Ambivalenzen des geistlichen Spiels: Revisionen von Texten und Methoden [1 ed.] 9783666301902, 9783525301906


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Ambivalenzen des geistlichen Spiels: Revisionen von Texten und Methoden [1 ed.]
 9783666301902, 9783525301906

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Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 29

Jörn Bockmann / Regina Toepfer (Hg.)

Ambivalenzen des geistlichen Spiels Revisionen von Texten und Methoden Mit 6 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Pietà, 15. Jahrhundert, Ev.-luth. Stiftskirchengemeinde Bad Gandersheim. Foto: Portal zur Geschichte, Inv. Nr. 005. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Klara Vanek | textuelles.de

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0084 ISBN 978-3-666-30190-2

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Jörn Bockmann und Regina Toepfer Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand. Forschungsbilanz, Begriffsreflexion und Analysepotential des Ambivalenzkonzepts . . . . . . . . . . . . 11

I. Ritualität Christoph Petersen Ritualisierte und literarisierte Ästhetik. Transformationsleistungen des performativen Dreischritts im geistlichen Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Glenn Ehrstine Eine meisterliche Fälschung? Zum Warning’schen Begriff der Pseudokommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Hans Rudolf Velten Kontrastmedium – Lachritual – Unterhaltung Zur Bewertung der Komik im Krämerspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

II. Emotionalität Ulrich Barton Tragische Lust im Passionsspiel? Die Ambivalenzen des Mitleids. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhalt

Julia Gold Mitleid mit dem Teufel? Ambivalenzen einer altbekannten Figur im geistlichen Spiel des Mittelalters und im protestantischen Drama der Frühen Neuzeit. . . . . . . . 125 Carla Dauven-van Knippenberg Das Emotionspotenzial von Ambivalenzen im geistlichen Spiel. . . . . . . . . . . . . 155

III. Überlieferungsgeschichte Werner Williams-Krapp Überlieferung und Gattung Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter – revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Cornelia Herberichs Die »Zwieschlächtigkeit der Aufführung« und die »double diffusion« von Arnoul Grébans »Le Mystère de la Passion« Zu Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz des Passionsspiels aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

IV. Figurenkonstellation Jutta Eming Ambivalenz und figura Überlegungen am Beispiel der Maria Magdalena. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Elke Ukena-Best Aspekte des Ambivalenten im »Sündenfall« des Arnold Immessen. . . . . . . . . . 241

V. Gattungsgeschichte Fidel Rädle Hrotsvit von Gandersheim Von der poetischen Salvierung einer unheiligen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Inhalt

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Verena Linseis Tod oder Taufe? Vermittlung und Verifizierung von Glauben im Drama des 15. und 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Ulrich Müller und Klaus Wolf Katholischer Brauch bei frommen Protestanten. Das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtsspiel«. Erstedition und Erläuterung der reformationszeitlichen Gattungsambivalenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Karolin Freund Ambivalenzen im Märtyrerdrama Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584) von Zacharias Zahn. . . . . . . . . . . . . 335 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Personen- und Werkregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Vorwort

Der vorliegende Tagungsband »Ambivalenzen des geistlichen Spiels« vereint die Beiträge des gleichnamigen Symposions, das vom 16. bis 18. März 2016 in Bad Gandersheim stattfand. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die, beseelt vom genius loci der Wirkungsstätte Roswithas von Gandersheim, vielfältig vortrugen und angeregt diskutierten, gilt an erster Stelle unser Dank. Die internationale Tagung stellte das Herzstück eines Projekts dar, das an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Schule und Kulturarbeit angesiedelt war und sich neben dem wissenschaftlichen auch einem kulturpädagogischen Auftrag verpflichtet sah. Die Braunschweigische Stiftung, die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und die Stiftung Niedersachsen haben dieses Projekt großzügig gefördert, wofür wir ihnen unseren Dank aussprechen. Ebenso danken wir unseren institutionellen und persönlichen Kooperationspartnern vor Ort, die das Projekt auf vielfältige Weise unterstützten und seine Realisierung erst ermöglichten: der Stadt Bad Gandersheim mit ihrer Bürgermeisterin Franziska Schwarz, den Domfestspielen mit ihrem damaligen Intendanten Christian Doll und dem kaufmännischen Leiter Stefan Mittwoch, dem Portal zur Geschichte e.V. mit seinem früheren wissenschaftlichen Leiter Thorsten Henke und dem Roswitha-Gymnasium Bad Gandersheim, namentlich Stefan Winzinger und dem Schulleiter Hans-Joachim Baade. Wir danken auch den Schülerinnen und Schülern des Deutsch-Kurses der gymnasialen Oberstufe in Bad Gandersheim und den Germanistik-Studierenden der TU Braunschweig, die an dem Schulprojekt zum mittelalterlichen Theater teilnahmen. Nicht zuletzt danken wir allen, die an der Publikation der Tagungsbeiträge Anteil haben: den Herausgebern der ›Historischen Semantik‹, insbesondere Christian Kiening, für die Aufnahme in die Reihe, Kai Pätzke vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die freundliche Betreuung, Melissa Schlüter für die Erstellung des Registers, Klara Vanek für den umsichtigen Satz und Anna Wandschneider für ihre ebenso gründliche wie unermüdliche redaktionelle Tätigkeit. Flensburg und Braunschweig, im März 2018 Jörn Bockmann und Regina Toepfer

Jörn Bockmann und Regina Toepfer Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand. Forschungsbilanz, Begriffsreflexion und Analysepotential des Ambivalenzkonzepts

1. Stand der Spielforschung: Rainer Warnings »Funktion und Struktur« und die Folgen Ambivalenz ist ein Leitparadigma der kulturwissenschaftlichen Analyse der geistlichen Spiele. Ja, mehr noch: Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels sind in der neueren Spielforschung fast so etwas wie ein Topos geworden. Funktion jeder Topik ist bekanntlich die Bereitstellung griffiger Beschreibungsmuster zur Einordnung komplexer Phänomene. Im Fall des Ambivalenzparadigmas scheint aber nicht nur ein instrumenteller Wert mit der Verwendung des Begriffs verbunden zu sein, sondern geradezu die Existenzform der Spiele auf diese Weise beschrieben zu werden. Hat die ältere Forschung noch, offenkundig vor dem Hintergrund klassischer Ästhetik und stilistischer Ideale der neueren Theatergeschichte, die Hybridität des ›mittelalterlichen Dramas‹ beklagt, ist mit dem Befund, die Spiele seien von Ambivalenzen geprägt, eine Beschreibung für deren historische Signatur gegeben, die sich grundsätzlich auf den zugrundeliegenden Prozess der Begriffsbildung und deren Konsistenz hin befragen lassen muss. In Hinblick auf die Entstehung des Ambivalenzparadigmas ist auffällig, dass in der Geschichte der Erforschung der geistlichen Spiele von deren Anfängen1 bis in die Gegenwart sich viele Beiträge an begrifflichen Oppositionen wie Sa­ kralität und Profanität, Kult und Kunst, Ritualität und Theatralität, Präsenz und Repräsentation, Textualität und Performativität orientieren.2 Diese Beschreibungsdichotomien setzen für sich genommen zwar noch keine Ambivalenz der beschriebenen Sache voraus, sie sind aber oft genug so verstanden worden. Reicht aber etwa das Vorhandensein sakraler und profaner Elemente in einer Salbenkrämerszene schon aus, um dem jeweiligen Spiel eine grundsätzliche Ambivalenz zu attestieren?3 Eine instrumentelle Beschreibung gegensätzlicher Pole auf einer 1 Vgl. Chambers, Medieval Stage; Young, Drama. 2 Vgl. z.B. Kasten/Fischer-Lichte, Transformationen; Müller, Kulturwissenschaft; ders., Mimesis und Ritual; ders., Realpräsenz; ders., Präsenz des Heils; Nowé, Kult oder Drama; Petersen, Ritual und Theater; Quast, Vom Kult zur Kunst. 3 Ein frühes Beispiel liefert Jakobson, Medieval Mock Mystery.

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Skala idealtypischer Inszenierungsformen ist durchaus möglich4 und wird, vor allem in Bezug auf die Momente von Ritualität und Theatralität, auch oft genug praktiziert.5 Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass die geistlichen Spiele von besonderen Ambivalenzen geprägt sind, die anderen Texttypen mittelalterlicher Kultur fehlen, was der vorliegende Sammelband auf den Prüfstand stellen will. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückten die Ambivalenzen des geistlichen Spiels durch Rainer Warnings Untersuchung »Funktion und Struktur«, die 1974 veröffentlicht und 2001 ins Englische übersetzt wurde.6 Diese Studie, die eine Gesamtdeutung der geistlichen Spiele bietet, wird mit Recht zu den wichtigsten Stationen der Wissenschaftsgeschichte gezählt.7 Warning versuchte, von der Struktur der Spiele auf deren Funktion zu schließen und diese als Antwort auf zeitgenössische historische Fragen zu verstehen. Seine zentrale These von einer Remythisierung der christlichen Heilsgeschichte in den geistlichen Spielen basierte auf der Beobachtung, dass pagane Elemente in die religiösen Zusammenhänge integriert werden und auf diese Weise eine mehrdeutige Rezeption der Spiele möglich wird.8 Kern seiner Untersuchung ist die »Ambivalenz von Kerygma und Mythos«9, die er damit begründet, dass die Spiele durch die Hereinnahme paganer Elemente in eine Frontstellung zur kirchlichen Lehre und Verkündigung gerieten. Warning betrachtet, ohne dass der zentrale Terminus ausführlicher definiert würde, Ambivalenz als »Zweiwertigkeit«10 und zielt damit vor allem auf manifeste und latente Funktionen.11 So erhalten die von ihm analysierten Descensus-, Hortulanus- und Marter-Szenen der Passionsspiele neben den gewissermaßen kirchenoffiziellen Funktionen latente Rezeptionsangebote, die als rituell-mythische Momente unter der Oberfläche zu entdecken sind; als Beispiele führt Warning den dualistischen Widersacherkampf für den Descensus, die Wiederkehr der Frühjahrsgottheit für die Epiphanie und das Sündenbockritual für die Folterungen der Passionsspiele an. 4 Zur instrumentellen Auffassung vgl. Gumbrecht, Erfindung; Bockmann/Klinger, Rituelle Symbolik, S. 271. 5 Vgl. hierzu Müller, Kulturwissenschaft; Petersen, Ritual und Theater. 6 Vgl. Warning, Funktion und Struktur; ders., Ambivalences. Vgl. auch die Besprechung der englischen Ausgabe von Sponsler, Rez. zu: Warning, Ambivalences. 7 Eine wissenschaftsgeschichtliche Würdigung unternimmt Haug, Rainer Warning. 8 Vgl. zusammenfassend Bockmann, Inszenierung des Dogmas (mit weiteren Literaturhinweisen). 9 Warning, Funktion und Struktur, S. 27. Vgl. auch ders., Geistliches Spiel. 10 Warning, Funktion und Struktur, S. 84. 11 Latenz und Manifestation sind dabei im Sinne unterschiedlicher anthropologischer, tiefenpsychologischer und soziologischer Modelle zu verstehen. Einen instruktiven Überblick zu den (oftmals selbst eher latenten) wissenschaftsgeschichtlichen Bezugspunkten gibt HansUlrich Gumbrecht im Vorwort zur englischen Übersetzung von »Funktion und Struktur«, vgl. Gumbrecht, Foreword, in: Warning, Ambivalences, S. IX–XVI.

Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand

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Nach der vernichtenden Rezension Friedrich Ohlys aus dem Jahr 1979 blieb die deutsche Spielforschung zunächst auf Distanz, weshalb Warnings Thesen erst mit einer deutlichen Verspätung rezipiert wurden.12 Der Autor selbst brachte seine Überlegungen wieder ins Gespräch, in dem er diese gut zwanzig Jahre nach ihrer Publikation für eine Münchener Festschrift noch einmal präzisierte, verteidigte und vor ›hermeneutischen Fallen‹ im Umgang mit geistlichen Spielen warnte.13 Die Einladung zu einer neuerlichen Forschungsdiskussion nahm JanDirk Müller an und führte die von Warning aufgeworfenen Probleme spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis auf den ambivalenten Status der geistlichen Spiele zwischen Kult und Theater zurück.14 Müllers Anliegen war es, zu zeigen, wie die Spiele einerseits den durch Liturgie und Verkündigung vorgegebenen Rahmen zu sprengen drohen und andererseits Strategien entwickeln, diese wieder in den kirchlich-religiösen Kontext zurückzuspielen. Mit seinem Aufsatz »Mimesis und Ritual«, dem viele weitere Untersuchungen zum mittelalterlichen Theater folgen sollten,15 machte Müller die Beobachtungen Warnings für die germanistische Mediävistik anschlussfähig und setzte damit eine Debatte über den Status der Spiele in Gang, die bis in die Gegenwart weitergeführt wird. Warnings Thesen zu den verschiedenen Spiel- und Szenetypen sind im Einzelnen höchst umstritten und in zahlreichen Abhandlungen in ihrer ursprünglichen Form zurückgewiesen worden. Dennoch hat sich seine Grundannahme in der Forschung durchgesetzt: Seit der Rezeption von »Funktion und Struktur« Ende der 1990er Jahre gelten die Ambivalenzen in der einen oder anderen Weise unbestritten als Charakteristikum geistlicher Spiele.16 Im forschungsgeschichtlichen Rückblick wird ersichtlich, dass Warning eine kulturwissenschaftliche Wende in der Spielforschung einleitete und die geistlichen Spiele aus ihrer einseitig-engen Verklammerung mit Theologie und Heilsdidaxe löste. Er stellte die religiöse Unbedenklichkeit des mittelalterlichen Theaters in Frage und machte darauf aufmerksam, dass sich unter einer frommen Oberfläche konträre und subversive Vorstellungen verbergen können. Geistliche Spiele, so wurde der Forschung nach Warning mehr und mehr bewusst, weisen einen ästhetischen Sinnüberschuss auf 17 und können unerwünschte, bedrohliche und gesellschaftsgefährdende Folgen haben. Bei Aufführungen werden gezielt Emo12 Vgl. Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur. Vgl. auch Haug, Rainer Warning. 13 Vgl. Warning, Hermeneutische Fallen. Später folgte noch ein weiterer Beitrag, vgl. ders., Auf der Suche. 14 Vgl. Müller, Mimesis und Ritual, S. 541–543. 15 Vgl. Müller, Kulturwissenschaft; ders., Mimesis und Ritual; ders., Präsenz des Heils; ders., Realpräsenz; ders., Symbolische Kommunikation. 16 Zum Stand der Forschung vgl. auch Schulze, Geistliche Spiele, S. 12–16. 17 Zu den theatralischen Möglichkeiten, die sich aus der Überschreitung ritueller Vollzüge ergeben, vgl. v.a. Gumbrecht, Erfindung; Müller, Mimesis und Ritual, S. 570.

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tionen geweckt und auf diese Weise soziale Energien freigesetzt, die nicht immer mit den offiziellen Anliegen der Kirche übereinstimmen, mit der städtischen Ordnung in Konflikt geraten können und sich nur schwer kontrollieren lassen.18 In der älteren Forschung waren diese den Spielen inhärenten Elemente oftmals entweder durch katechetische Erklärungsansätze verharmlost oder gar mit dem Unvermögen der Autoren entschuldigt oder auf die besonderen Entstehungsbedingungen zurückgeführt worden, die Geistliches und Weltliches nicht getrennt voneinander vorkommen ließen.19 Fragwürdige Text- und Inszenierungsstrategien wie die exzessive Steigerung von Gewalttaten in den spätmittelalterlichen Passionsspielen wurden ausgeblendet oder zu einem probaten Mittel erklärt, compassio zu wecken und dem leidenden Gottessohn affektiv nahezukommen. Wenn die Spielforschung heute auf einem theoriegeleiteten Niveau angekommen ist, dann auch, weil die früheren Interpretationen offenkundig zu kurz griffen. Die als inhärente Spannungen wahrgenommenen Inhalts- und Strukturelemente sind in einer Weise für das mittelalterliche Theater charakteristisch, dass ein modernes kulturwissenschaftliches Beschreibungs- und Erklärungsmodell dringend erforderlich war. Geradezu stellvertretend für viele Bereiche der Mediävistik wurde der cultural turn in der Spielforschung vorangetrieben, wodurch immer mehr Ambivalenzen der Spiele zutage traten. Gegenstand der Untersuchung waren beispielsweise die für eine klassische wie moderne Ästhetik irritierende Kopräsenz sakraler und profaner Elemente oder die gegenläufigen Rezeptionsmöglichkeiten der Gewaltdarstellungen, frommes Mitleid versus sadistische Schadenfreude.20 Begriffe wie Präsenz, Memoria und Performativität wurden historisiert,21 das Spannungsverhältnis von theatraler Spielfreude und deren quasi-rituellem Vollzug ausgeleuchtet22 und die Differenzen zwischen einer Aufführungssituation und einer schriftgestützten Rezeption thematisiert.23 Mehr als vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Warnings Studie ist es höchste Zeit, eine Forschungsbilanz zu ziehen und kritisch nach der Tragfähigkeit dieses Ansatzes zu fragen. Sind wir 18 Aus der Sorge vor möglichen Unruhen lehnte z.B. der Rat der Stadt Frankfurt mutmaßlich die Bitte der Spielbruderschaft ab, ein Passionsspiel aufführen zu dürfen, und befahl, dass die Juden während der Aufführungen in ihrem Ghetto blieben. Vgl. Frey, Vergifteter Gottesdienst; Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 139f.; Wolf, Ghettoisierung. 19 So bei Linke, Unstimmige Opposition. 20 Zur Gewalt im Passionsspiel vgl. z.B. Dietl/Schanze/Ehrstine, Power and Violence; Eming, Gewalt; dies., Gewalt als Kommunikation; Kasten; Ritual und Emotion; Müller, Gedächtnis; Schulze, Schmerz. – Zum Mitleid im mittelalterlichen Christentum und im geistlichen Spiel vgl. jetzt umfassend Barton, eleos und compassio. 21 Vgl. Kiening, Präsenz. Vgl. auch Ehrstine, Präsenzverwaltung. 22 Vgl. v.a. Müller, Präsenz; ders., Realpräsenz; Petersen, Imaginierte Präsenz. 23 Vgl. u.a. Dauven-van Knippenberg, Schauspiel; Herberichs, Lektüren des Performativen; Williams-Krapp, Überlieferung; ders., Zur Gattung.

Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand

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mit der Diskussion, die um Ambivalenzen im geistlichen Spiel kreisen, an ein Ende gekommen? Ist das Erklärungspotential des Paradigmas erschöpft? Welche Wege lassen sich angesichts der ubiquitären Ambivalenzdiagnosen in der Spielforschung noch beschreiten? Beschäftigt man sich näher mit dem Konzept der Ambivalenz, fällt schnell auf, dass die Forschungsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte ein gravierendes Defizit aufweist: Wesentliche inhaltliche Aspekte sind bis heute ungeklärt. So ist noch nicht beantwortet worden, welcher Status den Ambivalenzen theoretisch und methodologisch eigentlich zukommt. Sind die Ambivalenzen den Spielen selbst eingeschrieben oder handelt es sich um eine literaturwissenschaftliche Metakategorie, die das voraussetzt, was sie diagnostizert: eine funktional-strukturale Unterscheidung von Differenzen, die nur analytische Zuschreibungen substantialisiert? Besagt die Diagnose von Ambivalenzen somit weniger über das mittelalterliche als über das moderne Verständnis von geistlichen Spielen, und verfehlt das Denken in Oppositionen dieser Art möglicherweise das Spezifikum des vormodernen Theaters? Aus einer im weitesten Sinne terminologischen Problematik ergibt sich die zentrale zugleich wissenschaftstheoretische wie methodologische Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes. Diese liest sich wie eine Reformulierung des Universalienproblems, die bezogen auf das hier gewählte Thema folgendermaßen lautet: Haben die Ambivalenzen ein fundamentum in re – oder ergibt sich die Diagnose durch Herantragen von der Sache fremden begrifflichen Gegensätzen? Dies ist eine Fragerichtung, der als Provokation zur Methodenreflexion nachzugehen sich lohnt. Diskutiert wurden diese Überlegungen auf der Tagung »Ambivalenzen des geistlichen Spiels«, die im März 2016 in Bad Gandersheim stattfand. Das Tagungskonzept lud dazu ein, die Voraussetzungen und Implikationen des Forschungsparadigmas neu zu reflektieren. Bestimmte soziale und religiöse Handlungen wie z.B. die rituelle Bedeutung politischer Akte, die theatralen Elemente der kirchlichen Liturgie,24 die imaginäre Dimension der Lektüren25 oder die komisch-religiösen Praktiken26 sollten zum Anlass genommen werden, den Status der Ambivalenz der geistlichen Spiele zu überdenken. Die Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge ließen sich auf dieses Vorhaben ein. Sie setzen sich theoretisch-methodologisch mit dem Deutungskonzept und seiner Bedeutung in der Spielforschung auseinander und legen analytische Einzelstudien vor, die sich an konkreten Textbeispielen mit dieser Thematik beschäftigen.

24 Vgl. Hardison, Christian Rite, bes. S. 39; Müller, Amalars Messallegorese. 25 Vgl. v.a. Dauven-van Knippenberg, Schauspiel; Herberichs, Lektüren des Performativen; Toep­fer, Implizite Performativität (mit weiteren Literaturhinweisen). 26 Vgl. v.a. Ridder, Erlösendes Lachen; Röcke, Ostergelächter; Velten, Scurrilitas.

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Gemeinsames Ziel ist, die Spielforschung durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ambivalenzbegriff neu zu perspektivieren.

2. Begriffsreflexion: Rhetorische, psychologische, soziologische und theologische Perspektiven Voraussetzung für eine Diskussion der Chancen und Probleme des Ambivalenzkonzepts ist eine Verständigung über seine Bedeutung, wird der Begriff in den Philologien doch erstaunlich vage gebraucht und kaum jemals ausführlich einer definierenden Bestimmung unterzogen. Dieses terminologische Defizit steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zur Beliebtheit des Begriffs und der Häufigkeit seiner Verwendung. Der Terminus ›Ambivalenz‹ wird ubiquitär eingesetzt und ist in vielen Abhandlungen sogar von titelgebender Bedeutung,27 doch findet sich noch nicht einmal in renommierten Fachlexika wie etwa dem »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« ein entsprechender Eintrag zur begrifflichen Klärung. Fast scheint es so, als gehöre der Ausdruck eher zum philologischen Jargon als zur wissenschaftlichen Terminologie der entsprechenden Fächer. Ambivalenz ist als Phänomen so wenig konzeptionalisiert, dass eine gewisse semantisch-argumentative Beliebigkeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht überrascht und eine begriffsgeschichtliche Annäherung in der Einleitung dieses Bandes unverzichtbar ist. Besser scheint es um die verwandten Begriffe der Amphibolie und der Ambiguität bestellt zu sein, die oftmals in ähnlichen Zusammenhängen wie die Ambivalenz gebraucht werden, aber eine lange rhetorische sowie eine jüngere sprach- und literaturwissenschaftliche Tradition der Explikation kennen.28 Das Phänomen der Ambiguität wird seit der Antike diskutiert, wenn etwa Quintilian in seiner »Institutio oratoria« mehrere Formen von Zweideutigkeit (amphibolia) unterscheidet und verschiedene Strategien empfiehlt, wie sich sprachliche Äußerungen vereindeutigen lassen.29 Da aber Mehrdeutigkeit ungeachtet aller Bemühungen nie auszuschließen ist, müsse ein erfolgreicher Gerichtsredner die 27 Ein Blick in die entsprechenden Hilfsmittel wie z.B. in die »Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft« genügt, um dies festzustellen. Hier werden allein für die Zeit ab 2014 rund 40 Titel aufgeführt, die den Begriff ›Ambivalenz‹ enthalten (Stand: Oktober 2017). 28 Zur Ambiguität in der Literaturwissenschaft vgl. den Artikel im »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« (Bode, Ambiguität) und den Forschungsüberblick bei Auge/Witthöft, Zur Einführung (mit vielen weiteren Literaturhinweisen). Eine gute Übersicht über Ambiguitätsphänomene in Literatur und Sprache geben auch Bauer u.a., Dimensionen. Zur rhetorischen Tradition vgl. Wagner-Egelhaaf, Überredung/Überzeugung; Bauer, Ambiguität. 29 Quintilian, Institutio oratoria VII 9. Vgl. auch Wagner-Egelhaaf, Überredung/Überzeugung, S. 34–40.

Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand

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konkurrierenden Deutungsoptionen stets in seine Überlegungen einbeziehen und die wahrscheinliche Auslegung der Gegenpartei antizipieren. An die antike rhetorische Tradition konnte auch die christliche Hermeneutik anknüpfen, die sich der Doppel- und Mehrdeutigkeit biblischer Zeichenrede wohl bewusst war. Durch die Anwendung verschiedener Auslegungsregeln, deren höchste die regula fidei ist, suchte man dieser Problematik Herr zu werden, wie es Augustinus wirkungsmächtig in »De doctrina christiana« unternahm.30 Mögliche Ambiguitätsphänomene entspringen, so erläutern Frauke Berndt und Stephan Kammer in der Einleitung des Bandes »Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz«, einer »medialen Verfassung der Intransparenz, dem schriftlich fixierten oder mündlich artikulierten, jedenfalls irreversiblen und unhintergehbaren ›So-und-nicht-anders‹ der sprachlichen Realisierung.«31 Sie sprechen von »strukturaler Ambiguität«, um damit eine Matrix zu beschreiben, die »antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit« generiert.32 Versucht man ein rhetorischsprachwissenschaftliches Ambiguitätsverständnis für die Analyse geistlicher Spiele fruchtbar zu machen, bei dem Mehrdeutigkeit in einem weiteren Sinne Vagheit und Ambivalenz in sich einschließen kann,33 lässt sich etwa untersuchen, auf welcher Strukturebene der Sprache die Unbestimmtheit zu verorten ist. Eine rein linguistische Beschreibung polysemer Phänomene würde freilich die performative Dimension des mittelalterlichen Theaters vernachlässigen und ist daher nur mit Einschränkungen dafür geeignet, die Besonderheiten geistlicher Spiele zu erfassen.34 Anknüpfend an die aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung wird der Begriff der Ambiguität in einem jüngst erschienenen Sammelband auch für die Mediävistik erschlossen.35 Ambiguität verstehen die beiden Herausgeber, Oliver Auge und Christiane Witthöft, »als eine bewusst intendierte Spannung in der Gestaltung von Konträrem in der Literatur, aber auch in deren Rezeptionsanweisung.«36 In dreizehn Einzelstudien werden mittelalterliche Gattungen und Texte untersucht, 30 Augustinus, De doctrina christiana II 2–8. Vgl. auch Pollmann, Doctrina. – Die vormodernen Epochen gelegentlich nachgesagte ›Ambiguitätstoleranz‹ ist daher zu relativieren. Vgl. hierzu Meier, Ambiguitätstoleranz. Zur regula fidei bei Augustinus vgl. Strauß, Schriftgebrauch, S. 63–68. 31 Berndt/Kammer, Amphibolie, S. 13. 32 Ebd., S. 10. 33 Vgl. auch Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 264, nach dessen Ansicht vage Ausdrücke ein unbestimmtes Denotat haben, ambige Ausdrücke aber mehrere (alternative) Denotate. Vgl. auch Fine, Vagueness. 34 Die sprachwissenschaftlichen semantischen Ambiguitätkonzepte, wie sie in Lehrbüchern der Semantik zu finden sind (etwa bei Löbner, Semantik, S.  48–71) haben mit dem hier angezielten Ambivalenzphänomen wenig zu tun. 35 Vgl. Auge/Witthöft, Ambiguität. 36 Auge/Witthöft, Einführung, S. 7.

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deren Erzählstrukturen, Handlungskonstellationen und Figurenkonzeptionen »von Gegensätzen dominiert werden und Sinnstiftungen auf einem intendierten ›Sowohl-als-Auch‹ liegen.«37 Das geistliche Spiel gehört nicht zu den Untersuchungsobjekten des Bandes. Die gegensätzlichen Rezeptionsmöglichkeiten böten zwar gute Voraussetzungen, doch ließe sich über den Aspekt der Intentionalität, der für den Ambiguitätsbegriff von Auge und Witthöft wesentlich ist, bezogen auf die Spannungen des geistlichen Spiels streiten. Der Begriff der Ambivalenz ist deutlich jünger als die Termini Amphibolie und Ambiguität und stammt nicht aus der Rhetorik, sondern wurde ursprünglich im Bereich der Psychologie ausgebildet. Erstmals wurde der Begriff 1911 terminologisch verwendet, als der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler in einem Vortrag affektive, voluntative und intellektuelle Zwiespältigkeit definierte.38 Ähnlich bestimmte Freud Ambivalenz, nämlich als »die Richtung entgegengesetzter, zärtlicher und feindseliger Gefühle gegen dieselbe Person«.39 In der Tiefenpsychologie und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie spielt das Ambivalenzkonzept auch heute noch eine gewisse Rolle und meint hier vor allem eine Einstellung gegenüber Personen, die gleichermaßen negativ und positiv besetzt ist. Festzuhalten bleibt, dass der Ambivalenz im psychologischen Sprachgebrauch stets ein Wert- bzw. Wertungsaspekt zukommt. Ambivalenz ist auf die Kopräsenz doppelter und zwar in sich widersprüchlicher Wertungen bezogen und somit nicht mit Mehrdeutigkeit im rhetorisch-sprachlichen Sinne identisch. Nimmt man dieses psychologische Begriffsverständnis zur Grundlage und fragt nach der Tauglichkeit des Ambivalenzkonzepts für die Spielforschung, wird die damit verbundene Problematik ersichtlich. Eine innere Widersprüchlichkeit mag vielleicht zwischen Mythos und Kerygma in der Warning’schen Interpretation bestehen, aber kaum zwischen Theater und Ritual oder zwischen Geistlichem und Weltlichem; viel zu eng sind Religion und Kultur im christlichen Mittelalter miteinander verbunden.40 Andere Anschlussmöglichkeiten bietet die hermeneutisch ausgerichtete Soziologie, in der Ambivalenz in Bezug auf ihre Rolle in der Vergesellschaftung definiert wird.41 Für Zygmunt Baumann ist Ambivalenz ein Schlüsselbegriff, den er generell als »Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis in mehr als eine 37 Vgl. ebd., S. 4. 38 Vgl. Bleuler, Ambivalenz. Zur Rezeptionsgeschichte des Begriffs in der Psychologie vgl. Sponsel, Ambivalenz; Ziegler, Ambiguität und Ambivalenz. 39 Freud, Einführung in die Psychoanalyse, S. 44. 40 Die Überschneidungen zeigen sich auch in der Gattung der Fastnachtspiele, deren Grenzbereich zwischen geistlichem und weltlichem Spiel Simon auslotet. Vgl. Simon, Geistliches Fastnachtspiel. 41 Zum soziologischen Verständnis von Ambivalenz vgl. auch Luthe/Wiedenmann, Einleitung; Nedelmann, Typen soziologischer Ambivalenz.

Einleitung: Ein Paradigma auf dem Prüfstand

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Kategorie einzuordnen«, betrachtet.42 Bezogen auf den hier gewählten Untersuchungsgegenstand ist bei dieser soziologischen Definition erneut und unter verschärften Prämissen zu überlegen, ob das geistliche Spiel nur aus einer modernen Perspektive mehreren Kategorien zuzuordnen ist und inwiefern schon die historischen Zeitgenossen die unterschiedlichen Rezeptionsangebote zu schätzen wussten und das geistliche Spiel teils als städtisches Fest, teils als religiöses Ritual, memorialen Kult oder unterhaltsames Schauspiel auffassten.43 Der Soziologe Matthias Junge erläutert und entfaltet Baumanns Konzept, indem er in der Verwendung von Klassifikationsordnungen die Ursache für Ambiguitäten sieht. Jedes Klassifikationssystem muss letztlich unvollständig bleiben, teils weil die klassifizierenden Begriffe selbst ambigue sind, teils weil das übergeordnete System ein ausgeschlossenes Drittes erzeugt, wodurch es sich selbst in Frage stellt und andere Deutungen sowie die Anwendung konkurrierender Klassifikationssysteme ermöglicht. Die Problematik, dass keine Klassifikationsordnung perfekt ist und alle Aspekte erfassen kann, bedingt nach Junges Ansicht die Entstehung von Ambivalenz aus der Ambiguität: »Orientierung entlang ambiguer Klassifikationen bereiten den Boden für ambivalente Handlungs- und Erlebensorientierungen.«44 Zugleich betont der Soziologe, dass Ambiguität als Vieldeutigkeit von Ambivalenz als einer Mehrdeutigkeit von Bewertungen zu differenzieren sei: »Ambiguität bezieht sich auf ein Klassifikationsproblem, während Ambivalenz durch konkurrierende, das Handeln orientierende Werte und ihre Bewertung hervorgerufen wird.«45 Folgt man dieser Auffassung, dann müsste in der Spielforschung von Ambiguität gesprochen werden, sobald die Ebene der Interpretation und Klassifikation betroffen ist. Der Begriff der Ambivalenz dagegen dürfte nicht nur als ordnende Metakategorie verwendet werden, vielmehr müssten die Ambivalenzen den Spielen selbst eingeschrieben sein und sich auf die Handlungs- und Rezeptionsebene der historischen Akteure beziehen.46

42 Baumann, Moderne und Ambivalenz, S. 11. – Da in einer Gesellschaft mehrere Wissensordnungen nebeneinander existieren und miteinander konkurrieren, entsteht nach Baumanns Auffassung zwangsläufig Ambivalenz. Soziale Fakten könnten verschiedenen Wertungen unterzogen werden; das Bestreben totalitärer Regime bestehe daher im vergeblichen Unterfangen, Ambivalenzen zu tilgen, während Kennzeichen postmoderner Gesellschaften gerade die Durchlässigkeit der Ordnungen und damit das Vorherrschen von Ambivalenz sei. 43 Zur Einbettung von geistlichen Spielen in den Kontext von Festen vgl. Fischer-Lichte, Theater und Text; Müller, Symbolische Kommunikation. Zum Unterhaltungsaspekt vgl. v.a. Gumbrecht, Erfindung. Zum Fiktionscharakter des geistlichen Spiels vgl. Müller, Präsenz, S. 276–284. 44 Junge, Ambivalenz, S. 73. 45 Ebd., S. 72. 46 Zur Diskrepanz zwischen zeitgenössischer Wahrnehmung und kulturwissenschaftlicher Analysekategorie vgl. auch Müller, Realpräsenz, S. 132.

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Neben der psychologischen und der soziologischen ist es die theologische und religionswissenschaftliche Tradition, die Ambivalenz auf spezifische, ebenfalls aber auf Zweiwertigkeit konzentrierte Weise versteht. Einen Meilenstein markiert Rudolf Ottos Buch »Das Heilige«, in dem er die Gottheit als dem Menschen stets zutiefst zwiespältig, als mysterium fascinans und mysterium tremendum, gegenübertretend denkt.47 Stützt man sich auf das theologische Verständnis, dann ist Ambivalenz keine sekundäre Interpretationskategorie, sondern sie liegt der göttlichen Schöpfungsordnung selbst zugrunde. Das Heilige ist in einem Spannungsfeld von Göttlichem und Menschlichem, Transzendenz und Immanenz, Institution und Charisma zu verorten. Alle Erzählungen von Gott sind Versuche, das Unverfügbare verfügbar zu machen, die am selbstgesetzten Ziel notwendigerweise scheitern müssen, ohne je von ihrem Vorhaben ablassen zu können. Das Unsagbare muss in Worte gefasst werden, die das Wesentliche jedoch nicht erfassen können und über einen Annäherungsversuch nie hinauskommen. Dieser religiöse Erklärungsansatz ist in der germanistischen Mediävistik für verschiedene Gattungen geistlicher Literatur, insbesondere für Legenden, fruchtbar gemacht worden.48 So deutet beispielsweise Andreas Hammer in seiner Studie zum »Passional« Heiligkeit als Ambiguitätskategorie.49 Er geht vom Doppelcharakter des Heiligen aus, der stets von Ambivalenz geprägt sei, was als narrative Basis im Rahmen formaler Beschreibungskategorien aufgefasst wird. Legenden operierten stets mit dem ambigen Spielraum, dass Christus Abbild des Menschen und Urbild Gottes zugleich sei, interessierten sich jedoch selten für das Herausarbeiten dieser Ambiguität, sondern bemühten sich vielmehr darum, diese Unterscheidung auch für die Figur des Heiligen zu nivellieren.50 Susanne Köbele hält die Spannungen zwischen Evidenz und Evidenzverlust, Rhetorikskepsis und Rhetorikfaszination insgesamt für charakteristisch für das Konzept des Erbaulichen, wie sie an einer Analyse mittelhochdeutscher Legenden und eines geistlichen Exerzitienbuchs veranschaulicht.51 Vergleichbare Spannungen zwischen der Präsenz des Heils und der Repräsentation der Heilsgeschichte, zwischen Inszenierung und Heiligkeit wie zwischen der Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu wurden bei der Analyse geistlicher Spiele aufgezeigt.52 Demnach wäre das Ambi47 Vgl. Otto, Das Heilige. Kritisch hierzu Agamben, Homo sacer. 48 Vgl. z.B. Strohschneider, Georius miles; ders., Religiöses Charisma. 49 Vgl. Hammer, Erzählen. Vgl. auch ders., Heiligkeit. 50 Vgl. Hammer, Erzählen, S. 10f. 51 Vgl. Köbele, Illusion; dies., Spannungen. 52 Zur Problematik, wie das Heilige auf der Bühne dargestellt, werden kann, vgl. Koch, Inszenierungen. Zur vergleichbaren Wirkintention von Legende und geistlichem Spiel, die beide zum konkreten Handlungsvollzug einladen, Heil zu vermitteln suchen und eine Gemeinschaft der Gläubigen konstituieren, vgl. Weitbrecht, Imitatio. Zu Bezügen zwischen geistlichem Spiel und Tragödie, die in der Ambivalenz des Glaubens wurzeln und sich in der Figur des Gottmenschen manifestieren, vgl. Toepfer, Passion Christi.

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valenzkonzept weniger geeignet, um Spezifika der geistlichen Spiele zu erfassen, vielmehr handelte es sich dabei um ein generelles Merkmal religiöser Literatur. Fällt das Resümee bezüglich der Tragfähigkeit des Ambivalenzparadigmas für die Spielforschung also negativ aus? Ist es an der Zeit, sich ganz von dem Warning’schen Deutungsansatz zu verabschieden? Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes haben auf diese Fragen unterschiedliche Antworten gefunden. Die Überlegungen zum Konzept und seiner Verwendbarkeit reichen von der psychologischen Grundlegung, die in der Ambivalenz das ›Zugleich‹ einander widersprechender Emotionen sieht, über die Mehrdeutigkeit von Figuren, Handlungsformen und Wahrnehmungen, der Doppelwertigkeit der Rezipierbarkeit inhaltlicher und motivischer Elemente bis hin zur Suspension des Begriffs zugunsten anderer Konzepte und Fragestellungen. Wie auch immer die Beiträgerinnen und Beiträger auf das Angebot reagieren, den Ambivalenzbegriff zu reflektieren, so kristallisiert sich doch die mehr oder weniger einhellige Meinung heraus, dass das Forschungsparadigma dringend überprüft und der Ambivalenzbegriff expliziert werden muss. Wenn in den Literaturwissenschaften Begriffe wie Ambivalenz, Ambiguität und Mehrdeutigkeit manchmal geradezu als Synonyme erscheinen, so zeugt dies nicht zwangsläufig von terminologischer Nachlässigkeit, sondern eher von der Komplexität der Phänomene, zwischen denen eine große Überschneidungszone besteht. Der begriffsgeschichtliche Überblick hat gezeigt, dass grundsätzlich verschiedene disziplinäre Ansätze außerhalb und innerhalb der Mittelalterphilologien, die keineswegs alle von den geistlichen Spielen her entwickelt sein müssen, deren Erforschung genauso berühren. Der in der Philologie meist etwas misstrauisch beäugten Tiefenpsychologie lässt sich immerhin entnehmen, dass Ambivalenzen als widersprüchliche Werteinstellungen nicht nur eine Zeichenbasis und über die von der Soziologie herausgestellten sozialen Verfahren ein gesellschaftliches Fundament haben, sondern auch in der Psyche des Menschen angelegt sind. Diese Vorstellung stimmt in entscheidender Hinsicht mit der theologischen Anthropologie überein, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als wesensähnlich und doch fundamental unterschieden beschreibt. Das analytische Potential, das das Ambivalenzkonzept für die Spielforschung noch immer in sich birgt, lässt sich exemplarisch an der Gattungsgeschichte zeigen. In den Dramen der Reformationszeit werden solche Szenen und Handlungselemente systematisch reduziert, die in dem beschriebenen Sinne als ambivalent gelten können.53 Gemäß der lutherischen Lehre von der allein seligmachenden 53 Müller, Mimesis und Ritual, S. 545, sieht in der Kritik der Reformatoren am geistlichen Spiel ein eindeutiges Indiz dafür, dass »das Problem der Ambivalenz sich nicht nur aus neuzeitlicher Perspektive ergibt.« Zur Frage, wie die Dramen der Frühen Neuzeit zu bewerten sind, vgl. auch Dietl, Brüche in der Theatertradition. Zu den geistlichen Spielen der Reformationszeit und des konfessionellen Zeitalters insgesamt vgl. Metz, Protestantisches Drama.

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Bedeutung göttlicher Gnade verlieren die geistlichen Spiele der Reformatoren ihre Heilsrelevanz; die protestantischen Dramatiker streben nicht mehr danach, die Rezipienten zur compassio anzuleiten und ihnen so eine Annäherung an den leidenden Christus zu ermöglichen; vielmehr wollen sie die Zuschauer zur Standhaftigkeit im Glauben und zur Geduld im Leiden animieren, von dem sie nur Gott allein erlösen kann.54 Komische Elemente werden weitgehend ausgespart, um das Heilige nicht der Lächerlichkeit preiszugeben,55 wohingegen der moralisch-katechetische Lehrgehalt der Spiele dominiert. Die reformatorischen Dramatiker streben also danach, die Rezeptionsmöglichkeiten der geistlichen Spiele im Sinne der protestantischen Lehre zu vereindeutigen, ohne dass ihnen dies vollständig gelingt: Auch die frühneuzeitlichen Bibeldramen sind mehrdeutig rezipierbar und weisen textinterne Spannungen auf, wenn auch in einem deutlich geringeren Maße als die geistlichen Spiele des späten Mittelalters. Die Frage nach den Ambivalenzen erweist sich somit als ein geeignetes Untersuchungsinstrument, die geistlichen Spiele im konkreten Einzelfall wie als Gattungsexempel im Spannungsfeld gegensätzlicher wie mehrdeutiger Werte, Formen und Funktionen genau zu verorten und so literaturgeschichtliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Warnings Interpretationsmodell ist für die Spielforschung folglich noch immer von Belang, erweist seine Stärke allerdings nur, wenn man es in gewisser Weise ahistorisch gegen seinen Autor liest und als Analysemethode nutzt.56 Versteht man Ambivalenz im Sinne funktionaler Mehrwertigkeit, erfüllt das Deutungskonzept noch immer einen wichtigen heuristischen Zweck.

3. Exemplarische Analysen: Zusammenfassung der Beiträge Die Beiträge dieses Bandes lassen sich fünf thematischen Schwerpunkten zuordnen, nach denen sie im Folgenden geordnet sind: Ritualität, Emotionalität, Überlieferungsgeschichte, Figurenkonzeption und Gattungsgeschichte. Eröffnet wird der Sammelband mit drei Aufsätzen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Ritualität geistlicher Spiele beschäftigen. Christoph Petersen (»Ritualisierte und literarisierte Ästhetik. Transformationsleistungen des performativen Dreischritts im geistlichen Spiel«) untersucht das rituelle und literarisch54 Vgl. Toepfer, Frühneuzeitliche Wende; dies., Gewalt. 55 Vgl. Toepfer, Herodes; dies., Josephs Männlichkeit. 56 Warnings Postulat einer Latenz- und Manifestationsebene kann suspendiert werden, sodass eine Szene dann als ambivalent gelten kann, wenn sie in Bezug auf eine bestimmte Funktion einen eindeutigen Wert, in Bezug auf eine andere Funktion ebenso einen bestimmten, wenn auch anders gearteten Wert hat. Die Relationen zwischen Funktionen und Werten lassen sich dann in einem weiteren Schritt ermitteln.

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ästhetische Potential der Spiele, die er an einer Figur festmacht, die er den performativen Dreischritt nennt. Hierunter ist jedes Handlungselement zu verstehen, das als weltzustandsverändernd ausgegeben wird, wie etwa der bekannte Tollite portas-Dialog innerhalb der Höllenfahrtszenen der Osterspiele, der mit der Trigemination einer Formel arbeitet. Ritualität und Literarizität werden in diesem Sinn umgedeutet zu einem textanalytischen Instrument; Ambivalenz erscheint als die einem Strukturmuster innewohnende Möglichkeit, Ritualität oder Literarizität und damit die entsprechende Ästhetik zu generieren. Dass den geistlichen Spielen Ambivalenzen eingeschrieben sind, steht für Glenn Ehrstine außer Frage (»Eine meisterliche Fälschung? Zum Warning’schen Begriff der Pseudokommunikation«). Er setzt sich kritisch mit Warnings Deutungsansatz auseinander, indem er den Begriff der Pseudokommunikation analysiert. Ehrstine legt offen, dass sich Warnings Spielkritik in erster Linie gegen die Institution der Kirche richtete, durch den zeitgeschichtlichen Kontext der 1960er Jahre zu erklären ist und mit einem Überlegenheitsanspruch einhergeht. Weil Warning nicht von zwei gleichgültigen Valenzpolen ausgeht, sondern die latente Funktion und Struktur geistlicher Spiele aufzuspüren sucht, hält Ehrstine dessen Ambivalenzbegriff für inkonsistent. Er stellt klar, dass den Teilnehmern am geistlichen Spielbetrieb ihre Intentionalität, Autonomie und Subjektivität keineswegs abgesprochen werden darf. Bezogen auf die künftige Spielforschung plädiert Ehrstine dafür, Ambivalenzen als »genuin zweipoliges Interpretament« zu verstehen (Seite 72) und die religiöse Dimension bei der Analyse nicht zu vernachlässigen.   Hans Rudolf Velten fragt nach den Funktionen der Komik im geistlichen Spiel (»Kontrastmedium – Lachritual – Unterhaltung. Zur Bewertung der Komik im Krämerspiel«). Während die ritualistischen Theorien nicht zu überzeugen vermögen, sieht Velten in der Deutung der Komik als Kontrastmedium einen wichtigen Erklärungsansatz. In diesem Begriff sei wie in dem der Ambivalenz eine strukturelle Widersprüchlichkeit angelegt, wie sie für das Komische charakteristisch sei. Velten differenziert zwischen den ernsthaften Mercator-Strophen der lateinischen Spieltradition und den Quacksalber-Szenen der volkssprachigen Spiele, die von Beginn an mit komischen Elementen durchsetzt sind. Noch wichtiger als die sprachliche Komik erscheinen ihm die performativen Körperakte, die erst durch die Aufführung zum Tragen kommen. Durch das komische Spiel im Spiel werde ein Kontrast erzeugt, der das Heilige als Unvertrautes überhaupt erst hervorbringe und erfahrbar mache. Das Thema der Emotionalität, dem seit vielen Jahren in der Spielforschung ein hoher Stellenwert zukommt,57 ist hier mit drei Beiträgen vertreten. So setzt sich Ulrich Barton mit der Funktion des Passionsspiels auseinander, Mitleid zu 57 Vgl. z.B. Kasten, Ritual und Emotion; Schulze, Schmerz; dies., Emotionalität.

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erzeugen (»Tragische Lust im Passionsspiel? Die Ambivalenzen des Mitleids«). Während die compassio in der kulturwissenschaftlichen Forschung nach Warning an Bedeutung verlor, zeigt Barton, dass das Theatermitleid selbst als ambivalenter Affekt zu werten ist. Am Beispiel von Marienklagen arbeitet er heraus, wie Tragödienästhetik und christliche Theologie ineinander greifen können; wenn das Leid der unglücklichen Mutter in zahlreichen Facetten ausgestaltet wird, gerät die christliche Erlösungsbotschaft aus dem Blick. Ambivalent ist das Mitleid nach Bartons Ansicht nicht nur durch die diesseitsorientierte Leidensfokussierung, sondern auch, weil es zwischen religiös-mystischer und ästhetisch-literarischer Erfahrung oszilliert. Den Aspekt des Mitleids fokussiert auch Julia Gold, die zwischen der Ambivalenz der Figur und der durch sie geweckten Rezeptionshaltung unterscheidet (»Mitleid mit dem Teufel? Ambivalenzen einer altbekannten Figur im geistlichen Spiel des Mittelalters und im protestantischen Drama der Frühen Neuzeit«). Anhand der ambivalenten Teufelsfigur in einem vorreformatorischen und in zwei reformatorischen Dramen stellt sie sich die Frage, welchen Stellenwert das Mitleid mit dem Teufel haben kann, das beispielsweise die Hochmutsklagen der Osterspiele evozieren. Ambivalenz ist dabei in erster Linie in einer reflektierten doppelwertigen Rezeptionsleistung zu sehen, die eine multiperspektivische Sicht auf das Böse ermöglicht. Als Synthese emotionaler Gegensätze definiert Carla Dauven-van Knippenberg den Begriff der Ambivalenz (»Das Emotionspotenzial von Ambivalenzen im geistlichen Spiel«). Sie fragt nach der handlungslenkenden Funktion ambivalenter Gefühle in geistlichen Spielen, die auf der Produktions- wie auf der Rezeptionsebene verortet werden. Während die religions- und kulturästhetisch konstruierte Ambivalenz im »Donaueschinger Passionsspiel« wie im »Maas­trichter Passionsspiel« zur Definition von Gruppenzugehörigkeiten dient und mit Inklusions- wie Exklusionsprozessen verbunden ist, liegt das Emotionspotenzial des »Wienhäuser Osterspiels« im subjektiven Empfinden der Auferstehungsfreude, die sich nicht allzu sehr von magischen Praktiken abhebt. In ihrem Fazit äußert sich Dauven-van Knipenberg skeptisch, ob sich das Konzept der Ambivalenz als generelles Gattungsmerkmal eignet; zu unwahrscheinlich erscheint es ihr, dass die spielinternen Gegensätze zu einer wirklichen Synthese gelangen. Mit überlieferungsgeschichtlichen Aspekten, die im Sinn der material philology an konzeptuelle Fragen rückgebunden werden, beschäftigen sich auch zwei weitere Beiträge. Ausgangspunkt für die intensive mediävistische Diskussion über das Verhältnis von Textualität und Performativität der geistlichen Spiele war eine Studie von Werner Williams-Krapp,58 die dieser im vorliegenden Band einer präzisierenden Revision unterzieht (»Überlieferung und Gattung. Zur Gat58 Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung. Vgl. auch ders., Zur Gattung.

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tung ›Spiel‹ im Mittelalter – revisited«). Williams-Krapp, nach wie vor der Würzburger überlieferungsgeschichtlichen Schule verpflichtet, betont so, dass der Gattungsstatus eines überlieferten Dramentextes vor allem in der zeitgenössischen Gebrauchsfunktion liegt, die sich text- und überlieferungsgeschichtlich manifestiert. An einer Reihe von Beispielen wird vorgeführt, dass ein Spieltext dann als ›Lesetext‹ klassifiziert werden muss, wenn bestimmte Textmerkmale einen epischen oder einen anderen schriftliterarischen Gebrauchszusammenhang indizieren. Für eine mediologische Spielforschung, die die Differenz zwischen Aufführung und Schrift möglichst genau und bezogen auf den konkreten Einzelfall analysiert, setzt sich Cornelia Herberichs ein (»Die ›Zwieschlächtigkeit der Aufführung‹ und die ›double diffusion‹ von Arnoul Grébans ›Le Mystère de la Passion‹. Anmerkungen zu Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz des Passionsspiels aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive«). Mit Grébans »Passion« nimmt sie sich just jenen Spieltext vor, an dem Warning einst seine Thesen entwickelte, lenkt die Aufmerksamkeit aber auf die reiche Überlieferung und fragt nach dem medialen Status der Texte zwischen Aufführungs- und Lesespiel. Ausgehend von der Beobachtung, dass mehrere Handschriften für eine schriftgestützte Rezeption gedacht sind, bestimmt Herberichs die Funktion der Rondeaus neu. Die komplexen metrischen Formen, die Grébans »Passion« kennzeichnen, besitzen nicht nur eine ästhetisierende, sondern auch eine theologische und hermeneutische Bedeutung. Einen anderen Interpretationsansatz wählen die nächsten beiden Beiträge, die sich mit Figurenkonzepten beschäftigen und den Ambivalenzbegriff somit für spielinterne Strukturen fruchtbar zu machen suchen. Anhand einer Betrachtung der Maria-Magdalenen-Figur gelangt Jutta Eming zum Schluss, das Konzept der Ambivalenz zu suspendieren (»Ambivalenz und figura. Überlegungen am Beispiel der Maria Magdalena«). Ausgehend von den Überlegungen Erich Auerbachs, wie sie auch in neueren Arbeiten zum Figurenkonzept aufgenommen und weitergeführt werden,59 erscheint ihr weder Ambivalenz als Konzept einer Doppeldeutigkeit der Figur noch als Konzept einer zwiespältigen Rezeptionshaltung als angemessen. Eming empfiehlt stattdessen die Konzentration auf die Figur selbst in ihrer semantischen Dichte, insofern Figur immer das ist, was sie verkörpert, ohne dass dies notwendig als ambivalent zu bezeichnen ist. Elke Ukena-Best untersucht mit Arnold Immessens »Sündenfall« einen zweifelsohne unterschätzen Text des Spätmittelalters (»Aspekte des Ambivalenten im ›Sündenfall‹ des Arnold Immessen«), wobei sie sich auf das ambivalente Potential zweier Figuren, Luzifer und Salomo, konzentriert. Statt einen dramatischen 59 Vgl. Auerbach, Figura. Zur neueren Rezeption des Konzepts vgl. die Beiträge in Kiening/ Mertens Fleury, Figura, vor allem Largier, Ereignis.

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Dualismus zwischen Luzifer und seinem göttlichen Widerpart zu exponieren, führt Immessen die heilsgeschichtliche Unterlegenheit der Teufel vor Augen. Die Salomofigur dagegen ist durchaus ambivalent gezeichnet, insofern der Sohn Davids nicht nur als weiser König, sondern auch als Frauenheld und Genussmensch dargestellt ist. Auffälligerweise wird aber die heilsgeschichtlich bedeutsame Figur trotz ihres moralisch fragwürdigen Verhaltens nicht demontiert, vielmehr sucht der Autor, den biblischen Königshof auf diese Weise in eine demonstrative lebensweltliche Nähe zu den Rezipienten des Bühnenstücks zu rücken. Die vier verbleibenden Beiträge des Bandes werfen gattungsgeschichtlich relevante Fragen auf, die eine historische Spannweite von den Anfängen des Dramas im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit umfassen. Der Aufsatz von Fidel Rädle ist der ersten Dramatikerin des deutschen Sprachraums gewidmet, die mit ihrer Terenz-Imitation die Gattung des Dramas im 10. Jahrhundert neu begründete (»Hrotsvit von Gandersheim. Von der poetischen Salvierung einer unheiligen Welt«). Zwar untersucht Rädle die in mittellateinischer Sprache verfassten Texten der Gandersheimer Stiftsdame nicht vorrangig unter dem Ambivalenzparadigma. Doch scheint zwischen den durchaus wahrgenommenen und verarbeiteten Übeln der historischen Gegenwart der Autorin und der stets im Sinn christlicher Erbauung hoffungsvoll endenden Handlungen sowie deren Bewertungen eine Dialektik auf, die in der poetischen Textur reflektiert ist. Die für die Theatergeschichte bedeutsame Umbruchszeit zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit nimmt Verena Linseis in den Blick und untersucht den Zwang, der in vorreformatorischen und reformatorischen Märtyrerspielen auf Nicht-Christen ausgeübt wird (»Tod oder Taufe? – Vermittlung und Verifizierung von Glauben im Drama des 15. und 16. Jahrhunderts«). Unter Androhung massiver Gewalt werden Figuren im Drama vor die Handlungsalternative gestellt, sich zwischen dem sofortigen Tod nebst ewiger Verdammnis und dem Bekenntnis zum christlichen Glauben entscheiden zu müssen. Linseis stellt dabei vor allem auf die Ambivalenz der Glaubensvermittlung zwischen textinternen und textexternen Funktionen ab, die sich in den Glaubenshaltungen von Zuschauern und Rezipienten äußere. Die scheinbaren Dualismen der Handlung lösen sich dagegen bei näherer Betrachtung schnell auf. Der Frage, ob das Paradigma der Ambivalenz auch auf die Dramen der Reformationszeit zu übertragen ist, gehen Ulrich Müller und Klaus Wolf nach (»Katholischer Brauch bei frommen Protestanten. Das neuentdeckte ›Königsberger Fastnachtsspiel‹. Erstedition und Erläuterung der reformationszeitlichen Gattungsambivalenz«). Sie setzen sich mit dem »Königsberger Fastnachtsspiel« von 1553 auseinander, das im vorliegenden Sammelband erstmals ediert, kommentiert und im Kontext der universitären Lehrstreitigkeiten um Andreas Osiander historisch kontextualisiert wird. Indem die Königsberger Narrenposse einerseits in der Tradition des Nürnberger Fastnachtsspiels steht, aber der Karneval ande-

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rerseits im Zug der Reformation seine tiefere religiöse Bedeutung verliert, erweist sich das Spiel als Hybrid. Die religiös-profane Ambivalenz der mittelalterlichen Spiele verschiebt sich zugunsten des Profanen, weshalb das Ambivalenzparadigma nach Auffassung der Autoren nur noch als literaturwissenschaftliche Metakategorie anzuwenden sei. Dass die Ambivalenzen in reformatorischen Bibeldramen nicht völlig aufgelöst werden und eine gewisse Kontinuität zwischen den geistlichen Spielen des Spätmittelalters und denen der Frühe Neuzeit besteht, zeigt dagegen der Beitrag von Karolin Freund (»Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die ›Tragoedia Lapidati Stephani‹ (1584) von Zacharias Zahn«). Sie setzt sich mit der Stephanus-Tragödie von Zacharias Zahn auseinander, der die neutestamentliche Geschichte des Protomärtyrers mit gelehrt-humanistischen Elementen anreichert, dabei an den antiken Chor anknüpft und zugleich eine Anbindung zur kirchlichen Liturgie herstellt. Eröffnet wird die Stephanus-Tragödie durch ein Vorspiel, das durch ein dualistisches Gott-Mensch-Verhältnis gekennzeichnet ist. Zahn zeigt einen zögerlichen Gott, der an seinem eigenen Heilsplan zweifelt und den Tod seines Sohnes lieber aufschiebt. Das Spannungspotential der Frage nach der Erlösung des Menschen, die etwa Martin Luther quälte, verlagert sich somit von der menschlichen zur göttlichen Ebene. Die Beiträge des Bandes zeigen in ihrer Gesamtheit eindrucksvoll, dass das Ambivalenzkonzept noch immer geeignet ist, geistliche Spiele mit Gewinn zu untersuchen, grundlegende Eigenheiten der Gattung zu beschreiben und Gemeinsamkeiten mit anderen Formen geistlicher Literatur zu erarbeiten. Zugleich machen die kritischen Stimmen einiger Autorinnen deutlich, dass das Forschungsparadigma weder der einzige Deutungsansatz für die geistlichen Spiele ist, noch für alle Fragestellungen in gleicher Weise herangezogen werden sollte. Das Resümee, das aus den konzeptionellen Überlegungen dieser Einleitung wie aus den vorliegenden Einzelstudien gezogen werden kann, erlaubt demnach folgende Prognose: Die mediävistische Spielforschung wird den Begriff der Ambivalenzen weiterhin benötigen, um in sich widersprüchliche Strukturelemente, funktionale Spannungen und mehrdeutige Rezeptionshaltungen zu beschreiben. Wenn das Ambivalenzkonzept jedoch künftig als Analysewerkzeug oder als Interpretationsmodell genutzt wird, dann sollte der von Rainer Warning in die Gattungsdiskussion eingespeiste Begriff nicht mehr methodisch-terminologisch unreflektiert verwendet werden.

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I. Ritualität

Christoph Petersen Ritualisierte und literarisierte Ästhetik. Transformationsleistungen des performativen Dreischritts im geistlichen Spiel

Begreift man den Titel dieses Bandes als Aufforderung zu einer Revision der Thesen des epochalen Buches von Rainer Warning zum geistlichen Spiel,1 dann hat man die angesprochenen ›Ambivalenzen‹ zu verstehen als Resultate von Divergenzen zwischen kirchlicher Verkündigung und deren Mythisierung im Spiel, einer Mythisierung, die sich in der Ausbildung spielspezifischer, also von kirchlicher Verkündigung und Kultpraxis emanzipierter ritueller Funktionen niedergeschlagen hat. Die Ambivalenzen, die Warning den geistlichen Spielen attestiert hat, konvergieren in der Ambivalenz eines Theaters, das rituelles Handeln nicht nur integriert (z.B. aus der kirchlichen Liturgie), sondern auch genuin erzeugt, also mit den eigenen, theatralen Mitteln hervorbringt.2 Die Forschung hat diese Ambivalenz von Theatralität und Ritualität in den Spielen vielfach diskutiert und unterschiedlich konzeptualisiert: als Kippphänomene von einem theatralen in einen rituellen Handlungsmodus, im Rahmen von Skalierungen und Emanzipationstendenzen eines Theaters, das rituellen Vollzügen offen und verhaftet ist, oder als optionale Aktivierungen eines in der Theatralität der Spiele gegebenen rituellen Potentials.3 Die Plausibilisierungen dieser Konzepte in der konkreten Textanalyse sehen sich aber stets mit grundsätzlichen methodischen Problemen konfrontiert, vor allem mit den blinden Flecken einer auf die überlieferten Schrifttexte gestützten Aufführungsanalyse, mit der Uneinholbarkeit der Aktualität von Wahrnehmung und Erleben eines historisch entfernten, mittelalterlichen Publikums, nicht zuletzt mit den generellen Schwierigkeiten einer Definition von ›Ritual‹ und ›Ritualität‹4. Eine Flucht vor dieser Problematik – etwa indem man 1 Warning, Funktion. 2 Den Begriff ›Mythos‹, unter dem er die von ihm aufgedeckten Gegenpositionen der Spiele zu kirchlicher Verkündigung und Theologie zusammengefasst hatte, hat Warning später hinter den Begriff ›Ritual‹ zurücktreten lassen; vgl. Warning, Fallen, und Warning, Suche. – Kritische Revision der Mythisierungsthese zuletzt bei Bockmann, Inszenierung. 3 Vgl. Müller, Mimesis und Ritual; ders., Kulturwissenschaft; ders., Realpräsenz; Kasten, Ritual; Petersen, Ritual; Quast, Kult, S.  109–139. – Überblick: Schulze, Geistliche Spiele, S. 13–16. 4 Zu Letzterem vgl. Belliger/Krieger, Ritualtheorien. Für das Folgende definiere ich Rituale, in Anlehnung an den einerseits eng gefassten und andererseits pragmatisch flexiblen Ritualbe-

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die Ambivalenz von Theatralität und Ritualität in einem übergreifenden Konzept aufzuheben versucht – ist indes mit einem erheblichen Erkenntnisverzicht verbunden.5 Denn auf die von Warnings Buch hinterlassene Frage, auf welche (auch historisch spezifischen) Weisen der Handlungsmodus und Zeichengebrauch eines Theaterspiels rituelles Handeln genuin hervorbringen kann, verspricht das geistliche Spiel des Mittelalters weiterhin einen Fundus an Antworten, die weit über mediävistische und literaturwissenschaftliche Interessen hinaus von Belang und Aufschluss sind.6 Der methodischen Problematik, die mit der Identifizierung und Beschreibung von rituellem Handeln im geistlichen Spiel verbunden ist, lässt sich vielleicht mit Versuchen begegnen, Analyseinstrumente zu gewinnen, mit denen rituelle Funktionen des Theaterspiels als Ergebnisse von fallweisen, also einzeltextgebundenen Funktionalisierungsakten beschrieben werden können. Der entsprechende Versuch, den ich hier vorstelle, greift dazu ein in den Spielen ubiquitäres Textelement auf, das ich als performativen Dreischritt bezeichne: die dreimalige Wiederholung einer (verbalen und/oder non-verbalen) Handlung, die als Wirkursache der Veränderung eines Weltzustands vorgestellt oder ausgegeben wird. Im Folgenden werde ich zunächst den performativen Dreischritt als ein Strukturmuster beschreiben, dessen Form und Symbolik prinzipiell offen sind für unterschiedliche Funktionalisierungen, die jeweils kontextabhängig sind und die ich – in heuristischer Setzung – als ›Ritualisierung‹ und ›Literarisierung‹ in Opposition setzen werde. Indem ich anschließend exemplarisch beschreiben werde, wie die Ästhetik des performativen Dreischritts im Kontext des geistlichen Spiels fallweise einerseits ›ritualisiert‹ und andererseits ›literarisiert‹ werden konnte, werde ich insgesamt eine Ambivalenz dieser Ästhetik sichtbar machen, in der die postulierte Ambivalenz des geistlichen Spiels zwischen ›Ritualität‹ und ›Theatralität‹ einzelfallspezifisch, also text-, szenen- und situationsgebunden verifizierbar wird. Die Ambivalenz des performativen Dreischritts zwischen ritueller und literarischer Ästhetik ermöglicht es, das geistliche Spiel als Möglichkeitsrahmen fallweiser ›Ritualisierungen‹ oder ›Literarisierungen‹ seines theatralen Zeichengebrauchs methodisch kontrolliert zu beschreiben. Den Ansatzpunkt zu meinem griff von Soeffner, Auslegung, bes. S. 176–178, als kollektive, formalisierte und institutionalisierte zeichenhafte Handlungen, durch die für die Teilhabenden eine soziale Wirklichkeit konstituiert (bestätigt, verändert, geschaffen) wird. 5 So bei Fischer-Lichte, Theater. Sie missversteht die einschlägige Forschung, indem sie ihr unterstellt, die Begriffe ›Ritual‹ und ›Theater‹ im Sinne universaler Institutionen zu gebrauchen (S. 5–8) – als könnte es ›das Ritual‹ oder ›das Theater‹ als historische Entitäten geben; ihr davon ausgehender Versuch, bekannte Phänomene durch eine Subsumption unter dem Begriff ›Fest‹ neu zu erklären (S. 12–16), läuft auf eine Tautologisierung des Erkenntnisbemühens hinaus. – Zur historischen Veränderlichkeit der Konstellation von ›Theater‹ und ›Fest‹ vgl. Müller, Präsenz des Heils, S. 279–282. 6 Vgl. auch Eming, Simultaneität; Koch, Ungewissheit.

