und die «kulturellen Dominanten» der Juristen, die nicht aus Quellen oder sozialgeschichtlichen Studien belegt, sondern ohne weitere Erläuterung als historische Tatsachen hingestellt oder vielmehr suggeriert worden sind. Historiker hingegen haben festgestellt, daß insbesondere Richter nach Herkunft und kultureller Ausrichtung auf das engste mit der militärischen Aristokratie und deren Lebensform verbunden waren. «Iudices e milites·. gli stessi lignaggi, un unico ceto», so hat man die Dinge, die Verhältnisse noch in den Kommunen betreffend, zusammengefaßt, und: «Figli di milites e loro stessi padri di milites, [...] gli iudices sono prima di tutto dei cavalieri e non c'e da stupirsi che aderiscono totalmente al sistema di valori dell'aristocra2ia cittadina».61 58

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Brunetto Latini (1968, 78, 5). Wenn es im 80. Stück des Novellino von dem Florentiner Ritter Migliore degli Abati, der am Hof Karls von Anjou von gerade zum Ritter geschlagenen jungen Leuten («cavalieri novelli») festlich empfangen und zum Frauendienst («donneare») geführt wird, heißt, «ben seppe cantare, e seppe il provenzale oltre misura bene proferere», so bedeutet dies, daß er Provenzalisches vorzüglich vortragen konnte: «profferere e dicere» (II Novellino 1970, 311). De Bartholomaeis (1943,121). Fiori (1990, 253s.) und vor allem id. (1992, 219s.): Pietro Alegranfe z.B., der 1292 Dantes Donne ch'aviti intellecto d'amore in sein Memoriale eingetragen hat (B 53), ist von der «familia» des Podestä zu nächtlicher Stunde singend angetroffen worden. Maire Vigueur (1994, 164; 170). Ähnlich schon Hessel (1910/1965, 301) für Bologna. Francesco da Barberino (1995, 14, 23, 87) faßt, wenn er die Adressaten seiner pädagogischen Bemühungen nennt, immer wieder Ritter und Richter in 34

Der Richter Guido delle Colonne sowie der Notar Mazzeo di Ricco stammen aus Messina und haben dort gewirkt, weshalb solche Auskünfte nicht zu vernachlässigen wären. Als Beispiel für die Lebensform dieses Zötus hat man den Chronisten Gerardo Maurisio angeführt: «Era di famiglia nobile e ricca; suo padre aveva in Vicenza un palazzo con due torn e anche altrove possedeva beni immobili. Gerardo, come il suo padre, occupö in cittä un posto distinto: fu procuratore, awocato, giudice, notaio e soldata.»,62

Ferner gilt für die «soziale Basis» und die «kulturellen Dominanten» dieser Leute die Schilderung als aufschlußreich, die Salimbene de Adam von seiner Familie und Verwandtschaft gegeben hat, aus welcher mancher in Scharlach ging («induebantur scarulaticis indumentis aliqui eorum»). Sein Onkel Johannes war «magister» und «magnus bellator», sein Onkel Bernardo di Oliviero de Adam ein «famosus iudex et probus in armis», der in der Schlacht fiel, und sein Onkel Martino Ottolini de Stephanie ein «solatiosus homo» und «maximus cantor cum instrumentis musicis, non tarnen ioculato0>, der eine Begegnung mit dem Dichter Girardo Patecchio hatte. Auch seine Töchter waren «optime cantatrices».63 Zu den «kulturellen Dominanten» dieser Leute gehörte also offensichtlich auch das Singen, wozu genauestens stimmt, daß Guittone d'Arezzo in seinem «planh» Chomune perta fa comun dolore den 1277 verstorbenen Richter und Notar Giacomo da Leona auch als Dichter, Sänger und Instrumentalisten gerühmt hat (L 22, 17; 23ss.): «Tu, frate mio, ver bon trovatore [•••] Tu sonatore e cantator gtadivo, senator bono e parlador piacente, dittator chiaro e avenente e retto».

Giacomo stand im Dienst des Bischofs von Arezzo, dessen Hof, wie derjenige des Bischofs von Cortona, wegen der gastlichen Aufnahme berühmt war, welche dort Spielleute fanden.64 An der Vorstellung, daß sich am Hof Friedrichs II. zwei Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungen und Mentalitäten gegenübergestanden hätten, die gewissermaßen bürgerlichen und in Dingen der Bildung und Literatur fortschrittlichen - vier - Juristen auf der einen und der auf dem Gebiet der Lyrik konservative Adel auf der anderen Seite,

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einer Gruppe zusammen: «S'ella sarä figliuola di cavaliere da scudo ο di solenne iudice ο di solenne medico ο d'altro gentile uomo Ii cui antichi ed ello usari sono di mantenere onore, nella cui casa sono ο sieno usati d'esser cavalieri, costor pongo in un grade in questo caso [...]». Francesco war selbst adeliger Herkunft und Notar (Pasquini 1997, 686bs.) und zudem warm an der musikalischen Erziehung der Jugend interessiert (siehe unten, p. 47). Gerardo Maurisio (1914,11), Maire Vigueur (1994,171). Salimbene de Adam (1966 I 51, 75, 76), Maire Vigueur (1994, 168). Zu den höfisch-ritterlichen Aspekten von Salimbenes Weltsicht bereits Violante (1953). Cardini (1998, 555). Zur Person Giacomos Margueron (1966,192).

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kann man also nicht weiter festhalten.65 Die Juristen unter den Dichtern waren nach Herkunft und Mentalität auf das beste darauf vorbereitet, sich dem Leben an der Magna Curia ein2ufügen und mit ihren poetischen und musikalischen Fähigkeiten zu seinem Glanz beizutragen. Ihre Kanzonen unterscheiden sich denn auch nicht von denjenigen der Nichtjuristen, und vergleichend-kontrastierende rhetorische Analysen fehlen wohl nicht zufällig.66 Was Giacomo da Lentini betrifft, so hält man es, da allenthalben Juristen und «milites» derselben Herkunft waren, inzwischen für denkbar, daß er der weitverzweigten altadeligen Familie der da Lentini entstammen könnte.67 Auf die «alleanza tra cavalieri e notai» auf Sizilien komme ich deswegen weiter unten68 noch einmal zurück. Wie fest man allerdings, all dessen ungeachtet, davon überzeugt ist, daß die sizilianischen Lyriker mit ihrer Dicht- und Sangeskunst nicht zum Glanz des Hofes beigetragen haben, und zwar nicht nur, weil die — vier — Juristen die übrigen Dichter dazu gebracht hätten, davon abzusehen, sondern weil der Kaiser selbst ihnen dazu keine Gelegenheit gab, ist dem Kapitel zu entnehmen, das Furio Brugnolo ihrer Lyrik in einer neueren Literaturgeschichte gewidmet hat. «Una vera cultura , nel senso sociale-mondano», heißt es dort, «manca nel regno di Sicilia. Federico II e piü portato [...] alio spettacolo del potere [...] che alla cortese di cui la performance poetico-musicale e parte integrante». Die Lyrik habe keine Verbindung mehr mit dem «comportamento sociale», der «prassi sociale della cortesia» und dem «ceremoniale di corte» unterhalten.69 Woher Brugnolo dies von Friedrich II. weiß, von welchem man sonst annimmt, daß er bestrebt war, die kaiserliche «magnificentia» mit allen zur Verfügung stehenden Mittel zu demonstrieren, teilt er nicht mit, aber man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß hier eine weitere Ableitung aus Marigos Axiom vorliegt.™ Anderweit ist man zu der Erkenntnis gelangt, daß ins65

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Wie noch Antonelli (1994, 322) und Brugnolo (1995, 265, 328). Weniger entschieden Antonelli (1995, 337), aber weiterhin ohne Heranziehung sozialgeschichtlicher Quellen oder Studien. Maire Vigueur (1994,164) sieht die Aufgabe der Forschung darin, ein «robustes Cliche» auszuräumen, nämlich «l'idea che dalla rinascita del diritto in poi il giurista faccia lega con le forze dinamiche della societä, cioe con il mondo cittadino e la borghesia, e poi l'idea che il diritto sia sempre un mezzo di promozione sociale, nella fatüspecie al servizio della borghesia ο nobilitä contro la nobiltä .36

Das Wort «ςεηςοΓε» stammt aus der provenzalischen Lyrik, aber darin kann man kein Indiz dafür sehen, daß etwa die Lyrik des Frauenlobs die Quelle der Höflichkeitsformeln gewesen sein könnte. Erheblich wahrscheinlicher ist es vielmehr, daß bereits die provenzalischen Lyriker aus einem Formelschatz geschöpft haben, der, wenn auch in unterschiedlich raffinierter Ausformung, durch die gesamte Gesellschaft hin verbreitet war, aus dem einfachen Grund, weil das Huldritual in sämtlichen Rängen und unter so gut wie sämtlichen Lebensumständen unumgänglich war und daher überall gepflegt werden mußte. Den Begriff der feudalen Metapher kann man daher wohl aufgeben. Die Lyrik des Frauenlobs hat sich an das Modell des Huldrituals gehalten. Dies lag auch sehr nahe, denn ein Lehen, ein geliehenes Pferd und Liebeshuld sind zwar sehr verschiedene Dinge, aber die Verfahren zu ihrer Gewinnung waren doch im wesentlichen die gleichen. Die Lyrik des Frauenlobs ist zwar in höheren und höchsten Kreisen entstanden und kultiviert worden, wo man unter dem beständigen Eindruck der ausgefeiltesten Formen dieses Rituals stand, aber die Erfahrung mit diesem war nicht auf einen gesellschaftlichen Bereich beschränkt, sondern hatte eine breitere und gewissermaßen auch alltäglichere Grundlage. Die Reduzierung der Feudalität in Süditalien konnte der Lyrik des Frauenlobs daher ihre ursprüngliche Grundlage nicht entziehen, und man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß Jacopo Mostacci ganz ohne Bedenken eine provenzalische «chanson de change» imitieren konnte. Irgendeinem mehr oder weniger hochgestellten reichen oder einflußreichen «amicus», dem man bisher wegen erwiesener Huld treu gedient hatte oder treu hatte dienen müssen, konnte man nach dem Eintritt von Mißhelligkeiten ohne weiteres den Dienst aufkündigen, wogegen die Obrigkeit vom Standpunkt des königlich-apulischen Zentralismus aus gewiß nichts einzuwenden hatte. Und solche Vorkommnisse waren weiterhin die lebensweltliche Grundlage oder die Bedingung der Möglichkeit des Weiterlebens solcher Lieder. Guido Faba hat kein Parlamente für solche Fälle zur Verfügung gestellt, und dies ist auch insofern verständlich, als es wohl kaum zu den Aufgaben eines amtlich bestallten Rhetoriklehrers gehört haben dürfte, Formulare für die Artikulation von Zwietracht zu entwerfen. Man geht im übrigen wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Beteuerung der Ergebenheit und Dienstbereitschaft überall da, wo nicht der Beweis durch Taten verlangt wurde, bereits so verwendet wurde wie die davon abstammende und bei uns erst vor gar nicht so langer Zeit aus der Mode gekommene Beteuerung «Ihr ergebenster Diener!» und das kürzere und volkstümlichere, obwohl in der Wortwahl gelehrte «Servus!». Solche 36

Guido Faba (1959, 7s.).

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Beteuerungen waren dann wohl schon nur noch Ausdruck der Höflichkeit, wie sehr schön ein Sonett zeigt, in welchem Ricco da Firenze auf ein Sonett von Ser Pace eingeht, mit welchem dieser seiner Aufforderung zu einer Tenzone nachgekommen ist (P 178, Iss.): «Salute e gioia mando vi, ser Pace, eo vostro amico sol per udien^a del gran savere e dela caunoscenfa ke 'n voi si trova, ke mi satis face, si k' eo di puro cor, fino e verace, ö miso in voi amar mia benvollienija, e di servir vi sempre ad ubidenga profero meo poder, quando vi piace».

Was hier vorgebracht wird, unterscheidet sich nicht allzu sehr vom Frauenlob, und man kann sich nicht recht vorstellen, auf welche Weise Ricco dem wegen seiner Klugheit oder Weisheit «geliebten» Ser Pace wohl hätte dienen können, es sei denn durch das Verfassen und den Vortrag von Lobsonetten mit Versicherungen wie z.B. (P 176, 5s.): «ke 'nfra doctori, intendo, con ardire portar potete di trovar corona».

2. Das Liebeshuldritual Wie man als lyrischer «vocalis amicus» den Frauen diente, ist aus den vor allem in den Exordien der Kanzonen verstreut vorzufindenden Bausteinen für ein ungeschrieben gebliebenes «Rituale amoris» zu ersehen. Man trat, wie die Bittsteller in Guido Fabas Parlamenta, in ihrer «presentia» auf und nahm ihre «audientia» in Anspruch. Dem entsprechend beginnt eine Kanzone von Albertet de Sisteron mit den Worten (PC 16, 9): «Destreytz d' amor, venc detiant vos, bona dompna, clamar mercet?1

Nahezu mit den gleichen Worten beginnt die bereits erörterte Kanzone des italienischen Anonymus, der jedoch das - wiederholte — Stehen in der «presentia» seiner Dame erst in der zweiten Strophe hervorhebt, die Wendung «a chiedere merzede» zu «a chiedere aiuto» variierend (V 268, ls., 21s.): «Madonna, io son venuto α chiedere merzede» «che sto tutora davante α chiedere vi aiuto»38

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Albertet (1937, 70ss.). 63

Einer solchen Situationsansage ist nicht anzusehen oder abzulesen, daß man in Italien, den aufs Sorgfältigste nach dem Vorbild der Trobadors gewählten Worten zuwider, nicht mehr zum lyrischen Parlamento v o r die Damen trat, sie spricht vielmehr, solange dem Dichterwort der Anspruch auf wörtliche Beachtung zugestanden werden muß, weil der Gegenbeweis nicht besser als «more geometrico» geführt werden konnte und die Chronisten weiterhin v o n höfischem Singen berichten, für die Fortsetzung der provenzalischen Gewohnheiten, auf welche man sich hier deutlich genug bezogen hat.39 In der vierten Strophe von Albertets Kanzone heißt es dann (25ss.): «Retene^ me e mas chansos, pus no m voletz far autre be; [···] . e s' ieu enans ni die vostra lau^or, e vos suy hom et amans e servire, be mi devetz penre per servidor». Die Bedeutung des Wortes «retener» in solchen Zusammenhängen ist bereits bekannt, 40 der erste Vers bedeutet soviel wie 'behaltet mich als jemanden, der Euch mit seinen Liedern den Hof macht', und am Schluß der Strophe bittet der Sänger noch einmal darum, als Dienstmann angenommen zu werden, der seinen Dienst dadurch versieht, daß er das Lob der Dame singt. Ganz ähnlich stellt auch Gaucelm Faidit die Dinge dar, aller38

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Die Parallele ist bei Fratta (1996, 39) notiert. In Guido Guinizellis Donna, l'amor mi sfor^a (V 105, L 50, Ρ 73) scheint Albertets Destreylζ d'amor nachzuklingen. Guido wußte möglicherweise, worauf der Anonymus sich bezogen hatte. Zu den Abhängigkeitsverhältnissen siehe oben, p. 50, n. 8. Zum bedingten methodischen Zweifel an der wörtlichen Geltung des Dichterworts siehe die Problemskizze bei Müller (1999, 152s., 155): Für die Aufführungspraxis «gibt es in der Regel nur indirekte Quellen», «in keinem Fall ist die Wirklichkeit einer bestimmten Aufführung rekonstruierbar». Aufführung «bezeichnet [...] den Rahmen literarischer Kommunikation, der zwar historisch-konkret nicht ausgefüllt werden kann, der aber angenommen werden muß, um Struktur und Funktion der Sprechakte in den für solche Aufführungen bestimmten Texten zu verstehen». Auch der «Trägheit» der Gattung wird gedacht: «Spuren des Aufführungscharakters [...] können auf eine reale Aufführungspraxis verweisen, aber sie können auch bloß Zitate einer älteren Kommunikations situation sein, Aufführung also nur fingieren». Aufführungsfiktion ergibt sich allerdings nicht von selbst aus dem Schweigen der Quellen über historisch-konkrete Aufführungen. Wenn «performative» Ausdrücke — und gar Melodien — vorliegen, ist sie die problematischere Annahme und bedarf des Beweises aus unzweideutigen Quellen. Die Beleglage ist wohl auch nicht überall gleich. Francesco da Barberino gibt immerhin Empfehlungen, wie eine Hofherrin auf «ovre d'amore e di piagere a donne», also auf Werbung um Liebeshuld, zu reagieren habe (siehe oben, p. 53), und wir besitzen von ihm aus der Zeit nach 1300 auch die Beschreibung des Auftritts zweier namentlich genannter Paduaner Minnesänger und der Reaktion eines Teils ihres Publikums darauf (siehe unten, p. 85s.). Ferner ist das Zeugnis der Malerei zu berücksichtigen (siehe unten, p. 166ss.). Siehe oben, p. 38. 64

dings unter Berücksichtigung des Umstands, daß das Singen der Förderung der «Joie de la Cort» dient. In der Kanzone Si tot m'ai tar^at mon chan (PC 167, 53) z.B. teilt er der Umworbenen die Rolle der Auftraggeberin zu, die dazu auffordert, durch Gesang Freude zu zeigen, als deren Quelle ihre Person und insbesondere der Kuß angegeben wird, mit welchem sie ihn in ihren Dienst genommen hat. Wenn man nicht annehmen will, daß Gaucelm unterstellen wollte, sie selbst habe zu indiskretem Ausplaudern gewährter Liebesfreuden geraten, kann man hier wohl an einen dem ernsten und hohen Dienstritual abgeschauten rituellen Kuß denken, mit welchem sie — ob in Wahrheit oder vom Dichter nur behauptet — seinen Dienst angenommen hat,41 dessen Ausübung durch Zeigen von Freude durch Gesang sie nun von ihm verlangt: «Si tot m' ai tarzat mon chan ni n' ai faich trop long estatge, eras ai cor e talan q' en torn la perd' e l damnatge, qe l bellam dreiss' al viatge e m ditz q' ieu mostr en chantan lojoi e la valor gran

qem donet, e l' alegratge

lo jom qe m retenc baisam,42 Was die Ehrung aller Frauen durch den besonders einer von ihnen geltenden Lobgesang betrifft, so heißt es in Gaucelms Kanzone Ja mais, nuill temps, no-m pot ren far Amors (PC 167, 30, 28ss.): «Pero,^w lieis, vuoill a totas servir, et esser hom et amies e comans, et lor bon pretz enanssar a grazir,

et honorar e laut(ar e mos chans».

Bei Andreas Capellanus heißt es ganz ähnlich: «Plurium non debet simul mulierum esse amator, sed pro una omnium debet feminarum servitor exsistere atque devotus».44 Daß er um der Einen willen den ganzen Hof mit seinem Lied ehren wolle, hat, um auch noch ein recht spätes Beispiel aus Frankreich anzuführen, der Trouvere Jehan de Grieviler (f kurz vor 1270) in einem Kanzonenexordium behauptet (R. 819): ((Amours me fait de euer joli canter et volonte de ma dame servir,

41

42 43 44

Zum rituellen Kuß im Lehnsritual Le G o f f (1999, 335, 340s., 351). Obwohl er im «rituel de l'amour courtois» eine geradezu «feministische» «manifestation de monde a l'envers» sieht, versteht er den «baiser courtois» merkwürdigerweise nicht als «verkehrten» Lehnskuß (ibid., 362s.). Gaucelm Faidit (1965, 153): PC 167, 53, Iss. Ibid., 106. Andreas Capellanus (1892/1972, 66).

65

pour cui valor voel sa court hounerer de ma chanson, si Ii plaisoit oir».45

Daß Gesang Ausdruck der Freude ist und Freude hervorruft, ist nicht schwer zu verstehen, denn dies entspricht auch noch unserer Erfahrung. Daß Freude gesund ist, würden wir wohl ebenfalls nicht ohne weiteres bestreiten, ohne indessen damit zu rechnen, daß sie uns ärztlich verschrieben werden könnte, obwohl solche Vorstellungen bis ins 18. Jahrhundert hinein lebendig geblieben sind.46 Gänzlich abhandengekommen ist uns hingegen das Wissen darum, daß das Singen einmal ein ehrender Akt war. Dieses Moment der «Alterität» des Mittelalters liegt uns inzwischen so fern, daß es uns nicht einmal mehr sonderlich auffällt, wie häufig eben dies in provenzalischen Kanzonen als Sinn oder Funktion des Gesangs angegeben wird. In den italienischen Kanzonen ist meist nur vom Lob die Rede,47 aber für das Singen als ehrenden Akt haben sich aus Italien bemerkenswerte, weil gewissermaßen amtliche Zeugnisse erhalten. In Bologna war, wie auch in anderen Kommunen, ruhestörender Lärm bei Nacht oder am frühen Morgen, etwa in Form von «maitinate», verboten, weshalb jeder, der nachts mit einem Musikinstrument auf der Straße angetroffen wurde, sich auf der Wache einem Verhör zu unterziehen hatte, und aus einem aus dem Jahre 1294 erhaltenen Protokoll geht hervor, daß junge Leute das Mitführen von Instrumenten bei Nacht damit rechtfertigten, daß sie von einem Fest kämen, auf welchem sie ihren Gastgeber mit Spiel auf ihren Instrumenten geehrt hätten, wozu sie wohl auch gesungen haben dürften: «[...] stetimus dicta nocte in dicta domo cum una chitarra et cum uno lauto causa solazandi cum dicto domicello utfaceremus ei honorem [...]».

Im Jahre 1303 wurden zwei Studenten wegen des Mitführens von Schwertern angehalten und gaben zu Protokoll, von einem Fest zu kommen, auf welchem sie zu Ehren ihres Rektors gesungen und getanzt hätten: «[...] predicti dominus Raynaldus et Stephanus erant in hospicio domini Anzelli de Barullo rectori scolarium citramontanorum studentium in civitate Bononiae et in iure canonico et civilli, una cum multis aliis qui erant ibi in dicta domo causa faäendi fastum et solacium et honorempredicto domino rectoir, [...] [Raynaldus] ipse et alii, secum induti in honore dicti domini rectoris, tripudiaverunt et balaverunt per magnam horam noctis. Interrogatus quomodo et qualiter sit predicta, respondit sicut homo qui erat de illis qui balabant et cantabantpro honorem facere dicto domino rectore. [...] Jtem, dixit, tripudio et ballo expedito, dictus rector licentiavit

45 46 47

Jean de Grieviler (1954, 152). Siehe Kümmel (1977). Siehe aber das Sonett lu> gilglio, quand' e colto (V 333, 13) von Giacomo da Lentini, wo es heißt: «servivi ed mora' vi a tutta giente». Zu der Frage, ob Sonette gesungen wurden, siehe unten, p. 158ss. 66

predictum dominum Raynaldum et Stephanum predictum famulum suum et allios qui erant in dicta domo [.,.]».48

Singen und auch Tanzen also als ehrende Akte, bestätigt durch amtliche Dokumente. Das Hauptthema des lyrischen Frauenlobs war die Werbung um Liebeshuld, und daß auch diese, wie bereits das Singen selbst, als ehrender Akt zu verstehen sei, war der höfischen Welt so selbstverständlich und so lange vertraut, daß man den Gedanken noch bei Baidassare Castiglione im Ubro del Cortegiano wiederfindet. Ein «gentil cavaliero», heißt es dort, solle sich der «ragionamenti d'amore» als «instrumento d'acquistar gratia di donne» nicht nur dann bedienen, wenn er von Leidenschaft bedrängt werde, sondern «ancora spesso per fare onore a quella donna con cui parla, parendogli che'/ mostrar d'amarla sia un testimonio che ella ne sia degna e che la bellezza e meriti suoi sian tanti, che sforzino ognuno a servirla.».49

Die «ragionamenti d'amore» also als Höflichkeitsdienst, um diese Zeit allerdings bereits in die höfische Konversationskultur eingebettet. Daß er, ohne von Leidenschaft bedrängt zu sein, zu einem solchen Dienst bereit sei, hat jedoch schon früher ein Bischof erklärt, der als geistlicher Herr wohl am ehesten Anlaß dazu hatte, fein zwischen verschiedenen Arten der Liebe zu unterscheiden, etwa zwischen «amor carnalis» und «amor officialis», welcher der Dienst- und Ehrwürdigkeit, und «amor rationalis», welcher der Tugend einer Person gilt,50 oder überhaupt zwischen Liebe und Höflichkeitsdienst. So heißt es in der letzten Strophe der Kanzone Cor; poder, saber e sett (PC 94, 1) eines der drei Bischöfe von Basaz, die zwischen 1186 und 1261 amtiert haben:51 «Bona dompna et avinen am, e no ges per amor, mas ett luoc de bon seignor servirai son bei cors gen - ar es tost causa saubuda - , e pren per luoc de iauzir quant Ii plai que m faz' auzir; aitals, domna, vos saluda».

Sein Dienst besteht denn auch lediglich im Gesang, und sein Liebeslohn wäre das Gefallen der Geehrten daran, daß er sich vor ihr hören läßt. Die Reihe der «causae cantandi» muß man daher nunmehr ergänzen, und sie 48 49 50 51

Die Texte so bei Fiori (1990, 211, 215). Castiglione (1964, 414 [III 53]). Zu den verschiedenen Formen der Liebe siehe weiter unten, p. 205s. Appel (1890, 10s.): «il ne peut s'agir [...] que de Gaillard de la Mothe, qui etait eveque des Basaz de 1186 ä 1213, ou d'Arnaud des Pins, 1220-26, ou encore, ä la rigueur, de Raimon, que l'on trouve eveque ä partir de 1230 jusqu'en 1261». Dort auch der Text.

67

lautet, in etwas anderer Reihenfolge und mit der wichtigsten am Schluß: «delectatio, laetitia, consolatio, sanitas, amor-adulatio, honor». Daß es beim Frauenlob um Ehrung ging, lassen auch die Trobadorviten durchblicken, und zwar besonders an Stellen, an welchen mitgeteilt wird, woran den Frauen gelegen war. So heißt es etwa in der Vita Raimons de Miraval: «E non era neguna grans domna ni valenz, en totas aquellas encontradas, que no desires e no se penes qu'el entendes en ella, ο qu'el Ii volgues ben per domesteguessa, car el las sabia plus onrar e far grazir que nuls autr'om; per que neguna no crezia esser presiada, si no fos sos amies Raimons de Miraval».

Und es wird auch vermerkt, daß der Liebeslohn verweigert wurde: «En mantas domnas s'entendet et en fetz mantas bonas cansos; e no se crezet mais qu'el de neguna en dret d'amor agues ben, e totas l'enganeren,» (375s.).52

Daß Zeichen des Entgegenkommens gleichwohl zum Ritual gehörten, ist der Vita Rigauts de Berbezilh zu entnehmen, ohne daß man allerdings erführe, worin sie bestanden: «Et enamoret se d'una domna, moiller d'En Jaufre de Taonai, d'un valen baron d'aquella encontrada. Ε la domna era gentils e bella, e gaia e plazens, e mot envejosa de pretz e d'onor, filla d'En Jaufre Rudel, prince de Blaia. Ε quant ella conoc qu'el era enamoratz d'ella, fetz Ii doutz senblanz d'amor; tan qu'el cuilli ardimen de lei pregar. Et ella, ab douz senblanz amoros, retenc sos precs, e los receup e los auzi, com domna que avia volontat d'un trobador que trobes d'ella. Et aquest comenset a far sas cansos d'ella [...]. [...] Mout longamen cantet d'ella; mas anc non fo crezut qu'ella Ii fezes amor de la persona» (149s.).

Auch hier wird vermerkt, daß Liebeslohn nicht vorgesehen war. Niemand glaubte, die Dame könnte über bloße «senblanz d'amor» hinausgegangen sein. Daß diese unter anderem in Huldgeschenken bestanden, ist der Vita Arnauts de Maruelh zu entnehmen: «E garni lo de grans arttes e fetz Ii gran honor e det Ii baudesa de trobar d'ella; e venc onratz hom de corD> (33).

Wenn also davon die Rede ist, woran den Frauen lag, wird offengelegt, worum es ging. Was die Dichter-Sänger betrifft, so verliebten sie sich beständig und konsequent nur in die jeweils prominenteste und exponierteste Dame am Ort, die Frau des Hofherrn, andere etwa noch am Hof vorhandene Damen würdigten sie in der Regel ihrer Aufmerksamkeit nicht. Damit wird zu verstehen gegeben, daß sie taten, was Jehan de Grieviler unmißverständlich ausgesprochen hat, nämlich aus Liebe zur Hofherrin, oder besser: der Hofherrin «zuliebe», mit ihren Liedern sie und den Hof ehrten, das «mostrar d'amarla» als Metapher verwendend, als «testimonio che ella ne sia degna e che la bellezza e meriti suoi sian tanti, che sforzino ognuno a servirla». Wenn diese Metapher in den Viten beständig 52

Seitenangaben nach Biographies des troubadours (1973). 68

beim Wort genommen wird und stets vom «s'enamorar» der DichterSänger die Rede ist, so erklärt sich dies dadurch, daß sich nur beim Wort genommene Liebesbeziehungen zu Geschichten ausspinnen ließen. Die Bloßlegung ihres metaphorischen und rituellen Sinns hingegen war in dieser Hinsicht vollkommen unergiebig. Trotzdem hat man in einigen Fällen zu verstehen gegeben, daß auch die Liebe der Männer nicht so wörtlich gemeint sei. Uc de Sant Circ z.B. täuschte Liebe nur vor und verhielt sich demnach genau so wie die zahlreichen Damen, die von Raimon de Miraval geehrt zu werden wünschten und ihn deshalb mit vorgetäuschten Liebeszeichen «betrogen»: «[...] anc non fo fort enamoratz de neguna; mas ben se saup jeingner enamoratz ad ellas ab son bei parlar» (240).

Und von Sordello heißt es noch offener, daß seine Liebeswerbung nur eine «forma de solatz» war und die Umworbene auf das Spiel einging: «E venc s'en a la cort del conte de San Bonifaci; e l corns l'onret molt. Ε s'enamoret de la moiller del comte, αforma de solafy et ella de lui» (562).

Beide Dichter lebten und wirkten wahrscheinlich noch, als ihre Viten entstanden. Man hatte daher noch einen unmittelbaren Eindruck vom rituellen Sinn ihres Tuns, und dies hat anekdotische Unterstellungen möglicherweise erschwert. Maria Luisa Meneghetti hat aus der beständig wiederkehrenden Formel «X s'enamoret de Y e fazia sas chansos d'ella; et ella lo sofria per la gran lauzor qu'el fazia d'ella, mas anc noill fes mais amor»

auf die Existenz eines «gioco mondano di carattere totalmente fittizio» geschlossen, dessen für die Frauen ehrende Aufführung ein «Statussymbol» gewesen sei." Mit der starken Hervorhebung der Fiktivität wird gewissermaßen noch einmal der Verdacht niedergerungen, daß es sich vielleicht doch um eine «echte» Erlebnislyrik gehandelt haben könnte, aber fiktiv war der lyrisch artikulierte «amor carnalis» wohl in der Tat, insofern er als Metapher für den «amor officialis» verwendet wurde. Im Deutschen gab es für diese Art von «amor» das Wort «minne».54 Fiktiv war ferner das mit Hilfe dieser Metapher ehrende Lob, insofern «Ehrerbietungsrituale» nie ganz ehrlich sind. Man drückt die Würdigung der Person vielmehr in der Regel so aus, «daß sie in vieler Beziehung schmeichelhafter für den Empfänger ist, als es die wirklichen Gefühle des Handelnden sind», und vom Empfänger wird erwartet, «daß er den Handelnden nicht wörtlich nimmt», «sondern mit dem bloßen Erweis von Wertschätzung zufrieden ist».55 Fiktiv war der ehrende Dienst schließlich insgesamt als kulturelles

53 54 55

Meneghetti (1992,138). Zu dessen Bedeutungen Wiercinski (1964). Goffman (1975, 67s.).

69

Kunstprodukt.56 Kulturell real war er hingegen, insofern er als «Ehrerbietungsritual» vollzogen wurde. Einer Razo zufolge liebte Pons de Capduelh die Frau des Grafen von Auvergne, und diese Liebe war eine Angelegenheit öffentlicher Festlichkeit: «E molt fo lur amors grazida per totas las bonas gens, e maintas belas cortz e maintas belas jostas e maint bei solatz en foron fait e maintas belas chansos» (314).

Was das Frauenlob als Bestandteil, Schmuck und Zier von Festlichkeiten betrifft, so kann man dafür noch aus unseren Tagen ein Beispiel anführen. Noch heute werden nämlich, zumindest in Deutschland, bei festlichen Veranstaltungen — etwa Festmählern und Bällen — von Berufsgruppen oder Berufsvereinigungen mit vorwiegend männlichen Mitgliedern in ehrender Absicht sogenannte «Damenreden» gehalten. Daß es sich dabei um eine späte Abwandlung des Minnesangs handelt, hat ein Redner zu verstehen gegeben, der im Jahre 1976 behauptete, Walther von der Vogelweide hätte an seiner Stelle «einen Leich über die vielsüssen Frouwen gesungen». Natürlich werden diese Damenreden nicht mehr gesungen, aber mit dem Minnesang ist die Gattung auch insofern verwandt, als die Texte für den mündlichen Vortrag verfaßt, danach aber gelegentlich auch bibliophil gedruckt und mit Zeichnungen verziert — also gewissermaßen miniiert - in Umlauf gebracht werden. Dieser Gattung sollte man die Aufmerksamkeit nicht versagen, denn sie ist vielleicht eine bessere Grundlage für das Verständnis des Minnesangs als die nach Mallarme für die «ideale Aufführung» auf der «inneren Bühne» bestimmte moderne autonome Lyrik.57 Seitdem man die Lyrik des Frauenlobs als den sprachlichen Teil eines Rituals versteht, hat auch eines der schwierigsten Probleme auf diesem Gebiet eine befriedigendere Lösung gefunden, nämlich die Eintönigkeit dieser Lyrik, die beständige Wiederkehr des immer Gleichen. Diese Wiederkehr ist charakteristisch für Rituale. Dem Gedanken an ein Ritual kam bereits Henning Krauß nahe, als er das Frauenlob der Sizilianer als allegorisches Kaiserlob deutete und damit faktisch, wenn auch nicht ausdrücklich, in die Nähe der «laudes regiae» und des Rituals des Königs- und Kaiserkults brachte.58

56

Oder als «autopoietisches Kunstsystem» (Neumeister 1993, 392, sowie oben, p.

57

Das Zitat aus Bächer (1976,17). Siehe ferner Ulrich (1952) und Maier (1986). Siehe oben, p. 7. Zum Minnesang als Ritual — oder Pararitual — Müller (1996, 48), zum «Rituale amoris» Schulze (2003b), über Ritual und wiederverwendende und daher häufig «diffuse» oder kontaminierende Intertextualität id. (1999b, 341 ss.). Zu älteren Erklärungen mit Hilfe einer Variationsästhetik oder als «poesie formelle» Friedrich (1964, 25) und Guiette (1960).

11). 58

70

III. Theatralität

1. Mario Apollonio Ein lyrisches Parlamento, «in presentia» und unter Inanspruchnahme der «audientia» der Damen und aller anderen Anwesenden als «dolze cantare e dire» mit passender Gestik vorgetragen, um zur Behauptung des Eigenwerts der höfischen Welt beizutragen und allen, den Sänger selbst eingeschlossen, zu Freude und gar zu «perfecta delectatio sensibilis», zu «vollkommenem aisthetischen Vergnügen» zu verhelfen, welches auch als der Gesundheit zuträglich galt, war gewiß ein theatralisches Ereignis, und es dürfte wohl an der Schulung durch theatergeschichtliche Studien gelegen haben, daß auf diesen Aspekt der frühen italienischen Lyrik als erster Mario Apollonio aufmerksam geworden ist.1 Fast vierzig Jahre vor dem Erscheinen von Paul Zumthors Essai de poetique medievale (1972) hat dieser bereits im Jahre 1934 den Versuch unternommen, ein Bild von den Umständen zu entwerfen, unter welchen am Hof Friedrichs II. der italienische Minnesang «erklungen» sein könnte. Zwar war er — auch er nach Mallarme schreibend — nicht ohne weiteres bereit, auszuschließen, daß die Texte dem «Leser» nur nahegelegt haben könnten, sich den öffentlichen Vortrag — als Ereignis auf der «inneren Bühne» — bloß vorzustellen, aber den «Hörer» hielt er doch auch für möglich, und die Annahme eines autonomen oder «absoluten» Werts dieser Lyrik erschien ihm eher fragwürdig: «[...] la loro poesia, risuonando in un certo ambiente, sia che proprio la corte s'aduni ad ascoltare, sia che questa adunanza cortese si finga dal lettore ο dall'uditore, aggiunge qualcosa alio spirito e alia parola e al modo di vivere di questa corte. Certo non si poteva giungere — siamo ai primi del Duecento — alia nozione di un valore creativo ed assoluto della poesia: si giunge alia nozione di un ambiente che si contempla e s'adorna e s'accresce, senza forse badare che in questo vagheggiamcnto s'esaurisce e alfine bamboleggia. [...] certo Federico di Svevia non solo fu gran parte di questo adunantesi per gioco e per compiaciuto senso di pienezza e per vittoriosa sufficienza, ma anche ebbe gran parte nell'immaginarlo e nel confortarlo [...]».

1

1930 war seine Geschichte der Commedia dell'arte erschienen, 1938 folgte seine Geschichte des italienischen Theaters. Schon seit D'Ancona (1891/1966) sucht man den Ursprung des italienischen Theaters in der Lyrik, allerdings in der geistlichen, den Lauden.

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Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen tritt der Leser dann aber in den Hintergrund, da er in einer Hofkultur, die als «theatralisch» und von «Darstellern» und «Aus-» oder «Aufführenden», also von «Performanz» geprägt beschrieben wird, auch kaum der rechte Rezipient gewesen wäre: «[...] la cultura si era [...] determinate praticamente in forme di consuetudine, corporaliter come dirä Dante, teatralmente come diremmo noi, riflettendo che quell'adunanza cortese badava a contemplare e a contemplarsi e aveva il senso tutto teatrale di una coralitä di rappresentatori e di esecutori che per diletto si studiano di variare le forme consuete della vita e di stabllire un canone che regga e governi bellamente la bella adunanza».

Bei der Beschreibung zweier Kanzonen ist denn auch von «Aufführung», «mimischer Rezitation», dem «sichtbaren Sich-Zeigen» des mit «Gesten» vortragenden Dichters die Rede, dessen Darbietung in das «große Schauspiel» des Hofes eingebettet war — wonach Apollonio aber wieder offen läßt, ob diese Einbettung nur «idealiter» oder «tatsächlich» erfolgt sei: «[...] il rimatore [...] mostra se stesso msibilmente, accompagnando il dire col gesto, mimando il suo desolato essere d'uomo abbandonato e disperato [...]. [...] Tale ci sembra l'intelligenza visiva e allusiva che si deve avere della poesia della scuola di Sicilia [...]. [...] si tratta [...] di rappresenta^iom cui la consuetudine della rerita^ione mimica doveva dare una vivezza impensata, un seguirsi di gesti ed un variar di toni che rimediasse alia mancanza di movimento, d'azione; monologhi, insomma, non del tutto isolati, dacche si collocavano, idealmente ο effettivamente, entro il grande spettacolo della vita cortigiana».2

Man könnte geradezu meinen, daß Apollonio Roger Bacons Ausführungen über das poetisch-musikalisch-gestische mittelalterliche «Gesamtkunstwerk» im Sinn hatte, als er dies schrieb, und stellt man seinen Ausführungen Stellen aus Zumthors Essai de poetique medievale gegenüber, könnte man meinen, er habe, wenn auch unter Vorbehalt, bereits 1934 und vor dem allgemeinen Aufblühen der Debatte um die orale Literatur die «theatralische» Oralität oder Vokalität der frühen italienischen Lyrik entdeckt: «Le caractere general le plus pertinent peut-etre de la poesie medievale est son aspect dramatique. Tout au long du moyen äge les textes semblent avoir ete, sauf exceptions, destines ä fonctionner dans des conditions theätrales. ä titre de communication entre un chanteur ou reatant ou lecteur, et un auditoire. Le texte a, litteralement, un «role ä joueD) sur une scene. [...] La poesie medievale [...] s'apparente ainsi aux modernes mass-media plus qu'ä une litterature vouee ä la consommation individuelle par la lecture. [...] Le texte porte par (la voix) s'adresse ä un public forme par les arts representatifs et les rites: regard et geste [...]. [...] La poesie medievale apparait [...] engendree par une activite mimetique, fondee sur un besoin de communication collective, ä la maniere du chant et de la danse.».3

Apollonios Vorstoß war also außerordentlich modern und kühn, und es verwundert daher nicht, daß er noch einen Vorbehalt geltend machte und 2 3

Apollonio (1934,175s., 177,178, 179,181). Zumthor (1972, 37-39).