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Versuch nehme ich bei einem performativen Dreischritt, der in Warnings Deutung zu einiger Prominenz gelangt ist. In der Höllenfahrtsszene, die den Descensus Christi ad inferos, den Abstieg des Gekreuzigten in den Limbus patrum der Unterwelt, darstellt, wertet Warning die dreimalige Wiederholung des Tollite portas-Dialogs am Höllentor zwischen den Engeln, die als Begleiter Christi die »Öffnung der Tore« zur Hölle verlangen, und dem Teufel, der sein Reich vor dem Erlöser verschließt, als Erscheinungsform einer Theatralität »in noch nicht abgeschlossener Emanzipation aus ritueller Funktion«7. Und die Art dieser Funktion leitet er aus der analogen Verwendung des Tollite-Dialogs in einer Kirchweihzeremonie aus dem 9. Jahrhundert ab: Der in dieser Zeremonie offensichtliche »Ritualcharakter«8 der dreifachen Wiederholung des Dialogs, an deren Ende nicht nur das Kirchentor dem Allerheiligsten geöffnet wird, sondern auch ein den Teufel repräsentierender Kleriker aus dem nun geheiligten Kirchenraum entflieht, offenbare einen ebenfalls rituellen Charakter des Tollite-Dreischritts in den Spielen, an dessen Ende Christus das Höllentor aufstößt, die Macht des Teufels bricht und die vorchristlichen Gerechten von Adam bis Johannes den Täufer ins Paradies führt. Die Analogie zur Kirchweihzeremonie9 zeige, dass der Tollite portas-Dreischritt der Höllenfahrtsszene eine Struktur verleihe, in der die rituelle Funktion der Szene manifest werde: Die gespielte Höllenfahrt habe die »Entlastungsfunktion eines archaischen Rituals« der Teufelsaustreibung.10 Die Frage, ob der Szenentyp Höllenfahrt die Funktion einer rituellen Entlastung des Publikums von Teufelsfurcht hatte, verfolge ich hier nicht weiter;11 allein der Beitrag des performativen Dreischritts zu einer solchen möglichen Funktionalität soll hinterfragt werden. Ich sehe, im Anschluss an Warning, die genannte rituelle Funktion als ein Potential an, das dem Szenentyp Höllenfahrt grundsätzlich innewohnte und das fallweise – durch die konkrete Szenengestaltung in einem Spieltext, in einer Aufführung – aktiviert und ausgespielt, aber auch konterkariert und unterbunden werden konnte. Die Aktivierung des rituellen Potentials scheint jedoch nicht an spezifische Strukturierungen der Handlung gebunden gewesen zu sein.12 Denn die Dreifachwiederholung des Tollite-Dialogs ist nur in einem Teil der Spiele belegt; der Dialog kann ebenso gut zwei-, ge7 Warning, Funktion und Struktur, S. 69. 8 Ebd., S. 71. 9 Vgl. dazu unten Anm. 17. Der von Warning herangezogene Text ist nicht repräsentativ für Praxis und Deutung der Kirchweihzeremonie im Mittelalter. 10 Warning, Funktion und Struktur, S. 76. 11 Zur Diskussion vgl. Petersen, Ritual, S. 196–215; Quast, Kult, S. 109–139; Bockmann, Inszenierung. 12 Das gilt ebenso für andere Szenentypen des geistlichen Spiels, in denen man ein rituelles Potential plausibel machen kann; vgl. Petersen, Ritual, S. 160–226, und ders., Präsenz.

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legentlich auch nur einmal durchgeführt worden sein, ohne dass dadurch die Ritualität der Szene erkennbar beeinträchtigt wäre.13 Seine variable Gestaltung verweist des Weiteren darauf, dass der Dialog in die Spiele nicht aus liturgischen Zeremonien, etwa der Kirchweihe, sondern mit den meisten anderen Motiven des Szenentyps aus dem Descensus-Bericht des apokryphen Nicodemus-Evangeliums übernommen wurde, wo der Dialog in der Textredaktion A, entsprechend seiner ursprünglichen Gestalt in Psalm 23 (s.u.), zweifach durchgeführt und erst in der B-Redaktion zur Trigemination gesteigert worden ist.14 Wie in den Spielen war auch in ihrer Quelle die Dreifachwiederholung des Dialogs eine Option, die ergriffen werden konnte und, weil sie vom biblischen Ursprung des Dialogs abweicht, je eigens motiviert gewesen sein musste. Und dies wiederum verweist schließlich darauf, dass die Dreifachwiederholung ja eine vom Tollite-Dialog unabhängige ästhetische Form ist, die im geistlichen Spiel und bekanntlich in der ganzen europäischen Kulturgeschichte auf vielfältige Inhalte angewandt und in vielfältige Kontexte versetzt werden konnte und kann (s.u.). Deshalb muss auch die Einkleidung des Tollite-Dialogs in diese Form durch eine Leistungsfähigkeit motiviert gewesen sein, die die Dreifachwiederholung allgemein, d.h. jenseits einer Festlegung auf rituelle Funktionen besitzt, also gleichermaßen in einer schriftlichen Erzählung (Nicodemus-Evangelium) wie in einer liturgischen Zeremonie (Kirchweihe) wie in einem Theaterspiel (Höllenfahrtsszene) und vielleicht weiteren Kontexten. Ich erschließe im Folgenden diese prinzipielle Leistungsfähigkeit der Dreifachwiederholung, indem ich zunächst das inhaltliche Spezifikum des TolliteDialogs herauspräpariere, das dieser Leistungsfähigkeit einen Korrelations- und damit logischen Anknüpfungspunkt bietet. Es ist zugleich dasjenige Spezifikum, das den Verwendungen des Dialogs nicht nur in seinem Ursprungskontext, dem 23. Psalm der Vulgata, sondern auch, soweit ich sehe, in seinen sämtlichen mittelalterlichen Adaptationen zugrunde liegt. Das semantische Zentrum des Tollite portas-Dialogs (Ps 23,7–10) ist eine Grenze, benannt in den »Toren«, die in der Aufforderung, sie zu öffnen, als ver13 Dreifach z.B. in dem von Warning, Funktion und Struktur, S. 71f., besprochenen Innsbrucker Osterspiel (V. 269–306), zweifach z.B. im Wiener Osterspiel (V. 210–256), einfach im Osterspiel von Muri (IV,9–57). – Wenn die Ritualität der geistlichen Spiele einer traditionssichernden Formalität bedurfte (wie es auch meinem Ritual-Begriff entspricht, s.o. Anm. 4), dann scheinen mir einerseits die Bindung der Aufführungen an die kirchlichen Hochfeste und andererseits bestimmte in den Spielen verwendete Textteile, die, ohne eine erkennbare rituelle Funktion zu besitzen, die Traditionalität der Aufführung signalisierten (auch z.B. Formationen aus liturgischen Gesängen), dafür ausreichend gewesen zu sein; vgl. Petersen, Ritual, S. 159f. 14 Vgl. Evangelia apocrypha, S. 389–416 (lat. A) u. 417–432 (lat. B), Tollite-Dialog S. 397f. bzw. 422f. u. 428f. – Zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte des Textes: Izydorczyk, Gospel; zum frömmigkeitsgeschichtlichen Stellenwert des Descensus: Petersen, Variante.

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schlossen, also als vorerst unüberwindbar vorgestellt sind: »Öffnet eure Tore, ihr Fürsten, und hebt euch empor, Tore der unteren Welt«, adtollite portas, principes, vestras, et elevamini, portae infernales (V. 7). Die Überschreitung der Grenze, die im Anschluss an diese Aufforderung angekündigt wird – »und hineingehen wird der König der Ehre«, et introibit rex gloriae (ebd.) –, wird so als Überwindung des zuvor Unüberwindbaren emphatisch betont. Dem entspricht, dass die Grenzüberwindung dann auch an besondere Qualitäten des genannten »Königs der Ehre« gebunden wird, indem er – auf Nachfrage eines ungenannten Dialogpartners, »wer dieser König der Ehre ist«, quis est iste rex gloriae (V. 8) – als »kraft- und machtvoller Herr«, Dominus fortis et potens, als »im Kampf machtvoller Herr«, Dominus potens in proelio (ebd.), und als »Herr der Wundertaten«, Dominus virtutum (V. 10), charakterisiert wird. In Psalm 23 spricht dieser Dialog vom Einzug Gottes in einen ihm gehörenden oder bestimmten Ort. Weil dieser Ort aber nicht benannt ist,15 konnte der Dialog in seinen mittelalterlichen Adaptationen in verschiedene Kontexte versetzt werden, in denen jene räumliche Unbestimmtheit der Grenzüberwindung Gottes (der nun stets der Gottsohn ist) je anders konkretisiert worden ist:16 In der Liturgie der Adventszeit erinnert der Tollite-Dialog an die Menschwerdung Christi auf Erden und am Himmelfahrtstag umgekehrt an seine Entrückung ins Jenseits; in der Palmsonntagsprozession vergegenwärtigt er Christi Einzug in Jerusalem; in der Kirchweihzeremonie begleitet er die Einführung des Corpus Christi in die zu weihende Kirche17 und in der Elevatio crucis der Osternacht die Rückführung von Kruzifix und/oder Corpus Christi in den Kirchen- oder Chorraum;18 im Höllenfahrtskontext schließlich reguliert er das Eindringen des Erlösers in das Reich von Tod und Teufel, ursprünglich, wie 15 In der christlichen Exegese der Patristik und Scholastik dominieren tropologische Auslegungen des Dialogs, in denen der Ort des geforderten Gotteseinzugs der einzelne Christenmensch ist. Vgl. etwa Petrus Lombardus (Commentarium, Sp. 249–252), der zwei tropologische Auslegungen nach Cassiodor (Expositio, S. 218f.) bzw. Augustin (Enarrationes, S. 136f.) und eine typologische Auslegung auf den Descensus hin nach Hieronymus (Breviarium, Sp. 887–889) referiert und seine eigene, nochmals tropologische Auslegung anschließt. 16 Nachweise für das Folgende bei Young, Harrowing, bes. S. 891–896; zur Himmelfahrt s.u. Anm. 40. 17 Dass auch in der mittelalterlichen Kirchweihzeremonie die Grenzüberschreitung am Kirchenportal (nicht eine Teufelsaustreibung) der thematische Kern- und performative Zielpunkt des Tollite-Dreischritts ist, zeigt die Beschreibung der Zeremonie bei Hugo von St. Viktor, wo neben der durch den Tollite-Dialog regulierten Einführung des Corpus Christi in die Kirche ein von dort fliehender ›Teufel‹ keine Erwähnung findet (De sacramentis V,2, Sp. 439f.). Wenn, wie bei Hugo, die Kirchweihe als sakramentaler Akt gewertet und besprochen wird, werden Relevanz und Beteiligung des Teufels entbehrlich oder negiert. 18 Die Verwendung des Dialogs in den Elevatio-Feiern ist optional; ähnlich wie in der Kirchweihzeremonie (s. vorige Anm.) ist auch hierbei die Repräsentation des Teufels keineswegs obligatorisch, vielmehr selten. In Lipphardts umfangreicher Textsammlung sehe ich nur drei Feiern, in denen eine Teufelsrolle ausdrücklich genannt ist: Lipphardt, Osterfeiern, Nr. 376, 522 u. 530.

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gesagt, im Nicodemus-Evangelium und dann in dessen Adaptationen, etwa im geistlichen Spiel. Allen diesen Verwendungen des Tollite-Dialogs ist – über ihre unterschiedlichen Anlässe (Advent, Palmsonntag, Kirchweihe, Ostern) und medialen Einkleidungen (Messe, Prozession, Weihehandlung, Schrifterzählung, theatrale Darstellung) hinweg – gemeinsam, dass sie den thematischen Gegenstand ihrer Kontexte als Grenzüberschreitung Christi interpretieren und explizieren. Die Funktion des Dialogs besteht darin, den grenzüberschreitenden Charakter der Heilshandlungen oder -ereignisse, auf die er angewandt wird, zum Thema zu machen. Damit bringt der Tollite-Dialog aber auch eine spezifische Narrativik zur Sprache, die den genannten Kontexten jeweils innewohnt. Er evoziert einen Erzählzusammenhang – in Stichworten etwa: Ankunft vor den Toren, Forderung adtollite portas, dialogische Charakterisierung des Protagonisten (quis est …? Dominus …), schließlich Toröffnung und Eintritt (introire) –, der weiteren Konkretisierungen offen steht, sei es in der mentalen Imagination allein (Advents- und Himmelfahrtsliturgie), sei es angeregt und unterstützt durch weitere liturgische Handlungen (Palmprozession, Kirchweihe, Elevatio), sei es in einem Erzähltext (Nicodemus-Evangelium) oder in einem Schauspiel (Höllenfahrtsszene).19 Dass in all diesen Konkretisierungen die Grenzüberschreitung im semantischen Zentrum des evozierten Erzählzusammenhangs steht, macht den Tollite-Dialog zu einem geradezu idealtypischen Beispiel für das, was Jurij Lotman einen sujethaltigen Text genannt hat. Mit Lotmans Sujet-Begriff lässt sich aber auch noch eine weitere Funktion des Dialogs in den genannten Kontexten namhaft machen. Nach Lotman basiert ein Sujet auf einem »Ereignis«, das in der erzählerischen »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« besteht; und weil die von dieser Grenze getrennten Felder durch oppositionelle »Klassifikationen« bestimmt sind, stellt die erzählte Grenzüberschreitung auch die Geltung dieser Klassifikationen in Frage, hebt sie auf, verändert sie oder bestätigt sie neu.20 Auch in diesem Aspekt: darin, dass er die Veränderung der Klassifikationen eines vorgestellten Weltausschnitts thematisiert, darf der Tollite-Dialog als ein Idealtypus des Lotmanschen Sujets gelten: Der Dialog expliziert, dass die Heilsgeschehnisse, auf die er angewandt wird, eine die Klassifikationen der Welt verändernde Qualität besitzen, und bindet diese transformatorische Qualität an den Prozess der erzählten Grenzüberschreitung. Genau hierin scheint mir nun der oben so genannte Korrelationspunkt des Tollite-Dialogs und jener ästhetischen Form der Dreifachwiederholung zu liegen, in die er fallweise gekleidet sein kann, der Korrelationspunkt, von dem aus sich 19 Ich gebrauche somit die Begriffe ›Erzählung‹ und ›Narrativik‹ in dem weiten Sinne aktueller Erzähltheorie und Kultursemiotik; vgl. Müller-Funk, Kultur. 20 Lotman, Struktur, S. 329–340, hier S. 330, 332, 338.

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auch auf die generelle Leistungsfähigkeit jener ästhetischen Form schließen lässt: Die Dreifachwiederholung stellt ein Mittel bereit, um die Ereignishaftigkeit und transformatorische Qualität eines narrativen Sujets auch formal zum Ausdruck zu bringen. Das lässt sich nun auch von der Form der Dreifachwiederholung her plausibel machen. Die Dreizahl ist die in der europäischen Kulturgeschichte wohl prominenteste Form, in der die Vorstellung von Vollständigkeit und Vollkommenheit der Welt oder eines Weltausschnittes in einer symbolischen Abbreviatur kodiert werden kann.21 Vollständigkeit und Vollkommenheit umschreiben eine (mit ›Geschlossenheit‹, ›Richtigkeit‹, ›Vorbestimmtheit‹, ›Heiligkeit‹ usw. weiter differenzierbare) Semantik der Dreizahl, die offenbar stets und bis heute intuitiv wahrgenommen wird22 und somit auch der kulturellen Konstruktion dreigliedriger Formeln aller Art unterstellt werden darf. Gegenüber ähnlichen Abbreviaturen wie der Zwei- oder der Vierzahl, deren analoge Symbolik in menschlichen Elementarwahrnehmungen des natürlichen Raumes gründet (›vorn/hinten‹, ›rechts/links‹ usw., darauf aufbauend ›vier‹ Himmelsrichtungen u.ä.), scheint die Symbolik der Drei auf einer Abstraktion zu beruhen, die die Symbolik mit einem konstruktivistischen Überschuss versieht: Die in der Dreizahl kodierte Vorstellung von Vollständigkeit und Vollkommenheit gründet weniger in der Wahrnehmung natürlicher Gegebenheiten als in der Annahme einer Herstellung oder Überbietung solcher Gegebenheiten; die symbolische Drei weist die Vollständigkeit und Vollkommenheit eines Weltausschnittes als etwas (von Gott, Mensch usw.) Gemachtes oder Intendiertes aus. Aus diesem Grund scheint die Drei in den Fällen, in denen sie auf einen Zeitverlauf bezogen ist, auch nicht mit einem aus Naturwahrnehmungen abgeleiteten zyklischen Zeitverständnis kompatibel zu sein – wie wiederum die Zwei oder Vier (›Tag/Nacht‹, ›vier‹ Jahreszeiten u.ä.) –, sondern mit einem linearen Zeitverständnis, das seinen kulturellen Konstruktionscharakter (›Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft‹ u.ä.)23 besonders dann offenlegt, wenn der Zeitverlauf als abschließbar und zielgerichtet vorgestellt wird. Dies liegt in der Dreifachwiederholung vor, der Trigemination,24 in der die Verlaufsform der 21 Ob diese symbolische Drei als ein »héritage indo-européen commun« anzusehen ist (Dumézil, Idéologie, S. 89), kann hier dahingestellt bleiben. In anderen Kulturen kann die Vier- (Lüthi, Drei, Sp. 852) oder die Zweizahl (Assmann, Herrschaft, S. 162: »umfassende Ganzheit als Vereinigung einer Zweiheit« als basale altägyptische Denkform) bevorzugt sein. – Überblick über Erscheinungsweisen der symbolischen Drei: Mehrlein, Drei; speziell in der mittelalterlichen Zahlenexegese: Meyer/Suntrup, Lexikon, Sp. 214–331. 22 Mit dem Sprichwort ›Aller guten Dinge sind drei‹ etwa artikulieren wir heute zwar nicht mehr – wie in der mittelalterlichen Rechtspraxis (vgl. Stammler/Erler, Drei) – eine gesetzmäßige Verbindlichkeit, doch immer noch einen imaginären Maßstab für die Vollständigkeit eines Sachverhalts oder das Gelingen einer Situation in unserer Lebenswelt. 23 Zum Konstruktionscharakter von Zeitvorstellungen vgl. Elias, Zeit. 24 Weinreich, Trigemination, S. 199f.; Mehrlein, Drei, Sp. 281–288 u. 306–308.

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Wiederholung mit der Dreizahl kombiniert und dadurch mit einer Finalität und impliziten Performativität ausgestattet ist. Denn in der Dreifachwiederholung wird die Dreizahl ja sukzessive erreicht, d.h. hervorgebracht, und so wird auch die in der Dreizahl kodierte Vorstellung von Vollständigkeit und Vollkommenheit effektiv erzielt, d.h. erzeugt. Das »Achtergewicht« der Trigemination, wie man diese Logik einmal genannt hat,25 ist der formale Effekt aus der Verbindung der Zeitlichkeit der Wiederholung mit der Symbolik der Dreizahl. Angewandt auf eine konkrete Handlung, überträgt die Dreifachwiederholung auch diese implizite Performativität auf die Handlung, so dass der beschriebene formale Effekt nun welthaltig wird. In ihrer Trigemination zeitigt eine Handlung nicht nur ein pragmatisches Ergebnis, sondern erzeugt auch die Vorstellung von Vollständigkeit und Vollkommenheit; und insofern, als die Handlung und ihre Form in der unmittelbaren Rezeption nicht analytisch unterschieden, sondern als Einheit wahrgenommen werden, erscheint auch das Ergebnis der Handlung als Effekt nicht nur ihrer Pragmatik, sondern auch ihrer Formalität: Auch die Trigemination scheint ein Handlungsergebnis, indem sie es vollständig oder vollkommen ›macht‹, zu bewirken. Dies ist die Funktionslogik der performativen Dreifachwiederholung, die ich hier, etwas griffiger, den performativen Dreischritt nenne. In dieser Beschreibung vermeidet man, die Verwendungsweisen des Strukturmusters von vornherein irgendwelchen kulturgeschichtlichen Priorisierungen (z.B. der Ableitung aus einem magisch-mythischen Weltbild) zu unterstellen. Die Funktionslogik kann Geltung beanspruchen gleichermaßen für Handlungen in ihrem aktuellen Vollzug (Rituale usw.) wie in ihrer Darstellung (Erzählungen usw.) wie in ihrer thetischen Setzung (Sprichworte usw.), gleichermaßen für magische Praktiken,26 für anderweitig rituelle oder ritual-analoge Handlungen (etwa in der christlichen Liturgie),27 für Erzählungen (gleichviel, ob mündliche oder schriftliche, ›volkstümliche‹ oder ›hochliterarische‹),28 für Schauspiele usw. Alle diese Verwendungsweisen des Strukturmusters basieren stets auf dessen prinzipieller Leistungsfähigkeit: Der performative Dreischritt stellt mit seiner Vollständigkeitssymbolik ein formales Modell bereit, um ein (faktisches oder imaginiertes) Handlungsresultat sinnvoll erscheinen zu lassen, zu erklären oder 25 Olrik, Gesetze, S. 7. 26 Mehrlein, Drei, Sp. 288–291. Vgl. z.B. die Heilformeln des »Zweiten Merseburger Zauberspruchs« (sose benrenki, sose bluotrenki, | sose lidirenki: | ben zi bena, bluot zi bluoda, | lid zi geliden, sose gelimida sin, V. 6–9) oder des »Zweiten Bamberger Blutsegens« (daz dir ze buoze. Pater noster. ter. Et addens hoc item ter: ›Ich beswere dich bi den heiligen fuf wunten [sc. Christi]. Heil sis tu, wunde‹, Z. 12–14); beides zitiert aus: Haug/Vollmann, Literatur, S. 152 u. 158. 27 Vgl. Jungmann, Missarum sollemnia, passim. 28 Olrik, Gesetze; Lüthi, Volksmärchen, S. 33; ders., Märchen, S. 30; Göbel, Formen.

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zu begründen. Deshalb bietet sich der performative Dreischritt insbesondere sujethaltigen Texten – wie beispielsweise dem Tollite portas-Dialog – zur Formgebung an, weil die formale Effektivität des Strukturmusters der narrativen Ereignishaftigkeit und transformatorischen Qualität eines Sujets funktional entspricht. Gesagt ist damit auch, dass diese funktionale Korrespondenz des performativen Dreischritts mit der Sujethaltigkeit seiner inhaltlichen Füllung eo ipso keine Ritualität herstellt. Der Dreischritt leistet nichts weiter, als der Sujethaltigkeit der in das Strukturmuster gekleideten Handlung einen formalen Ausdruck zu verleihen. Ritualität wäre dem Dreischritt auf dieser Grundlage erst sekundär, d.h. von den Kontexten, in denen er gebraucht ist, zuzuweisen. Die Möglichkeit solch sekundärer Zuweisung schließt aber auch die Möglichkeit alternativer Zuweisungen ein. Die Theatralität des geistlichen Spiels als desjenigen Kontextes, von dem ich hier handele, legt es (aufgrund allgemeiner Gegebenheiten der europäischen Theatergeschichte) nahe, als eine dieser alternativen Zuweisungsmöglichkeiten Literarizität anzusetzen.29 Und weil Rituale und Literatur einerseits in ihrer Ästhetik Gemeinsamkeiten besitzen (wie gesagt, etwa im Strukturmuster des Dreischritts) und andererseits vor allem in ihrem Wirklichkeitsverhältnis und ihrer Pragmatik dominant differieren,30 lassen sich Ritualität und Literarizität als heuristische Opposition konzipieren, die es ermöglicht, divergente, ›rituelle‹ oder ›literarische‹ Funktionszuweisungen des performativen Dreischritts in den geistlichen Spielen fallweise zu identifizieren. So wird die eingangs angesprochene Ambivalenz des geistlichen Spiels zwischen ›Ritual‹ und ›Theater‹ analytisch nachvollziehbar in der kontextbedingten Ambivalenz des performativen Dreischritts zwischen ›ritueller‹ und ›literarischer‹ Ästhetik. Im Folgenden beschreibe ich diese divergenten Funktionszuweisungen exemplarisch. Mein erstes Beispiel für ›Ritualisierungen‹ des Strukturmusters hat ein letztes Mal den Tollite-Dialog der Höllenfahrtsszene zum Gegenstand. Im lateinischen »Klosterneuburger Osterspiel« aus dem frühen 13. Jahrhundert31 wird das oben genannte rituelle Potential des Szenentyps Höllenfahrt, die Entlastung von Teufelsfurcht, konterkariert, indem der Descensus Christi nicht als Sieg über den Teufel inszeniert wird. Stattdessen bindet das Spiel an die in der Dreifachwiederholung ausgespielte Transformationsleistung des Tollite 29 Unter Literarizität verstehe ich das, was einen (auch) sprachlich verfassten Text zu einem Teil eines Referenzsystems ›Literatur‹ macht (was auch immer man konkret darunter begreifen mag: spezifische Sprach- und Formgebungen, thematische und motivische Traditionsverbindungen, Wirklichkeitsbezüge usw.; Problemaufriss z.B. bei Barsch, Literarizität). In Bezug auf den performativen Dreischritt im geistlichen Spiel verstehe ich Literarisierung als eine Funktionszuweisung, wie sie analog z.B. in Dramen der Weimarer Klassik, in Romanen, Balladen, Märchen usw. zu beschreiben ist. 30 Für Braungart, Ritual, sind die ästhetischen Gemeinsamkeiten von Ritualen und Literatur Ansatzpunkt dazu, ihre pragmatischen Differenzen zu relativieren. 31 Lipphardt, Osterfeiern, Nr. 829, S. 1703–1711.

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portas-Dialogs eine andere rituelle Funktion. Diese Umfunktionalisierung der Szene und des Dialogs vermag zunächst besonders deutlich vorzuführen, dass eine rituelle Funktion des performativen Dreischritts immer das Ergebnis einer Zuweisung ist, d.h. einer einzelfallspezifischen Konstruktion. Zugleich lässt das Klosterneuburger Spiel auch das entscheidende Verfahren erkennen, auf das eine solche rituelle Funktionalisierung im geistlichen Spiel gestützt sein musste: die Dissimulation oder Aufhebung der Grenze zwischen Spiel- und Publikumsrealität, durch die das Publikum sich als Teilnehmer am dargestellten Geschehen erfahren konnte. Die Klosterneuburger Höllenfahrt weicht von dem Handlungsgang, der im Nicodemus-Evangelium vorgegeben und in der Spieltradition üblich ist,32 besonders am Ende markant ab. Christus schreitet vor die Hölle in Begleitung zweier Engel, die die Prozession mit der Antiphon Surrexit Christus et illuxit populo suo begleiten (Z. 188–191).33 Vor dem verschlossenen Höllentor (Z. 192) singt er dann die Tollite portas-Aufforderung (Z. 193–198), nach deren dritter Wiederholung (Hoc ter repetito, Z. 199) er »schließlich mit großem Schwung die Höllentore zerbricht«, magno impetu tandem confringit portas inferni (Z. 192–199). Daraufhin »betrachten«, wie es heißt, die in der Unterwelt einsitzenden Seelen das »Antlitz« des Erlösers, intuentes vultum eius (Z. 200), und begrüßen ihn mit dem zweiten Teil des sogenannten »Canticum triumphale« Advenisti desiderabilis (Z. 201).34 Und damit ist die Szene auch schon beendet. Gegenüber dem üblichen Descensus-Schluss fehlen im Klosterneuburger Spiel alle Zeichen einer Entmachtung des Teufels (Niederwerfung, Fesselung, Verfluchung, Vertreibung, Teufelsklagen o.ä.) ebenso wie der Auszug der vorchristlichen Gerechten ins Paradies. Verkürzt um diese Handlungen, findet die Klosterneuburger Höllenfahrtsszene ihr Ziel in einer Selbstpräsentation Christi vor denen, die seine Ankunft ersehnt hatten (Advenisti desiderabilis). Ersehnt aber war diese Ankunft hier nicht, weil sie Befreiung aus Höllenhaft brächte, sondern weil sie, wie die einleitende »Surrexit«-Antiphon

32 Zu dieser Szenenstruktur vgl. Thoran, Studien, S. 131–202. 33 Die Antiphon stammt aus der Osterliturgie; vgl. Hesbert, Corpus, Nr. 5077. 34 Der Text des in der Handschrift nur als Incipit notierten Gesangsteiles lautet (im Folgenden zit. nach Young, Drama, Bd. 1, hier S. 151): Advenisti desiderabilis, / quem exspectabamus in tenebris, / ut educeres hac nocte vinculatos claustris. / te nostra vocabant suspiria, / te larga requirebant lamenta. / tu factus es spes desperatis, / magna consolatio in tormentis. (»Du bist angekommen, Ersehnter, / den wir in der Finsternis erwarteten, / auf dass du uns in dieser Dunkelheit Gebundene aus dem Gefängnis führest. / Dich riefen unsere Seufzer, / dich ersehnten ausgiebige Klagen. / Du bist Hoffnung den Verzweifelten, / ein großer Trost in unseren Qualen.«). – Das »Canticum triumphale«, dessen Text auf einer Osterpredigt des Caesarius von Arles basiert, ist als Gesang wohl für die Feiern der Elevatio crucis in der Osternacht verfasst worden, in denen es seit dem späten 12. Jahrhundert vielfach belegt ist und von wo es dann in die Höllenfahrtsszenen der Spiele gelangte (vgl. ebd., S. 151f.).

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hervorhebt, das »Licht« der Erlösung an Christi »Volk« vermittelt (Christus […] illuxit populo suo), und zwar durch den Anblick des Erlösers. Dass die Selbstpräsentation Christi das Ziel einer Inszenierungsstrategie im Klosterneuburger Spiel ist, die von der Typik des Descensus abweicht, macht eine in der Aufzeichnung bewahrte Textbearbeitung noch deutlicher. In der Handschrift des Spiels ist eine Passage, in der sich auch die Höllenfahrtsszene befindet (Z. 130–212), von zwei Schreibern doppelt kopiert worden, wobei die erste Kopie als ungültig markiert worden ist.35 Im gültigen Text getilgt sind damit aber auch zwei höchst traditionelle Textbausteine des Szenentyps Höllenfahrt, die in der ersten Kopie noch vorhanden waren: Zum einen ist der erste Teil des »Canticum triumphale« Cum rex gloriae, in dem von einer »Eroberung« der Hölle die Rede ist (infernum debellaturus),36 als Prozessionsgesang zum Höllentor ersetzt worden von der Surrexit-Antiphon – an Stelle des Unterweltkampfes wird die Erleuchtung des Christus-Volkes besungen; und zum anderen ist die zum Tollite-Dialog gehörende Frage Quis iste est rex gloriae, die in der ersten Kopie, wie üblich, vom Diabolus gestellt wird (Z. 195f.), im gültigen Text ausgelassen worden – der Teufel wird nicht besiegt, sondern aus der Szene gestrichen. Das eigentümliche Ende der Klosterneuburger Höllenfahrt erweist sich so als das Ergebnis einer planmäßigen Neuakzentuierung: Der Descensus soll hier nicht von der Bezwingung von Tod und Teufel handeln, sondern von der Vergegenwärtigung des Erlösers. Damit erklärt sich auch die in der Tradition singuläre Einordnung der Höllenfahrt in die Szenenfolge des Osterspiels. Das Spiel beginnt mit den Grabwächterszenen (Bestellung der Grabwache und deren Bestechung zu einem falschen Zeugnis), die üblicherweise die Auferstehung und Höllenfahrt Christi rahmen, hier aber, dem biblischen Bericht folgend, die Niederwerfung der Wächter durch den Auferstehungsengel sowie den Grabbesuch der Marien umschließen (Z. 1–129, nach Mt 27,62–28,7 u. 11–15). Danach geben die Marien ihr am Grab erhaltenes Auferstehungszeugnis an die Jünger weiter (Z. 130–139, Lk 24,9–11), was den Jüngerlauf von Petrus und Johannes zum Grab auslöst (Z.  140–151, Lk 24,12 u. Joh 20,3–10), an den sich die Erscheinung Christi vor Maria Magdalena anschließt (Z. 152–187, Joh 20,11–17). An dieser Stelle nun folgt die 35 Vgl. den diplomatischen Textabdruck bei Young, Drama, S. 421–429, zum handschriftlichen Befund S. 429. Lipphardt hat in seine Ausgabe der zweiten Kopie auch Einzelheiten aus der ersten Kopie eingemischt (Osterfeiern, S. 1709f.), was sein textkritischer Apparat nur leidlich durchschaubar hält. 36 Text (nach Young, Drama, Bd. 1, S. 151): Cum rex gloriae Christus / infernum debellaturus intraret, / et chorus angelicus / ante faciem eius / portas principum tolli praeciperet, / sanctorum populus, / qui tenebatur in morte captivus, / voce lacrimabili clamaverat: (»Als der König der Ehre Christus / in die Hölle stieg, um sie zu erobern, / und die Schar der Engel, / ihm vorausgehend, / den Toren der Fürsten aufzugehen befahl, / da rief das Volk der Heiligen, / das im Todesreich gefangen gehalten wurde, mit jammervoller Stimme:« – es folgt der zweite Teil, s. Anm. 34).

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Höllenfahrt (Z. 188–201), bevor schließlich mit Marias Bericht von ihrer Christus-Begegnung (Joh 20,18) die Auferstehungsbotschaft verbreitet wird, zunächst innerhalb der Spielrealität (Z. 202–230) und dann mit Einbezug des Publikums (Z. 231–241). Der Descensus Christi ist also in die Reihe der österlichen Auferstehungszeugnisse eingeschoben, wodurch nicht nur die im Glaubensbekenntnis festgelegte Ereignisfolge (Abstieg in das Reich des Todes – Auferstehung von den Toten) umgekehrt, sondern auch die ansonsten genau bewahrte Ereignisfolge der biblischen Osterberichte erheblich gestört wird. Motiviert erscheint diese Störung allein durch den auf diese Weise hergestellten paradigmatischen Bezug der Höllenfahrts- zur vorangehenden Magdalenenszene: Der Erscheinung Christi vor Maria Magdalena wird eine Christophanie in der Unterwelt komplementär zur Seite gestellt. Zwei Mal tritt Christus in diesem Spiel auf: in der Begegnung mit Maria und direkt danach in der Visitation der Unterwelt; zwei Mal zeigt er sich vor seinen Anhängern: im diesseitigen Garten des Nicodemus und im jenseitigen Reich des Todes, vor der Frau und vor den Gerechten, vor dem Individuum und vor dem Kollektiv. Und beide Male gestaltet das Spiel die Christophanie mittels eines performativen Dreischritts, auch in der Magdalenenszene. Denn Christus spricht Maria dreifach an, zwei Mal verhüllt »in Gestalt eines Gärtners«, in specie hortulani (Z. 168), indem er die Frau nach dem Grund ihrer Trauer fragt (Mulier, quid ploras?, Z. 169 u. 174), und erst beim dritten Mal unverhüllt in specie Christi, indem er Maria beim Namen nennt (Z. 178f.), so dass mit der dritten Anrede nicht nur Marias Erkenntnis (Z. 180f.), sondern auch die Erscheinung, species Christi in der Dreifachwiederholung hervorgebracht wird.37 Wie in der Höllenfahrtsszene wird auch in der Magdalenenszene das Strukturmuster genutzt, um die Selbstpräsentation des Erlösers mit einem performativen Effekt auszustatten: Die Christuspräsenz wird inszeniert als Ergebnis ihrer Erzeugung. Sinnvoll ist dieser Präsenzeffekt natürlich nicht im Rahmen des dargestellten Geschehens, sondern nur als Element einer auf die Publikumswahrnehmung zielenden Aufführung: Der durch den performativen Dreischritt erzeugte Effekt gilt nicht der Magdalena im Garten oder den Gerechten im Limbus, sondern dem Publikum, für den der Auferstandene in seinem Abbild Präsenz gewinnen soll. Dass der Dreischritt diesen Effekt bei einem zeitgenössischen Publikum tatsächlich erzielen konnte, lässt sich direkt, also mit der Textaufzeichnung der beiden Szenen nicht mehr belegen; doch es lässt sich indirekt plausibel machen anhand eines anderen Inszenierungsverfahrens des Klosterneuburger Spiels, in dem der Präsenzeffekt der beiden Christophanieszenen gespiegelt ist.

37 Die Dreifachwiederholung der Ansprache Marias durch Christus ist im Spiel eigens konstruiert worden, indem auch schon die erste, im Evangelium von den Grabesengeln gestellte Frage mulier, quid ploras (Joh 20,13) dem Auferstandenen zugewiesen worden ist.

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Vor den Christophanieszenen nämlich waren alle im Spiel dargestellten Zeugnisse der Auferstehung für unwirksam erklärt worden: Die Verkündigung des Grabesengels lässt die Marien nicht glauben, sondern erschrecken (Ille perterrite parum retrocedant, Z. 95); die Grabwächter erklären jede Auferstehungskunde für Lüge (mentiuntur magistrum vivere, Z. 129) und die Jünger die entsprechende Mitteilung der Marien für Spinnerei (similia deliramentorum, Z. 136f.); bei Petrus und Johannes bewirkt das leere Grab nur Staunen (miror, Z. 144) und Unwissen (nescimus, Z. 150); und Maria Magdalena beklagt vor ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen ausgiebig den Verlust ihres Herrn, weil dessen Leichnam verschwunden sei (Z. 154–165, 171f. u. 176f.). Die Auferstehungskunde ist im Spiel so lange nichtig, bis der Auftritt des Auferstandenen die Kunde glaubhaft macht; erst durch die Christuspräsenz wird die Welt der Todestrauer in eine Welt des Auferstehungsglaubens transformiert. In dieser Transformation konvergieren aber die Realitäten der Spielfiguren und des Publikums, was in der abschließenden Verbreitung der Auferstehungskunde explizit gemacht wird. Denn die Kunde wird erst innerhalb des Spiels weitergegeben an die anderen Marien und die Jünger (Z. 202–234), und dann, aus dem Spiel heraus, auch an das Publikum (Z. 235–241). Die Präsenz Christi im Spiel »versichert«, wie der Text dabei identisch bemerkt, die Auferstehung gleichermaßen den Spielfiguren (Ille tres [Marie] iam certificate de Resurrectione Domini, Z. 207) wie dem Publikum (Populus universus iam certificatus de Domino, Z. 240), das diese Versicherung am Ende mit dem Osterlied Christ, der ist erstanden bestätigt (Z. 241). Die theatrale Präsentation des Auferstandenen transformiert nicht nur die gespielte Welt, sondern auch die des Publikums in eine Welt des Auferstehungsglaubens. Das Publikum konstituiert sich über eine mit theatralen Mitteln hergestellte Präsenzerfahrung des Auferstandenen als österliche Glaubensgemeinschaft.38 Im Klosterneuburger Osterspiel wird dem Tollite portas-Dreischritt eine rituelle Funktion nachvollziehbar zugewiesen: durch die Neuakzentuierung der Höllenfahrtsszene, durch ihre Analogisierung mit der Magdalenenszene, durch deren beider Positionierung im Spielverlauf, durch die Aufhebung der Unterscheidung von Spiel- und Publikumsrealität. Basis und inhaltlicher Ansatzpunkt dieser Ritualisierung ist die sujethafte Transformationslogik des Tollite-Dreischritts: die mit der Grenzüberschreitung am Höllentor vollzogene Verwandlung der Welt von Heilsabsenz in Heilspräsenz, von karfreitäglicher Todesklage in österliche Auferstehungsfreude. Diese Transformation wird einerseits im Theaterspiel dargestellt und vorgeführt; doch indem ihr andererseits Geltung auch in der Realität des Publikums attestiert wird, das Publikum selbst also in diese Transformation 38 Diese Ableitung des Auferstehungsglaubens aus der inszenierten Präsenz Christi scheint mir die raison d’être der mittelalterlichen Osterspieltradition überhaupt zu sein; vgl. Petersen, Ritual, S. 160–183.

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einbezogen ist, wird die Ästhetik des performativen Dreischritts rituell funktionalisiert, erhält sie durch das Spiel den Charakter einer rituellen Ästhetik. Ein zweites Text- und Szenenbeispiel bestätigt, dass diese Ritualisierung des Dreischritts in den geistlichen Spielen vor allem auf die transformatorische Qualität der dargestellten Handlung und auf die Dissimulation der Unterscheidung von Spiel- und Publikumsrealität gestützt ist. In dem Himmelfahrtsspiel, das der Sterzinger Maler und vielfach tätige Spielleiter Vigil Raber 1517 und 1518 in Cavalese (Gablöss) aufführte,39 formalisiert der performative Dreischritt die Himmelfahrt Christi. Ähnlich wie im TolliteDialog wird auch hier der grenzüberschreitende Charakter des Vorgangs zur Sprache gebracht, indem zunächst die Grenze zwischen Dies- und Jenseits imaginär gezogen wird in einem über sie hinweg geführten Dialog, hier zwischen zwei Engeln auf der Bühne, welche die Ankunft Christi im Himmel ankündigen (V. 631–636 u. 641–650), und einem Engel, der sich durch das »Himmelsloch« im Kirchengewölbe (supra foramina, vor V. 637; foramen celi, vor V. 583) nach dem Ankömmling erkundigt (V.  637–640).40 Doch anders als im Szenentyp Höllenfahrt wird in der Cavaleser Himmelfahrt nicht der vorbereitende Dialog verdreifacht, sondern die Grenzüberschreitung selbst: Christus fährt in drei Anläufen gen Himmel.41 Gerahmt von den zwei Engeln wird er mittels einer aus dem Himmelsloch herabgelassenen Seilkonstruktion aufwärts gezogen, während er die Himmelfahrtsantiphon Ascendo ad patrem meum et patrem vestrum singt (vor V. 651).42 Dann wird er wider nider glassn (ebd.) und spricht ein paar deutsche Verse. Anschließend wird er unter Wiederholung der Antiphon zum zweiten Mal, nun hoher etwas […] dan vor, aufgezogen (vor V. 657) und wieder hinunter gelassen zu einer zweiten deutschen Rede, bevor er mit der dritten Wiederholung des ganzen Vorgangs gar aufgezogen wird (vor V.  663) und endlich im Kirchenge39 Ich zitiere aus Wilckes Ausgabe, die mir unter den verfügbaren die verlässlichste zu sein scheint. – Zu Vigil Raber vgl. Gebhardt/Siller, Raber; zu seiner Südtiroler Inszenierungstätigkeit: Neumann, Spiel in Tirol. 40 Der Dialog enthält in den Aufforderungen sagt dem kinig lob unnd eer | Der do her will kumenn (V. 632f.) und Damit thuet auf der himl port und schrein | das sich got mug fuegn drein (V. 647f.) zitathafte Reflexe des Tollite portas-Dialogs; auch die Frage nach des Ankömmlings gwand so rot (V. 637), mit der in typologischem Rekurs auf Jes 63,2 die Befähigung Christi zur Grenzüberschreitung an Passion und Opfertod gebunden wird, ist sonst im Höllenfahrtskontext üblich. – Eine direkte Applikation des Tollite-Dialogs auf die Himmelfahrt ist anderweitig belegt (vgl. Wilcke, Himmelfahrtsspiel, S. 294). 41 Das Folgende lässt sich auch auf das »Bozener Himmelfahrtsspiel« aus der Mitte des 15. Jahrhunderts übertragen, das Raber wohl als Vorlage für sein Cavaleser Spiel benutzt hat. Die Himmelfahrt ist hier (vgl. Lipphardt/Roloff, Spielarchiv, V. 733–762) auch textlich fast identisch. 42 Die Antiphon entstammt der Liturgie zu Christi Himmelfahrt; vgl. Hesbert, Corpus, Nr. 1493.

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wölbe verschwindet. Mit dem dreimaligen Aufzug einer Christusfigur integriert das Spiel einen im Spätmittelalter vielfach belegten paraliturgischen Himmelfahrtsbrauch43 und reklamiert damit auch für sich einen sakralen Charakter.44 Doch darüber hinaus, stellt das Spiel auch die transformatorische Bedeutung des dargestellten Heilsgeschehens heraus. Zu diesem Zweck setzt es seine genuinen, nicht liturgischen, sondern theatralen Zeichen ein, nämlich die den Himmelfahrtsprozess begleitenden und beschließenden Figurenreden. Und indem diese Reden darauf zielen, die Ereignishaftigkeit der gespielten Grenzüberschreitung Christi in die Realität des Publikums zu transponieren, setzt auch das Cavaleser Spiel, ganz analog zum Klosterneuburger Spiel, seine theatralen Zeichen dazu ein, die Ästhetik des performativen Dreischritts zu ritualisieren. Die drei in seine Himmelfahrt integrierten Abschiedsreden Christi beruhen motivisch auf der Synthese zweier Abschiedsszenen der biblischen Quelle. Aus dem Himmelfahrtskontext stammt, nach der Paraphrase der ›Ascendo‹Antiphon am Beginn der ersten Rede (V. 651 u. 653; Joh 20,17), nur noch die Segnung der Jünger in der dritten Rede (V. 663–666; Lk 24,50 mit Mt 28,19f.). Dazwischen sind sie aus Motiven kompiliert, die den Abschiedsreden Christi vor seiner Gefangennahme im Johannes-Evangelium entstammen: die Verheißung eines von Gott gesandten troster[s], des johanneischen Paraklets (V.  654f.; Joh 14,16), die Ankündigung der Entfernung des Herrn, die sich den Jüngern als heilbringend erweisen werde (V. 652 u. 659; Joh 16,7), und das Versprechen seiner freudenvollen Wiederkehr (V.  661f.; Joh 16,22). Auf einer ähnlichen Quellensynthese beruhen auch die beiden Engelreden nach der Himmelfahrt, in denen die Parusierede aus der biblischen Himmelfahrtserzählung (V. 671–676 u. 683f.; Apg 1,11) kombiniert ist mit der Weltgerichtsprophezeiung aus dem MatthäusEvangelium (V. 677–680 u. 685–694; Mt 25,31.34.41), aus der die Notwendigkeit für die Angesprochenen abgeleitet wird, auf das Seelenheil zu achten, sich vor Sünden zu hüten und die aus dem Heilsereignis zu ziehenden Lehren einzuhalten (V. 681f. u. 695f.). In allen Reden macht die Quellensynthese deutlich, dass das Spiel nicht nur die Himmelfahrt an sich, sondern auch die gründende Funktion des Ereignisses zur Darstellung bringen will: Die Himmelfahrt wird als Gründungsakt der heilsgeschichtlichen Zeit zwischen der Entrückung Christi und seiner endzeitlichen Parusie inszeniert. Deshalb wird auch der Charakter dieser Zwischenzeit eindringlich ausgemalt: die Absenz des Erlösers (V. 651, 657, 659, 43 Gugitz, Himmelfahrts-Fest, S. 35–37. – Zu paraliturgischen Himmelfahrtsfeiern allgemein: Weber, Umsetzung; zu den in diesen Feiern verwendeten Christus-Plastiken und den Funktionalisierungen des Kirchengewölbes: Tripps, Bildwerk, S. 117–119 u. 192–200. 44 Dem dienten wohl auch weitere den Himmelfahrtsvorgang begleitende Zeichen: Kerzen in den Händen der Engel (vor V. 651), Orgel- und Flötenmusik (ebd. u. vor V. 671) sowie die Anordnung der anderen Bühnenfiguren, die kniend vmb die mit (vor V. 651) den auffahrenden Christus als Gegenstand der Anbetung zentrieren.

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670) und seine Ersetzung durch den zurückgelassenen Segen (V. 663–666), bei seinen Anhängern ein Heilsverlust (schwer, laiden, schmertz, V.  656, 658, 662) und Trostbedarf (V. 655f., 667) sowie die Erwartung künftigen Heils (gwinn, frumenn, ewig freud, V. 652, 659, 669) und des Seelengerichts (s.o.), auf die schließlich einige übliche Verhaltensimperative (schickht unnd huetet euch, merckht, pehalt, V.  681f., 683, 696) bezogen sind. Das Cavaleser Spiel inszeniert Christi Himmelfahrt als Gründungsereignis eines Weltzustands, der geprägt ist von der Jenseitigkeit des Erlösers und Seelenrichters sowie von daraus resultierender Heilsunsicherheit und moralischer Maßregelung. Dieser Weltzustand gilt aber in gleicher Weise für die biblischen Jünger des Spiels wie für dessen aktuelles Publikum. In der von der Himmelfahrt begründeten heilsgeschichtlichen Zwischenzeit sind die Zeiten der Jünger und des Publikums zu einer gemeinsamen Gegenwart vereint. Dementsprechend bringen auch die zwei Engelreden die Realitätsdifferenz zwischen ihren beiden Adressatengruppen zum Verschwinden. Anfangs zwar unterschiedlich adressiert erst an die Spielfiguren (ier galileisch man, V. 671) und dann an das Publikum (ier frauenn und ier man, V. 683), münden beide Reden schließlich aber in den gleichen Appell, dass man eingedenk des zukünftigen Seelengerichts sich vor der sunden mael huet[en] (V. 682) und die im Spiel besprochenen gepot unnd lere pehalt[en] (V. 696) solle. Im paränetischen Appell löst sich die Realitätsdifferenz zwischen Spielfiguren und Publikum auf. Und auch die Christusfigur wird von diesem Verfahren nachträglich erfasst, indem die Differenz zwischen dem, den das Publikum soeben zur Kirchendecke hat fahren sehen, und dem, den es zum Jüngsten Gericht erwartet, sprachlich aufgehoben wird: wie ir Jesum habt sehen auffaren Jn sein tron | Allso kumbt er am Jungsten tag (V. 684f.). Reflektiert wird darin eine Möglichkeit der Wahrnehmung, auf die zuvor auch schon die Christusreden implizit abgezielt hatten. Zwar ist die dritte dieser Reden ausdrücklich an die Jünger des Spiels gerichtet (V. 663), doch kann ansonsten jede der Verheißungen und Segnungen, die in den 17 Mal (!) gebrauchten Pronomina ier, euch, eur ganz unspezifisch adressiert sind, auch auf das Publikum bezogen sein. So gewinnt schon in den Christusreden die dargestellte Himmelfahrt eine Ereignishaftigkeit, die unterschiedslos für die Jünger des Spiels wie für das Publikum gilt.45 Wie das »Klosterneuburger Osterspiel« bindet auch das »Cavaleser Himmelfahrtsspiel« die Performativität der Dreifachwiederholung in einen Handlungszusammenhang ein, der dem Strukturmuster eine rituelle Funktion zuweist. Der formale Effekt der dreistufigen Himmelfahrt transponiert die Ereignishaftigkeit 45 Symptomatisch dafür ist auch, dass die Christusfigur beim dritten Anlauf ihrer Himmelfahrt und der Spielleiter am Ende seiner das Spiel beschließenden Rede sich mit demselben Satz verabschieden: damit ich nun vonn hinnen schayd (V. 670 u. 1070). Ihren Abschied nehmen der eine wie der andere aus derselben Realität – der des Publikums.

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der dargestellten biblischen Situation in die Realität des Publikums, das sich somit als Teilnehmer dieser Situation erfahren kann. Das Schauspiel wird zum Modus einer rituellen Wiederholung des Gründungsereignisses der christlichen Kirche. Neben den bisher in den Blick genommenen Ritualisierungen lassen sich nun aber auch Funktionszuweisungen an den performativen Dreischritt beschreiben, die man mit Fug wohl Literarisierungen nennen darf. Die beiden Arten von Funktionalisierungen stellen im geistlichen Spiel Alternativen dar, die meinem Überblick nach szenengebunden sind: Neben Szenentypen, die ein bevorzugter Gegenstand von Ritualisierungen der beschriebenen Art sind, stehen Szenentypen, die für eine Literarisierung ihres Zeichengebrauchs offenbar besonders geeignet waren. Ich beschreibe das letztere Verfahren an einer Beispielreihe zu einem Szenentyp, der in den deutschen Passionsspielen wegen seiner heilsdidaktischen Exemplarizität der verbreitetste Szenentyp im Vorfeld des Passionsgeschehens ist: an der Bekehrung der Maria Magdalena.46 Wie in den bisherigen Beispielen dient der performative Dreischritt auch hier dem formalen Ausdruck der Ereignishaftigkeit und Transformatorik einer erzählten Grenzüberschreitung; doch im Gegensatz zu den oben beschriebenen Ritualisierungen werden nun Tendenzen der Abschließung der Spielrealität als einer Realität sui generis erkennbar, nämlich einer fiktionalen Welt, die auf eine Literarisierung des Strukturmusters und des theatralen Spiels hinauslaufen. Ich bereite die Beispielreihe zunächst mit einem Spiel vor, dem »Donaueschinger Passionsspiel« aus dem späten 15. Jahrhundert, das die Bekehrung der Magdalena ohne einen performativen Dreischritt inszeniert und dadurch auf eine Leistungsfähigkeit des Strukturmusters aufmerksam macht, die seiner Verwendung wohl besonders in literarischen Kontexten zugrunde liegt. Das Donaueschinger Spiel inszeniert Marias Konversion, wie es auch sonst in den Spielen üblich ist, nicht als einen inneren Vorgang, sondern als eine Umkehr, die in sichtbaren Zeichen, vor allem in einer räumlichen Bewegung vollzogen wird: Die Bekehrung wird als Abkehr vom Raum des Weltlebens und als Übertritt in den Raum des Heils inszeniert; das transgressive Moment, das der Konversionsbewegung innewohnt, ist zu einer räumlichen Grenzüberschreitung veräußerlicht.47 Konstituiert wird die Grenze, die Maria überschreitet, dabei nicht 46 Zur Magdalena-Figur im geistlichen Spiel allgemein: Adam, Maria Magdalena; zur Bekehrungsszene: van den Wildenberg-de Kroon, Weltleben, und Weitbrecht, Performanz. 47 Zur Transgressivität von Marias Weltleben und Bekehrung vgl. Röcke, Maria Magdalena. Es ist freilich charakteristisch für das geistliche Spiel, dass es nur die eine Transgressionsrichtung ›von der Sünde zum Heil‹ zur Darstellung bringt. Die entgegengesetzte Transgression (S. 82 u. 84), in der ›die Sünde‹ auch eine faszinierende Qualität gewinnen kann, wird nicht dargestellt und m.E. auch implizit konterkariert, nämlich dadurch, dass die ›höfische‹ Kennzeichnung der Sündenwelt im Spiel (s.u.) an einen ›anti-höfischen‹ Affekt seines städtischen Publikums appelliert. Vgl. auch Eming in diesem Band.

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nur durch eine bühnentechnische Anordnung der zwei Spielstationen von, wie es in der Handschrift heißt, Marias ›Garten‹ (der gart marie magdalene) und dem ›Haus‹ des Simon Pharisäus, in das Christus mit seinen Jüngern einkehrt (Symons huß),48 sondern auch durch oppositionelle Klassifikationen dieser beiden Räume: Marias Bühnenraum wird aufwändig als Raum adelig-höfischer Geselligkeit semantisiert – als Raum von fröd, kurtzwil, güttem muott (vor V. 83, V. 86, 88, 90 u.ö.), in dem man hoffrecht und hoffieren tut (V. 129 u. vor V. 131), sich eines gehobenen Sprachregisters bedient (convivium, V. 108, stoltzer lib, V. 122, spacieren, V. 155) und mit Tanzmusik und Schachspiel verlustiert (V. 87, 91, 110f. u.ö.) – und wird auf dieser Basis auch als Raum der sünden (V. 172) gewertet; dagegen wird Simons Bühnenraum als Negation dieses Sündenraumes beschrieben – als Raum der Gegenwart des Erlösers, der nit schimpflichs triben kan (V. 166), alle Sünden hin nimpt (V. 162f.) und deshalb Maria in ihrem höfischen Weltleben ann fächti, anfechten mag (V. 168–170). Entsprechend dieser Klassifikationen, drückt sich auch Marias Bekehrung zunächst in mehreren Gesten der Negation aus: Maria stößt das Schachspiel von sich (in der Handschrift gleich zweimal vermerkt: vor V. 173 u. 177) und fordert die Entfernung der Requisiten ihres Weltlebens (Tünd dannen […], V. 177) wie auch ihrer Gäste (gand hin […], V. 179).49 Ihre Konversion besteht in einer gestischen Distanzierung von den Klassifikationen des Raumes der Sünde. Damit wird die Grenzüberschreitung, der Übertritt in den Raum des Heils, zu dem Maria sich dann auf den Weg macht (V. 180, 185, 193 u.ö.), an die Zurückweisung jener Klassifikationen kausallogisch gebunden. Und auch die Gültigkeit von Marias Heilserwerb bringt das Spiel durch räumliche Distanzierung zum Ausdruck: An den Bühnenort ihres Weltlebens kehrt Maria nicht wieder zurück.50 Der Beweggrund für Marias Umkehr bleibt jedoch merkwürdig unbestimmt. Die Wertung, dass ihr Weltleben sünde sei, wird von einem Diener des Simon vorgesprochen (V. 172) und von Maria übernommen (V. 188 u. 196), ohne dass dies diskursiv verhandelt, z.B. einem Erkenntnisvorgang zugeordnet wäre. Das Spiel hält Marias Konversion vielmehr dezidiert frei von diskursiver Begründbarkeit, indem es ihr die gängigen Ansatzpunkte zu argumentativen Begründungen der Umkehr entzieht51 und an deren Stelle das Moment des Irrationalen setzt: ein ›Er48 Zitiert aus der Liste der für das Spiel benötigten hüsser vnd höff, die in der Handschrift dem Spieltext vorangeht. – Zur mittelalterlichen Stationenbühne: Michael, Frühformen. 49 So inszeniert das Donaueschinger Spiel ›das Böse‹ nicht im Sinne der augustinischen ›privatio boni‹ (Röcke, Maria Magdalena, S. 83), sondern, überspitzt gesagt, ›das Gute‹ als ›privatio mali‹. Die geistlichen Spiele sind im Kontext von Marias Bekehrung an Natur und Erscheinung ›des Bösen‹ nur unter der Prämisse seiner Erledigung interessiert. 50 Nach der Sündenvergebung durch Christus in Simons Haus begibt sie sich in den Bühnenraum der Lazarus-Familie (vor V. 347), wo sie auch später wieder auftritt (vor V. 1191). 51 Die Mahnreden anderer Spielfiguren, die solche Ansatzpunkte üblicherweise enthalten (s.u.), sind im Donaueschinger Spiel in einen anderen Zusammenhang verschoben worden:

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schrecken‹ nämlich, das Maria laut Regiebemerkung nach dem sünden-Vorwurf des Dieners und vor ihrer Abkehr vom Weltleben pantomimisch ausdrücken soll: magdalena […] sitzt also erschrockenlich stil alsob sy ir förcht (vor V. 173).52 Dieses Erschrecken ist aber als Ausdruck des Erkenntnis- und Umkehrmoments von ambivalenter Aussagekraft. Einerseits enthebt das Erschrecken Marias Konversion aller diskursiver und situativer Voraussetzungen und versieht sie dadurch mit einem universalen Geltungsanspruch: Weil die Konversion keiner Argumentation folgt (die man teilen kann oder nicht), keiner Beredsamkeit (die überzeugend sein kann oder nicht), keinem Autoritätsgestus (der reproduzierbar ist oder nicht), keinen Zeitumständen (die gegeben sind oder nicht) usw., kann sie als umstandslos vorbildlich wahrgenommen werden – ein Erschrecken vor der eigenen sünde (worin auch immer sie bestehen mag) kann jedermann allzeit teilen. Solche Umstandslosigkeit lässt sich andererseits aber auch als Zufälligkeit missverstehen, so dass der Versuch des Spiels, der Konversion Marias mittels ihres Erschreckens eine universale Geltung zuzuschreiben, in Gefahr steht, sich selbst zu konterkarieren.53 Genau diese Ambivalenz der Darstellung universaler Vorbildlichkeit wird nun in denjenigen Spielen vermieden, die dieselbe Strukturstelle in Marias Bekehrungsgeschichte, die das Donaueschinger Spiel mit dem Erschrecken besetzt, durch den performativen Dreischritt formalisieren: Der Dreischritt, der zu Marias Umkehr führt, enthebt die Konversion ebenfalls aller diskursiver und situativer Umständlichkeit, bewahrt sie aber zugleich auch vor jeglichem Anschein von Zufälligkeit. Im »Benediktbeurer Passionsspiel« aus dem 13. Jahrhundert wird Marias Umkehr durch eine dreifache Verkündigung eines Engels bewirkt. Nach einer einleitenden Darstellung ihres sündigen Weltlebens mit Teufel, Liebhaber und Einkaufsszene (V. 19–52) tritt dreimal ein Engel zu der schlafenden Maria und verkündet mit einer lateinischen Strophe, dass Christus, der Vergeber der Sünden und Erlöser der Welt, im Haus des Simon zum Gastmahl sitze (V. 53–61, 88–96, 105–113). Zweimal zeitigt diese Strophe keine Wirkung, denn die erwachende Maria singt jeweils die gleichen zwei Strophen, mit denen sie schon zu Beginn der Szene ihr Weltleben besungen hatte (V. 19–26) und in denen sie die Freuden und zeitlichen Güter der Welt preist (V. 62–69, 97–104). Die Rekurrenz der Strophen Nach Konversion und Christusbegegnung bilden sie, aus dem Munde von Marias Geschwistern Martha und Lazarus (V. 347–352 u. 363–372), den Auftakt zu einer gesondert dargestellten »Reintegration« Marias in ihre Familie (Kasten, Ritual, S. 347). 52 Zur Diskussion um die Einschätzung solcher Regiebemerkungen in der Handschrift vgl. Wolf, Wirklichkeit, und Toepfer, Performativität. 53 So auch Dauven-van Knippenberg, Fransen, S. 302. Dass das Spiel einem solchen Anschein wiederum »Mechanismen der Providenzsicherung« entgegenstellte, nämlich in der Parallelisierung von Magdalenen- und Simon-Christus-Handlung (S. 299), ist mir allerdings nicht einsichtig.

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markiert die Situationsidentität dieses Weltlebens, die trotz der Engelsbotschaft andauert: Zweimal führt Maria ausdrücklich unverändert ihr Leben fort. Nach der dritten Verkündigung des Engels singt sie allerdings zwei neue Strophen, in denen sie ihr Leben als sündhaft und verderblich beklagt (V.  114–117) und die Requisiten dieses Lebens verwünscht (V. 119–122). Und ähnlich wie im Donaueschinger Spiel werden diese Requisiten dann entfernt: Maria tauscht ihre »weltliche Kleidung«, vestimenta secularia, gegen einen »schwarzen Mantel«, nigrum pallium, aus, und ihr »Liebhaber«, amator, zieht sich samt Sekundanten, dem diabolus, zurück (vor V. 119). Und ebenso vergleichbar dem Donaueschinger Spiel ist Marias Gesinnungswandel auch hier diskursiven und situativen Voraussetzungen entzogen,54 denn weder lassen sich Begründungen für den Wandel aus den Strophen Marias und des Engels ableiten, noch kann die Konversion auf eine thaumaturgische Wirkmacht des Gottesboten zurückgeführt werden (die Eingebung des Engels in den Schlaf der Maria bleibt ja zweimal wirkungslos).55 Doch im Unterschied zur Donaueschinger Bekehrungsszene wird Marias Umkehr hier auch von einem möglichen Verdacht auf Zufälligkeit freigehalten, indem die Konversion an die Vollständigkeitssymbolik des performativen Dreischritts gebunden ist: Dass Marias Umkehr sich einstellt, erscheint als Effekt der dreimaligen Wiederholung der englischen Eingebung. Ob man in der Benediktbeurer Bekehrungsszene einen Reflex von magischen Vorstellungen sehen darf, kann in meinem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass die Magie im Spiel gespielte Magie wäre. Ein magischer Wirkmechanismus wäre hier nur mehr zitiert in und umfunktionalisiert zu einer poetischen Technik. So erweist sich erneut der performative Dreischritt als ein Strukturmuster, das verschiedenartigen Funktionalisierungen zugänglich ist. Seine Ritualisierung im Sinne magischer Vorstellungen wäre im Benediktbeurer Spiel wohl ebenso wie in den vorher besprochenen Fällen wesentlich an die Dissimulation der Grenze zwischen Spiel- und Publikumsrealität gebunden, an die Evokation einer Teilhabe des Publikums an Marias Bekehrung. Doch auf dergleichen gibt der Text des Benediktbeurer Spiels keinen Hinweis. Das Donaueschinger Spiel wie auch die im Folgenden zu besprechenden Spiele lassen vielmehr erkennen, dass das Passionsspiel generell auf eine Ritualisierung der Bekehrungsszene nicht abzielte, sondern im Gegenteil dadurch, dass es die Rea54 Vgl. Adam, Maria Magdalena, S. 240. 55 Anders im späteren, textlich mit dem Benediktbeurer Spiel verwandten »Wiener Passionsspiel«: Hier wird Marias Umkehr nach zwei Mahnsprüchen ihrer Schwester Martha (V.  338–343) und des Dieners des Simon (V.  374–390) erst durch die Aufforderung des Engels (V. 391–402) herbeigeführt, so dass die Ursache der Umkehr nicht nur auf die dreimalige Wiederholung der Mahnung, sondern auch auf die besondere Autorität der dritten Sprecherfigur projiziert werden kann. – Zu den Besetzungen der Mahnerfunktion in den Spielen vgl. van den Wildenberg-de Kroon, Weltleben, S. 94–106.