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sich mit seiner Alternative «idealmente ο effettivamente» gewissermaßen rückversicherte.4 In der Germanistik hat man die Theatralität des Minnesangs, angeregt durch zwei Aufsätze von Hugo Kuhn aus den Jahren 1949 und 1969, erst später entdeckt.5 Auf dem Gebiet der frühen italienischen Lyrik kann man sich daher auf einen wahren Pionier der «Performanz»Forschung berufen, und auf Apollonios Spuren bewege ich mich denn auch, wenn ich nunmehr dem von ihm bereits hervorgehobenen und in der Tat im Kern theatralischen Moment des sichtbaren Sich-Zeigens in den Gedichten nachgehe. Ich beginne mit einem Fall, der dadurch eine gewisse Prominenz erlangt hat, daß man ihn als Kronzeugen für die Richtigkeit von Marigos Axiom in Anspruch genommen hat, ohne daß dem bisher widersprochen worden wäre. 2. Das Zeigen der Zeichen des Liebesleids Die Kanzone Madonna, dir vo voglo (L 55, V 1, Ρ 37) von Giacomo da Lentini stand bereits bei seinen Zeitgenossen in bestem Ruf, wie daraus hervorgeht, daß sie sechsmal kontrafiziert worden ist,6 also häufiger als das Lerchenlied von Bernard von Ventadorn. Dem Wortlaut nach handelt es sich um eine Adaption der Kanzone A vos, midontf, voill nttrair' en cantan (PC 155, 4) von Folquet de Marselha, die metrisch insofern bemerkenswert ist, als Giacomo je drei von Folquets Zehnsilblern mit insgesamt 30 Silben je drei Settenari und einen Endecasillabo mit insgesamt 32 Silben gegenübergestellt und sich dadurch praktisch den gleichen metrischen Raum geschaffen hat, allerdings mit einer Verlängerung am Schluß, da Folquets Strophen nur aus elf Versen bestehen. In diesen Raum ließ sich aber Folquets ins Italienische gebrachter Text nicht ohne weiteres einfügen, weil die italienischen Äquivalente der provenzalischen Wörter wegen des größeren Vokalreichtums des Italienischen — «midont9> : «Madonna», «voill» : «voglo» — mehr Raum beanspruchten. Deshalb hat Giacomo die beiden ersten Verse um «en cantan» und «e men a fre» verkürzt, wonach ein weiblicher Siebensilbler und ein männlicher Sechssilbler übrigblieben, denen seine beiden ersten Settenari entsprechen. Seinem dritten Vers entspricht Folquets dritter bis zur Zäsur, und seinem vierten der Rest von Folquets drittem und der Anfang des vierten Verses. Hier die ersten sechs Verse Folquets7 und die beiden ersten Piedi der Adaption (nach L): 4

5 6 7

Zu dem modernen «Vorurteil», welches die Trennung der Idee der Poesie von der Idee der Schrift und Lektüre behindert und es erschwert, sich ein Bild von der «performativen Alterität» des Mittelalters zu machen, Zumthor (1987, 8). Ähnlich schon Pirrotta (1980, 6s.). Kuhn (1949) und id. (1969). Zur Forschungsgeschichte Strohschneider (1991). Siehe oben, p. 42. Nach Folquet de Marselha (1999, 416).

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1 «Α vos, midont^, voill rettrair' (en cantan) 2 cosi m destreign Amors (e men' a fre) 3 vas l'arguogll gran, e no m aguda re, 4 qem mostras

«Madonna, dir vo voglo como l'amor m'ä prizo inver' lo grande orgoglo che voi, bella, mostrate, e no m'aita.

(on plu merce vos deman;) Ο lasso lo meo core, 5 mas tan mi son Ii consir e l'afan che 'n tante pene e mizo, 6 qe viu quant muer che vive quando more per amar finamen». per bene amare, e tene se lo a vita!».

Für die Auslassung der Wendung «en cantan» aus Folquets erstem Vers läßt sich also ein rein metrischer Grund geltend machen,8 man hat ihr jedoch, wie bekannt, eine tiefere Bedeutung abgewonnen. Giacomo habe die Gesangsansage ausgelassen, weil seine Kanzone nicht mehr für den Gesang bestimmt und eine solche Wendung daher nicht mehr angebracht gewesen sei.9 Dabei blieb allerdings nicht nur Giacomos Bezeugung als Sänger unberücksichtigt,10 sondern ebenso der Umstand, daß Rinaldo d'Aquino aus einer anderen Kanzone von Folquet de Marselha ebenfalls Verse mit einer Gesangsansage entlehnt, diese Ansage aber nicht nur nicht ausgelassen, sondern in einem eigenen Vers mit «cantare» im Reim noch besonders hervorgehoben hat (V 29, L 118, Ρ 47, Iss.): «e car Ii platz qu'ieu enans sa lauzor en mon chantar, don ai gaug e paor»11

«Poi le piacie c'avanzi suo valore di novello cantare, ond' alegranza n'agio com paura»

Ist man Marigos Axiom nicht verpflichtet, braucht man nicht anzunehmen, daß Giacomo das Wort «cantare» weiterhin wörtlich verstand und sich deswegen seinen Gebrauch verbieten mußte, während Rinaldo es als Metapher — das Verb für «dichten» und das Substantiv für «Gedicht» — oder gar als «nicht so gemeinten» Topos nahm und daher weiterhin verwenden konnte. Man kann dann vielmehr schlichter und auf den Wortsinn der Texte vertrauend annehmen, daß Giacomo Folquets «rettrair' en cantan» nur aus technischen Gründen nicht vollständig mit «dire in cantando» wiedergeben hat12 und Rinaldos «novello cantare» als metrisch hervorgehobene Ansage eines der Form und der Melodie nach «neuen Sangs» zu verstehen ist.

8

9 10 11 12

Zum technischen Prinzip der Umarbeitung: In der ersten Strophe paßt Giacomo den Text durch Auslassung, Umstellung und Ergänzung an die neue Form an, in der zweiten verarbeitet er nur noch Bruchstücke. Roncaglia (1975, 26s.). Von Brugnolo (1995, 332) unter Vorbehalt wiederholt, in Brugnolo (1999) und id. (2000) nicht mehr erwähnt. Siehe oben, p. 25. Aus Chantan volgra mon fin cor descobrir (PC 155, 6, 7s.), Folquet de Marselha (1999, 359). Was er ausgelassen hat, hat Chiaro Davanzati in seiner Kontrafaktur nachgetragen, denn in Madonna, poi m'avete (V 258, 68ss.) heißt es: «la mia volglia [...] dico in chantando».

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Ähnliche wie die Auslassung von «en cantan» hat man auch die Auslassung der Wendung «per senblan» aus dem ersten Vers der zweiten Strophe von Folquets Kanzone gedeutet: 1 «Parer non pot per die (ni per senblan) 2 lo bens ce vos voigll ab f len carna fe f »

«Lo meo 'namoramento non pö parere 'n detto, ma, si com' e' lo sento, cor no lo penseria ne diria lingua»

Giacomo habe sie ausgelassen, weil in einem nur noch für die Lektüre bestimmten Gedicht kein «senblan» gezeigt werden könne.13 Wie paßt aber zu einem nur noch für die Lektüre bestimmten Gedicht die — bei Folquet nicht vorgegebene — Hervorhebung des Organs der Vokalität in der Wendung «no lo [...] diria lingua», die dem Sinne nach genauestens der nach der Auslassung übriggebliebenen Wendung «non pö parere 'n detto» entspricht?'4 Was dies betrifft, so hat man darauf verwiesen, daß die «dualitä cuore—lingua» zur «piü stretta tematica del discorso letterario» gehöre, welche sich auf Psalm 44, 2 zurückführen lasse.15 Dort heißt es: «Eructavit cor meum verbum bonum, dico ego opera mea (carmen meum) regi, lingua mea calamus (stilus est) scribae velociter scribentis (velocis) [nicht: calamus meus lingua velociter loquentis]».

Diese Stelle aus einem «canticum pro dilecto» oder «canticum amoris» ist in der Tat einschlägig, allerdings insofern, als «lingua» hier keineswegs den medienneutralen Sinn von 'Ausdruck' hat, sondern in dem notorisch für den Gesang bestimmten Psalm eindeutig das Organ der Vokalität meint, welches sich an das Ohr wendet: «Audi, filia, et vide, et inclina aurem tuam» (11). Daß auch Giacomo «lingua» in dieser Bedeutung verwendet haben dürfte, ergibt sich aus einer Stelle, die unbedingt und noch vor dem Psalm zum Vergleich heranzuziehen gewesen wäre, nämlich aus den folgenden Versen seiner Kanzone Amando lungamente (P 10, llss.): «(vorria) convertire lo meo parlamento a ciö k' io sento·, per intendan5a dele mie parole vegiate come lo meo cor si dole».

Wenn die Empfindung in der Rede treffend zum Ausdruck gebracht würde, könnten auch die sichtbaren Zeichen des Leids richtig gedeutet werden. Bei Giacomo entspricht der Ausdruck der Empfindung durch die «Zunge» also eindeutig ihrem Ausdruck durch die «Rede», und auch dies ist ein «discorso letterario», und zwar derjenige eines Vortragslyrikers, denn das Wort «parlamento» läßt sich nicht um seinen wörtlichen Sinn 11 14

15

Roncaglia (1975, 31s.). Die Wendung kehrt in Al core tanta alegr\an] %a, einer anonymen Kontrafaktur von Giacomos Kanzone, wieder (V 70, 5ss.): «no lo poria aciertare / com' io lo se[n]tto bene, / ne co linguaparlare». Roncaglia (1975, 32).

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bringen, da dieser durch die Parlamenta seines Zeitgenossen Guido Faba eineindeutig garantiert ist. Giacomo benutzt hier ein Wort für die Rede «in presentia» der angeredeten Person unter Inanspruchnahme ihrer «audientia». Daß Giacomo die Wendung «per senblan» nicht deswegen ausgelassen haben kann, weil sein Gedicht nicht mehr für den Vortrag bestimmt gewesen sei und daher kein «senblan» gezeigt werden konnte, geht ferner daraus hervor, daß es in seiner Kanzone sehr wohl auch um das «parer per senblan» geht, denn am Schluß ist mit aller Deutlichkeit von einem sprachlosen und rein körperlichen «senblan» die Rede, das nur mit den Augen wahrgenommen werden könnte (73ss.): «Vorria c' or avenisse che lo meo cor escisse come 'ncarnato tütto, e non facesse motto - vo' isdegnoza: c' amore a tal Γ adusse, ca, sse vipera i fusse, natura perderea; a tal lo vederea, - fora pietoza».

Der Vortragende — Giacomo oder ein anderer in der Rolle des Liebenden — wünscht, daß es «jetzt» — «or» in V und L, fehlt in Ρ —, also in der Gegenwart der Aufführung, seinem Herzen geschehen möge, daß es hervortrete und sich in seinem ganzen Elend zeige, ohne ein Wort zu sagen, weil die Dame, wenn sie es in diesem Zustand sähe, notwendig von Mitleid ergriffen werden müßte, da es selbst einer Schlange bei diesem Anblick so ergehen würde. In einer nur noch für die Lektüre bestimmten Kanzone hätte die Zeitangabe «or» keinen Sinn, denn was hülfe es dem Liebenden, wenn sein Herz «jetzt», also im Augenblick des Schreibens, hervorträte, in dem die Dame nicht als anwesend vorgestellt werden kann, und bei der Rezeption durch Lektüre wäre das leidende Ich nicht körperlich anwesend und könnte niemanden sein wortlos hervortretendes Herz sehen lassen. E s kann also kein Zweifel daran bestehen, daß die Kanzone für eine Aufführung bestimmt war, bei der etwas stumm hätte gezeigt und gesehen werden können — wenn es denn darstellbar wäre. Die ganze Wahrheit läßt sich aber weder sprachlich ausdrücken, noch kann sie stumm gezeigt werden. Wenn Giacomo Folquets «per senblan» auch ausgelassen hat, die Kanzone handelt trotzdem sowohl vom «parer non pot per die» als auch vom «parer non pot per senblan», was im übrigen dafür spricht, daß das Motiv vom Zeigen des Herzens bereits in Folquets unvollständig überlieferter Kanzone vorkam. Der Unsagbarkeit entspricht eine Unzeigbarkeit, und von Unzeigbarkeit kann nur die Rede sein, wenn eine Situation vorausgesetzt wird, in welcher sich überhaupt die Frage stellt, ob etwas sichtbar in Erscheinung treten könnte oder nicht. Diese Situation ist der Raum der Geste, in welcher sich das Doppelgesicht der

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Wirklichkeit als «cache / visible» und «interieur / exterieur» zeigt.16 Auf den Gedanken, zu wünschen, oder aus seiner Vorlage den Wunsch zu übernehmen, daß das Herz hervortreten und sich stumm zeigen möge, um bei einer bestimmten Zuschauerin einen bestimmten Effekt zu bewirken, konnte nur jemand kommen, für den das gestische Sich-Zeigen von höchster Wichtigkeit war, und wer sich an ein Publikum wendete, welchem er seine innere Wahrheit auch gern durch Gesten und Zeichen stumm zeigen wollte, konnte nicht ohne körperliche Anwesenheit von Hörern und Zuschauern sprechen. Er mußte, «in presentia» vor ihnen stehend, an ihre «audientia» und ihr Schauen appellieren: «Audi, [domina], et vide, et inclina aurem tuam». Raffaele Pinto hat denn auch hervorgehoben, daß man im Falle von Giacomos Madonna, dir vo voglo — und auch von Giacomos Meramgliosamente (V 2, L 58, Ρ 39) — geradezu von einer «promozione espressiva del corpo» sprechen könne, vom Einsatz der körperlichen «sembianza» als «linguaggio» oder «parola che enuncia l'interioritä» und als « del sentimento interno», und zwar unter Mitwirkung des gesprochenen Worts, der «parola della bocca», wie Pinto hervorhebt, welche den Sinn der Zeichen erläutert und verständlich macht.17 Eine solche Ausdrucksqualität konnte der Körper, dessen Ausdrucksgebärden in den Texten allenfalls vage angedeutet werden, ohne Zweifel nur an den Tag legen, wenn er sich sichtbar zur Schau stellte, eben beim Stehen und theatralischen Agieren vor der Umworbenen und sonstigen Hörern und Zuschauern unter Einsatz von «gestus, et [...] flexus corporales» (Roger Bacon).18 In Meravigliosamente läßt Giacomo den Liebenden die Dame denn auch auffordern, die Wahrheit seiner Worte an sichtbaren «Zeichen» zu überprüfen, wobei er die Rolle des deutenden Worts wieder durch die Nennung des Organs der Vokalität hervorhebt (V 2, 43ss.): «Saccate lo per singa, zo ch' i' vi dirö linga,

quando vol mi vedete»}9

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Zumthor (1987, 271). Auf das Problem der Unsagbarkeit stößt nur, wer etwas sagt, auf das Problem der Unzeigbarkeit nur, wer etwas zeigt. Zur Bedeutung der Geste im Mittelalter siehe, außer den bereits angeführten Stellen bei Roger Bacon und Salimbene de Adam (oben, p. 21s.), auch Schmitt (1990). Pinto (2000, 180ss.). Bernsen (2001, 207) spricht von einer «Poetik der Visualisierung». Siehe oben, p. 21s. P: «Saciatel per insegna, / ciö k'eo vi dico a llingua, / quando voi mi vedrete» (52s.). Zu vergleichen ist die Zeichenlehre Boncompagnos da Signa: «Signum est, quo secretum quandoque perpenditur, ut cum aliquis vel aliqua pallet vel rubet repentino motu, pro quo signiflcatur verecundia vel ira». Das «signum» ist mit «nutus» und «inditium» verwandt, bei letzterem tritt die Stimme hinzu: «nutus fit tantum actu, inditium vero actu et voce». Siehe Boncompagno da Signa (1927, 25). 77

Das Motiv vom Zeigen des hervortretenden Herzens war auch später noch beliebt. Guittone d'Arezzo deutet es in der Kanzone Se de voi, donna gente kurz an (L 25, Ρ 91, 89ss.): «e non po dimostrare la lingua mea com' e vostro lo core: per poco non ven fore a dire ve lo so coral dezire».

Ausführlicher hat Neri de' Visdomini es in der Kanzone Perccioche Ί core si dole abgehandelt (V 301, 29ss.): «Poiche merze cherere neiente non mi vale, lo meo core del corppo uscire potesse e davanti gire a quella c' a tale 1' ä condotto, e Ί suo male conosciesse, com' elgli e lacerato per greve male sofrire, e per grave dureza. Vedesse lo la mia donna piagiente, che m' ä inamorato e messo m' ä al morire com sue grave fereze, e giä nom si sovene, lasso!, dolente».

Guittone und Neri betonen allerdings nicht das Jetzt ihres Auftritts. Mit der Hervorhebung des «stare davanti» und des Appells an das Gehör beginnt jedoch ein Sonett von Dozo Nori (L 428): «[N]on vi dispiacia, donna mia, d' aldire,

se voi davanti conto il meo tormento».

Zum Schluß heißt es vom Herzen (12ss.): «se del corpo föra iscisse cole pene ch' äe incharnate, chi lo vedesse ne leveria pianto».

Auch Cino da Pistoia hat das Motiv aufgegriffen, und zwar in der Ballata Come in quelli occhi gentili e in quel wso, in welcher er das «stare davanti» zwar nicht ausdrücklich ansagt, aber wie Giacomo da Lentini wünscht, daß «jetzt» etwas geschehen möge, in einer Situation, in welcher, wenn etwa das Herz hervorträte, jedermann es «sehen» könnte (13s.): «Deo! ch' ora parlasse la pietanza ch' e ne la mia sembianza, ο venisse ancor fore lo meo core — che ciascuti lo vedesse\ Se si potesse — veder lo cor meo, fera non e si dura,

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che della sua natura no uscisse fora a pianger si com' eo».20

Was die Zunge sagt, sollte durch die «Körpersprache» (Pinto), die Sprache dessen ergänzt oder gar in der Wirkung übertroffen werden, was zeigbar ist, nämlich das im Äußeren, in der «sembianza» sichtbare mitleiderregende Elend. Als eines der Zeichen des Leids erwähnt Cino im letzten Vers sein Weinen. Dergleichen wäre gewiß nicht allzu schwer zu «inszenieren» gewesen, denn es ließ sich leicht durch Gesten andeuten. Von besonderem Interesse ist dieses Motiv aber, weil es damals geradezu eine Art «Rhetorik der Tränen» gab, auf die man z.B. bei Brunetto Latini an der Stelle in der Rettorica stößt, an welcher er von der «pronuntiatio» handelt: «Et al ver dire poco vale trovare, ordinäre, ornare parole e avere memoria chi non sae profferere e dicere le sue parole con avenimento. [...] Che chi vuole considerare il vero, altro modo vuole nette von e nel corpo parlando di dolore che di letizia, et altro di pace che di guerra. [...] Et cosi in letizia de' Ί parlatore tenere la testa levata, il viso allegro e tutte sue parole e viste significhino allegrezza. Ma parlando di dolore sia la testa inchinata, il viso triste e Ii occhipieni di lagrime e tutte sue parole e viste dolorose, sicche ciascuno sembiante per se e ciascuno motto per se muova l'animo dell'uditore a piangere e a dolore».21

Ähnlich Roger Bacon in seiner Rhetorik der Predigt: «[...] non solum consistunt hxc prasdicandi argumenta in pulchritudine sermonis, nec in magnitudine divinas sapientias, sed in affectibus, et gestu, et debito corporis et membrorum motu proportionato, usque quo doctrina sanctorum accedat, qui docent praedicantem gratiam Spiritus Sancti in prothemate implorare et pro se et pro populo, et lachrymas devotas in serie persuasionis effundere abundanter».22

«Abundanter» soll also der Prediger, wenn es geraten ist, Tränen vergießen! Ganz ähnlich äußert sich Roger Bacon auch über die Wirkungsmittel der poetischen Rhetorik, der «persuasio poetica»: «[...] ad plenam persuasionem poeticam non requiritur solum sermo efficax, aures permonens, nec sententia magnifica, animum flectens, set animi motus et aptus corporis gestus, verbo sentencie conformis, ut magis animi motibus expressis corporaliter permoveat quam sententia vel sermone»P

So hätte er sich wohl kaum ausgedrückt, wenn damals schon die Einsicht verbreitet gewesen wäre oder sich zu verbreiten begonnen hätte, daß die «plena persuasio poetica» in Wahrheit eher von dem — mit Nino Pirrotta gesprochen - «piu puro e spirituale di tutti i suoni, quello di una recitazione mentale da parte di un lettore ammirato e pensoso» zu erwarten sei.24 Er hatte wohl durchaus einen Begriff davon, was «spirituell» war,

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Poeti del Dolce stil nuovo (1969, 680). Brunetto Latini (1968, 78s.). Opus tertium (Roger Bacon 1859/1965, 305). Moralis Philosophia (Roger Bacon 1953, 288). Siehe oben, p. 19.