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lität des Spiels als einer Realität sui generis gegenüber der Realität des Publikums explizit abgrenzte und abschloss, den heilsdidaktischen Demonstrationswert dieses Szenentyps zu erhöhen versuchte. Das in einer St. Galler Handschrift überlieferte »Mittelrheinische Passionsspiel« aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts56 versieht im Unterschied zum Benediktbeurer Spiel das Bekehrungsgeschehen mit deutlichen Ansätzen einer Diskursivierung, und zwar vor allem in den argumentativ gestützten Appellen von Marias Schwester Martha. Dreimal ruft Martha die fatalen Konsequenzen aus Marias Weltleben auf: Gott habe den Menschen das Leben gegeben, damit sie sich sein Reich verdienten (V. 168–173); Maria befinde sich stattdessen auf geradem Weg in die Hölle (V. 198–203); wer aber am jüngsten Tag in Freuden auferstehen wolle, müsse sein törichtes Leben aufgeben (V. 244–249). Zweimal weist Maria diese Warnungen jedoch zurück, indem sie Marthas Motive denunziert: Du dedest ez auch, werestu als ich. | Nu bist du gar vnminnenclich (V. 178f.) und Ich weiz wol, daz ist din groste leit, | daz du nit salt wesen gemeit | als ich (V. 206–208). Und nach Marthas drittem Appell zeigt Maria sich zugänglich für die Argumente der Schwester, gibt den Tand der werelte auf und will ihre missedat büßen (V. 250–257). Doch trotz solcher diskursiver Anreicherung präpariert auch dieses Spiel das unbegründete Umschlagsmoment der Konversion scharf heraus. Hatte Maria in der zweiten Sequenz noch Marthas Hinweis auf die dorheit der Sünderin (V. 199) als neidgeboren denunziert, nimmt sie nun in der dritten Sequenz dasselbe Stichwort der Schwester (V.  249) in einer Sentenz auf, die Marthas Argumente bruchlos fortführt: Wer ir [sc. der dorheit] wil lange walten, | der wirt von gode geschalten (V. 250f.). Geknüpft an das Signalwort dorheit, schlägt der in den ersten beiden Sequenzen vorgeführte maximale Dissens zwischen Maria und Martha nun in der dritten Sequenz unvermittelt um in maximalen Konsens. Wie das Benediktbeurer Spiel begründet auch das St. Galler Spiel den Bekehrungsumschlag allein mit der Effektivität der dreifachen Wiederholung des in Marthas Reden geführten Diskurses. Doch der Dreischritt besitzt im St. Galler Spiel auch weitere Funktionen. Das Bekehrungsgeschehen ist hier mit einem Zeitindex versehen, der zum einen die umstandslose Vorbildlichkeit des Bekehrungsgeschehens in Frage stellen kann. Marthas zweite Mahnrede wird von Maria unter anderem damit abgetan, dass sie ihr das gleiche auch gestern schon gepredigt habe (V.  205); und die dritte Sequenz des Geschehens leitet Maria mit der Ankündigung ein, abir der Freude leben zu wollen als e, weil nun des suszen megen zit anbreche (V.  240–242). Die drei Sequenzen der dargestellten Geschichte sind in zeitliche Relationen zueinander gestellt, von denen die zweite (›früher‹ vs. ›jetzt zur Maienzeit‹) die 56 Die Forschung lokalisiert das Spiel im Allgemeinen in Mainz oder Worms; für Oppenheim plädiert neuerdings Macardle, Passion Play, S. 123–164.

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Vorstellung eines unbestimmten längeren Zeitraumes evoziert. Verstärkt wird diese Vorstellung noch dadurch, dass die drei Sequenzen im Spielzusammenhang unterbrochen sind durch zwei Episoden des Wirkens Jesu (Jüngerberufung und Pharisäerprobe mit der Ehebrecherin), so dass die Geschichte von Weltleben und Bekehrung der Maria Magdalena hier mit der Zeit des Wirkens Jesu zeitlich parallelisiert wird. Auf diese Weise wird im Spielverlauf thematisch, dass die Bekehrungshandlung, die schließlich in die Geschichte dieses Wirkens einmündet, zeitlicher Kontingenz unterliegt: Dass Maria sich gleich nach ihrer Bekehrung zu Christus kere[n] kann (V. 258), liegt auch daran, dass dieser gerade, wie Martha meldet, in dise stat gekommen ist (V. 271). Explizit gemacht werden damit sowohl eine situative Einschränkung des exemplarischen Gehalts von Marias Bekehrung als auch die Funktion des performativen Dreischritts, dieser Einschränkung entgegenzuarbeiten. Das in seiner zeitlichen Kontingenz vorgestellte Geschehen bleibt durch seine Formgebung dem Anschein von Zufälligkeit entzogen. In der Vollständigkeitssymbolik des Dreischritts wird angezeigt, dass dem reuigen Sünder der Zugang zum Erlöser nicht gelegentlich, sondern kategorisch offensteht. Die im St. Galler Spiel thematisierte unbestimmte Zeitlichkeit der Bekehrungsgeschichte bringt aber auch eine Diskrepanz zwischen den Zeiten des Dargestellten und der Darstellung zur Sprache. Das Spiel differenziert die Geschichte gegenüber ihrer Aufführung, schließt die Realität des Spiels gegen die Realität des Publikums ausdrücklich ab. In diesem Rahmen zielt der performative Dreischritt aber nun nicht mehr darauf, der narrativen Ereignishaftigkeit Geltung auch in der Publikumsrealität zu verschaffen; er verleiht dieser Ereignishaftigkeit nur mehr formalen Ausdruck innerhalb der erzählten Geschichte. Der Dreischritt fungiert als ein erzählerischer Darstellungsmodus: Er überführt den dargestellten Zeitverlauf, narratologisch gesprochen, in eine ›iterative‹ Erzählstruktur, die einem prägnanten ›Frequenzgesetz‹ unterstellt ist,57 das die Unbestimmtheit der dargestellten Zeit in der Darstellung zu einer symbolisch kodierten und formal hergestellten Geschlossenheit bringt. Ich werte diese Funktionalisierung des Dreischritts in dem oben explizierten Sinne als ›literarisch‹.58 So wird im St. Galler Spiel nachvollziehbar, was im Benediktbeurer Spiel nur hypothetisch zu konjizieren ist: eine Literarisierung der Ästhetik des performativen Dreischritts. Noch deutlicher wird dies im »Künzelsauer Fronleichnamsspiel« aus dem Jahr 1479. Auch hier sind Marthas Aufforderungen an die Schwester, sich von ihrem Weltleben abzukehren, erst im dritten Versuch erfolgreich. Wie im St. Galler Spiel sind Marthas Argumente zwar variiert, doch ebenso klar als Wiederholungen markiert: Dreimal beginnt Marthas Mahnung mit der Apostrophe Magdalena, libe swester mein (V.  2426, 2444, 2458), und dreimal endet sie mit der Auffor57 Begriffe nach Genette, Erzählung, S. 83 u. 89. 58 Siehe Anm. 29.

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derung ker oder beker dich (V.  2427f., 2450, 2463). Die Performativität dieses Dreischritts ist allerdings kaum mehr relevant. Denn in Marias Antworten auf Marthas Mahnungen bildet das Spiel nun tatsächlich einen Erkenntnisprozess ab, der die Konversion vorbereitet und zu begründen vermag: Während Marias erste Antwort lediglich aus Zurückweisung (Was wiltu swester zarta, V.  2431) und Kontrafaktur (Kert euch al an mich, V.  2436) besteht, erkennt ihre zweite Antwort Marthas Mahnung bereits als rat an, der geeignet sein mag, die sel zu bewarn (V. 2453 u. 2455), woran dann in Marias dritter Antwort ihre Bereitschaft anknüpft, der schwesterlichen ler zu volgen (V.  2467) und ihre grosen sunden fur bas ymmer zu lan (V. 2469–71). Die Erklärung für Marias Umkehr wird im Künzelsauer Spiel verlagert von der Performativität des Dreischritts in Marthas Mahnungen auf einen dreischrittigen Erkenntnisvorgang in Marias Antworten. Das Strukturmuster bringt das Umkehrmoment nicht mehr zum Ausdruck, sondern dient allein noch einer symbolischen Schließung des Erkenntnisvorgangs. Denn ähnlich wie im St. Galler Spiel wird auch hier die Interaktion zwischen Maria und Martha mit einem Zeitindex versehen, indem der Prozessionsleiter des Künzelsauer Spiels die Szene mit der Feststellung einleitet, dass Martha ihre Schwester deglich ermahnt habe (V. 2416); und der Gefahr, dass die Serialität der »täglichen« Mahnungen Marthas die Konversion der Magdalena dem Anschein des Zufälligen aussetzen könnte, wirkt die Formgebung der Darstellung wiederum entgegen. Die zeitliche Kontingenz, die in der dargestellten Geschichte aufscheint, wird in der symbolischen Vollständigkeit des performativen Dreischritts ausgestrichen. Als Strukturmuster des theatralen Handlungsvollzugs leistet der Dreischritt hier, wo sein formaler Effekt funktionslos wird, nichts anderes mehr als ein literarisch-rhetorisches Darstellungsmittel, das seinen Ort auch in einem Märchen, einer Novelle, einer Ballade usw. finden könnte.59 Ambivalenzen des geistlichen Spiels – sie können in der Tat den überlieferten Texten eingeschrieben sein. Im Fall des performativen Dreischritts besteht die Ambivalenz in der dem Strukturmuster innewohnenden Möglichkeit, einerseits ›rituellen‹ und andererseits ›literarischen‹ Handlungszusammenhängen und -zwecken funktional zugeordnet, dienstbar gemacht zu werden. Die Ästhetik des Dreischritts ist prinzipiell offen für Ritualisierungen und für Literarisierungen. Abhängig sind die funktionalen Zuordnungen von den Kontexten, in denen das Strukturmuster verwendet wird, also von einem Gebrauch der theatralen Zeichen des Spiels, der einerseits darauf gerichtet sein kann, das teilnehmende Publikum über eine Präsenzerfahrung des dargestellten Heilsgeschehens als 59 Das »Prinzip[] der Ostentation« in einem emphatischen Sinne ist sicher das wesentliche Konstituens des Fronleichnamsspiels (Röper/Scheuer, Deutgeister, S. 477). Ein vergleichender Blick zeigt aber auch, dass dieses Prinzip (auch innerhalb eines Spieles) in einer komplexen Konkurrenz steht mit anderen Funktionalisierungen des theatralen Zeichengebrauchs.

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Glaubensgemeinschaft rituell zu konstituieren, und andererseits darauf, das dargestellte Geschehen als eine eigene, fiktionale Realität von der Publikumsrealität abzuheben, etwa zu didaktischen Zwecken. In der Ambivalenz des performativen Dreischritts zwischen Ritualisierungs- und Literarisierungsmöglichkeiten wird somit eine postulierte Ambivalenz des geistlichen Spiels zwischen ›Ritualität‹ und ›Theatralität‹ textanalytisch verifizierbar. Sie löst sich auf in die fallweise, d.h. text-, szenen- und situationsspezifisch realisierte Möglichkeit, dem theatralen Spiel eine rituelle Präsenz zu geben oder eine Distanz, in der es, analog etwa zu neuzeitlichen Dramen, zu einer Art literarischen Theaters gerät.

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Glenn Ehrstine Eine meisterliche Fälschung? Zum Warning’schen Begriff der Pseudokommunikation

Beinahe fünfundvierzig Jahre sind vergangen, seitdem Rainer Warning 1974 mit »Funktion und Struktur« die mediävistische Spielforschung aufgewirbelt hat. Wie nähert man sich einem Werk, an dem sich die Geister immer noch dermaßen scheiden, dass auch nach anderthalb Forschergenerationen kein Konsens über seinen Erkenntnisgewinn erzielt worden ist? Man könnte selbstverständlich nach alter Manier wissenschaftsgeschichtlich vorgehen und die Bedeutung des Strukturalismus für Warnings Studie herausarbeiten, etwa in der mythischen Gegenüberstellung von Gott und Teufel oder in der Aufmerksamkeit, die Warning der Reihenfolge der Höllenfahrts- und Auferstehungsszenen im Osterspiel schenkte.1 Oder man verfährt rezeptionsgeschichtlich und verweist auf die zunächst stark ablehnende Aufnahme durch Friedrich Ohly,2 gefolgt von einer allmählichen Nutzbarmachung durch Jan-Dirk Müller, Ingrid Kasten, Walter Haug und andere,3 die schließlich 2001 unter dem Titel »The Ambivalences of Medieval Religious Drama« in eine englischsprachige Ausgabe von Warnings Buch mündete, die von der anglo-amerikanischen Spielforschung durchaus wohlwollend aufgenommen wurde.4 Dank dieser Ausgabe ist die wissenschaftssowie rezeptionsgeschichtliche Vorarbeit für unsere folgenden Überlegungen in weiten Teilen bereits geleistet, einmal durch die von Hans Ulrich Gumbrecht im Vorwort vorgenommene Würdigung des von Warning Geleisteten, und einmal durch ein eigenes Nachwort von Warning selbst, bei dem er seine Ergebnisse neu

1 Warning, Funktion und Struktur. 2 Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur. 3 Müller, Mimesis und Ritual; Müller, Kulturwissenschaft, S.  72–74; Müller, Symbolische Kommunikation, S. 340–343; Kasten, Ritualität und Emotionalität, S. 337–344; Haug, Warning, Ohly, S. 362–366; Quast, Vom Kult zur Kunst, S. 109–139; Petersen, Ritual und Theater. Für einen Gesamtüberblick über die Stellung von Warnings Thesen in der jüngeren mediävistischen Spielforschung, vgl. Schulze, Geistliche Spiele, S. 12–15. 4 Warning, Ambivalences; Sponsler, Rez. zu: Warning, Ambivalences; Watkins, Bedevilling, S. 70–73.

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akzentuiert und eine erste Replik auf Müllers Modifizierung seiner Deutung des Passionsspiels als Sündenbockrituals gibt.5 Von dieser Ausgangsbasis aus will ich hier einen dritten Weg einschlagen und mich Warnings Ambivalenztheorie zunächst über die Sozialgeschichte nähern, um dann begriffskritisch vorzugehen. Es geht mir in erster Linie um eine Fruchtbarmachung von Warnings Ambivalenzen auf möglichst breiter Basis, um über die Verständigung mit anderen Diskussionsteilnehmern einen Ausweg aus der von Haug beklagten Pattsituation zu finden,6 die trotz jüngerer Annäherungen im Hinblick auf die weiterhin geäußerten Vorbehalte gegenüber Warnings Theorien die Spielforschung, wie mir scheint, immer noch in einigen Bereichen hemmt.7 Im Mittelpunkt steht ein Begriff Warnings, den bereits Ohly und Haug tangiert haben,8 der aber in der sonstigen Auseinandersetzung mit Warnings begrifflichem Instrumentarium, bekannt durch Stichworte wie »Mythos«, »Kerygma« und »Ausgrenzung«, bis jetzt keine wesentliche Rolle gespielt hat, nämlich der Begriff der Pseudokommunikation, der die Basis für Warnings Analyse des Passionsspiels liefert. Nach einer ersten Analyse der Schlüsselstellung der Pseudokommunikation im Warning’schen Theoriengebilde wird zu zeigen sein, wie die religionsnegierende Funktion der Pseudokommunikation in Warnings Argumentation zu einer einseitigen Begriffsbesetzung von »Ambivalenz« führt, die bis jetzt das Haupthindernis für eine vorbehaltslose Übernahme von Warnings Thesen gebildet hat. In einem letzten Schritt versuche ich, ein modifiziertes Verständnis des Ambivalenzterminus zu etablieren, um eine neue Grundlage für den interpretatorischen Umgang mit den Mehrdeutigkeiten des mittelalterlichen Theaters zu legen, die die christlichen Aspekte der Spiele nicht ausschließen will. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels sind den Texten eingeschrieben, das steht außer Frage, nur nicht im paganisierenden Sinne Warnings. Beginnen wir an dem Punkt, an dem Warning auch begonnen hat, nämlich bei dem mangelhaften Interesse der Spielforschung vor 1974 an der eigentlichen 5 Gumbrecht, Warning’s Book Recontextualized, in: Warning, Ambivalences, S.  IX–XVI; Warning, Ambivalences, S.  249–260. Neben diesem Nachwort sei auch auf zwei weitere Aufsätze Warnings verwiesen, in denen er seine Thesen präzisiert und bekräftigt: Warning, Hermeneutische Fallen; Warning, Das Imaginäre. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit Warnings Thesen auf wissenschaftsgeschichtlicher Basis liefert auch Haug, Warning, Ohly. 6 Vgl. Haug, Warning, Ohly, S. 366–367. Ich möchte an dieser Stelle vor allem Jutta Eming und Hans-Rudolf Velten für ihre während der Tagung erfolgten Anregungen danken. 7 Neben Müller hat sich vor allem Jutta Eming im Kontext der Gewaltdarstellung im Mittelalter gewinnbringend mit Warning auseinandergesetzt: Eming, Marienklagen, S. 801–803; Eming, Sprache und Gewalt, S. 31f., 38f. Kritische Stimmen finden sich u.a. bei Ridder, Erlösendes Lachen, S. 201, 205; Freise, Geistliche Spiele, S. 21, 34–36, 367f., 381, Anm. 141; 382, Anm. 144; und neuerdings vor allem bei Bockmann, Inszenierung. 8 Vgl. Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur, S.  133–135; Haug, Warning, Ohly, S. 370.

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Funktion des geistlichen Spiels. Warnings Feststellung auf der ersten Seite seiner Einleitung kann man nur beipflichten: Ein flüchtiger Blick auf die Forschung zeige, dass sie »bis in die jüngste Zeit hinein kaum vermochte, diesen Gegenstand einer reflexionslos-positivistischen Gelehrsamkeit zu entreißen und unter historisch-hermeneutischen, geschweige denn unter systematischen Gesichtspunkten zu aktualisieren« (S. 7). Warnings Studie war und ist natürlich die Antwort auf diese Situation, sprich der Versuch einer solchen Systematisierung, und zwar unter institutionell-strukturellen Gesichtspunkten. So wertvoll die Ortung von Warnings theoretischem Ansatz zwischen der Sozialanthropologie Arnold Gehlens, dem Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’ und der Systemtheorie Niklas Luhmanns auch sein mag:9 Sie allein reicht jedoch nicht aus, um »Funktion und Struktur« in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu würdigen. Die radikale Stringenz, mit der Warning seine gewählte Methodik verfolgte und die Ohly und andere so befremdend fanden: Sie ist viel eher in den gesellschaftlichen Umwälzungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre zu orten, einer Zeit also, in der überkommene Deutungs- und Wertungsmodelle hinterfragt und verworfen wurden.10 Die Ungeduld gegenüber vordergründigen Erklärungen, die Polemisierung gegen Harmonisierer oder, anders ausgedrückt, gegen die Mitläufer vom Fach: das erinnert einen stark an die Kritik an verkrusteten Gesellschaftsstrukturen sowie an die Aufforderung zur Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit an deutschen Hochschulen, die sich in bekannten Sprüchen äußerte wie: »Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren«. Die Unzufriedenheit mit unreflektierten Erklärungsmodellen, die in Warnings Ambivalenztheorie mündete, ist ein geistiges Erbe der zweiten Nachkriegsgeneration in Deutschland, dem auch jüngere Forschergenerationen sich verschreiben können. Warnings Unzufriedenheit richtete sich allerdings nicht nur gegen die bisherige mediävistische Spielforschung, sondern auch gegen die Kirche als gesellschaftliche Institution. Gewiss ist Warning nicht der erste gewesen, der in teleologischer Selbstsicherheit von der inzwischen als irrtümlich erkannten Prämisse ausgegangen ist, dass die Religion als Erklärungsmodell ausgedient habe.11 Anstatt jedoch die Religion schlichtweg aus dem (geistlichen) Spiel zu lassen – und jüngere sozial- und kulturhistorische Untersuchungen des mittelalterlichen städtischen Spielbetriebs zeigen, dass man dies durchaus mit Gewinn tun kann12 – re9 Gumbrecht, Warning’s Book Recontextualized, in: Warning, Ambivalences, S. xii. 10 Vgl. Rosenberg/Münz-Koenen/Boden, Geist der Unruhe. 11 Einen kritischen Überblick über gängige Säkularisierungs- sowie neuere Desäkularisierungsthesen bietet Pollack, Religion und Moderne. 12 Die vielleicht bedeutendsten Untersuchungen der letzten Jahre zu den geistlichen Spielen des deutschen Mittelalters sind diejenigen, die die Spiele in ihrem sozialhistorischen Umfeld situieren, in dem die religiösen Interessen der Spielschaffenden gleichwertig neben anderen kulturellen Aspekten berücksichtigt werden. Vgl. Greco-Kaufmann, Theater und szenische

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kurrierte Warning bekanntlich auf die Thesen Robert Stumpfls, der das religiöse Theater des deutschen Mittelalters als die Fortsetzung von germanischen Kultspielen deuten wollte. Diese vermeintlich pagane Ebene der Spiele setzte Warning einem Mythos gleich, der in Opposition zur christlichen Verkündigung des heilbringenden Kerygmas stand. Warnings Hauptthese von der Zurückspielung des Kerygmas in den Mythos durch die Spiele dürfte den meisten Lesern bekannt sein, so dass ich hier nicht weiter darauf eingehen will. Festhalten möchte ich nur, dass es in Warnings Perspektive bei den Spielen nicht nur um etwas anderes als christliche Religion ging, sondern dass die Spiele das Christentum als Kulturkraft des europäischen Mittelalters grundsätzlich in Frage stellten.13 Das Anti-Kirchliche, ja sogar Anti-Christliche an »Funktion und Struktur« tritt am deutlichsten bei dem bereits erwähnten Warning’schen Begriff der Pseudokommunikation hervor. Warning geht hier von der Beobachtung Frederick P. Pickerings aus, dass die oft bildlich ausgedruckten alttestamentlichen typologischen Präfigurationen der neutestamentlichen Passion Christi ihren Symbolgehalt bei späteren Passionsspielen und -traktaten meist verlieren und zu bloßen Bildern verblassen. Pickering hat diesen Prozess »Entsymbolisierung« genannt und betrachtete ihn als einen Vorgang, »in dem man ein ursprüngliches Symbol der Kreuzigung so behandelt, als ob es das comparatum in einem Vergleich wäre: Christus am Kreuz ist wie eine Harfe, wie ein Bogen«.14 Von Pickerings Entsymbolisierung – eingedenk der Nebenbemerkung Ohlys, »als ob Symbole und nicht Metaphern im Spiel wären«15 – ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem von Alfred Lorenzer für seine Metathese der Psychoanalyse geprägten Begriff der »desymbolisierten Pseudokommunikation«, die Warning wie folgt definiert: Desymbolisierung meint hier eine durch Verdrängung ausgelöste Regression bewußter Repräsentanzen (›Symbole‹) in unbewußte (›Klischees‹). Diese Regression ist – weiter nach Lorenzer – gekennzeichnet durch Überwiegen eines szenisch-situativen Aspekts, der das Objekt gleichsam aufsaugt, ihm seine symbolische Fassung nimmt. An die Stelle reflexiv begriffener Situationen treten unbegriffene Szenen, in denen die Verdrängung das Ganze einer ursprünglich symbolisch vermittelten Situation zerschlagen hat, um die verpönten Situationsanteile zu desymbolisieren. (S. 209)

Mit anderen Worten: Da die typologischen Metaphern für den Leidensweg Christi im Spätmittelalter ihren wahren Symbolgehalt verloren haben, ist alles, Vorgänge in der Stadt Luzern; Wolf, Frankfurter Dirigierrolle – Frankfurter Passionsspiel; Vogelgsang, Alsfelder Passionsspiel; Freise, Geistliche Spiele. 13 Warning hat seine Grundthese 2004 in verschärfter Form so ausgedrückt, »dass sich ein christlicher Ludus nur gegen die Interessen christlicher Theologie konstituieren und insistieren konnte« – Warning, Das Imaginäre, S. 343–344. 14 Warning, Funktion und Struktur, S. 208f.; Pickering, Das gotische Christusbild, S. 33. 15 Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur, S. 133.

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was sich nachher dieser Metaphorik bedient und sich in ihr ausdrückt, sinnentleert. In Warnings Analyse gilt dies in erster Linie für das Passionsspiel, aber er will den Begriff schließlich auf das geistliche Schauspiel schlechthin hinausdehnen, wie im folgenden längeren Zitat zum Ausdruck kommt. Von hier her aber eröffnet sich die Möglichkeit, die Rede von der meisterlichen Fälschung über das Passionsspiel hinaus auf das Gesamtphänomen ›geistliches Spiel‹ auszudehnen und solchermaßen unsere Formel vom Zurückspielen des Kerygmas in eine mythisch-archetypische Dimension mit Lorenzers Desymbolisierungsbegriff zu vermitteln. Wir haben damit den Schlüssel zu einem Streit gefunden, der so alt ist wie die geistlichen Spiele selbst. Gerade die desymbolisierte Pseudokommunikation, die meisterliche Fälschung erweist sich nun nämlich als verantwortlich für die scheinbar unlösbare Frage, ob diese Spiele die Sache der Kirche wahrnahmen oder nicht. Diese Pseudokommunikation erklärt, daß die Spiele vordergründig tatsächlich mit kirchlicher Lehre harmonisierbar scheinen und daß es schon mühsamer Analysen bedarf, der Fälschung auf die Schliche zu kommen. Was hier wirklich statthatte, was »über den Kopf der Individuen hinweg sich durchsetzte«, war offensichtlich weder den Autoren noch dem Publikum noch den kirchlichen Institutionen durchschaubar. (S. 211)

Bei seiner Replik auf Müller im Nachwort der 2001 erschienenen Übersetzung seiner Studie beruft sich Warning erneut auf die Pseudokommunikation.16 Spätestens hier muss ich mich wohl oder übel dem Warning’schen Vorwurf der Harmonisierung aussetzen, denn wenn weder Spielautoren noch Zuschauer noch Klerus im vollen Bewusstsein ihres Tuns agiert hätten, hätte es das geistliche Spiel nie gegeben. Pickerings Entsymbolisierung ist jedenfalls keine Verdrängung, und es ist auch sonst nicht klar, was aus der Perspektive des christlichen Mittelalters an den biblischen Spielstoffen oder Heiligenlegenden verpönt oder verdrängungswürdig gewesen wäre, um eine der Pseudokommunikation zugrunde liegende Regression auszulösen.17 Selbstverständlich muss man bei der Deutung der Spiele stets voraussetzen, dass Autoren, Akteure und auch Zuschauer nicht nur aus religiösen Beweggründen, sondern auch aus säkularen, eigennützigen, ja gar paganen Motiven handelten. Das geistliche Spiel jedoch als sinnentleerte Pseudokommunikation zu deuten, heißt, den Teilnehmern am mittelalterlichen geistlichen Spielbetrieb jegliche Autonomie als handelnde Subjekte abzuspre16 Warning bezieht sich an dieser Stelle auf die desymbolisierte Pseudokommunikation, um für eine »dedifferenzierte« Publikumsrezeption des Passionsgeschehens auf der Bühne zu argumentieren, bei der die Zuschauer nicht fähig seien, den Reigen der körperlichen Malträtierungen Christi als Spiel im Spiel zu erkennen. Warning, Ambivalences, S. 257. 17 Warning erklärt diese Verdrängung an anderer Stelle »hypothetisch« so, dass die anthropologischen Grundbedürfnisse des Menschen, die sich von der Außenwelt ableiten, vonseiten christlicher Theologie, die die Außenwelt zugunsten einer seelischen Verinnerlichung neutralisieren will, einem Verdrängungsdruck ausgesetzt sind. Warning, Das Imaginäre, S. 343.

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chen.18 In der Auseinandersetzung mit dem literaturkritischen Irrglauben an ein »Intentional Fallacy«, das Autorenintentionen bei der Interpretation eines Werkes ausklammert, hat Jody Enders vor kurzem zeigen können, dass man gerade beim Theater einen folgenschweren Irrtum begeht, wenn man meint, die Absichten der Spielschaffenden als belanglos abtun zu können.19 Das Theater als Medium lebt geradezu von der Intentionalität: Der Fiktionalitätsvertrag, den Zuschauer und Spieler auch beim geistlichen Spiel miteinander schließen,20 hängt von Erwartungen des Zugelassenen und Beabsichtigten bei allen Beteiligten ab; Kippphänomene sind ohne diese (konterkarierte) Intentionalität unmöglich. Intentionen, sowohl verstandene als auch missverstandene, wurzeln wiederum in der Subjektivität. Worin soll aber die Ambivalenz sonst bestehen, wenn nicht in der Subjektivität der Rezeptionsebene? Vor dem Hintergrund der religionsnegierenden »Pseudokommunikation« tritt nun die Einseitigkeit der Warning’schen Begriffsbesetzung von »Ambivalenz« deutlich hervor. Außer einer Nebenbemerkung, dass es bei Freud einen Ambivalenzbegriff gibt (S. 212), lässt Warning den Hauptterminus seiner Studie weitgehend undefiniert, was in den jüngeren Kulturwissenschaften der Regelfall zu sein scheint.21 Wenn man das Wort auf etymologischer Basis erfassen will, dann heißt »Ambi-Valenz« Doppeldeutung bzw. »zweipolige Deutung«. Und dennoch: von den »Ambivalenzen des Fastnachtspiels« zu reden, käme mir fehl am Platz vor. Nicht dass es beim Fastnachtspiel keine Doppeldeutigkeiten gibt, die Gattung lebt ja von der Lust an der Verkehrung, aber gerade das scheint der Unterschied zu sein: In der Fastnacht sind die Doppeldeutigkeiten gewollt, während beim geistlichen Spiel mindestens eine Ambivalenz unbeabsichtigt bzw. unterschwellig ist. Bei der Zweipoligkeit oder gar Mehrpoligkeit der Valenzen ist eine Valenz durchaus die von den Spielinitiatoren intendierte Hauptvalenz – die »manifeste Funktion«22, wie Warning sie an anderer Stelle nennt – während andere ungewollte oder zumindest zweitrangige Valenzen Nebenvalenzen sind. Auf den ersten Blick scheint Warnings »Funktion und Struktur« mit dieser Ambivalenzdefinition vereinbar zu sein. Vordergründig ging es in den Spielen um das Kerygma, die in die Zukunft gewandte Verkündigung der christlichen Heilslehre, während sie in ihrer unterschwelligen Valenz das Kerygma in den Mythos zurückspielten. Im Hinblick auf die Pseudokommunikation ist die unterschwellige, mythische Valenz in Warnings Argumentation allerdings keine Nebenvalenz mehr, sondern die (von den Zeitgenossen freilich nicht erkannte) 18 Vgl. Ehrstine, Spielpublikum, S. 114f. 19 Vgl. Enders, Murder by Accident, S. 11. 20 Müller, Realpräsenz, S. 115; Eming, Gewalt, S. 14. 21 Berndt/Kammer, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, S. 8. Ähnlich Bockmann, Inszenierung, S. 141, 158. 22 Warning, Das Imaginäre, S. 352.

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Hauptvalenz. Und die vermeintlich beabsichtigte, christliche Hauptvalenz ist eigentlich, wie wir gerade sahen, eine meisterliche Fälschung, eine Pseudovalenz, die keine Relevanz für sich beanspruchen kann. Mit anderen Worten: Wenn man von Ambivalenzen erwarten darf, dass beide Valenzpole Gültigkeit besitzen, mal so, mal so, dann sind Warnings Ambivalenzen keine echten. Warning lässt vielmehr nur eine Bedeutungsebene des geistlichen Spiels gelten, die des Mythos. Bei dieser Einpoligkeit hat Warnings mythische Ambivalenz eher die Funktion einer Latenz, und Warning stellt in der Tat Ambivalenz und Latenz in der Einleitung zu seiner Studie gleich: In diesem Sinne ist die Ambivalenz von Kerygma und Mythos zur Leitthese der hier vorgelegten Untersuchung gemacht. Sie besagt, daß die Fragen, auf die das geistliche Spiel Antwort ist, nicht oder zumindest nicht primär in jener Dimension anschaubarer Heilsvermittlung zu suchen sind, in denen es sein offizielles Selbstverständnis artikuliert. Seine primären Bezugsprobleme sind latent, sie liegen in derjenigen Dimension, in der Gehlen die von ihm so genannten »nichtbewußten kulturanthropologischen Kategorien« der »unbestimmten Verpflichtung«, der »Stabilisierung« und »Entlastung« durch »Darstellung« ansetzt. Auf sie werden die archetypischen Strukturbildungen der Spiele zu beziehen sein. (S. 27)

Das Passionsspiel hat demzufolge die latente Funktion eines Sündenbockrituals (S. 212). Bei Warnings sonstigem Wunsch nach Systematisierung (S. 5, 7) wäre der konsequentere Titel seiner Studie »Funktion und Struktur. Die Latenz des Geistlichen Spiels« gewesen. Wenn außerhalb der deutschsprachigen mediävistischen Spielforschung von den Ambivalenzen des geistlichen Spiels gesprochen wird, dann stets in dem Sinne, dass eine Valenz die christliche manifeste Funktion ist, selbst wenn eine unbeabsichtigte Valenz überwiegt, und sei sie auch noch so unchristlich.23 Es ist daher kein Zufall, dass die Forschung sich in der Rezeption von »Funktion und Struktur« gerade für die Ambivalenzfälle interessierte, die nicht notwendigerweise als Reflexe eines paganen Spielsubstrats verstanden werden mussten. Dies betrifft vor allem die ritualisierten, reigenhaften Malträtierungen Christi im Passionsspiel, in denen eine ästhetisierte Gewalt zum Vorschein kommt, »eine fröhliche Gemeinschaftlichkeit beim Foltern«24, die sich einer christlichen Funktionalisierung scheinbar widersetzt. Warning interpretiert diese stilisierte Folterung Christi bekanntlich als Sündenbockritual, das im Mythischen wurzelt. Jan-Dirk Müller schließt sich dieser Deutung an, macht jedoch auf die unterschiedlichen Ebenen des Spiels aufmerksam, einmal die theatrale Mimesis des Spielgeschehens, in der das Sündenbockritual abläuft, und daneben die Rezeptionsebene der 23 Vgl. Groebner, »Abbild« und »Marter«, S. 226; Beckwith, Christ’s Body, S. 5. 24 Müller, Mimesis und Ritual, S. 564. Zu den verwandten Szenen französischer Spiele vgl. auch Enders, The Medieval Theater of Cruelty, S. 120–129, 198f.

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versammelten christlichen Gemeinde, die durch ihre heilsgeschichtliche Perspektivierung die Folterung Jesu als böses Ritual versteht.25 Nicht die Zuschauer sind es, die das Sündenbockritual ausagieren, sondern die im Spiel agierenden Juden, die den christlichen Salvator vergeblich zu zerstören suchen. Das blutige Opfer ist nach Müller also tatsächlich aus der Eucharistie »ausgegrenzt«26, wird aber durch das Spiel in den christlichen Kult neu eingebunden. Überhaupt sind die antijüdischen Elemente der Spiele für mich die Hauptambivalenz des geistlichen Spiels schlechthin: Die herzzerreißenden Szenen, in denen die Mutter Maria unter Tränen die Zuschauenden zur compassio aufruft, stehen in unmittelbarer Nähe zur erbarmunglosen Verfluchung der Juden als Mörder Gottes und können gleichzeitig gewaltstiftend wirken.27 Hier ist durchaus Latentes im Spiel. Und doch negiert diese Latenz eine christliche Funktionalisierung der Spiele nicht, sondern scheint sie leider zu fördern. Auf jeden Fall bestätigt Müllers modifizierende Interpretation des Sündenbockrituals auf einleuchtende Weise, dass Kerygma und Mythos als Ambivalenzen nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen, sondern durchaus nebeneinander bestehen können. Das gilt auch für die strukturelle Ebene der Spiele: Höllenfahrt und Erlösungsgeschichte bedienen sich in der Überwindung des Bösen oft mythischer Erzähl- und Deutungsmuster.28 Das mittelalterliche Christentum war in weit stärkerem Maße als heute gelebte Religion, die alle Bereiche des öffentlichen wie auch privaten Lebens durchströmte. Da soll es nicht wundern, wenn es Einiges gab, was aus heutiger Sicht einer ambivalenzlosen Systematisierung widerstrebt. Wenn man Ambivalenzen als heuristischen Begriff für die Bedeutungsebenen des geistlichen Spiels auffasst, die neben einer religiösen Funktionalisierung der Spiele mitschwingen und diese zuweilen unterlaufen, ist das völlig unproblematisch. Aber wenn man mit Ambivalenzen den Spielen eine christliche Funktion partout absprechen will, dann ist Vorsicht geboten. Ich möchte also dafür plädieren, dass wir künftig den Ambivalenzbegriff als genuin zweipoliges Interpretament einsetzen, das die religiösen und nicht-religiösen Aspekte der Spiele gleichermaßen respektiert. Gleichzeitig sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass Warning als Erster verstanden hat, dass man das geistliche Spiel nicht deuten kann, ohne seine Ambivalenzen zu berücksichtigen. Wenn wir also in diesem Sinne an Warning anknüpfen und weiterhin nach der Funktion der Spiele fragen wollen: Wo beginnen wir? Die Antwort in institutio25 Vgl. Müller, Mimesis und Ritual, S. 563–568. 26 Ebd., S. 568. 27 Vgl. Kasten, Ritualität und Emotionalität, S.  352–358; Müller, Symbolische Kommunikation, S.  340–343; Wenzel, Rolle und Funktion der Juden; Wolf, Ghettoisation; Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen. Zur judenfeindlichen Funktionalisierung mittelalterlicher christlicher Literatur überhaupt, vgl. Rubin, Gentile Tales. 28 Vgl. Bockmann, Inszenierung, S. 145, 154, 157.

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nellen Systemen zu suchen, die Spiele mit Doktrin und Dogma gleichzusetzen: Das scheint mir das Problem am falschen Ende anzupacken. Wie bereits gesagt: Ambivalenzen wurzeln in der Subjektivität, und wir kommen dem funktionellen »Sitz im Leben« der Spiele viel näher, wenn wir ernsthafte Überlegungen über die Rezeption der Spiele anstellen. Auch wenn man die Anfänge eines theatral vermittelten Christentums in der sich verselbständigenden Osterfeier als Teil der Messe sucht: Die Spiele des Spätmittelalters, die spektakulären Massenereignisse, die außerhalb der Kirche stattfanden und breite Schichten der städtischen Bevölkerung miteinbezogen, sind Ausdruck einer urbanen Laienfrömmigkeit, die ihr Heil jenseits von kirchlichen Institutionen und offizieller Theologie gesucht hat. Ich schließe mich hier also Walter Haug an, der in den »subjektiven Seiten der Gotteserfahrung«, die sich im Laufe des Spätmittelalters in ungewohntem Maße herausgebildet haben, den Schlüssel für das Verständnis des geistlichen Spiels sieht.29 Wir müssen uns also viel gründlicher mit Andachtspraktiken und populärer Theologie beschäftigen, um Antworten auf die Fragen zu liefern, was die Spielbesucher angezogen hat und wie sie sich die Aufführungen zu eigen gemacht haben. Hierzu gehört, wie Haug auch zu bedenken gibt, »die Erfindung des Purgatoriums«30. Und mit dem Purgatorium, also dem Fegefeuer, sind wir gleich beim Ablass, der nicht allein gegen Geld, sondern auch gegen spielbegleitende Gebete und Andachtshandlungen zu erwerben war und kraft dessen die Spielbesucher eine Reduzierung der im Fegefeuer abzusitzenden zeitlichen Strafen für sich erwirken konnten.31 Die Gewährung eines Ablasses für den Spiel- bzw. Prozessionsbesuch ist in mindestens 11 Städten im deutschen Sprachraum belegt,32 und wir sind inzwischen durch die entschlüsselten Aufführungsbelege des »Zerbster Fronleichnamsspiels« in der Lage, uns genaue Vorstellungen eines spielbezogenen Ablassbetriebs zu machen.33 Der Ablass gehörte zwar zur Institution Kirche und hing in seiner Wirksamkeit von den klerikal zu überprüfenden Voraussetzungen von Beichte, Buße und Andachtshandlung ab.34 Im Laienverständnis reichte jedoch oft die subjektiv geleistete Andacht, beispielsweise durch Tränen der Reue, um 29 Haug, Warning, Ohly, S. 371. 30 Ebd. 31 Vgl. Müller, Kulturwissenschaft, S. 69. 32 Nach der Belegsammlung von Bernd Neumann erhielt man Ablass für den Spiel- bzw. Prozessionsbesuch in Aschersleben, Augsburg, Calw, Hameln, Helmstedt, Kamenz, Luzern, Mainz, Straßburg, Wien und natürlich auch Zerbst, vgl. Neumann, Geistliches Schauspiel, Nr. 32, 34, 35/3 [Anm.], 1055, 1944, 1946, 1969, 2106, 2258, 2660, 3024, 3399. 33 Vgl. Ehrstine, Ablass, Almosen, Andacht; Ehrstine, Raymond Peraudi in Zerbst. Der erste Aufsatz widmet sich den performativen Aspekten des Fronleichnamsspiels, während der zweite den Implikationen des Zerbster Spielbetriebs für das vorreformatorische Ablasswesen nachgeht. 34 Vgl. Swanson, Indulgences, S. 226.

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in den Genuss des versprochenen Strafnachlasses zu kommen.35 Das Beispiel Zerbsts zeigt, dass das geistliche Spiel auch als Ablassmedium fungierte, mit entsprechenden Bezügen zu anderen Ablassmedien wie Andachtsbildern und Reliquien.36 Anstatt die Kreuzigung mimetisch vorzuspielen, ersetzte man sie in Zerbst durch die Aufrichtung eines Ablasskreuzes, der zentralen Devotionalie der vorreformatorischen päpstlichen Ablasskampagnen in Deutschland, die Martin Luther in der 79. seiner 95 Thesen verdammt hat.37 Bei der erectio crucis ertönte in Zerbst außerdem das Responsorium Tenebrae factae sunt, das die Sterbensworte Christi musikalisch vergegenwärtigt und durch seine emotionelle Wirkung auch in anderen Andachtskontexten die für den Ablass nötige Reue sicherstellen sollte.38 Das Zerbster Spiel fungierte als als Inszenierung einer »christlichen Materialität« und eröffnet neue Perspektiven auf die spielinterne Funktion von liturgischen Gesängen.39 Last, not least: Durch die Verzeichnung der Spiel- bzw. Ablasserlöse und deren Kollekte in sogenannten Sammeltafeln erlauben die Zerbster Quellen einen einmaligen Blick auf das geistliche Spiel als vitale Wirtschaftskraft einer spätmittelalterlichen Stadt, gefördert durch Spenden des Spielpublikums. Geld redet eine eindeutige Sprache, und die jährlichen Überschüsse in den Zerbster Spielrechnungen, die bis zur örtlichen Reformation 1522 reichen, zeugen von dem Glauben der Spielbesucher, durch die Kombination von frommer Gabe und andächtigem Schauen an der versprochenen Heilswirkung des Spiels teilnehmen zu können. Ich befürchte, offen gestanden, dass wir in der Auseinandersetzung mit Warnings Ambivalenzen und in der resultierenden Differenzierung zwischen Ritual und Theater Warnings Urfrage nach der Funktion des geistlichen Spiels bisweilen aus den Augen verloren haben. Die Religion ist selbstverständlich nicht der alleinige Schlüssel für die Spiele, man kann sie nicht erschließen, ohne sich mit Fragen der Politik, Bühnentechnik, Kunstgeschichte, Gender-Rollen, usw. – sprich, mit allen Bereichen einer modernen Kulturwissenschaft – zu beschäftigen.40 Aber die Hauptfunktion der Spiele war und ist eine christliche, daran führt kein Weg vorbei. Es ging Spielorganisatoren wie Zu-

35 Vgl. ebd., S. 224–277. Zu den Tränen der Reue, die auch in den Augen kirchlicher Autoritäten wie Bernhard von Clairvaux sündenvergebend zu wirken, vgl. Schreiner, Brot der Tränen, S. 205. 36 Vgl. Hamm, Die Medialität der Nahen Gnade, S. 42. 37 Vgl. Luther, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, 237, Z. 15–16. 38 Vgl. Ehrstine, Ablass, Almosen, Andacht, S. 111–113. 39 Bynum, Christian Materiality. Zur Funktion der Gesänge im geistlichen Spiel vgl. auch Janota, Gesänge. Überhaupt erlaubt jetzt die neue kommentierte Edition der Melodien zu den lateinischen Osterfeiern von Ute Evers und Johannes Janota, die für Warning so wichtige Urform des mittelalterlichen geistlichen Spiels auch aus musikwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren: Evers/Janota (Hgg.), Osterfeiern. 40 Ähnlich Linke, Drama und Theater, S. 43.

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schauern bei der Aufführung um ihr eigenes Seelenheil, ein Seelenheil, das jeder riskiert hätte, wäre er den Spielen gegenüber ambivalent gewesen.

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Hans Rudolf Velten Kontrastmedium – Lachritual – Unterhaltung. Zur Bewertung der Komik im Krämerspiel

1. Ambivalenzen des Heiligen? In seinem 1995 erschienenen Buch »Homo Sacer« nennt der italienische Philosoph und Kulturtheoretiker Giorgio Agamben die Theorie der Ambivalenz des Heiligen einen »wissenschaftlichen Mythos«, der sich in der viktorianischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts (Robertson Smith) herausgebildet hatte und über Sigmund Freuds »Totem und Tabu« bis ins 20. Jahrhundert, zu den Klassikern der Anthropologie und der Religionssoziologie (Marcel Mauss, Émile Durkheim) sowie zur Linguistik Benvenistes reichte.1 Die These, dass das Heilige deshalb ambivalent sei, weil es das Tabu der Berührung des Reinen mit jenem der Berührung des Unreinen verbinde, fand sogar Eingang in die Wörterbücher: »Sacer bezeichnet denjenigen oder dasjenige, was man nicht berühren kann, ohne verunreinigt zu werden oder zu verunreinigen; von daher der Doppelsinn von heilig oder verflucht,« so heißt es im Eintrag zu »sacer« ins »Dictionnaire étymologique de la langue latine«.2 Agamben dekonstruiert hier die Schaffung des Mythos vom homo sacer als doppeldeutiger Hyperbel, als »überschreitender Signifikant«. Besonders scharfe Kritik übt er an Durkheims Formel der »zwei Varianten von ein und derselben Art« und an Rudolf Ottos Konzept des Heiligen als einer Kontrastharmonie von mysterium fascinans und mysterium tremendum, nach Otto die beiden konstitutiven Seiten des Numinosen. Für Agamben ist dies eine »Theologie, der jeglicher Sinn für das offenbarte Wort abhandengekommen ist«3. Ob Agamben nun Recht hat und sacer weniger mit einer Ambivalenz als mit einer doppelten Einschließung durch die Gewalt im Sinne einer sacratio zu verbinden ist, wie er im Folgenden darlegt, mag ich hier nicht weiter verfolgen. Es geht mir eher um die radikale Infragestellung eines doppelsinnigen Begriffs, 1 Agamben, Homo Sacer, S. 85. 2 Ebd., S. 89, zit. n. Ernouts »Dictionnaire étymologique de la langue latine« unter dem Lemma »sacer«. Diese Definition wurde wenig später von Caillois, Der Mensch und das Heilige, übernommen und hat sich in Folge mit widersprüchlichen Bedeutungen aufgeladen. 3 Ebd., S. 90.

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einer methodischen Dichotomie, an die wir auch heute noch gewöhnt sind und die – im Lichte von Agambens historischer Semantik – »nicht nur nichts erklärt, sondern selbst erklärungsbedürftig ist«4. Ich bin mir nicht sicher, ob die Herausgeber dieses Bandes auch an eine solche radikale Infragestellung wie diejenige Agambens gedacht haben, als sie den Ambivalenzbegriff zum Anlass für die hier geführte Diskussion nahmen. Zumindest streben sie – so ist es in der Einleitung zu erkennen – eine Problematisierung des Paradigmas »Ambivalenzen des geistlichen Spiels« an. Dass Dichotomien, denen Ambivalenz eingeschrieben ist, wie Liturgie und Spiel, Kult und Kunst, Aufführung und Text usw., als wirkungsvolle Setzungen besonders leistungsfähig sind, daran dürfte es keinen Zweifel geben. Aber sind sie auch immer gerechtfertigt? Ich verstehe die Aufgabe dieses Bandes in der Weise, kritisch nachzuprüfen, ob Ambivalenzen dem geistlichen Spiel tatsächlich strukturell eingeschrieben sind oder ob sie vielmehr ein griffiges methodisches Instrument sind, die Widersprüche und Dissonanzen, die uns (historisch) nicht mehr einsichtig sind, mit dem biegsamen Begriff des Doppeldeutigen zu erklären und somit zu bewältigen, aber nicht zu lösen. Ich möchte im Folgenden dieser Frage anhand eines locus classicus des Ambivalenten, des Krämerspiels im deutschsprachigen Osterspiel, nachgehen. Für moderne Beobachter erscheint dieses Spiel ganz und gar unheilig und in seiner sprachlichen Erscheinung völlig unpassend zu einem geistlichen Stoff, dies ist mindestens seit Geiler von Kaysersberg und Luther immer wieder betont worden.5 Vor allem die auf Lachen ausgerichtete burleske und obszöne Komik scheint hier erklärungsbedürftig. Freilich spielt die Krämerszene für die gesamte Gattung eine wichtige Rolle: Neben der Auferstehung und der Höllenfahrt ist es gerade sie, welche durch ihre weitgehende Unabhängigkeit von den Evangelien das rituelle Geschehen zum Spiel macht. Auch sind Krämerspiel und Teufelsspiel als zwei Ebenen eines »Gegenspiels« gesehen worden, einer menschlichen und einer transzendenten, die quer zur heilsgeschichtlichen Handlung stehen.6 Die Deutung des Krämerspiels ist bis heute kontrovers, summarisch gesehen sehe ich in der Forschung drei theologische, zwei ritualistische und zwei theatergeschichtliche Thesen, die sich mehr oder weniger gegenseitig ausschließen. Ich will diese Positionen zunächst kurz skizzieren, um danach einige Spieltexte auf ihre Sprach- und Handlungskomik hin zu untersuchen und zum Schluss auf die Ausgangsfrage nach den Ambivalenzen zurückzukommen.

4 Ebd. Vgl. zum Begriff sacer aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel auch Gvozdeva/ Röcke, risus sacer – sacrum risibile, S. 13–15. 5 Vgl. Fluck, Der risus paschalis, S. 220. 6 Warning, Funktion und Struktur, S. 60.

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2. Die These vom Kontrastmedium Als Kontrastmedium für die Markierung des Abstandes zwischen Heilsgeschichte und profaner Realität erscheint die Salbenkrämerszene bereits bei Eduard Hartl.7 Hans-Jürgen Linke führte diesen Ansatz fort und entwickelt daraus die These von der Komik als einem Mittel der »heilspädagogischen Publikumsunterweisung«. Das Krämerspiel sei mit seinem »Unflat« Zeichen für Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen. Linke erkennt hier einen Spiegel für das Publikum, der das Bild von der Wirklichkeit verzerrt entwirft, damit die diesseitige Welt verlacht und so die Möglichkeit einer »Selbstkorrektur« eröffnet werden könne.8 Er geht wenig auf die Komik selbst ein, sondern sieht auch die Krämerszene als Werk klerikaler Verfasser, die einer heilsdidaktischen Intention folgten und mit dem Salbenkrämer ein kontrastives Gegenbild zu Christus als Seelenarzt schufen. Dieser These ist aus verschiedenen Richtungen widersprochen worden: Bernd Neumann und Dieter Trauden sehen die Gegenüberstellung von Medicus und Christus als nicht nachvollziehbar an, denn der eigentliche Protagonist der Szene sei Rubin, »der stets alle Fäden der Handlung in der Hand behält«9. Auch sei der Medicus in vielen Spielen kein Arzt, sondern wie im »Egerer Fronleichnamsspiel« nur Kaufmann und somit gar keine negative Figur. Gerhard Wolf moniert, die These vom Kontrastmedium übersehe die inhaltliche Komplexität und den inszenatorischen Aufwand der Szene. Die auf Normverkehrung beruhende Komik verhindere, einen Text affirmativ oder kritisch zu lesen, sie stehe einsinnigen Lesarten entgegen.10 Eine zweite theologisch motivierte These erklärt die Krämerspiele mit der Notwendigkeit des surrexit-Jubels der Osterfreude als Entspannung, die mit Hilfe des risus paschalis erreicht werde.11 Hanns Fluck stellt die Komik im Krämerspiel in einen Zusammenhang mit den Ostermärlein in der Predigt und bewertet den Einbruch des Komischen als Effekt eines gewünschten Ausdrucks der Freude. Dem ist entgegengehalten worden, dass einige Spiele so umfassende komische Szenen aufwiesen, dass nicht nur freudiges, sondern auch paränetisches bzw. böses Lachen evoziert werde, ein Lachen über soziale Verfehlungen und Gewalt, eines, das dem Publikum im Halse stecken bleibe.12 An diesen unterschiedlichen Funktionen des Lachens wurde wiederum seine Ambivalenz festgemacht. Schon 7 Vgl. Hartl, Das Drama des Mittelalters, S. 132. 8 Linke, Drama und Theater, S. 173f. 9 Neumann/Trauden, »Rubin, du machst wol eyn schalk syn!«, S. 154. 10 Vgl. Wolf, Komische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 303–306. Stattdessen plädiert Wolf dafür, die Komik »als eine Möglichkeit der Perspektivierung gesellschaftlicher Diskurse« zu lesen, S. 315. 11 Vgl. Fluck, Der risus paschalis, bes. S. 211–215; Röcke, Ostergelächter, S. 335–339. 12 Vgl. ebd. u. Wolf, Komische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 306.

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Haug hatte gesehen, dass das bejahende, vitale Lachen auch Aggressivität entwickelt, in ihm werde das Böse personifiziert und wie in einem apotropäischen Ritual ausgegrenzt.13 Eine dritte, mit der zweiten verwandte theologische These argumentiert allgemeiner mit den »Ursprüngen des Komischen in großer Nähe zu der Begegnung mit dem Numinosen«14. Peter Berger sieht im Anschluss an Helmuth Plessner Lachen als Antwort auf etwas, das unauflösbare Widersprüche in sich trage und nicht zu bewältigen sei. Es biete somit Entlastung vom metaphysisch Absoluten. Auch Klaus Ridder sieht mit Verweis auf Blumenberg die Komik als Vermittlungsmodus für das Numinose, Lachen als Möglichkeit der entlastenden Überbrückung der Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen.15 Gegen das Lachen als Modus der Heilsvermittlung hat sich jedoch schon früh Rainer Warning gewandt: die Kirche habe »zu keiner Zeit in der Komik und im Lachen einen genuinen Modus der Heilsvermittlung gesehen«, das Lachen sei Signum einer gefallenen Menschheit.16

3. Ritualistische Thesen Robert Stumpfl führte im Anschluss an Edmund K. Chambers und volkskundliche Forschungen die Motive und Figuren des Krämerspiels auf germanisch-heidnische Muster zurück, was ihm erlaubte, die Krämerszene als Rückbildung aus kultischen Arztspielen zu erklären.17 Er machte deutlich, dass die Figuren Mercator, Mercatrix und Rubin nicht einfach »erfunden« sind,18 sondern einen kultischen Hintergrund besitzen, eine Ansicht, die von der Forschung zum Schauspiel des Mittelalters gemeinhin als ideologisch und hypothetisch bezeichnet wurde 13 Vgl. Haug, Das Komische und das Heilige, S. 13f.; dazu auch Röcke, Ostergelächter, S. 342. 14 Berger, Erlösendes Lachen, S. 243. 15 Vgl. Ridder, Erlösendes Lachen, S. 205. 16 Warning, Funktion und Struktur, S. 109. Bergers Versuch lehnen auch Katja Gvozdeva und Werner Röcke als »essentialistisch« ab. Gvozdeva/Röcke, risus sacer – sacrum risibile, S. 19. 17 Vgl. Stumpfl, Kultspiele der Germanen, S. 240. Stumpfl bezieht sich auf das alttschechische Salbenkrämerspiel »Mastičkář« aus dem 14. Jh., in welchem die Wiederbelebung eines Toten die »Kernszene des ursprünglichen Arztspieles war, in das erst nachträglich die Marienszenen eingeschoben wurden«. Stumpfl nennt das ein Inititationsspiel, einen Ritus von Tod und Auferstehung des Gottes im Jahresdrama. Diese These kann am Text aber nicht belegt werden. Vielmehr konnte die Salbenkrämerszene dazu dienen, Phantasmen der Wiedererweckung (Scheintod als Prophylaxe) nichtchristlicher Kulturen anzulagern. Vgl. dazu Schulz, Die Oster- und Emmausspiele, S. 55–59. Auch Baumann, Der alttschechische »Mastičkář«, S. 180–186, und Jakobson, Medieval Mock Mystery, sehen Stumpfls These als falsch an. 18 Stumpfl, Kultspiele der Germanen, S. 223–234. Der Salbenkauf sei eine nachträgliche Interpolation in ein kultisches Arztspiel; das Heilungsmotiv passe nicht zum geistlichen Vorgang, so Stumpfl.

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(»his conclusions depend on conjectures, dependent on other conjectures«),19 ohne sich jedoch mit seinen Thesen genauer auseinanderzusetzen.20 Dies hat erst Rainer Warning geleistet, der an Stumpfl kritisiert, dass dieser dasjenige, »was germanisch-kultische Spielkontinuität sei, vor den genannten spätmittelalterlichen Spielen allein aus der Tradition des christlichen Osterspiels […] ohne einen einzigen Beleg« rekonstruiere und somit methodisch höchst spekulativ vorgehe. Warning richtet sich gegen die These vom germanischen Substrat der Spiele und betont hingegen das Primat der biblischen Vorlagen.21 Dagegen setzt er seinen eigenen Ansatz von der archetypischen Struktur der Osterspiele mit der Leitthese von der Rückholung des ausgeschlossenen Mythos in das christliche Spiel.22 Er versucht, die Krämerszene in diese These einzubinden, obwohl sie für ihn nicht der zentrale Spielkomplex ist (wie bei Stumpfl), sondern das gespielte Ritual des Descensus. Der Salbenkauf sei durch die Höllenfahrt erst konstituiert, ansonsten erscheine er als unerklärbare Amplifikation der Visitatio. »Erst mit der Besiegung des Teufels ist jener Freiheitsraum erspielt, der nun in der Turbulenz einer fröhlichen Jahrmarktsatmosphäre […] wahrhaft ausgespielt werden kann«, so Warning.23 Die Ambivalenzen des Krämerspiels ergäben sich aus der Koexistenz von christlichem Auferstehungsgeschehen und einer archetypischen Logik der Opposition von Jung und Alt, indem »christliche Ostern und heidnisches ôstarûn gleichzeitig präsent sind, ohne daß das eine das andere explizit dementiert.«24 Ambivalenz meint an dieser Stelle Gleichzeitigkeit: »Die Marien verlieren nichts von ihrer Heiligkeit, und umgekehrt weist auch das Spiel keine Spuren einer Heiligung auf […]. Kerygma und Mythos [überlagern sich], beide in ihrer eigenen Dimension verharrend.«25 Wenn auch diese letzte These schlüssig erscheint, so wird Warnings Kon­struk­ tion bis heute kontrovers diskutiert. Friedrich Ohly machte geltend, dass das Nicht-Kerygmatische ebenfalls Bestandteil des Glaubens sei, vor allem in apokryphen und legendarischen Texten. Seine Kritik bezog sich ferner auf die Ausblendung des christlichen Teufels, der in zahlreichen geistlichen Schriften theologisch 19 Sandbach, Rez. zu: Stumpfl, Kultspiele der Germanen, S. 318. 20 Bis heute fehlt eine genaue Auseinandersetzung mit Stumpfls Thesen in dem Sinne, dass sie näherer Untersuchung würdig wären. 21 Warning, Funktion und Struktur, S. 79. Ähnlich später auch Monika Schulz, die den Medicus als »Vermittlungsgestalt kultischer Überlieferungen« ansieht, der »über den Prozeß der kultischen Entleerung schon längst zum Quacksalber geworden war« – Schulz, Die Oster- und Emmausspiele, S. 56. 22 »In seiner mythisch-archetypischen Wiederholung des Osterereignisses wurde das Spiel offen für Motive und Elemente des heidnischen ostarun[…].« – Warning, Funktion und Struktur, S. 85. 23 Ebd., S. 84. 24 Ebd. 25 Ebd.

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immer präsent gewesen sei und von Warning einfach der abstrakten Kategorie des Mythos zugeschlagen werde.26 Bruno Quast hat bei Warning die Inkonsistenz bemerkt, dass die durch den Descensus weggespielte terroristische Realität des Satans im Seelenfang einfach wieder auftauche.27 Bezüglich des Krämerspiels bietet Warning keine Interpretation der Komik an, er deutet sie ganz rituell im Sinne Stumpfls. Die Frage, wie das sich daraus ergebende rituelle Lachen mit der Überwindung des Bösen übereinstimmen soll, bleibt völlig offen.

4. Theaterhistorische Thesen Zu den frühesten Deutungsversuchen gehört die einfache Unterhaltungsthese, das Krämerspiel sei »fröhliches Unkraut«, die »erste deutsche Burleske«, wie Baeschlin es ausgedrückt hat.28 Stillschweigend wird damit gesagt, dass die Unterhaltung auch der Grund für die komischen Teile der Szene war, im Sinne einer ökonomischen Strategie der Organisatoren, wie dies Neumann und Trauden angenommen haben.29 Dazu passend sieht Katritzky die Wirklichkeit theatraler Verkaufs- und Marketing-Darbietungen auf dem Marktplatz als Quelle für die ausufernden Krämerszenen, was jedoch zu der Frage führt, wo die rituellen Motive und Namen (Rubin, Pusterbalk, Lasterbalk) herkommen.30 Konsens herrscht heute darüber, dass die Krämerszene nicht allein als Unterhaltung angesehen werden kann, denn damit würde unter anderem nicht erklärt, weshalb gerade solche Motive ausgespielt werden, die einen kultischen Hintergrund haben.31 Auch Bedeutung und Funktion der Unterhaltung sind noch nicht näher bestimmt. Allerdings hat die Unterhaltungsthese früh zu Analyse von und Reflexion über Typik und Verlaufsformen der Komik geführt,32 welche in der jüngeren Forschung mit komischen Aufführungsformen späterer Epochen thea26 Vgl. dazu Haug, Rainer Warning, S. 650–657. 27 Quast, Vom Kult zur Kunst, S. 113. 28 Baeschlin, Die altdeutschen Salbenkrämerspiele, S.  20. Baeschlin bezeichnet die Krämerszene als »erste deutsche Burleske« und macht dies am Auftritt der uxor (der Frau des medicus) fest. Ebd. 29 »Die kleineren Osterspiele mussten zu anderen Mitteln greifen. Wollten die Verfasser sicherstellen, dass ein möglichst großes Publikum zu ihren Spielen kam, ihm bis zum Ende beiwohnte und sich während der Aufführung auf es konzentrierte, so hatten sie zunächst Interesse zu wecken und die Zuschauer dann die gesamte Zeit über zu fesseln. Zum Zwecke der Unterhaltung der Anwesenden war aber kaum etwas geeigneter, als komische Elemente in die Handlung einzubauen und einen Possenreißer auftreten zu lassen« – Neumann/ Trauden, »Rubin, du machst wol eyn schalk syn!«, S. 140. 30 Vgl. Katritzky, Performing Medieval Quacks, S. 36. 31 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 108. 32 Baeschlin, Die altdeutschen Salbenkrämerszene, unterscheidet verschiedene Formen der Komik, s.u.

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terhistorisch in Beziehung gesetzt werden, wie etwa bei Katritzky, die zahlreiche Parallelen zur Commedia dell’arte sichtbar macht.33 Eine spezifischer gefasste theatergeschichtliche These erkennt in der Krämerszene ein eigenes, abgeschlossenes Spiel, ein Interludium zur Affektentladung, das in der Nähe des Fastnachtspiels steht und vermutlich von fahrenden Histrionen aufgeführt wurde.34 In der Annahme Walshs ist die Rubinfigur ein »missing link« zwischen den Bühnen der alten Welt (mimus calvus) und dem populären Theater der Renaissance.35 Dagegen wurde eingewandt, dass es keine Belege für die Teilnahme von Fahrenden am Osterspiel gebe,36 dass ein überzeitliches Verständnis von Komik im späten Mittelalter schwer ansetzbar sei und dass mit der These des Interludiums der Zusammenhang von Sakralsphäre und Profansphäre negiert würde.37 Es ist einerseits unschwer erkennbar, dass jede der genannten Thesen einige gute Gründe für die Komik des Krämerspiels vorweisen kann. Andererseits vermag aber keine von ihnen das Aufkommen und die Existenz der längeren Krämerszenen im geistlichen Spiel überzeugend zu erklären. Mit dem Kontrastund dem Ambivalenzbegriff, die sich beide sehr gut für alle Formen der Komik eignen, da das Komische strukturell vom Gegensätzlichen, von der zweideutigen Rede lebt, hat man versucht, die scheinbaren Widersprüche besser zu verstehen. Ambivalenz kann dabei aber kaum mehr als ein notdürftiger Behelfsbegriff sein, der die Widersprüche reduzieren und auf eine griffige Formel bringen soll. Ich meine jedoch, dass die Diskussion im Lauf der Zeit einige Missverständnisse produziert hat, beginnend bei der immer wieder erkennbaren unklaren Bestimmung des Gegenstandes. Was heißt es eigentlich, wenn wir von der Krämerszene sprechen, und worauf beziehen wir uns dabei?