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dachte aber, was die Predigt und den Vortrag von Gedichten betraf, offenbar ganz anders.25 Cino da Pistoia hat nun das Zeigen der äußeren Zeichen der Liebesqual im Angesicht der Dame auch unabhängig von dem Motiv des hervortretenden Herzens ausführlich und eindrucksvoll thematisiert, und zwar in der folgenden Kanzone (Iss.): «Degno son io ch' io mora, donna, quand' io vi mostro ch' i' ho degli ochi vostri Amor furato; che certo si celato m' avenni al lato vostro, che non sapeste quando n' usci föra; ed or, po' che davanti a voi m' atento mostrarlo 'n vista vera, ben e ragion ch'.i' pera solo per questo mio folle ardimento: ch' i' dovea 'nnanzi, po' che cosi era, soffrirne ogni tormento, che fame mostramento α voi, ch' oltra natura siete altera».26

Der Verehrer ist des Todes würdig, wenn er der Verehrten «zeigt», daß er sich beim Blick in ihre Augen die Liebe zugezogen hat. Des ungeachtet steht er aber «jetzt», in der Gegenwart des Vortrags, «vor ihr» und bemüht sich, ihr eben dies wirklich sichtbar, nämlich «in vista vera» zu «zeigen», und zwar, wie es nicht anders sein kann, durch seine hier nicht ausdrücklich erwähnte «sembianza», in welcher allein aber sein «tormento» körperliche Gestalt annehmen und sichtbar und zeigbar werden oder geworden sein kann. Er «zeigt» seine Qual, obwohl er sie, und mit ihr seine Liebe, verborgen halten sollte. Das Motiv des Zeigens des Leids durch das Zeigen des Herzens hat sich auch der Maler nicht entgehen lassen, der die Handschrift Ρ mit Miniaturen ausgestattet hat. Allerdings hat er nicht die Initiale von Giacomos Madonna, dir vo voglo, sondern diejenige der anonymen Kanzone Madonna, dimostrare (P 42) damit verziert. In dieser Kanzone ist davon die Rede, daß der Liebende von einem Pfeil, nämlich dem Blick der Dame, 25

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Das Weinen hat inzwischen auch die Aufmerksamkeit der historischen Forschung erregt, und zwar, dem mittelalterlichen «Kommunikationsstil» entsprechend, «der mehr durch Gesten und Zeichen ausdrückt als er verbalisiert», als demonstrativer «Bestandteil von Aufführungen» im politischen Leben (Althoff 1996, 239, 252). Der Theaterwissenschafder Guido Hiß, Bochum, hat mir versichert, daß man das Vergießen künstlicher Tränen in wenigen Minuten erlernen könne. Mit dem Fließen solcher Tränen, oder mit Gebärden, die sie andeuteten, muß man wohl auch bei der gestisch ausgestalteten lyrischen Aufführung rechnen, wenn man, gestützt auf die Tendenzen der zeitgenössischen Rhetorik, die «promozione espressiva del corpo» in ihrer unausweichlich theatralischen Dimension ernst nimmt. Poeti del Dolce stil nuovo (1969, 624s.).

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getroffen worden sei: «sono feruto d'un dardo intero; / cio e Ί vostro guardare» (33s.), und das Bild stellt dar, wie er, vor die Verehrte tretend, in pathetischer Gebärde mit beiden Händen sein Gewand über dem Herzen aufreißt, so daß ein Stück nackter Haut zu sehen ist. Ein Pfeil ist allerdings nicht eingemalt, auf der weißen Haut sind lediglich zwei blaßblaue Zeichen zu erkennen, die wie nach oben weisende Pfeilspitzen aussehen und schwer zu deuten sind (Abb. 327). Die Seite f. 52v beginnt mit den Versen, die oben aus Guittones Kanzone Se de voi, donna gente angeführt worden sind. Darunter folgt ein großes Bild, das die restlichen drei Viertel der Seite füllt und ebenfalls den Liebenden vor seiner Dame stehend zeigt (Abb. 6), aber sein Gewand ist über der fast in voller Breite über verschränkten Armen sichtbaren Brust fest verschlossen. Da man nicht annehmen kann, daß durch dieses in Ρ recht häufige Motiv hier das nicht oder allenfalls möglicherweise hervortretende Herz dargestellt werden sollte, muß man wohl konstatieren, daß das Bild keine thematischen Beziehungen zu dem darüber stehenden Text unterhält. Man hat Giacomos Auslassung von Folquets «(parer non pot) per senblan» damit zu erklären versucht, daß in einem nur noch für die Lektüre bestimmten Gedicht kein «senblan» gezeigt werden könne. Daraus, daß Cino geradezu aufdringlich vom Zeigen, und sogar vom Zeigen «jetzt» und in der «presentia» der Dame («davanti a voi») «in vista vera» spricht, hätte man dann wohl notwendigerweise folgern müssen, daß diese Kanzone, ebenso wie die Ballata, offenbar nicht für die Lektüre, sondern für den Vortrag bestimmt war, eben weil nur in einer Vortragssituation ein «senblan» oder eine «sembianza» gezeigt werden konnte. Aber auf den Gedanken, ausgerechnet an Gedichten von Cino da Pistoia eine Gegenprobe anzustellen, konnte man natürlich nicht kommen. Problematisch waren Status und Funktion der Lyrik allenfalls an den Höfen Friedrichs II. und seines Sohnes Manfred, weil nach gemeineuropäischem Brauch und nach dem Zeugnis der Chronisten noch Gesang und Aufführung im Spiel gewesen sein könnten. In den Kommunen und bei einem Gelehrten wie Cino galt die Lyrik hingegen als mit Marigos Axiom vollkommen vereinbar und in dieser Hinsicht keiner Überprüfung bedürftig. Dennoch hätte man besser daran getan, die Frage chronologisch von hinten anzugehen, denn bei Dante und Cino findet man erstmals in den Texten, was bei den

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II Can^oniere Palatino (2000, f. 25r). Der Liebespfeil ist im Chansonnier Cange (1927/1976, f. 21v) dargestellt, wo er das Gewand durchdringt und weder Haut noch Wunde sichtbar sind, im Codex Manesse (1988,116) ist hingegen Engelhardt von Adelnburg mit ähnlicher Gebärde wie der Liebende in Ρ dargestellt, man sieht Haut, Blut und auch den Pfeil. Die Liebeswunde hatte vermutlich ihre eigene ikonographische Tradition und man braucht das Motiv in Ρ wohl nicht, wie Moleta (1976, 10) vorgeschlagen hat und es sich bei einer italienischen Handschrift auch nahelegen mag, auf Bilder zurückzuführen, auf welchen Franz von Assisi seine Wundmale zeigt.

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Sizilianern und Sikulo-Toskanern noch fehlt, nämlich eindeutige Schriftlichkeitsansagen. 3. Lese- und Vortragslyrik nach 1290 In dem Sonett Messer Brunetto, questa pul^eletta, mit welchem Dante die Zusendung einer Ostergabe begleitet hat, eines Gedichts, das im Prinzip hätte gesungen werden können, weshalb es sich wohl um eine Kanzone handelte, heißt es, diese Gabe wolle gelesen werden («vuol esser letta»), denn: «La sua sentenzia non richiede fretta, ne luogo di romore ne da giullare; anzi si vuol piü volte lusingare prima che 'n intelletto altrui si metta».28

Hier wird die Einbettung des Gedichts in eine Aufführungssituation, sein Vortrag an einem «luogo di romore e da giullare», also ausdrücklich ausgeschlossen. Zu beachten ist allerdings, daß Dante nicht sagt, seine Gabe wolle mit mehrfacher Lektüre umschmeichelt werden, damit sich ihre «musica rhythmica» dem inneren Ohr erschließe, es geht vielmehr um die möglichst vollständige Erfassung ihrer «sentenzia» durch den «Intellekt», nicht um die Gewinnung möglichst vollkommener «delectatio sensibilis». Dante bevorzugt die Lektüre hier nicht aus ästhetischen, sondern aus philosophischen Gründen. Mit einer eindeutigen Schriftlichkeitsansage beginnt auch ein Sonett von Cino da Pistoia: «Amato Gherarduccio, quand' i' scrivo di quella (ch' ad Amor piü non mi lagno) a te, che n' hai tessuto come ragno».29

Es geht um eine Dame, um welche Gherarduccio sein Netz spinnt, und Cino kündigt an, rechtzeitig erscheinen zu wollen, um sie seinerseits zu «bedrängen». Auf dieses Sonett hat Gherarduccio mit gleichen Reimen schriftlich geantwortet («eo ve riscrivo»), und die Auseinandersetzung ist mit einem weiteren Sonettpaar fortgesetzt worden. Aus Dantes Ausschluß der Aufführung und diesem schriftlichen Sonettwechsel kann man nun aber nicht verallgemeinernd schließen, daß zu seiner und Cinos Zeit der öffentliche Vortrag von Gedichten vollständig aus der Mode gekommen sei. Zwar wird die Schriftlichkeit des Austausches nun in dem einen oder anderen Fall angesagt, aber an der bekannten Stelle aus De vulgari eloquentia, an welcher Dante zwischen der Herstellung der Kanzone und ihrer späteren Verwendung durch Benutzer unterschei28 29

Dante (1984, 429). Poeti del Dolce stilnuovo (1969, 786s.).

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det, nennt er bemerkenswerterweise die Lektüre nicht. Den Akt der Herstellung nennt er «actio» und die spätere Verwendung «passio»,30 und bei der «passio» unterscheidet er nur 2wei Arten, nämlich das Singen und das Rezitieren: «[...] cantio dupliciter accipi potest: uno modo, secundum quod fabricator ab autore suo, et sie est actio [...]; alio modo secundum quod fabricata profertur vel ab autore, vel ab alio quicunque sit, sive cum soni modulatione proferatur, sive non: et sie est passio».

Das Verb «proferre» bezeichnet hier eindeutig und im Sinne der Rhetorik die «pronuntiatio»,31 und die Alternative «vel legatur» fehlt. Daraus kann man nicht darauf schließen, daß die ungenannte Alternative die Regel und die beiden genannten Ausnahmen waren, sondern eher darauf, daß das bloße Lesen von Kanzonen auch nach 1300 noch immer nicht die Regel war. Kanzonen wurden zwar, wie die zu dieser Zeit bereits enstandenen großen Sammlungen zeigen, durch Aufschreiben «konserviert»: «inter ea que cantata sunt cantiones carissime conservantur, ut constat visitantibus libros», und mit den «visitantes libros» sind ohne Zweifel Leser gemeint. Aber Dante erwähnt auch einen sonst nicht weiter bekannten Mantuaner Lyriker namens Gotto, welcher ihm und anderen seine zahlreichen Kanzonen — offenbar ausschließlich — mündlich nahegebracht habe: «Gottus Mantuanus, qui suas multas et bonas cantiones nobis oretenus intimavit».32 Und schließlich ist auch weiterhin manchen Texten ihre Bestimmung zur Auffuhrung noch deutlich genug «eingeschrieben», z.B. Cinos beiden folgenden Sonetten: «Come non e con voi a questa festa, donne gentili, lo bei viso adorno? perche non fu da voi staman richesta che venisse a onorare questo giorno? Vedete che ogn' om si mette 'n chesta per veder lei girandosi d' intorno, e guardan quale have adoma vesta; po' miran me che sospirar no Storno. Oggi aspettava veder la mia gioia istar tra voi, e veder lo cor meo che a lei come a sua vita s' appoia. Eo vi prego, donne, sol per Deo; se non volete ch' io di ciö mi moia, fate si che stasera la vegg' eo». 30 31

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Zu diesen Begriffen aus musikwissenschaftlicher Sicht vorzüglich Lannutti (2000, 23ss.). Siehe oben, p. 79, die Stelle aus Brunetto Latinis Rettorica sowie die Synonymie von «cantare» und «proferere» im Noveltino: Der Ritter Migliore degli Abati «ben seppe cantare, e seppe il provenzale oltre misura bene pnferere.» (1/ Novellino 1970, 311, sowie oben, p. 34). Dante (1979, 200, 158, 228 [II, 8, 4; II, 3, 7; II, 13, 5]). Was das Wort «oretenus» über Verbreitung und Rezeption von Gottos Kanzonen aussagt, wird im ausführlichen Kommentar dieser Ausgabe keiner Erläuterung gewürdigt. 83

«Or dov' e, donne, quella in cui s' avista tanto piacer ch' oltra vo fa piacenti? Poiche non c' e, non ci corron le genti, che reverenza a tutte voi acquista. Amor di ciö ne lo meo cor attrista, che rafrena per lei li maldicenti; ecco in me crescon sospiri dolenti, si ch' io morro sol d' amorosa sista. Chiesi per Deo e per pietä di meve che con voi no la menaste stasera, ch' allegrezz' a vederla ogn' om riceve; ma non curaste ne Dio ne preghiera. Di ciö mi doglio, ed ogn' om doler deve, che la festa e turbata 'n tal manera».33

In dem ersten dieser beiden Sonette siedelt sich der Sprecher mit den Ausdrücken «questa festa» und «stasera» zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation, nämlich in einer geselligen Veranstaltung, einem abendlichen Fest an. Er macht den anwesenden Damen den Vorwurf, versäumt zu haben, eine bestimmte andere Dame einzuladen, und bittet darum, das Versäumte nachzuholen, da er seine «Freude» «an diesem Abend» noch sehen wolle. Er beschränkt sich jedoch nicht darauf, mit den Damen zu hadern, sondern weist auch den anwesenden Männern eine Rolle zu, indem er die Damen darauf aufmerksam macht, daß die Männer umhergehen und nach der Schönsten Ausschau halten, wobei sie auf die Kleidung achten, weil zu einem Fest, wie unter anderem aus dem Secntum secretorum bekannt ist,34 das Tragen schöner Kleider gehört und die schönste Frau natürlich auch das schönste Kleid trägt. Auch die eigene Rolle baut er aus. Weil die Männer die Schöne nicht finden können, wenden sie sich ihrem Verehrer zu, der unter ihrer Abwesenheit am meisten leiden muß, und bemerken, daß er seufzt. Daß die Männer umhergehen und nach den Damen schauen, dürfte zur Festrealität gehört haben, vom Sprecher unterstellt wird lediglich ein bestimmter Grund für das von jedem Anwesenden wahrnehmbare Umhergehen und Schauen. Dieses Sonett dürfte dazu bestimmt gewesen sein, zu Beginn eines abendlichen Festes vorgetragen zu werden. In dem zweiten Sonett beschwert sich der Sprecher dann darüber, daß man seiner Bitte nicht nachgekommen sei und dadurch das Fest nicht nur für ihn verdorben habe, und diese Beschwerde dürfte für den Vortrag gegen Ende desselben Festes bestimmt gewesen sein. Deutlicher kann man Gedichten ihre Einbettung in den Verlauf einer festlichen Veranstaltung wohl nicht «einschreiben», und die beiden Sonette zeugen auf eindrucksvolle Weise 33

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Poeti del Dolce stil nuovo (1969, 445s., 447s.). Der Kommentar ist, da der Gedanke an die Einbettung in eine Vortragssituation fernlag (oder, trotz textlicher Evidenz, nicht zugelassen wurde), etwas hilflos ausgefallen: «due stadi deü'elaborazione di uno stesso motivo, anzi di una stessa orditura compositiva». Siehe oben, p. 23.

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dafür, daß Lyrik offensichtlich weiterhin ihren «Sitz im Fest» hatte. Was den Juraprofessor Cino da Pistoia betrifft, so zeichnet sich das Bild einer Art von poetischem «Salonlöwen» ab. Was selbstverständlich und jedermann gegenwärtig ist, wird nicht aufgeschrieben. Zeitzeugen brauchten daher in der Regel Anlässe, die nichts mit der Frage der lyrischen Aufführung zu tun hatten, um eben darüber ein beiläufiges Wort zu verlieren. Solche Anlässe waren für Dante die Reservierung der Bezeichnung Kanzone für den Text, oder allenfalls für Text und Melodie, sowie die Gewohnheit mancher Dichter, einen Vers in der Strophe ungereimt, aber von Strophe zu Strophe reimen zu lassen, wofür er als Beispiel den Mantuaner Gotto anführt, der solche Verse «clavis» nannte. Mit dem Hinweis auf dessen Gewohnheit, seine Kanzonen «oretenus» bekannt zu machen, wollte er möglicherweise einräumen, daß dieses Beispiel nicht sonderlich glücklich gewählt sei, weil man Gottos Kanzonen offenbar nicht nachlesen konnte. Nicht durch die Frage nach der Aufführung ist auch die folgende Anekdote motiviert, die Francesco da Barberino in seinen Documenti d'Amore vom Auftritt zweier Paduaner Lyriker erzählt hat. Sie soll als Beispiel für Situationen dienen, in welchen eine bestimmte Weisheitsregel angewendet werden kann: «Americus de padua in suis omnibus cantilenis a domina sua hostendebat amari, Albertus autem de dicta terra contrarium faciebat; cumque semel unus post alium cantassent, quidam dixit: Iste Americus habet bonum tempus et iste Albertus contrarium, et sic male insimul commora[n]tur. Quidam alius Nicolo nomine qui sciebat Americum nichil a domina reeepisse sed ex vanitate moveri et Albertum a domina sua valde amari, dixit ad illum regule presenüs testum. Et ista regula potest trahi ad multa similia contra se iactantes et pro coperientibus statum suum».35

Die beiden Dichter haben sich offensichtlich weiterhin an die altvertraute Konvention gehalten. Für Albertos Thema braucht man kein Beispiel anzuführen, da die Liebe im gesamten Minnesang üblicherweise meist unerwidert blieb. Aber nicht selten sind, wie bereits mitgeteilt, schon bei den Sizilianern Lieder, in welchen man seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, für geringen Dienst reich belohnt worden zu sein.36 Einer Thematik dieser Art dürfte sich Amerigo verschrieben haben. Das Wichtigste an dieser Anekdote ist aber natürlich, daß die beiden Paduaner eines Tages nacheinander auftraten und sangen. Man kann zwar annehmen, daß Francesco kein Protokoll einer solchen Veranstaltung vorgelegt, sondern die 35

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Francesco da Barberino (1905-1927, II 114), Thomas (1883, 187). Die «regula .XXJ.» lautet: «Non creder a ciascun che d'amor vanta / ne a colui che sol di pena canta, / che le piü volte e nudo il vantadore, / l'altro vestito di gratia d'amore» (1905—1927, II 113). Wie wenig schmeichelhaft das in «cantiones» vorgebrachte Lob der «pietä» und wie ehrenvoll der Tadel der «crudeltä» für die Frauen ist, wird in den «regulae» CXLI und CXLII und dem zugehörigen Kommentar ausgeführt (ibid., 247s.). Siehe oben, p. 53.

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Dinge so arrangiert hat, daß zwei Zuhörer anschließend ein Gespräch über das Gehörte beginnen konnten, in dem sich einer von ihnen einer bestimmten Weisheitsregel erinnerte, aber der Auftritt mehrerer Sänger von Liebesliedern vor Publikum war offenbar noch eine allgemein geläufige Erfahrung, von welcher er bei seiner Anekdote ausgehen konnte, ohne mit dem Befremden seiner Leser — oder Hörer — rechnen zu müssen. In Padua hat sich Francesco zwischen 1304 und 1308 aufgehalten.37 In den Documenti d'Amon gibt Francesco auch Empfehlungen für den metrischen Bau einer «cantio extensa» und rät, die Gestaltung der Cauda betreffend: «[...] fac duas voltas invicem correspondentes quarum finis prime concordet cum fine ultimi pedis ut melius memorie commendetur non autem ex necessitate [,..]».38

Der Schluß der ersten Volta soll also mit dem Schluß des letzten Piede reimen, und zwar aus mnemotechnischen Gründen. Damit läßt Francesco beiläufig durchblicken, daß Kanzonen zu seiner Zeit memoriert wurden und die Dichter das Memorieren durch ihre Reimgestaltung erleichtern konnten. Daß dies für ihn offenbar ganz selbstverständlich war, verwundert natürlich nicht, wenn man, belehrt durch Mary J. Carruthers' eindrucksvolle Studie,39 die wohl überhaupt nicht zu überschätzende Rolle der Memoria in der Kultur des Mittelalters bedenkt, die allerdings bisher bei der Frage der Verbreitung und vor allem der Überlieferung der frühen italienischen Lyrik kaum Beachtung gefunden hat. Philologen lesen und schreiben, aber sie tragen nicht vor und singen nicht, was ohne Zweifel die — hermeneutisch betrachtet auch überhaupt nicht umgehbaren — Vorurteile prägt.40 Claudio Giunta hat denn auch darauf aufmerksam gemacht, daß in der letzten Zeit das Interesse an soziologischen Fragestellungen, also etwa an der Frage nach dem «Sitz im Leben», nicht zuletzt durch das wachsende Interesse an der schriftlichen Erscheinung dieser Lyrik im Buch, also in den Canzonieri, geschwächt worden sei.41 Gewiß kann man, was man schwarz auf weiß besitzt, getrost nach Hause tragen, aber dort ist es dann auch lokal fixiert, während man beständig bei sich trägt, was man im Kopf hat. Nach Carruthers' Ausführungen genügte es damals keineswegs, einen Text nur zu lesen und zu verstehen und darüber hinaus allenfalls zu behalten, worum es darin ging und wo er zu finden war, um gegebenenfalls erneut nachlesen zu können, sich einen Text anzueignen hieß vielmehr, sich seinen Wordaut einzuprägen und ihn dem Gedächtnis anzuvertrauen, um ihn dort jederzeit abrufen zu können, und um die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses zu steigern, hat man ausgepichte 37 38 39 40 41

Thomas (1883,19s.). Francesco da Barberino (1905-1927, III 145s.). Carruthers (1990). Zu den Folgen, die es für das Verständnis hat, daß man nicht mehr mit Hilfe der Lieder, sondern nur noch über sie «kommuniziert», siehe bereits Schlosser (1973). Giunta (1998,12s.).