5. Mercator und Medicus In den lateinischen Osterfeiern, die Lipphardt verzeichnet, weisen nur 5% Salben oder Gewürze auf, die die Marien zum Grab bringen. Davon haben 15 Mercator33 Früh sind auch die Verbindungen zum Fastnachtspiel diskutiert worden, etwa am Beispiel der Sterzinger Spieltradition. Vgl. dazu Wolf, Komische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 315. Ähnliche Beziehungen stellt Mathieu für den französischen Sprachraum fest. Mathieu, Le personnage du marchand de parfums, S. 39–71. 34 Walsh, Rubin and Mercator. 35 Ebd., S. 196. 36 Auch wenn Steinbach, der diese These diskutiert, hier seltsam unentschieden bleibt. Vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 35. 37 Linke, Drama und Theater, S. 172f.: Eine solche Auffassung traue dem »Handlungskomplex nur eine äußerlich-dramaturgische, nicht aber auch eine innere religiöse Bedeutung zu […].«

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szenen, und nur in zweien sind zwei Kaufleute vorhanden.38 Bei den lateinischen Spielen ist es ähnlich: mehr als eine Person im Krämerspiel verzeichnen allein der »Ludus paschali« aus Tours, das »Klosterneuburger« und »Benediktbeurer Osterspiel«, dort erscheint jeweils eine uxor apothecarii.39 Manchmal bleibt der Mercator stumm, wie in den Prager Feiern des 13. Jahrhunderts,40 ansonsten halten sich seine Strophen an den überlieferten Bibeltext. Der Mercator ist somit eine ernsthafte Figur, dem sowohl eine Realismus- als auch eine Empathiefunktion zugeschrieben wurde.41 In keinem Fall hat er gegenbildliche Valenz: Die ältere Forschung wollte zwar in den Kaufstrophen von Ripoll bereits Komik erkennen (Dürre), dies ist jedoch von Stumpfl und Warning als liturgische Rückbildung aus der volkssprachlichen Tradition erkannt worden.42 An der Namensgebung des Mercators lässt sich eine Veränderung vom lateinischen zum volkssprachigen Spiel feststellen: Neben dem überall, auch noch in einigen volkssprachigen Spielen (in den Regieanweisungen) verwendeten mercator-Begriff43 finden wir im lateinischen Osterspiel auch den specionarius (Klosterneuburg) und apothecarius (Benediktbeuren), während im volkssprachigen Spiel Bezeichnungen wie institor/paltenere (Muri) sowie medicus (in fast allen Spielen), aber auch kawffman (Wien) und artzt (Ypocras) auftreten. Diese leichte Veränderung in den Namensvarianten deutet personale und inhaltliche Neuerungen an, die das volkssprachige Spiel mit sich bringt, sobald es einmal da ist. Der paltenere im »Osterspiel von Muri« ist jetzt vielmehr ein Krämer, der seine Ware anpreist und der schon zu Verhandlungen mit Pilatus ins Spiel kommt.44 Man kann ihn 38 Vgl. Katritzky, Performing Medieval Quacks, S. 37: Die beiden Spiele mit zwei Kaufleuten sind das »Seckauer (Benediktbeurer) Osterspiel« (Nr. 15 der »Carmina Burana«), vielleicht das älteste Beispiel für ein Quacksalber-Paar. Das zweite ist das »Pfäferser Passionsspielfragment«. 39 Im »Benediktbeurer Osterspiel« erscheint erstmals eine uxor apothecarii, parallel zur uxor pilati. Beide Frauen sprechen im prophetischen Modus, beide weisen auf die Vergeblichkeit hin, die eine auf die Vergeblichkeit der Grabwachenbestellung, die andere auf die Vergeblichkeit, den seelischen Schmerz der Marien zu lindern. Vgl. Herberichs, Plädoyer für den Mercator, S. 269f. Der Apothecarius weist den Marien zum Schluss den rechten Weg zum Grab. Die Mercatorszene ist somit wichtig, sie ist zwar eine transitorische, doch unverzichtbare Station auf dem rechten Weg. 40 Linke, Drama und Theater, S. 161. Auch im »Trierer Osterspiel« wird der Mercator nur angedeutet und bleibt stumm. 41 De Boor weist den französischen Spielen größeren Realismus und stärkere säkulare Tendenz zu; vgl. De Boor, Die Textgeschichte der lateinischen Osterfeiern, S. 355–356. Dagegen argumentiert Herberichs, die Rede des Mercators ginge nicht darin auf, Kaufmannswirklichkeit zu inszenieren, sondern beziehe sich auf das Tun der Marien: ihre Opferbereitschaft, ihren Schmerz, ihre modellhafte Empathie. Vgl. Herberichs, Plädoyer für den Mercator, S. 264. 42 Stumpfl, Kultspiele der Germanen, S. 311. 43 Etwa im »Melker«, »Innsbrucker« und »Wiener Osterspiel«. 44 Auch im »Pfäferser Osterspiel« und in »Erlau III« gibt es zwei Szenen, im »Berliner rheinischen Osterspiel« sogar drei Szenen. Im »Osterspiel von Muri« konstatiert Linke wichtige

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(und die späteren Kaufmannsfiguren) als umherziehenden Händler oder einen in der Quacksalber-Tradition stehenden Salbenkrämer bezeichnen. Mit dem Quacksalber kommen auch andere Personen ins Krämerspiel: vor allem sein kahlköpfiger Knecht Rubin, der von Beginn an als Ausschreier der Waren im Zentrum steht, und die junge Frau des Krämers. Diese Vervielfältigung des Krämerpersonals ist auch in der »Frankfurter Dirigierrolle«, im älteren »Frankfurter Passionsspiel« und im »Alsfelder Passionsspiel« zu beobachten, welche zwei mercatores, einen alten und einen jungen mitsamt ihren Frauen kennen.45 Entscheidend ist aber nun, dass die volkssprachigen Osterspiele von Beginn an durch eine ungezügelte Komik charakterisiert sind, die zuvor nicht da war und die eng mit dem Auftritt des Medicus/Quacksalbers mitsamt seiner Frau und Knecht Rubin zu tun hat. Diese Komik ist in vielen Spielen, aber nicht in allen bemerkbar: Keine verbale Komik findet man etwa in den Spielen von Wolfenbüttel (1425), wo sie getilgt wurde,46 sowie aus Eger, Halle und Luzern. Baeschlin hatte die deutschsprachige K-Szene (damit meint er im Anschluss an Rueff die deutsche Krämerszene mit Medicus und Rubin) als Wucherung mit schließlicher Zerstörung der C-Strophe (Schreiten der Marien und Salbenkauf) interpretiert: »Unsere Scene scheint von einem sehr selbständig arbeitenden Dichter aus einem Gusse verfasst zu sein«, so seine Ursprungsthese.47 Wie auch immer man das beurteilen mag, die Krämer-/Quacksalberszene ist (außer dem Salbenkauf) biblisch nicht überliefert, sondern frei entwickelt. Sie gilt als »Verlebendigung und Vergegenständlichung des […] säkularen Handlungsbereichs«, so Linke, und damit als entscheidendes Glied einer Lösung des Spiels aus der Bindung an die Liturgie.48 Eine allmähliche Herausbildung lässt sich kaum konstatieren: Die deutschsprachigen Osterspiele sind auf einmal voll ausgebildet da. Sie weisen keine Spuren einer Entwicklung auf.

Veränderungen: Das höfische Publikum werde durch ein städtisches verdrängt, höfische Requisiten/Waren durch Sexualmetaphern. »Von dem Warenangebot an Schminke, Schmuck und Aphrodisiaka bleiben in den jüngeren Spielen nur die letzteren übrig. Schmuck und Schminke werden ebenso von Arzneien aus der Drecksapotheke verdrängt wie der Kaufmann durch den landfahrenden Quacksalber.« – Linke, Drama und Theater, S. 170. 45 Frankfurter Dirigierrolle, V. 369. Vgl. auch Freise, Geistliche Spiele, S. 276. 46 Dazu Hennig, Wolfenbütteler Osterspiel, Sp. 1338: »Das Spiel ist eine konsequente Kürzung und Überarbeitung eines breiteren lat.-dt. Osterspiels, wahrscheinlich aus dem ostmd. Sprachraum. Die Bearbeitung betrifft insbesondere die Salbenkaufszene, die von aller Komik und Drastik gereinigt ist, wie sie in anderen Osterspielen (Innsbrucker/thüring. Osterspiel) vornehmlich mit der Figur des Krämergehilfen Rubin verbunden ist.« Katritzky vermutet wie in den Spielen von Hall und Luzern Zensur; Grund für fehlende Komik sei »a prudent response to censorship in the written version« – Katritzky, Text and Performance, S. 104. Dies ist plausibel, da Rubin auftritt, aber stumm bleibt. 47 Baeschlin, Die altdeutschen Salbenkrämerspiele, S. 16–20. 48 Linke, Drama und Theater, S. 161.

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Ich halte fest: Der Blick auf die Spieltexte zeigt, dass es von Vorteil sein kann, der von Cornelia Herberichs festgestellten Heterogenität der Krämerszene mit einer Differenzierung zu begegnen und zwischen einer eng verstandenen Mercatorszene einerseits und einer Krämer- oder Quacksalberszene mit Rubin, Medica und anderen Personen zu unterscheiden.49 Während der Mercator bereits in einigen liturgischen Feiern auftritt, auch in späteren Feiern und lateinischen Spielen (teils als stumme Rolle), in denen keine sprachliche oder Handlungskomik erkennbar ist,50 strotzt die Quacksalberszene in der volkssprachigen deutschen Tradition von Beginn an von komischen Elementen. Die Szene ist auch als säkulare Erweiterung der von den Marien dominierten Wege- und Kaufstrophen der Mercatorszene anzusehen, allerdings erscheint ein Zusammenhang zwischen dem erkennbaren ökonomischen Interesse des Kaufmanns und der Marktschreierei des Medicus und Rubins eher konstruiert.51 Wir können daher bei den durchweg ernsthaften Mercator-Strophen kaum von struktureller Ambivalenz sprechen,52 während die Komik in der Krämerszene alle möglichen Arten von Ambivalenzen erkennen lässt.

6. Die Quacksalberszene Die Quacksalberszene mit den Protagonisten Medicus/Meister/Arzt/Quacksalber, seinem Knecht Rubinus/Rubin/Rubein, der Arztfrau/Medica sowie anderen Knechten erscheint seit dem 14. Jahrhundert in zahlreichen deutschsprachigen Spieltexten.53 Nach Steinbach taucht Rubin in der mitteldeutschen Spieltradition 49 Dieser Vorschlag einer Differenzierung kann nur heuristisch verstanden werden, da etwa der Institor/Paltenere des »Osterspiels von Muri« Aspekte der Mercatorszene (Salbenkauf Magdalenas) wie auch der Quacksalberszene (Anpreisung der Waren durch den Institor) aufweist. Vgl. Schulze, Geistliche Spiele, S. 59. Dennoch erscheint sie nicht unbedeutend, da von Baeschlin bis Herberichs der Mercatorbegriff allgemein und ubiquitär verwendet wird. 50 Vgl. De Boor, Die Textgeschichte, S. 342–345; Herberichs, Plädoyer für den Mercator, S. 271. Auch die unguentarius-Strophe ist ernst, so wie auch die bildlichen Darstellungen den Mercator als ernsthafte Figur mit liturgischen Merkmalen zeigen. Trotz erheblicher Gestaltungsspielräume kann nach Herberichs keiner der von ihr beschriebenen Feier- und Spieltexte »mit Recht als ›komisch‹ bezeichnet werden.« – Herberichs, Plädoyer für den Mercator, S. 272. 51 Baeschlin, Die altdeutschen Salbenkrämerspiele, S. 20–25, sieht diesen Zusammenhang als »Entartungsprozess« (S. 20) an, doch erscheint seine Argumentation hier sehr angestrengt. 52 Allerdings schränkt Herberichs ein: »eine kalkulierte Ambiguisierung des Salbenkaufs, nicht der Figur, ist festzustellen (Changieren zwischen Trauer und Zuversicht)« – Herberichs, Plädoyer für den Mercator, S. 272. 53 Neumann/Trauden, »Rubin, du machst wol eyn schalk syn!«, S. 136, nennen folgende Spieltexte: »Berliner thüringisches Osterspielfragment«, »Innsbrucker thüringisches Osterspiel«, »Brandenburger Osterspielfragment«, »Wolfenbütteler Osterspiel«, »Erlauer Osterspiel«, »Melker Osterspielfragment«, »Lübener Osterspielfragment«, »Berliner rheinisches Oster-

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zunächst im Berliner (thüringischen) Osterspielfragment und im Melker Salbenkrämerspiel, beide aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf,54 später in den meisten anderen Oster- und auch in Passionsspielen. Da eine Analyse der komischen Prozesse der Szene in allen überlieferten Spieltexten die Aufgabe dieses Beitrags deutlich übersteigen würde, werde ich auf die Komik eines exemplarischen Spieltextes näher eingehen. Ich wähle die längste Szene mit 944 Verszeilen, die »Visitatio in nocte resurrectionis« (»Erlau III«).55 Die Marienhandlung bildet das Gerüst mit den Weg- und Kaufstrophen, die teils auch innerhalb der Krämerszene wiederholt werden. Die Marien gehen zum Salbenkauf, ziehen sich aber dann zurück, sobald sie die Krämergruppe sehen. Das »Erlauer Krämerspiel« ist zweigeteilt und wird von einer Marienklage unterbrochen. Ein Gerüst der Szenenfolge in »Erlau III« besteht aus folgenden Elementen:56 1. Spieleröffnung durch Rubinus (Bauernverspottung) und Ansprache ans Publikum (V. 57–74) 2. Hypertrophes Selbstlob des Meisters (V. 81–105) 3. Helferwerbung des Medicus, Gespräch mit Rubin (V. 106–151) 4. Parodistische Werbung Rubins mit Länderkatalog (V. 152–235) 5. Rubin wirbt Pusterpalkch, Feilschen der beiden um Lohn (V. 236–330) 6. Medicus fragt Rubin nach seiner Frau (V. 331–346) 7. Rubin spricht beiseite und Pusterpalkch bringt die Medica (V. 347–363) 8. Rubin spricht mit der Medica und führt sie zum Meister, Gespräch aller (V. 364–426) 9. Rubin preist die Waren seines Herrn an, Pusterpalkch die Künste der Medica (V. 427–498) 10. Narrengespräch zwischen Rubin und Medicus (V. 499–535) 11. Abermalige parodistische Werbung Rubins und Zorn des Medicus (V. 536–592) 12. Pusterpalkchs obszöne Rede (V. 593–623) 13. Die Knechte schlagen auf Geheiß des Arztes den Kramladen auf und bereiten Salben zu; sie streiten (V. 624–683) 14. Auftritt der drei Marien (V. 684–706) 15. Rubin ruft die drei Marien zum Kramladen (V. 707–748) 16. Medicus verkauft die Salbe an die drei Marien, Feilschen (V. 749–798) 17. Streitszene der Eheleute und Züchtigung der Ehefrau (V. 799–857) 18. Entführung der Ehefrau mit Rubin (V. 858–903) 19. Beschluss durch den Arzt und Pusterpalkch (V. 904–944) spiel«, »Egerer Passionsspiel«, »Alsfelder Passionsspiel«, zweiter Teil des »Bozener Passionsspiels«, »Tiroler Osterspiel«, »Wiener Rubinrolle«. 54 Vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 26–36. 55 Erlauer Osterspiel (III. »Visitacio sepulchri in nocte resurrectionis«), S. 43–115. 56 Diese Szenenfolge ist etwas differenzierter als Suppan (Hg.), Texte und Melodien der »Erlauer Spiele«, S. 45–47.

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Das »Erlauer Osterspiel« (»Erlau III«) bietet somit einen Vor- und Nachspruch im Stil der Ankündigung und des Beschlusses eines fastnächtlichen Einkehrspiels durch Rubin als Proklamator und Pusterbalk als Beschließer; weitere formale und motivische Analogien zum Fastnachtspiel sind die Narrenfigur Rubins, das zankende Ehepaar, der Betrug durch den Arzt, die Prügeleien. An Vor- und Nachspruch wird deutlich, dass die Einbindung der Zuschauer ins Spiel in einem bislang unbekannten Ausmaß ein Charakteristikum der Krämerszene ist.

7. Sprachliche Komik Die Sprachkomik der Krämerszene ist bislang am besten erforscht. Sie artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen: Baeschlin und Hartl hatten zwischen Formen der Verspottung und obszönen Anspielungen unterschieden, Steinbach beschrieb den »Witz am Nichtigen«57 und Röcke, Walsh und Wolf behandelten die unterschiedlichen Formen literarischer Parodien im »Erlauer« und »Innsbrucker Osterspiel«: den Einsatz von zu Formeln karikierten Mustern der höfischen Literatur und des Heldenepos, wie etwa die Selbstbezeichnung Rubins als wygant mit der rostigen hant (»Innsbrucker Osterspiel«, V. 609f.; 698f.); die groteske Komik absurder Bilder und Verrichtungen; die sexuellen Anspielungen von Rubin, er sei kompetent in frawen dinste (»Innsbrucker Osterspiel«, V.  587–592); ironisches Lob (Lob der Untugenden); satirische Ständekritik (vor allem an Bauern, betrügerischen Quacksalbern und Salbenverkäufern) sowie die Destruktion sprachlicher Logik im Kauderwelsch oder in unsinniger Lexik und Syntax.58 So liest Rubin beim Aufbau des Krams die Medikamente verballhornend: Aleporta kurian sitax | exitas termax (V. 786f.) – eine Form des Grammelot59, ein Unsinnslatein mit medizinischem Wortschatz. Dazu kommen wiederum Sexualmetaphern, da die Medikamente gegen venerische Krankheiten helfen; Walsh nennt das in Anlehnung an Bachtins Konzept der familiären Marktplatzrede »the familiar humour of the quack doctor«60. Auch kräftige Flüche sind nicht selten. Im »Erlauer Spiel« heißt es: Vacum do al mala venteur (V. 815), ein makkaronisches »Fahr zur Hölle«, welches der Arzt seiner Frau entgegnet, nachdem sie ihm grob eröffnet hatte: wan ier mügt niderhalb der güertel nicht. (V. 812). Die verballhornte Sprache kann bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden und nur noch als unsinniges Gebrabbel erscheinen:

57 Vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 31f. 58 Vgl. Röcke, Ostergelächter, v.a. S. 340–343. 59 Zur Technik des Grammelot vgl. Fo, Kleines Handbuch des Schauspielers, S. 85–87. 60 Walsh, Rubin and Mercator, S. 194.

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Ich chan auch in der latern holermues und papelchern; erskili gunkelphifili Otten ottel domini, das ist als in der latein. (V. 168–172)

Wortverdrehung und Wortwitz im unerwarteten Vergleich, wie etwa bei unvereinbaren Dingen (Adynata) oder im häufig verwendeten bildlichen Tiervergleich, wie auch offene Lügen kommen hinzu. Rubin und Pusterbalk überbieten sich gegenseitig in ihrem grobdrastischen Sprechen, bei dem es um die Wirkungen der Salben,61 ihre Ekel erregenden Ingredienzen mitsamt skatologischer und obszöner Anspielungen sowie um ›Publikumsbeschimpfungen‹ geht.62 Zu erwähnen sind schließlich Profanierungen des Sakralen, wenn in der Mitte des Spiels die drei Marien auftreten, um Salbe zu kaufen. Nachdem der Mercator seine Salbe in den höchsten Tönen als Allheilmittel und Aphrodisiakum angepriesen hat, ist der Preis von hundert marck den Marien zu teuer. Die dritte von ihnen beschwert sich: Wie pist du so gar ungeheur du peutst uns die salben gar ze teur! ich han in meinen handen drei guldein pesanten dar umb gib uns die maß das dich got leben laß. (V. 790–794)

Ganz in der Tradition des Salbenkaufs stehen das Nachgeben des Medicus und der lautstarke Protest seiner Frau. An der Grenze zwischen heilig und profan kommt es auf die Komik an: Beide Personen, die dritte Maria und der Medicus fallen für kurze Zeit aus ihrer Rolle und in das Spiel der/des jeweils anderen hinein. Hatte der Quacksalber kurz zuvor noch eine der Mercatorstrophen korrekt lateinisch respondiert (Hoc ungentum, si multum cupidis, V.  781), so wird die Rede der dritten Maria profan, wenn sie Durchsetzungskraft gegen den Medicus benötigt. Der liturgische Text bleibt jedoch erhalten, sakrale und profane Welt berühren sich nur leicht.

61 Darunter sind auch Salben, die sexuelle Anspielungen enthalten, indem sie die verlorene Jungfernschaft wiederherstellen (V. 620f.); diese sind allerdings im »Innsbrucker Osterspiel« und in der »Wiener Rubinus-Rolle« stärker ausgeprägt als im »Erlauer Spiel«. Vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 35. 62 Etwa V. 679f.: set hin, ir roczigen paurn, | das euch das maul muß ersaurn!

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8. Aufführungskomik Wichtiger als die sprachliche Komik sind mir die komischen Elemente der Aufführung: Hierzu zähle ich Rahmungs- und Handlungskomik, Gestik und Mimik, Proxemik, Akustisches, Prügel, aber auch aktionistisches Sprechen.63 Ich beginne mit der Proxemik der Figuren. Während die Marien wie alle heiligen Figuren durch Statik und langsame Bewegungen gekennzeichnet sind (in Erlau: Tunc omnes tres ambulantes per circuitum sepulchri simul cantantes (V. 705)), kann am Personal der Krämerszene, vor allem an den närrischen Knechten, eine überbordende Agilität und Geschwindigkeit beobachtet werden: Pusterpalkch currit ad placitum suum (V. 329); Rubinus occurrens domine dicit (nach V. 364); servus medici velociter currit ad medicum (V. 716) oder auch Rubinus dicit saltando (V. 353); Rubinus saltans de populo (V. 109); Rubinus et Pusterpalkch currunt ad placitum (V. 329 und V. 681) usw.64 Die Knechte sind somit von proxemischer Hyperagilität gekennzeichnet, sie laufen, hüpfen, springen, gehen von Bühne oder Spielplan ab oder kommen hinzu, was oft mit einer noch höheren Bewegungsintensität in Verbindung steht. Meist ist dann keine Zwecksetzung in der Bewegung zu erkennen; sie vollzieht sich im gesamten zur Verfügung stehenden Raum der Simultanbühne, richtet sich oft scheinbar auf eine andere Person, ohne jedoch einer kommunikativen Intention zu folgen. Die hyperaktiven Bewegungen beim Auftritt und Abgang der Knechte sind daher ›überflüssig‹, semantisch ›sinn-los‹, doch nicht ohne Funktion: Ihre Funktion ist es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen und ein metakommunikatives Signal der virtuosen Schnelligkeit zu senden. Die metakommunikative Funktion dieser Knechts- oder Narrenproxemik kann sich auf die sprachlichen und lautlichen Äußerungen der Figur ausdehnen; das Brabbeln und makkaronische Sprechen Rubins ist daher nicht semantisch zu verstehen, sondern als lautliche Intensität, als metakommunikatives komisches Signal. Rubin gibt ferner einige Beispiele für aktionistisches Sprechen: Als der Medicus ihn auffordert, den Marien entgegenzugehen, sagt er: Herr maister, das sol sein: | nue sich zu dem springen mein! (V. 713f.). Rubin sagt hier, was er tut, er vollzieht sein Handeln sprachlich, ein wohlbekanntes performatives Muster aus den Reihenspielen des Karnevals und eine interessante Quelle für Aufführungskomik. Statt den Marien geziemend gemessen entgegenzutreten, springt er sie beinahe an – Et currit eas saltando suscipere (nach V. 712), heißt es in den Didaskalien. Das Akustische ist ebenfalls metakommunikativ: Die ganze Szene wird von lau63 Vgl. dazu mein ausführliches Kapitel in Velten, Scurrilitas, S. 282–334. 64 Walsh, Rubin and Mercator, S. 189ff. Noch stärker auf Rubins Hyperagilität konzentriert sind die Anweisungen in der »Wiener Rubinusrolle«, vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 33f.

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ten, sinnlosen Rubein! Rubein! Rubein!-Rufen des Medicus begleitet, Zank und Schreien dominieren die Dialoge. Schließlich die körperliche Erscheinung: Pusterbalk bezeichnet sich selbst als resch (V. 254), im »Innsbrucker Osterspiel« ist er krummnasig (er nennt sich krum Echart, V. 694) neben der heldenepischen Parodie und den Anspielungen auf sein Geschlecht (zuvor auch: recht als ein siniweler phluog, V. 251), ein Hinweis auf seine deformierte (bucklige) Gestalt. Zur Aufführungskomik gehören auch die Verkleidungen sowie Prügeleien zwischen Rubin und Pusterbalk wie zwischen Medicus und Medica. Inszeniertes Prügeln und Schlagen ist auch in weltlichen Spielen häufig belegt und kann als Anlass für Gelächter gelten. Auf die Frage, warum das so sei, wurde mit kognitiven Erklärungsversuchen gearbeitet: Prügeln wurde als spielerische (und enthebbare) Strafe für Vergehen betrachtet, die so zwar geahndet werden konnten, ohne dass jemand dafür Schmerzen litt. Auch die metaphorische Lesart Bachtins, Prügel seien ein rituelles Symbol für den kosmische Zyklus von Fruchtbarkeit, Leben und Tod, und riefen daher ein lebensbejahendes Lachen hervor, ist zu allgemein, um sie für theatrale Szenen der Komik zu verwenden.65 Stattdessen plädiere ich dafür, Prügel und Schläge im Rahmen bewegungslogischer Fragestellungen zu erörtern. Das Lachen über sie kann dann zunächst ganz simpel – wie auch das Lachen über hyperaktive oder scheiternde Bewegungen – als eine (körperliche) Reaktion auf eine (körperliche) Bewegung gesehen werden, die in einem Spiel-Rahmen stattfindet. Die Bedeutung des Prügelns liegt auch hier in seiner Praxis selbst, und nicht außerhalb von ihr. Schlagen wäre dann eine im weitesten Sinne schnelle, ›unnütze‹, selbstreferentielle Bewegung und kann aus den gleichen Gründen Lachen auslösen wie die schon genannten motorischen Vorgänge.66

9. Das Krämerspiel als Komödie Sprachliche, körperliche und Aufführungskomik machen das Krämerspiel zu einer Form der frühen theatralen Komödie, die bereits zahlreiche strukturelle Elemente der Gattung aufweist, wie ich mit Hilfe von Rainer Warnings Theorie der Komödie abschließend zeigen möchte. Dazu gehört etwa die Inszenierung eines Spiels im Spiel, welches in mehreren Krämerspielen in der Rahmung deut65 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 246: »Prügelszenen sind rituell und lösen ein heiteres Lachen aus. Sie haben einen festlichen, triumphalen Charakter, […] sie vernichten und geben neues Leben, beenden das Alte und säen das Neue«. Bachtin erläutert dies am Beispiel des Narrenkönigs: Die Umkleidung des Narrenkönigs nach Ablauf seiner Herrschaftszeit in ein Narrenkleid ist mit rituellen Beschimpfungen und Schlägen verbunden, um die Metamorphose zu verdeutlichen. Vgl. ebd., S. 239. 66 Vgl. dazu Velten, Scurrilitas, S. 349–372, am Beispiel des »Großen Neidhartspiels«.

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lich wird,67 wie etwa auch im »Erlauer Spiel«, welches Pusterpalkch wie folgt abschließt: Ier herrn, got müeß euch gesegen; ier habt unser zwar wol gephlegen! habt ier von uns icht nuz genoemen, es mag euch wol ze reun choemen. ier habt gros geschäft mich dunkcht, wier haben euch geäfft mit unserm großn tant. wier haben noch verrer in unser land: also ge wier von dann und laß wier Marein zann! (V. 933–942)

Im Stile eines »Beschlusses« durch einen Herold oder Proclamator an das Publikum wird hier auf das theatrale Tun und seine Fiktionalität reflektiert: mit unserm großn tant, indem auch die Unterhaltungsfunktion nochmals gespiegelt wird: wir haben euch geäfft. Die Komödie liebt Fiktionsdurchbrechungen, so Warning, »sie überspielt gern die Rampe und bezieht das Publikum in die Spielwelt ein: dazu hat sie mannigfache Verfahren ausgebildet: Beiseitesprechen, Aus-der-Rolle-Fallen, Rollenreflexion, Tragödienparodie, […] Spiel im Spiel«68. Wenn der genarrte Medicus dem geflohenen Rubin droht: ich zerper iem sein palkch | das dem selbn Pittrolf | der hals geswilt als einem wolf! (V. 912–914), dann kann das als Parodie einer ehemals hohen Form begriffen werden, und wenn er mit seiner Frau zankt und ihr Prügel androht, fällt er aus seiner vorgestellten Rolle des weitgereisten Arztes. Zur Rollenreflexion gehören auch das ironische Selbstlob, der Hinweis auf lügenhafte Rede und das Beiseitesprechen (Rubinus ad populum, V. 675). Dies ist die Welt der Komödie, eine im Gegensatz zum gottesdienstlichen Osterspiel extrem theatrale Spielform, die sich hier mit ihm verbindet und somit in größtmöglichen Gegensatz zu ihm tritt, und zwar vor allem durch ihre Aufführungsform, weniger durch ihre Semantik. In seiner Theorie der Komödie nimmt Warning vor allem die Handlungsqualität (actio) der Komödie in den Blick. Seine Komponentenanalyse umfasst sprachliches Handeln und komödiantische Performanz. »Entscheidend«, so Warning, »ist die Priorität der Performanz gegenüber jedweder Semiotisierung und Seman67 So auch im »Innsbrucker Spiel«, wo der Medicus mit dem Publikum als der wolf in dem gensstall (V. 544) spricht. Im »Brandenburger Osterspiel« wird zu Beginn getrunken; beides sind Unterbrechungen der gottesdienstlichen Spielhandlung. Es sind zudem vier Handschriften überliefert (»Berliner Osterspielfragment«, »Melker Salbenkrämerspiel«, »Wiener Rubinrolle« und »Lübener Fragment«), die allein die Krämerszene beinhalten und in welchen diese durch Pro- und Epilog gerahmt ist. Vgl. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 30. 68 Warning, Theorie der Komödie, S. 45.

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tisierung des spielerischen Handelns«, die »Dominanz spielerischer Performanz über semantische Besetzungen«.69 Nicht was gespielt wird, ist von Bedeutung, sondern wie zum bloßen Anlass herabgestufte Rollen- und Handlungsvorgaben ergriffen und zu einer autonomen Gegenwelt ohne jeden Anspruch auf Wahrscheinlichkeit ausgestaltet werden. Schon Aristoteles bestimmte das Komische als eine Form des Episodischen und der Wiederholung, in zeitlicher und in funktionaler Hinsicht, denn der komische Fehlgriff zeitige keine Konsequenz. Diese komischen Paradigmen lassen sich im Krämerspiel identifizieren: episodischer Ablauf, kurze Dialoge, Wiederholungen von Sprach- und Bewegungsmustern, Performanz der Auf- und Abgänge, kurze Höhepunkte innerhalb einer Reihenstruktur, ganz wie später in den lazzi und dem Personal der Commedia dell’arte. Die Semantisierung erfolgt nach Warning erst im Syntagma einer »anderweitigen Handlung«, der Integration des Spiels in soziale Kontexte. Das Krämerspiel kann in seinem unbändigen Chaos den heiligen Frauen nichts anhaben. Dennoch ist es in die »anderweitige Handlung« integriert. Warning: »Die anderweitige Handlung ist eben darin anderweitig, daß erst sie eine Organisation der eigentlich komischen Handlungen zu einer Einheit […] erlaubt.«70 Das Krämerspiel gewinnt seine Semantik somit erst im Zusammenhang mit dem Osterspiel, aber seine Komik kann es auch eigenständig ausspielen.71

10. Resümee Ich komme zur Frage nach den Ambivalenzen zurück. Betrachtet man das Krämerspiel im engeren, definierten Sinn, also die Gruppe der Medicus-Szenen, als Komödie und eigenständiges »Spiel im Spiel«, – dadurch ist es mehr als ein Interludium oder Entremet, – so berührt seine Komik die Handlung der visitatio sepulchri kaum. Es bleibt eine klare Eindeutigkeit des Heiligen und eine Zwei69 Ebd., S. 35. 70 Ebd., S. 40. 71 Dass die Krämerszene auch zu einem eigenständigen Spiel werden konnte, zeigt das Beispiel des Sterzinger »Ipocras-Spiel« von Virgil Raber (1510). Bauer bezeichnet dieses und vier weitere Arztspiele als »geschickte Adaptionen der alten Salbenkrämerszene aus den Osterspielen: die Anwerbung des Dieners Rubin durch den Arzt, die Anwerbung von Unterdienern durch Rubin, die Ausrufung der Salben, die Heilszene, die Untreue der Arztfrau, die mit dem Diener Rubin durchbrennt, ihre Verklagung durch den anderen Diener und schließlich die Szene, in der der Arzt sein untreues Weib schlägt, alles das ist im Spiel von Ipocras konzentriert und in den Spielen doctor knoflach, Artzt hänimann und Doctor apotegg mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung wiederholt.« – Sterzinger Spiele, S. 496. Es fehlen allerdings die semantischen Zusammenhänge zum Ostergeschehen, sodass dem »Ipocras-Spiel« ein geringerer ästhetischer Wert zugesprochen wurde. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele, S. 38.

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oder Vieldeutigkeit des Profanen. Nicht die Visitatioszene selbst ist zweideutig, sondern das von lächerlichen Widersprüchen geprägte komische Spiel im Spiel. Die Kontrastkomik der Komödie wird vielmehr dazu gebraucht, um die Eindeutigkeit und Unzweifelhaftigkeit des Heiligen herzustellen.72 Die Komödie repräsentiert einen Teil der Welt, der im geistlichen Spiel nicht vorhanden oder gar ausgegrenzt war. Dieser bislang nicht vorhandene oder ausgegrenzte Teil, der nun explizit Bestandteil des gesamten Osterspiels wird, ist nicht unbedingt mit dem Rituellen, schon gar nicht mit dem Mythos gleichzusetzen; das halte ich für ein mythentheoretisches Konstrukt. Allerdings nimmt sich das Spiel die Freiheit, mit ästhetischen komischen Mitteln zu arbeiten und dabei auch auf rituelle Substrate nicht zu verzichten. Die Bedeutung der Krämerkomödie ist somit vor allem im Theatralen zu sehen: als performativer Prozess, der eindeutig nicht mehr liturgische Handlung ist, bringt sie das Heilige als Unvertrautes allererst hervor, im Sinne einer Erneuerung, einer Aktualisierung, da wie die Norm auch das Heilige Stabilität und Kontinuität erst durch wiederholte Transgressionen erhält.73 Doch dies ist nicht alles: das Vertraute und Unheilige tritt ja durch die semantische Verbindung der Komödie mit dem anderweitigen Spiel gewissermaßen in das Heilige wieder ein und wird ein Teil von ihm. Diesen Wiedereintritt, oder Re-Entry, der das Paradoxe, nicht das Ambivalente, der Mysterien des Heiligen erfahrbar macht, hat Luhmann in seinem Buch »Die Religion der Gesellschaft« wie folgt beschrieben: Nimmt man die Religion konstituierende Differenz von vertraut/unvertraut, dann entsteht Religion erst durch […] einen Wiedereintritt der Differenz von vertraut/ unvertraut ins Vertraute und Umgängliche. Denn nur so kann man das religiös Unvertraute (die Transzendenz) unterscheiden von dem, was bloß unbekannt oder ungewöhnlich ist. Im Vergleich zu den klassischen Religionssoziologien, die Religion durch Bereichsabgrenzungen, also durch einfache Unterscheidungen wie sakral/ profan (Durkheim) oder außeralltäglich/alltäglich (Weber) charakterisiert haben, bietet uns die Figur des Wiedereintritts einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene den Zugang […] zu einem in der Religion immer verborgenen Paradox.74

Luhmann begreift Religion nicht über ihren theologischen Sinn, sondern als Kommunikationsform. Die Dynamik der religiösen Kommunikation lässt sich so als Code des Einschließens des ausgeschlossenen Anderen, als Wiedereintritt begreifen. Das Heilige ist somit zugleich eine Distanz- und Relationskategorie, deren paradoxe Gestalt im Kontrast zum Vertrauten erfahrbar gemacht wird. 72 Dies gilt auch für den Kontrast sprachlicher Register: »Durch die Verschränkung der durch lateinische Verse überhöhten Texte der Marien mit den Rüpelszenen wird der Ernst des Spiels immer wieder in Erinnerung gerufen« – Müller, Die lateinischen Gesänge, S. 223. 73 Hahn, Transgression und Innovation, S. 452–454. 74 Luhmann, Religion der Gesellschaft, S. 83.

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Entscheidend für diese Erfahrbarkeit des Heiligen aber ist das Lachen.75 Max Wehrli hatte gesehen, dass das Lachen ein Krisenverhältnis oder ein Oppositionsverhältnis anzeigt, welches es im Vollzug gleichzeitig überwinden kann. Während die Komik vom Ambivalenten lebt, ist das Lachen paradox, und als solches kann es als Ausdruck des Heiligen und seiner Transgression angesehen werden. Ich würde Agamben insofern zustimmen, dass das Heilige des Osterspiels nicht als ambivalent bezeichnet werden kann, aber es erscheint in seiner Unverfügbarkeit und in seinen Mysterien als paradox. Diese Paradoxie benötigt das Lachen über die Komödie, um das Heilige erfahrbar zu machen. Die Urheber, Bearbeiter und Darsteller der Krämerkomödie müssen um diesen Zusammenhang gewusst haben.

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II. Emotionalität

Ulrich Barton Tragische Lust im Passionsspiel? Die Ambivalenzen des Mitleids

Nachdem Rainer Warning die Forschung zum geistlichen Spiel für Ambivalenzen, latente, subversive Funktionen und Kipp-Phänomene sensibilisiert hat, kann es naiv und wie ein forschungsgeschichtlicher Rückschritt anmuten, wenn man der explizierten Intention der Passionsspiele, bei den Rezipienten Mitleid (compassio) zu evozieren, Glauben schenkt und die Spiele demgemäß interpretiert; man scheint Gefahr zu laufen, der manifesten Funktion aufzusitzen und Latent-Subversives aus dem Blick zu verlieren, den Spielen also ihre Ambivalenz abzusprechen. Wer die Beliebtheit der Passionsspiele mit der latenten Funktion des Sündenbockrituals oder der sadistischen Freude an Gewaltdarstellung zu begründen versucht, kann die behauptete compassio-Intention nur als frommes Feigenblatt verstehen. Nicht weniger unterschätzt wird das Mitleid aber von denjenigen, die die Beliebtheit der Passionsspiele nur damit erklären, dass für die compassio eben das Seelenheil versprochen wird. Denn man sollte bedenken, dass das Theatermitleid selbst ein ambivalenter, seit je her kontrovers diskutierter Affekt ist und entscheidend zur Ambivalenz des Passionsspiels beiträgt.

1. Mitleid zwischen Kerygma und Mythos Für Warning steht das geistliche Spiel in der »Ambivalenz zwischen Kerygma und Mythos«1: Es hole mythische Denkmuster (Dualismus von Gut und Böse, zyklische Zeitstruktur, Sündenbockritualität), die vom theologisch-kerygmatischen Denken ausgegrenzt wurden, wieder herein und sei somit getragen »von einem höchst ambivalenten Verständnis christlicher Heilsgeschichte: der mythische Typus identischer Wiederholung bringt die biblische Vergangenheit in die Dimension eines archetypischen Mythos, der im Spiel seine rituelle Wiederholung erfährt.«2 Die Ritualität beruhe darauf, dass die Gemeinde keine »ästhetische

1 Warning, Funktion und Struktur, S. 27. 2 Ebd.

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Unterscheidung«3 zwischen der Darstellung und dem Dargestellten mache: Sie rezipiere das gespielte Sündenbockritual der spielinternen Juden als reales, in Stellvertretung vollzogenes Ritual. Indem sie sich mit den Judenfiguren identifiziere, setze sie Spiel und Realität in eins. Damit bringe das Passionsspiel nicht nur kerygmatisch ein historisch vergangenes Sündenbockritual in Erinnerung, sondern veranstalte ein solches in mythischer Zyklizität immer wieder aufs Neue. Man hat dieser These entgegnet, dass erstens christliche Literatur und Kunst sich kaum je rein kerygmatisch erhalten konnten und immer schon um der Veranschaulichung willen auf ›mythische‹ Darstellungsmittel zurückgreifen mussten, ohne deswegen gleich einer durchgängigen Remythisierung zu verfallen,4 dass zweitens eine »ästhetische Unterscheidung« zwischen Spiel und Realität durchaus zunächst vorausgesetzt und die Identifikation der Gemeinde mit den Judenfiguren als nur eine von vielen Rezeptionsmöglichkeiten angesehen werden sollte5 und dass man drittens das Passionsspiel stärker im Kontext der sonstigen Passionsfrömmigkeit verstehen und die compassio-Intention dementsprechend ernster nehmen müsste.6 Diese Erwiderungen fanden in der Forschung weitgehend Zustimmung. Von Warnings Ansatz übernahm man die Denkfigur der Ambivalenz (nun bezogen auf die Gegenbegriffe Theater und Ritual, Präsenz und Repräsentation)7, die besondere Berücksichtigung der Aufführungssituation (Performativität)8, der Konkurrenz zwischen Spiel und Liturgie9, der exzessiven Gewalt.10 Aber von einer »monumentalen Remythisierung der Heilsgeschichte«11 hat niemand mehr gesprochen. Es scheint so, als ob die Remythisierungsthese nicht mit einer Betonung der compassio und der »ästhetischen Unterscheidung« zusammengehe, wie auch umgekehrt, als ob compassio und »ästhetische Unterscheidung« eine Remythisierung verhinderten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn das, was Warning als Bedingung der Remythisierung ansieht – die Nicht-Unterscheidung zwischen Spiel und Realität –, verdankt sich allererst der im Passionsspiel geforderten compassio. Den Prologen zufolge verstehen sich die Spiele zunächst nur als Gedenkveranstaltungen und Nachbildungen der ›realen‹ Heilsgeschichte; sie kennen also die »ästhetische Unterscheidung«. Ihre Heilswirksamkeit entfalten sie jedoch, so das Versprechen, nur für diejenigen, die der Aufführung in Andacht und compassio 3 Ebd., S. 36. 4 Vgl. Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur, S. 114, 118f. 5 Vgl. Müller, Mimesis und Ritual, S. 568–571; Müller, Kulturwissenschaft, S. 70–74. 6 Vgl. Haug, Warning, Ohly, S. 659. 7 Vgl. Petersen, Ritual und Theater; Petersen, Imaginierte Präsenz; Müller, Präsenz des Heils; Müller, Symbolische Kommunikation. 8 Vgl. z.B. Kasten/Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. 9 Vgl. Müller, Realpräsenz. 10 Vgl. z.B. Dietl/Schanze/Ehrstine (Hgg.), Power and Violence. 11 Warning, Funktion und Struktur, S. 31.

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beiwohnen, d.h. für diejenigen, die die Nachbildung auf die heilsgeschichtliche Vergangenheit hin durchschauen und das Geschehen so miterleben, als ob es sich im Hier und Jetzt der Aufführung ereignete.12 Erst die andächtige compassio hebt die »ästhetische Unterscheidung« auf und macht das Theater zu einem Ritual, in dem Darstellung und Dargestelltes, Vergangenheit und Gegenwart eins sind.13 Indem die compassio eine Vergegenwärtigung der vergangenen Passion erstrebt und betreibt, macht sie diese unweigerlich zu einem immer wiederkehrenden Ereignis, so als ob sie nicht ein für alle Mal überwunden wäre. Damit tendiert sie dazu, die Linearität der Heilsgeschichte in eine zyklische Zeitstruktur umzubrechen, die Heilsgeschichte insofern zu remythisieren.14 Sie mag dem kerygmatischen Ziel folgen, der vergangenen Heilstat möglichst intensiv und damit affektiv zu gedenken, aber weil sie die Passion wiedervergegenwärtigen will, unterläuft sie die kerygmatisch-kommemorative Funktion immer schon und imaginiert das vergangene Ereignis als stets wiederkehrenden Mythos. Die compassio ist selbst zutiefst geprägt von der Ambivalenz zwischen Kerygma und Mythos und kann keineswegs nur dem Kerygma zugeordnet werden. Weil die Remythisierung im Affekt der compassio stattfindet, ist sie an sich rein subjektiv,15 kein objektives Geschehen. Bei den meisten Praktiken der Passionsfrömmigkeit (Passionsmeditation, Passionsmystik) bleibt die Subjektivität auch deutlich spürbar, weil der Gegenstand des Gedenkens, die Passion, vom meditierenden Subjekt geistig imaginiert werden muss. Das Schauspiel jedoch geht hierbei einen Schritt weiter: Es stellt den Zuschauern – darauf hat Warning zu Recht aufmerksam gemacht – das, was in der Meditation subjektiv imaginiert werden muss, sinnlich-leiblich vor Augen, macht es zu einem objektiv, d.h. unabhängig von der Tätigkeit des Subjekts, ablaufenden Geschehen. Das ist noch immer keine objektive Remythisierung, weil das Dargestellte nur gespielt ist, 12 Vgl. dazu Schulze, Schmerz und Heiligkeit; Schulze, Emotionalität; Petersen, Imaginierte Präsenz; Eming, Marienklagen; Barton, eleos und compassio, S. 121–129. 13 In seinem Aufsatz von 1979 scheint Warning selbst die compassio als Voraussetzung der Identifikation zu bestimmen, wenn er sagt: »Gerade weil mit compassio nicht kontemplative Distanz, sondern Identifikation gefordert war, konnte solche Identifikation immer auch umschlagen in eine unreflektierte Lust an den inszenierten Grausamkeiten.« – Warning, Das geistliche Spiel, S. 32. Im Satz vorher jedoch sagt er, die unmittelbare Konfrontation des Publikums mit den dargestellten Grausamkeiten »schloß compassio als moralische Identifikation nicht aus, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß sich diese compassio durchsetzte gegen die Verlockung emotioneller Identifikation mit dem blutigen Spiel.« – ebd. Hier setzt Warning offenbar eine grundlegende »emotionelle[r] Identifikation« voraus, von der er die compassio unterscheidet. Das entspricht seiner Argumentation in »Funktion und Struktur«. Warning fundiert die Identifikation generell nicht in der compassio, sondern im »in vivo«Charakter der Aufführung – vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 188, S. 217; Warning, Hermeneutische Fallen, S. 36; Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 351, S. 358. 14 Dazu auch Barton, eleos und compassio, S. 129–131. 15 Das betont Haug, Warning, Ohly, S. 660, gegenüber Warnings Remythisierungsthese.

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aber wenn die latent remythisierende compassio darauf ausgeht, das spielerische Als-ob zu übersteigen, dann findet im Zusammenspiel von compassio und Aufführung etwas statt, was einer objektiven Remythisierung zumindest täuschend ähnlich sieht, denn so wie das andächtige Subjekt sich täuschen lassen will, zielt das Spiel mit Grenzüberschreitungen und Präsenz-Effekten selbst auf Täuschung. Das Passionsspiel ist kein objektiv mythisches Ritual, bietet aber den mitleidenden Zuschauern die Möglichkeit, es als ein solches zu erleben. Die Remythisierung ist also ohne compassio nicht zu denken. Warning versucht es und bestimmt, weil er aufgrund der Unterbewertung der compassio die Identifikation mit den Judenfiguren für wahrscheinlicher hält als diejenige mit Christus und Maria, als das von der Theologie Ausgegrenzte und vom Spiel Hereingeholte das Sündenbockritual. Walter Haug, der die compassio-Intention ernst nimmt und die Spiele im Kontext der Passionsfrömmigkeit verortet, sucht Warnings These von der Positivierung des Negierten dahingehend zu revidieren, dass er als das von der (platonistisch orientierten) Theologie zunächst (bis zum 12. Jahrhundert) Abgedrängte, dann aber gegen den Platonismus in Theologie und Frömmigkeit Rehabilitierte das Kreuz, das Leiden bestimmt; das Passionsspiel sieht er als »eine Ausformulierung dieser Opposition unter andern«16, d.h. unter den anderen Ausgestaltungen der Passionsfrömmigkeit. Haug zufolge fällt das Passionsspiel also nicht hinter die christliche Theologie zurück, sondern folgt der spätmittelalterlichen Tendenz, den Christus patiens gegenüber dem Christus triumphans zu betonen. Wenn man nun aber, wie oben dargelegt, davon ausgeht, dass das Passionsgedenken im Schauspiel durchaus eine neue Qualität annimmt und die in der compassio enthaltene Remythisierung tendenziell objektiviert erscheint, dann kann man vielleicht doch an Warnings These von der Remythisierung und Paganisierung der christlichen Heilsgeschichte durch das Passionsspiel festhalten. Doch welcher Art wäre diese Paganisierung, wenn sie nicht im Sündenbockritual, sondern in der mitleidend rezipierten Passion besteht?

2. Die tragische Dimension des Passionstheaters Eine Schwierigkeit von Warnings Passionsspieldeutung liegt darin, dass die Spiele das mythisch-pagane Substrat, von dem sie geprägt sein sollen, nirgends explizit thematisieren oder reflektieren. Warning muss es daher zuerst selbst rekonstruieren, um es dann in den Spielen zu finden. Diese Zirkularität macht die Deutung angreifbar.

16 Vgl. Haug, Warning, Ohly, S. 662.

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Es gibt jedoch zumindest ein Spiel, das sich als bewusste Auseinandersetzung mit einer vorchristlich-paganen Tradition versteht: den sog. »Christos paschon«17 (»Christus patiens«), eine dramatisierte Marienklage, die zwar in Byzanz entstanden und im Westen erst mit einem römischen Druck von 1542 bezeugt ist, die aber westlichen Marienklagen (wie z.B. der Bordesholmer) so verblüffend ähnelt, dass man ihr einen Aussagewert auch für diese beilegen kann.18 In der Überlieferung wurde sie Gregor von Nazianz zugeschrieben, sie stammt aber wohl aus dem 11/.12. Jahrhundert. Sie umfasst ca. 2600 Verse und ist in 25 (!) Handschriften überliefert. Die Handlung, in deren Zentrum die Theotokos, die Gottesmutter, steht, erstreckt sich von der Passion über die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, die Trauer der Jünger bis hin zur Auferstehung und zeigt die Gottesmutter im Dialog mit den Töchtern Jerusalems, mit Christus, mit dem Theologos (Johannes), mit Petrus und mit Joseph von Arimathia. Die Besonderheit aber, die den »Christos paschon« zu einer wertvollen Auseinandersetzung mit paganem Denken macht, liegt darin, dass er ein Tragödien-Cento ist, zusammengesetzt also aus Originalversen zahlreicher griechischer Tragödien, v.a. solchen des Euripides, aber auch einigen des Aischylos. Die Tragödien waren in Byzanz Schullektüre und damit unter den Gelehrten gut bekannt. Dass der Cento als bewusste Auseinandersetzung mit der antiken Tragödientradition verstanden wurde, belegt eine in der Pariser Handschrift gr. 2875 dem Dramentext angehängte Erklärung, die ihn als »wahres Drama« bezeichnet – »wahr« in dem Sinne, dass er »nicht erdichtet / und nicht mit dem Schmutz mythischen Geschwätzes besudelt« sei.19 Demzufolge ist der Cento als kritische Auseinandersetzung mit den antiken Dramen zu verstehen, als regelrechte Dekonstruktion, indem er sie auseinandernimmt und so neu zusammensetzt, dass durch sie das einzig wahre Drama zum Vorschein kommt: das der Passion Christi.20 Man könnte in Anlehnung an Warning von einer ›monumentalen Demythisierung des antik-tragischen Weltbildes‹ sprechen. 17 Vgl. dazu Vakonakis, Das griechische Drama; Pollmann, Jesus Christus und Dionysos; Symes, Ancient Drama, S. 116f., S. 121; Barton, eleos und compassio, S. 216–226. 18 Es ist ohnehin davon auszugehen, dass die bereits im 6. Jh. einsetzende byzantinische Marienklage-Tradition (vgl. dazu Sticca, The Planctus Mariae, S. 31–49) die westliche beeinflusst hat; vgl. Fulton, From Judgment, S. 217. 19 ›[…] ἀληθὲς δρᾶμα κοῦ πεπλασμένον | πεφυρμένον τε μυθικῶν λήρων κόπρῳ […]‹ (Christos Paschon, S. 30). 20 Pollmann, Jesus Christus und Dionysos, S. 105f., verweist auf die dem Cento zugrundeliegende »Auffassung, daß die kanonischen Texte der paganen Tragiker implizit Heilswahrheit künden, auch gegen ihre ursprüngliche Intention und den äußeren Anschein. Dies durch geschickte Textadaptation aufzudecken bedeutet gerade die handwerkliche und interpretatorische Leistung des Centonendichters. Der Übernahme von bereits vorhandenen textlichen Strukturen für eine neue, christliche Aussage auf literarischer Ebene entspricht auf soteriologischer Ebene das Vorgehen Gottes, der für seine Erlösungstat die conditio humana übernimmt, nämlich Leiden und Sterblichkeit, also ebenfalls auf bereits bestehende

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Wie diese ›Demythisierung‹ aussieht, lässt sich mit der Klage der Gottesmutter unter dem Kreuz nach Christi Tod illustrieren: Hier fragt die Klagende, ob all ihre mütterlichen Schmerzen und Mühen beim Großziehen ihres Sohnes vergeblich waren, und sagt, sie habe immer die Hoffnung gehabt, er werde sie einst im Alter pflegen (V. 908, 915–919) – alles ausgedrückt mit den Worten der euripideischen Medea, als sie bereits den Plan gefasst hat, ihre Kinder zu töten, und in ihrer Entscheidung schwankend wird. Während Medeas Hoffnung, im Alter von ihren Kindern gepflegt zu werden, tatsächlich unerfüllt bleiben muss, kommt die Klagerede der Gottesmutter zu dem bemerkenswerten Schluss, sie wisse, dass ihr Sohn Gott sei und sein bemitleidenswerter Tod sie selbst unsterblich mache und der Menschheit unsterblichen Ruhm und große Freude schenke (V. 928–931) – Worte, die keiner Tragödie entlehnt sind. Kinderlosen Tragödienmüttern steht ein schlimmes Geschick bevor – die Alterspflege der Gottesmutter dagegen besteht in der Unsterblichkeit, mit der sie ihr verstorbener Sohn segnet. Diese Klagerede, die zwischen Trauer und Hoffnung schwankt, zeigt in nuce, was das Drama insgesamt auszeichnet: Dem in den Tragödien enthaltenen antiken Pessimismus wird die Frohe Botschaft des Christentums entgegengesetzt. Die Gottesmutter kann die Worte von Tragödienmüttern sprechen und zugleich über diese hinausgehen. Das Drama reanimiert die tragische Klage-Ästhetik, um sie als solche zu brechen. Das geht im Folgenden weiter: Um sie zu trösten, erklärt der Theologos in einer langen Rede die heilsgeschichtlichen Hintergründe des Opfertodes, beginnend beim Sündenfall; deshalb solle man nicht über alles Maß hinaus klagen (V. 970). Die Gottesmutter verweist auf den erschütternden Anblick ihres toten Sohns (V.  990f.). Der Theologos gibt zu, er selbst könne den Anblick nicht ertragen (V. 999–1002), aber ihn nähre die Hoffnung auf Christi Auferstehung am dritten Tag (V. 1003–1007). Die Gottesmutter sagt, sie wisse um die Prophezeiung, aber sie sehe das Elend hier und jetzt, und sie bricht in eine Klage über die Hinfälligkeit und Schattenhaftigkeit des Menschengeschlechts aus (V. 1012–1018) – eine Klage, wie sie überaus typisch für antike Tragödien ist und die auch tatsächlich nahezu21 wörtlich aus Euripides’ »Medea« stammt. Der eine Halbchor – bestehend aus den Jüngeren unter den Töchtern Jerusalems – antwortet darauf mit einem anderen »Medea«-Zitat, demzufolge die Frauen die unglücklichsten aller Wesen sind (V.  1020), zumindest diejenigen, ›menschliche Strukturen‹ zurückgreift. In heilsökonomischer Perspektive läßt sich die christliche Centonendichtung als eine dazu analoge, die Erlösung literarisch fortschreibende Methode verstehen.« 21 Es finden sich zwei kleine, aber folgenreiche Wortersetzungen, die die im antiken Text enthaltene Aussage: ›Es zeugt von Torheit, zu meinen, ein Mensch könne glückselig sein‹ christlich umdeuten in: ›Es verdient Strafe, zu meinen, ein Mensch könne von Natur aus [d.h. nicht erst durch Gnade] glückselig sein‹, vgl. dazu Barton, eleos und compassio, S. 223f.

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die den Schmerz des Gebärens auf sich nehmen und dann auch noch den Tod ihres Kindes mitansehen müssen (V. 1021). Das scheint die Gottesmutter in ihrer Untröstlichkeit zu bestärken; stattdessen aber hebt der Halbchor sie aus allen normalen Frauen heraus: Sie habe ja ohne Mann empfangen und habe Gott geboren (V. 1031–1033). Die Gottesmutter will sich ihren Schmerz nicht absprechen lassen, und der andere Halbchor, bestehend aus den Älteren unter den Töchtern Jerusalems, entschuldigt sich für die Taktlosigkeit der Jüngeren (V. 1042–1045). Nach einer weiteren untröstlichen Klage der Gottesmutter aber vereint sich der Chor zu den folgenden Worten: ›Es ist durchweg schlecht gehandelt, wer will das bestreiten? In Wahrheit aber ist das ganze Leben der Menschen leidvoll; und doch lieben sie es, sind sie auch von Schicksalsschlägen besiegt. Du aber trägst nicht den gleichen Schmerz wie die Menschen, Jungfrau, auch wenn du nicht als einzige von deinem Kind getrennt wurdest. Denn nicht gleich und von derselben Art war dein Gebären; gleichwohl kommt dir zu, jetzt alles duldsamen Herzens zu ertragen und großes Vertrauen zu haben.‹22

Es wird offenbar darum gerungen, inwiefern die Gottesmutter nach Art einer Tragödienfigur als exemplarisch für das Menschengeschlecht angesehen werden darf. Sie selbst erhebt diesen Anspruch, explizit sogar mit Tragödienversen. Trösterfiguren wie der Theologos und der Chor der Töchter Jerusalems sprechen ihr jedoch das Recht dazu ab. Insgesamt nimmt das Drama dann einen solchen Verlauf, dass die Gottesmutter bei allen ›Rückfällen‹ in den Klageton zunehmend an der heilsgeschichtlichen Hoffnung festhält und schließlich nach der Auferstehung das »Ende der Sorgen« (τέρμα φροντίδων, V. 2077) verkündet. Das Passionsdrama führt also einen exemplarischen Prozess vor, der von Passion und Tod zur Auferstehung, von der Totenklage zum Osterjubel führt und der – das ist das Besondere daran – sich im literarischen Medium widerspiegelt: Der Cento führt aus der antiken Tragik in die christliche Heilsgeschichte, verwandelt die heidnische Tragödie in das christliche Heilsdrama. Hier werden Tragödien-Ästhetik und christliche Theologie direkt miteinander konfrontiert. In dieser Konfrontation kristallisiert sich eine historische Definition dessen heraus, was als tragisch und tragödientypisch zu gelten hat und – spezifischer – was man als tragische und tragödienhafte Züge bei einer Darstellung der Passionsgeschichte ansehen darf. Tragödientypisch ist demnach eine Ge22 ›Κακῶς πέπρακται πανταχοῦ, τίς ἀντερεῖ; / Ἅπας δ’ ἀληθῶς ὁ βροτῶν λυπρὸς βίος· / στέργουσι δ’ αὐτὸν συμφοραῖς νικώμενοι. / Σοὶ δ’ οὐχ ὅμοιον ἄλγος ἀνθρώποις, κόρη, / κἂν οὐ μόνη σὺ σοῦ δ’ ἀπεζύγης Τέκνου. / Οὐ γὰρ ὅμοιος σὸς τόκος καὶ τοῦ γένους· / ὅμως δὲ πάντα τλησικαρδίως φέρειν / τανῦν προσήκει κάρτα τ’ αὖ πεποιθέναι.‹ (Christos paschon, V. 1063–1070).

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staltungsweise, bei der ein einzelner leidender Mensch als exemplarisch für sein ganzes Geschlecht inszeniert wird;23 eine Gestaltungsweise, bei der das Leid, auch wenn ihm ein Sinn beigelegt wird, als Leid bestehen bleibt. Auf die Passion bezogen bedeutet das: Eine Passionsdarstellung ist tragödienartig, wenn Maria bzw. Christus als Mensch wie jeder andere dargestellt wird, des Weiteren, wenn das Leidvolle an der Passion so sehr hervorgehoben wird, dass der Trost ganz ausbleibt oder zumindest weniger ins Gewicht fällt. Daraus resultiert, dass die Heilsgeschichte nicht einfach als vergangen und bekannt hingenommen werden kann, sondern dass sie durch das schmerzhafte Ringen um sie ihrer Selbstverständlichkeit enthoben, damit tendenziell sogar in Frage gestellt wird,24 was sich in der Möglichkeit einer in sich widersprüchlichen Rezeption zeigt.25 Die Aufnahme der ›frohen Botschaft‹ von der Überwindung des Todes wird so schwer wie nur möglich gemacht, insbesondere dann, wenn Maria ins Zentrum gestellt wird, eine Figur, an der sich die ganze Gnadenlosigkeit der ›Heilsgeschichte‹ offenbart und die gerade deswegen nach Art einer Tragödienfigur zur Repräsentantin der heillosen Menschheit taugt. Damit korrespondiert die Stilisierung in Totenklage-Manier,26 die bei der Tragödie gängig ist27 und die auch den Cento über weite Strecken auszeichnet.28 Bezeichnenderweise sind die westlichen Marienklagen und Passionsspiele genau von diesen nach Einschätzung des »Christos paschon« tragödienartigen Merkmalen geprägt: Bekannt sind diejenigen Stellen, in denen Maria dadurch an das Mitleid der Zuschauer appelliert, dass sie sie dazu aufruft, sich in ihre Lage zu versetzen, das eigene Kind zu verlieren.29 Jutta Eming bemerkt dazu: »Die unvergleichliche Lage, Mutter eines – sterbenden – Gottes zu sein, wird 23 Das Moment der Exemplarizität bzw. Generalisierbarkeit eines individuellen Unglücks bestimmen auch Ette, Kritik, S. 11, und Lehmann, Tragödie, S. 147f., als konstitutiv für das Tragische. 24 Das kritische Potential des Tragischen betont Ette, Kritik, S. 35: »für die Tragödie ist es von substanziellem Gehalt, dass sie gegen die scheinbare Ausweglosigkeit des mythos aufbegehrt – und sei es in der Schwundstufe, das Leiden daran zu demonstrieren.« 25 Einem »Vertrautsein mit der Welt« – auf den christlichen Kontext angewandt: mit der christlichen Welt- und Geschichtsdeutung – setzt das Tragische laut Lehmann, Tragödie, S. 88f., »die Erfahrung eines Fremdwerdens, einer Selbstfremdheit entgegen.« 26 Die Klage-Ästhetik bestimmt auch Bohrer, Das Tragische, v.a. S. 336–380, 387, als wesentlichen Bestandteil (neben Epiphanie- und Pathos-Darstellung) des Tragischen. 27 Vgl. Loraux, The Mourning Voice. 28 Nicht umsonst ist der »Christos paschon«-Cento für die Euripides-Philologie deshalb so wertvoll, weil eine Überlieferungslücke in der »Bakchen«-Tragödie – die Klage der Agaue um ihren toten Sohn Pentheus – mit Versen der Theotokos aus dem Cento rekonstruiert wurde. 29 Vgl. z.B. den in mehreren Marienklagen verwendeten Versikel: ir vrouwen, helfet mir ze klagen / minen jaemerlichen schaden; / denke eine muoter an die not, / ob ir liebez kint waer tot. (Versikel XIII bei Mehler, Marienklagen, Bd. 1, S. 39).

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heruntergebrochen auf die Ebene alltäglicher Eltern-Kind-Beziehungen. Die Inkommensurabilität und Singularität des religiösen Geschehens wird damit verlassen.«30 Man könnte daran anknüpfend sagen: Die theologische Perspektive wird verlassen und stattdessen eine tragische eingenommen. Und anders als im »Christos paschon«, der sich dieser Gefahr bewusst ist, wird die neue, tragische Perspektive nicht theologisch korrigiert, dient doch Marias Appell der gewünschten Mitleidserregung. Das zweite Merkmal, der ausbleibende Trost, findet sich besonders häufig in selbständigen Marienklagen; in Passionsspielen scheint Maria sich oftmals nur deswegen als getröstet zu zeigen, damit die Handlung voranschreiten kann, etwa von der trostlosen Pietà-Szene zur Grablegung. Danach beginnt die Klage erneut. Und selbst wenn Maria sich bisweilen trösten lässt, ist die entscheidende Frage, ob die Zuschauer sich mittrösten lassen dürfen. Die Trösterfigur Johannes in der »Erlauer Marienklage« z.B. unterscheidet hier genau: ›O Maria, mueter und maid, mier ist so recht laid, das du chlagest deines chindes tod. zwar es ist aller werlt not, das dein lieber sun rain uns erlost von des tiefels gemain, wann wier müesten all sein verlorn, hiet er es selb nicht erchorn. dar umb, ier werden christenläit, helft all gemain chlagen heut di marter und den jamer gros, das wier all werden los von sunden und von schanden und von des tiefels panden und mit got die stätichait pesitzen in der ewichait.‹31

Johannes will zwar Maria trösten, ruft die Zuschauer aber zum Weiterklagen auf. Ziel der Darstellung ist nicht die theologisch korrekte Einsicht oder Trauerbewältigung, sondern das Mitleid, das mit der Verheißung jenseitiger Belohnung auf Dauer gestellt wird. Die Fokussierung auf den Leidensaspekt zeigt sich auch an der großen Bedeutung, die die Maria-Figur überhaupt in den Passionsspielen innehat: Der Blick auf Christi Passion wird durch sie perspektiviert. Selbst wenn die Spiele sich bemühen, neben der Menschlichkeit Christi auch seine Göttlichkeit hervorzuheben 30 Eming, Marienklagen, S. 807f. 31 Erlauer Marienklage, V. 364–379.