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Verfahren zu seiner Schulung entwickelt. Dies galt auch für selbstverfaßte Texte, weshalb es bei Brunetto Latini in der Rettorica kategorisch heißt: «[...] neente vale trovare, ordinäre ο aconciare le parole, se noi no-lle ritenemo nella memoria sicche ci 'nde ricordi quando volemo dire ο dittare».

Memoriertes zu 'sagen' («dire») kann hier nur soviel wie «proferere» ('aufsagen") bedeuten.42 Francesco da Barberino sah offenbar die an sich schlichte Reimgestaltungsfrage im Zusammenhang mit den erwähnten mnemotechnischen Hilfen. Zwar kann man Gedichte auch auswendig lernen, um sie sich jederzeit durch eine «recitazione mentale», ohne die Absicht des «dire» oder «dittare», lediglich vergegenwärtigen zu können, aber Francesco berichtet eben auch von zwei Lyrikern, die mit dem, was sie auswendig konnten, auftraten und es sangen. Daß sich von ihnen nichts erhalten hat, könnte sich zwar durch Uberlieferungsverlust oder Desinteresse wegen nur lokaler Bedeutung erklären, sie könnten ihre Lieder aber auch, wie Gotto aus Mantua, nur «oretenus» verbreitet haben. Gestützt auf solche Zeugnisse, deren Aussagekraft gerade auf ihrer für Selbstverständlichkeit sprechenden Beiläufigkeit beruht, fahre ich mit der Suche nach Indizien fort, die in den Gedichten Cinos da Pistoia für Aufführung sprechen könnten. Für schriftliche Verbreitung scheint die Geleitstrophe der Kanzone lo non posso celar lo mio dolore zu sprechen: «Canzone, i' t' ho di lagrime assemprata, e scritta ne la trist' anima mia, che seco ne la morte te n' andrai; e qui starai da gente scompagnata, efuggirai dove sollasgo sia, secondo le parole che tu hai. Se gentil cor ti legge, il pregherai ch' a quella donna, per lo cui valore m' ha si disfatto Amore, ti meni con fidanza che t' intenda e che Ί dir non 1' offenda» 43

Die Kanzone, in der Seele geschrieben und dieser, als dem «libro della memoria», eingeschrieben, soll darin verbleiben und mit ihr im Tod versinken. Dort wird sie fern von jeder Festöffentlichkeit («gente», «sollazzo») bleiben. Der Dichter will also schweigen und nicht vortragen. Dennoch bleibt seine Kanzone nicht verborgen, denn sie ist «edlen Herzen» zugänglich, die sie «lesen» können, und wenn eines dieser Herzen sie liest, soll die Kanzone es bitten, sie vor die eigentliche Adressatin zu führen. Damit ist ein Publikationsweg beschrieben und eine Aufführungsanweisung gegeben. Das «edle Herz» soll als Vertrauensperson auftreten, der die Adres42

43

Brunetto Latini (1968, 77). Auch für Salimbene de Adam z.B. war es ganz selbstverständlich, Texte, z.B. Gedichte, an welchen ihm lag, dem Gedächtnis anzuvertrauen, siehe Salimbene de Adam (1966, I 109), dazu Schulze (2003a, 62ss.) und id. (2004, 479s.). Poeti del Dolce stilnuovo (1969, 596). 87

satin 2uzuhören bereit ist, ohne Anstoß zu nehmen. Den substantivierten Infinitiv «il dir» im letzten Vers kann man nicht so automatisch, wie dies gewöhnlich geschieht, im Sinne von 'Gedicht' verstehen,44 da durch das Hinzutreten eines Vermittlers oder einer Vermittlerin eine gesellige Situation entsteht, in welcher das «edle Herz» wohl nicht nur still der stillen Lektüre der durch gutes Zureden dazu geneigt gemachten Adressatin beiwohnen sollte. Für «il dir» kommt daher sehr wohl die Bedeutung ΎΟΓtrag' in Frage, entsprechend dem «dire» bei Brunetto Latini als Form der «pronuntiatio», und «intendere» heißt nicht nur 'verstehen', sondern auch 'hören'. Von Verständnisschwierigkeiten ist bei Cino nicht die Rede, es geht lediglich darum, daß die Adressatin überhaupt zuhört. Vom Publikationsweg — und zudem vom Gehör - ist auch in dem Sonett Moviti, Pietate, e va incamata die Rede, das mit der folgenden Empfehlung auf den Weg geschickt wird: «E se tu troverai donne gentili, ivi girai, che lä ti vo' mandare, e dono d' audien^a da lor chiedi. Poi di a cos tor: dei giovani di Assisi capeggiata dal futuro s. Francesco, allora — quel Francesco che sognava la Francia e voleva diventare cavaliere, e che tra i suoi seguaci (da lui una volta definiti ) annovero poi, dopo la sua conversione, fra Pacifico, un tempo , poeta-cantore che allietava le compagnie giovanili —, alia nota testimonianza di Boncompagno da Signa, che nel suo (composto tra il 1194 e il 1203) racconta che era anche il nome che veniva dato a un tipo particolare di torneo ο meglio di adunanza cavalleresca: e le societä di giovani avevano come compito preciso proprio quello di organisgare le feste. (Deberes modo cum dextrario per Parmam discurrere et cum hastiludiis tristes letos efficere, ut esses dominabus spectaculum et ystrionum consolatio>, scriveva dal canto suo Salimbene de Adam; e la sua e certo una descrizione efficace, effettuata con pochi tratti incisivi, della natura cavalleresca dei costumigiovanili cittadini, ormai nel pieno Duecento. Siamo di fronte cioe a un esplicito modello cortese-cavalleresco, inteso come caratteristico a un tempo del ceto dominante aristocratico e di una classe di etä. Se il paradigma culturale dell'aristocravja cittadina e dunque questo - cavalleria, cortesia - , e possibile allora supporre che le ) gelautet hat, folge hier aber der Fassung von V, weil sie vollständig ist und ich keine Erklärung für den zehnten Vers in Β 67 («per via e manto») habe.

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durch den Sündenfall entstellt worden ist, um dessen Wiederherstellung er sich aber bemühen soll. Hugo von Sankt Viktor zur erneuten Annäherung an die «similitudo» mit dem rechten Gott: «Omnis autem creatura, quanto uicinius similitudini Creatoris appropinquat, tanto uicinius creatorem suum declarat. Illud ergo uisibile simulacrum inuisibile exemplar prius ostendere debet, quod diuinae similitudinis imaginem perfectius in se expressam retinet».15

Auf die Frage des wahren Exemplars und der wahren Ebenbildlichkeit läßt sich Giacomo jedoch nicht ein, sondern beschränkt sich auf das theologisch Einfachste und jedermann Verständliche, die Sündhaftigkeit («pechate») der gegen das Erste Gebot verstoßenden Behauptung, es gebe noch einen anderen Gott. Hervorzuheben ist, daß er das bedenkliche Spiel bereits genau so beurteilt wie später Jacopo d'Acqui, der in Analogie zu der «dea amoris» nicht von einem «deus amoris», sondern von einem «deus vanitatum» spricht. Gegen Giacomos Kritik bringt der Abate in seinem zweiten Sonett vor, daß wohl kaum mit der Liebe Erfahrungen gemacht haben könne, wer in der Lage sei, Amors «gran potestate» so «per divinitate», also als Theologe argumentierend, zu bestreiten, denn «divinitas» war der Name der Gottesgelehrtheit, der Theologie (V 328, 5ss.): «S' Amore t' avesse feruto coralemente, nora parierest! per divinitate·, 'nanti credereste ciertamente c' Amore avesse im se gran potestate».

Darauf erklärt Giacomo in seinem zweiten Sonett (V 329), daß er es aus Scham, und um nicht mit oberflächlichen Schwätzern und Täuschern verwechselt zu werden, vorziehe, seine Liebe, von welcher er durchdrungen sei wie ein Schwamm vom Wasser, zu verbergen,16 und der Abate schließt die Tenzone, indem er Giacomos Lob singt (V 330). Dieser sei in der Liebesdichtung unübertroffen («spandete [dol]z[i] detti ed amorosi / piü di nullo altro amadore c'omo sacca»), und was er vorbringe, sei erleuchtend: «Lo vostro detto, poi ch'io l'agio adito, / piu mi rischiara che l'air a sereno». Deshalb erklärt der Abate seine eigenen «detti» zu «detti noiosi» und geht dabei sorgfältig auf den Wordaut von Giacomos Aufforderung ein, die sündhafte Rede vom Gott Amor zu unterlassen, denn sein abschließendes «se 'nver di voi trovai detti noiosi, / riposo me nde alorach' a voi piacca» entspricht recht genau Giacomos «voi che trovate novi detti tanti (B:

15

Hugo von Sankt Viktor (2002, 34). Der Traktat De tribus diebus ist in PL 176, 81 Iss. als siebtes Buchs von Hugos Oidascalicon abgedruckt. Vgl. das Motiv von verschämten Liebenden in dem anonymen Sonett Com'io fortte amo voi, viso amoroso (V 374). Es geht auf die Kanzone Quant hom honrat\ torna en gran paubreira (PC 364, 40) von Peire Vidal zurück. Das Bild vom Schwamm stammt aus Peirols Kanzone Maintagens mi malra^ona (PC 366, 19).

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novo dic[t]o e canto), / posate lo di dire (B: partite vi da ciö), che voi pechate». An dem ersten Sonett dieser Tenzone fällt ohne Zweifel auf, wie eingehend der Sprecher sich selbst und die Szenerie beschreibt, in welcher er agiert. Der moderne Leser neigt dazu, darin lediglich detaillierte Vorstellungshilfen für die Realisierung des Phantasmas zu erblicken, es ist jedoch nicht auszuschließen, daß diese eingehende Beschreibung der Person und der Szene als in den Text eingebaute Aufführungsanweisung gemeint gewesen sein könnte, die materielle Ausstattung der Szene eingeschlossen, wie sie bei den von Jacopo d'Acqui erwähnten höfischen «ludi diversi» wohl üblich gewesen sein dürfte. Wie dem aber auch gewesen sein mag,17 ein geistlicher Herr hätte sich wohl kaum bereit gefunden oder gar die Initiative ergriffen, den Part des «minister amoris» zu geben und, in Verkehrung der Rollen, dem Laien die theologische Gegenrede zu überlassen. Bei dem Abate di Tivoli kann es sich daher wohl nicht um einen geistlichen, sondern nur um den weltlichen römischen Herren handeln, der aus uns nicht bekannten Gründen diesen Namen führte.18 Ferner wird man sich die Dinge wohl auch kaum so vorstellen dürfen, daß der römische — und allem Anschein nach dem Papst nahestehende — Herr aus privater Lust an diesem Spiel in die Rolle geschlüpft sein und Giacomo da Lentini den Theologen einer ebenso privaten morosen Anwandlung stattgebend herausgekehrt haben könnte. Das Ganze war wohl eher ein abgekartetes Spiel, mit welchem vor aller — höfischen — Öffentlichkeit demonstriert werden sollte, daß man in Friedrichs Umgebung nicht bereit war, sich auf theologisch bedenkliche Spiele einzulassen. Giacomo dürfte in höchstem Auftrag gehandelt haben, als er, zwar im Spiel, aber mit bemerkenswertem Ernst, die Rechtgläubigkeit des Hofes unterstrich, und in höchstem Auftrag dürfte auch der Abate die Rolle des Provokateurs übernommen haben, wobei für Friedrich eine besondere Pointe darin gelegen haben mag, gerade einen römischen Herrn damit zu betrauen. Nicht einmal der Abschluß der Tenzone, das Dichterlob, dürfte sich zufällig ergeben haben, weit eher ist anzunehmen, daß dadurch unterstrichen werden sollte, daß hier nicht irgendjemand sein Urteil abgab, sondern der «Logothet» des 17 18

Zum theatertechnischen Aspekt des Sonetts siehe unten, p. 192. «[A]i tempi del Notaio troviamo in Roma un Gualtiero daicus de Urbe> chiamato [...] l'Abate di Tivoli, che Innocenzo IV in un suo breve {Arch. Vat. Regesli, XXII, 101—2) riconosceva col titolo di suo [...]. Nel predetto breve, che e del 1250, facendosi menzione di un figlio di lui, , che per le benemerenze paterne il papa prowedeva di un benefizio ecclesiastico in Morea, si avrebbe la conferma, oltre a quanto apprendiamo per le relazioni con Giacomo da Lendni, che questo trovadore romano dovette fiorire nella prima metä del sec. XIII» (Crestoma^a italiana dei primi secoli 1955, 93). Gasparri (1992, 83s.) hat festgestellt, daß es mancherorts bei bestimmten Festen statt eines «re della festa» einen «abbate della festa» gab. Vielleicht könnte dies den Namen erklären: Gualtiero als «abbate» einer mit der Organisation von Festen befaßten «brigata» und deswegen z.B. auch mit Amorspielen vertraut.

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Kaisers in Liebesdingen, der angesehenste Minnesänger seines Hofs, den auch ein Anonymus als Autorität in diesen Dingen, nämlich als «d'amor fino» (V 72, 58), gerühmt hat. Der Vorwurf der mangelnden Rechtgläubigkeit schwebte bekanntlich beständig über Friedrich, und mit welcher Sorgfalt er sich darum bemüht hat, ihn zu entkräften, zeigt ein Vorfall aus dem Jahre 1246. Nachdem man ihn auf dem Konzil von Lyon wegen Verdachts auf Häresie abgesetzt hatte, ließ er sich von einer Gruppe von hohen geistlichen Herren in den Glaubensartikeln prüfen und teilte das Ergebnis der Prüfung dem Papst in einem mit Goldbulle besiegelten Schreiben mit.19 In der Sonett-Tenzone hat er, zu einem leider nicht ermittelbaren Zeitpunkt, mit einem römischen Herrn als «advocatus (Diaboli-) Amoris» ein höfisches Spiel prüfen und wegen mangelnder Rechtgläubigkeit verwerfen lassen. Und diese Prüfung und Verwerfung dürfte nicht nur die Existenz und anderweitige Beliebtheit dieses Spiels bezeugen, sondern auch den Anteil, welchen lyrische Formen an seiner Ausführung hatten. Wie sorgfältig Friedrich darauf bedacht war, daß selbst in den Spielen und der Dichtung seines Kreises nichts vorkam oder behauptet wurde, was gegen ihn verwendet werden konnte, läßt sich auch noch an anderen Beispielen zeigen. So haben Jacopo Mostacci, Pier delle Vigne und Giacomo da Lentini in einer anderen Sonett-Tenzone,2" statt einen «rex amoris» oder «deus vanitatum» anzurufen und lehren zu lassen, die Frage, ob der Liebe irgendeine Macht oder Wirkung zugesprochen werden könne, als «quaestio» erörtert und damit an die Stelle des verfänglichen Amorspiels ein unverfänglicheres Disputationsspiel gesetzt. Aufklärung über die Liebe wird nicht von dem lehrenden Gott oder seinem «minister» erbeten, sondern nach einem auf der Hohen Schule — oder auch am Hof — erlernten Verfahren erarbeitet. Jacopo eröffnet die Disputation mit der Präsentation der Streitfrage, der «dubitatio» («dubio»), und bringt gegen die Lehre «ch' Amor a podere / e gli corazi distrenge ad amare» sein «videtur quod non» vor, demzufolge keine Macht ausüben kann, was nicht sichtbar ist («no parse, ne pare»), weshalb nur zuzugestehen sei, daß die Liebe aus dem Gefallen an einer schönen Gestalt entstehe («nassa da plazire»). Dagegen spricht Pier delle Vigne sein «sed contra» und bekennt sich unter Berufung auf die unsichtbare Wirkung des Magnetsteins zum Amorglauben, übernimmt also den Part des «advocatus (Diaboli-)Amoris»: «questa cosa a credere me 'nvita / ch'Amore sia, e dame grande Jede / che tutor sia creduto fra la zente». Giacomo da Lentini schließt den Disput, indem er in seinem «respondeo dicendum» gegen Piers Ausführungen Jacopos Lehre vom «plazire» bestätigt und ergänzt. Die Augen stellen dem Herzen eine gefällige Gestalt vor, die vom Herzen «imaginiert» wird und sein Verlangen erregt, und das ist alles: «lo cor, che di zo e concipitore, / imagina, e plaze quel desia; / e questo amore regna fra la zente». Diese Lehre war aller15

20

Schaller (1995, 502).

Le rime della Scuola siäliana (1962,

646ss.).

181

dings nicht neu, denn bereits Aimeric de Peguilhan hatte in der Kanzone Anc mais dejoy ni de chan (PC 10, 8) bezweifelt, daß die Liebe Macht ausübe: «Amors [...] / non a, ni non pot aver, / ab se forsa ni poder». Vielmehr sei sie von Augen und Herz abhängig und die «Frucht» der in diese gelegten Saat: «Quar Ii huelh son drogoman del cor, e 1' huelh van vezer so qu' al cor platz retener; e quan ben son acordan e ferm tuit frei d' un semblan, adoncs pren veray' Amors nasquensa [···] per que tuit Ii fin aman sapchan qu' Amors es fina benvolensa que nays del cor e dels huelhs, sens duptar, que 1' huelh la fan florir e l cor granar — Amors qu' es frugz de la vera semensa».21

Diese Lehre ist in der Sonett-Tenzone in schulmäßige Form gebracht worden, und die Form zeugt von der Vertrautheit der drei Disputanten mit dem scholastischen Verfahren der Erkenntnisgewinnung sowie der Prüfung und Darlegung bereits gewonnener Erkenntnis.22 Zu dieser Form dürften sie aus demselben Grund gegriffen haben, aus welchem Giacomo da Lentini in der Tenzone mit dem Abate di Tivoli «per divinitate» argumentiert. Zwar ist auch dieser Disput ein Spiel, das erfreuen soll, wie Jacopo eingangs hervorhebt: «Solicitando un poco meo savere / e cum lui vogliendo deletare, / un dubio [...] / a vui [...] mando per determinare». Aber man wollte sich wohl nicht nur auf das «delectare» beschränken. Einen Nutzen, ein «prodesse», hatte man wohl durchaus ebenfalls im Blick. Mit der Autorität studierter Leute, die auf der Hohen Schule oder anderweit ein besonderes «savere» erworben hatten, sollte in gelehrter Form auch hier demonstriert werden, daß man an Friedrichs Hof nicht mit verfänglichen Vorstellungen sympathisierte, sondern einschlägige Lehren selbst im poetischen Spiel sorgfältig prüfte und gegebenenfalls verwarf. Man geht wahrscheinlich nicht zu weit, wenn man annimmt, daß Tenzonen dieser Art nicht zuletzt um der publizistisch-propagandistischen Wirkung willen tatsächlich so aufwendig inszeniert wurden, wie es die in das Einleitungssonett des Abate di Tivoli eingebauten Inszenierungsanweisungen vermuten lassen, zumal bereits das gelehrte Modell, insbesondere als «disputatio de quolibet», eine öffentliche Veranstaltung vor Publikum mit — wie man inzwischen annimmt — durchaus theatralischen Zügen 21 22

Aimeric de Peguilhan (1950, 74s.). Zu dieser Quelle bereits Mölk (1971, 336ss.). Zur Argumentationsform Mölk (1971, 333s.), Schulze (1979, 330ss.), Bernsen (2001, 226ss.). Daß Giacomo in seinem Sonett eine häretische Position vertreten haben könnte (Bernsen 2001, 233), ist aus den dargelegten politischen Gründen nicht sehr wahrscheinlich.