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– was durchaus nicht immer so deutlich geschieht –, wird von den Zuschauern verlangt, die Passion mit den Augen der Mutter wahrzunehmen, einer Figur also, die – als Mutter – den Tod ihres Kindes unter keinen Umständen und zu keinem noch so guten Zweck wollen kann.32 Genau das wird beispielsweise in Dialogen zwischen Christus und Maria verhandelt, so etwa im »Egerer Passionsspiel«33. Einen solchen Dialog gibt es auch im »Christos paschon« (V. 700–808). Das macht die Passionsrezeption außerordentlich komplex: Man betrachtet einen Opfertod, der zum eigenen Heil geschieht, tut dies aber aus einer Einstellung heraus, die dieses Opfer nicht wollen kann. Den Rezipienten wird es also nicht gerade leicht gemacht, das Opfer anzunehmen. Eine solche Rezeption kann man als tragischzwiegespalten bezeichnen. Es lässt sich also insgesamt festhalten, dass die westlichen Marienklagen und Passionsspiele durch ästhetische Merkmale gekennzeichnet sind, die der byzantinische »Christos paschon«-Cento als tragödienartig definiert und problematisiert. Das ist umso verblüffender, als die jeweiligen Autoren weder die griechischen Tragödien noch den Cento kennen konnten. Wenn man, wie oben dargelegt, versuchsweise Warnings Analysemodell der »Hereinnahme von Ausgegrenztem«34 mit Haug so anwendet, dass das Passionstheater das ins Zentrum stellt, was platonistische Strömungen innerhalb der Theologie vernachlässigen, nämlich Leid und Tod Christi, dann kann man beobachten, wie der »Christos paschon« Warning und Haug gleichermaßen bestätigt und widerlegt: Gegen Warning und mit Haug bezeugt er, dass nicht das Sündenbockritual, sondern die mitleidige Rezeption von Leid und Tod das Entscheidende ist; gegen Haug und mit Warning zeigt er aber auch, dass eine solche passionszentrierte Darstellung auf vorchristlich-paganes Denken zurückfallen kann. Anders formuliert: Der »Christos paschon« rechtfertigt es, das Passionsspiel mit Regina Toepfer als »tragisches Spiel« zu verstehen;35 er hält aber zugleich dazu an, die damit einhergehende Ambivalenz nicht zu übersehen, eine Ambivalenz, die der von Warning aufgezeigten zwischen Mythos und Kerygma verwandt scheint. Das

32 Vgl. Eming, Marienklagen, S. 809: »In emotionstheoretischer Sicht setzt die Identifikation mit einer Mutter, die den körperlichen Qualen und dem Sterben ihres Sohnes hilflos zusehen muss, andere Emotionen voraus als die Identifikation mit einem körperlich gequälten Menschen.« 33 Diese Dialoge basieren zumeist auf dem Extendit-manum-Traktat Heinrichs von St. Gallen. Vgl. Barton, eleos und compassio, S. 250–257. 34 Warning, Funktion und Struktur, S. 32. 35 Vgl. Toepfer, Die Passion Christi. Sie untersucht die Tragik des Passionsspiels unter drei Aspekten: 1. Rezeptionsästhetik (die tragischen Affekte Mitleid und Furcht, allerdings ohne den im Folgenden behandelten Aspekt der tragischen Lust), 2. Handlungskonstellation (der tragische Fehler in der Judas-Handlung), 3. Figurenkonzeption (der unaufhebbare Gegensatz in der Figur des Gottmenschen).

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mittelalterliche Passionstheater antwortet vielleicht auf ein Bedürfnis, das auch die antike Tragödie erfüllte.

3. Die tragische Lust Wenn man die Beliebtheit der Passionsspiele und Marienklagen mit einem sozusagen ›tragischen‹ Bedürfnis erklären möchte, muss man auch für sie die alte Frage nach dem »Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen«36 stellen, die man bezüglich der antiken und neuzeitlichen Tragödie diskutiert hat.37 Dieses »Vergnügen«, das auch als ›tragische Lust‹ bekannt ist, bezeichnet das paradoxe Phänomen, dass man bei einer ästhetischen Rezeption das Mitleid mit leidenden Figuren zu genießen vermag, während Mitleid in realweltlichen Zusammenhängen als unangenehm empfunden wird. Die tragische Lust muss über die gesamte griechisch-römische Antike hinweg Bestandteil der Tragödienrezeption gewesen sein. So lässt Platon, als einer der frühesten Zeugen, in seiner »Politeia« Sokrates die Rezeption tragischer Literatur folgendermaßen beschreiben: Wir haben Genuss und, uns ihnen [den dargestellten Figuren] hingebend, folgen wir ihnen mit-leidend und, es ernst nehmend, preisen wir als guten Dichter jeden, der uns so viel wie möglich in einen solchen Zustand versetzt.38

Dasselbe bemerkt noch acht Jahrhunderte später Augustinus in seinen »Confessiones« und stellt sich, im Rückblick auf seine jugendliche Theaterbegeisterung, die Frage: Woran liegt es, dass der Mensch hier leiden will, wenn er Jammervolles und Tragisches betrachtet, was er gleichwohl selbst nicht erleiden möchte? Und dennoch will er als Zuschauer dadurch Schmerz erleiden, und der Schmerz selbst ist seine Lust. Was anderes ist es als erbärmlicher Wahnsinn bzw. Jammer-Tollheit (miserabilis insania)?39

Diese paradoxe Lust am Tragödien-Mitleid, die Platon und Augustinus nur zu gut aus eigener Erfahrung zu kennen scheinen, ist für beide ein entscheidender Grund für ihre jeweilige Ablehnung der Tragödie als Literatur- und Theaterform. 36 So die Formulierung in Friedrich Schillers gleichnamiger Schrift von 1792. 37 Vgl. Seidensticker, Über das Vergnügen; Anz, Freuden aus Leiden. In der Filmwissenschaft wird das Phänomen als ›Sad Film Paradox‹ behandelt, vgl. Oliver, Exploring the Paradox. 38 χαίρομέν τε καὶ ἐνδόντες ἡμᾶς αὐτοὺς ἑπόμεθα συμπάσχοντες καὶ σπουδάζοντες ἐπαινοῦμεν ὡς ἀγαθὸν ποιητήν, ὅς ἂν ἡμᾶς ὅτι μάλιστα οὕτω διαθῇ. – Platon, Politeia X, 605d4–6. 39 Quid est, quod ibi homo vult dolere cum spectat luctuosa et tragica, quae tamen pati ipse nollet? Et tamen pati vult ex eis dolorem spectator et dolor ipse est voluptas eius. Quid est nisi miserabilis insania? (Augustinus, Confessiones III,2,2).

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Platon erklärt die Lust mit einer Art Ventiltheorie: Ein zivilisierter, vernünftiger Mensch versage sich bei eigenem Unglück das Leiden und Klagen und vermöge es zu unterdrücken; bei der literarisch-theatralen Darstellung fremden Unglücks jedoch erlaube er es sich, das unterdrückte Klagen auszuleben. Je öfter man sich dem hingebe, desto schwieriger werde es, das Klagebedürfnis auch bei eigenem Unglück unter Kontrolle zu halten, so dass die Tragödienrezeption auf Dauer zu einer charakterlich-moralischen Verweichlichung der Zuschauer führe.40 Deshalb glaubt Platon die Tragödie aus seinem Idealstaat verbannen zu müssen. Aristoteles hat bekanntlich mit seiner »Poetik« auf Platons Tragödienkritik geantwortet: Auch er erkennt eine bestimmte, aus Mitleid und Furcht hervorgehende Lust (ἡδονή41) bei der Tragödienrezeption; die Rezeption selbst beschreibt er als Erregung von Mitleid und Furcht und als Reinigung (κάθαρσις) von derartigen Affekten.42 Um den katharsis-Begriff rankt sich eine inzwischen jahrhundertealte, komplizierte Diskussion, die hier nicht wiedergegeben werden muss;43 es spricht jedenfalls viel dafür, den aristotelischen katharsis-Begriff als Ausdruck für die von Platon beschriebene Ventilfunktion zu verstehen. Beide meinen dasselbe, ziehen nur unterschiedliche Schlüsse daraus: Während Platon offenbar die Meinung vertritt, der wiederholte Einsatz dieses Ventils führe schließlich zu einer Art Dammbruch der Affekte, macht Aristoteles die befreiende, kanalisierende Wirkung des Ventils stark: Der Rezipient werde durch das Ausleben der Affekte zeitweilig von diesen befreit; deshalb befürchtet Aristoteles keine negativen Auswirkungen auf den einzelnen Rezipienten oder die Gemeinschaft insgesamt. Über kathartische Künste sagt Aristoteles in der »Politik«, sie böten den Menschen eine »unschädliche Freude« (χαρὰν ἀβλαβῆ)44. Das Lustmoment steht für beide Denker außer Zweifel; fraglich ist zwischen ihnen nur, ob die tragische Lust harmlos oder schädlich ist. Augustinus nimmt aus moralischen Gründen Anstoß am tragischen Mitleid und damit an der Tragödie insgesamt: »[…] was ist denn das für eine misericordia bei erdichteten und aufgeführten Dingen? Nicht wird ja der Rezipient zur Hilfe aufgerufen, sondern nur zum Leiden eingeladen«.45 Den für Augustinus positiven Wert des Affekts Mitleid, dem leidenden Nächsten helfen zu wollen, pervertiere das Theater, indem es vom Rezipienten verlange, im Affekt zu verharren und 40 Vgl. Platon, Politeia X, 606a3–b8. 41 […] τὴν ἀπὸ ἐλέου καὶ φόβου διὰ μιμήσεως […] ἡδονὴν […] (Aristoteles, Poetik, 14, 1453b12f.). 42 […] δι’ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν (Aristoteles, Poetik 6, 1449b27f.). 43 Vgl. Luserke (Hg.), Die Aristotelische Katharsis; Vöhler/Linck (Hgg.), Grenzen der Katharsis; Barton, eleos und compassio, S. 71–80. 44 Aristoteles, Politik VIII, 7, 1342a16. 45 Sed qualis tandem misericordia in rebus fictis et scenicis? Non enim ad subveniendum provocatur auditor, sed tantum ad dolendum invitatur (Augustinus, Confessiones III,2,2).

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dabei auch noch Lust zu empfinden. Das Paradox der tragischen Lust rückt Augustinus in die Nähe des moralischen Undings einer malivola benevolentia, eines übelwollenden Wohlwollens, das das Leid des Nächsten will, um sich im Mitleid gut zu fühlen. Vergleichbare Erwähnungen einer Mitleidslust im Theater gibt es aus dem Mittelalter nicht. Erst seit dem 18. Jahrhundert versucht man wieder, die Lust am Mitleid mit literarischen Figuren zu erklären. Für die meisten Erklärungsversuche ist die ästhetische Distanz von entscheidender Bedeutung:46 Das dargestellte Leid ist nur gespielt, nicht wirklich, also ohne real schlimme Konsequenzen. Wie oben dargelegt, wäre diese Bedingung durchaus auch beim Passionsspiel erfüllt, wo die andächtige compassio die »ästhetische Unterscheidung« zu überwinden sucht. Darf man also trotz fehlender Zeugnisse mit einer ästhetischen Mitleidslust im Mittelalter rechnen? Dafür sprechen mehrere Indizien: Wie Petrus von Blois und Aelred von Rievaulx berichten, ließen sich die Rezipienten volkssprachiger, höfischer Literatur (namentlich von Artus- und Tristanromanen) zu compassio und Tränen bewegen.47 Dies wird jeweils in Kontexten erwähnt, in denen eine entsprechende Rezeption auch für geistliche Stoffe gewünscht wird. Wenn man unterstellt, dass die höfischen Romane vorrangig zum Vergnügen und zur Unterhaltung rezipiert wurden, dann belegen diese Zeugnisse zumindest, dass compassio zum literarischen Vergnügen gehören konnte. Von einer regelrechten Lust an und in der compassio ist dann immerhin im mystischen Kontext die Rede. Ein besonders markantes und geradezu frappierendes Beispiel bietet Heinrich Seuse in seinem »Büchlein der Ewigen Weisheit« (entstanden um 1330), hier im 19. Kapitel, das Von der ablsunge überschrieben ist und in dem die Ewige Weisheit, hier in Person der Maria, dem Diener, also Seuse, von der Kreuzabnahme und der Pietà-Situation erzählt. Sie bittet den Diener vorweg, ihren Bericht mit einer kleglichen erbermde anzuhören, und schildert daraufhin ausführlich den großen Schmerz, den sie erlitt, als sie ihren toten Sohn in Empfang nahm, ihn umarmte und küsste. Daraufhin sagt der Diener zu ihr: Reinú můter, wie grundlos din herzleid were und wie reht inneklichen es ellú herzen bewegen muge, so dunket mich doch, daz du noch neiswaz lustes fundest in den minneklichen umbevengen dines tten kindes.48 (S. 276,13–16) Die konzessive Satzkonstruktion deutet an, dass dem Diener der an sich bestehende Kontrast zwischen compassio und Lust durchaus bewusst ist, und doch erscheint ihm der Lustgedanke alles andere als abwegig. Das Paradox einer Lust im Mitleiden ist als solches ausformuliert. Daraufhin bittet der Diener die Gottesmutter, ihm 46 Vgl. Seidensticker, Distanz und Nähe, S. 92. 47 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 711; Mertens Fleury, Leiden lesen, S. 6f. 48 Seuse, Büchlein der Ewigen Weisheit, S. 276,13–16.

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das geistlich zu schenken, was sie liplich erlebt hat, nämlich den toten Sohn auf dem Schoß zu empfangen. Dass ihm dieser Wunsch gewährt wird, zeigen die folgenden Worte, die der Diener an Jesus richtet und in denen sich Passions- und Liebesmystik durchdringen: Herre, ich kere minú oůgen zůo dir in der spilendosten vrde und herzklichsten minne, so kein einiges liep ie wart von sinem geminten an gesehen. Herr, min herze schlússet sich uf dich ze enphahenne, als der zarte rse gen der klaren sunnen glaste. (S. 276,20–23)

Und er nennt diese Begegnung eine minnekliche[] stunde (S.  276,27f.), was, zusammen mit der liebesmystischen Metaphorik, darauf hindeutet, dass die compassio hier in die freudevolle, beseligende unio umschlägt. Das alles findet in der geistigen Pietà-Situation statt, also der Situation des größten compassioSchmerzes; die Wunden und der Tod werden auch weiterhin genannt, bleiben also während der unio-Beschreibung präsent.49 Die Freude folgt nicht erst auf die compassio, sondern liegt in der compassio selbst.50 Wie verhält sich eine solche religiös-mystische zur ästhetisch-literarischen Mitleidslust? Sind sie kategorial verschieden, oder haben sie ein gemeinsames Fundament? Dass etwa Petrus von Blois dasselbe Wort compassio sowohl für den weltlich-literarischen als auch den religiösen Gegenstand verwendet, legt es zumindest nahe, nicht vorschnell einen kategorialen Unterschied anzunehmen, zumal bei einer historischen Emotion, die gar nicht mehr anders als sprachlich zu greifen ist. Aber auch moderne Emotionsforschung macht wahrscheinlich, dass die Grundlage von ästhetischem und nicht-ästhetischem (also realweltlichem oder religiösem) Mitleid dieselbe ist. So zeigt Katja Mellmann, dass Mitleid mit einer literarischen Figur überhaupt erst dadurch zustande kommt, dass der Rezipient die Figur aufgrund textlicher Signale als »quasipersonale[] Instanz«51 imaginiere und dann auf sie ebenso reagiere wie auf reale Personen. Das gilt sicherlich auch für den Fall, dass das Mitleidsobjekt eine religiöse oder historische Person ist, die wie fiktive Figuren der/dem Mitleidenden nicht als realer Mitmensch, sondern in medialer Vermittlung begegnet. Deshalb ist es angemessen, von Mitleid gleichermaßen in realweltlichen, religiösen und fiktionalen Zusammenhängen zu sprechen. Wenn das Mitleid in all diesen Zusammenhängen ein und dasselbe ist und im religiösen und fiktionalen Zusammenhang als lustvoll erlebt werden kann, muss zu dieser Emotion ein Lustmoment gehören, das nur im realweltlichen Zu49 Herr, minú gen durschwent din ttlichez antlút, min sel durkússet alle dine vrischen blůtigen wunden, alle min sinne werdent gespiset von dieser szen vruht under disem lebenden bme des krúzes. (Seuse, Büchlein der Ewigen Weisheit, S. 276,30–33). 50 Ausführlicher dazu Barton, eleos und compassio, S. 114–116. 51 Mellmann, Emotionalisierung, S. 155.

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sammenhang (normalerweise) zurückgedrängt wird. Auch hierbei erweisen sich Mellmanns Überlegungen als hilfreich: Wie Augustinus versteht sie die Emotion Mitleid als Handlungsimpuls, einem leidenden Mitmenschen zu helfen. Wenn in einer gegebenen Situation die erstrebte Handlung ausbleiben muss, weil sich keine Möglichkeiten zu helfen finden lassen, dann reagiere die/der Mitleidende mit Überforderungsstress, was sich in den für das Mitleid bekannten körperlichen Erscheinungen äußere: Weinen und Muskelerschlaffung. Das psychische Erleben bestehe dabei in einem Gefühl des »Überwältigtseins« (ebd., S.  132), des »Autonomieverlust[s]« (ebd., S. 81). In der ästhetischen Rezeptionssituation bleibt das Bestreben, der/dem Leidenden zu helfen, notwendig erfolglos, wenn man nicht den Fiktionskontrakt brechen und den ästhetischen Rahmen zerstören will. Der mitleidende Rezipient gelangt tendenziell immer in den Modus des Überwältigtseins, im Extremfall sogar mit Tränen.52 Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird verständlich, warum im fiktionalen Rahmen das Mitleid lustvoll erlebt wird: Als Selbstverlust, Autonomieverlust ermöglicht es eine Art ekstatisches Erleben, und der fiktionale Rahmen enthebt die/den Mitleidenden einer realen Leid- und Gefahrensituation, so dass der Selbstverlust ohne schlimme Konsequenzen erlebt und insofern genossen werden kann.53 In einer realweltlichen Mitleidssituation hingegen drängen die real schlimmen Folgen die an sich mögliche Lust am Selbstverlust in den Hintergrund, so dass realweltliches Mitleid sich schmerzlich, nicht lustvoll anfühlt. Dies alles lässt sich ohne weiteres mit dem mystischen Mitleid verbinden: Wenn man das Mitleidserleben als Überwältigung und Selbstverlust charakterisiert, leuchtet es unmittelbar ein, dass Mitleid ein so geeigneter religiös-mystischer Affekt ist: Er ermöglicht genau die Auflösung und Entgrenzung des Ich, die von den Mystikern erstrebt wird. Wie der literarisch-fiktionale Rahmen ermöglicht der mystische Rahmen, dass man sich dem Selbstverlust ohne schlimme Folgen hingeben kann; die Folgen sind hier sogar überaus positiv, weil die Mystiker den Selbstverlust als unio mit Gott deuten und entsprechend erleben.54 Die Rezeption von Passionsspiel und Marienklage steht gewissermaßen zwischen mystischer und ästhetischer Erfahrung: Von der mystischen Erfahrung unterscheidet sie sich durch das Festhalten an der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Sinnlichkeit der Aufführung, von der rein ästhetischen Erfahrung durch die reli52 Wenn das die Erlebnisqualität des Mitleids ist, wird verständlich, warum für einen die menschliche Selbstbestimmung so hoch schätzenden Denker wie Platon das Mitleid so problematisch erscheinen muss. 53 Mellmann hebt zwar ebenfalls die Unverbindlichkeit des fiktionalen Rahmens hervor, erklärt die Mitleidslust jedoch insgesamt auf eine andere, evolutionspsychologische Weise; vgl. Mellmann, Emotionalisierung, S. 81. Dazu Barton, eleos und compassio, S. 40–42. 54 Zum »Genießen« Gottes im Selbstverlust bei Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete und Hadewijch vgl. Zech, Spielarten des Gottes-Genusses.

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giöse Verbindlichkeit der dargestellten Inhalte und das Bestreben, die Darstellung auf das Dargestellte hin zu übersteigen. Wenn sowohl der mystische als auch der ästhetische Rahmen die Mitleidslust freisetzt, dann ist es doppelt gerechtfertigt, beim mittelalterlichen Passionstheater mit der Mitleidslust zu rechnen. Warum gibt es dann aber keine direkten Zeugnisse für sie? In den antiken Diskursen wurde die tragische Lust vor allem dort thematisiert, wo sie Anstoß erregte: bei Platon und Augustinus; Aristoteles versuchte, sie gegen Platon zu verteidigen. Platon und Augustinus hielten das Theatermitleid für gefährlich bzw. unmoralisch. Ganz anders verhält es sich beim Passionsspiel und bei den Diskursen der Passionsfrömmigkeit: Hier hat das Mitleid höchsten religiösen Wert; es gilt als eine für das Seelenheil förderliche Leistung. Zumindest vor der Reformation ist es auf diese Weise vor Kritik weitgehend geschützt.55 Das Mitleid und damit auch die Spiele sind von vornherein religiös legitimiert. Man könnte sich sogar überlegen, ob die Vorstellung, das Theatermitleid vermöge von Sünden zu reinigen, ein emotionales Fundament in der Erfahrung hat, dass das Ausleben von Mitleid im Theater zu einer katharsis im aristotelischen Sinne führt, dass man sich also hinterher emotional befreit und erleichtert fühlt.56 Das Versprechen, das Mitleid reinige die Seele von ihren Sünden, könnte demnach als die ins Theologische gewendete Beschreibung und Legitimation der aristotelischen katharsisErfahrung verstanden werden. Der mögliche Vorwurf, man genieße in den Spielen das Mitleid, habe also gewissermaßen Lust auf Kosten Christi, kann nicht so recht verfangen, weil der mystische Diskurs die Lust in der compassio als unio versteht, als göttliches Gnadenzeichen, und damit nicht nur das Mitleid, sondern auch die Mitleidslust religiös legitimiert. Zumindest innerhalb der Diskurse der Passionsfrömmigkeit und der Passionsmystik können das Mitleid und die Lust daran gar nicht anstößig werden, und deshalb entsteht auch keine Notwendigkeit, sie anders als religiös zu behandeln. Die ästhetische Dimension des Mitleids und der Mitleidslust kommt nicht als solche in den Blick und wird daher nicht diskutiert. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht vorhanden wäre und dass man nicht mit ihr rechnen müsste. Das ist ein keineswegs nebensächlicher oder harmloser Befund, denn: • Erstens unterlaufen die tragischen Elemente die theologisch-kerygmatische Intention der Spiele, so dass man auch unter diesem Aspekt eine Spannung zwischen Kerygma und Mythos entdecken kann; 55 Luther wendet sich in seinem »Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi« vehement gegen eine Passionsbetrachtung, die das persönliche Heil in der compassio sucht. 56 Für das schiitische Passionsspiel »ta’ziye«, das in seinen Aufführungsbedingungen und seinem Heilsversprechen dem christlich-mittelalterlichen Passionsspiel erstaunlich ähnelt, sind Reaktionen bezeugt, die der aristotelischen katharsis entsprechen; vgl. Kermani, Die Wahrheit des Theaters; Barton, eleos und compassio, S. 319–325.

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• zweitens bedeutet das, dass in der Geschichte des tragischen Theaters das Mittelalter keine Lücke darstellt zwischen Antike und Neuzeit;57 • drittens könnte man weiterfragen, ob nicht nur für die Spiele, sondern auch für die anderen Praktiken der Passionsfrömmigkeit mit der in Antike und Neuzeit bekannten Mitleidslust zu rechnen ist.

4. Schlussfolgerungen Zwei Möglichkeiten gibt es, den Befund zu erklären: Man könnte Warnings Modell verwenden und behaupten, im Passionsspiel falle das christliche Todesverständnis auf ein vorchristliches Substrat zurück. Dieses Substrat könnte sich in mündlichen Totenklage-Traditionen erhalten haben, die sich in literarischen Klagedarstellungen und in den Marienklagen niederschlugen58 und die auch schon die Ästhetik der antiken Tragödie prägten.59 Wenn man darüber hinaus davon ausgeht, dass die antike Klagetradition in Byzanz lebendig blieb und die byzantinischen Marienklagen prägte60 und dass dann diese wiederum die westlichen Marienklagen beeinflussten,61 dann darf man tatsächlich eine zumindest indirekte Verbindung zwischen der antiken Klagetradition und dem westlichen Passionstheater annehmen. Die Ausdrucksform der ›archaischen‹ Totenklage entspräche – so ließe sich in Anlehnung an Warning argumentieren – dem anthropologischen Bedürfnis nach Bewältigung von Trauer und der Todesangst vielleicht besser als christlich-jenseitsorientierte Tröstungsversuche, die den Tod für bereits überwunden ausgeben. Für dieses Erklärungsmodell könnte man sich zusätzlich auf das von Platon getadelte menschliche Klagebedürfnis stützen, das die Tragödienrezeption lustvoll mache. Das Passionsspiel stellt demnach den von der Frohen Botschaft für nichtig erklärten Tod ins Zentrum und bietet eine affektive Auseinandersetzung mit der menschlichen Sterblichkeit nach Art der Tragödie. So steht es in der Ambivalenz von tragischem und christlichem Weltbild, Mythos und Kerygma. 57 Obwohl Lehmann, Tragödie, den Tragödienbegriff an Theatralität bindet und auf hilfreiche Weise neu definiert und erweitert, orientiert er sich nur an antiken und neuzeitlichen Dramen und überspringt wie selbstverständlich das mittelalterliche Theater. Gegen das Vorurteil vom »untragischen Mittelalter« wendet sich zu Recht Toepfer, Die Passion Christi, und Toe­ pfer, Höfische Tragik. 58 Dafür argumentierte Lipphardt, Studien zu den Marienklagen, etwa zur selben Zeit und im selben geistigen Umfeld wie Stumpfl, Kultspiele, auf den Warning, Funktion und Struktur, v.a. S. 39–42, Bezug nimmt. Auch Dronke, Laments of the Maries, bringt die Marienklagen mit mündlichen Klagetraditionen in Verbindung. 59 Vgl. Loraux, The Mourning Voice. 60 So Alexiou, Ritual Lament, und Maguire, Art and Eloquence. 61 Das hält sogar Lipphardt, Studien zu den Marienklagen, geradezu »für gesichert« (S. 398).

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Diesem Warningschen Substrat- und Regress-Modell könnte man ein dialektisches Modell gegenüberstellen: Die Passionsfrömmigkeit, zu der auch die Spiele gehören, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie erstens der Passion Christi so intensiv wie nur möglich gedenken will, d.h. in regelrechter com-passio, und dass sie zweitens als Lohn für die mitvollzogene Passion den Mitvollzug der Auferstehung, das persönliche Seelenheil, verspricht. Das positiviert die eigentlich schmerzliche Mitleidserfahrung von vornherein und legitimiert die Konzentration auf und die Ausgestaltung von Leidensszenarien. Wenn für die compassio-Erregung ästhetische Medien (Texte, Bilder, Theater, auch Musik) eingesetzt werden, ist die Passion zugleich vergegenwärtigt und medial distanziert, so dass die Möglichkeit der Mitleidslust gegeben ist. Als solche trägt sie ihren Zweck schon in sich selbst und ermöglicht damit eine genuin ästhetisch-literarische Erfahrung, wie man sie der antiken und neuzeitlichen Tragödie eben aufgrund des Vergnügens am ästhetischen Mitleid zuschreibt. Damit löst sie sich vom religiösen Rahmen der Passionsfrömmigkeit. Die Lust bei der Rezeption von Passionsspiel und Marienklage besteht dann ebenso wenig wie bei der Tragödie in der sadistischen Freude an der Darstellung von Gewalt – das mag bei beiden hinzukommen62 –, aber sie besteht eben auch nicht nur in frommem Osterjubel und Auferstehungsfreude, wie es die theologisch-kerygmatische Intention verlangen würde. Das Spiel ist, wie Jan-Dirk Müller in Auseinandersetzung mit Warning gesagt hat, »auf dem Weg zur Literatur«,63 und man kann es präzisieren: zur tragischen Literatur, zur Tragödie. Es steht in der Ambivalenz von religiöser und ästhetischer Erfahrung, von Kerygma und Literatur. Welches Erklärungsmodell ist überzeugender? Beide laufen auf die Tragödienartigkeit des Passionsspiels hinaus, aber die Tragödie ist jeweils unterschiedlich gedacht: das eine Mal als mythisches Ritual, das andere Mal als Literatur. Das allein widerlegt keines der Modelle, denn beide Bestimmungen haben ihre Berechtigung: Die antike Tragödie steht selbst zwischen Ritual und Literatur/ Theater; darin ähnelt sie dem mittelalterlichen Passionsspiel ohnehin mehr als der neuzeitlichen Tragödie. Dem ›Warningschen Modell‹ könnte dasselbe entgegengehalten werden wie der originalen Warning-These: Man hypostasiere die Gegenpole Mythos und Kerygma und unterstelle kulturelle Substrate, die sich nirgends belegen lassen. Marias Klagen sind natürlich genau so gespielte Rituale wie die Sündenbockopferung durch die Juden; dass aber die Rezipienten den Als-ob-Modus der Marienklagen übersteigen sollten, lässt sich an den Texten immerhin leichter belegen und ist mit 62 Aristoteles, Poetik 14, 1453b9–11, gibt zu, dass man ἡδονή auch mit der Darstellung des τερατῶδες, des Grauenhaften, also wohl z.B. offener Gewalt, hervorrufen könne; das sei aber eine weniger kunstvolle, nicht die spezifisch tragische Lust; vgl. auch Seidensticker, Distanz und Nähe, S. 105. 63 Müller, Mimesis und Ritual, S. 570.

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dem religiösen Kontext besser kompatibel, als dass sie sich mit den Judenfiguren identifizierten. Die behauptete eigentliche Funktion der Spiele wäre also nicht so latent wie in Warnings Deutung. Dass es tatsächlich eine Spannung zwischen dem christlich-kerygmatischen und einem paganen (tragischen) Passionsverständnis gibt, zeigt der »Christos paschon«, der beide Perspektiven kennt und bewusst gegeneinander führt. Das ›dialektische‹ Modell nimmt die »manifeste« Funktion des Passionstheaters, nämlich compassio als religiösen Affekt zu erregen, ernst, rechnet aber mit Eigengesetzlichkeiten des Ästhetischen, von denen sich auch religiöses Theater – als Theater – kaum freimachen kann, so dass das religiöse Theatermitleid eben immer auch ästhetisches Mitleid ist und somit zumindest potenziell das bekannte Lustmoment enthält. Mitleidslust ist seit je her für die Tragödienrezeption belegt. Wenn das Passionsspiel also Theatermitleid hervorzurufen sucht, entspricht die Rezeption des Passionsspiels zumindest der Möglichkeit nach derjenigen der Tragödie. Einwände gegen dieses Erklärungsmodell müssten sich gegen die Eigengesetzlichkeiten des Ästhetischen richten, die allerdings nach der WarningDiskussion nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Das zweite Erklärungsmodell erscheint also insgesamt vorsichtiger als das erste, aber wenn man Warnings Methode (mit manifester und latenter Funktion, Mythos und Kerygma) nicht prinzipiell misstraut, vermag das erste Modell zumindest einigen der gegen Warnings These erhobenen Einwände zu begegnen und könnte so Warnings Ansatz produktiv weiterführen. Für die weitere Erforschung der westlichen Passionsfrömmigkeit, insbesondere des Passionstheaters, sollten so oder so die Einflüsse aus Byzanz stärker berücksichtigt werden, wo griechisch-antike Traditionen wie die Tragödie, die im Westen erst mit der Renaissance wiederentdeckt wurde, durchgängig präsent waren. Welche Erklärung man auch immer bevorzugt, Ziel der Ausführungen war es, deutlich zu machen, dass das Mitleid keineswegs nur ein religiöser Affekt, sondern selbst ambivalent ist zwischen religiös-mystischer und ästhetisch-literarischer Erfahrung sowie zwischen (kerygmatischem) Erinnern und (mythischem) Vergegenwärtigen, dass es also die Bedingung schafft für die diskutierten Ambivalenzen des Passionsspiels. Mit dem Theatermitleid korrespondiert eine Ästhetik, die man als tragisch oder tragödienartig bezeichnen und die aus christlich-theologischer Sicht problematisch erscheinen kann, gleichviel, ob man die Tragödie nun eher als Ritual oder eher als Literatur versteht.

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Julia Gold Mitleid mit dem Teufel? Ambivalenzen einer altbekannten Figur im geistlichen Spiel des Mittelalters und im protestantischen Drama der Frühen Neuzeit Heller, warmer Sommertag. Der Teufel sitzt auf einem Hügel und friert. Teufel. ’s ist kalt, – kalt – in der Hölle ists wärmer! – Satirische Großmutter hat mir zwar, weil sieben am häufigsten in der Bibel vorkommt, sieben Pelzhemdchen, sieben Pelzmäntelchen und sieben Pelzmützchen angezogen, – aber ’s ist kalt, – kalt – Hol mich Gott, es ist sehr kalt! – – Könnt ich nur Holz stehlen oder ’nen Wald anzünden, – ’nen Wald anzünden! – Alle Engel, ’s wäre doch kurios, wenn der Teufel erfrieren müßte! – – Holz stehlen, – Wald anzünden, – anzünden! – stehlen – (Er erfriert.) Christian Dietrich Grabbe: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung I,2

Vorbemerkungen Teufel gehören zum angestammten Personal auf der Bühne des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Das »Böse[ ] auf der Bühne«1 ist in seinem Facettenreichtum in den letzten Jahrzehnten ein beliebtes Forschungsthema gewesen. Nicht zuletzt Rainer Warning hat die kontroverse Diskussion um den Stellenwert des Bösen im geistlichen Spiel befördert. Er sieht in den Spielen des Mittelalters die Hölle trotz der Erlösungstat Christi nicht überwunden; vielmehr stehe der Teufel als Gegenmacht wieder auf.2 Warning postuliert einen »dualistischen Kampf[ ]« zwischen Gut und Böse, wobei »Heilsgeschichte […] als ein in mythischer Vergangenheit ausgetragener Kampf Gottes mit dem Teufel« erscheine.3 Durch die »Rückkehr in den Anfang, die identische Wiedervergegenwärtigung von Kampf und Sieg im 1 Barton/Ridder, Ästhetik des Bösen, S. 233. 2 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 74f., S. 110, S. 177 u.ö. Vgl. dazu auch Haug, Wiederkehr des Bösen, S. 364f. 3 Warning, Funktion und Struktur, S. 30f.

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Sinne eines archetypischen Modells« werde »Heilsgeschichte zum Mythos, das Spiel zu seiner rituellen Vergegenwärtigung«4. Dabei zeige sich die »terroristische[ ] Realität teuflischer Allmacht«5. Walter Haug hat in seinen Überlegungen zu Rainer Warnings und Friedrich Ohlys Thesen6 hervorgehoben, dass die »neue Qualität in der Erfahrung des Bösen«7, die im geistlichen Spiel allenthalben präsent sei, es mithin auch erlaube, die Teufelsfigur als eine äußerst vielschichtige darzustellen. Schließlich trete der (hier: klagende) Teufel nicht nur rhetorisch und literarisch, sondern auch – und dies ist für die Diskussion um die Ambivalenz im Warning’schen Sinne besonders relevant – theatral in Erscheinung.8 In welcher Form der klagende, leidende Teufel dabei nicht nur literatur-, sondern auch bühnenfähig wird, ist freilich für jeden einzelnen Fall neu zu beschreiben.9 Als Hypothese nehme ich an, dass der Spielraum und die Inszenierung des Bösen immer schon eine ambivalente Sicht auf eine ebenso ambivalente Teufelsfigur ermöglichen. Unter ›Ambivalenz‹ (im Sinne einer Doppelwertigkeit)10 verstehe ich folglich ein Phänomen, das sich auf zwei Ebenen ausmachen lässt: Zum einen ist sie in der Figur selbst angelegt,11 zum anderen ermöglicht diese doppelwertige Figur auch eine Doppelwertigkeit in der Rezeptionshaltung.12 Der 4 Ebd., S. 31. Vgl. auch Warnings erneute Stellungnahme zu seinen Thesen: Warning, Hermeneutische Fallen, S. 29–41. 5 Warning, Funktion und Struktur, S. 75. Mit Bezug auf das »Adamsspiel« spricht Warning, Ritus, Mythos und Geistliches Spiel, S. 218, von einem »wiederkehrenden dämonologischen Gegenmythos«. So werde ein mythologischer Dualismus in den Spielen fortgesetzt; vgl. auch Warning, Funktion und Struktur, S. 64f. 6 Ohly, Ausgewählte und neue Schriften, S. 113–144 (zuerst 1979). 7 Haug, Wiederkehr des Bösen, S. 368. 8 Ebd. 9 Einerseits will man zeigen, dass das Böse bereits ausgespielt hat, der Teufel besiegt ist; andererseits gesteht man dem Bösen einen nicht unerheblichen Eigenwert zu, indem man sein Wirken lustvoll zur Schau stellt. Vgl. dazu Haug, Wiederkehr des Bösen, S. 368. In der Aktua­li­sie­rung der Heilsgeschichte – die Spiele intendieren durch die Aufführung eine Teilhabe am Heil, so in Bezug auf das Passionsspiel auch Warning, Funktion und Struktur, S. 66, der darin jedoch den Beleg für die latente Funktion eines sich vollziehenden Sündenbockrituals zu erkennen glaubt – vollzieht sich die Überwindung des Bösen. Die Forschung hat insbesondere das Verlachen des Teufels als Strategie zur Bewältigung des Bösen diskutiert; vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 110f., der den »Terror« durch Komik kompensiert sieht, wobei dem paganen Dualismus gerade hier Einlass in das Spiel gewährt werde; ferner Haug, Das Komische und das Heilige, S. 257–274; Ridder, Erlösendes Lachen, S. 195–206; Gvozdeva/Röcke, »risus sacer«; Schnell, Geistliches Spiel und Lachen, S. 76–93; Freise, Geistliche Spiele, S. 432 [Anm. 297]. 10 Vgl. die dem Wort inhärente Bedeutung von lateinisch ambo ›beide‹ und valere ›gelten‹, ›wert sein‹. 11 Zu den theologisch fundierten Gründen vgl. unten. 12 Dass ›Ambivalenz‹ ein Terminus ist, der ebenso schillernd ist wie das durch ihn Bezeichnete, lässt sich daran ablesen, dass in der Forschung kaum je einmal eine klare Definition benannt wird. Ganz Ähnliches gilt für den Terminus ›Ambiguität‹, der jedoch in jüngster Zeit proble-

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Teufel als Inkarnation des Bösen ist auch und vor allem, so möchte ich anhand ausgewählter Beispiele zeigen, relevant, wenn es um die Frage nach »Mitleid mit Schuldigen«13 geht – scheinen seine je eigenen Reueklagen doch prinzipiell dazu angetan, Empathie zu befördern. ›Mitleid‹ meint in diesem Kontext ein rezeptionsbezogenes Phänomen, das jedoch nur aus der Figurenrede14 erschlossen werden kann, da Rezeptions- bzw. Aufführungszeugnisse fehlen. Ob die Spiele dabei versuchen, »ihr Wirkungspotential dogmatisch korrekt zu kontrollieren«15, wird zu fragen sein. Angenommen wird, dass die Texte unabhängig von einer tatsächlich nachweisbaren Rezeption ein spezifisches Teufelsbild entwerfen, das die diabolischen Figuren als ambivalent erscheinen lässt und dergestalt ein ›reflexives Mitleid‹ befördert. Damit ist auch die Frage verbunden, wie die Auftritte von klagenden Teufeln auf der Bühne bewertet werden können. Mit meiner Analyse knüpfe ich an literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen nach dem Bösen, seiner Darstellung und Funktion an. Ich nehme dabei im Anschluss an Haug vor allem die rhetorische, literarische und theatrale Darstellungsform der Klage in den Blick. Konzentrieren werde ich mich auf drei Fallbeispiele: zwei vorreformatorische Spiele und ein reformatorisches Drama. Es stellt sich nämlich auch die Frage, inwieweit sich im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen Positionen verschieben und/oder revidiert werden. Im kulturell-religiösen Kontext des Spiels ist die Dynamik religiöser Wissensbildung über den Teufel und seine heilsgeschichtliche Rolle sowie die damit verbundene Ambivalenz der Figur zu betrachten. Eine weitere Ambivalenz lässt sich sodann als mögliche doppelwertige Rezeptionshaltung bestimmen. Zwei Leitfragen werde ich im Folgenden nachgehen: Inwieweit lässt sich Ambivalenz im Sinne der oben beschriebenen Definition als heuristische Kategorie für die Analyse ausgewählter Teufelsklageszenen fruchtbar machen? Und wie inszenieren das vorreformatorische und das nachreformatorische Drama die Teufelsklage, mithin eine möglicherweise mitleiderregende Teufelsfigur? Ich konturiere zunächst einige Positionen der Theologie, genauer: soteriologisch relevante Argumente. In einem zweiten Schritt beschreibe ich anhand der ausgewählten Spiele, wie die Teufel selbst ihre Erlösungschancen einschätzen und welche Funktion mit einer solchen Teufelsrede verbunden ist. Drittens frage ich danach, wie die literarischen und theatralen Entwürfe die Möglichkeit eines mitleiderregenden und mitleidbedürftigen Teufels bewerten. matisiert und konturiert wurde. Vgl. Auge/Witthöft, Ambiguität. Ich definiere ›Ambivalenz‹ wie oben beschrieben als Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit auf der jeweils befragten Ebene. 13 So lautet eine Kapitelüberschrift der für die Mitleidsthematik einschlägigen Studie von Ulrich Barton: Barton, eleos und compassio, S. 307. 14 Weder die Redebeiträge der Kommentatorenfiguren noch die Pro- und Epiloge bieten in Bezug auf die ›bösen‹ Figuren Hinweise auf ein erwünschtes Erregen von Mitleid. 15 Müller, Mimesis und Ritual, S. 138.

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1. Theologische Positionen Theologisch gesehen ist ein strikter Dualismus von Gut und Böse nicht möglich; weil die Schöpfung Gottes ursprünglich gut ist, widerspricht ein radikal-dualistisches Konzept der vormodernen Ontologie.16 Erst die bewusste, d.h. willentliche Entscheidung zur Abkehr von Gott, und damit vom Guten, bringt das Böse hervor, wobei es jedoch stets untergeordnetes Phänomen bleiben muss. Es untersteht dem allmächtigen Gott – und wie wir sehen werden, wissen das auch die Teufel der Spiele. Noch nichts ausgesagt ist damit freilich über den Eigenwert, den das Böse in den Zeugnissen erhält. So scheint doch gerade das figurierte Böse literarisch gesehen sehr produktiv gewesen zu sein, was sich nicht zuletzt in den hier zu untersuchenden Spieltexten zeigt. Die klagenden Teufel der im Folgenden zu behandelnden Texte heben – mit Ausnahme meines dritten Beispiels – den Hochmut als Auslöser für den Abfall von Gott hervor. Damit folgen sie gängiger Lehrmeinung, bestand doch seit jeher über die Ursache des Engelsturzes kein Zweifel.17 Weil Luzifer aus Stolz gottgleich sein wollte, erhob er sich über seinen Schöpfer. Mit Verweis auf Jes 14,12: »Ach, du bist vom Himmel gefallen, du strahlender Sohn der Morgenröte. Zu Boden bist du geschmettert, du Bezwinger der Völker«18 wurde superbia als erste und größte Sünde identifiziert, die den Sturz Luzifers und seiner Gefolgschaft nach sich zog. Diffiziler war die Beantwortung soteriologischer und eschatologischer Fragen mit Blick auf Luzifer: Darf man mit dem Teufel Mitleid haben? Wie ist es um seine Erlösungsfähigkeit bestellt? Diese Fragen wurden seit den Kirchenvätern immer wieder teils kontrovers diskutiert. Ich skizziere in aller gebotenen Kürze einige wichtige Positionen, um den normativen Rahmen der Fragestellung abzustecken. Herausragender Vertreter einer Theologie, die dem Teufel durchaus Erlösungsfähigkeit zuspricht, ist Origenes (185/86–253/54).19 Er nimmt die Worte aus 1 Kor 15,28 ernst (»Gott herrscht über alles und in allem«) und daher »für alle geistigen Wesen einen Läuterungs- und Erziehungsprozeß an«.20 Gleichsam ver16 Vgl. Angenendt, Religiosität im Mittelalter, S.  113. Darauf weist auch Warning, Funktion und Struktur, S. 64, hin. Der Dualismus, der sich in den geistlichen Spielen zeige, entstehe durch den oben bereits angesprochenen ›Rückfall‹ in den Mythos. Vgl. dazu auch Ridder, Erlösendes Lachen, S. 201. 17 Vgl. dazu etwa Dochhorn, Sturz des Teufels. 18 Die deutschsprachigen Bibelzitate folgen soweit nicht anders angegeben der Einheitsübersetzung. 19 Vgl. u.a. Fürst, Ethische Aspekte, S. 165–184 (dort mit weiterführender Literatur), sowie den älteren Beitrag von Müller, Origenes und die Apokatastasis; Williams, Origenes/Origenismus, S. 397–420, nimmt hingegen auf die Apokatastasis keinen Bezug. 20 May, Eschatologie V, S.  302. Problematisch in Bezug auf die Quellenlage erweist sich die Tatsache, dass Origenes sich vor allem in »De principiis« (so beispielsweise in De princ. I,6; II,3,3.5.7. und III,5,6–6,6) zu dieser Thematik geäußert hat, einer Schrift folglich, die größ-

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bunden ist damit, dass der Teufel am Prozess dieser Eliminierung des Bösen und am daraus resultierenden Heil partizipiert. Kulminationspunkt ist die Apokatastasis, die restitutio omnium, die Origenes in Ps 110,1 und in der bereits genannten Stelle aus 1 Kor 15,25–28 vorgebildet sieht.21 Mit dieser Vorstellung ist keineswegs eine Lizenz zum Sündigen verbunden, und sie stellt auch nicht die moralischen Anstrengungen des Menschen in Frage. Vielmehr entwirft Origenes mit seiner Lehre von der Heilsgewissheit ein rigoroses pädagogisches Programm.22 Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist, dass Origenes die Macht des Bösen durchaus ernst nimmt, jedoch davon ausgeht, dass sich die Liebe Gottes letztlich als stärker erweisen wird.23 Den Sünder erwartet die ihm gebührende, rechtmäßige Strafe, die Origenes als ewiges Feuer beschreibt. Nach und nach jedoch erfasst der Besserungsprozess den sündigen Menschen, der sich aus freien Stücken Gott zuwendet. Christus beendet die Strafe schließlich, indem er alle Heilswilligen (auch den Teufel) aus dem tiefsten Elend zurückholt. Hier vollzieht sich das Ausgerichtetsein auf Christus in seiner letzten und unausweichlichen Konsequenz. Die ›Heil‹-Kraft des Erlösers überwindet selbst das schlimmste Übel. Es ist dies ein Ausgerichtetsein auf Christus, das auch in der Teufelsrede der Spiele begegnet. Die Hoffnung auf das Heil ist folglich mit einem Programm verbunden, das den Menschen zum Mitmachen aufruft. Nicht gemeint ist damit das »Versprechen ei-

tenteils nur über die lateinische Übertragung des Rufinus auf uns gekommen ist. Vgl. dazu Kelly, Teufel V, S. 125f. – Die Zitate aus »De principiis« folgen der Ausgabe Görgemanns/ Karpp (Hgg.), Vier Bücher von den Prinzipien. 21 »So spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße« (Ps 110,1); »denn er [Christus, J.G.] muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod. Sonst hätte er ihm nicht alles zu Füßen gelegt. Wenn es aber heißt, alles sei unterworfen, ist offenbar der ausgenommen, der ihm alles unterwirft. Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem« (1 Kor 15,25–28); vgl. dazu auch May, Eschatologie V, S. 302, sowie Kelly, Teufel V, S. 126. 22 Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf die luziden Ausführungen bei Fürst, Ethische Aspekte, S. 170–176. 23 Vgl. Fürst, Ethische Aspekte, S. 173. Bei Origenes heißt es: ›Destrui‹ sane ›novissimus inimicus‹ ita intellegendus est, non ut substantia eius quae a deo facta | est pereat, sed ut propsitum et voluntas inimica, quae non a deo sed ab ipso processit, intereat. ›Destruetur‹ ergo, non ut non sit, sed ut ›inimicus‹ et ›mors‹ non sit. ›Nihil‹ enim omnipotenti ›impossibile est‹, nec insanabile est aliquid factori suo (III,6,5). »Die ›Vernichtung des letzten Feindes‹ ist aber so zu verstehen, daß nicht seine von Gott geschaffene Substanz vergeht, sondern seine feindliche Willensrichtung, die nicht von Gott, sondern von ihm selbst stammt. Er wird also vernichtet, nicht um (künftig) nicht zu sein, sondern um (künftig) nicht (mehr) ›Feind‹ und ›Tod‹ zu sein. Denn dem Allmächtigen ›ist nichts unmöglich‹ (vgl. Hiob 42,2), und nichts ist unheilbar für den, der es gemacht hat«; Übers. nach Görgemanns/Karpp (Hgg.), Vier Bücher von den Prinzipien, S. 657.

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ner billigen Heilsgewissheit«,24 sondern die Aufforderung zur aktiven Teilnahme am Glauben. Das Seelenheil kann nicht durch Passivität erlangt werden. Bereits Mitte des 6. Jahrhunderts wurden Origenes’ Lehren auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel in fünf Anathemata als ketzerisch abgelehnt. Zuvor hatte schon Augustinus (354–430) die origeneische Position verworfen und in den Anhängern der Apokatastasis-These »mitleidige Seelen« gesehen, unter denen Origenes »noch mitleidiger« sei.25 Um seine Ablehnung zu begründen, argumentiert Augustinus mit der Heiligen Schrift, die doch unmissverständlich von einer zeitlich auf Ewigkeit ausgerichteten Strafe spreche.26 Das wohl erstmals bei ihm so formulierte Dictum, dass Gott keine Sünde ungestraft lasse, widerspricht der origeneischen Theorie recht eigentlich nicht, doch wurde es immer wieder in diesem Sinne gedeutet. Die Theologen des Mittelalters folgten Augustinus und lehnten die Eschatologie des Origenes dementsprechend ab. Anselm von Canterbury (um 1033–1109) formuliert etwa, die ausgleichende Gerechtigkeit sei ein »ehernes ›Muss‹«27, Gerechtigkeit erscheint hier als der Güte und Gnade vorgeordnet. Auch die Scholastik schloss sich Augustinus an.28 So diskutiert Thomas von Aquin (um 1225–1274) in »De malo« die Positionen von Origenes und Augustinus und kommt zu dem Schluss, dass der Teufel nicht fähig sei, Schuld zu empfinden, und notwendig im Bösen verharre. Insofern sei er nicht in der Lage, Gnade zu erlangen.29

24 Fürst, Ethische Aspekte, S. 175. 25 qua in re misericordior profecto fuit Origenes, qui et ipsum diabolum atque angelos eius post grauiora pro meritis et diuturniora supplicia ex illis cruciatibus eruendos et sociandos sanctis angelis credidit. (»In diesem Punkte war Origenes wahrlich noch mitleidiger, denn er glaubte, sogar der Teufel und seine Engel würden nach einer ihrer Schuld entsprechenden härteren und länger dauernden Bestrafung diesen Qualen entrissen und den heiligen Engeln zugesellt werden.«). Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXI,17 [PL 41], Sp. 731f.; Übers. nach Thimme (Hg.), Vom Gottesstaat, S. 712. Vgl. dazu auch Fürst, Ethische Aspekte, S. 168. 26 Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXI,23 [PL 41], Sp. 735f. 27 Angenendt, Religiosität im Mittelalter, S. 97. 28 Ebd., S. 741. In den Positionen Anselms und der Scholastiker sieht Warning die Ausgrenzung des Teufels begründet, die er als Ausgrenzung des »mythologischen Dualismus« versteht; letzterer finde gerade dann seine Fortsetzung in den volkssprachigen Spielen; Warning, Ritus, Mythos und Geistliches Spiel, S. 218. 29 Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae, De malo, De demonibus, q. 16, a. 5. Ich zitiere nach der Editio Leonina 23 (1982), S. 302–307. Thomas resümiert: immobiliter permanere in malo non conuenit diabolo ex una causa set ex duabus : nam esse in malo competit ei ex propria uoluntate, set immobiliter inherere ei ad quod uoluntas applicatur, conuenit ei ex propria natura […] diabolus non potest […] culpam sentire; ebd., S. 306: »Es entspricht dem Teufel nicht nur aus einem Grund, unveränderlich im Bösen zu verbleiben, sondern aus zwei: Denn ins Böse verfallen zu sein, ist seinem eigenen Willen anzulasten, daß er aber in dem, worauf er seinen Willen verlegt hat, verbleibt, ist seiner Wesensbeschaffenheit anzurechnen […] der Teufel [kann] keine Schuld verspüren« (Übers. nach Schäfer, Vom Übel, S. 287).

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Nach Johannes Duns Scotus (1265/66–1308) können Engel sich für das Gute oder Böse entscheiden, wobei diese Entscheidung in einem festgesetzten Ende ihrer Prüfung endgültig wird. Da dieses Ende jedoch bereits erreicht ist, können Teufel keine Buße mehr tun.30 Und auch Luther (1483–1546) spricht sich gegen einen erlösungsfähigen Teufel aus: Am letzten gleube ich die aufferstehung aller todten am Jngsten tage, beyde der frumen und bsen, das ein iglicher daselbs empfahe an seinem leibe, wie ers verdienet hat, Und also die frumen ewiglich leben mit Christo, und die bsen ewiglich sterben mit dem teuffel und seinen engeln, Denn ichs nicht halte mit denen, so da leren, das die teuffel auch werden endlich zur seligkeit komen.31

Die vehemente Kritik, die Origenes’ Hoffnung auf ein uneingeschränktes, für alle zugängliches Heil hervorrief, zielte vor allem auf den Vorwurf einer ethischmoralisch fragwürdigen Lehre; die Überlegung einer prinzipiellen Erlösbarkeit des Teufels erschien folglich moraltheologisch prekär. Letztlich mündete die Ablehnung der Lehre in die »gemeinchristliche[ ] Überzeugung«,32 dass das Ende der Geschöpfe auf Erlösung oder Verdammung, Rechtfertigung oder Verwerfung hinauslaufe.33 Insofern scheint im Bereich der kanonistischen Deutungen wenig Raum zu sein für einen Teufel, der mitleidswürdig, mithin ›erlösungstauglich‹ ist. Wie positionieren sich die Spiele zu diesem theologisch doch sehr eindeutigen Feld? In welcher Weise repräsentieren und interpretieren sie die Erlösungschancen der Teufelsfigur?

30 Vgl. Tavard, Engel V, S. 605. Die guten Engel aber gewinnen an Erkenntnis und schreiten in der Liebe Gottes voran, so wie es auch der menschlichen Seele für den Himmel verheißen ist. Ebd. 31 Luther, Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis M. Luthers (1528), zitiert nach der Weimarer Ausgabe [WA], hier WA, Bd. 26 (1909), S. 509. 32 Fürst, Ethische Aspekte, S. 165. 33 Angenendt sieht darin eine »Hölle der Vergeltung«, die aus mangelnder Rechtstaatlichkeit resultiere; Angenendt, Religiosität im Mittelalter, S. 743. Für möglich hält er daneben auch, dass sich in der Vorstellung von ewiger Bestrafung ein »nach außen gesetztes Schuld- und Strafbewußtsein« zeige, ebd.

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2. Warum der Teufel nicht erlöst werden kann: Antworten der Spiele 2.1 Der klagende Teufel im »Redentiner Osterspiel« Als erstes Beispiel greife ich das »Redentiner Osterspiel« (um 1464)34 heraus, in dem Luzifer und Satan35 über ihren Stand, ihre ihnen zugewiesene Rolle und ihre Möglichkeit, erlöst zu werden, reflektieren.36 Die Szene37 ist Bestandteil der Seelenfangszenen, denen nur noch der Epilog folgt. Nachdem Satan einen sündigen Priester in die Hölle geführt hat, dieser freilich immer noch mächtig über die Teufel ist, da ihn sein geistliches Amt schützt, verbannt Luzifer Satan aus der Hölle: Er überlässt ihn dem Priester, der Satan bannen kann.38 Für den Rezipienten steht bereits aufgrund der Rede des sündigen, gleichwohl wahrheitverkündenden Priesters fest: Enes dinghes bun ik wis, / Dat got jo weldegher wen de duvel is (V. 1912f.).39 Die einzige Waffe, die der Teufel einsetzen kann, ist die Sünde, die den Menschen in die Hölle treibt (Gy scholt myt us to der helle reyen, / Wen gy de sunde hebben ghedan, V. 1921f.). Zur Sünde anzustiften, den Menschen zu betrügen, ist des Teufels Metier: Ik hape, we wilt er noch bedreghen (V. 1929). Luzifers unvermittelt einsetzende Klage (Item Lucifer lamentando) vermittelt trotz eines nicht mangelnden teuflischen Selbstbewusstseins einen recht armseligen Eindruck:40 34 Der Codex, der das »Redentiner Osterspiel« überliefert, datiert auf das Jahr 1464 und wird in der Karlsruher Landesbibliothek aufbewahrt (Karlsruhe, Landesbibl., Cod. K 369); zum »Redentiner Osterspiel« vgl. einführend Linke, Redentiner Osterspiel, Sp. 1065–1069; ferner Obhof, Untersuchungen, S. 1–10; Bergmann, Katalog, Nr. 69, S. 166–168. 35 Angezeigt sind damit überkommene Teufelshierarchien: Luzifer, der Lichtbringer – eben jener gefallene Engel, der nach Jes 14,12 mit dem Morgenstern identifiziert wird –, ist der Fürst der Hölle, Satan hingegen sein Vasall. Vgl. zu diesen Hierarchien auch Grübel, Hierarchie der Teufel. 36 Zu den Teufelsszenen im »Redentiner Osterspiel« vgl. Wolff, Teufelsszenen, S.  424–431; Linke, Teufelsszenen, S. 89–105; Wolf, Zur Hölle mit dem Teufel!, S. 283–287; Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 181–214. 37 Die Priesterszene ist raffiniert in die Spielhandlung eingebunden. Bedeutsam erscheint vor allem, dass der Priester Satan so täuscht, wie Christus ihn bereits zuvor getäuscht hatte, was der Theorie der pia fraus entspricht: »Die ›fromme Täuschung‹ des Erlösers wiederholt sich in invertierter Form« (Petersen, Ritual und Theater, S. 208). Vgl. dazu ferner Schottmann, Redentiner Osterspiel, S. 256f.; Quast, Vom Kult zur Kunst, S. 130f.; Claußnitzer, Sub specie aeternitatis, S. 204f.; Bockmann, Bemerkungen, S. 99–102. 38 Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S.  190, hat gezeigt, dass dies gewissermaßen der Schlusspunkt einer ganzen Reihe von »Konfusions-, Niedergangs- und Verfallserscheinungen« ist, die den Teufel als schwachen Herrscher markieren, »der unter der Last seines Amtes leidet und schier zusammenbricht«. 39 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Schottmann (Hg.), Redentiner Osterspiel. 40 Linke, Redentiner Osterspiel, Sp. 1067, spricht von »wehleidige[r] Larmoyanz«.

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Dor mynen homut bun ik vorlaren. O wig, dat ik je wart ghebaren! O we, wapen my vil armen! We schal sik aver my vorbarmen, Dat ik hebbe ovele dan? Mochte ik ruwe unde bute an gan, De wolde ik gherne liden Nu unde to allen tyden! (V. 1930–1937)

Luzifer weiß, dass er wegen seines Hochmuts verloren ist. Von Anfang an stehen damit die Vorzeichen für die Klage fest. Die Unabänderlichkeit seines Zustandes ist nicht hinterfragbar. So verflucht er seine Geburt41 und beklagt, dass sich niemand seiner erbarmen werde, da er so viel Böses getan habe. Besonders bedeutsam ist der Ausruf O wig, dat ik je wart ghebaren! (V. 1931), da der Teufel doch eigentlich nicht geboren, sondern geschaffen ist.42 Luzifer vermenschlicht sich selbst. Daher kann er auch mit dem Gedanken spielen, er könne wie ein Mensch Vergebung finden. Die rhetorische Frage ›Wer wird sich meiner erbarmen?‹ macht nicht zuletzt durch diese Vermenschlichung immerhin denkbar, dazu anzuleiten, eben dieses Erbarmen zu empfinden, das in einem nächsten Schritt »reuevolle[] Selbsterkenntnis«43 beim Rezipienten evoziert. Luzifer wird zu einem Mahner, der das Publikum zu Reue und Buße auffordert. Eben diese Reue geht dem Teufel ab. Er kann folglich die basalen Schritte Reue und Buße auf dem Weg zum Heil nicht gehen.44 Das Gedankenexperiment des reuigen Teufels lässt das »Redentiner Osterspiel« nicht zu. Eben diese ruwe unde bute (V. 1935) ist es aber, die der Rezipient angesichts des unerlösbaren Teufels vergegenwärtigen und in dessen Folge auch vollziehen soll. Ursprung aller Unerlösbarkeit ist auch hier, wie im Anschluss an Jes 14,12 üblich, die superbia, der Hochmut als erste Hauptsünde, die den Teufel gegen Gott aufbegehren ließ und die zu seinem Sturz führte. 41 Die Verfluchung der Geburt ist ein gängiges Motiv, das auch in anderen Spielen auftaucht. 42 Nur Christus ist aus Gott geboren, der Mensch ist aus dem Menschen geboren. Der Teufel als Geistwesen hingegen ist geschaffen. Vgl. dazu unten, S. 138 dieses Beitrags. 43 Barton, eleos und compassio, S. 311. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt Barton in Bezug auf das »Eisenacher Zehnjungfrauenspiel«, ebd., S. 309–312. Zwar scheint mir die Verfasstheit teuflischen Handelns per se anders konstruiert zu sein, als es bei den törichten Jungfrauen der Fall ist; im Ergebnis ihres Handelns jedoch unterscheiden sich die Negativfiguren nicht. 44 Schottmann, Redentiner Osterspiel, S.  165, übersetzt an gan mit »auf sich nehmen«. Das Verb kann allerdings auch den Aufbruch in eine bestimmte Richtung bezeichnen und so das Prozesshafte hervorheben. Vgl. Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1 (1956), Sp. 86. Vgl. für eine ähnliche Verwendung im Mittelhochdeutschen: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1 (2013), Sp. 234. Die Möglichkeit, zu Reue und Buße zu finden, fehlt dem Teufel hier anscheinend; sie ist für ihn unerreichbar. Frei formuliert ließe sich der Vers mit »Hätte ich die Möglichkeit, mich auf den Weg von Reue und Buße zu begeben« übertragen. Mitgedacht ist eine Trias von Reue, Buße und Vergebung.

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Das Negativexemplum stellt anschaulich heraus, was den Teufel vom Menschen prinzipiell unterscheidet: die Möglichkeit zu Reue und Buße und, in deren Folge, die Möglichkeit, Vergebung und Erlösung zu erlangen. Die Teufelsrede folgt einem strukturierten Prinzip; Luzifer klagt gewissermaßen in ›geordneten Gedanken‹, wenn er nach diesem ersten Schritt einen zweiten anschließt. Er überlegt nun, wie er die Möglichkeit, wenn nicht zur Reue, so doch immerhin zur Buße, erlangen könne. Als adäquates Mittel erwägt er die Selbstkasteiung: Hir scholde en hoch bom stan, De scholde wesen alzo ghetan: Van afgrunde up gheleydet Unde myt scharpen schermessen ummecleydet, De scholden to beyden enden snyden, Den wolde ik up unde nedder riden Wente an den junghesten dach! (V. 1938–1944)

Im Bild des Baumes, der vom Abgrund hinauf (in den Himmel) führt und der mit scharfen Schermessern umkleidet ist, expliziert Luzifer, welchen Schmerz er zu ertragen bereit wäre. Die von beiden Seiten schneidenden Messer, die jede Bewegung zur Qual werden lassen, wolle er bis zum Jüngsten Tag hinauf- und herunterrutschen. Doch auch die Nachfolge Christi im Sinne eines aktiv herbeigeführten körperlichen Schmerzes, die dem Menschen prinzipiell möglich ist (und die u.a. in der Leidensmystik sowie in der Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters durchaus als praktikabler Weg zu Gott gilt), bleibt für den Teufel nur im Irrealis sagbar. Im Modus des irrealen Wunsches imaginiert der Teufel Blutvergießen und das Empfinden von Leid als Medium der Sühne, womit gleichsam deutlich wird, dass die Erlösungstat Christi auch hier der Bezugspunkt bleibt, Luzifer gewissermaßen passionsorientiert denkt. Dass Luzifer bei seinen Sühneüberlegungen von einem bom spricht, ist sicherlich kein Zufall,45 verweist er damit doch auf den Paradiesbaum, der im durch ihn herbeigeführten Sündenfall des Menschen zum Symbol der Sünde selbst wird.46 An eben diesem Anfang steht auch die Sünde Luzifers, sein Hochmut, der ihn in den afgrunde beförderte. Zugleich führt der Verweis auf den Sündenfall als Ursprung des Leids Mensch und Teufel eng. An beider Anfang steht der Fehltritt. Hingedeutet wird damit auf die Intention der Szene: die Bewusstmachung der eigenen Sündhaftigkeit und der daraus resultierende Dank für die Heilstat Christi am Kreuz – dies umso mehr, als dem Holz des Paradiesbaumes ein typologischer Sinn eingeschrieben ist. Die 45 Dies belegt auch die alternative Wortwahl im u.g. Beispiel aus dem »Egerer Passionsspiel«: seül, V. 241; zitiert nach Milchsack (Hg.), Egerer Fronleichnamsspiel. 46 Schottmann, Redentiner Osterspiel, S. 260, verweist auf das Motiv des Baumes, an dem die Seele aufsteigt (d.h., den Lebensbaum, der gleichzeitig das Kreuz Christi ist).

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der Teufelsrede inhärente Doppelungs- und Verweisstruktur zielt auf das Holz des Kreuzes Christi als eines ›aufrechten‹ Marterwerkzeugs.47 Die typologische Struktur stellt den Bezug von Sündenfall und Wiedergutmachung, von Schuld und Sühne her, und verdeutlicht ein weiteres Mal das göttliche Geschenk der Gnade, das der Mensch aktiv annehmen kann, das der Teufel hingegen nur als Wunschvorstellung kennt. Unterstrichen wird diese Semantik des bom[s] als lignum crucis nicht zuletzt auch durch die Kreuzholzlegende, die dem »Redentiner Osterspiel« bezeichnenderweise inseriert ist (vgl. V. 339–362). Erzählt wird sie von Seth, einem der Söhne Adams, und gehört damit gleichsam in den Bereich der typologischen Verweisstruktur. Nimmt man die von Ukena-Best aufgezeigte moraltheologische Fundierung der Figurengestaltung hinzu, stellt der Baum zugleich das Pendant zum Lasterbaum dar, der als Früchte alle vom Teufel verkörperten Sünden hervorbringt.48 In allen Fällen aber führt die Polyvalenz des Baumes auf ein Ziel hin: die Wiedergutmachung der Sünde und die damit erhoffte Erlösung. Luzifer wird, so Schottmann, »fast als ›tragische‹ Figur gesehen, und diese ›Tragik‹ spricht auch aus Luzifers Erlösungssehnsucht«.49 Noch einen Schritt weitergehend, verkörpert Luzifer nicht nur die Erlösungssehnsucht, sondern gleichermaßen eine auf das göttliche Ziel hin ausgerichtete Leid- und Schmerzsehnsucht.50 Auch das qualvolle Leiden ist für ihn nur unerfüllbarer Wunsch, weil er weiß, dass er einst seine Erlösungsfähigkeit selbst verspielt hat und es für ihn nun keine Gnade mehr geben kann: Des mot ik schrien o wig unde o wach, / Nu my des nicht mach beschen! (V. 1945f.). Auch kennt Luzifer sein Vergehen, das nicht gesühnt werden kann und das er nicht müde wird, mitzuteilen: Dat maket de 47 Dass dem Publikum solche typologischen Strukturen durchaus bekannt gewesen sein dürften, zeigt sich nicht nur im Medium der Schrift, sondern auch im Medium des Bildes, das diese Strukturen vor Augen stellt, so etwa in einer Miniatur aus einem Missale des 15. Jahrhunderts: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00045166/image_127 (letzter Zugriff 05.06.2017). 48 Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 192f., dort mit Verweis auf den Traktat Hugos von St. Victor »De fructibus carnis et spiritus«. Vgl. Hugo de S. Victore: De fructibus carnis et spiritus [PL 176], Sp. 997–1006C. 49 Schottmann, Redentiner Osterspiel, S.  259, Komm. zu V.  1932–37. Vgl. auch Wolf, Zur Hölle mit dem Teufel!, S.  286. Ganz anders bewertet Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 206, die Szene: »Sein [Luzifers, J.G.] morbider Zustand, seine von Furchtsamkeit und weinerlichem Selbstmitleid zerrüttete Psyche aber entlarven die Bußwilligkeit und Leidensbereitschaft als Selbstbetrug aus maßloser Selbstüberschätzung.« Sie resümiert: »So gerät Lucifers Klage über den Hochmut im ReO zu einer Demonstration von Hochmut an demjenigen, der selbst origo omnis superbiae […] ist«, ebd., S. 206f. – Die Frage nach der Tragik und dem Tragischen des geistlichen Spiels ist in den vergangenen Jahren von Seiten der germanistisch-mediävistischen Literaturwissenschaft immer wieder thematisiert worden, vgl. etwa Toepfer, Passion Christi, S. 159–175; Barton, eleos und compassio. 50 Gemeint ist hier ein um Gottes willen auf sich genommener Schmerz, nicht aber ein allgemeines Schmerzempfinden, das Luzifer durchaus kennt (vgl. V. 1613).

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homud over en! (V. 1947). Drei aufeinanderfolgende Verse wiederholen das Wort ›homud‹ (V. 1947–1949), wobei sich Luzifer als schriftgelehrt ausweist, indem er die Heilige Schrift wörtlich zitiert (V. 1948).51 Die repetitio unterstreicht nicht nur die größte denkbare Sünde, die ewige Verdammnis bedeutet, sie bildet zugleich eine Klammer mit dem Beginn der Teufelsrede, die bereits die Verdammnis konstatiert hatte. Der unveränderliche Zustand wird als Verlorensein, die ›Gnadenverlorenheit‹ als unhintergehbar und unabänderlich festgeschrieben: Dor mynen homut bun ik vorlaren (V. 1930). Die Klage mündet in resignative Einsicht. Prinzipiell hat auch der Mensch Anteil an der Hauptsünde ›Hochmut‹, ist sie doch durch den Sündenfall ererbt. Teufel und Mensch werden hier wie bereits angedeutet enggeführt. Konsequent gedacht, wäre eine Ambivalenz dann nicht nur der Teufelsfigur inhärent, sondern auch dem als schuldig gedachten menschlichen Rezipienten.52 Ambivalent erscheinen Teufel und Mensch nicht wegen ihrer Sünde allein; vielmehr liegt die Doppelwertigkeit in ihrer Schuld und der Notwendigkeit göttlicher Barmherzigkeit. Dass es freilich ein Privileg des Menschen ist, erlöst werden zu können und in den Genuss der vrouden (V. 1950) zu kommen, stellt Luzifer dann unmissverständlich und nicht ohne den Gestus der Selbstanklage fest: De mynsche is to den vrouden karen, / De we duvele hebben vorlaren (V. 1950f.).53 Die fehlende Aussicht auf Erlösung mündet in der nachgerade trotzigen Reaktion, auch weiterhin die Hölle mit Sündern füllen zu wollen (Wi willen en alle voreleghen, / Dat se jo myt us to der helle vleghen, V.  1962f.). Ermattet vor Kummer lässt sich Luzifer von seinen Unterteufeln von der Bühne tragen (myn jamer is so lank, / Van kummer bun ik worden krank!, V. 1974f.). Der Rückfall in den sündigen Lebenswandel und damit ein Leben in Gottverlassenheit bedeutet dem Rezipienten, der teuflischen Bedrohung auch weiterhin und immerwährend ausgesetzt zu sein. So kann Mitleid nur punktuell erregt werden, nämlich im Moment der Klage an sich, nicht aber darüber hinaus. Und noch etwas ist für die Klage bezeichnend: Der Teufel spricht in seiner Verzweiflung ernsthaft und reflexiv. Dies ist umso auffälliger, als sich Luzifer und seine Gefolgschaft ansonsten durch ein unflätiges Sprechen, durch Beschimpfungen, Flüche und bewusste verbale Provokationen auszeichnen.54 Im Sprachduktus der Klage bewegt Luzifer sich nicht mehr »ganz auf der Ebene des Vordergründig-Immanenten«; vielmehr 51 Homud is en ambegyn aller sunde entspricht Sir 10,15: initium peccati omnis superbia. Zitiert nach der Vulgata: Weber/Gryson (Hgg.), Biblia Sacra. Vgl. dazu auch Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 183. 52 Darin bestätigt sich, was Barton für das Passionsspiel herausgearbeitet hat; Barton, eleos und compassio, S. 166–190 sowie S. 329f. 53 Gemeint sind die ewigen Freuden im Himmelreich, die dem Menschen verheißen sind. 54 Zu den Modi teuflischen Sprechens vgl. Bockmann/Gold (Hgg.), Turpiloquium, hier insbes. dies., Kommunikation, S. 1–18.

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scheint er »zur Erkenntnis von Heilswahrheiten« fähig.55 Das Wahrnehmungsdefizit ist aufgehoben und macht dadurch ein Mitleidempfinden mit dem Teufel erst möglich. Der Teufel versteht den göttlichen Heilsplan und gibt dieses Wissen an die Rezipienten weiter. Die Szene bleibt dabei nicht allein in ihrer Exemplarizität verhaftet, sondern sie hat ein identifikatorisches Potential. Gemeint ist damit nicht die Identifikation mit dem Teufel als übernatürlichem Wesen, als Widersacher Gottes oder als bösem Prinzip schlechthin, sondern mit seinem überaus menschlich erscheinenden Wunsch nach Gnade und Erlösung. Dass die Teufel der geistlichen Spiele menschliche Eigenschaften besitzen, hat die Forschung von Anfang an gesehen;56 hier wird diese Anthropomorphisierung freilich perspektiviert auf die Möglichkeit der Empathie, welche die Teufelsfigur dem Rezipienten bietet. Der Verdammte ist deshalb kurzzeitig bemitleidenswert, weil er versteht, weil er einsieht und so die göttliche Allmacht bestätigt. Das Modell von Schuld und Sühne erschöpft sich dabei nicht in der Gleichung ›gutes Verhalten führt zu himmlischem Lohn‹ versus ›Vergehen führt zu Strafe‹, sondern es bedeutet dem Rezipienten auch ein Bewusstmachen des menschlichen Privilegs. Die vorgeführte Ambivalenz der Teufelsfigur zeigt Luzifer in seiner Erlösungssehnsucht als menschlich. Gerhard Wolf hat von einem »Horizont des Nachdenkens«57 gesprochen, der im »Redentiner Osterspiel« erzeugt werde. Dies lässt sich auch für die hier behandelte Szene zeigen, ist sie doch in nicht geringem Maße dazu angetan, ein Verständnis für die eigene Erlösungsbedürftigkeit und, wenn nicht Teilhabe am, so doch Empathie für das dargestellte Leid zu befördern. 2.2 Der rhetorisch geschickte Teufel im »Egerer Passionsspiel« (um 1500) Mein zweites Beispiel ist das »Egerer Passionsspiel«, das eine vergleichbare Szene beinhaltet. Auch hier äußert Luzifer sich über sein Leid in einer »ungewöhnlich lange[n] und motivisch eigenständige[n] Klage«58 (V.  177–252). Gemein ist beiden Spielen die Selbstverfluchung des Teufels: O wig, dat ik je wart ghebaren!

55 Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S.  197f. Zum vorgängigen defizitären Verhalten, Denken und Sprechen der Teufel vgl. ebd. 56 Zum vermenschlichten Teufel vgl. die Charakteristika bei Rudwin, Teufel, S. 123–126; ferner Wolf, Zur Hölle mit dem Teufel!, S. 284 u. 286; Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 191 (dort im Folgenden auch zu den Grundlagen der differenzierten Teufelsfigurgestaltung im »Redentiner Osterspiel«, S. 192–200). 57 Wolf, Zur Hölle mit dem Teufel!, S. 287. 58 Neumann, Egerer Passionsspiel, Sp. 369; zu dieser Szene vgl. auch Lehnen, Egerer Passionsspiel, S. 297–307.

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(RO, V. 1931) und O we, das ich ie geschaffen wart! (EP, V. 182).59 Interessant ist die bereits angesprochene Unterscheidung von ›geboren‹ und ›geschaffen‹. Zeigt die Wendung vom ›Geschaffen sein‹ an, dass der/die/das Geschaffene nach dem Schöpfungsprozess getrennt vom Schöpfer existiert (der Teufel verweist dabei auf Gott als creator mundi), so fokussiert das ›Geboren sein‹ nicht nur eine Verbindung zum Ursprung, sondern auch eine Materialität, die der Teufel nicht besitzt. Als Referenzpunkt dient hier im »Egerer Passionsspiel« wiederum die Erlösungstat Christi, deren Vollzug Christus selbst zwar als vorgezeichnet sieht, dabei freilich auch darauf verweist, dass der, der Verrat an ihm übt, besser nicht geboren worden wäre (vgl. Mk 14,21). Zwar ist der Teufel kein Mensch, doch klagt er genau wie dieser. In ihrer Konzeption und sprachlichen Gestaltung stellt sich die Klage des »Egerer Passionsspiels«60 allerdings ein wenig anders dar als im »Redentiner Osterspiel«. Im ersten Teil, der mit der Erschaffung der Welt beginnt, findet sich der Sturz Luzifers, auf den die Reueklage folgt. Strukturiert ist sie nach einem klaren Gliederungsprinzip: 1.  Wehklage über das Verlorene (V.  183–200),61 2.  Wehklage, die sich an die Schöpfung richtet (V.  201–238), 3.  Messersäulenhyperbel (V.  239–252).62 In der Reflexion über seinen Zustand ruft Luzifer drei Zeitstufen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – auf. Die Radikalität und Unbedingtheit des zu Beklagenden, nämlich der verlorenen göttlichen Gnade, zeigt sich an ihm als Verkörperung der superbia (ubermüt, V. 237), und diese ist zeitübergreifend. Die literarische und theatrale Konkretisierung des beklagenswerten Zustandes beginnt mit Interjektionen (Weh- und Ach-Rufen), die nicht nur Luzifers Empfinden ausdrücken, sondern auch aufmerksamkeitsfördernde Funktion besitzen. Die fortgesetzten Wehrufe gehen in eine Klage über seine Verluste über, nämlich den Verlust der schnen klarhait (V. 189), der grossen gwalt (V. 191) und der weissen dancken (V. 193). All diese Zuschreibungen zielen darauf, den vergangenen, ursprünglich englischen Status hervorzuheben, der nun verloren ist. Scharnier zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ist die Verlusterfahrung selbst. Leitwort des auf das Jetzt bezogenen Sprechens ist dann

59 Zitiert nach der Ausgabe von Milchsack. Zum Status des von Milchsack als Fronleichnamsspiel bezeichneten Spiels, das recht eigentlich ein Passionsspiel ist vgl. Neumann, Egerer Passionsspiel, Sp. 371. 60 Für Eger ist seit 1443 eine reiche Spieltradition bezeugt, zunächst vor allem für Fronleichnamsspiele, ab 1500 auch für Passionsspiele. Der Spieltext war als Grundlage für eine dreitägige Aufführung gedacht. Vgl. dazu einführend Neumann, Egerer Passionsspiel, Sp. 371; ferner ders., Geistliches Schauspiel, Nr.  1456, S.  300, sowie Bergmann, Katalog, Nr.  122, S. 271–274. 61 Dass dies eine grundsätzlich andere Perspektive als jene des »Redentiner Osterspiels« ist, konstatiert auch Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 184 [Anm. 7]. 62 Vgl. Lehnen, Egerer Passionsspiel, S. 302f.

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auch das Klagen als solches.63 Im Verlauf des Sprechens erscheint das Verlorene immer unerreichbarer, die Situation immer auswegloser und die zuvor noch als möglich gedachte Hoffnung auf Hilfe immer unwahrscheinlicher. In seiner Klage an die Schöpfung gibt sich Luzifer als Kenner des Laufs der Welt und ihrer Beschaffenheit zu erkennen. Inhalts- und Darbietungsweise entsprechen einem wissenden, gottnahen Duktus des Sprechens. Gleichzeitig betont Luzifer in seiner Rede mehrfach, dem allmächtigen Schöpfer untergeordnet zu sein (V. 187, V. 190, V. 196 u.ö.). Ein wie auch immer gearteter Dualismus wird vermieden. Die ausführliche Klage an die Schöpfung (V. 201–238) ist ein konventionelles literarisches Motiv,64 dabei jedoch nicht Selbstzweck. Vielmehr besitzt sie eine ganz eigene Funktion, welche die Teufelsrede insgesamt konturiert. Die Schöpfung wird in ihrer ganzen Vielfalt entworfen, mehr noch: auf formaler Ebene wird der Schöpfungsakt nachgebildet, der kurz zuvor vollzogen worden war (V. 29–48). Luzifer klagt sein Leid der gesamten Schöpfung – der belebten wie der unbelebten Natur ebenso wie den Gestirnen, meteorologischen Phänomenen und Tageszeiten. Insbesondere die Anrufung von plümen und grüne[m] klee (V. 216), aller hande kraüt (V. 217) und wurzlein (V. 219), von laüb, gras und […] holz (V. 221) evoziert das Bild einer blühenden, sprießenden und vitalen Natur. Hinzu tritt sueß vogelgeschall (V. 223). Der locus amoenus, der hier unverkennbar als Beschreibungsmuster dient, ist direkt auf den Paradiesgarten bezogen; alles Beschriebene ist Produkt des gnädigen Schöpfergottes (alles, Das got ie von seinnen gnaden schüeff, V. 227). Zugleich ist es Sinnbild der wunne (V. 203), die Luzifer kennengelernt hat; die Schöpfung, hier konkret: der Himmel (V. 207), bereitet ihm Freude: Wan ich das sach, so was mir wol (V. 208). Luzifer semantisiert die Natur als Freudenort, und seine Rede legt nahe, dass dies mithin jener Ort ist, den die Nichtgefallenen als Gnadenort, als irdisches Paradies, genießen dürfen. Der aufgerufene locus amoenus bildet damit den Rahmen für die ausgestellte Leidensgeschichte des Teufels. Man sieht an der Schöpfungsanklage aber auch, dass Luzifer ein geschulter Redner ist. Die durchrhetorisierte Klage sichert ein weiteres Mal die Aufmerksamkeit für das Thema, wobei die Verwendung der immer gleichen lichtmetaphorischen Signalwörter hell (V.  202, 206, 210), licht (V.  204, 210) und klar (V. 210) eine Verweisstruktur herstellt. Noch eine zweite Funktion ist mit einem solchen Sprechen verbunden: Die Emphase, die vor allem durch die Anapher ›Ich klag(s)‹ ausgedrückt wird, hebt das Klagen in seiner zweifachen Bedeutung

63 V. 199, 201, 204, 205, 207, 209, 211, 213, 214, 215, 216, 217, 219, 221, 223, 224, 225, 226 u. 233. 64 Lehnen, Egerer Passionsspiel, S.  303, spricht davon, es handele sich um »kein originelles Motiv«.

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hervor.65 Zum einen klagt Luzifer als leidendes und mitleidbedürftiges Geschöpf, zum anderen klagt er die Schöpfung an, fordert mit dem Rechtsterminus der klage sein Recht ein. Mit der Aufforderung an die Schöpfung, für ihn zu bitten, formuliert Luzifer, das göttliche Urteil müsse überdacht und neu gefällt werden. Dass auf seine Anklage keine Reaktion erfolgt, mag die Unrechtmäßigkeit und Sinnlosigkeit der Klage hervorheben – der Kläger hat verspielt, gehört zu werden. Hinzu kommt, dass die rhetorischen Figuren, namentlich die Parallelismen, Anaphern, Alliterationen und die enumeratio, eine Struktur der Wiederholung schaffen, die in wörtlicher Entsprechung und Gleichklang die sinnliche Erfahrung intensiviert und damit zugleich eine Harmonie erzeugt, aus welcher der Teufel herausgefallen ist. Verbunden ist mit dieser rhetorischen Ausgestaltung auch die Betonung des Widersprüchlichen, Gegensätzlichen, erweist sich der Gebrauch der rhetorischen Figuren doch als Teil eines Sprechens, das darauf zielt, die Kluft zwischen dem Fall Luzifers und allem gut Geschaffenen stärker hervortreten zu lassen. Auch trägt die rhetorisch überformte, formelhafte Rede dazu bei, das Gehörte (und Gesehene) zu erinnern und als identitätssicherndes Wissen der christlichen Gemeinschaft zuzueignen. Im »Egerer Passionsspiel« wird der Mensch erst nach dem Sturz Luzifers geschaffen (V.  317–372); auf Rezipientenebene kann der Mensch jedoch bereits vor seiner Erschaffung und vor seinem Sündenfall der Warnzeichen teilhaftig werden. Die Teufelsklage eröffnet dem Rezipienten so zugleich zwei Möglichkeiten des Handelns, die auf Erlösung bzw. Verdammnis zielen. Die Figurenkonzeption ist in dieser Szene maßgeblich dazu angetan, Luzifer als widersprüchlich wahrzunehmen, sein Klagen nachzuvollziehen und in der Unerbittlichkeit und Ausweglosigkeit des Dargestellten sich der eigenen Sündhaftigkeit bewusst zu werden. Damit ist Luzifer nicht nur Figuration von Treulosigkeit (untreu, V. 132) und Hochmut (hoffart, V. 133; ubermüt, V. 237). Wie im »Redentiner Osterspiel« ist er zugleich eine Figur mit identifikatorischem Potenzial, das in der Bitte um Gnade und Erbarmen gründet: O schpfer, almechtiger got, / Nün th mir gnad, das ist mir not (V. 135f.) sowie O hgster got, erbarme dich! / Ich hab an dir ganz bel than, / Doch wil ichs zu dein gnaden lan (V. 144–146). Der Salvator weist die Bitte zurück: Luciper, dü darst mich nicht pitten (V. 147), und aufgrund seiner Einsicht in den nicht zu sühnenden bermüt (V. 150 u.ö.) erweist er seine Macht (sitten, V. 148), indem er den Frevler verdammt. Ursachenanalytisch erklärt der Salvator: Dein freudt hat dich mit lait betrogen (V. 134). Die Antithese von Freude und Leid ist bereits hier präsent, noch bevor Luzifer sein klagendes antithetisches Sprechen beginnt. Sie weist auf den Kern der Szene: das 65 Dass das ›Klagen‹ im Vers von vorne nach hinten und vice versa wandert, trägt außerdem zu dieser Nachdrücklichkeit bei.

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Erkennen des fundamentalen Unterschieds zwischen Mensch und Teufel. Wiederum geht es um die conditio humana, die sich in der conditio diabolica spiegelt, denn menschliches Leid erweist sich als in Luzifers Leid gründend: Es sol von uns kummen alle böshait, / Die menschen [zu]66 bringen in bittrigkait (V. 277f.). Die Passivität, zu der Luzifer verdammt ist, soll gerade die Aktivität des Rezipienten befördern. Dies umso mehr, als das typische Motiv der Teufelsklage rhetorisierte und literarisierte Emotion inszeniert, die zugleich theatral ausgestellt wird. Doch nicht einmal als guter Redner kann Luzifer etwas gegen seine Verdammung ausrichten. Da weder das Wissen noch dessen formal ansprechende Darbietung wirksam sind, appelliert er in einem letzten Versuch an die göttliche Gnade, die in dem Verweis auf alles aus Gnade Geschaffene explizit gemacht wird (V. 227). Die Selbsterkenntnis der Ursache, Umb meinen grossen ubermüt (V. 237), führt zu dem Wunsch einer Bußleistung, die im Bild der Messersäule gipfelt. Der zuvor aufgerufene Lustort wird durch einen Ort des Schmerzes ersetzt: Ich wolt mir noch gern ain büß machen Von solchen wunderlichen sachen: Ein seül solt gen vom himel hernider, Dar an ich aüff mocht steigen wider, Die all mit schermessern wr durchschlagn, Daraüff wolt ich mein pus tragn Albeg paide tag und nacht: Also solt sein mein büs betracht. Bis an den jungsten tag ichs trib, Das mir got sein gnad zuschreib. (V. 239–248)

Hier ist es nicht wie im »Redentiner Osterspiel« ein Messerbaum, sondern eine Messersäule, und diese Säule führt vom Himmel hinab, nicht wie im »Redentiner Osterspiel« vom Abgrund herauf. Impliziert ist mit der beschriebenen Bewegung von oben nach unten, dass der himmlische Herrscher mit dem Bußinstrument dem Gefallenen entgegenkomme, ihm gewissermaßen die Hand reiche. Gemeinsam ist beiden Szenen, dass sie typologisch strukturiert sind. Wie der (Paradies-) Baum auf das Kreuz Christi verweist, so steht die Himmelsäule für die Martersäule Christi, die als Passionswerkzeug die Gemeinschaft mit Gott wiederherzustellen vermag. Doch auch hier bleibt die Buße nur Wunschvorstellung. Luzifer dient nicht als positive Exempelfigur, die nachahmenswerte Reue und Buße vorführt – und die das Publikum folglich genauso empfinden soll. Vielmehr zeigt er, warum er die Gnade Gottes in der Tat nicht verdient hat. Er resümiert: So tunckt mich, das es nit mag gesein; / so leb ich nach dem willen mein (V. 249f.). Auch hier spricht der rhetorisch geschulte Teufel: Mit der Figur der revocatio ist angezeigt, dass Luzifer die Klage rückgängig macht und so alles zuvor Gesagte für nichtig 66 Hinzufügung in eckigen Klammern durch den Herausgeber.

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erklärt. Die verlorene Hoffnung auf die göttliche Gnade lässt auch den Teufel des »Egerer Passionsspiels« trotzig reagieren (vom Typ: ›Weil ich nicht erlöst werden kann, halte ich mich nicht an die Regeln und mache, was ich will‹). Damit fällt er in das alte Muster zurück: Wan ich wil ganz gewaltig sein / Und leben nach dem willen mein (V. 117f.). Der Teufel hat nichts gelernt. Alle drei Teile der Klage schließen jeweils mit dem Wissen um den eigenen unabänderlichen Status des Verdammten: Mir wirt auch nimer hilffe schein (V. 198), So sich ich, das es ist verlorn (V. 235) sowie So tunckt mich, das es nit mag gesein (V. 249). Die spezifische Machart der Teufelsklage offenbart einen hohen sprachlichen Aufwand, der Luzifer zugesteht, seine Situation ausführlich zu beschreiben. Lehnen konstatiert: »Kaum jedoch wird Luzifer zur tragischen Figur; dazu ist er als Opfer der Bestrafung und als menschenverderbender Täter eine zu uneinheitliche Gestalt.«67 Dennoch sieht sie, dass Luzifer durch seine intensive Klage, die einer ausgeprägten Erlösungssehnsucht das Wort redet, »als Objekt des Mitleids« vorstellbar ist: Vom christlichen Standpunkt aus verdient er kein Mitleid, aber seine beispiellos extensive Klage erzielt eine so intensive Wirkung, daß sich die Äußerungen des unsäglichen Schmerzes und der unstillbaren Erlösungssehnsucht zu verselbständigen scheinen und Luzifer, das von seinem Schöpfer verdammte Geschöpf, sich als Objekt des Mitleids anbietet.68

Der Rezipient soll sich selbst und das eigene Handeln erkennen, daher Mitleid haben,69 sich in einem nächsten Schritt bessern und mäßigen. Der Teufel erscheint menschlich, nicht nur, weil er als anthropomorphisierte Gestalt auf die Bühne gebracht wird, sondern auch, weil er mit menschlichen Fehlern behaftet ist. Umgekehrt erkennt der Mensch sich selbst im Teufel.70 2.3 Teuflische Reflexion im Apostelspiel Johannes Brummers (1592) Mein letztes Beispiel ist ein bislang kaum beachtetes reformatorisches Bibeldrama des ausgehenden 16. Jahrhunderts, das die Anfänge des Christentums und die 67 Lehnen, Egerer Passionsspiel, S. 302. Dabei verweist sie auf Forschungspositionen, die eine Möglichkeit der Tragik im geistlichen Spiel ausschließen (ebd. mit Verweis auf Steinbach und Brinkmann). Spätestens überholt ist diese Forschungsmeinung seit den luziden Studien Toepfers, Passion Christi, und Bartons, eleos und compassio. 68 Lehnen, Egerer Passionsspiel, S. 302. 69 Barton formuliert treffend: »Prinzipiell könnten alle Reueklagen Mitleid erregen, weil eine reuevolle Figur dadurch beweist, dass sie die Folgen ihres Tuns entweder nicht beabsichtigt hat oder, wenn sie sie beabsichtigt haben sollte, nicht mehr vertreten kann […].« Barton, eleos und compassio, S. 308. 70 Vgl. dazu auch Ukena-Best, Superbia, Teufel und Hölle, S. 210.

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Entwicklung der Urkirche behandelt: Johannes Brummers »Tragicocomoedia actapostolica« aus dem Jahr 1592.71 Mit seinen 9192 Versen und 246 Rollen ist die »Tragicocomoedia« von monumentalem Ausmaß.72 Schulmäßig dramatisiert sie alle 28 Kapitel der Apostelgeschichte in fünf Akten, wobei das Drama Katechese für jedermann sein soll,73 mit der Funktion zu erinnern und zu bessern. Die Hochschätzung der Wirksamkeit dramatischer Bilder, die sich in einem Vor-Augen-Führen-Wollen zeigt, gilt Brummer als angemessen, um Glaubenswahrheiten zu vermitteln, und er beglaubigt dies nicht zuletzt durch ein Zitat aus Horaz’ »Ars poetica« (V. 180–82).74 Brummer bietet einen protestantischen Blick auf die Christusnachfolge, die Christenliche[ ] reine[ ] Religion (Aiijr). Er arbeitet aus, was nach Jesu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt folgt: Die Nachwahl des 12. Apostels Matthias, das Pfingstfest, die Gefangenschaft der Apostel, der Tod Ananias’ und Saphiras, die Steinigung des Stephanus sowie Heilungswunder, Exorzismen und Totenerweckungen. Im zweiten Akt hat Brummer nach der Szene, die Saulus’ conversio zu Paulus zeigt, eine Teufelsklageszene eingefügt (II,9). Die Szene ist deshalb so bedeutsam, weil Brummer sich ansonsten geradezu sklavisch an der biblischen Erzählung orientiert und sie mit Ausnahme dreier kurzer Reden eines Narren die einzige des gesamten Dramas ist, die er zur Vorlage hinzugedichtet hat. Im Apostelspiel leiden gleich zwei reuige Teufel: Luzifer und Astaroth. Die Bekehrung eines sündigen Menschen setzt den teuflischen Denkprozess in Gang, wobei Luzifer von Beginn an weiß, dass sie beide gleichermaßen Verdammte sind.75 Im Folgenden treten sie als moralisch sprechende Teufel auf, die ihre missliche Lage reflektieren und ihr Ende nahen sehen. Da geteiltes Leid bekanntermaßen halbes Leid ist, wollen sie rasch noch ein paar Anhänger gewinnen. Astaroth sagt: 71 Tragicocomoedia actapostolica; ich zitiere nach der Ausgabe von Johannes Brummer. Zu Autor und Werk vgl. Scherer, Brummer, Johann, S. 422, sowie Gold, Brummer, Johannes [im Druck]. 72 Johannes Janota hat darauf hingewiesen, dass das Spiel ein augenfälliges Beispiel für den von Ursula Schulze so bezeichneten »Kollaps« biete, d.h. für den Zusammenbruch der Spiele aufgrund einer zu ausufernden Inszenierung, die eine »Diskrepanz zwischen einem wohlbegründeten Konzept geistlicher Spiele und dessen Einlösung in der Aufführungsrealität« offenbare. Vgl. Janota, Das Passions- und das Osterspiel, S. 143 [Anm. 75], Zitate aus Schulze, Formen der Repraesentatio, S. 353. 73 Die stark ausgedehnte Besetzung mag dann auch Indiz für den Wunsch Brummers sein, möglichst viele Personen als Schauspieler einzubinden. Die Teilhabe an der Gemeinschaft der Christusnachfolger korreliert mit der Teilhabe an der Vergegenwärtigung auf der Bühne. 74 Segnius irritant animos demissa per aurem, Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, et quae Ipse sibi tradit spectator etc. (Avv; »Schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verlässlichen Augen gebracht wird und der Zuschauer selbst sich vermittelt«). 75 Auf Astaroths Begrüßungsformel Glück zu, antwortet Luzifer: Wann glück bey Verdampten kan sein (Hvijv).

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Je nher ist der Jüngste tag / Da recht wirdt angehn vnser plag. Je mehr vns tobn vnd wten laß / Außschütten vnsern neyd vnd haß. Vmbstürtzen gantze Knigreich / Alle Menschen plagen zugleich. Vnd sie stets peinigen mit leid / Vnd das ohn all Barmhertzigkeit. Dieweil bald angeht vnser pein / Damit wir nicht allein drinn sein. Dann es bringt einem dannoch freüd / Wann er nicht allein ist im leid. (Hvijv)

Im Angesicht des baldigen Weltendes scheint es Astaroth unbedingt geboten, alle ihm gegebene Macht aufzubringen, um die Zahl der ewig Verdammten zu mehren. Luzifer betont in seiner Antwort, dass er bei all seinem Treiben mit der permissio dei handelt: Aber du weist das ich nichts kann | Es wlls dann der da oben hon (Hviijr). Bezeugt werden so nicht nur die Allmacht des Schöpfergottes, sondern auch die Qualität der Teufel als von ihm geschaffene Kreaturen und ihre Abhängigkeit von ihm. Luzifer sieht insbesondere unter den Geistlichen seine Anhänger – eine Kritik, die auch im »Redentiner Osterspiel« präsent ist. Nach dem ich mit vil vleiß vnd mhe / Die sach dahin hatt bracht allhie. Das der grst hauff stůnd auff meinr seyten / Bsunder vnder Geistlichen Leüten. Die Tag vnd Nacht trachten vnnd dichten / Allein zu dem end theten richten. Das deß Nazareners anhang / Außghrottet wurdt sampt seinem Gsang[.] (Hviijr)

Hier jedoch besitzt die Klerikerschelte auch konfessionspolitisches Gewicht. Jene, die Tag vnd Nacht trachten vnnd dichten, sind die, die das reine Wort verfälschen. Noch eindeutiger sind die Geistlichen Leüte[ ] einige Verse später als Katholiken ausgewiesen: Mein sach hab ich schon angestelt. Jm Welschland gehts wie ich begehr / So ist kein trew kein glaub sonst mehr. (Jjv)

Saulus sei der Schlimmste unter diesen gottes- und wortfernen Menschen gewesen – und damit der größte Teufelsfreund. Doch sein treuester Anhänger sei ihm abtrünnig geworden, beklagt Luzifer, und zwar, weil der, dessen Namen er nicht nennen könne, ihm sein Spiel zunichte gemacht habe: So kompt der / den

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ich nicht mag nennen / Vnd thůt mir das gantz Spil zertrennen (Hviijv). Die conversio des Saulus gerät zur Niederlage Luzifers. In den Mittelpunkt rücken die Bedeutung des Namens und die Macht des Wortes. War zuvor immer wieder der Name Christi erwähnt worden, der den Gläubigen nicht nur Mut und Zuversicht, sondern auch die Macht verleihe, zu heilen und zu exorzieren, so korrespondiert damit nun, dass der Teufel den Namen nicht aussprechen kann. Er erklärt die Bekehrung des Saulus mit dem Zwang, den der Himmel ausübe: Das der oben die Leut mit gwalt. / Will inn Himel zwingen vnd reissen (Hviijv). Die Gewalt, die Luzifer Gott in betont lässigem, eine nahe Bekanntschaft implizierendem Sprechen vorwirft (»der da oben«), der Zwang, den er auf die Menschen ausübt, ist ein Privileg, ist göttliches Versprechen auf den Himmel und auf seine Gnade. In der Anklage steckt die hoffnungkündende Heilsbotschaft für die Rezipienten. Weiter klagt Luzifer den Höchsten an: Was wir inn vil Jaren erringen / Kan er vns mit eim wort abtringen. Was laßt er dann Tauffen vnd Lehren / Kan er doch d Welt mit gwalt bekehren? (Hviijv)

Über den Glauben behauptet er Ungeheuerliches: Er sei keine freie Willensentscheidung, sondern ein von außen auferlegter Drang. Das Motiv des Glaubens (hier durch die Taufe als Zeichen der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft und durch die Lehre vertreten) wird inversiv im Sinne von Fremdbestimmtheit und Besessenheit eingesetzt. Ein Glauben-Müssen ist die Folge. Mehr noch: Die Blindheit, mit der Saulus geschlagen wird, ist eine perfide göttliche Strategie, um neue Anhänger an sich zu binden.76 Auch der zweite Teufel, Astaroth, klagt seinen Schöpfer an. Er wolle ja bekehrt werden, Gott aber gestehe ihm keine Gnade zu: Waiß nicht was ich darzu soll sagen / Von vnmůt můß ich halt verzagen. Wann ich diß vnd anders bedenck / Sonderlich erst ich mich bekrnck. Wann ich betracht wie hoch vnd thewr / Der Mensch erlßt vom ewgen fewr. Vnd befreyt der Hllischen pein / Der doch ein Kotpatzen allein (Hviijv–Jjr) […] Warumb braucht Gott nicht auch ein gwalt / Vns zubekehren solcher gstalt[?] (Jjr) 76 Da ist jhr Rottmeister zugegen / Schlegt jhn zuboden vnderwegen. | Nimbt jhm das Gsicht das er nicht waiß / Wie er vollstrecken soll die Raiß.  / Drumb er dann im schrcken allain / Fragt was er soll vnd msse thůn (Hviijv).

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Astaroth verweist auf die Erschaffung des Menschen und zugleich auf sein Ende (Gen 3,19) und verbindet damit die Frage nach seinem Wert. Wie könnten die Teufel als Geistwesen weniger wert sein als ›Drecksschöpfungen‹ (Kotpatzen, Erdklotzen) wie die Menschen? In dem darauffolgenden Wunsch, bekehrt zu werden, knüpft Astaroth dann an die gerade auf der Bühne reaktualisierte conversio des Saulus an. Er impliziert damit, dass jeder Schuldige dennoch die Möglichkeit zur Umkehr bekommt. So wie Gott gewaltig über Saulus hereinbrach, ihn zu Boden warf und blendete, so will auch Astaroth sich und Luzifer überwältigt sehen: Warumb braucht Gott nicht auch ein gwalt / Vns zubekehren solcher gstalt[?] Die Teufel können nicht erlöst werden, weil es ihre von Gott vorgegebene Position ist, nicht erlöst werden zu können und die Menschen stattdessen auf ewig schädigen zu müssen. Als Handlanger Gottes dienen sie der Erfüllung des heilsgeschichtlichen Plans, indem sie die Christen versuchen. Daher schicken sie sich an, ein Blutbad zu forcieren und die Christen, die Erdklotzen, Auff die er [Gott, J.G.] so vil bawt vnd helt (Jjv), dem Himmel abzuringen.77 Der Neid auf die Menschen ist hier redebestimmend. Die tatsächliche Ursache für ihre Unerlösbarkeit – sie wissen, dass sie ewig verdampt sind (Jjr) – erwähnen beide Teufel mit keinem Wort; superbia ist nicht, wie im »Redentiner Osterspiel« Leitthema und Leitperspektive. Astaroth verweist lediglich darauf, dass sie Geister hoher art (Jjr) seien. Impliziert sind hier ihre einstmalige Herkunft und ihr damit verbundener (nunmehr verlorener) Status. Impliziert ist freilich auch, dass die Teufel als Geistwesen nicht wandelbar sind. Gerade dieses Wandelbare haftet dem Irdischen an und bietet daher die Möglichkeit zur Besserung – und: zur Erlösung. Die Teufel betonen, dass sie keine Wahl haben. Die Rede Astaroths mag mithin als praesumptio gedeutet werden, bezeugt seine Anklage, die Bekehrung und das damit verbundene Heil doch auch verdient zu haben, zugleich eine vermessene Gnadenerwartung. Zudem stellt sie, was ähnlich prekär ist, das göttliche Urteil in Frage und maßt sich zu wissen an, was wem zusteht. Luzifer hingegen weiß, dass es unzulässig ist, den ihm zugewiesenen Platz infrage zu stellen (Ey schweig / vnser keiner doch wolt / Das jhn Gott anderst machen solt, Jjr). Damit ist die Teufelsklage grundsätzlich anders motiviert als in den anderen beiden Texten. Angesprochen ist ein Glaubenszwang, der von oberster Stelle, nämlich von Gott selbst, ausgeübt wird. Angesprochen ist damit aber auch das Bedauern des Teufels, nicht gezwungen werden zu können, mehr noch: nicht glauben müssen zu dürfen. Die Teufelsrede ist ein (be-)lehrendes Sprechen. Verstehen soll der Rezipient, dass er seinem Erlöser Dankbarkeit schuldet, und zwar für seine Auser77 Mit Erdklotz wird auf den Menschen als Geschöpf Gottes verwiesen, vgl. VND gott der HERR machet den menschen aus dem Erdenklos (1 Mose 2,7; zitiert nach der Luther-Bibel, Ausgabe Letzter Hand), daneben freilich auch der Hinweis auf die Materialität des Menschen gegeben.

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wähltheit, eben für sein Privileg, glauben müssen zu dürfen. Er ist von Gott dazu bestimmt, erlöst zu werden. Die Negativfigur des Teufels führt dies drastisch vor Augen. Im heilsgeschichtlichen Sinn ist gerade dieses Glauben-Müssen-Dürfen Voraussetzung dafür, dass die eigene Bestimmung erfüllt und damit die göttliche Ordnung hergestellt ist. In der Teufelsrede zeigt sich die Ambivalenz von Glaubenszwang und Glaubensfreiheit (sprich: zum Glauben berufen zu sein). Noch deutlicher als durch den Bericht der Apostelgeschichte oder durch das auf die Bühne gebrachte Geschehen der conversio wird vor Augen gestellt, welche Gnade dem Menschen zuteil wird. Repetiert wird die göttliche Macht, seine gwalt, die im Stück nicht nur in der conversio-Episode präsent ist, sondern auch in den Wundertaten der Apostel. Brummer führt Zeugen göttlicher Macht vor, welche die Bestimmung des Menschen beglaubigen. Daraus resultiert ein nicht auf das Tun, vielmehr allein auf das Wort (mit eim wort, Hviijv) ausgerichteter Glaube. Und die Teufel haben diese Wahrheit verstanden.78 Sie vermitteln eine protestantische Gnadenlehre, die davon ausgeht, dass der sündige Mensch allein aus Gnade (sola gratia) erlöst werden kann; die Gnade ist unverdientes Geschenk. Aus Sicht der Teufel liegt gerade darin der oben angesprochene Zwang, der sie selbst nicht betrifft. Ihre Reaktion darauf ist jener der bereits vorgestellten Teufel aus dem »Redentiner Osterspiel« und dem »Egerer Passionsspiel« vergleichbar: Voll trotzigen Zorns wollen sie auch fortan die gesamte Welt plagen und die Menschen zur Abgtterey (Jjr) verleiten. Auch in Brummers Apostelspiel zeigt sich kein »dualistische[r] Kampf[ ]«.79 Das Böse existiert im Stück zwar fort, doch rein quantitativ gesehen erhält es eine marginale Rolle. Der Teufel steht nicht als »Gegenmacht«80 wieder auf, weil er als tatsächliche Gegenmacht gar nicht existiert. Die auf der Handlungsebene durch Wunder und Taten exponierte Macht des Erlösers spiegelt sich in der sprachlichen Realisierung der Figurenrede. Einer solchen Macht vermögen die teuflischen Wesen nichts entgegenzusetzen. Dies gilt umso mehr, als sie getrennt von der Haupthandlung in einer nur ihnen zugedachten Szene ohne jeden weiteren Figurenkontakt auftreten. Gewissermaßen abgetrennt vom Geschehen kommt ihnen eine Kommentatorenrolle zu, die dem Publikum theologische Zusammenhänge erläutert. Die Entmachtung der Teufel, mithin gar das Mitleidempfinden mit ihnen, forciert ein Reflektieren über einen konstitutiven Aspekt protestantischer Glaubenslehre. Damit erscheint das reformatorische Bibeldrama als »legi78 Dass die Rede des Teufels wahrheitshaltig sein kann, insofern der Teufel höhere Erkenntnis zu besitzen vermag, scheint seit der Dämonologie des Augustinus ausgemacht. Aufgrund seines Luftkörpers bewegt sich der Teufel schneller fort und hat schärfere Sinne. Auch kann er, weil er ewig ist, mehr Erfahrungen sammeln als Menschen. Vgl. Götz, Dämonenpakt, S. 74. 79 Warning, Funktion und Struktur, S. 30. 80 Ebd., S. 177.

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times und leistungsfähiges Medium der Glaubensverkündigung«,81 das ebenso auf ein dem menschlichen Sein inhärentes Spannungsverhältnis verweist wie auf ambivalente Formen der Vermittlung von Glaubensinhalten.

3. Ambivalenz des Bösen und Mitleid mit dem Teufel? Die Beispiele bestätigen die an den Beginn des Beitrags gestellte Hypothese, dass Ambivalenz als Phänomen auf zwei Ebenen beschrieben werden kann. Zum einen ist sie als mögliche doppelwertige Rezeptionshaltung zu bestimmen. Gemein ist den vorgestellten Spielen eine unbestreitbare Wirkungsabsicht: »Die Worte, die die Bühnenfiguren sprechen [und zu diesen gehört eben auch der Teufel, J.G.], sind nicht nur handlungsintern auf sie untereinander bezogen, sondern gleichzeitig immer auch und vor allem an den Rezipienten gerichtet, um in ihm bestimmte Wirkungen hervorzurufen.«82 Die vorgestellten Teufelsklagen präsentieren dabei drei Stadien der Heilsgeschichte: Im »Egerer Passionsspiel« klagt der Teufel nach dem Höllensturz; im »Redentiner Osterspiel« ist seine Klage nach dem Descensus Christi ad inferos ins Spiel eingebunden und im Apostelspiel ist die Szene nach der conversio Saulus’ zu Paulus integriert. Die Spiele bedeuten dem Rezipienten, dass der Teufel in jedem Stadium der Heilsgeschichte Grund zur Klage hat. Im »Egerer Passionsspiel« und im »Redentiner Osterspiel« bekommt der Rezipient direkt vor Augen gestellt, wie der Teufel die göttliche Gnade und damit sein Heil im wahrsten Sinne des Wortes verspielt. In Brummers Apostelspiel scheint die Klage der Teufel dagegen merkwürdig isoliert. Dass sich das vorgeführte Leid nicht direkt auf die schmerzvolle Erlösungstat Christi bezieht, sondern auf die verspielte Gnade des göttlichen Widersachers, ist insofern delikat, als es sich um eine gerechte Strafe zu handeln scheint. Allerdings machen die Teufelsreden deutlich, dass sie den Bezug zu dieser Erlösungstat nie verlieren. Das reflektierende Sprechen, das mithin Selbsterkenntnis anzeigt, macht nicht nur die Rede durchsichtig, es macht auch die Teufel menschlich und damit prinzipiell bemitleidenswert. In allen untersuchten Szenen sind sie keine Gegenmacht, der sich das Göttliche entgegenstellen muss. Vielmehr sind sie als ›arme Teufel‹ weiterhin Teil des göttlichen Heilsplans; sie sind göttliches Werkzeug mit der unmissverständlichen Aufgabe, die Gläubigen zu versuchen. Mahnende, predigtartige Belehrung ist für alle Beispiele auszumachen, wobei sich die Spiele performative Strategien der Publikumslenkung nutzbar machen. So partizipieren sie auch am soteriologischen und eschatologischen Diskurs, und zwar, indem sie das Heil nicht nur vergegenwärtigen, sondern den aktiven Mitvollzug 81 Janota, Das Passions- und das Osterspiel, S. 142. 82 Barton, eleos und compassio, S. 29.

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des Glaubens offerieren: Die Teufelsklagen bieten die Möglichkeit, die Heilslehre der Spiele durch ›reflektiertes Mitleid‹ in gelebte Praxis zu transformieren. Damit ist der Bogen zu Origenes zurückgeschlagen, zielt das subjektive und affektive Erleben doch auf ein radikales Ernstnehmen des Glaubens, das keine Passivität erlaubt. Die Verhandlung göttlicher Gnade und ihrer Voraussetzungen im Spiel führt ein Schuldigwerden und Schuldigbleiben vor. Das Schuldigwerden an Gott erscheint als etwas, das Mensch und Teufel gemein ist. Die teuflische Klage wird nachvollziehbar, sein Flehen wirkt vertraut.83 Die Kopräsenz von Mitleid mit dem Teufel als Nachvollzug selbstverschuldeten Leids und der Einsicht, dass dieser rettungslos verloren ist,84 verdeutlicht die paränetische Intention der Spiele, macht zugleich aber auch auf eine grundsätzliche Problematik aufmerksam: Mitleid an sich ist nicht ambivalent; ambivalent ist aber das bei einer negativ ausgestellten Figur in paränetisch-didaktischer Hinsicht evozierte Mitleid. Mitleid darf und soll der Christ mit allen armen Kreaturen haben. Insofern ist bereits die Teufelsfigur als doppelwertige markiert. Provoziert wird ein christliches Mitleidsverständnis, das sich an konkreten theologischen Positionen zu reiben scheint, da der Teufel dieses Mitleid nach der christlichen Straf- und Gerechtigkeitslogik recht eigentlich nicht verdient hat. So führen die Spiele trotz aller Perspektivierung auf den Mitleidsgedanken letztlich in den eingangs skizzierten dogmatischen Rahmen zurück. Eben dieser Gegensatz zwischen christlichem Mitleidsgebot und christlichem Gerechtigkeitssinn, den der richtende Gott bedeutet, ist eine jener Ambivalenzen der christlichen Kultur, an der sich die Spiele hier abarbeiten. Auch zeigt sich an ihnen, dass sich Origenes’ Position, den barmherzigen Gott letztlich dominieren zu lassen, nicht durchgesetzt hat. Die Spiele führen vor Augen, dass die freie Willensentscheidung des Teufels ihn immer wieder von Gott entfernt, die Heilssicherung für ihn damit letztlich unmöglich ist.85 Dennoch bleibt die Chance eines Sieges göttlicher Barmherzigkeit gewissermaßen als Unterströmung erhalten.86 Die kommunikative Leistung der Spiele liegt in ihrer je eigenen Verhandlung einer Darstellung der richtigen Sicht im Falschen. Der Teufel spricht wahr und er zeigt jene Regungen, die der Rezipient nachempfinden und die er auf sich und sein Schicksal beziehen soll. Die ansonsten gängige Ambiguität der Teufelsrede,87 die eben darin besteht, stets die Gefahr zu bergen, als Lüge gelten zu müssen, wird 83 So bereits bei Kretzenbacher, Versöhnung. 84 Dass das Mitleid mit Verdammten überwiegend nicht in der Intention der geistlichen Spiele liegt, wobei das »Eisenacher Zehnjungfrauenspiel« eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt, hat Barton gezeigt; Barton, eleos und compassio, S. 307–317 sowie S. 329. 85 Die Aussicht auf Heil für alle, die sich aktiv am praktisch gelebten Glauben beteiligen wollen, wie es Origenes mit seiner Theorie avisiert hatte, bieten die Spiele gerade nicht an. 86 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang auch Kretzenbacher, Versöhnung, S. 64. 87 Gemeint ist Ambiguität im besten Wortsinn von lateinisch ambiguitas.

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in den Klagen nicht thematisiert. Mehr noch: Sie wird außer Kraft gesetzt. Es ist gerade der Teufel, der höchste Wahrheiten verkündet, den Lesern, Hörern und Zuschauern mithin ein ausgezeichneter Lehrmeister ist. So sind insbesondere die klagenden Teufel dazu angetan, Ansporn zu sein, das Heil zu sichern, das allen Christen versprochen ist. Die ethisch-pädagogische Ausrichtung der Spiele, die sich das subjektive und affektive Erleben nutzbar macht, zielt auf eben dies. Die Rezipienten sind in die Handlung einbezogen.88 Sowohl die vorreformatorischen Spiele wie das nachreformatorische Drama bieten damit zugleich eine multiperspektivische Sicht auf das Böse. Die Spiele gestatten es dem Publikum, sich auf das Gedankenexperiment eines mitleiderregenden Teufels einzulassen – und sich gleichermaßen darauf einzulassen, die eigenen Erlösungsbedingungen zu reflektieren. Die auffällige Nähe zwischen sündigem Menschen und verdammtem Teufel macht das normativ Nicht-Denkbare zumindest kurzzeitig denkbar.89 Sie perspektiviert das Wissen um die Unerlösbarkeit des Teufels auf eine grundsätzliche, gewissermaßen lebenspraktische Anleitung zum Guten. Das Mitleid, das die Teufelsklagen zu erzeugen vermögen, ist damit auch Zeichen eines subversiven Potentials der Spiele, die in ihren sprachlichen, literarischen und performativen Möglichkeiten über das hinausgehen, was theologische Lehrmeinungen abstrakt bieten. Der von Warning postulierte Dualismus ist nicht auszumachen, und er nimmt die handelnden Figuren in ihrer doppelwertigen Konzeption nicht recht ernst. Ambivalenzen zwischen der vermeintlich paganen Ebene des Mythos und des Kerygmas, zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel, sind daher weniger zu sehen als die grundsätzliche ambivalente Struktur der Figuren wie der menschlich gedachten Rezipienten. Ziel kann dementsprechend nicht sein, die Ambivalenz aufzulösen und/oder die ambivalenten Pole im Wort- wie im übertragenen Sinn gegeneinander auszuspielen. Vielmehr sind die aufgedeckten Ambivalenzen als ein Plädoyer für eine differenzierte Weltsicht als ein Sowohl-als-Auch zu deuten, dies auch und gerade in einem Massenmedium wie dem geistlichen Spiel und dem Drama der Reformationszeit, dessen Gemeinsamkeiten – nebenbei gezeigt – nicht so rar, wie gemeinhin angenommen, sind.

88 Vgl. Haug, Wiederkehr des Bösen, S. 368. 89 Dass es sich um ein Gedankenspiel handelt, mag wie gezeigt bereits die Rede von der ›Geburt‹ des Teufels andeuten, die es nie gab, die ihn aber vermenschlicht.

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Carla Dauven-van Knippenberg Das Emotionspotenzial von Ambivalenzen im geistlichen Spiel

1. Der Begriff ›Ambivalenz‹ und das geistliche Spiel »Der eine Allmächtige, der die guten und die bösen Schicksale in der Hand hat, zerfällt immer wieder in Gott und Teufel.«1 Gott und Teufel in einem einzigen Allmächtigen! So allumfassend und unausweichlich ist ›Ambivalenz‹, wenn es nach Eugen Bleuler geht, der im Jahre 1910 in seinem Vortrag vor dem Verein schweizerischer Irrenärzte in Bern die Ambivalenz ›erfindet‹.2 Der Psychologe fasst unter diesem Begriff jene Wertung von Gefühlen, die grundsätzlich zwiespältiger Natur ist, ein Einerseits-Anderseits, das sich im Normalfall in einer Synthese, der Ambivalenz, begegnet. In seinem Diskussionsbeitrag zu Bleulers Darstellung weist Carl Gustav Jung darauf hin, dass man auf eine solche Ambivalenz gerne auch in mystischer Sprache treffe und nennt dabei ausdrücklich Mechtild von Magdeburg. Diese lasse die Gott minnende Seele zu Christus sagen: Und ich bin gewundet uf den tot/ mit diner fúrigen minne strale.3 Schon bald nach seiner Aufstellung traf man in vielen Forschungsbereichen auf den stets beliebter werdenden Begriff, so dass sich gut hundert Jahre später der emeritierte Konstanzer Soziologe Kurt Lüscher besorgt fragt, ob »das Konzept noch griffig« sei,4 kennzeichne sich der Begriff doch durch grundsätzliche Offenheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit. Für die Literaturwissenschaft jedoch ist der Soziologe optimistischer. Dem Begriff sei in diesem Bereich sogar Positives abzugewinnen,

1 Mit diesem Beispiel versucht Eugen Bleuler in der Ambivalenz das ›normale‹ Miteinander von Gegensätzlichkeiten zu illustrieren. In seinem Vortrag zur Winterversammlung 1910 des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Bern prägt der Psychologe und Psychiater Bleuler den Begriff ›Ambivalenz‹, um die grundlegende Dualität von Werten und Empfindungen gegen jene der Schizophrenie abzusetzen, die sich durch ihre grundsätzlich auseinanderklaffenden zwiespältigen Gefühle als Krankheit manifestiere. Bleulers Vortrag wird mitgeteilt von Sponsel, Ambivalenz. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Mechtild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, Buch II, Kap. XXV, S. 66f. 4 Lüscher, Das Ambivalente erkunden, S. 242.

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denn es biete sich die Annahme an, »dass Ambivalenz und Kreativität zusammenhängen« könnten.5 In Verbindung mit der Erforschung des geistlichen Schauspiels kreuzt sich jene ›Ambivalenz‹ genannte Fähigkeit, schöpferisch auch mit den Ritualen und der Narration aus dem Bereich der Heilsgeschichte umzugehen, mit den Thesen Rainer Warnings. Dieser meint, die grundsätzlich kerygmatische Gattung speise sich in Funktion und Struktur aus der Mythisierung der Heilsgeschichte, was unweigerlich zu einer zunehmenden Bedeutung der ambivalenten Größe von Ausgegrenztem führen müsse. Denn das geistliche Spiel des Mittelalters charakterisiere sich durch »eine Positivierung dessen, was das Kerygma als Nichtseiendes aus dem Sein auszuschließen bemüht ist«6. Das Schauspiel beabsichtige bei seinem Publikum nicht eine »totale Vermittlung« der Heilslehre, sondern Rührung und Erschütterung (S.  245), im Spiel werde »Heilsgeschichte zum Mythos« (S. 31). Den Moment des Ambivalenten sieht Warning namentlich in der Berührung von Kerygma und Mythos. Dabei vermittele Kerygma statisch dogmatische Positionen, Mythos dynamisch kreative, was im Grunde nicht verwunderlich ist, liegt doch im Urwesen des Mythos das Begreifbarmachen von Grundstrukturen des Seienden. Ein derartiger Prozess kann lediglich kreativ und unrational vor sich gehen und liegt grundsätzlich zeitlich vor dem Dogmatisieren und dem Verkündigen von Dogmatisiertem. Dort, wo das Statische auf das Kreative trifft, kommt es deshalb zu jenem Einerseits-Anderseits, welches das Wesensmerkmal der Ambivalenz bildet. Diesen Zwiespalt deckt Warning als strukturelles Element im geistlichen Spiel des Mittelalters auf. Allerdings bleibt dabei der Aspekt der eigentlichen »Zwei- oder Doppeldeutigkeit in Bezug auf die Praxis des sinnhaften Handelns«7 unterbelichtet, mit anderen Worten: Welche Wirkung hat die von Warning für das geistliche Schauspiel aufgedeckte Dualität auf die Teilnehmenden? Dieser Aspekt könnte nach Lüscher gerade die besonderen Potenziale des Ambivalenzbegriffes für die Literaturwissenschaft ausmachen, denn für den Soziologen spielt weniger die Tatsache eine Rolle, dass im Falle von Ambivalenzen dualistische Denkweisen etc. einander gegenüberstehen, als dass Relationen und Kräfteverhältnisse von Dualismen sichtbar und messbar werden. Er betont, dass gerade Literatur in der Lage sei, Ambivalenzen gedanklich und sozial zu konstruieren. In diesem Geflecht von Friktionen finden sich dankbare Anknüpfungspunkte für weiterführende Analysen von geistlichen Spielen des Mittelalters. Wie bislang schon vielfach festgestellt, sind die Texte dieser Gattung von Dualismen geprägt, doch gerade Auswahl, Gestaltung, Wirkung und Potenziale der mehrdeutigen 5 Ebd. 6 Warning, Funktion und Struktur, S. 248. 7 Lüscher, Das Ambivalente erkunden, S. 242.

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Kräfte im Hinblick auf die angestrebte »Praxis des sinnhaften Handelns«8 wären näher auszuleuchten, um Weiterem zur »Polysemie von Leben und [geistlichem] Spiel«9 auf die Spur zu kommen. Jan-Dirk Müller fokussiert die in jener Zeit für diese Gattung so typische symbolische Kommunikation zwischen den Entitäten Liturgie, Spiel und Fest.10 Vor allem die Tatsache, dass Müller sich in seinem Theaterbegriff ausdrücklich absetzt gegen eine Grenzziehung zwischen Publikum, Spieler und Alltag in ihrem Zusammenspiel mit Heilsgeschichte, kirchlichem Jahr und Liturgie, führt dazu, dass jener Ansatz sozusagen als Fundament der in diesem Beitrag erörterten Überlegungen zu der Frage nach dem Emotionspotenzial von Ambivalenzen im geistlichen Schauspiel eingesetzt werden kann: Welche Bedeutung kommt dem Konzept der Ambivalenz im Zusammenhang mit dem geistlichen Spiel des Mittelalters zu? Wie präsentiert sich der Sinn der Handlung in der Interaktion von Kerygma und Mythos, von dogmatischer Belehrung und publikumswirksamer Erzählung? Denn es geht im geistlichen Spiel letztendlich und unausweichlich um einen grundsätzlichen Akt der Kommunikation: um die Vermittlung von Heilslehre. Jegliche Art von Grenzziehung – zwischen Konstruktion, Produktion und Rezeption, zwischen zeitlichem Kontext und überzeitlicher Heilslehre, zwischen Publikum und Darstellenden, zwischen liturgischem Ritual und paraliturgischer Narration, zwischen Aufführung und Lektüre – würde diese Kommunikation stören. Die Kürzestdefinition des Begiffs ›Kommunikation‹ nach der sogenannten Lassell-Formel: »wer sagt was wie, wo und wann zu wem mit welchem Effekt«11, impliziert, dass mittels Kommunikation Handlung hervorgebracht werden kann. So auch das geistliche Spiel, denn es ist in vielerlei Hinsicht zweck- und adressatenorientiert. Das verleiht der hier erörterten Gattung zum einen ihre mehr oder minder ausgeprägte Gegenseitigkeit von Aussage und Wirkung, betrifft doch die innewohnende Heilslehre alle Teilnehmenden, Aufführende wie Zuschauende. Zum anderen birgt hier Kommunikation zwischen nicht dogmenorientiert Erzählendem und dogmatisch Festgelegtem die Möglichkeit der – sei sie gelungen, sei sie fehlgeschlagen – Handlungslenkung in sich. Vom Spielverfasser bewusst konstruierte Ambivalenzen gehören zu den handlungslenkenden Mitteln, die der Gattung alleine schon durch ihren Inhalt zur Verfügung gestellt sind, denn die Heilslehre an sich ist ja schon ein einziges Flechtwerk von Dualismen. Im Folgenden soll es um einen ganz bestimmten Bereich auf dem Gebiet der kerygmati-

8 Ebd. 9 Müller, Symbolische Kommunikation, S. 332. 10 Vgl. ebd., S. 331–355. 11 Für die Kurzdefinition dessen, was ›Kommunikation‹ eigentlich ist, wäre die LasswellFormel immer noch griffig: »Who says what in which channel to whom with what effect?« Vgl. Lasswell, The Structure and Function of Communication.

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schen und handlungslenkenden Kommunikation gehen, nämlich um Emotion.12 Also um ein ebenso weites Feld und ob seiner Anwendungs- und Forschungsbeliebtheit13 – man spricht sogar von einem emotional turn – ein mittlerweile vielleicht ebenso wenig griffiges Konzept wie das der Ambivalenz.

2. Der Begriff ›Emotion‹ und das geistliche Spiel ›Emotion‹ wird innerhalb der Psychologie von dem amerikanischen Psychologenpaar Anne und Paul Kleinginna umschrieben als ein komplexes Muster von Wechselbeziehungen zwischen subjektiven und objektiven Faktoren und Empfindungen wie z.B. Freude, Traurigkeit, Angst, Mitleid, Schuld.14 Im Zusammenhang mit dem geistlichen Spiel dürfte deren These, dass Emotionen meistens zu einem angepassteren Verhalten führten, dass Emotionen adaptiv einsetzbar wären, nicht uninteressant sein. Die beiden Kleinginnas führen aus, dass Wahrnehmung oder Erfahrung einer emotionsrelevanten Situation zwar eine autonome, individuelle Reaktion auslösen, dass es dabei jedoch zu überindividuellen Bewertungen kommt, die ihrerseits kognitive Prozesse wie bewusste Anpassung bzw. bewusste Ablehnung der emotionsgenerierenden Faktoren zu steuern vermögen. Dem singulären oder auch gemeinsamen Konstruieren wie dem singulären oder auch gemeinsamen Erfahren von Emotionen wohne denn auch eine ausdrücklich in- bzw. exkludierende Kraft inne. Wenn man davon ausgeht, dass das geistliche Schauspiel des Mittelalters sui generis Heilslehre vermitteln soll15 und zu diesem Zweck die ganze rhetorische Klaviatur der performativen Repräsentation bespielt, dann liegt der Schluss nahe, dass das gezielte Einsetzen bzw. Hervorrufen von Emotionen ein dankbares didaktisches Mittel ist. Gerd Althoff bemerkt, dass innerhalb der öffentlichen Kommunikation im Mittelalter im Grunde stets von 12 Gerd Althoff weist eindringlich darauf hin, dass in öffentlicher Kommunikation zu Tage tretende Emotionen immer eine zweckrationale Zeichenfunktion hatten – vgl. Althoff, Gefühle der öffentlichen Kommunikation, S. 82–99. 13 Einen kurzen Überblick über die Forschung bieten Hillebrandt/Fenner, Emotionen und Literatur. 14 Vgl. Kleinginna/Kleinginna, A Categorized List of Emotion Definitions, S. 335: »As a working model, we propose the following definition: Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural/hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goaldirected, and adaptive.« 15 Über den Zusammenhang zwischen den beiden massenbelehrenden Medien jener Zeit, der großen Volkspredigt und der ›Predigt von der Schaubühne‹, dem geistlichen Spiel, sowie deren grundlegend gemeinsamen Basis vgl. Dauven-van Knippenberg, Wege der Christenlehre, S. 370–384.