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war.23 Nach der mündlichen «disputatio» faßte der «magister» die Argumentation in der «determinatio» schriftlich zusammen, ein Verfahren, auf welches Jacopo anspielt, indem er seinen Mitdisputanten seinen «dubio [...] per determinare» vorlegt. Ein «magister» ist hier, unter Gleichberechtigten, allerdings nicht im Spiel, und was die «sentenzator[i]» vorbringen, will er nicht lesen, sondern hören: «zo che e da vui voglio odire, / perö ve ne fazo sentenzatore», ganz so wie der Abate di Tivoli in der anderen Tenzone erklärt, Giacomos erleuchtenden «detto», wie in mündlicher Disputation nicht anders möglich, gehört und nicht gelesen zu haben: «lo vostro detto, poi ch'io l'agio adito». Aus der Vertrautheit Jacopos mit den gelehrten Begriffen kann man allerdings wohl nicht ohne weiteres schließen, daß auch er — wie Pier delle Vigne und Giacomo da Lentini — ein studierter Mann war, denn mit den Begriffen kann er sich auch am Hof vertraut gemacht haben, wo Friedrich immer wieder einmal «quaestiones» disputieren ließ.24 Weitere Beispiele dafür, wie sorgfältig man in Friedrichs Umgebung darauf achtete, daß selbst in der Dichtung nicht gegen die religiöse und moralische «Korrektheit» verstoßen wurde: In der anonymen Liebeslehre U novello pensiero ο al core e volglia (V 67) wird eine Reihe von «praecepta amoris» exponiert, darunter solche aus dem Traktat des Andreas Capellanus, aber zu Beginn der letzten Strophe heißt es: «Ma sovratuto ti volglio amaestrare / di savere pietä ritenere / e Dio sovra l'al[tre] cose amaret>. Bei Andreas heißt es nur, daß man Lästerung Gottes und der Heiligen unterlassen solle.25 Ferner hat Jacopo Mostacci in der letzten Strophe von Λ pena pare (V 44, Ρ 101) Friedrich zwar als einen Fürsten gefeiert, dem die Liebe Freude gewähre, weshalb er Verständnis für alle Liebenden habe, aber er hat nicht versäumt, hinzuzufügen, daß Friedrich «in Züchten» in dieser Freude wandle: «c'Amore gioi Ii consente, / k'ell' e gioioso e di gio' con creanfa». Denn an sich freute sich der König nicht in der Liebe, sondern in Gott, wie der letzte Vers des 62. Psalms lehrt, wo es heißt: «Rex vero

23

24

25

Enders (1993, 342): «[T]he quodlibet was in fact a form in which there was a crucial commingling of academic ritual and dramatic representation». Zu «Inszenierungen» aller Art als «adäquate Form der Veröffentlichung», um im politischen Leben «eine Haltung oder Entscheidung eindeutig und unzweifelhaft zum Ausdruck zu bringen», Althoff (1997c, 230, 254, 256). Stürner (2000, 387, 399). Jacopo war wohl eher - gut ritterlich - praktisch-ornithologisch spezialisiert. Am 5.5.1240 ist er als einer der Falkner bezeugt, welche zur Beschaffung von Beizvögeln nach Malta fuhren (H.-B., V 970). Zudem hat die anonyme Kanzone Amorfa come Ίfirto ucellatore (P 16), in welcher der Dichter behauptet, aus eigener Erfahrung im einschlägigen Sport («giocando da för») mit dem Verhalten, eingefangener Sperber vertraut zu sein (4ss.), dieselbe Form wie die Kanzone Amore, ben veio che mifa tenere (V 43) von Jacopo Mostacci, worin das Vogelstellermotiv ebenfalls vorkommt. Andreas Capellanus (1892/1972, 65). Siehe bereits Crespo (1974).

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laetabitur in Deo».26 Vielleicht sollte man in Jacopos Versen «Amore» nicht mit Majuskel schreiben, denn dies wäre gewiß nicht in Friedrichs Sinn gewesen. An seinem Hof konnte man sich zwar wünschen, daß der verkörperte Amor eine «cour d'Amour» abhalte, damit man ihn anrufen könne, wie Stefano di Protonotaro es sich in Anlehnung an die Kanzone Ben volria saber d'Amor (PC 421, 5) von Rigaut de Berbezilh gewünscht hat27 (V 292, L 67, Iss., 61ss.): «Assai mi piacieria, se ciö fosse c' Amore avesse im se sentore d' intendere e d' audire: ch' io Ii rimembreria, come fa il servidore per fiate a suo sengnore, meo lontano servire; [·] Ma, ss' io no η' agio aiuto d' Amore che mi tene im questa pregione, nom so che cortte mi tengna rasgione».

Aber mehr konnte man sich aus politischen Gründen nicht erlauben.28 Anderweit war man nicht genötigt, solche Vorsicht walten zu lassen, da man nicht den Vorwurf mangelnder Rechtgläubigkeit zu befürchten hatte. So hat sich z.B. auch der Florentiner Maestro Torigiano in dem schon erörterten Sonett Ne' volentieri ίο dico, ne lo tacäo (V 487) mit der Frage auseinandergesetzt, ob man Amor einen Gott nennen dürfe, und ganz im Geiste Giacomos da Lentini, sogar mit wörtlichen Anklängen, entschieden: «L'amore, di chui la giente canta e grida, / e uno desio del'arma». Da aber das Liebesverlangen die Seele lenke und leite («al suo timone l'arma si guida»), nimmt er es hin, wenn die Liebenden die Liebe einen Gott nennen, ohne daß dies zu wörtlich zu verstehen sei.29 Er ist dann allerdings nicht davor zurückgeschreckt, Amor in dem Sonett Meng, per Deo, se nom t'ö fato fallo (V 491) so anzurufen, als sei er doch ein Gott, ihn in einem zweiten Sonett antworten zu lassen (V 492) und in einem dritten seinerseits noch einmal anzureden (V 493), also Sonette für ein komplettes Amorspiel zu verfassen. In dem ersten dieser Sonette beklagt er sich zudem, daß Amor ihn «in questa cortte.» so lange warten lasse, ohne seine 26

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Dieser Vers ist, möglicherweise noch in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts, im Kloster San Salvatore bei Messina in einer Herrscherakklamation verwendet worden. Siehe Moran (1977) und Schulze (2002b, 13). Zu dieser Quelle Fratta (1996, 88s.). Form und Melodie sind aber wohl von Pons Barbas Kanzone Νon ha tan poderen se (PC 374, 1) entlehnt (Schulze 1989a, 127). Pons Barba wirkte wahrscheinlich im Kreis der Este (Asperti 1995, 148). Da man sich an König Manfreds Hof nicht mehr darauf zu beschränken brauchte, sich eine «cour d'Amour» nur zu wünschen, dürfte Stefanos Kanzone wohl vor 1250 entstanden sein. Siehe oben, p. 160. 184

Liebe durch seine Hilfe zu fördern, womit das Spiel ganz eindeutig an einer «cour d'Amour» angesiedelt wird, allerdings an einem Hof, an welchem nicht ein irdischer Richter oder eine irdische Richterin Liebesstreitfragen entschied, sondern Amor selbst Beschwerden entgegennahm und beantwortete. Nicht so kurz hat sich der Florentiner Monte Andrea gefaßt, dessen Dialog zwischen «amante» und Amor ganze zwölf Sonette umfaßt (V 870—881), so kurz wie Maestro Torigiano hingegen wieder ein Anonymus in einem Dialog zwischen «amico» und Amor (V 976—978). Aber auch der Kanzonenform hat man sich für solche Dialoge bedient, wie die Rede Amore, i'prego c'alquanto sostegni / e che 'ntender mi degni zeigt, die Giovanni dall' Orto d'Arezzo für den Vortrag vor Amor verfaßt hat. Die Antwort mit gleichen Reimen Omo che parli per si gran contegni hat Tomaso da Faenza «in luogo d'Amore», wie in der Handschrift vermerkt wird, beigesteuert.3" Auch Cino da Pistoia las nun noch im «libro di Gualtieri», dem Liebestraktat des Andreas Capellanus. Dies geht aus einem Sonett hervor, in welchem er behauptet, auf dem Weg durch die Berge von einem Lichtstrahl getroffen worden zu sein, der ihn veranlaßt habe, vom Weg abzuweichen, um etwas zu sehen, was er als «follia» bezeichnet. Was immer er gesehen haben mag, er hat darüber Aufklärung im «libro di Gualtieri» gesucht, «per trarne vero e novo intendimento»,31 und daß er aus diesem Buch auch Anregungen für Inszenierungen bei abendlichen Festen gezogen haben könnte, läßt ein Sonett vermuten, mit welchem er eine namentlich genannte Dame auffordert, eine andere zu deren Ehre als Repräsentantin Amors — also zur «dea sive ministra amoris» — zu erwählen und in ihrer Gegenwart sodann zur eigenen Ehre ein Gedicht von ihm vorzulesen. Sie soll jedoch nicht nur zur eigenen Ehre vorlesen, sondern, wenn ihr daran gelegen sei, auch alles in ihrer Kraft Stehende einlegen, um die Repräsentantin Amors um Erbarmen mit dem am Leben bedrohten Liebenden zu bitten: «Graziosa Giovanna, onora e 'leggi qual vuo', di quelle che tu vedi, Amore; e solo intanto per lo tuo onore lo mio sonetto in sua presenza leggi. Ε se poi te ne cal si che Ii cheggi merce de la mia vita che si more, prego che provi tanto Ί tu' valore, ch' ogni vertute quasi te ne 'nveggi».32

Es handelt sich offenbar wieder um ein Begleitsonett, in welchem der Ablauf eines Amorspiels genau skizziert oder vorgeschrieben wird, also ge3(1 31

32

Zaccagnini (1935, 95ss.). Poeti del Dolce stil nuovo (1969, 826s.): Perche voi state forse ancor pensivo. Auf das Studium dieses Buches weist auch das Sonett Una ricca rocca e forte manto (ibid., 461s.), insbesondere mit den «amorosi cori in gioia e canto». Ibid., 572s.

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wissermaßen um eine in Verse gefaßte Regieanweisung. Mit dem Gedicht, das Giovanna vorlesen soll, könnte das Sonett Poi ched e' t'epiaäuto ched i' sia, / AmorF" gemeint gewesen sein, wahrscheinlicher ist jedoch, daß «sonetto» hier nicht den engeren technischen Sinn hat, sondern sich, wie bei Guglielmo Beroardi (V 178, L 74, 47), auch auf größere Stücke be2iehen konnte, denn Cinos goße Amoranrufung in Kanzonenform Quando potrd io dir: 34 paßt weit besser zu der Regieanweisung, insofern der Gott darin eben darum gebeten wird, vor dem Tod zu erretten: «muoviti a pietä, vedi ch'io moro» (28), und «[v]edi che poca vita / rimasa m'e» (34s.). Ehre konnte durch Erwählung zur Repräsentantin Amors und durch Gedichtvortrag im übrigen nur gewonnen werden, wenn beides vor Publikum geschah, denn Ehre ist eine Angelegenheit des öffentlichen Ansehens. Was hinter verschlossener Tür unter vier Augen geschieht, bringt keine Ehre ein. Außerdem wäre eine Repräsentantin Amors, die nur vor einer einzigen Person repräsentiert, nicht recht vorstellbar. Amorspiele wurden also offenbar auch zu den Zeiten Cinos da Pistoia noch gespielt.

3. Ein erzähltes Amorspiel Es überrascht dann wohl nicht mehr allzu sehr, wenn man bei Francesco da Barberino auf eine sehr eingehende Schilderung eines solchen Spiels stößt, und zwar im Reggimento e costumi di donna in der Episode von der königlichen Hochzeit. Am dritten Tag des Festes, so wird dort erzählt,35 begibt sich die junge Königin mit ihren Damen in den Garten, wo man Kränze flicht. Mit einem dieser Kränze schickt die Königin eine ihrer Damen zum König, dem sie eine Botschaft ausrichten soll, die sich auf eine etwas verschlüsselte Weise auf die Hochzeitsnacht bezieht. Der König nimmt Kranz und Botschaft in Empfang und erläutert die letztere seinen Herren, wobei man nicht erfährt, wie deutlich er dabei wird. Sodann schickt er die Dame zur Königin zurück, wo sie eine Gegenbotschaft ausrichten soll, die sich ebenso verschlüsselt auf die Hochzeitsnacht bezieht. Als die Dame aber im Garten angekommen ist, fällt sie ob der Süße der königlichen Worte tot oder so gut wie tot zu Boden: «Giugne che riede questa damigella; fannosi incontro ridendo inver lei; mena' la tutte alia reina avante; qui s' inginocchia: — Madonna, i' son morta, che le parole del re m' hanno punto si di dolcezza, ch' i' non so che dica —. Cadde costei tutta smarita e vinta; 33 34 35

Ibid., 467s. Ibid., 659ss. Francesco da Barberino (1995, 64ss.), Thomas (1883, 165ss.), Poeti minori del Trecento (1964, 714ss.).

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gitt' le tutte le rose nel viso, chi le viuole e diversi altri fiori: nulla le giova ch' ancor si risenta; ballanle intorno cantando e chiamando, cercanle i polsi fregando le braccia. Leva una boce: — Cotal morte voglio! — poi non piü parla. Cuovronla di fiori, fannolle croci di gigli amorosi».

Darauf schickt man eine andere Dame zum König, die von dem Vorfall berichten soll, doch als sie dort angekommen ist, wird sie von Amors Pfeil getroffen: «dalla regal maestä trasse Amore / una saetta». Der König beauftragt daraufhin zwei Ritter, die Verwundete in den Garten zurückzubringen, und als diese vor die Königin treten, werden sie vom Glanz ihres Anblicks überwältigt: «vidor la somma reina sedere, dal cui visaggio uno sprendor si mosse ch' a questi cavalier da parte a parte passö, dal petto alle reni, in un'ora. Qui fur Ii fiori e le rose per nulla: pur cadder morti».

Die junge Königin, die dergleichen offenbar zum erstenmal erlebt, versteht dies gleichwohl als das, was es ist, nämlich als Spiel: «e la reina ride: crede che questo sia b e f f e ο sollazzo».

Darauf schickt man eine alte Frau zum König, die den Liebesgefahren nicht mehr so sehr ausgesetzt ist. Sie soll in Erfahrung bringen, welche Botschaft das erste Amoropfer vom König bringen sollte, tut jedoch etwas anderes. Zunächt bittet sie vor dem König und seinen Herren um Gehör, weshalb man ein Horn blasen läßt («Udite! Udite! Udite! dice il corno»). Dann sagt sie: «Su pigliate Γ arme, ch' Amore ha fatto qua giu badalischio chiunque passa da voi alle donne. Dov' e il periglio non vi so ben dire. Ι' η' ho veduti qua giü quatro morire. I' son campata, ch'Amor non mi vide, ne vid' io lui, che fu mia Ventura; e gran tempo e ch' io non n' ebi paura - ».

Als aber die Herren in den Garten eilen, ist Amor mitten unter ihnen und fügt allenthalben Wunden zu: «Contato il fatto, lo re e i baroni levansi tutti, corrono al giardino: Amore e i' mezzo, in qua e in lä ferendo; qui dona lor tanti colpi e si feri, che, se non fosson Ii medici mold, campavanne pochi e assai n' eran morti».

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Wegen der großen Gefahr, welcher man nunmehr hier ausgesetzt ist, bittet der König die Königin, den Garten mit ihm zu verlassen, und alle anderen versuchen, ihnen zu folgen: « L o re, vegendo il periglio degli altri e i molti guai de' feriti dattorno, ver la reina prega del partire. Allor la gente si mise a seguire, chi col cor fesso e chi col petto averto, chi in altra guisa ferito e percosso».

Dabei wird die Königin, wie der Erzähler behauptet, von Furcht ergiffen, und sie klammert sich an die Gewänder ihres Mannes, der sie aber nicht vor Amor schützen kann: «In tale caso ha paura la donna; prender si volse alia vesta regale: A m o r le die nel braccio con 1* ale. Temette il re della donna e gridava; ferillo A m o r quando la conforta».

Dieser Vorgang ist so konkret geschildert, daß nur eine Deutung möglich ist. Francesco schildert hier ein Spiel, in welchem eine mit Flügeln ausgestattete Verkörperung Amors auftritt, mit der Erlaubnis, sogar die Königin mit den Flügeln — natürlich schonend — zu schlagen, und der König, der ebenfalls geschlagen wird, spielt mit, indem er z.B. sogar schreit. Ebenso hat man sich das Spiel zwischen Amor und seinen übrigen Opfern vorzustellen. Der Rückzug aus dem Garten mißlingt, weil Amor und seine Helfer die Tür verriegelt haben: «Voglion partirsi; la porta e serrata, e nell' uscir Ii sergenti d'Amore co' dardi in mano e non n' hanno piatate, si che di piana concordia son vinti tutti i baroni e le donne lä dentro».

D a man gegen Amor und seine Bewaffneten nichts ausrichten kann, kommt es zu einer vom königlichen Paar förmlich ausgehandelten «deditio»: «Cusansi tutti prigionier d' Amore, e piü, che il re e la reina stanno e trattan(o) mene d' arrendersi a lui, e finalmente lui chiaman signore».

Darauf läßt sich Amor von allen huldigen: «Vedesi A m o r sovra tutti potere: a gran baldanza comanda che tutti, lo re co' suoi, la reina con quelle, facciano a lui reverenza e onore».

Und danach erweckt er alle seine Opfer zu neuem Leben:

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«Da sicurtä a tutta gente Amore; po' fa portar Ii feriti e Ii morti davanti a se e dice sovra loro queste parole che qui sono scritte: — Li colpi mie' son di cotal natura che qual si crede di quegli esser morto allor in vita magior si ritrova. Levate su! Non dormite, ch' i' vegghio! Vo' che sembrate nella vista morti e vo' feriti, securo da morte —. Cosi parlando Amor sovra costoro risuscitaron Ii morti e le morte, e Ii feriti prenderon conforto».

Die Auferstandenen beginnen zu tanzen, Amor entschwebt in die Lüfte, und man begibt sich zu einem Bankett, zu welchem Musik erklingt: «Prendons' a ballo tra quelle coloro; lo re da parte e la reina seco; Amor nell' aire volando si mostra. La porta s' apre da se, come vuole que' che la chiuse, e vannone insieme tutti costoro a mangiare a diletto. Qui Ii stormenti e Ii canti corali, qui dell'afanno nessun si ricorda».

Zum Schluß bitten einige aus der Ferne angereiste Damen in wohlgesetzten Worten um Urlaub, welcher ihnen von dem königlichen Paar gewährt wird, wobei die Königin dafür dankt, daß sie durch ihre Anwesenheit zur «Joie de la Cort» («gioia», «allegrezza») beigetragen und den König und seinen Hof geehrt haben: «avete onorato lui e sua corte». Hier handelt es sich also nicht um eine Vision vom Liebesjenseits wie bei Andreas Capellanus und auch nicht um einen Besuch in Amors irdischem Paradies wie im Rosenroman, sondern um die zeitweilige Übernahme der Herrschaft über den Hof durch Amor als Spiel. Die mit solchen Spielen noch wenig vertraute junge Königin stellt den Spielcharakter des ersten merkwürdigen Falles von Liebestod denn auch ausdrücklich fest. Als das Spiel etwas heftiger und sogar ihre Person angetastet wird, scheint sie, was bei ihrer Unerfahrenheit nicht verwundert, etwas beunruhigt zu werden, und der König erspart ihr nichts, indem er so tut, als verlöre er selbst etwas die Fassung. Für eine solche Machtübernahme gab es Modelle, denn am Tag der Unschuldigen Kinder regierte z.B. ein Kinderbischof, und noch heute übernimmt in manchen Städten Prinz Karneval zeitweilig das Regiment. Stefano Gasparri macht auf verschiedene Arten von «reges ludi» aufmerksam.36 Francesco da Barberino kannte sich in der höfischen Welt aus, er hat sich an den Höfen des Königs von Frankreich und seines Sohnes aufgehalten37 und dürfte gewußt haben, welche Arten von Spielen 36 37

Gasparri (1992, 3Iss.). Thomas (1883, 25s.).

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gespielt wurden. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, daß er in erzählender Form das Protokoll oder die Dokumentation eines Amorspiels geboten haben könnte, dessen Zeuge er war, aber ebenso unwahrscheinlich ist es, daß er etwas erfunden haben könnte, was es, außer in seiner Erzählung, sonst nirgendwo gab. Seine Darstellung dürfte sich zur kulturellen Praxis vielmehr so verhalten haben wie etwa die Varlamenta Guido Fabas zur zeitgenössischen Bittstellerpraxis. Solche Spiele dürften, wofür außer der Mitteilung bei Jacopo d'Acqui über das Spiel an König Manfreds Hof auch die Spuren in der Lyrik sprechen, auf die verschiedenste Weise gespielt worden sein,38 und Francesco hat mit seiner Beschreibung vermutlich einen Entwurf nach eigenen Vorstellungen für seine Ausführung vorgelegt. Die Verkörperung Amors mit offenbar an den Armen befestigten und daher beweglichen und zum Schlagen geeigneten Flügeln sowie die Attacken auf die Damen und Herren im Garten haben etwas ausgesprochen Theatralisches, und das Entschweben Amors läßt sogar an gewisse theatertechnische Vorrichtungen denken. Daß dergleichen um 1300 völlig unbekannt gewesen ein sollte, wird man wohl nicht ohne weiteres behaupten können. Eher ist damit zu rechnen, daß sich Francesco in den Dingen auskannte, die an den «curiae laetitiae» seiner Zeit, wenn nicht gang und gäbe, so doch nicht unbekannt waren, deshalb hier etwas theatergeschichtlicher Kontext. Im Jahre 1313 hat der König von Frankreich zur Feier der Erhebung seiner Enkel in den Ritterstand in Paris ein Spiel aufführen lassen, in welchem Himmel und Hölle zur Darstellung gelangten. Zum ersten Mai 1304 hat man in Florenz auf einen Floß vor dem Ponte alia Carraia nur die Hölle dargestellt, und weil die Brücke dabei unter der Last der Zuschauer zusammengebrochen ist, hat Giovanni Villani die Veranstaltung ausführlich beschrieben, so daß wir wissen, mit welchem technischen Aufwand die Qualen der armen Seelen veranschaulicht wurden. Villani nennt das Spiel, durch welches «novelle dell'altro mondo» vermittelt werden sollten, im übrigen «il giuoco da beffe». Ein Wesen mit Flügeln wurde beim Fest der Heiligen Drei Könige 1336 in Mailand dargestellt: «Angelus alatus ei dixit quod non redirent per contratam sancti Laurentii, sed per portam Romanam». Der Stern, welcher den Königen den Weg wies, «fuit Stella aurea discurrens per aera», man setzte also eine gewisse Schwebetechnik ein. Aufwendiger war die Schwebetechnik, die zu Pfingsten 1379 in Vicenza angewandt wurde, wo man den Heiligen Geist auf die folgende Weise herniederschweben ließ: An das Fenster eines Turms «erat chordula alliga38

Mit Hilfe zweier Stücke von Lapo Gianni z.B. auf die folgende Weise: In der Dialogballata Eo sono Amor che per mia libertate setzt sich Amor als Fürsprecher des Liebenden bei der Verehrten ein, welche ihn einen «messaggio» (im Sinne von «messaggero») nennt (18), und in der Ballata Amore, t' non son degno ricordare bedankt sich der Liebende, erst an Amor und dann an die Liebenden gewendet, für seine Tätigkeit als «messaggio» (29). Siehe Poet! del Dolce stil nuovo (1969, 271ss.), wo im Kommentar (277) hervorgehoben wird, daß beiden Stücken dieselbe Situation zugrunde liege.