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einer inszenierten Emotion die Rede ist. Diese soll weithin erkennbare Zeichen setzen.16 Emotionen seien »Ausdrucksmöglichkeit der mittelalterlichen Ritualsprache« (S.  90). Sie erhöhten durch ihre expressive Kraft die Verbindlichkeit der Aussage – die verbal aber auch nonverbal sein kann (S. 91). Es sind »Verhaltensmuster, die formelhaft verwendet wurden« und als Bestandteil der Rituale »theatralisch, feierlich, festlich oder dramatisch übersteigert« (S.  85), mitunter sogar tumultuös oder grausam seien. In seinem Fazit unterstreicht der Historiker, wie fremd es einem heute vorkomme, wenn Emotionen nicht ›echt‹, nicht ›authentisch‹ seien. Doch sei eine derartige Kategorisierung bei einer Analyse mittelalterlicher Texte anachronistisch, denn es handele sich hier um zweckrational ›aufgeführte‹ und nicht ›subjektive‹ Gefühle (S. 96f.). Sie dienen dazu, in der öffentlichen Kommunikation unmissverständlich die entsprechende Botschaft zu überbringen. Der Literaturwissenschaftlerin Simone Winko kann aus dem Blickwinkel der Mediävistik denn auch nur Beifall gezollt werden, wenn sie sich in ihrer Habilitationsuntersuchung gegen die weitverbreitete Annahme absetzt, Emotionen seien lediglich auf der Rezeptionsebene erforschbar.17 Literarisierte Emotion brauche, so Winko, nicht nur jemanden, der sie erfasst und erfährt, sondern auch jemanden, der sie, und zwar im Wissen über emotionsrelevante Faktoren, konstruiere. Diese Faktoren würden ihrerseits von intersubjektiven Komponenten wie zeiteigenen Zuständen, Verhaltensweisen und Situationen vorgegeben, weshalb diese sich tatsächlich wissenschaftlich fundiert analysieren ließen. Auf der Textebene, auf der Produktionsebene und auf der Rezeptionsebene lassen sich unterschiedliche Interaktionssysteme und Wechselbeziehungen ausmachen.

3. Das geistliche Spiel: drei Fallbeispiele Emotionspotenziale von Ambivalenzen fokussierend tragen sich nun mit Blick auf das geistliche Spiel eine Reihe von Fragen an. Welche sind die möglichen Kräfteverhältnisse seiner möglichen inszenierten Dualismen? In welcher Relation stehen sie zueinander? Generieren sie das erwünschte »sinnhafte Handeln« (Lüscher)? Wann, in welchen szenischen Momenten werden in welcher Weise die Ausdrucksmöglichkeiten der mittelalterlichen Ritualsprache eingesetzt? Finden sich die Dualismen auf der performativen Textebene und dienen sie möglichen kommunikativen Interaktionen zwecks Handlungslenkung? Ist ambivalente Rezeption möglich oder gar erwünscht? Unmöglich ist es, auf dem Hintergrund der genannten Fragen eine Gesamtbetrachtung der geistlichen Spiele vorzunehmen, 16 Vgl. Althoff, Gefühle der öffentlichen Kommunikation, S. 85. 17 Vgl. Winko, Kodierte Gefühle.

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auch wenn das wünschenswert wäre. Um dennoch die Spanne möglichst weit zu fassen, sollen nun Textzeugnisse unterschiedlicher Entstehungszeiten und Überlieferungsverhältnisse gewählt werden, weil sich an solchen divergenten Beispielen am ehesten verschiedene Konstruktionstypen in unterschiedlichen Rezeptionsverhältnissen aufzeigen könnten. Vorgestellt werden das »Maastrichter (ripuarische) Passionsspiel« aus der Zeit um 1300, das »Wienhäuser (lateinische) Osterspiel« aus der Zeit um 1400 sowie schließlich das »Donaueschinger Passionsspiel« aus der Zeit um 1500 mit seinem eingelegten Spielplan aus der Zeit um 1600. An diesen Texten soll die Frage nach dem Kommunikationsgehalt – wer sagt was wie, wo und wann zu wem mit welchem Effekt – herangetragen werden mit dem Ziel, angelegte emotionsrelevante Dualismen und ihre gegenseitigen Relationen zu entdecken, sowie zu klären, ob sie mittels bewusst konstruierter Ambivalenzen die erwünschten adaptiven Emotionen hervorrufen oder ob sie gerade zu Ambivalenzen führen. Es wird zu unterscheiden sein zwischen Emotionen im öffentlichen Raum, die grundsätzlich einem inszenierten Muster von Zeichen folgen und eher individualisierten Emotionen, denn es herrscht Konsens darüber, dass das geistliche Spiel alle Kriterien einer öffentlichen Kommunikation erfüllt, die darauf ausgerichtet ist, von allen richtig verstanden zu werden, auch ohne dass der Text Wort für Wort vernehmbar wäre. 3.1 Das »Maastrichter (ripuarische) Passionsspiel«18 Dieser nach seinem Fundort Maastricht benannte, ripuarische Text ist um 1300 als letzter in einer Sammelhandschrift mit ansonsten nur limburgischen Predigten aufgezeichnet. Der Spieltext umfasst die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Verrat Jesu durch Judas. Danach bricht der Text ab.19 Formal unterscheidet er sich von seiner in ungebundener Sprache gehaltenen Textumgebung durch eine paarig gereimte, dialogische Textstruktur; mittels Rubrizierung werden die jeweiligen Sprecher ausgewiesen. Die Handschrift wird in das Umfeld einer frommen Frauengemeinschaft, womöglich Zisterzienserinnen, gedacht. Wie man unschwer erkennen kann, dürfte bei diesem »Maastrichter (ripuarischen) Passionsspiel« kaum von einer Aufzeichnung für die Hand eines Spielleiters die Rede sein. Zum einen ist der Codex mit seinen 247 Pergamentblättern in einem Format

18 Das Spiel liegt bloß in einer alten Edition von Zacher (1842) vor, der das Spiel unter der heute als fehlerhaft empfundenen Bezeichnung ›Osterspiel‹ herausbrachte; eine Neuedition durch Carla Dauven-van Knippenberg und Arend Quak ist in Vorbereitung. 19 Auch im Textinneren gibt es zwischen dem 20. und 21. Katern einige Fehlstellen, vgl. Kwakkel, Codicologische beschrijving, S. 309.

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Abb. 1: Den Haag, KB 70 E5, fol. 233v–234r (Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Koninklijke Bibliotheek, Den Haag).

von 260 x 185 mm20 schlichtweg zu dickleibig, zum anderen kann man von einer zu sorgfältig und schmuckhaft gestalteten Niederschrift sprechen und drittens ist der als »Maastrichter Passionsspiel« seit seiner Erstedition durch Julius Zacher im Jahre 1842 in die Forschung eingegangene Text genauso sorgfältig und in zwei Spalten aufgezeichnet wie alle vorangehenden Prosatexte. Ein dichotomischer Zuordnungsversuch des Textes entweder als Spielvorlage oder als Lesetext würde zu kurz greifen.21 Vielmehr bietet dieser Text durch seine kommunikative Vernetzung mit den anderen Texten aus der Handschrift die Möglichkeit eines kombinatorischen, möglicherweise gemeinsamen Lesens, wobei sich eine klare, dualistisch angelegte Handlungsanweisung erkennen ließe: Tretet aus dem weltlichen Treiben aus, ein in die klösterliche Welt. Eine zentrale Rolle bei dieser Handlungsanweisung spielt textintern die Figur der Maria Magdalena. Ihr Sprechtext 20 Vgl. ebd., S. 305. 21 Auf diesen Aspekt wird ausführlich eingegangen in Dauven-van Knippenberg, Das Maas­­ trichter (ripuarische) Passionsspiel.

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bei der Hochzeit zu Kanaa im Spiel ist der umfangreichste. Er umfasst knappe hundert Zeilen und steht zugleich inhaltlich in einem scharfen und wirkungsvollen Kontrast zur adaptiven Aussage des dialogischen Textes sowie der ganzen Handschrift. Maria Magdalena gibt sich bei der Hochzeit zu Kanaa als Frau von Welt zu erkennen, singt ein neues Lied – ein Minnelied –, um danach vorzuführen, wie man sich für das Hochzeitsfest zu kleiden und zu schmücken habe. Dass die Figur der Maria Magdalena in den Spielen immer gerne benutzt wird, um das sündhafte weltliche Leben zu demonstrieren, dem aber von der jungen Frau in mustergültiger Weise der Rücken gekehrt wird, damit sie sich zu den Jüngern Jesu scharen kann, bekommt in dem Aussagekontext dieser Handschrift, deren Benutzung ja einem Frauenkloster zugeschrieben wird, eine besonders konkrete Zeichenfunktion. Es dürfte die Insassen unmissverständlich und freudvoll daran erinnern, wie gut es war, dass sie sich dem klösterlichen, gottgefälligen Leben zugewandt haben. Zugleich ist der Textabschnitt für die Benutzer der Zeit, als die Handschrift erstellt wurde, wohl erkennbar auf eine bestimmte Gruppe von Personen aus einem ganz bestimmten höfischen Kontext gemünzt. Das Minnelied nämlich konnte Frank Willaert22 dem direkten Umkreis des Herzogs Jan I. von Brabant (* 1252/53 Brüssel, † 3.5.1294 Lierre) zuordnen, der 1288 siegreich aus der Schlacht zu Worringen hervorging. Mit dieser Schlacht ging der Limburgische Erbkrieg zu Ende. Einander gegenüber standen Jan I. und der Kölner Erzbischof, der aber unterlag. Vielleicht darf man sagen, dass diese Auseinandersetzung im Auftritt der Weltdame Maria Magdalena, die sich durch ihre Begegnung mit Jesus einem gottgefälligeren Leben zuwendet, ihren Niederschlag fand. Denn nicht nur assoziierte das von ihr gesungene, neue Lied den verfeindeten Herzog Jan I. von Brabant. Das Lied, das laut Handlungsanweisung ausdrücklich als tatsächlich gesungen markiert wird, weshalb es sich darstellerisch vom dialogisch gesprochenen Text abheben dürfte, ist zugleich der einzige mittelniederländische (brabantische) Textabschnitt im ansonsten ripuarischen Spiel: die Sprache des Schlachtensiegers Herzog Jan I., benutzt in einem Minnelied, wie er es geschaffen haben könnte, versus der Sprache des eigenen, allerdings in der Schlacht unterlegenen Erzbischofs. Es ist nicht nur der individuelle Zwiestreit zwischen den beiden Äußersten, zwischen Teufel und Gott, der durch diesen Abschnitt performativ in Worte gefasst wird und in der Bekehrung zur Synthese kommt. Der Dualismus zwischen höfisch-weltlich Abzulehnendem und klösterlich Gottgefälligem reflektiert zudem eine zeitnahe sozial-politische Situation und konstruiert somit ein großes und erkennbares Zeichenpotenzial. In seiner Dualität hält er zu sinnhaftem Han22 Vgl. Willaert, Maria Magdalenas Lied im »Maastrichter Passionsspiel«. Willaert kommt zu dem Schluss, dass es sich bei Maria Magdalenas Lied Alle creaturen vermutlich um eine sogenannte Virelai-Ballade handele (S. 550f.).

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deln an und ist mit Hilfe seiner emotionsrelevanten, exkludierenden Häme dem Schlachtensieger gegenüber in der Lage, ein starkes Gefühl von Inklusion auf der Seite der Unterlegenen zu generieren. 3.2 Das »Wienhäuser (lateinische) Osterspiel«23

Abb. 2: Kloster Wienhausen, Klosterarchiv Hs. 80 (Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Klosters Wienhausen).

Das zweite Beispiel stammt ebenfalls aus einem Frauenkloster, genauer noch: aus einem Zisterzienserinnenkloster.24 Es zählt sechs Pergamentblätter in zwei Lagen 23 Der Text ist bislang unediert. Eine erste Beschreibung findet sich – allerdings recht provisorisch – bei Sievers, Die Wienhäuser Choralhandschriften, S. 2, der ihn der Gattung ›Osterspiel‹ zuordnet; Mattern, Liturgy and Performance, rekonstruiert den Inhalt detailliert, rechnet ihn jedoch der Gattung ›Osterfeier‹ zu; Janota, Osterfeier oder Osterspiel? plädiert für das Beibehalten der Gattungsbezeichnung ›Osterspiel‹. In diesem Beitrag folge ich der Argumentation Janotas und spreche von einem Wienhäuser (lateinischen) Osterspiel, wenn es sich um die Hs. 80 handelt. 24 Ausführlich zur funktionalen Zuordnung der Hs. 80 im Kontext des Klosters Wienhausen siehe Dauven-van Knippenberg/Meyer, Wienhausen Hs. 80. Viele auch im vorliegenden Beitrag fruchtbar gemachte Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Wienhäuser Hs. 80 entstammen der intensiven und inspirierenden Zusammenarbeit mit Elisabeth Meyer.

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und ist die vom Format her – es misst lediglich 65 x 50 mm – kleinste Spielhandschrift überhaupt, die ein lateinisches Osterspiel überliefert. Das Heftchen beinhaltet auf der textlichen Ebene den Gang der Marien zum Grab, den Salbenkauf, die Frauen am Grab, die Hortulanus-Szene, das »Victime paschali« und schließlich den Jüngerlauf. Durch die Vorrangstellung von frommen Frauen als Handlungsträgern in ihrer unmittelbaren Nähe zum Auferstandenen kann man in diesem Beispiel ebenfalls einen klaren Bezug zwischen Text und Benutzerkreis konstatieren. Eine Wechselwirkung mit dem lokalen Umfeld wäre ebenfalls gegeben, denn bis heute kann man im Kloster Wienhausen in die bildliche Welt der Auferstehung geradezu eintauchen. Den genauen Inhalt des Osterspiels muss man heute größtenteils erschließen, denn die Tinte ist stellenweise arg verblasst.25 Die Materialität der Wienhäuser Miniaturhandschrift Hs. 80 wurde bislang kaum beachtet, doch wäre es denkbar, dass das Pergament möglicherweise von den unteren und seitlichen Rändern ausgemusterter Handschriften stammen könnte. Reste von abgeschabtem, möglichem Randschmuck sind noch erkennbar.26 Sucht man nach einem möglichen Grund, weshalb so kleine Büchlein hergestellt wurden, bietet sich gerade für das ikonisch vom Heilsplan so erfüllte Kloster Wienhausen27 an, dass man einen lieben und teuren Textinhalt in seiner steten Nähe tragen wollte. Es fragt sich sogar, ob die langen Bindefäden nicht auch noch dazu benutzt wurden, das Büchlein zwecks jederzeit möglicher, mystischer Gebetskommunikation mit den Heiligtümern der direkten Umgebung an sich zu binden. Doch nicht nur diese haptische Nähe der niedergeschriebenen und teilweise notierten Auferstehung Christi dürfte für die Benutzerin Glück, Schutz und Heil gewähren, auch die Herstellung eines solchen Kleinods bringt der Herstellerin den heiligen Text so nah, dass er eins mit der Herstellerin wird. Man hätte hier also durchaus eine subjektiv erfahrene Emotion, wobei das Büchlein mit dem Spieltext seine Besitzerin wie eine Art von Amulett oder Skapulier jederzeit die glückseligen Folgen der Passion und Auferstehung gewahr werden lässt. Ein prinzipiell dialogisch angelegter, notierter Text wird so zu einem hyperindividuellen monologisch genutzten Objekt kultischer – fast abergläubischer – Verehrung.28

25 Für die Erschließung und eine genaue Beschreibung des Inhalts siehe Mattern, Liturgy and Performance. 26 Dauven-van Knippenberg/Meyer, Wienhausen Hs. 80. 27 Dauven-van Knippenberg, Ein Schauspiel für das innere Auge? 28 In seiner textlichen Analyse eines ebenfalls kleinformatigen Büchleins aus Muri (um 1150/1180) mit Gebeten und Benediktionen stellt schon Christian Kiening fest, dass die mittelalterliche Gebetspraxis generell eine magische, etwa schadensabwehrende Dimension kenne. Vgl. Kiening, Gebete und Benediktionen von Muri.

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3.3 Das »Donaueschinger Passionsspiel«29

Abb. 3: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Don. 137, fol. 82v/83r.30

Mit dem letzten Beispiel gelangt man fast schon zu einem ›Klassiker‹ in der Spieleforschung, dem »Donaueschinger Passionsspiel«. Der Spieltext ist im sog. Regieformat überliefert, einem Schmalfolioformat (27,5 x 85 mm), das gerne auch in städtischen Archiven benutzt wurde. Seine Bezeichnung richtet sich nach dem ehemaligen Aufbewahrungsort Donaueschingen, was die konkrete Lokalisierung 29 Zur Edition des Spiels siehe: Das Donaueschinger Passionsspiel. 30 Die Abbildung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe.

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betrifft, lässt sich das »Donaueschinger Passionsspiel« der alemannischen Spielgruppe, genauer noch der Luzerner Aufführungstradition zuordnen.31 Obwohl bislang keine Aufführungsbelege nachgewiesen werden konnten, nimmt man an, dass der Text in seinem handschriftlichen Überlieferungsformat – ein Passionsspiel – nach den beiden kerygmatischen Vorreden sowie dem Engelsgesang und dem Gesang der iuden schůll mit dem weltlichen Treiben der Maria Magdalena einsetzend und mit der Verkündigung der Auferstehung durch die drei Marien am Ostersonntag abbrechend – tatsächlich für die Hand eines Spielleiters als Regieexemplar angelegt bzw. genutzt worden sei. Die Handschrift zeigt so viele Gebrauchsspuren, dass man davon ausgehen darf, sie sei bei einer oder auch mehreren Aufführungen verwendet worden: auf der inhaltlichen Ebene geben die sehr ausführlichen und performativ-bildlichen Bühnenanweisungen die Nähe zur Spielleitung und Vorführung an; auf der textlichen Ebene wechseln sich Sprech- und Gesangsvortrag ab, es sind zwei Spieltage vorgesehen, es gibt Aufund Abgangsprozessionen etc. In kaum einem Spiel wird bei einer realisierten Inszenierung der Heilsgeschichte, wie im »Donaueschinger Passionsspiel«, durch simultane Handlungsführung die Opposition zwischen Ritualität und Theatralität, zwischen Andacht und Unterhaltung derart anschaulich und unverkennbar vorgelebt.32 Das Spiel beginnt sofort mit der Parallelisierung des Ruhe gemahnenden Engelsgesangs und des pseudohebräischen Kauderwelschs der iuden schůl (V.  2a/b–3); in der ersten Spielszene lädt Maria Magdalena die Soldaten Pilati zur fröd vnd kurtzwil (V. 88) zu sich nach Hause, während an anderer Stelle der Saluator mit seinen Jüngern von Simon zum Nachtmahl eingeladen wird (V. 131ff.). Das Spiel kennt viele solcher Szenen, in denen die bewusste Konstruktion von Dualitäten in dem Sinn handlungslenkend sein möchte, dass die Teilnehmenden – Darsteller wie Zuschauer – das gefährliche Oszillieren zwischen Gut und Böse erkennen und zu einem gottgefälligeren Leben angehalten werden. Allerdings kann diese im öffentlichen Raum inszenierte Konfrontation derart emotionsgenerierend sein, dass handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den zwei Gruppierungen entstehen – etwa zwischen den Anhängern und Feinden Jesu bei den Szenen der Gefangennahme, Verhören und Geißelung des Gottessohnes.33 Obwohl die Zeichen von ihrer religiösen Aussage her unmissverständlich sein sollten, schlägt dennoch die Kommunikation fehl, wenn nicht fromme Heilsbelehrung der Effekt derartiger extrem zweipoliger Präsentation ist, sondern Konflikt und Kollision. 31 Ausführlich dazu vgl. Touber, Einleitung, S.  12–14 sowie Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes. 32 Vgl. dazu auch Toepfer, Implizite Performativität. 33 Man vergleiche entsprechende Angaben bei Neumann, Geistliches Schaupiel, Bd. 1, S. 312, der für Frankfurt a.M. zu berichten weiß, dass das Judenviertel wegen zu erwartender Ausschreitungen abzusperren sei.

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Da dürfte die trauernde Mutter Maria unter dem Kreuz eine andere Wirkung hervorrufen. Zur Situation: Gerade hat der Söldner, der nach dem »NicodemusEvangelium« auch im »Donaueschinger Passionsspiel« Longinus genannt wird, die Seite des Gekreuzigten durchbohrt und ist vom Blut sehend und gläubig geworden (V. 3519b–3547a), fällt Maria auf die Knie, das Kreuz umarmend. Sie klagt den Verlust ihres Sohnes schmerzvoll an (V.  3548–3559), ruft die anwesenden Frauen zum Mitklagen auf (V. 3560–3567): helffent mir weinen sinen tod (V. 3565). Trauer auf der einen Seite, Mitleid auf der anderen. In einer Art von ansteckendem Weinen sollen diese Emotionen den Tod eines geliebten Menschen tragen helfen, obwohl das eigentliche Gefühl Freude sein sollte, denn schließlich sollte nach dem Plan des allmächtigen Gottes der Sohn zur Sühne der sündigen Menschheit geopfert werden. Menschliches Trauerverhalten und Gottes Plan prallen aufeinander. Das Spiel zeigt das an, indem es auf die Trauerklagen der Mutter und der Maria Magdalena die Figuren ›Christiana‹ und ›Judea‹ auftreten lässt. Während die beiden todtraurigen Frauen, gestützt durch Johannes, unter dem Kreuz verharren, setzen diese zwei Personifizierungen des Alten und des Neuen Bundes ihre Disputatio an, aus der schließlich Christiana den Plan Gottes in Erinnerung ruft, zugleich aber auch die Abscheu über die grausame Tat ausspricht und die Schwestern und Brüder zu gemeinsamer Rache aufruft (V. 3625f.). Die erbauliche Lehre mündet über die polarisierte Interaktion literarisierter Figuren im Moment der tiefsten Trauer und der höchsten compassio so zu aggressiven Handlungen seitens aller Gläubigen, wobei die grundsätzliche Ambivalenz durch die Simultaneität der Spielanlage reflektiert wird. 3.4 Der Donaueschinger Bühnenplan Der Handschrift beigelegt war ein etwa hundert Jahre später aufgezeichneter Bühnenplan, der insgesamt für eine bis heute aktive Forschungsdiskussion sorgt, denn nach wie vor kann er keinem Spiel problemlos zugeordnet werden.34 Für die Frage nach Ambivalenzen zwischen Profanität und Sakralität bekommt diese auf Gegensatz angelegte Wiedergabe des Universums, zumal als Einlegeblatt in einer Spielhandschrift, eine besondere Aussagekraft. Die beiden Pole verkörpern gemeinsam den Allmächtigen, der das Gute wie das Böse in sich trägt: Gott und Teufel, Himmel und Hölle. Es ist anzunehmen, dass sich die Anlage einer Inszenierung der Heilsgeschichte ebenfalls nach dieser Ausrichtung präsentiert. Jeder

34 Vgl. Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes. Zur Problematik der Zuordnung des Donau­ eschinger Bühnenplans siehe vor allem den Abschnitt ›Der rätselhafte Bühnenplan‹, Bd. 1, S. 165–173; Dauven-van Knippenberg, Inszenierte Konfrontation.

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Abb. 4: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Don. 137, sog. Donaueschinger Bühnenplan.35

Gläubige war mit dieser zweipoligen Ausrichtung von seinen Gotteshäusern vertraut, die oftmals durch ein Portal zu betreten waren, in dem gerne ›Höllisches‹ dargeboten wird. Dieses gehört zu einer Welt, die man hinter sich zu lassen hat, bevor man durch das Tor in den Innenraum der Kirche, das Abbild des Universums, gelangt. Da die christlichen Kirchenbauten nach einer Ost- West-Ausrichtung angelegt sind, schaut der Gläubige beim Betreten und Beten immer nach Osten, dorthin, wo der Jüngste Tag aufgehen wird und die ewige Glückseligkeit wartet. Allerdings unter der Bedingung, dass man ein gottesfürchtiges Leben geführt hat. Auch der Donaueschinger Bühnenplan gibt diesen Weltblick zu erkennen. Vielleicht aber wollte weder die bildliche noch die textliche Anordnung der 35 Die Abbildung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe.

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Orte eine direkte Anleitung für eine Bühneneinrichtung sein; vielleicht sollten die Pläne lediglich die imaginierte Anordnung der Systeme im göttlichen Weltplan aufreißen, wie eine mental map, die sich als immerzu abrufbare Orientierungshilfe für einen geistigen Parcours anbietet.36 Der Zeichenwert wäre sowohl im Falle einer öffentlichen Kommunikation als Grundlage eines Bühnenplans als auch im Falle einer individuellen Nutzung jedenfalls eindeutig: die Kräfteverhältnisse sind vom Allmächtigen prinzipiell konträr festgelegt, der Gläubige ist angehalten, sich dem Guten zuzuwenden, doch immer lauert die Gefahr, in die ›falsche‹ Richtung abzudriften.

4. Bilanz der Betrachtung Trauerritual, Hoffnung auf Heil und Volkshetze treffen im Massenmedium Passionsspiel in der Art aufeinander, dass die grundsätzlich zweckrational konstruierten und aufgeführten gegensätzlichen Emotionen zwar unmissverständliche Zeichen setzen, von der Wirkung her aber ihr Ziel verfehlen können, wenn nicht die Flamme der Liebe gezündet wird, sondern die Feuersbrunst des Hasses.37 Wie etwa die Frankfurter Absperrung des Judenviertels bezeugt,38 geht der Schlag eines performativen Antagonismus gerne auch spielextern los. Dennoch: es ist die Heilsbotschaft, die das Spiel durch seine dualistische Struktur in der öffentlichen Massenkommunikation einer Spielaufführung austragen möchte. Allerdings scheint die wiederholte Anmahnung zur Nächstenliebe durch die Figur Jesus häufig bloß der Kontrapunkt zur Hasspredigt zu sein. Die weithin sichtbaren Stereotypen in unter anderem dem »Donaueschinger Passionsspiel« sind auf dem Prinzip der Unterscheidung bzw. Generierung von Ingroups und Outgroups basiert und sind die Wurzeln von Diskriminierung und Vorurteil: eine religions- und kulturästhetisch konstruierte Ambivalenz, die darauf angelegt ist, Zwietracht zu sähen. Ein abweichendes Bild bieten die beiden anderen Beispiele. Das kleinformatige »Wienhäuser (lateinische) Osterspiel« generiert sein Emotionspotenzial nicht aus der Dualität einer In- und Outgroup, sondern gewinnt durch sein kleines Format eine Subjektivität im möglichen Erleben der Auferstehungsfreude, die eher atypisch für Zeit und massenmediale Gattung sind. Vom Inhaltlichen her entspricht es den Gepflogenheiten der Gattung, indem es freudig die Auferstehung fokussiert. Der Moment des Ambivalenten liegt eher in der oszillierenden Friktion von öffentlich-ritueller Textualität einerseits und emotions36 Ebd., S. 64. 37 So im Prolog des »Donaueschinger Passionsspiels«, wenn der Prologsprecher Gott in seinem Gebet ausdrücklich anfleht, enzind in vns diner liebe flamen (V. 30). 38 Vgl. Neumann, Geistliches Schaupiel, Bd. 1, S. 312.

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geladener, hyperindividueller Gegenständlichkeit in Produktion und Nutzung der Miniaturhandschrift anderseits. Dieser Bereich des strikt Subjektiven ist im »Maastrichter (ripuarischen) Passionsspiel« nicht gegeben, denn der Text scheint im klösterlichen Benutzerkreis eher zu einer öffentlich-gemeinsamen Kommunikation zu gehören. Die hier betrachteten Dualitäten im Spieltext generieren weitaus weniger Hasspotenzial als die späteren, massenmedial angelegten Passionsspektakel. Die Ingroup wird gebildet durch die Klosterdamen, die Outgroup durch die weltlich lebenden, höfischen Damen. Das wird textlich mehrfach thematisiert, am stärksten wohl durch die ausschweifend lebende Maria Magdalena, die in der Beschreibung ihrer Festkleidung ihren gehobenen Stand zu erkennen gibt. Eine besondere Position nimmt der politische Seitenhieb auf den Kreis um Herzog Jan I. von Brabant ein. Hier konstruiert das Spiel auf der Verfasserebene kunstvoll jene Kräfteverhältnisse, die spielintern vollkommen ihren Zweck erfüllen und auf der Rezeptionsebene ihren adaptiven Effekt darin suchen, die Abkehr vom höfisch-weltlichen Leben zu unterstreichen. Ein Fazit versuchend ist nun als erstes festzuhalten, dass der Kommunikationskontext von wesentlicher Bedeutung ist, wenn man nach jenen Kräften sucht, durch die das Spiel – insbesondere mittels Emotionalität – unmissverständliche Zeichen innerhalb einer mehr oder minder öffentlichen Kommunikation Ambivalenzen konstruiert. Die Fallanalysen, die von solchen emotionsrelevanten Spielmomenten ausgingen, brachten ein stark divergentes Bild ans Licht, das für jeden der angetragenen Fälle eigene Zwei- oder Doppeldeutigkeiten aufleuchten ließ, mit jeweils unterschiedlicher adaptiver Kraft. Die literarisierte Ambivalenz der Heilsgeschichte zeigt sich im generierten sinnhaften Handeln von zwei Seiten: Auf der Ebene der Produktion werden Emotion generierende Handlungen eingesetzt, die auf der Ebene der Rezeption vor allem zu einer ebenso emotionierten Nachahmung führen sollten. Das wird im geistlichen Spiel von der Sache her für die gesamte Zielgruppe, sowohl für die aufführenden als auch für die zuschauenden Gläubigen, angestrebt. Ob sich allerdings das Konzept ›Ambivalenz‹ kulturästhetisch als generelle Spielregel für die Gattung eignet, bleibt nach wie vor offen. Zu ungewiss bleibt die Erkenntnis, ob die innenliegende doppelte Wertung von Gefühlen zu einem harmonischen Miteinander der Gegensätzlichkeiten kommt. Durch die spieleigenen Dualismen, durch die Polarisierung, durch die Kontingenzen müsste es zu einer Festigung der christlich-sozialen Normen kommen, was jedoch namentlich im aufführungsnahen Kasus ›Donaueschingen‹ offenbleibt. Hier oszilliert die Wahrnehmung von bewusst emotionsauslösenden figurierten Präsentationen der Passion Christi ständig zwischen kerygmatisch grundsätzlich erstrebt und in Wort- und Bildrhetorik polarisierend und verachtend. Die dogmatisch vorgegebene Ambivalenz führt im bipolar angelegten massenmedialen Kontext nicht unbedingt zur erwünschten Synthese. Demgegenüber demonstrieren die individuell oder auch im geschlossenen klösterlichen Kreis ge-

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nutzten Spieltexte, dass die Konstruktion von ›Heiligem‹ versus ›Unheiligem‹ in der Dimension der Nachahmung durchaus zu einem normgemäßen Miteinander führt. Der Kasus ›Wienhausen‹ zeigt auf, dass eine objektgesteuerte Verehrung des heiligsten Moments der Heilsgeschichte durch eine amulettartige Verwendung einer Osterspielaufzeichnung in Miniaturformat Unterstützung findet. Eine solche Dimension der haptischen Wahrnehmung grenzt eng ans Magische, trägt aber letztendlich doch zu einem individuellen Heilsempfinden bei. Der Kasus ›Maastricht‹ führt durch seine performativ-textliche Polarität vor, dass man dem ›unheiligen‹ Leben eine Absage erteilen sollte, auf dass ein gottesfürchtiges (Kloster-)Leben zum Heil führe, wobei der literarisch angelegte Dualismus sich auf politisches Zeitgeschehen stützen kann, ohne dass die heilsbelehrende Kommunikation ihr Ziel aus dem Auge verliert. Die Betrachtung einiger Fallbeispiele erhellt die Komplexität des Paradigmas ›Ambivalenz‹ und die Rolle der Emotion als maßgebliche Dimension bei der Konstruktion von Heiligem versus Unheiligem. Auf der Ebene der Produktion und der Aufführung sowie auf der Rezeptionsebene präsentiert jede Varianz die Möglichkeit einer vollkommen divergenten Kommunikation des Heilsgeschehens. Deren zweipolig angelegte Natur kommt im geistlichen Spiel offenbar bloß in individuell oder im geschlossenen Kreis genutzten Manuskripten zu einer Synthese. In den großen massenmedialen Darstellungen jedoch leistet das Spiel einer Spaltung der narrativ bipolar angelegten Gruppierungen Vorschub, die gesellschaftlich noch gesteigert wird. Heilslehre ist hier keine Versöhnlichkeitslehre mehr, weshalb die grundsätzlich kerygmatische Kommunikation fehlschlägt: es kommt nicht zum Normalfall des harmonischen Miteinanders. Es bleibt die Frage offen, ob bei einer solchen Verschiedenheit im Umgang mit dem bipolaren Weltbild, das dem geistlichen Schauspiel des Mittelalters zugrunde liegt, ›Ambivalenz‹ analytisch eine gattungsgeeignete Metakategorie bietet. Als Massenkommunikationsmittel ist die Gattung, die Heilslehre verkündigen wollte, zu einer Lehre der Spaltung geworden mit Schlag- und Reizwörtern an Stellen, die mit einer Versöhnlichkeitslehre nichts mehr zu tun haben. Die Synthese, die der Ambivalenz innewohnt, schlägt fehlt.

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III. Überlieferungsgeschichte

Werner Williams-Krapp Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter – revisited

Von den Herausgebern dieses Sammelbandes bin ich eingeladen worden, meine Beiträge von 1980 und 19851 zur Überlieferung der in der Forschung zur Gattung der Spiele gerechneten Texte erneut zur Diskussion zu stellen. Die Einladung habe ich gerne angenommen, da ich bei Erwähnungen meiner Arbeiten in der inzwischen fast unübersichtlichen Zahl an Untersuchungen zu den mittelalterlichen Spielen mitunter feststellen musste, dass meine damalige Sicht der Dinge neben Zustimmung in einzelnen Fällen auch auf starke Kritik stieß, wobei ich mich nicht selten missverstanden fühlte.2 Erfreulich finde ich jedenfalls, dass meine Beiträge in Publikationen sogar aus jüngster Zeit zu kritischen weiterführenden Auseinandersetzungen angeregt haben, die sich mit Theorien und Fragestellungen verbinden, die heute von zentralem Interesse in der Mediävistik geworden sind.3 Ich möchte zunächst die methodische Ausgangslage rekapitulieren. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die damals neue und innovative Sicht auf das Verständnis der mittelalterlichen Literatur anhand der Überlieferungs- und Textgeschichtlichen Methode.4 Es ging, wie Kurt Ruh es formulierte, darum, ein »zusätzliches Paradigma der Geschichtlichkeit von Texten« zu gewinnen, bei dem »die ›Eigenbewegung‹ der Texte reflektiert und dadurch geschichtliche Konsistenz geschaffen« werde.5 Im Fokus der Untersuchung sollte jeweils der 1 Williams-Krapp, Überlieferung; ders., Gattung ›Spiel‹. 2 Das Thema hat inzwischen Eming, Theatralisierung, S.  477 ad acta gelegt: »Eine strikte Abgrenzung zwischen Lesetext und Aufführungstext ist, wie die Spielforschung auch schon seit einer Reihe von Jahren betont, also ähnlich obsolet wie eine strikte Abgrenzung von öffentlichen und privaten Räumen.« Dennoch sehen dies erfreulicherweise nicht alle so. 3 So etwa Herberichs, Lektüren; dies., Medialität; Toepfer, Theater. 4 Vgl. dazu zusammenfassend: Williams-Krapp, Überlieferungsgeschichtliche Methode; Löser, Postmodernes Mittelalter; ders., Überlieferungsgeschichte(n). 5 Ruh, Überlieferungsgeschichte, S.  270. Präzisierungsbedürftig erscheint mir die Bewertung der Überlieferungsgeschichtlichen Methode durch Janota, Grenzen, S. 21. Er geht zu Unrecht davon aus, dass sich »der Anwendungsbereich der Überlieferungsgeschichtlichen Methode ausschließlich auf bestimmte Text- und Überlieferungstypen beschränkte. Es handelt sich durchgehend um volkssprachliche Prosatexte mit breiter Überlieferung, die – wenn

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Tradierungsprozess der Werke im Wechselverhältnis von Verfassern, Schreibern (Druckern), Redaktoren und Publikum stehen. Die Ausgangsbasis einer derartigen Untersuchung stellt eine möglichst genaue Kenntnis der diachronischen, diatopischen und diastratischen Überlieferungsdaten dar, die es ermöglichen, Mutationen der Werke als Vorgang eines sich ›in der Rezeption‹ vollziehenden Verstehens zu interpretieren und den Prozess mittelalterlicher Texttradierung in ein historisches Bezugsfeld zu stellen. Das heißt, dass das, was die Verfasser mit ihren Texten intendierten, also der Traditionszusammenhang, in den er sein Werk stellt, sich keineswegs decken musste mit dem Verständnis oder dem Interesse späterer Rezipienten und schon gar nicht mit dem heutigen Gattungsverständnis. Nehmen wir als Beispiel eine Vielzahl jener Werke, die in der Forschung der Gattung ›Prosaroman‹ zugeordnet werden. Was den allergrößten Teil des bunten Allerleis an längeren heterogenen Erzählwerken, die aus diversen Stoffkreisen schöpfen, vor allem verbindet, ist das Bestreben ihrer Verfasser und Vermittler, die Handlung in einen historischen Kontext zu situieren – so etwa die Troja- oder Alexanderhistorien. Sowohl die Autoren als auch die Drucker, die mit dem Versprechen werben, ihre Werke oder Ausgaben seien historien oder gar warhafftig historien, suggerieren ein objektives Erzählen, das sich auf historische Faktizität beruft. Nicht nur aus der Perspektive der Überlieferungsgeschichtlichen Methode ist daraus die Konsequenz zu ziehen, dass diesen Werken nicht mit einem modernen Fiktionsverständnis beizukommen ist. Die zeitgenössischen Rezipienten sollten diese Werke gemäß der Intention ihrer Verfasser vielfach eher dem chronikalischen Schrifttum zuordnen, d.h., sie sind von der Geschichtsschreibung für illiterati nicht klar zu unterscheiden und werden nicht selten sogar mit Chroniken und ähnlichem Schrifttum gemeinsam überliefert. Die warhafftig historien verbinden glaubwürdige Historiographie (als es beschehen ist) mit dem verheißungsvollen Versprechen von spektakulärer (aventürlicher) Lektüre sowie bisweilen auch mit konkreter Belehrung (u.a. »Melusine«, »Hug Schapler«).6 Die Forderung nach einer bewussteren Unterscheidung und damit einer dem historischen Leben des Textes gerecht werdenden Berücksichtigung von Verfasserintentionen und eventuellem späteren Wandel der Rezeptionsinteressen und -kontexte im Laufe des Texttradierungsprozesses drängt sich in besonderem auch in unterschiedlicher Weise – der Wissensvermittlung dienten.« Der Beitrag, der sich mit der Überlieferung lateinischer Osterfeiern beschäftigt, lässt eine Auseinandersetzung mit überlieferungsgeschichtlichen Studien zu den deutschsprachigen Spielen dementsprechend dann auch erstaunlicherweise völlig vermissen: Da er nicht auf meine, dezidiert der Überlieferungsgeschichtlichen Methode verpflichteten Thesen zur deutschsprachigen Spielüberlieferung – die ja bekanntermaßen wie auch die lateinische vor allem aus Unikaten besteht und ebenfalls ausnahmslos versifiziert ist –, eingeht, kann Janotas ›Methodenkritik‹ in der vorliegenden Form nicht überzeugen. 6 Vgl. dazu Braun, Historie.

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Maße bei zwei Gattungen auf, die für einschneidende Umgestaltungen besonders anfällig waren, nämlich Predigt und Spiel. In beiden Fällen handelt es sich um Gattungen, die ihrer Entstehung nach zumeist Fixierungen von rein mündlich zu vermittelndem Textmaterial sind. Ihre ›Privatisierung‹ als schriftliche Exemplare für den persönlichen Lesegebrauch gehört zu den interessantesten Beispielen für Textmutation, die die mittelalterliche Literatur zu bieten hat. Verschiedene Predigtsammlungen, wie etwa die »Millstätter«,7 »St. Georgener«8 oder die »Schwarzwälder Predigten«,9 lassen sich als Musterpredigten identifizieren, das heißt, sie waren ursprünglich von ihren Verfassern direkt für den Vortrag durch einen Geistlichen bzw. – vergleichbar den Regieexemplaren von Spielen – als Aufführungsgrundlagen bestimmt. Werden solche Musterpredigten dann für andere Zwecke umgestaltet – etwa für die klösterliche Tischlesung oder die Privatlektüre –, so erfahren sie zumeist zahlreiche Textänderungen, die in ähnlicher Weise mit der textlichen Umgestaltung zum gleichen Zweck abgeschriebener Spielhandschriften übereinstimmen. Die lateinischen Stellen werden übersetzt oder – noch häufiger – einfach übergangen. Der Umgang mit den Anweisungen für den Vortragenden in den Musterpredigten ähnelt dem Verfahren, der Umgestaltung von bzw. dem Verzicht auf Bühnenanweisungen in zur Lektüre veränderten Aufführungsexemplaren bei den Spielen. Da sie für die neue Gebrauchssituation überflüssig oder ungeeignet sind, kann auf sie verzichtet oder sie können verändert werden. Das bedeutet im Falle der Predigten allerdings nicht, dass dadurch der ursprüngliche homiletische Charakter der Texte verlorengehen muss; Publikumsanreden beispielsweise bleiben durchaus erhalten. Allerdings kann durch die redaktionelle Umgestaltung der Unterschied zwischen Predigt und Traktat10 (bzw. Predigt und Legende im Falle der Heiligenpredigten) häufig derart verschwimmen, dass wir es mit einem deutlich vom Ursprungstext abgehobenen und in andere literarische Zusammenhänge eingebundenen Texttyp zu tun haben, der mit seinem ursprünglichen ›Sitz im Leben‹ auch das Hauptkonstituens seiner Gattung aufgegeben hat. Nun zur Spielüberlieferung. Anlass für meinen ersten Beitrag zur Überlieferungs- und Textgeschichte der mittelalterlichen Spiele war ein aus dem Konstanzer Raum stammendes besonderes Werk, das als Faszikel in der Berliner Handschrift mgq 496 überliefert ist und im Berliner Katalog von Hermann Degering11 den Titel »Sündenfall und Erlösung« erhalten hatte.12 Die Handschrift wurde von sieben Händen geschrieben und stammt, auch im Hinblick auf den restlichen 7 Vgl. die Ausgabe von R. Schiewer, Millstätter Predigten. 8 Vgl. Seidel, St. Georgener Predigten. 9 Vgl. H.-J. Schiewer, Schwarzwälder Predigten. 10 Vgl. Mertens, Predigt; H.-J. Schiewer, Typ, und vor allem R. Schiewer, Deutsche Predigt. 11 Degering, Verzeichnis, S. 89f. 12 Vgl. meine Edition in Williams-Krapp, Überlieferung, S. 33–66.

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Inhalt – Passionstraktate, Eberhard Mardachs »Sendbrief von wahrer Andacht«, die zu einem Legendar umgestaltete »Schwäbische Heiligenpredigtsammlung« und anderes mehr – zweifellos aus einer Klosterbibliothek. In der Überschrift von »Sündenfall und Erlösung« wird angekündigt, dass an dissem bůch stt geschriben, wie got die welt geschůf ... vnd Adam vnd Eva geschůf usw., danach werden mehrere Ereignisse bis hin zur passio Christi aufgezählt. Es gehe dabei um manig schón red.13 Gleich zu Beginn erschafft Gott Adam und Eva, es geht weiter mit deren Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, bis hin zu einer kurzen Wiedergabe der Ereignisse, die mit der Kreuzholzlegende verbunden sind. Es kommt dann eine abrupte typologische Überleitung zum neutestamentlichen Teil, der mit wie got sin junger samlet beginnt.14 Einige Ereignisse aus dem Leben Christi werden sodann geboten; mit dessen Höllenfahrt bricht der Text ab. Das Werk stellt eine Kompilation aus mehreren Quellen dar: Verwandtschaft besteht zum wesentlich jüngeren »Villinger Passionsspiel«, das wiederum zu 80 Prozent auf Jacob Rueffs »Zürcher Passion« zurückgeht. In der HöllenfahrtEpisode stimmen das »Villinger Passionsspiel« und der »Tiroler Passion« mit »Sündenfall und Erlösung« wörtlich überein, die Longinus-Episode ist textlich verwandt mit der Darstellung im »Augsburger Passionsspiel«. Ob auch Bibelepik als Quelle verwertet wurde, erscheint möglich, da eine Reihe von erzählenden Zwischensätzen in Vers und Prosa dort steht, wo in einem Regieexemplar InquitFormeln und Bühnenanweisungen zu finden wären.15 Überhaupt sind sämtliche Zwischensätze im Präteritum verfasst. Ich war und bin nach wie vor der Auffassung, es handele sich bei »Sündenfall und Erlösung« nicht um einen Text, der bei den wahrscheinlich klausurierten Nonnen bei der Lektüre eine »imaginäre Aufführungssituation« evozierte, wie dies Bernd Neumann und Dieter Trauden für eine Gattung »Lesedrama« vorschlagen.16 Beweisen kann ich das freilich genauso wenig wie diejenigen, die das evtl. anders sehen. Übrigens habe ich nie die Möglichkeit von »imaginären Aufführungen« bei der Lektüre von ›Lesetexten‹ grundsätzlich in Frage gestellt. Was sich Menschen bei einer Lektüre imaginieren, möchte ich aber ungern als Gattungskriterium verwerten, zumal man dabei voraussetzen müsste, dass die Lesenden irgendwann eine tatsächliche Aufführung erlebt haben müssten, um eine solche während der Lektüre »imaginieren« zu können. Die Rolle der ubiquitären ikonographischen Darstellungen von biblischen und hagiographischen Ereignissen in Kirchen und Klöstern sowie in illustrierten Handschriften und Drucken sollte dabei nicht vergessen werden. Entscheidend für die Abschrift und 13 Ebd., S. 44. 14 Ebd., S. 47. 15 Vgl. etwa ebd., S. 48f., S. 54. 16 Neumann/Trauden, Überlegungen, S. 37.

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Gestaltung von »Sündenfall und Erlösung« scheinen mir jedenfalls die manig schón red zu sein, das heißt die Versform, die die Heilsgeschichte offenbar in den Augen des Schreibers eindringlicher vermitteln soll als die für das Zeitalter so typische schlichte Prosa. Übrigens passt der Text inhaltlich gut zu den drei anonymen Passionstraktaten, mit denen er im Codex zusammengebunden wurde. Dieses Werk führte mich daraufhin zur Frage, wie denn eigentlich die anderen Texte der vielbezeugten Aufführungen überliefert und gestaltet sind. Das war in der damaligen Zeit allerdings kein besonders aktuelles Thema in der Spielforschung. Der literarische Wert von Spieltexten galt lange ohnehin als zu gering für eine größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In einer Zeit, in der digitalisierte Handschriften im Internet noch nicht zur Verfügung standen, war die Überlieferungsanalyse der zahlreichen zu den Spielen gerechneten Werke ein äußerst mühsames Unterfangen. Damals habe ich mich bei der Erarbeitung meiner Liste von ›Lesetexten‹, also von den nicht zu den Regieexemplaren gehörenden Werken, auf die wenigen Editionen und die z.T. nicht immer sonderlich hilfreiche Sekundärliteratur stützen müssen. Dass es bei meiner Liste durchaus zu Irrtümern und weiteren unbedingt notwendigen Differenzierungen kommen könnte, konzedierte ich. Nun kurz zur Begrifflichkeit. Ich bezeichnete die nicht als Aufführungsexemplare überlieferten Werke mit dem sehr allgemeinen Begriff ›Lesetexte‹, um eine mir damals nicht mögliche umfassende Differenzierung der einzelnen Überlieferungen zu umgehen. In manchen Fällen – etwa bei Selbstbezeichnungen der Schreiber – kann man durchaus von Lesespielen sprechen. In einigen Abhandlungen zu den Spielen wurde mir dennoch unterstellt, dass ich die Begriffe ›Schauspiel‹ oder sogar ›Spiel‹ abgelehnt habe und stattdessen von ›Lesedrama‹ spreche.17 Dies ist ein Missverständnis. Denn den aus der modernen Literatur entliehenen Gattungsbegriff Lesedrama hatte ich bei der Betrachtung der Werke auf meiner Liste der ›Lesetexte‹ bewusst gemieden und dies auch deutlich gesagt, zumal Drama der klassischen Gattungstriade entstammt und deshalb meines Erachtens eine differenzierte Diskussion um die Gebrauchsfunktion der einzelnen Überlieferungen unnötig einengen würde. In dieser Frage war sogar einer meiner schärfsten Kritiker, Hansjürgen Linke, mit mir einer Meinung.18 Bald nach Veröffentlichung meines Büchleins kam es dann zu kritischen Auseinandersetzungen, wobei ich mich bisweilen fragte, ob ich mich so missverständlich ausgedrückt hatte und der meinen Überlegungen zugrundeliegende überlieferungsgeschichtliche Ansatz falsch verstanden wurde.19 Ich hatte nirgends behauptet, dass Lesetexte für die Spielforschung von geringem oder gar keinem 17 Vgl. etwa Trauden, Archetyp, S. 135; Toepfer, Performativität, S. 107f. 18 Vgl. Linke, Versuch, S. 529, Anm. 6. 19 Vgl. Bergmann, Aufführungstext; Linke, Versuch.

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Wert seien, sondern habe eigentlich nur zu einer differenzierten Betrachtung der Überlieferung anregen wollen. Meinen Ansatz erkannte ich vor allem in den Beiträgen von Rolf Bergmann und Hansjürgen Linke20 nur bedingt wieder, begrüßte aber dennoch besonders Bergmanns Bemühungen um Differenzierungen. Er zeigte in seinem Beitrag von 1985, wie die Spielüberlieferung sich sehr verschiedenartig darbietet, also genau das, was ich eigentlich in meiner Arbeit anzuregen intendierte.21 In Bergmanns 1986 erschienenen höchst begrüßenswertem »Katalog der geistlichen Spiele« wurden fast alle meiner Befunde unter der Rubrik »Gesamteindruck« als letztes Element der jeweiligen Handschriftenbeschreibung erfreulicherweise bestätigt.22 Auf die für mich so zentrale methodische Frage nach der Gattungszuordnung der in ›Lesehandschriften‹ überlieferten Texte ging er in beiden Publikationen allerdings nicht ein. Aber darum war es mir ja hauptsächlich gegangen. Ich hatte seinerzeit eigentlich nur angeregt, »die zugegebenermaßen diffizile Aufgabe, das ›Lesetext‹Corpus nach ›Gruppen oder historischen Familien‹ zu sichten, die dann historisch zu bestimmen, abzugrenzen und zu beschreiben wären. Dabei müssten neben der stofflichen Verwandtschaft genügend relevante ›Signale‹ für den Rezipienten zusammengestellt werden, die eventuell als Hinweis auf die Gebrauchssituation herauszustellen wären.«23 Das heißt, in Erinnerung an den Titel meines Büchleins – Überlieferung und Gattung –, dass es sich im Falle von einzelnen Lesetexten um Werke handelt, die aufgrund ihrer Gestaltung anderen Gattungen zugeordnet werden müssten. Damit ist keineswegs gemeint, dass der jeweilige textgeschichtliche Hintergrund des Lesetexts irrelevant sei, es ist aber stets nach der jeweiligen Gestaltung des Texts im Hinblick auf seine jeweilige Gebrauchsintention zu fragen und diese daraufhin zu interpretieren.24 Der Überlieferungsgeschichtliche Ansatz ist immerhin aufs Engste mit textgeschichtlichen Fragestellungen verknüpft, auf die man durchaus eingehen muss. Nur weil Heiligenpredigten zu Legendaren umgestaltet werden, bedeutet dies doch nicht, dass man die ursprüngliche Verfasserintention ignorieren sollte – im Gegenteil. Ignoriert man die textgeschichtlichen Hintergründe der ›Lesetexte‹ – wie das die ›New oder Material Philology‹ vertreten würde – müssten neue Kategorien entworfen werden, was eigentlich in gewisser Weise meinen Anregungen entgegen20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Williams-Krapp, Überlieferung, S. 7. 22 Bergmann, Katalog. Siehe meine Rezension des Repertoriums: Williams-Krapp, Rez. zu: Bergmann, Katalog, wo ich auch die Problematik der Marienklagen-Überlieferung anspreche. 23 Williams-Krapp, Überlieferung, S. 27. 24 Damit war keineswegs gemeint, dass »wenn das Verhältnis von Autor, Schreiber und Publikum nur von der Überlieferung her in den Blick« gerate, »die ursprüngliche Intention und Funktion eines Textes unbeachtet« bleiben würde (Toepfer, Theater, S. 339).

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käme. Überhaupt hätte mich interessiert, wie die Vertreter der Material Philology mit der Spielüberlieferung umgegangen wären.25 Wie Hans-Jürgen Linke zu der Auffassung gelangen konnte, ich wollte »die Existenz der Gattung ›mittelalterlichfrühneuzeitliches Drama‹ überhaupt anzweifeln«26, ist mir völlig unverständlich. Auf mein eigentliches Anliegen sind Kritiker meiner beiden Schriften nur selten eingegangen, zumeist beließen sie es bei einem kurzen Tadeln meiner undifferenzierten Liste der Lesetexte. In späteren Forschungsbeiträgen berief man sich oft auf Aspekte meines Ansatzes in den diesen in Frage stellenden Beiträgen von Bergmann und Linke, und zwar ohne weitere Differenzierung und Reflexion. Unter Hinweis auf meine Beiträge stellte aber Cornelia Herberichs fest: »Zwar ist aufgrund der Überlieferung schon seit geraumer Zeit bekannt, dass es im Mittelalter eine weite Verbreitung von geistlichen Dramen als Lesetexte gegeben hat, interpretatorische Konsequenzen wurden daraus aber bislang noch kaum gezogen.«27 Dass für Aufführungen konzipierte Spieltexte als mittelbare oder unmittelbare Hauptquellen für fast alle von mir vorsichtig als »Lesetexte« bezeichneten Werke tatsächlich dienten, stand für mich außer Frage. Dennoch erwies sich die Überlieferung als sehr vielgestaltig. War es z.B. den Rezipienten der Lesetexte noch bewusst, dass es sich nach z.T. starker textlicher Umgestaltung im Blick auf eine völlig andere Gebrauchssituation noch um einen Spieltext handelte oder nicht vielmehr schlichtweg um ein erbauliches bůch mit schón red? War ihnen die möglichst genaue Wiedergabe eines Spiels oder eine Assoziation mit der Gattung überhaupt von grundsätzlicher Relevanz? Jedenfalls fällt auf, dass Spieltexte sich durchaus auch dafür eigneten, wie »Sündenfall und Erlösung«, zu privater Erbauungsliteratur aufgeschrieben und auch zu dialogisierten Erzählwerken umgestaltet zu werden. Die Nebentexte, also die ursprünglichen Bühnenanweisungen, konnten dann im narrativen Präteritum erscheinen, vielfach wurden zwischen den Dialogpartien z.B. Bibelstellen als Prosa-, bisweilen auch Verstexte integriert. Als ein weiteres Indiz für Lesetexte erscheint mir der Verzicht auf lateinische Textstellen sowie auf Gesangsteile. Ganze Szenen können dabei übergangen werden, sofern nur Teile der Vorlage von Interesse sind. Hinzu kommt eine weitere, noch einschneidendere Gestaltungsmöglichkeit – die ausführliche Illustrierung eines Lesetexts, was eventuelle Assoziationen an ein Aufführungswerk vermut25 Vgl. Williams-Krapp, Überlieferungsgeschichtliche Methode, passim. 26 Linke, Gratwanderung, S. 140. Ähnlich Henkel, Wirkungsstrategien, S. 256: Wie Linke so irrt auch Henkel, indem er meint, meine These sei es, dass es »die Gattung des mittelalterlichen Spiels […] eigentlich gar nicht« gebe. Bergmanns Katalog habe dies zurechtgerückt. Dennoch konzediert Henkel, dass die Spielforschung Konsequenzen aus meinen Forderungen gezogen habe, denn sie habe nachfolgend »den Blick darauf gelenkt, welch eminente Bedeutung dem jeweiligen Überlieferungsbefund zukommt«. 27 Herberichs, Medialität, S. 280.

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lich völlig zu verdrängen vermochte. Aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht sind selbstverständlich auch die Besitzer, die Gestaltung und die Mitüberlieferung der Handschrift, in der der Text enthalten ist, von besonderem Interesse. Hier lässt sich unter Umständen Entscheidendes zur Gebrauchsfunktion des Textes erschließen. Ich will nun versuchen, meine damaligen kurzen Ausführungen anhand der Überlieferung der Lesetexte im Hinblick auf Zuordnungen zu Gattungen oder Texttypen unter Einbeziehung der neueren Forschungen erneut zu diskutieren. Selbstverständlich gibt es Abschriften von Spielen, die, soweit es sich annehmen lässt, mit aufgeführten oder zur Aufführung gedachten Spielen weitgehend übereinstimmen und sich als solche verstehen. Nehmen wir zwei Spiele aus Handschriften, die zwar in Augsburg entstanden sind, aber mit eventuellen Aufführungen in der Stadt nicht in Verbindung gebracht werden können. Da wäre zum einen die Sammelhandschrift des Augsburger Kaufmanns Claus Spaun, in der sich auch zwei Legendenspiele befinden, die, so Rolf Bergmann, »zu Lesezwecken«28 aufgeschrieben wurden. Dass die beiden Spiele auf »aufführungsbezogene Vorlagen« zurückgehen, lässt sich sehr gut nachvollziehen.29 Es geht z.B. im »Georgsspiel« um ein hüpsch spil, das man mit der Rede eines ausrieffers eröffnet, sollte man das Spiel irgendwann aufführen wollen (so man das spill an fauchen will).30 Die Überschrift sowie die Mitüberlieferung der Handschrift verdeutlicht meines Erachtens dennoch die vorgesehene Lesesituation. Durchgehend erinnern die volkssprachigen Zwischentexte im Präsens an Aufführungsexemplare. Ähnliches gilt für das »Augsburger Passionsspiel«31, das in einer repräsentativen Lesehandschrift überliefert ist.32 Dabei schleicht sich beim Schreiber, anders als in den beiden Legendenspielen, allerdings auch eine Angabe im Präteritum ein: Auf Bl. 2v sprach Maria Magdalena zum Salvator. Dennoch ist bei einer Interpretation der Texte an mögliche textliche Mutationen zu denken, die bei der Umgestaltung in einen Lesetext möglicherweise vorgenommen wurden. Ein anderer Typ von Lesetext liegt hingegen mit dem »Redentiner Osterspiel« vor, das schon länger von besonderem überlieferungsgeschichtlichem Interesse gewesen ist.33 Der Text ist in einer einzigen Handschrift, überliefert – ein zwölf 28 Bergmann, Katalog, S. 51. 29 Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00087338/images/index.html. Ich verzichte im Folgenden auf ausführliche Angaben von Sekundärliteratur zu den einzelnen Spielen. Diese sind zuletzt in Achnitz, Deutsches Literaturlexikon, Bd. 4, zusammengestellt, vgl. Jahn, Augsburger Passionsspiel; ders., Augsburger Georgsspiel. 30 Vgl. zuletzt Loleit, Augsburger Spiel, S. 210, die den Text in der überlieferten Form als wahrscheinliches »Lesedrama« sieht. 31 Vgl. jetzt die Neuausgabe von Schwarz, Augsburger Passionsspiel. 32 Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0005/bsb00050902/images/. 33 Vgl. bereits die Hinweise bei Bergmann, Überlieferung, S.  902. Ein Faksimile der Handschrift findet sich in der Ausgabe von Wittkowsky, Redentiner Osterspiel. In gewisser

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Blätter umfassendes Heft –, dessen mittelbare oder unmittelbare Vorlage ein Aufführungsexemplar – oder zumindest ein Entwurf für ein aufzuführendes Spiel – gewesen sein dürfte. Es handelt sich dabei um eine sehr gedrängte Abschrift, wobei am Ende die Zeilenzahl deutlich erhöht wird, um offensichtlich möglichst viel Text auf den wenigen zur Verfügung stehenden Blättern unterzubringen. Ich brauche hier nicht ins Detail zu gehen, die Abschrift ist nicht besonders sorgfältig, es fehlen z.B. ein angekündigtes Lied (V. 118), Textteile der Höllenfahrtsepisode (V. 513ff.) sowie Bühnenanweisungen. Unklar bleibt auch die Zuordnung eines erzählenden Zwischenverses (V. 114f.). Zudem fehlen ausgerechnet die Marienszenen, die ja zum zentralen Szenenbestand von Osterspielen gehören, was in der Forschung bemerkenswerterweise immer wieder als gestalterische Absicht des Verfassers gedeutet wurde, eine beinahe perfekte Symmetrie des Spielgeschehens herzustellen. Der vermutliche Zisterzienser, von dem die Aufzeichnung stammt, hat jedoch mit diesem Codex eindeutig keine Inszenierung geplant. Die gedrängte Abschrift deutet darauf hin, dass der Mönch aufgrund des Platzmangels Textstellen gezielt ausgespart hat; offensichtlich meinte er gerade jene Textstellen übergehen zu können, die er bei sich und seinen latein- und liturgiekundigen Brüdern als bekannt voraussetzen konnte. Wozu die Handschrift letztlich dienen sollte, wird sich wohl kaum klären lassen. Auf die damals aktuelle Forschung zum Redentiner Spiel bin ich 1980 etwas ausführlicher eingegangen,34 deswegen will ich mich hier nicht wiederholen, sondern nur auf einige Deutungen der letzten Jahre kurz eingehen. So geht Hansjürgen Linke in seinem Verfasserlexikon-Artikel von 1989 davon aus, dass die »visitatio sepulchri, die in keinem anderen deutschen Osterspiel fehlt, [...] hier nicht szenisch dargestellt, sondern im Auferstehungsbericht des Quartus Miles nur äußerst knapp erzählt« werde.35 Johan Nowé schreibt, dass der »Aufbau« des Spiels »nicht dem Zufall zuzuschreiben ist, sondern einen hochbewußten Gestaltungswillen verrate: »Es verhält sich nämlich so, daß im vorliegenden Spiel ausnahmslos alle Szenen gestrichen wurden, die zum Kern der ursprünglichen Osterfeier gehörten.«36 Auch Christoph Petersen sieht dies nicht anders.37 Bruno Quast spricht von einer »Eigentümlichkeit der Konzeption des Redentiner Spiels, Hinsicht bestehen Ähnlichkeiten mit der Überlieferung der Benediktbeurer Spiele; siehe Williams-Krapp, Judendarstellungen. 34 Vgl. Williams-Krapp, Überlieferung, S. 17–19. 35 Linke, Redentiner Osterspiel, Sp. 1066. Demgegenüber hatte schon Bergmann, in seiner Rezension meines Buches, im Blick auf meine Analyse der Struktur des Redentiner Spiels die Hoffnung artikuliert: »Künftige Strukturanalysen [des Redentiner Osterspiels] werden diese begründeten Hinweise (hoffentlich) nicht übergehen können.« (ders., Rez. zu: WilliamsKrapp, Überlieferung, S. 165). 36 Nowé, Kult, S. 296. 37 Vgl. Petersen, Ritual.

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daß das Verbleiben Christi im Dunkeln bleibt«38. Dabei wären Quasts Befunde unbedingt zu ergänzen bzw. zu modifizieren gewesen durch Überlegungen zum überlieferungsbedingten Fehlen der Visitiatio-Szenen, die mit in die ritualtheoretische / kulturwissenschaftliche Interpretation einzubeziehen wären. Auch in der ganz dem Spiel gewidmeten Arbeit von Maike Claußnitzer39 werden die Überlieferungsbedingungen nicht berücksichtigt. In ihrer Rezension von Claußnitzers Studie fasst Carla Dauven-van Knippenberg die Forschungslage zum »Redentiner Osterspiel« folgendermaßen zutreffend zusammen: »Einstimmig geht die Forschung davon aus, dass der überlieferte Text nicht bei einer Aufführung benutzt wurde. Trotz fehlender Belege einer Aufführung geht die Forschung seltsamerweise nahezu genauso einstimmig davon aus, dass der Abschrift eine Aufführung vorangegangen sei. Deshalb wird die Abschrift immer als Aufführungstext ausgelegt.«40 Da die meisten Texte, die den Spielen zugerechnet werden, nur unikal überliefert sind und es deswegen nicht einfach ist, eine Aufführung anhand einer Lesehandschrift zu rekonstruieren, auch wenn sie mit ludus oder spil überschrieben wurde,41 ist ein Vergleich der beiden Handschriften instruktiv, die das »Thüringische Zehnjungfrauenspiel« überliefern.42 Wie auch immer die Vorlage für die Mühlhäuser Handschrift (Stadtarchiv, Ms. 60/20) ausgesehen hat und wofür der Text konkret verwertet wurde, die Handschrift, die – so Rolf Bergmann – nicht als Aufführungsvorlage gedient habe,43 steht einem Aufführungsexemplar jedenfalls sehr nahe. Die lateinischen Gesänge werden lediglich mit Incipits festgehalten, deren Kenntnis wird beim intendierten Rezipientenkreis also vorausgesetzt. Geht man textgeschichtlich einen weiteren Schritt zurück, so könnte das Stück ursprünglich ein in sich geschlossenes »komplettes lateinisches liturgisches Spiel« gewesen sein, dass dann durch volkssprachige Dialoge erweitert wurde.44 Dagegen ist die Darmstädter Handschrift (Universitäts- und Landesbibl., Hs. 3290) zweifellos für die Privatlektüre angefertigt worden. So werden sämtliche lateinische Stellen entweder übergangen – so die geistlichen Lieder – oder übersetzt – so die ursprünglichen Inquit-Formeln und Bühnenanweisungen. Auffälligerweise kommt die Teufelsszene nicht vor und die Darstellung der Sünden der törichten Jungfrauen ist gegenüber der thüringischen Version des Spiels umfangreicher gestaltet. Zudem deutet die Überschrift auf eine andere Rezeptionsabsicht: Sanc38 Quast, Kult, S. 128. 39 Claußnitzer, Redentiner Osterspiel. 40 Dauven-van Knippenberg, Ein Spiel vom Leben angesichts des Todes? 41 Zur Begrifflichkeit vgl. Schulz, Eigenbezeichnungen, passim. 42 Vgl. die Edition von Beckers, Zehn Jungfrauen; Linke, Thüringische Zehnjungfrauenspiele, Sp. 915–918. 43 Bergmann, Katalog, S. 257. 44 Vgl. dazu Amstutz, Ludus.