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ta, quae descendebat ad primum solarium: ubi facto quodam compositio igneo fragore immenso, statim chordulam praedictam descendebat super primum solarium, ad similitudinem ardentis columbae».39 Auf ähnliche Weise hätte man wohl schon früher einen geflügelten Amor nach oben entschweben lassen können. Betrachtet man Francescos Erzählung einmal aus theatergeschichtlicher Perspektive, dann verdienen auch noch zwei weitere Details Aufmerksamkeit. Nachdem Amor die Königin mit seinen Flügeln geschlagen und der König geschrien hat, heißt es: «Levasi un vento che spande Ii fiori; no gli vale elmo, ne capel d' acciaro: rompon gli scudi e Ί periglio v' e grande».

Blumen als Geschosse sind aus der Beschreibung der Erstürmung einer Frauenburg bekannt, aus einem Spiel, auf welches ich weiter unten noch eingehe. Was den Wind betrifft, so heißt es bei Francesco, nachdem man Amor gehuldigt hat: «e fatto ciö di voler di ciascuno e di ciascuna, lo vento racheta».

Die Beherrschung des Windes gehört zur Gottesnatur. So fragten die Leute, nachdem der Herr einen Sturm besänftigt hatte: «Qualis est hic, quia venti [...] obediunt ei?» (Matth. 8, 27). Hätte man einen Wind gegebenenfalls künstlich, etwa mit Hilfe großer Blasebälge, erzeugen können? Nachdem Amor seine Opfer zu neuem Leben erweckt hat, fällt heilsamer Tau von oben herab: «La sommitade dell' aiere spande una rugiada soave, amorosa: questa rinfresca e ringioisce i cori; tutti i feriti che si lavan d'essa molto radolcan le ferite sue».

Der Zorn des Herrn, heißt es in den Proverbia (19, 27), ist wie das Brüllen des Löwen, aber sein Wohlwollen «sicut ros super herbam». Einschlägiger ist jedoch Isaias 26, 19: «Vivent mortui tui, inteifecti mei resurgent. Expergiscimini, et laudate, qui habitatis in pulvere, quia ros lucis ros tuus». Auf eine solche Stelle konnte man mit Worten anspielen, man konnte sie aber auch durch Beträufelung mit wohlriechenden Essenzen in Szene setzen, und dies wäre wohl weniger schwierig gewesen als die Erzeugung eines künstlichen Windes. Bei der eben erwähnten Erstürmung einer Frauen-

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D'Ancona (1891/1966, I 96; 97s.; 98s.). Engel traten natürlich auch sonst auf, z.B. in dem Verkündigungsspiel, das Martin da Canal (1972, 256; 1956, 1076) beschrieben hat: «quant celui clers qu'est aparilles en senefiance de angle est entres dedens l'iglise et il voit l'autre qu'est aparilles en senefiance de la virge Marie, il se lieve en estant, et dit tot ensi: .

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burg warf man «cunctis immo florum vel specierum generibus, queque redolent vel splendescunt».40 Francescos theatralischer Amor bestärkt natürlich in der oben geäußerten Vermutung, daß der Abate di Tivoli in dem Sonett, mit welchem er die Tenzone mit Giacomo da Lentini eröffnet, seine Amorebenbildlichkeit nicht nur mit Worten behauptet, sondern in einschlägiger Ausstaffierung auch zur Schau gestellt haben könnte,41 und wie wenig fremd den Zeitgenossen solche theatralische Darbietungen waren, zeigt am Ende auch die Miniatur zu der Kanzone Amor, da cut si move tuctora e vene (P 11, V 40) von Pier delle Vigne oder (L 122) Stefano di Protonotaro in P. Dort ist der Liebende mit Flügeln dargestellt, und während Amor selbst sonst nackt in Erscheinung tritt (zu Ρ 1 und Ρ 102), sitzt der Liebende hier mit blauem Ober- und rotem Untergewand vollständig bekleidet auf hohem Polster (Abb. 542). Daß es sich dabei um Amors Thron handelt, geht aus dem Text hervor. Amor hat diesen Liebenden für geringen Dienst damit belohnt, daß er ihm seinen Platz eingeräumt hat (Iis.): «di si gran guisa facto m' äve honore, ke se ä slocato e miso m' ä in suo stato».

Man kann zwar der Überzeugung sein, daß die Künste erst dann zu sich selbst kommen oder ganz bei sich sind, wenn sie keine Beziehungen zum praktischen Leben mehr unterhalten und nur noch mögliche Welten ausspekulieren, aber die Frage nach der Theatralität der Lyrik des Hochmittelalters und deren Spiegelung in der zeitgenössischen Malerei braucht man selbst einer solchen Überzeugung nicht zu opfern, denn auch Theatralität ist ein künsderisches Phänomen, und auch mit ihrer Hilfe spekuliert man mögliche Welten aus, z.B. die Amorwelt, die man, wenn man wollte, den Körper als Medium benutzend, ebenso statisch darstellen konnte wie die Malerei, nämlich als «lebendes», aber mit dem Wort begabtes «Bild». Man kann daher auch nicht mit letzter Sicherheit annehmen, daß z.B. Lapo Gianni in seiner Amorschelte Amor, nova ed antica vanitate in den Versen «Amor, quando aparisd novamente, / un angelo ti mostri a simigüanza, / dando diletto e gioco in tuo volare» lediglich aus dem Vorstellungsschatz geschöpft hat.43 In jeder Strophe legt er ein Merkmal Amors aus, der, wie in der letzten zusammengefaßt wird, «ignudo», «alato», «cieco», «giovane» sowie mit Köcher und Bogen ausgestattet ist. Dabei könnte 411 41

42 43

Siehe unten, p. 195. Siehe oben, p. 180, p. 182s. Der Abate sitzt vier Stufen hoch, also möglicherweise auf einem Podest. Ein Podest erstiegen nach der Beschreibung Martins da Canal (1972, 254; 1956, 1074, sowie oben, p. 8) die Kleriker, die vor dem Dogenpalast «laudes ducales» sangen, und im 64. Stück des Novellino besteigt ein Ritter ein Podest («salio in sue lo pergamo»), um eine Kanzone zu singen (II Novellino 1970, 274). II Canvpniere Palatino (2000, f. 9r). Poeti del Dolce stil nuovo (1969, 319).

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es sich um die Auslegung eines Bildes handeln. Die Ausmalung eines Festraums, eine «pintura la quale circundava questa magione», wird z.B. im 7. - nach bisheriger Zählung 14. - Kapitel der Vita Nova erwähnt. Er könnte mit den zitierten Versen aber auch auf den «diletto» gewisser «giuochi da beffe» angespielt haben. Bei Francesco da Barberino heißt es in der Erzählung von einem solchen Spiel ja: «Amor nell'aire volando si mostra».M Lapos Amorschelte ist wahrscheinlich eine Kontrafaktur der Kanzone Amore, che lungiamente m'äi menato / afreno stretto san^a riposan^a (V 305) von Guido delle Colonne,45 deren Initiale in Ρ (102) mit einem geflügelten Amor ausgemalt ist, welcher auf dem mit Trense und Zügel versehenen Liebenden reitet.46 Guido hat sich bei dem Motiv allerdings nicht weiter aufgehalten, so daß bei ihm von einer Bild- oder Szenenbeschreibung wohl nicht die Rede sein kann. Man braucht sich daher auch nicht zu fragen, ob es der «Alterität» des Mittelalters zuzutrauen wäre, am Ende selbst eine solche Szene als «lebendes und bewegtes Bild» leibhaftig vor Augen geführt zu haben.

4. Amors Hof im Bild In den Documenti d'Amore teilt Francesco da Barberino mit, daß er in jungen Jahren von einem sonst nicht weiter bekannten Feo de Ameriis aufgefordert worden sei, auf dreiundzwanzig die Liebe betreffende Fragen zu antworten, darunter eine, welche der Lage von Amors Hof und seiner sonstigen Beschaffenheit galt. Dieser Aufforderung sei er, «informante Amore», nachgekommen und habe den Hof bereits genau so geschildert, wie er dann in den Documenti bildlich dargestellt worden ist: «[...] olim Juveni michi amor paravit XXIIJ. amoris questionibus respondere inter quas una quomodo habebatur ubi erat amoris curia et qualiter facta erat, unde tunc per gradus et officia, querente feo de Ameriis et informante amore, curiam descripsi que quasi per omnia licet tunc picta non fuerit cum predicta concordat».47

Das Bild, das oben48 bereits zur Erklärung einer bestimmten Gebärde herangezogen worden ist, stellt den Hof der spirituellen Liebe dar und stammt von Francescos eigener Hand. Als Francesco noch jung war, also gegen Ende der achtziger Jahre oder auch erst zwischen 1297 und 1300,49 fragte man sich also, vermutlich in Florentiner Dichterkreisen, nach der Beschaffenheit von Amors Hof. Auf Siehe oben, p. 189. Schulze (1989a, 198s.), id. (2003c, 401, n. 10). 46 1/ Can%>niere Palatino (2000, f. 60v). 47 Francesco da Barberino (1905-1927, III 345s.). 48 P. 169s. 4'; Hierzu Thomas (1883,12s.). 44 45

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diese Frage hat er geantwortet, und er konnte sich, wie die Erzählung im Reggimento zeigt, nicht nur den Hof der spirituellen Liebe vorstellen. Zudem war er ein geschickter Zeichner, hat Musterzeichnungen für die Illuminierung seiner Bücher angefertigt sowie ikonographische Programme für die Ausmalung von Räumen in Padua, Treviso und Florenz entworfen.511 Er war also mit Malern im Gespräch, denen er wahrscheinlich nicht nur seine Vorstellungen vom Hof der spirituellen Liebe durch Zeichnungen nahezubringen versucht hat, wie er in den Documenti andeutet: «[...] non pictorem, designatorem tarnen figurarum ipsarum me fecit necessitas amoris gratia informante. cum nemo pictorum illarum partium ubi extitit liber fundatus me intelligeret iusto modo. Poterunt hinc et alij meis servatis principiis reducere meliora».

Er könnte mit ihnen auch die Ikonographie — und Szenographie - einer anderen Art von Amorhof besprochen haben, und da scheint es mir kein Zufall zu sein, daß sich zwischen seiner Schilderung der Amorhuldigung im Reggimento und der ganzseitigen Miniatur, mit welcher die Handschrift Ρ eröffnet wird, bemerkenswerte Parallelen feststellen lassen. Das Bild ist in eine obere und eine untere Zone geteilt (Abb. 752). In der Mitte der oberen thront Amor vor einer architektonischen Kulisse. Links und rechts von seinem Thron befinden sich zwei Personengruppen, die hinteren Personen stehend, die vorderen sitzend dargestellt. Zu seiner Linken, also vom Betrachter aus rechts, sitzt ein gekröntes Paar, beide, wie auch die erste zu Amors Rechten sitzende Person, mit Sprechergebärde. Amor stützt, mit nach außen gespreizten Ellbogen, seine Hände auf die Oberschenkel und schaut schräg zu dem gekrönten Paar hinunter. In der unteren Zone stehen, ebenfalls vor einer architektonischen Kulisse, zwei Personengruppen mit erhobenen Gesichtern und Händen. Zwischen ihnen steht ein Pelikan mit nach oben weisendem Schnabel, aus dessen Brust ein schlanker und offenbar immergrüner Baum, etwa eine Zypresse, mit dem Wipfel bis hinauf in die obere Zone und zwischen Amors Füße hinaufragt. Die Symbolik von Vogel und Baum ist zwar nicht ganz offensichtlich und eindeutig, aber da der Pelikan ein Christussymbol ist, kann man den Baum wohl für einen Baum des Lebens und ein Sinnbild der Auferstehung halten, natürlich nicht unabhängig von dem Umstand, daß in Francescos erzähltem Amorspiel auf die Unterwerfung selbst des Königspaares und die allgemeine Huldigung die Auferweckung der Opfer Amors folgt.53 Die erhobenen Hände der zu Amor aufblickenden beiden unteren Personengruppen könnten eine Gebärde sein, mit welcher sie den Dank für und das 50 51 52 53

Corpus der italienischen Zeichnungen (1968,1. 1, 37a). Francesco da Barberino (1905-1927, III 350). II Canspniere Palatino (2000, f. lr). Unabhängig von diesem Umstand hat allerdings bereits Moleta (1976, 27) den Baum als Lebensbaum gedeutet.

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Frohlocken über die Erlösung aus den Banden des Liebestodes zum Ausdruck bringen. In der oberen Zone könnte dargestellt sein, wie König und Königin die «deditio» aushandeln. Da die Handschrift Ρ wohl vor 1300 entstanden ist,54 dürfte das Bild älter als Francescos erzähltes Amorspiel sein. Aber Bild und Erzählung könnten auf die gleiche Quelle zurückgehen, nämlich auf Verständigungen über Ikonographie und Szenographie von Amors Hof und Herrschaft schon zur Zeit von Francescos Jugend. 5. Zwei weitere Spiele Das Amorspiel ist nun nicht das einzige Spiel, von welchem sich Spuren in der Lyrik erhalten haben. Discordi waren Tanzlieder,55 und in zwei dieser Stücke, dem einem «re Giovanni» zugeschriebenen Donna, audite (V 24) und Bonagiunta Orbiccianis Quando vegio la rivera (V 120, Ρ 54), heißt es: V 24, 95ss. «E le donne e le donzelle rendano le loro castelle sanza tinore. Tosto tosto vada fore chi non ama di bono core a piacire».

V 120, 44ss. «Are(n]dete - le fortesse, che noi vengniamo per esse, e non state piü in duresse».

Dies deutet auf ein Tanzspiel, die Einnahme der von den Damen zunächst gegen die andrängenden Herren verteidigten Burg, der Burg der Liebesverweigerung, wie immer man sich die Dinge im einzelnen auch wird ausmalen können.56 Deutlicher bezeugt ist aber die Belagerung einer Frauenburg ohne Tanz gelegentlich einer im Jahre 1214 in Treviso abgehaltenen «curia solacii et letdcie», von welcher Rolandino da Padova in seiner Chronica berichtet: «Factum est enim ludicrum quoddam Castrum, in quo posite sunt dompne cum virginibus sive domicellabus et servitricibus earundum, que sine alicuius viri auxilio Castrum prudentissime defenderunt. [...] Ipsum quoque Castrum debuit expugnari et expugnatum fuit huiuscemodi telis et instrumentis: pomis, datalis et muscatis, tortellis, piris et coctanis, rosiis et liliis et violis, [...] cunctis immo Horum vel specierum generibus, queque redolent vel splendescunt».57

Zu einem solchen Spiel passen die beiden folgenden Sonette. In dem ersten (V 789) erklärt der Sprecher oder Sänger, die Burg so genau ausgespäht zu haben, daß sie für ihn bereits so gut wie genommen sei. Die 54 55 56

57

Genauer als auf das Ende des Duecento läßt sie sich nicht datieren (De Robertis 2001, 338). Siehe Canettieri (1995, 290-296), auch die italienischen Stücke betreffend. Ein früher deutscher Beleg für ein solches Tanzspiel: «Swaz hie gat umbe, / daz sint alle megede, / die wellent an man / allen disen sumer gän» (Des Minnesangs Frühling 1977, 20). Zitiert bei Bumke (1986,1 301s.). 195

endgültige Erstürmung will er von einem gut ausgerüsteten Schiff aus vornehmen, mit welchem er sich auf den reißenden Strom legen will, der die Burg umfließt und schützt. Das zweite Sonett (V 790) ist die Gegenrede eines besonneneren und in den «praecepta amoris» besser bewanderten Mannes, der zu bedenken gibt, daß die Burg von - einem verkörperten? — Amor verteidigt werde, von einem zu erfahrenen Kastellan, als daß man sie mit stolzer Gewalt erobern könne. Der Einzug müsse vielmehr in Demut und Gehorsam erdient werden: «Roca forzosa, ben agio guardato in quale guisa ti possa aquistare per forza; si com' omo disperato, di te, piangiendo, misi mi a penzare; e per forza ti vidi in tale stato, che m' eri fortte e dura per campare. Or t' ό comquisa, tant' agio guardato, sanza lontanamento gueriare. Roca fiumata se' di 'ntorno intorno d' uno fortte fiutne, ch' e molto repente; perö il tuo pemsamento si rubella. Ma 'm questo fiume faragio sogiorno, e te comquistero prestanamente con una bene guernita naviciella». «Non chura nave la roca d' Amore, ne fals' amante che si la guerea; tale castellano ci sta difenditore, non chura chi 'm parlare la danea; e non chura batalglia, ne romore, ne lungo asegio che 'ntorno vi stea, che chi vorä montare in tal forzore, convene ch' umile ed ubidente stea. Perche 1 comanda Amore, e vuole che sia, chi si 'nframette di volere amare, che molta umilitate agia im balia; in altra guisa nom poria durare. Chi vole per orgolglio sengnoria, in mante guise pegiora il suo afare».

Ob die Frauenburg an einem Wasserlauf lag oder nicht, dürfte vom Veranstaltungsort abgehangen haben. Das höfische Singen war, wie oben58 dargelegt, ein ehrender Akt, und die beständige Werbung um Liebeshuld, wie noch Baidassare Castiglione wußte, ehrender Höflichkeitsdienst. Als ehrender Dienst hatte er öffentlich vollzogen zu werden, und daraus ergab sich, wenn man die Werbung beim Wort nahm, eine Ungereimtheit. Man plaudert eigentlich nicht öffentlich aus, in wen man sich verliebt hat, weil dies nicht jedermann etwas angeht, und man tut dies erst recht nicht, wenn es um eine verheiratete Frau gehen könnte. Diese Ungereimtheit haben sich die Dichter58

P. 63ss.

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Sänger natürlich nicht entgehen lassen, sondern haben damit gespielt, indem sie immer wieder einmal laut darüber nachdachten, ob sie ihre Liebe nicht eigentlich verheimlichen müßten. Eine so2usagen halbe Lösung des Problems war es, 2war nicht die Liebe selbst, wohl aber ihren Gegenstand zu verheimlichen, was man auch beständig tat, indem man keine Namen nannte, und diese Lösung erlaubte es, das Publikum in das Spiel einzubeziehen. Man unterstellte diesem, oder einem Teil desselben, auf nichts so erpicht zu sein wie eben gerade darauf, herauszufinden oder zu erraten, wer gemeint sein könnte. Als Beispiel hier eine Kanzone von Jacopo Mostacci (V 46) oder Rugieri d'Amici (P 22). Der neugierigen «falsa» oder «ria giente» muß verheimlicht werden, um wen es geht: «Di si fina rasgione mi convene trovare distrettamente siehe sia cielato, perche Γ openione deli falssi aciertare nom si possa, savere ne di mio stato».

Aber nicht zuletzt für sie wird gesungen (40ss.): «Ed io gioco e ridendo (P: Ed io in gioco) canto amorosamente per chela ria giente che mi vanno incherendo la gioia ond' io sono fine benevolente».

Hier wird so aufdringlich hervorgehoben, daß die «ria gente» nach der «gioia», dem Grund der Freude, also der Gemeinten fragt, daß man darin geradezu eine Aufforderung erblicken kann, dies tatsächlich zu tun. Hinter dem Spiel mit der Ungereimtheit des öffentlichen Vortrags der Liebeswerbung verbirgt sich also möglicherweise ein weiteres höfisches Spiel, das darin bestand, im Anschluß an den Vortrag den Vorwand des Höflichkeitsdienstes, das Gewand der Liebeswerbung, gewissermaßen zu zerreißen und zu erraten oder, bei unzureichendem Erfolg, am Ende zu fragen, zu wessen Ehrung diesmal gesungen worden sei. Darauf, daß ein solches Spiel auch in den Kommunen noch gespielt worden ist, deutet Dantes Vita Nova, auf welche ich im folgenden Kapitel noch eingehe.

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VI. Der Engel und der Tod

1. Schöpfungs-und Erkenntnislehre Wer die Schönheit der Geschöpfe erforschte, der würde, so lehrt Hugo von Sankt Viktor in dem Traktat De tribus diebus, darin das bewunderungswürdige Licht der Weisheit Gottes finden: «Quae quidem si quis inuestigare sufficeret, mirabilem in eis sapientiae Dei lucem inueniret». Denn seine Werke hat der Herr in seiner Weisheit geschaffen, wie es in Psalm 103, 24 heißt: «Quam magnificata sunt opera tua, Domine! omnia in sapientia fecisti» (8s.).1 Die ganze sinnlich erfahrbare Welt ist gleichsam ein Buch, geschrieben, um die Weisheit Gottes zu manifestieren: «Vniuersus enim mundus iste sensilis quasi quidam liber est scriptus digito Dei, hoc est uirtute diuina creatus, et singulae creaturae quasi figurae quaedam sunt, non humano placito inuentae, sed diuino arbitrio institutae ad manifestandam et quasi quodammodo significandam inuisibilem Dei sapientiam.» (9).

Dieses Buch muß man jedoch auf die rechte Weise lesen. Man darf nicht beim sinnlich Schönen stehenbleiben, sondern muß es mit spirituellem Blick durchdringen, um Gottes Weisheit zu erkennen: «[...] qui autem spiritalis est et omnia diiudicare potest, in eo quidem quod foris considerat pulcritudinem operis, intus concipit quam miranda sit sapientia creatoris. [...] Bonum ergo est assidue contemplari et admirati opera diuina, sed ei qui rerum corporalium pulcritudinem in usum nouit vertere spiritalem» (9s.).

Zwar ist die gesamte Schöpfung bewunderungswert, aber auf manche Dinge hat Gott besondere Aufmerksamkeit verwandt und «mirabilia» der Schönheit geschaffen: «Sequitur de his quae mirabilia sunt propter pulcritudinem. Quarumdam rerum figurationem miramur, quia speciali quodam modo decorae sunt et conuenienter coaptatae, ita ut ipsa dispositio operis quodammodo innuere uideatur specialem sibi adhibitam diligentiam conditoris» (23).

Von solchen besonderen «testes sapientiae Dei» heißt es: «Quid luce pulcrius, quae cum colorem in se non habeat, omnium tarnen colores rerum ipsa quodammodo illuminando colorat? Quid iocundius ad uidendum caelo cum serenum est, quod resplendet quasi saphirus et gratissimo quodam 1

Seitenangaben nach Hugo von Sankt Viktor (2002). Zu der Lesart «sensilis» an der folgenden Stelle vgl. den Apparat.

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suae claritatis temperamento uisum excipit et demulcet aspectum? Sol sicut aurum rutilat; luna pallet quasi electrum; stellarum quaedam flammeo aspectu radiant, quaedam luce rosea micant, quaedam uero alternatim, nunc roseum, nunc uiridem, nunc candidum fulgorem demonstrant. Quid de gemmis et lapidibus preciosis narrem, quorum non solum efficacia utilis, sed aspectus quoque mirabilis?. Ecce tellus reciimita floribus, quam iocundum spectaculum prebet, quomodo uisum delectat, quomodo affectum prouocat! Videmus rubentes rosas, Candida lilia, purpureas uiolas, in quibus omnibus non solum pulcritudo, sed origo quoque mirabilis est, quomodo scilicet Dei sapientia de terrae puluere talem producit speciem! Postremo super omne pulcrum uiride, quomodo animos intuentium rapit, quando, uere nouo, noua quadam uita germina prodeunt, et erecta sursum in spiculis suis, quasi deorsum morte calcata, ad imaginem futurae resurrectionis in lucem pariter erumpunt!» (26s.). Die verschiedenen Sinne werden von verschiedenen Schönheiten angesprochen, und wer könnte «omnes delicias sensuum» aufzählen?: «Quot enim oblectamenta oculorum in diuersitate colorum monstrauimus, tot oblectamenta aurium in uarietate sonorum inuenimus. Inter quae prima sunt dulcia sermonum commercia, quibus homines adinuicem suas uoluntates communicant, preterita narrant, presentia indicant, futura nuntiant, occulta reuelant, adeo ut, si his careat uita humana, bestiis comparabilis uideatur. Quid autem concentus auium, quid humanae uocis melos iocundum, quid dulces modos sonorum omnium commemorem?» (27s.). All diese schönen Dinge sind jedoch nicht um ihrer selbst willen zu genießen, sondern zu benutzen, um über das sinnlich Wahrnehmbare, insbesondere das Sichtbare, hinaus zu dem Unsichtbaren vorzudringen, dessen Abbild sie sind, nämlich zur Weisheit Gottes. Gott hat nach dem Bilde seiner Weisheit zunächst die rationalen Geschöpfe geschaffen und nach deren Bild sodann die körperlichen, in welchen nur noch der Schatten des Bildes seiner Weisheit zu erkennen ist. Die Erkenntnis setzt bei diesem Schatten an und sucht über die Erkenntnis des Bildes der Weisheit zur Erkenntnis der Weisheit selbst aufzusteigen: «Quando pridem de uisibilibus ad inuestiganda inuisibilia progredi cepimus, primo a corporea creatura ad incorpoream, hoc est rationalem creaturam, transiuimus, ac deinde a rationali creatura usque ad sapientiam Dei peruenimus; nunc uero redeuntes, primo a sapientia Dei ad rationalem creaturam, deinde a rationali creatura habita consideratione, ad creaturam corpoream procedemus. Ille ordo est cognitionis, iste conditionis, quia primum corporea creatura quae uisibilis est in cognitione occurrit; deinde a corporea creatura ad incorpoream cognitio transit; postremo uia inuestigationis aperta usque ad conditorem utriusque peruenit. In conditione uero primo gradu ad imaginem Dei rationalis creatura facta est, deinde creatura corporea, ut creatura rationalis in ea foris agnosceret, quid a creatore intus accepisset. In sapientia Dei est ueritas, in rationali creatura imago ueritatis, in corporea creatura umbra imaginis. Rationalis creatura facta est ad Dei sapientiam·, corporea creatura facta est ad rationalem creaturam. [···] Quisquis ergo uia inuestigationis de uisibilibus ad inuisibilia transit, primum a corporea creatura ad rationalem creaturam, deinde a rationali creatura ad considerationem sui creatoris mentis intuitum ducere debet [...]» (60s.).

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Am sinnlich Schönen führt also kein Weg vorbei, deshalb wird es ausführlich gewürdigt und sogar ein eindrucksvoller Katalog der sinnlich wahrnehmbaren Schönheiten aufgestellt.2 Darin fehlt allerdings etwas, was den Lyrikern immer besonders am Herzen gelegen hat, nämlich die Frauenschönheit, die natürlich fehlen mußte, weil sie unter allen Schönheiten die verfänglichste ist.3 Sie verleitet am stärksten dazu, sich in der Sinnenwelt zu verstricken und den Aufstieg zur Erkenntnis zu versäumen, weshalb sie geradezu als Fallstrick galt, von Gott ausgelegt, um den Mann auf die Probe zu stellen, und geschrieben stand (Ecd 7, 27): «Et inveni amariorem morte mulierem, quae laqueus venatorum est, et sagena cor eius, vincula sunt manus illius. Qui placet Deo effugiet illam; qui autem peccator est capietur ab illa».

Nahm man allerdings die Lehre beim Wort, daß alle Schönheiten ihre Schöpfungswürde hatten, dann stellte sich die Frage, ob nicht, bei aller Bedenklichkeit, am Ende auch die Frauenschönheit dazugerechnet werden müsse, und hält man sich Hugos Katalog der sinnlich wahrnehmbaren Schönheiten gegenwärtig, dann erscheinen die beiden folgenden Sonette von Giacomo da Lentini (L 408, L 411) in einem interessanten Licht: «[D]iamante, ne smiraldo, ne «piafino, ne vernul' altra gema pregiosa, t0pa90, ne giaquinto, ne rubino, ne Γ aritropia, ch' e si vertudiosa, ne Γ amatisto, ne Ί carbonchio fino, lo qual e molto risprendente cosa, non äno tante belebe in domino quant' ä in se la mia donna amorosa; e di vertute tutte 1' autre avanfa e somilliant' e [...] di sprendore cola sua conta e ghaia inamonan^a, e piü bell' e che rosa e che fröre. Cristo le doni vita ed alegranga e si 1' acresca in grande pregio ed onore». «[MJadonna ä 'n se vertute con valore, piü che nul' altra genma presiosa: che isguardando mi tolse lo core, cotant' e di natura vertudiosa. Piü lucie sua beltate e dä sprendore che non fa Ί sole ne null' autra cosa: de tute 1' autre ell' e sovran' e fröre, che nulla aparegiare a lei non osa. Di nulla cosa non a mancamento, ne fu, ned e, ne non serä sua pare, ne 'η cui si trovi tanto conplimento; e credo bene, se Dio Γ avesse a fare,

2 3

Zu Hugos Lehre aus ästhetikgeschichtlicher Sicht De Bruyne (1946, II 237ss.). Ibid, II 173ss.

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non vi metrebbe si Su' intendimento che la potesse simile formare».

Es handelt sich möglicherweise nicht nur um rhetorische Übungen, um das Durchhalten des Überbietungsvergleichs über vierzehn Verse hin, sondern um Plaidoyers für den Anspruch der Frauenschönheit, in den Katalog der sinnlich wahrnehmbaren Schönheiten aufgenommen zu werden, und zwar an oberster Stelle. Zwar fällt das Wort «mirabile» nicht, aber für die schönste der Schönen gilt offenbar: «innuere uideatur specialem sibi adhibitam diligentiam conditoris». Bei ihrer Erschaffung hat Gott sich selbst übertroffen und könnte einen solchen Schöpfungsakt nicht wiederholen. In Giacomos Sonetten weist allerdings nichts darauf hin, daß er bereit gewesen wäre, diese höchste der sinnlich wahrnehmbaren Schönheiten als Tor zur Welt der rationalen Wesen und darüber hinaus zu nutzen, es sei denn, man legte eines seiner beiden Schlagreim-Sonette geistlich aus (L 375): «[E]o visso e son diviso — dalo viso, e per avisso — credo ben visare. Perö divis' ό viso — dalo 'viso, ch' altr' e lo viso - che lo divisare. Ε per aviso viso — in tale viso, del qual me non posso divisare. A vedere quel viso — e paraviso, che non e altro se non Deo devisan. Entro aviso e paraviso - no e diviso, che non e altro che visare in viso\ perö mi s forgo tuctor avisare. [...] credo per aviso — che da viso giamai men om pos' essere diviso, che 1' uomo vi nde possa divisare».

Wer hier spricht, schaut etwas, von dessen Anblick er getrennt ist, und glaubt gleichwohl, «per aviso» gut zu schauen. «Aviso» ist also wohl eine besondere Art des Schauens, etwa dem altfranzösischen «avision» im Sinne von «Vision» entsprechend. Um dieser Art des Schauens willen hat er das Schauen von seinem ursprünglichen Gegenstand gelöst, und etwas anderes als das ursprüngliche Schauen ist auch das «divisare» (4), worunter man wohl eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand verstehen kann, eine «Auseinanderlegung» zum Zweck der konzeptuellen Erfassung, aber auch der «Darlegung», d.h. des Sprechens über das Geschaute. Von dem, was er im «Modus» des «aviso» schaut, kann er jedoch nicht sprechen (6), denn was er sieht, ist nichts anderes als ein Blick ins Paradies und eine Gottesschau (7s.). Zwischen «Vision» und Paradies, also vielleicht einer paradiesischen Glückseligkeit, ist kein Unterschied, denn diese «Vision» ist nichts anderes als ein Schauen von Angesicht zu Angesicht (9s.). Es dürfte wohl kaum zu übersehen sein, daß hinter diesen Versen die beiden folgenden Stellen aus den Briefen des Apostels Paulus an die Korinther stehen: 201

«[...] veniam autem ad visiones et revelationes Domini. Scio hominem [...] raptum huiusmodi usque ad terrium caelum. [...] raptus est inparadisum, et audivit arcana verba, quae non licet homini loqum (2. Cor. 12, lss.). vVidemus nunc per speculum in aenigmate, tunc autem fade adfadem»

(1. Cor. 13,

12).

Bei Paulus ist nicht von Versuchen die Rede, den Visionen Dauer zu verleihen, aber gerade darum «bemüht» sich Giacomos Schauender (11), und aus der Schau «per aviso» zieht er den Glauben, daß es möglich sein müsse, immer weniger von ihrem Gegenstand getrennt zu sein, so daß man am Ende auch davon sprechen könne (12ss.), was Paulus nicht nur nicht vergönnt, sondern nicht erlaubt war. Ein geistliches Sonett würde zwar in die Zeit passen, zu welcher Giacomo in der Tenzone mit dem Abate di Tivoli den Theologen herausgekehrt hat, um den Vorwurf mangelnder Rechtgläubigkeit vom Hof abzuwehren,4 aber für ein Lehrgedicht ist das Sonett wohl doch zu dunkel und mißverständlich. Was gemeint sein könnte, ist in einen aus Homonymen gewebten Schleier gehüllt, so daß man — dem Thema gemäß — auf ein Rätsel schaut: «per speculum in aenigmate». Es geht ohne Zweifel um die Gottesschau, aber es könnte lediglich gemeint sein, was z.B. schon Peire Vidal in der Kanzone Quant hom es en autrui poder (PC 364, 39) behauptet hat, nämlich daß die Frauenschau in manchen Fällen der Gottesschau vergleichbar sei (41): «Bona dona, Dieu cug vezer, quan lo vostre gen cors remir».5

2. Die Schöne und der Engel Als übernatürliches Wunder, welches nicht jedermann, sondern nur der «Kenner», also derjenige erkennen kann, der die Dinge auf die rechte Weise betrachtet, wird die schönste der Schönen später in der weltlichen Kanzone Se di voi, donna gente von Guittone d'Arezzo bezeichnet (L 25, Ρ 91,16ss.): «Ai Deo, con' si novella pote a esto mondo dimorar figura, ch' e de sovra-natura? 4

5

Siehe oben, p. 178ss. In engstem Zusammenhang mit dieser Tenzone dürfte auch die Kanzone Amore non vole ch'io clami (V 4, L 109) stehen, in welcher Giacomo das Werben um Liebeshuld für neun Jahre verbieten möchte. Zur Zeit der Tenzone konnte er vermutlich nicht mit Liebeslyrik der üblichen Art aufwarten. Peire Vidal (1960, II 409). Das metrische «Etymon» des Sonetts ist wahrscheinlich die siebenzeilige Zehnsilblerstrophe (Schulze 2003c), weshalb es nicht ohne Interesse ist, daß bereits Bernger von Horheim die siebenzeilige «cobla» Nu lange - ich mit sänge — die %it hän gekündet reich mit Schlagreimen ausgestattet hat (Des Minnesangs Frühling 1977, 229).

202

Che cio che 11' om di voi conosce e vede, semiglia, per mia fede, mirabel cosa a bon conoscidore».

Dieses Wunder weckt in dem Liebenden die Bereitschaft, sich aufzulösen und in einen neuen Menschen zu verwandeln, der ganz dem Willen der Verehrten unterworfen ist (51s.): «Per che tutto me döe voi, cui piu che meo so' -e. Meo non son giä, c' a far vostro piacere; che volontero isfarei me in persona, per far cosa di mene, che pio stesse vo bene: che giä non m' oza unqualtro esser a voglia, c' ubidir vostra voglia».

Eine solche Auflösung der Person war bisher nur von denjenigen bekannt, die bereit waren, sich ganz in den Willen Gottes zu ergeben. So heißt es von dieser äußersten Hingabe bei Richard von Sankt Viktor in dem Traktat De IV gradibus violentae caritatis unter Verwendung des Vergleichs mit dem Schmelzen oder Umschmelzen von Metallen: «[...] anima in ülum quem diligit tota liquescit [...]. Quemadmodum igitur in liquidis vel in liquefactis nichil duritie, nichil firmitatis videtur inesse, sed duris omnibus ac rigidis sine difficultate cedere, et quemadmodum in languidis videmus nichil proprii vigoris, nichil native virtutis habere, sed totum quod vivat ex alieno arbitrio pendere, sic qui ad hunc tertium amoris gradum profecerunt, nichiljam propria voluntate agunt, nichil omnino suo arbitrio relinquunt, sed divine dispositioni omnia committunt, omne eorum votum, omne desiderium ad divinum pendet nutum, ad divinum spectat arbitrium. [...] Fit itaque nova creatura [...]».6

Guittones Gedanke, die gehorsame Unterwerfung des Liebenden unter den Willen der Verehrten zu der vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Gottes in Analogie zu setzen, scheint nicht ohne Folgen geblieben zu sein, denn in der vorletzten Strophe von Guido Guinizellis Lehrkanzone Al cor gentil rempaira sempre Amore trifft man auf einen ganz ähnlichen Gedanken. Guido setzt dort die Unterwerfung unter den Willen der Verehrten zwar nicht mit derjenigen des Menschen, wohl aber der Engel unter den Willen Gottes in Analogie. Wie das Licht Gottes die «intelligenzia» des Himmels durchdringt, so daß sie gehorsam den Himmel bewegt, so sollte die leuchtend schöne Frau mit ihrem Licht dem — edlen — Verehrer die Bereitschaft, den Willen und die Lust («talento») eingeben, ihr in gleicher Weise gehorsam zu sein: «Splende 'n la 'ntelligenzia del cielo Deo criator piu che ['n] nostr' occhi Ί sole: ella intende suo fattor oltra Ί cielo, e Ί cielo volgiando, a Lui obedir tole; e con' segue, al primero, 6

Richard von Sankt Viktor (1955,169,173 [§ 41, § 45]).

203

del giusto Deo beato compimento, cosi dar dovria, al vero, la bella donna, poi che ['η] gli occhi splende del suo gentil, talento

che mat di let obedir non si disprende».7

Von den «spiritus rationales» oder «caelestes, quos philosophi Intelligentias, nos Angelos appellamus», heißt es z.B. in Bonaventuras Itinerarium mentis in Deum: «Quibus secundum philosophos competit movere corpora caelestia, ac per hoc eis attribuitur administratio universi, suscipiendo a prima causa, scilicet Deo, virtutis influentiam, quam refundunt secundum opus gubernationis, quod respicit rerum consistentiam naturalem. Secundum autem theologos attribuitur eisdem regimen universi secundum Imperium summi Dei quantum ad opera reparationis, secundum quae dicuntur administratorii spiritus, missi propter eos qui hereditatem capiunt salutis (Hebr. 1, 14)».8

Guidos Vergleich ist ohne Zweifel erheblich kühner als derjenige Guittones, ja er ist geradezu verwegen, weil er die Verehrte ausdrücklich in Analogie zu Gott setzt, und Guido ist sich denn auch bewußt, daß ihm diese Kühnheit einen Tadel an höchster Stelle eintragen könnte. Davon handelt die letzte Strophe: «Donna, Deo mi dira: , siando 1' alma mia a lui davanti.

(Boeth., de Arithmetica 1 seq) et in rebus praecipuum vestigium ducens in Sapientiams). 231

stattet hat, der nach 1. Cor. 1, 24 mit der Weisheit eins ist,'2 braucht hier zwar nicht nachgegangen zu werden, es sei jedoch angemerkt, daß das figurale Verfahren 63 nicht unbedingt erforderlich war, um sich auf diesem Feld zu bewegen, denn nach der Schöpfungs- und Erkenntnislehre konnte ein «angiolo» gar nichts anderes als ein Bild der Weisheit Gottes sein, und diese war auch die Offenbarung, denn im Buch der Weiheit heißt es (9, 13; 17; 19): «Quis enim hominum potent scire consilium Dei? Aut quis poterit cogitare quid velit Deus? [...] Sensum autem tuum quis seiet, nisi tu dederis sapientiam, et miseris tuum spiritum sanctum de altissimis [...]? Nam per sapientiam sanati sunt quicumque placuerunt tibi, Domine, a principio».M

Was schließlich das prominenteste Modell für ein Prosimetrum, die Conso latio Philosophiae betrifft, so wird darin zwar keine Vita erzählt, wohl aber werden Gespräche mit der Philosophie wiedergegeben, und da diese christlich als Weisheit verstanden werden konnte, hat die Vita Nova auch eine gewisse Verwandtschaft mit diesem Werk, ohne daß dort ihre Wurzeln zu liegen brauchten.65 f. Familieninteresse Die Episode, in welcher Beatrices Bruder um eine Totenklage bittet, ist noch einiger Überlegungen wert. Daß dieses Detail lediglich eingefügt worden sein sollte, um die Vermehrung der Klagegedichte plausibel zu begründen, scheint mir nicht sehr wahrscheinlich. Dafür betont das Motiv zu stark das Familieninteresse. Der Dichter steht nicht allein mit seinem gewissermaßen freien Angebot lyrischer Beiträge zur Würdigung der Verstorbenen, es zeigt sich vielmehr, daß es auch eine «Nachfrage» gibt, die nicht von anderen «fedeli d'Amore» und aus dem Kreis der in der Regel für zuständig Gehaltenen kommt, sondern aus einem weniger unverbindlichen sozialen Verband, der Familie. Selbst wenn Dante diese «Nachfrar'2

63 (A

65

«[P]raedicamus [...] Christum Dei virtutem, et Dei sapientiam». Hugo von Sankt Viktor (2002, 66): «Item Paulus apostulus uocat Christum Iesum