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tus Augustinus leid vns vß daz byspelle von den zehen juncfrauwen, der funfe wyse vnd funfe dorecht waren. Vnd hebit sich ane, als dan hernoch geschreben stet (212r). Auch hier dürfte eine stark redigierte Abschrift für ein Frauenkloster vorliegen, die keineswegs ein »Spiel« (im Sinne eines zur theatralen Aufführung bestimmten Textes) bedeutet haben muss. Inmitten einer Handschrift mit diverser, wohl für Nonnen aufgeschriebener Erbauungsliteratur – Predigten Eckharts, Traktate über die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, die fünfzehn Zeichen in der Geburtsnacht Christi, die Wunder der hl. drei Könige und anderes mehr – steht das sog. »St. Galler Weihnachtspiel« (Stiftsbibl., cod. 966).45 Es ist überschrieben mit: Hie vint man die propheten und die propheten spruch von der geburd ihesu Christi (S. 129), also von spil oder ludus keine Rede. Die Sprecherzuweisungen sind fast ausschließlich im Präteritum, nur selten spricht jemand. Es zeigt sich allerdings, dass die wenigen Hinweise auf Handlung mitunter in Versen gestaltet sind. Es wird aber durchaus auch im Präsens berichtet, wie auf S. 158, wo die Drei Könige komend und sprechen. Ob die häufigen starken Zeitraffungen (so Hansjürgen Linke)46 auf ausgelassene Bühnenanweisungen der mittelbaren oder unmittelbaren Aufführungsvorlage zurückzuführen sind, lässt sich kaum klären. So bleibt der durch einen Engel verhinderte Versuch Josephs, die schwangere Maria zu verlassen, ohne erzählerische Begründung für Lesende überraschend. Unmittelbar nach einem Lob Mariens (S.  144) folgt der schlichte Hinweis: Der engel sprach zu ioseph. Ob die Schwestern den Text auch als redigierte Version eines Weihnachtsspiels verstanden, lässt sich anhand der Aufzeichnung jedenfalls nicht klären. Entscheidend für die Gestaltung des Texts dürfte die als hochwertig erachtete, in Versdialogen gestaltete Erzählung der Weihnachtsereignisse sein, die in anderen Texten der Handschrift in Prosa behandelt werden. Ohne auf diese Problematik einzugehen, schreibt Hansjürgen Linke: Für die Aufführung des Spiels, dessen Regieanweisungen durchweg deutsch und vereinzelt gereimt sind – beides ist ungewöhnlich –, war eine ziemlich geräumige Simultanbühne nötig; denn der Inszenierungsumfang … [war] für ein Weihnachts­ spiel recht aufwendig.47

In seiner Ausgabe des »Mittelniederdeutschen Theophilusspiels« geht André Schnyder in seiner Überlieferungsanalyse konkret und konstruktiv auf meine Beobachtungen bei seiner Einordnung der dreifachen Überlieferung ein.48 In der

45 Bergmann, Katalog, S.  136–138. Digitalisat: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/ csg/0966. 46 Linke, St. Galler Weihnachtsspiel, Sp. 1057. 47 Linke, Drama, S. 216. 48 Schnyder, Stellenkommentar, S. 195, 223; ders., Einführung ins Werk, S. 325–327.

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Wolfenbütteler Handschrift (cod. 1203 Helmst.)49 stehen nämlich Personenbezeichnungen und Zwischentexte durchwegs im Präteritum. Zudem befindet sich der Text inmitten von Vers- und Prosatexten, die mit einem Schauspiel keineswegs in Verbindung zu bringen sind: Minnereden, Legenden, eine Alexandererzählung aus dem »Seelentrost« u.a.m.). Auch hier lässt sich meines Erachtens deutlich beobachten, dass die Assoziation an einen aufführbaren Text für die Lesenden zwar nicht völlig auszuschließen ist, aber die klare redaktionelle Umgestaltung des Textes ins Narrative sowie die sonstigen Inhalte der Handschrift zwingen keineswegs dazu, hier ein ›Lesedrama‹ zu sehen. An einer Stelle fehlt die Sprecherzuweisung (148r). Unten auf der Seite wird erzählt, dass Theophilus den Teufelsvertrag nam ...to hant; dann sprak he, wobei sich die erzählende Angabe sogar mit der ersten Zeile der Rede durch Endreim verbunden ist (hant/pant).50 Auf Bl. 149v hört er sich eine Bußpredigt an. Überschrieben ist das Ganze folgendermaßen: Dusse nabe screuen predeghe horde theophilus / Tema predicatoris: Vidit Jhesus hominem sedentem in thelonie.51 Da letztlich Maria Theophilus rettet und dessen Geschichte vorwiegend in Predigten, Marienlegenden und Marienmirakelsammlungen vorkommt, sehe ich in der Wolfenbütteler sowie in der Stockholmer Handschrift (Kungliga Bibl., Cod. Vu 73) ein Marienmirakel in stark dialogisierter Form. Ein ähnlich eigenständiges, höchstwahrscheinlich nicht als Spiel rezipiertes Werk ist das sog. »Berliner Weltgerichtsspiel« in Berlin, mgf 722.52 Es handelt sich hier um eine aufs Engste mit Illustrationen verbundene dialogische Dichtung, die ohne Einbeziehung der anzunehmenden Textgeschichte kaum mit einem Spiel in Verbindung zu bringen ist, was zunächst auch der Titel des Werks nahelegt: Das Jungst Gericht půch. Weltgerichtsdichtung in Vers und Prosa hat eine lange Tradition, angefangen mit dem »Muspilli«. Meines Erachtens hat der Schreiber Konrad Bollstatter in Verbund mit einem Illustrator in dieser Bilderhandschrift etwas ganz anderes intendiert als eine irgendwie zu verstehende Spielaufzeichnung.53 So werden sämtliche Zeichen für das Kommen des Weltgerichts mit insgesamt 53 Federzeichnungen illustriert und angekündigt, so etwa mit der Überschrift: So merck vnd sich. Die vollständige Ausrichtung des Werks auf das Text-BildVerhältnis54 zeigen auch die Überschriften, wo immer wieder auf die gemäldt

49 Digitalisat: http://diglib.hab.de/mss/1203-helmst/start.htm. 50 Schnyder, Theophilus-Spiel S. 54, V. 246f. 51 Ebd, S. 68. 52 Digitalisat: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN667073655. 53 Vgl. die Ausgabe von Schulze; Weltgerichtspiel, S. 40; sie sieht in der Handschrift ein Werk, das »zum Lesen und Betrachten« bestimmt sei. 54 Dies trifft zudem für das ähnlich gestaltete sog. »Kopenhagener Weltgerichtsspiel« zu.

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verwiesen wird.55 Dass die Sprecherangaben im Präsens sind, ist beim Erzählen von auf die Zukunft ausgerichteten Geschehnissen zu erwarten. Leser dieser Handschrift erhielten jedenfalls keinerlei Hinweise, dass es sich um ein redigiertes Spiel handelt, sondern sahen darin lediglich ein Erbauungswerk, das, wie z.B. viele Kirchenportale, das Jüngste Gericht ikonografisch vor Augen führt und dies mit eindringlichen Verstexten verlebendigt. Sogar ein erzählender Abschnitt aus der »Visio Philiberti« ist in Bollstatters Handschrift integriert worden: Do der gaist also gesprach / Manigen teúfel man da sach usw. (30v). Illustrierte, dialogisierte geistliche Verstexte waren vor allem im 15. Jahrhundert keine Seltenheit. So wird das dialogisch strukturierte Werk »Christus und die minnende Seele«, ein Bilderzyklus mit begleitendem Dialog, nirgends mit einem Spiel in Verbindung gebracht, obwohl die Sprecherangaben wie in Spielhandschriften im Präsens stehen.56 Waren die Dialoge des ursprünglichen Bilderbogens pro Bild auf je zwei Reimpaare beschränkt, so wurde dies im Laufe der Überlieferung z.T. stark erweitert. Ähnliches gilt für dialogisch strukturierte Texte wie »Das Spiegelbuch«,57 das eine Zeit lang in der Forschung sogar für ein Spiel gehalten wurde, für »Des Teufels Netz«58, für deutsche Versionen von »De contemptu mundi«59 oder für »Das Vergänglichkeitsbuch« des Wilhelm Werner von Zimmern.60 Ich komme zum Schluss: Auch wenn einiges von dem, was ich hier vorgestellt habe, nicht neu ist – meine Beiträge wurden eben auf Wunsch »revisited« –, hielt ich es dennoch für sinnvoll, gewisse von mir seinerzeit vertretene Prämissen zu präzisieren und erneut zur Diskussion zu stellen, um einige Missverständnisse aufzuklären. So geht Linke in seinen Beobachtungen zu den »Lesehandschriften« stets von Spielen aus, die vielfach textlich modifiziert wurden und lediglich in zum Lesen bestimmten Handschriften enthalten sind.61 Das trifft aber keineswegs 55 Eine eingehende Deutung des Texts anhand der Gestaltung der Handschrift bietet Herberichs, Medialität. In ihrem Beitrag, Gleichzeitigkeit, liefert sie eine Interpretation der Handschrift und deren Selbstbezeichnung als Jungst Gericht půch aus etwas anderer Perspektive, gattungstypologisch geht sie beide Male von einer »Anlage des Spiels als Lesedrama« aus (S.  350). Siehe auch Trauden, Gnade, S.  9–15 et passim; im Gegensatz dazu sieht Linke, Weltgerichtspiele, passim, die Illustrationen als mögliche ›Abbildungen‹ von Theateraufführungen. 56 Vgl. dazu Gebauer, Minnende Seele, passim. 57 Siehe die Edition von Bolte, Spiegelbuch, sowie Palmer, Spiegelbuch, Sp. 134–138; Digitalisat: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0985. 58 Vgl., Lerchner, Des Teufels Netz, Sp. 723–727; Digitalisat der Straßburger Handschrift: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10224630q. 59 Vgl. Rudolf, De contemptu mundi; Digitalisat von München, Cgm 3974: http://daten. digitale-sammlungen.de/0008/bsb00088606/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=000 88606&seite=1. 60 Vgl. Kiening/Herberichs, Vergänglichkeitsbuch. 61 Vgl. Linke, Versuch, passim.

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für alle Texte zu, wie ich eben am »Theophilus« in der Darmstädter Handschrift oder dem sog. »Berliner Weltgerichtsspiel« zu zeigen suchte. Textgeschichtlich werden Spieltexte in irgendeiner Form zwar irgendwann die Vorlage für die beiden Werke gewesen sein, aber nach deren diversen Umgestaltungen könnte es durchaus sein, dass sie von den zeitgenössischen Lesern nicht mehr der Tradition der Spieltexte zugeordnet worden sind. Mag sein, dass Lesende, die Spielaufführungen einmal erlebt hatten, diese dialogischen Texte damals noch anders wahrgenommen haben, aber die Intention der Handschriftenhersteller lief nach meiner Sicht der Dinge auf ein anderes Gattungsverständnis und sowieso auf eine andere Gebrauchsfunktion des Textes hinaus. Mag es für manche als überholt erscheinen, noch auf Grundsätze der Überlieferungsgeschichtlichen Methode zu beharren, für unser Verständnis von mittelalterlicher Literatur sind sie meines Erachtens nach wie vor von grundlegender Bedeutung. Erfreulicherweise habe ich in oben genannten aktuellen Beiträgen zum geistlichen Spiel gesehen, dass dies, wenn auch mit anderen methodischen Ansätzen verbunden, heute von einigen Vertretern der Spielforschung noch ähnlich eingeschätzt wird.

Literaturverzeichnis I. Texte und Quellen Das Augsburger Passionsspiel. Edition und Kommentar, hg. v. Ulrike Schwarz, Regensburg 2018 (= Editio Bavarica 3). Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht, Ms. germ. fol. 722 der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Abbildung der Handschrift mit einer Einleitung und Texttranskription, hg. v. Ursula Schulze, Göppingen 1991 (= Litterae 114). Die Millstätter Predigten, hg. v. Regina D. Schiewer, Berlin/Boston 2015 (= Deutsche Texte des Mittelalters 93). Das mittelniederdeutsche Theophilus-Spiel. Text – Übersetzung – Stellenkommentar, hg. v. André Schnyder, Berlin/New York 2009 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 58 (292)). Das Redentiner Osterspiel, hg. u. übers. v. Hartmut Wittkowsky, Stuttgart 1975. Das Spiel von den zehn Jungfrauen und das Katharinenspiel, untersucht u. hg. v. Otto Beckers, Hildesheim/New York 1977 [Breslau 1905] (= Germanistische Abhandlungen 24). Das Vergänglichkeitsbuch des Wilhelm Werner von Zimmern. Eine Bilderhandschrift der Frühen Neuzeit (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen A III 54) in Abbildung und Transkription, hg. v. Christian Kiening/Cornelia Herberichs. URL: http://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/sammlungsliste/werksansicht/?no_cache= 1&tx_dlf[id]=2653&tx_dlf[page]=1.

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Cornelia Herberichs Die »Zwieschlächtigkeit der Aufführung« und die »double diffusion« von Arnoul Grébans »Le Mystère de la Passion«. Zu Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz des Passionsspiels aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive 1. Die »Zwieschlächtigkeit der Aufführung«. Rainer Warnings Thesen zur Ambivalenz geistlicher Spiele Zu den einflussreichsten und anregungsstärksten Beiträgen zur Erforschung der geistlichen Spiele zählt die 1974 erschienene Monographie von Rainer Warning »Funktion und Struktur. Ambivalenzen des geistlichen Spiels«.1 Indem Warning theologische, semiotische und anthropologische Ambivalenzen der mittelalterlichen Theaterpraxis fokussierte, stieß er einen Paradigmenwechsel in der Spieleforschung an und stellte die vermeintlich ausschließlich didaktische und ›erbauliche‹2 Funktion geistlicher Spiele in Frage. Wenn auch mit einiger Verzögerung rezipiert, so stellt die Studie nicht nur in den letzten zwanzig Jahren, sondern noch heute einen der häufigsten Bezugspunkte insbesondere der germanistischen Spieleforschung dar.3 Als grundlegende Ambivalenz des geistlichen Spiels veranschlagt Rainer Warning eine konstitutive Spannung zwischen Mythos und Kerygma. Heuristisch arbeitet er dafür Ambivalenzen der Spiele auf zwei Ebenen heraus: Zum einen auf 1 Warning, Funktion und Struktur; eine Übersetzung ins Amerikanische (The Ambivalences of Medieval Religious Drama, Stanford 2001) ist knapp 30 Jahre später erschienen. 2 Zu komplexen Semantiken und Formen des ›Erbaulichen‹ im Mittelalter siehe demnächst den von Susanne Köbele und Claudio Notz herausgegebenen Sammelband »Die Versuchung der schönen Form. Spannungen im mittelalterlichen Konzept des ›Erbaulichen‹«, darin zu Aspekten des Erbauungsbegriffs in Passionsspielen der Beitrag von Herberichs. 3 Die Übersetzung ins Amerikanische macht Warnings Buch seit einigen Jahren auch der angelsächsischen Romanistik verfügbar, nachdem der englischsprachige Beitrag (Warning, On Alterity of Medieval Religious Drama), der einige Thesen seines Buches aufgreift, nur mäßiges Echo erreicht hatte. Seine Monographie scheint derzeit im französischen und angelsächsischen Raum insgesamt noch wenig rezipiert (vgl. z.B. Dominguez, La Scène et la Croix, oder auch Plesch, Killed By Words, die trotz ähnlicher Fragestellungen zum Sündenbockritual in Passionsspielen nicht an Warning anknüpfen). Aus der Perspektive der Ritualforschung in der Nachfolge Victor Turners setzt sich hingegen die Anglistin Silec, Le personnage du Christ, mit Warning auseinander.

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der Ebene des Inhalts und der Struktur der Spieltexte, zum anderen auf der Ebene der multimedialen Aufführungssituation. Die auf die Themen und Inhalte des Spiels bezogene Komplexitätsreduktion einerseits (hinsichtlich der Vermittlung theologischer Begriffe)4 und die Signifikanz der theatralen Form andererseits (hinsichtlich der medialen und sozialen Bedingungen von Spielaufführungen) sieht Warning dabei vielfach zusammenwirken. Die von ihm emphatisch herausgehobene Verflechtung von Medium und Semiose ergibt sich aus einem zugleich mimetischen sowie rituellen Konzept von Aufführung, insofern im Spiel Heilsgeschichte konkret zur Anschauung gebracht wird5 – in Oster- und Passionsspielen sogar die Präsenz des Heilbringers in persona. Die theatrale Mimesis erzeuge, so Warning, eine entscheidende semiotische Differenz gegenüber anderen zeitgenössischen Medien der Repräsentation. Denn im Gegensatz zu schriftliterarischen religiösen Texten mit denselben Inhalten und Motiven, wie sie die Dramentexte gestalten, habe nur das Schauspiel zu einem Katalysator kultureller und theologischer Ambivalenzen avancieren können, da es für eine religiöse Erfahrung der Gläubigen und für deren subjektive Teilhabe an der Heilsgeschichte einen kategorialen Unterschied ausmache, »ob die theophania mit den oculi cordis gesehen oder naturhaft ausgespielt« werde.6 Auch für die Passionsspiele7 arbeitet Warning Ambivalenzen auf beiden Ebenen, in inhaltlicher wie auch in performativer Hinsicht, heraus: So trete hier in Konkurrenz zur dogmatischen Bedeutung des Kreuzestodes als eines freiwilligen Opfers Jesu der in Szene gesetzte (mythische) Descensus mit einer dualistischen Konstellation des Kampfes zwischen Gott und Satan.8 Zu dieser, von Warning bereits auf der Ebene des Inhalts und der Handlungsstruktur festgestellten Ambivalenz tritt als »spielspezifisch[er]« Faktor der Ambiguisierung die Engführung

4 Zu Beispielen siehe Warning, Funktion und Struktur, S. 213f., S. 249. 5 Warning spricht zwar nicht explizit von »theatraler Illusion«, wie dies in der Forschung zum geistlichen Spiel oftmals der Fall ist (so Schulze, Geistliche Spiele, S. 15), aber seine Vorstellung von »Anschaubarkeit« scheint dem Illusionsbegriff häufig sehr nahe zu kommen (vgl. Warning, Funktion und Struktur, S.  157). Die rituelle Dimension der Aufführung erklärt Warning zum einen mit deren konstitutiver Rückbindung an die Liturgie (vgl. ebd., S. 29) und zum anderen als Ritualisierungen der Spiele selbst, die Rituale archaischen Charakters erzeugten (z.B. zur Ritualisierung der Höllenfahrtszene S. 76 u.ö.). 6 Warning, Funktion und Struktur, S.  217. Warning hat in seinen jüngeren Studien zwar mögliche Doppelbödigkeiten auch schriftliterarischer Passionsdichtungen und -traktate eingeräumt, doch setzt er generell für Aufführungen einen höheren Grad an Ambivalenz an, insofern diese »in den Spielen unter verschärften Bedingungen wiederkehrt« (Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 350f.). 7 Weitere Kapitel sind den Oster- (Warning, Funktion und Struktur, S.  37–122) und den Adamsspielen (ebd., S. 123–161) gewidmet 8 Zur handlungsstrukturellen Position des Descensus und den interpretatorischen Konsequenzen siehe Petersen, Ritual und Theater.

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von theatralem Spiel und Ritual verstärkend hinzu.9 Am Beispiel der auf der Bühne inszenierten Folter Jesu, die sich im Modus der Aufführung zu einem Sündenbockritual verkehre, agiere die Aufführung ein »spielspezifisches« gegen ein »moralisches« Interesse aus:10 »Unsere heutigen hermeneutischen Bemühungen prallen hier ab an einer Ambivalenz, an einer Zwieschlächtigkeit der Aufführungssituation, in der wir die spezifische Alterität dieser Spiele sehen müssen.«11 Die germanistische Rezeption von Warnings Thesen hat insbesondere seine Emphase auf die mediale Differenz, die Herausarbeitung der sich aus der Aufführungssituation ergebenden spezifischen kollektiven respektive sozialen Wirkungseffekte als besondere und bleibende Leistungen seiner Studie stets gewürdigt.12 Die mediale Differenz zwischen einerseits aufgeführten, das heißt von Darstellern verkörperten geistlichen Spielen, und andererseits schriftlichen narrativen Umsetzungen (oder auch bildlichen Darstellungen) der Heilsgeschichte, wie etwa in Passionstraktaten (oder Andachtsbildern), fungiert sowohl in den weiterführenden Arbeiten von Jan-Dirk Müller13 als auch von Christoph Petersen,14 Walter Haug sowie jüngst von Ulrich Barton15 als basaler Ausgangs9 Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 347. 10 Warning, Funktion und Struktur, S. 188. 11 Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 353. 12 Die umfangreiche und gehaltvolle Rezension von Friedrich Ohly 1979 hatte sich auf diesen Aspekt nur marginal eingelassen, das ›Dramatische‹ konzipiert Ohly textuell und nicht performativ, wenn er ›dramatisch‹ strukturierte Texte mit heilsgeschichtlichem Inhalt dem geistlichen Spiel zur Seite stellt (siehe Ohly, Rez. zu: Warning, Funktion und Struktur, S. 123). Die Vernachlässigung des performativen Aspekts war einer der Kritikpunkte an der Rezension von Ohly, der die Spiele in den literarischen Kontext der Frömmigkeitsliteratur eingeordnet hatte und die Emphase auf die Medialität damit vernachlässigt habe (vgl. Petersen, Ritual und Theater, S. 8). Der Aufschwung in der Rezeption von Warnings Studie unter dieser Perspektive kann auch durch das Performanzparadigma, wie es in der Vernetzung zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft seit den 90er Jahren an Bedeutung gewonnen hat, erklärt werden, vgl. zur Rezeption Warnings aus theaterwissenschaftlicher Perspektive den Beitrag von Fischer-Lichte, Theater und Fest. 13 Vgl. zu den Imaginationsprozessen in der Aufführungssituation von Passionsspielen in der Differenz zur Lektüresituation meditativer Passionsliteratur und Passionstraktaten die Überlegungen von Müller, Mimesis und Ritual, S. 556 u.ö. Ein wichtiger Hinweis betrifft die Fiktionalitätsebene der dramatischen Darstellungssituation, die es in zur Lektüre bestimmten Texten nicht gibt (vgl. Müller, Symbolische Kommunikation). 14 Siehe Petersen, Ritual und Theater, S. 8f., der als »Zentralpunkt« von Warnings Studie hervorhebt, »daß nämlich das geistliche Spiel eine Vollzugsform kollektiver Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte mittels mimetischer Verkörperung ist«, gegenüber Warning aber eine Historisierung des Ritualbegriffs einfordert und ausarbeitet. 15 Barton, eleos und compassio, S. 23; vgl. außerdem die Anknüpfungen an Warning von Eming, Gewalt, und dies., Sprache und Gewalt, im Blick auf die Gewaltszenen der Passionsspiele; Fischer-Lichte, Theater und Fest, mit einem übergreifenden Konzept des ›Festes‹, welches sowohl theatrale wie auch rituelle Handlungen in sich vereine; Quast, Vom Kult zur Kunst, S. 13f., mit einer Differenzierung des in Ritualen inszenierten und inhärenten Liminale, und

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punkt für eine historisch adäquate Annäherung an das geistliche Spiel. Auch wenn in den aktuellen Diskussionen, die an Warning anknüpfen, die Konzepte bezüglich des Status des Theatralen und des Rituellen durchaus differieren,16 so hat die ›performative‹ Wende der Spielforschung dank Warnings emphatischer Betonung der actio des Spiels den Diskurs über die Alterität des mittelalterlichen Theaters ohne Zweifel entscheidend beeinflusst und vorangebracht. Demgegenüber blieb die Frage nach der handschriftlichen Überlieferung der mittelalterlichen geistlichen Spiele im Kontext der Diskussion von Warnings Thesen bislang gänzlich unbeachtet. Was die Alterität des mittelalterlichen geistlichen Spiels unter überlieferungsgeschichtlichen Aspekten betrifft, haben sich allerdings vereinzelte Studien der letzten Jahre, methodisch an eine von Werner Williams-Krapp initiierte Forschungsdiskussion anknüpfend,17 um eine historisch adäquate Beschreibung auch der Medialität dieser Gattung im Spannungsfeld zwischen Aufführung und Schrift bemüht.18 Der überlieferungsgeschichtliche Befund, dass sich geistliche Spieltexte zu einem beträchtlichen Teil in Lesehandschriften aufgezeichnet finden,19 zieht nicht nur das Monopol der Aufführung als die ausschließliche Rezeptionsweise der Spielliteratur in Zweifel. Aus dieser Beobachtung ergeben sich auch weitreichende Fragen nach den frömmigkeitsgeschichtlichen, kulturhistorischen, mediologischen und hermeneutischen Kontexten des geistlichen Spiels als einer literarischen Gattung.20

2. Die »double diffusion« von »Le Mystére de la Passion« Dass gerade die Auseinandersetzung mit den Spielhandschriften für eine kritische Bewertung der Warning’schen Thesen zur Alterität des mittelalterlichen Theaters unerlässlich ist, zeigt sich insbesondere mit Blick auf »Le Mystére de la Passion« Koch, Ungewissheit, mit weiterführenden Überlegungen zum sich aus den Ambivalenzen ableitenden ›Risiko‹ geistlicher Spiele. 16 Siehe die erhellende Forschungsdiskussion bei Petersen, Ritual und Theater, S. 8–10. 17 Erstmals wurde die Frage nach dem Status der Spieltextüberlieferung 1980 systematisch aufgearbeitet von Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung; siehe auch ders., Zur Gattung ›Spiel‹. Zur an diese Studie anschließenden germanistischen Forschungsdiskussion vgl. die Literaturhinweise bei Herberichs, Lektüren des Performativen. Erneut zur Diskussion gestellt hat Williams-Krapp seine Überlegungen auf der Gandersheimer Tagung im März 2016, vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 18 Vgl. u.a. die Beiträge von Dauven-van Knippenberg, Herberichs und Toepfer im Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags. 19 Eine Liste von Spieltexten in Lesehandschriften bietet Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung, S. 7f., weitere Hinweise zur Überlieferungssituation von Spielen finden sich jeweils im Anschluss an die Katalogartikel bei Bergmann, Katalog. 20 Diesem Feld widmet sich meine noch unveröffentlichte Habilitationsschrift, Herberichs, Schrift und Spiel.

Die »Zwieschlächtigkeit der Aufführung« und die »double diffusion«

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von Arnoul Gréban, einem Spiel, das Rainer Warning in seiner Monographie als ein besonders stichhaltiges Exempel für die Ambivalenz geistlicher Spiele eingehend analysiert. Denn sowohl in seiner Monographie von 1974 wie auch noch in den jüngeren Aufsätzen von 1997 und 200421 möchte Warning gerade an diesem Text und dessen rekonstruierter Aufführung die Ambivalenz von Passionsspielen illustrieren: Da stehe einerseits der theologisch gebildete Magister Arnoul Gréban, dessen Absicht es gewesen sei, das inhaltliche Spannungsverhältnis von Mythologem und Theologumenon seiner Vorlage, der »Passion d’Arras«, zu relativieren.22 Gleichwohl würden andererseits gerade die Gewaltszenen »von kaum einem anderen Spiel des europäischen Spätmittelalters an breiter und detailliertester Ausmalung der Martern übertroffen«, was die Ambivalenzen insbesondere auf die performative Ebene verlagere und dort zuspitze.23 In Warnings Augen spielen hierfür die zahlreichen, ästhetisch auffälligen und literaturhistorisch bedeutsamen Rondeaus eine ganz besondere Rolle. Da Warning in seinen jüngeren Beiträgen insbesondere die Spezifika dieses Werks und der Rondeaus in ihm abermals aufgreift,24 soll Grébans »Passion« auch im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Grébans »Passion« ist vermutlich zwischen 1450 und 1452 in Paris entstanden.25 Sie umfasst knapp 34.500 Verse und gehört mit ihrer für vier Tage konzi21 Warning, Hermeneutische Fallen, und ders., Auf der Suche nach dem Körper. 22 Ein zentraler Ausgangspunkt für Warnings Interpretation der Gréban’schen Passion stellt der Vergleich mit ihrer Vorlage, der »Passion d’Arras«, dar, die Eustache Mercadé zugeschrieben wird, vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 175–181. Sei in der »Passion d’Arras« Christi Tod zugleich (mythologisch) als »Loskauf« und (theologisch) als Satisfaktion gestaltet gewesen, so habe Gréban durch seine Version des allegorischen Paradiesprozesses »ganz offensichtlich [versucht], die Ambivalenzen seiner Vorlage im Sinne einer stringenten Satisfaktionslehre abzubauen« (Warning, Funktion und Struktur, S. 175). 23 Warning, Funktion und Struktur, S. 185. Zur Gewalt in den französischen Passionsspielen, insbesondere in der Passion Grébans, siehe auch die romanistischen Beiträge von Plesch, Étalage complaisant?, und dies., Killed By Words; Plesch deutet die ausführlichen Gewaltszenen mit Rekurs auf die Sündenbocktheorie Girards und analysiert die Rolle der Sprache für die Gewalt- und Degradierungshandlungen der Peiniger, ohne indessen auf Warnings These vom Sündenbockritual zu verweisen. In ihrer einzigen Bezugnahme auf Warning reduziert sie seinen Ansatz auf ein vermeintliches Plädoyer dafür, die Spiele mehr als Befriedigung einer Sensationslust an der Gewalt denn als Instrumente moralischer Didaxe zu verstehen (vgl. Plesch, Killed By Words, S. 55, Anm. 109). 24 Warning, Hermeneutische Fallen, und ders., Auf der Suche nach dem Körper, vgl. auch schon den Rekurs auf Grébans Passion bei Warning, On Alterity of Medieval Religious Drama. 25 Vgl. Champion, Histoire poétique, S. 151f.; Terminus ante quem ist eine Rechnung, die am 31.12.1452 ausgestellt wurde und dem Autor für das Aufführungsrecht des Passionsspiels in der Stadt Abbeville 10 écus d’or zusichert; seit 1451 ist Arnoul Gréban als Chorleiter und Organist in Notre-Dame nachgewiesen. Die Zeugnisse zu seinem Wirken und seinen Aufgaben dort sind bei Paris/Reynaud 1878, S. II–XII, und Champion, Histoire poétique, S. 134–151, zusammengestellt.

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pierten Aufführung zu den umfangreichsten Passionsspielen des europäischen Mittelalters.26 Verglichen mit anderen zeitgenössischen geistlichen Spielen ist Grébans »Passion« handschriftlich außerordentlich gut überliefert.27 Von den zehn derzeit bekannten Überlieferungszeugen werden sechs von Darwin Smith als Lesehandschriften identifiziert, wobei drei davon durchgehend illustriert sind.28 Zugleich ist eine rege Aufführungstradition belegt: Die »Passion« wurde zwischen 1455 und 147329 nachweislich mindestens vier Mal aufgeführt. Für das Spiel wurde daher zu Recht von einer mittelalterlichen »double diffusion«30 gesprochen, da dessen Beliebtheit und Erfolg sowohl als aufgeführter wie auch als schriftlich rezipierter Text gleichermaßen belegt ist. Die ›zweifache Verbreitung‹ von Grébans »Passion« wirft für eine literaturwissenschaftliche Interpretation eine Reihe von Fragen auf: Inwieweit bestanden beide Distributionsformen dieses Spiels, die schriftliche und die theatrale, nebeneinander und mit welchen Wechselwirkungen ist gegebenenfalls zu rechnen?31 Sind im Hinblick auf die von Warning behauptete Ambivalenz je nach medialer Verfasstheit als Lese- oder Aufführungsspiel divergente, einander verstärkende, 26 Es beginnt mit einem Vorspiel über die Erschaffung der Welt, den Engelssturz und die Vertreibung aus dem Paradies nach dem Sündenfall. Am ersten Tag wird anschließend der ›Paradiesprozess‹ vorgeführt. Die eigentliche Handlung setzt daraufhin ein mit der Geburt und Kindheit Jesu. Am zweiten Tag werden die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer und vor allem Jesu Wundertaten gezeigt, die den Argwohn der Juden erwecken; mit Jesu Verhaftung geht der Tag zu Ende. Der dritte Tag handelt von den Prozessen gegen Jesus, seiner Verurteilung und Kreuzigung; der vierte und letzte zeigt den Descensus, Jesu Auferstehung, sein Erscheinen vor den Jüngern und schließlich seine Himmelfahrt, die ihn in das Paradies zu Gott zurückkehren lässt. 27 Die Hss. mit den Siglen A–J sind knapp beschrieben bei Jodogne II, 1983, S. 11–13, in der Edition, die Jodogne bereits 1965 vorgelegt hatte, waren ihm nur 10 Überlieferungszeugen bekannt; Hs. K ist erst 1986 entdeckt worden und wird ausführlich beschrieben von Jennequin, La première journée. 28 Diese entsprechen einem Typus von bebildertem ›Lesespiel‹, wie er in der deutschsprachigen Spieltradition ausschließlich von Weltgerichtsspielen des 15. Jahrhunderts bekannt ist. Zum Bildprogramm des »Berliner Weltgerichtsspiel« vgl. Herberichs, Das Jungst Gericht puoch, und dies., Zur Zeit des Jüngsten Gerichts; zu den Bildern des »Kopenhagener Weltgerichtsspiels« vgl. Blosen, Illustrationerne i et københavnsk manuskript. 29 Für das Jahr 1455 ist eine Aufführung im nordfranzösischen Abbeville bezeugt (vgl. Paris/ Reynaud, Introduction, in: Le Mystère de la Passion, S. VIII); Richer, der Schreiber der Hs. A, welche von 1473 datiert, erwähnt drei Aufführungen, die in Paris stattgefunden haben sollen. Die Zahl der vermuteten Aufführungen ist jedoch weitaus höher, vgl. Smith, Les manuscrits ›de théâtre‹, S. 3, und Smith, La question du Prologue, S. 164. 30 Jennequin-Leroy, Premier livre, S. 173. 31 Dass auch für Lesehandschriften eine kollektive Rezeption durch lautes Lesen im kleinen Kreis möglich ist, machen Clark/Sheingorn, Performative Reading, S.  132, geltend. Doch erscheint es, um die hier aufgeworfenen Fragen adäquat diskutieren zu können, notwendig auf einer Differenz von ›Performanz als Verkörperung‹ und einer ›Performanz durch (lautes oder auch leises) Lesen‹ (ebd., mit Bezug auf Carruthers, Craft of Thought) zu bestehen und diese auch begrifflich zu markieren.

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vermindernde oder gegenseitig sich ausschließende Rezeptionspotentiale zu veranschlagen? Schließlich ergibt sich aus kulturhistorischer Perspektive die Frage, ob Aufführungs- und Lesespiele als Ausdrucksformen einer einzigen Geschichte der Passionsfrömmigkeit im Frankreich des 15. Jahrhunderts anzusehen sind oder ob es gegenläufige Tendenzen anhand beider Medien zu sondieren gilt. Aus Gründen des Umfangs und der Übersichtlichkeit beschränkt sich meine Analyse im Folgenden auf eine einzige Lesehandschrift:32 Die Handschrift der Bibliothèque nationale de France, Ms. fr. 816 (Hs. A).33 Sie überliefert ausschließlich Grébans »Passion« und wurde bereits von Darwin Smith in seiner Typologie mittelalterlicher Spielhandschriften als eindeutige Lesehandschrift, gar als »livre de méditation«34 klassifiziert. Anhand des Schreiberkolophons und des Bildprogramms (siehe 3.) lege ich in einem ersten Schritt dar, dass bereits zeitgenössisch auf den schriftliterarischen Status des Spiels in Abgrenzung zur Aufführungspraxis, also auf die mediale Differenz der »Passion« reflektiert wird. Mit Blick auf die Rondeaus (siehe dazu 4.) soll dann der Frage nachgegangen werden, wie sich deren Status und Funktion in den Lesehandschriften bestimmen lässt (5.). Schließlich konfrontiere ich den überlieferungsgeschichtlichen Befund mit den von der Aufführungssituation abgeleiteten Thesen Rainer Warnings und werfe (6.) die grundlegende Frage auf, inwiefern angesichts der »double diffusion« Wechselwirkungen zwischen den beiden medialen Formen der Gréban’schen »Passion« anzusetzen sind und welche Konsequenzen daraus für die Annahme von Ambivalenzen der Passionsspiele zu ziehen sind.

3. Paris, Bibliothèque nationale de France, Manuscrit français 816 (Hs. A) Die Handschrift BnF fr. 816 datiert aus dem Jahr 1473.35 Der Schreiber nennt sich selbst namentlich im Kolophon am Ende der Handschrift: 32 Meine noch unveröffentlichte Habilitationsschrift (Herberichs, Schrift und Spiel) widmet sich sämtlichen illustrierten Handschriften der Gréban’schen »Passion«; die unterschiedlichen Illustrationsprinzipien der »Passion«-Handschriften bezeugen exemplarisch die Diversität mittelalterlicher bebilderter Lesespiele. 33 Die Siglen wurden von Jodogne zugewiesen. Die Handschrift kann in schwarz-weißen Abbildungen online betrachtet werden (http://beta.biblissima.fr/fr/ark:/43093/mdata2b254eab2adf7c2dc026e01b73268b01d1c188bf). 34 Smith, La question du Prologue, S. 150; vgl. bereits ders., Les manuscrits ›de Théâtre‹, S. 3 (dieselbe Bezeichnung verwendet Smith für Hs. E), konkrete Abgrenzungskriterien zum Typus des ›copie privée‹ werden von Smith nicht vorgeschlagen. 35 Da sie vordem irrtümlich als älteste Handschrift der »Passion« galt, legten die ersten Herausgeber des Spiels, Gaston Paris und Gaston Raynaud, die Hs. A ihrer Edition von 1878 als Leithandschrift zugrunde. Anhand der gemalten Wappen zu Beginn des Codex (A, fol. 1r

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Fait escript et accomply par moy Jaques Richer prebstre indigne le lundi xxiie jour de feurier l’an mil quatre cens soixante et douze (A, fol. 237r).36 Geschrieben und vollendet durch mich, Jaques Richer, unwürdiger Priester, am Montag, den 22. Februar, im Jahr 1482.

Die Selbstbezeichnung des Schreibers Jaques Richer als Priester passt in das Bild, das er auch implizit zu Beginn der Handschrift von sich entwirft; denn es erscheint ihm besonders wichtig, den klerikalen Stand auch des Spielautors sowie dessen theologische Intention in seiner mit roter Tinte eingetragenen ›Vorrede‹ deutlich hervorzuheben. In 28 abgesetzten Zeilen, formal also im Spaltenformat des folgenden Spieltextes aufgezeichnet, ist im Kolophon dort zu lesen (Abb. 1): Ce present liure contient le com[-] / macement et la creacion du / monde en brief par parsonnages / la natiuite la passion et la / Resurrection de nostre Saulveur / Jhesucrist t[r]aitees37 bien au long / selonc les saintes euuangiles / Et deuez sauoir que maistre / arnoul gresban notable bachelier / en theologie le quel composa ce / present liure a la Requeste d’aucuns / de paris fit ceste creacion / abregee seulement pour monstrer / la differance du peche Du / deable et de l’omme et pourcquoy / le peche de l’homme ha este repare / et non pas celluy du deable / Et pourtant qui vouldroit Jouer / ce present liure / par parsonnages / Il fauldroit prendre et commancer / a ce prologue qui s’ensuit et / ce fait delaissier laditte creacion / abregee Et commancer a Adam estant ou limbe, qui dit ainsi / o souueraine majeste / et en ce point l’ont fait ceulx de / paris qui ont Ja par trois fois / Joue ceste presente passion // Cy comance le prologue du / primer liure de la passion. Das vorliegende Buch enthält den Beginn und die Erschaffung der Welt als kurze schauspielerische Darbietung, die Geburt, die Passion und die Auferstehung unseres Heilands Jesus Christus, gut ausführlich gestaltet nach den heiligen Evangelisten. Es ist zu wissen, dass Magister Arnoul Gresban, ehrenwerter Baccalaureus der Theologie, dies vorliegende Buch zusammengestellt hat im Auftrag von einem Pariser und dass er diese kurze Erschaffung einzig deshalb geschrieben hat, um den Unterschied der Sünde des Teufels gegenüber der des Menschen aufzuzeigen und warum die Sünde des Menschen vergeben werden kann, aber nicht die des Teufels. Und vor und 4r) lassen sich als Auftraggeber Louis de Luxembourg und seine zweite Frau Marie de Savoie beziehungsweise Louis’ Sohn aus erster Ehe mit Jeanne de Bar, Pierre II de Luxembourg, vermuten. Die bisherige Identifikation des Wappens mit Louis de Luxembourg, wird von Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 151, Anm. 49, in Zweifel gezogen (mit Verweis auf eine mündliche Auskunft von Sylvie Lefèvre), stattdessen sehen sie in dem Wappen ein Indiz für die Auftraggeberschaft des Sohnes Pierre. 36 Kürzel sind in den Transkriptionen dieser Handschrift stillschweigend aufgelöst worden. Die Jahresnennung 1482 ist noch am Julianischen Kalender orientiert. – Die Übersetzungen aus dem Afrz. stammen von der Verf. 37 Transkription von Smith, La question du Prologue, S. 142.

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allem diejenigen, welche das vorliegende Buch als Schauspiel aufführen möchten, müssen einsetzen und bei dem folgenden Prolog beginnen und die erwähnte kurze Erschaffung auslassen und beginnen, wo Adam im Limbus ist und Folgendes sagt: ›O mächtiger König‹. Und an dieser Stelle hat man diejenigen (Aufführungen) von Paris (beginnen lassen), die schon drei Mal die vorliegende Passion gespielt haben. Hier beginnt der Prolog des ersten Buches der Passion.

Abb. 1: BnF fr. 816, fol. 0v/1r (auf der Versoseite das Kolophon des Jacques Richer).

Die Vorrede unterscheidet also zwei Versionen des Textes, die vorliegende Buchversion, welche vor dem eigentlichen Passionsspiel auch die creacion du monde enthält, und eine (nicht vorliegende) Aufführungsversion ohne dieses ›Vorspiel‹: Wer das vorliegende Buch (ce present liure) aufführen möchte, der solle dort beginnen, wo Adam im Limbus stehend spricht: o souueraine majeste,38 also erst nach der kurzen Handlungspassage mit Welterschaffung und Engelssturz (ce fait dalissier laditte creacion). An dieser Stelle sollen auch die drei bereits erfolgten

38 Die Textstelle findet sich in der Hs. A auf fol. 14v: Die Rubrik lautet Adam estant au limbe. Dann setzt die Figurenrede ohne nochmalige Sprecherangabe ein: O souueraine maieste (vgl. Jodogne, Bd. 1: GP 1725).

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Aufführungen dieser presente passion, welche in Paris gegeben worden seien, mit dem Spiel begonnen und also die creacion du monde ausgelassen haben. Die Adressierungen des Mediums als ›Buch‹, wie sie vom Schreiber Richer formuliert werden, verweisen auf den Text stets explizit als schriftliches Medium – so nach dem Eingangskolophon (premier liure, A, fol. 0v) oder auch jeweils zu Ende oder Beginn eines weiteren Abschnitts (Explicit le premier liure || Cy commance le second liure, fol. 69v)39 – und rufen so die Lektüre als Rezeptionsmodus immer wieder von neuem in Erinnerung. Über die gesamte Handschrift verteilt schmücken vier Illustrationen den Text. Eine Sonderstellung innerhalb des Bildprogramms, was Platzierung, Größe und Form betrifft, nimmt die erste Illustration zu Beginn der creacion du monde ein (A, fol. 3v): Ganzseitig zeigt diese »curieuse et assez belle miniature«40 in vier Bildfeldern Episoden der Welterschaffung (Abb. 2): Im oberen linken Bildfeld ist Jesus bzw. Gott vor drei Engelschören zu sehen. Im unteren linken Bildfeld wird Michael dargestellt, der die gefallenen Engel besiegt und dem Höllenschlund übereignet; rechts oben werden Gottes Anbringung der Sterne am Firmament sowie das Tierreich gezeigt; darunter die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams. Selbst in der Anordnung der Bilder bleibt in Hs. A die mediale Logik der Lesehandschrift erkennbar: Die vier Illustrationen folgen einander in vertikaler Richtung jeweils von oben nach unten, womit sie entsprechend dem zweispaltigen Textformat der Handschrift der Leserichtung des (schriftlichen) Textes entsprechen.41 Auch die weiteren drei Illustrationen sind ins zweispaltige Textlayout eingepasst und nehmen jeweils zu Beginn eines Spieltages einen Raum von ca. 15 Versen innerhalb der ersten Spalte ein.42 Den Auftakt zur Lektüre des Spieltextes eines jeden liure bildet damit jeweils die ›Lektüre‹ eines Bildes. Mit ihrer Einpassung in das Spaltenformat zu Beginn der Textabschnitte werden die Miniaturen selbst zu einem Element des Mediums ›Buch‹. Ihre Funktion ähnelt der einer Überschrift, indem sie vorausweisend ein Handlungselement herausheben, das jeweils nur eine Szene innerhalb der umfangreichen journeé-Texte fokussiert. Diese thematische Verdichtung im Bildmedium strukturiert die Lektüre und erzeugt 39 Vgl. auch: Cy commance le tiers liure (A, fol. 139v); Explicit le tiers liure (191v); Explicit le quart liure (236v). 40 Champion, Histoire poétique, S.  179; auf einer der wenigen Bildtafeln seiner Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts hat Champion eine Reproduktion dieser Seite abgebildet (Pl. IV). 41 Vgl. Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 151. 42 Vor der ersten Rede Johannes des Täufers, am Beginn der Handlung des zweiten liure, zeigt eine Miniatur die Taufe Jesu im Jordan (A, fol. 70r). In der einleitenden Miniatur vor dem Prolog zum dritten Tag (A, fol. 140r) ist die Kreuzigungsgruppe dargestellt. Die letzte Miniatur der Handschrift zeigt die Auferstehung Jesu (A, fol. 192r).

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Abb. 2: BnF fr. 816, fol. 3v/4r.

zugleich weitreichende inhaltliche Umakzentuierungen: Während beispielsweise die »Höllenfahrt«, wie Warning herausarbeitet, »mit […] Grebans ›Passion‹ ihren dramatischen Höhepunkt findet (26081–283)«,43 im Text großes Gewicht besitze – und für die von ihm behauptete Ambivalenz des Spiels einen wichtigen Faktor darstellt –, wird mit der bildlichen Konzentration auf die Auferstehung Jesu und der Präsentation seiner Wunden für den Betrachter ein anderer, konventionellerer theologischer Schwerpunkt gesetzt.44

43 Warning, Funktion und Struktur, S. 178. 44 Damit folgt die theologische Tendenz der Bilderhandschrift durchaus einer Strategie, die schon im Spieltext angelegt ist, und die Warning als »das theologische Gewissen« Grébans bezeichnet, insofern sich auch im Text »bei Greban […] Selbstdistanzierungen von der gesamten Höllenfahrt [finden]. Im Prolog und im Epilog zum dritten Tag ist von dessen und des ganzen Spiels dramatischem Höhepunkt mit keinem Wort die Rede«, (Warning, Funktion und Struktur, S. 180).

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4. Grébans Rondeaus: Symbolismus, Formkunst und die Ambivalenz des Rituals Das Rondeau als Tanzlied ist ein prominentes Gestaltungsmittel mehrerer französischer weltlicher und geistlicher Spiele des 14. bis 16. Jahrhunderts.45 Auch für die Tektonik sowie Ästhetik der »Passion« des Arnoul Gréban, der selbst als Musiker und Chorleiter an der Kathedrale Notre-Dame tätig war, spielen volkssprachige Lieder, insbesondere in Rondeauform, eine wichtige Rolle. Das besonders zahlreiche und vielgestaltige Vorkommen von Rondeaus – Ludwig Müller zählt im Ganzen »111 Rondels« in Grébans »Passion«46 – stellt daher für die romanistische Forschung ein zentrales Beschäftigungsfeld dar. Es ist evident, dass die musikalische Performanz der Lieder im Rahmen einer dramatischen Performanz des Spiels eine tragende Rolle für die Rezeption der »Passion« einnimmt. Die Deutung der Funktion der Rondeaus für die Wirkung des Spiels hat sich deshalb nicht nur semantischen Aspekten der Rondeautexte, sondern auch den Effekten ihrer Aufführung gewidmet. Dass sich die Semantik der Form ›Rondeau‹ für dieses Spiel allerdings nicht einsinnig bestimmen lässt, verhindert schon deren Verwendung in sehr unterschiedlichen thematischen Kontexten: In allen vier Handlungsabschnitten, sowohl in der creacion du monde als auch während der drei journées, werden jeweils unterschiedliche Szenen mit Rondeaus gestaltet, etwa anlässlich der Anbetung des Christkindes durch die Hirten, der Folter Satans oder des Freudengesangs der Erlösten aus der Vorhölle. Gréban verwendet dabei auffällig viele Variationen der Rondeauform: Das Rondeau Simple (AB aA ab AB), das ebenfalls gängige Rondeau Quatrain (ABBA abAB abba ABBA) und darüber hinaus Variationen der Rondeauformen Cinquain (aaaab), Sixain (aabaab) und Huitaine (ababbcbc).47 Auch beim Versuch, bestimmte Rondeautypen semantisch zu deuten, wird schnell klar, dass sich hinter den Zuordnungen von Inhalten und Formen nicht eben leicht ein System erkennen lässt: Zunächst scheint eine gewisse Verteilung aufzufallen: Wenn in der creacion du monde die Engel Gott in Form eines Rondeau Quatrain (GP 98–113) loben,48 wenig später aber die Ermordung Abels mit einem Rondeau Simple (GP 928–935) gestaltet ist, so könnte man meinen, die 45 Vor Grébans Passion sind bereits in den Miracles de Notre-Dames aus der Mitte des 14. Jahrhunderts zahlreiche Rondeaus überliefert. Eine erste Aufarbeitung und formale, metrische Beschreibung der Rondeaus im Drama des 14. bis 16. Jahrhunderts stammt von L. Müller, Das Rondel. Siehe zu deren Funktion insbesondere in der Gréban’schen Passion außerdem Plesch, Étalage complaisant?; Smith, Les manuscrits ›de Théâtre‹; Dominguez, De la morale à l’esthetique, und dies., La scène et la Croix. 46 Vgl. Müller, Das Rondel, S. 15. 47 Vgl. die Übersicht über die Rondeauformen bei Gréban ebd., S. 13–15. 48 Zitiert wird der Text im Folgenden nach der Ausgabe von Jodogne; für Grébans »Passion« verwende ich im Folgenden die Sigle GP.

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spezifische metrische Form des Rondeau Simple sei ein Indikator für eine negative Akzentuierung, während die komplexere Quatrain-Form dem Gotteslob vorbehalten bliebe. Doch wird diese scheinbare Regel im Verlauf der »Passion« mehrfach durchkreuzt:49 Sowohl die Folterknechte verwenden das Rondeau Quatrain als auch Pilatus in jener Szene, da er sich die Hände in Unschuld wäscht. Ein Rondeau Simple hingegen wird auch von den Hirten aufgeführt, denen die Geburt Jesu verkündet wird (GP 4744–4751), oder von Elisabeth und Maria bei der Heimsuchung (GP 4001–4008). Prominent und wohl am rätselhaftesten in ihrer Funktionalität erscheinen jene Rondeaus, welche im Zusammenhang mit der Folterung und Kreuzigung Jesu von den Schergen vorgetragen werden. Ihnen hat sich Rainer Warning ausführlich gewidmet. So wird an einem dramatisch herausgehobenen Punkt in der Geißelungsszene bekanntlich ein kunstvolles Rondeau aufgeführt. Als die Peiniger einen Nachschub der Ruten fordern (GP 22.755–22.763), wird dies in einem Rondeau Simple ausgedrückt, wobei Gréban das Rondeau mit zusätzlicher Raffinesse gestaltet hat, indem der Text von Vers A auf mehrere Gesprächsteilnehmer verteilt ist (GP 22.769, 22.772, 22.774): Griffon Ça, des verges ! 22.769 Broyeffort Combien ? Griffon Deux paire ; les miennes ne vallent plus rien. Claquedent Broyefort, tu nous fais bien braire. Ça, des verges ! 22.772 Broyeffort Combien ? Claquedent Deux paire. Broyefort Harau, et tant dire ! Orillart Et tant faire ! Nous cessons cy par ce moyen. Ça, des verges ! 22.774 Broyefort Combien ? Orillart Deux paire ; les miennes ne valent plus rien. Broyefort Orillart l’escout douleur bien (GP 22.769–22.777) 49 Zur ›Unzuverlässigkeit‹ der semantischen Zuordnung von Rondeau Simple und Quatrain vgl. Dominguez, La scène et la Croix, S. 238f.

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G.: Hier, die Ruten! B.: Wie viele? G.: Zwei Paar; meine taugen nicht mehr. / C.: Broyefort, du machst uns gut Lärm. / Hier, die Ruten! B.: Wie viele? C.: Zwei Paar. / B.: Hurrah, und wieviel gesagt! O.: Und wieviel getan! / Wir hören hier aus diesem Grund auf. / Hier, die Ruten! B.: Wie viele? O.: Zwei Paar; / meine taugen nicht mehr. B.: Orillart rüttelt ihn sehr gut durch.

Die Peiniger Jesu skandieren ihre Schläge, indem sie den Refrain des Rondeaus wiederholen.50 Warning deutet ihre Funktion als Medium ambivalenter sozialer Gemeinschaftsbildung:51 Ihre Existenz verdanke sich einem »spielspezifischen Interesse« in der Ausagierung von Gewalt, die durch kein »moralisches Interesse« erklärbar sei.52 In der Tat kommen Rondeaus an verschiedenen Stellen des Spiels die Funktion zu, Kollektive zu bilden respektive zu verbinden: die Hirten ebenso wie die Kindesmörder ›sozialisieren‹ sich durch gemeinsam aufgeführte Rondeaus, indem ihre Bewegungen choreographisch durch Rondeaus organisiert werden.53 Das gemeinsam deklamierte Tanzlied vereint auch die einzelnen Schergen zu einer Gruppe, es konstituiere, so Warning, eine Ritualgemeinschaft, die einen gemeinsamen rituellen Text aufführt: »gerade die scheinbar hochliterarisierten Stellen werden zum Signal für eine vorliterarische Dimension, in der sich diese Spiele noch bewegen: das ›rondeau dramatique‹ strukturiert ein Ritual.«54 Die Ambivalenz dieser Technik, die sich nicht nur im Dienst einer christlich sanktionierten Perspektive auf das Dargestellte erschöpft, gründet, nach Warning, unter anderem darin, dass die Form des Rondeaus im Verlauf des Spiels von jeweils unterschiedlichen Personengruppen realisiert wird: Da das Rondeau im Spiel allgegenwärtig ist, kann es sich bei der Kreuzigung nicht um ein spezifisch jüdisches Ritual handeln, das inszeniert würde vor einer Gemeinde, die ineins mit diesem geschauten Ritual dessen moralische Überwindung durch den leidenden Christus kommemorierte. So besehen sind gerade diese FolterungsRondeaus das deutlichste Symptom dafür, wie in diesen Spielen räumliche, zeitliche und damit auch ›personale‹ – persona im Sinne von Schauspielermaske – also auch ›personale‹ Distanzen und Differenzen kollabieren.55

Auch wenn Warning die Vielzahl der Kontexte der Rondeaus durchaus benennt und erst von ihnen die Ambivalenz dieser Kunstform tatsächlich herzuleiten 50 Dazu Warning, Funktion und Struktur, S. 195: »mit einem besonders raffinierten, das spezifisch rituelle Moment herauskehrenden Einsatz des Rondeau-Refrains erreicht die Geißelung ihren Höhepunkt«. 51 Vgl. Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 358. 52 Ebd., S. 193. 53 Dazu Dominguez, La scène et la Croix, S. 242: »les bergers disposent leur campement pour la nuit, les gardes se preparent à veiller en armes autour du sepulcre«. 54 Warning, Funktion und Struktur, S. 193. 55 Warning, Auf der Suche nach dem Körper, S. 356.

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behauptet, widmet er nur den Rondeaus der Gewaltszenen eingehendere Aufmerksamkeit. Mit ihnen ›kippe‹ gewissermaßen die Aufführung, indem die kerygmatische Deutungsperspektive durch den ästhetischen Überschuss innerhalb dieser Gewaltszenen von einer mythischen überformt werde. Konstitutiv für die Auflösung dieser hermeneutischen Dimension zugunsten einer prekären Ritualität sei die theatrale Situation: »Jedenfalls sind diese Rondeaus Symptom für jene zutiefst ambivalente Präsenz des Körpers«.56 Auch weitere in der Romanistik vorgeschlagene Erklärungsmodelle für die Rondeaus gehen dezidiert von der Aufführungssituation aus. Für Véronique Plesch57 dienen die Rondeaus während der Flagellation der Aufmerksamkeitslenkung und Heraushebung bestimmter Szenen mit letztlich sarkastischem, die Gewalt verstärkendem Effekt.58 Die Frage nach den Funktionen der weiteren Rondeaus lässt sie dabei außer Acht. Véronique Dominguez sieht demgegenüber in den Rondeaus eine implizite Autoreferentialität auf die theatrale Situation als solche, insbesondere auf die Schauspieler und ihre Körper. Sie sucht eine Deutung der Rondeaus jenseits der einzelnen Szenen und Inhalte und vermutet, dass sie vornehmlich eine selbstreflexiv ästhetische, nicht aber eine moralische Dimension des Spiels in den Vordergrund rücken.59 Die Rondeaus seien folglich gerade in ihrer Asemantik zu interpretieren. Anders als Warning versteht sie deren ästhetischen Status und die Körper der Schauspielenden nicht als Katalysator von Ambivalenz, sondern als Ausdruck einer Theologie, die den joculatores dei – im Anschluss an Bernhard von Clairvaux – Erlösung verheiße.60 Darwin Smith wiederum hat in der Verteilung der Rondeaus eine weitreichende und hochkomplexe Makrostruktur eruiert,61 welche von zentraler Bedeutung insbesondere für die Lesehandschriften ist und die hier deshalb in knappen Zügen referiert sei: Smith geht von einer für die Gesamtinterpretation der »Passion« konstitutiven Rolle des Handlungsabschnitts der creacion du monde aus. In diesem ersten Handlungsabschnitt werden fünf verschiedene Rondeautypen 56 Warning, Hermeneutische Fallen, S. 39f. 57 Plesch, Étalage complaisant?, S. 462. 58 Eine aufmerksamkeitssteuernde Funktion wird den Rondeaus generell im mittelalterlichen Spiel zugemessen, auch in den Farcen: «In such media, the rondeau normally signalled moments of elevated tension, turning points in the action, the arrivals and departures of characters, or changes of scene (which could also prompt bona fide musical interludes)« (Enders, The Farce of the Fart, S. 48). 59 Vgl. auch die Überlegungen der Autorin unter dem programmatischen Titel ›De la morale à l’esthétique‹. 60 Mit Warnings Studien setzt sich Dominguez nicht auseinander. 61 Smith, Les manuscrits ›de Théâtre‹ und ders., La question du Prologue, hat allerdings, gemäß den Literaturangaben in seinen Fußnoten, Warning, Funktion und Struktur, nicht rezipiert, während umgekehrt Warning, Auf der Suche nach dem Körper, sich nicht mit Smith, La question du Prologue, auseinandersetzt.

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eingesetzt: das Lob der Engel (GP 89–113, Quatrain), Luzifers Fall (153–172, Cinquain), Adams Dank an Gott (340–345, Sixain), Evas Abschied aus dem Paradies (657–664, Huitain) sowie der Brudermord durch Kain (928–935, Rondeau Simple). All diese Formen wiederholen sich formal teils identisch bezüglich der Silbenanzahl, teils variiert während der weiteren journées. Als bedeutsame Ausnahme dabei konstatiert Smith, dass einzig das Cinquain, in welchem Lucifer wortreich seinen Hochmut thematisiert, in der gesamten »Passion« nicht nochmals wiederverwendet wird. In der Szene des Engelsturzes aber wiederhole sich in Lucifers Monolog in fünfsilbigen Versen das Reimschema des Cinquain (aaaab) vier Mal (GP 153–172). Mittels einer detaillierten statistischen Aufstellung der Rondeau-Typen in Grébans »Passion«, wie sie in der creacion eingeführt und in den journées wiederaufgegriffen werden, gelingt es Smith, inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Szenen aufzuzeigen. Als verbindendes Glied identifiziert er die Frage nach dem Status der jeweiligen Figuren im Rahmen der Heilsgeschichte. Das Rondeau des Lucifer stehe dabei in einem höchst signifikanten Sinne vereinzelt da, weil seine Sünde in der Heilsgeschichte ebenfalls singulär sei. Die Zahl Fünf deutet Smith zahlensymbolisch als Zeichen des Unvollkommenen (»numerus imperfectus«), das Sixain hingegen, in welchem Adams Lob auf die Schöpfung gestaltet ist, gegenbildlich als zahlensymbolisches Abbild der Perfektion.62 Der Huitaine, in welcher Eva ihren Abschied aus dem Paradies besingt, der mehrmals wieder aufgenommen wird, komme dadurch die semantische Funktion zu, jeweils die Erlösungsbedürftigkeit der Vortragenden anzuzeigen.63 Das Rondeau Simple schließlich, also die in der gesamten »Passion« Grébans meist verwendete Rondeauform, begegnet am häufigsten in den Folterszenen, bei der Geißelung ebenso wie bei der Dornenkrönung. Allerdings sei die Verteilung des Rondeau Simple im Verlauf der Handlung der »Passion« nicht mit den Parametern ›negative‹ versus ›positive‹ Ereignisse zu erklären. Sämtliche Szenen mit einem Rondeau Simple verbinde vielmehr, dass sie die Abkommenschaft aller Menschen von Eva und damit deren Status als Träger der Erbsünde illustrierten, während diese Form in den Szenen um die Wundertaten Jesu bewusst ausgespart werde: 62 Zu den einzigen beiden Wiederaufnahmen des Sixain am dritten Spieltag siehe Smith, La question du Prologue, S. 158f., die er auch dort als Ausdruck der Perfektion der Schöpfung deutet. 63 »Le huitain clôt la Creacion au moment de l’expulsion du Paradis terrestre, et marque le peche originel de l’homme […]. Dans la Passion, il intervient lors d’episodes de la vie de Jesus […] qui n’ont pas ete figures par le rondeau quatrain ou le sixain concatene, notamment la Crucifixion et la Redemption. Celle-ci s’acheve par la chalne de quatre huitains ababbcbc8 et trois quatrains abba8 dits par les âmes delivrees des limbe – Adam, Jehan Baptiste, Eve, David et les prophetes (V. 26151–94); Lucifer ne peut, en echo, que clamer sa rage avec cette meme forme [V. 26229–26237]«, Smith, La question du Prologue, S. 160.

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Unique mètre de l’épisode de la Creacion employé par la Créature après son expulsion du Paradis, le rondeau (simple) n’est jamais utilisé par le personnage de Jésus ou pour 1’histoire de ›ses hauts faits‹, à la différence du rondeau quatrain, du sixain concaténé et du huitain: son usage dans la Passion est réservé à 1’umain lignage et aux diables pour ce qu’ils en ont à faire.64

In dieser Einschätzung, aus der Perspektive von Smith’ These zu den Rondeaus als Medium einer hochkomplexen semantischen Makrostruktur besitzen jene, unabhängig von ihrer medialen Darbietung in Aufführung oder Schrift, eine eminente hermeneutische und theologische Bedeutung. Die folgenden Beobachtungen stellen die Frage nach der Funktion und Stellung der Rondeaus nun im Rahmen der Hs. A.

5. Hs. A: Die creacion du monde als Leitfaden der Interpretation der Rondeaus Für seine theologische Deutung der Rondeaus stützt sich Smith auf einen aufschlussreichen Schreiberkommentar: Der Autor der »Passion« habe, so Richer, die kurze creacion einzig deswegen geschrieben, um die Besonderheit der Sünde des Lucifer im Gegensatz zu jener des Menschen herauszustellen: Arnoul Gréban fit ceste creacion / abregee seulement pour monstrer / la differance du peche Du / deable et de l’omme et pourcquoy / le peche de l’homme ha este repare / et non pas celluy du deable, (A, fol. 0v). Mit seiner Untersuchung der Rondeaus in der »Passion« hat Darwin Smith Grébans unterschiedliche Rondeauformen als Hinweis auf eben diese von Richer erwähnte differance du peche gedeutet. Lucifers Rondeau, so deutet Smith und beruft sich dabei auf die Schreibernotiz in Hs. A, »sa forme métrique singulière à tous égards, est sans postérité dans la Passion: elle illustre la ›differance‹ de nature de l’Ange déchu, dont le péché, contrairement à celui d’Adam, ne sera réparé par aucune rédemption (Richer).«65 Doch nicht nur im Paratext der Hs. A, sondern auch im Gréban’schen Prolog zur creacion wird diese konstitutive Rolle des ersten Handlungsabschnitts betont: Vueillez vous pour vo salut taire par une amoureuse scilence si verrez, en briefve sentence, le fait de la crëacion et la noble plasmacion 64 Smith, La question du Prologue, S. 162; die beiden hier angesprochenen Teufel-Rondeaus finden zum einen zu Beginn der Haupthandlung statt, als die Teufel sich entschließen, sich unter die Menschen zu mischen (GP 3944–3951), zum anderen als sie um die Seele des Judas ›spielen‹ (GP 22.089–22.096). 65 Smith, La question du Prologue, S. 157.

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du ciel, terre, anges et humains en brief, car cecy est du mains et comme incident litteral a nostre propos principal. Nostre especïale matiere est d’insister au hault mistere de Jhesus et sa passion, sans prendre autre occupacion. Mais la crëacion du monde Est ung mistere en quoy se fonde tout ce qui deppend en aprés (GP 4–19). Bitte schweigt für euer Heil / in einem liebevollen Schweigen / wenn ihr seht, in kurzer Darstellung, / die Schöpfung und die edle Formgebung des Himmels, der Erde, der Engel und Menschen in kurzer Form, denn sie sind weniger wichtig und wie eine geschichtliche66 Einleitung zu unserem Hauptgegenstand. / Unser besonderer Stoff ist es, das hohe Geheimnis Jesu und seiner Passion festzuhalten, ohne uns ablenken zu lassen. Aber die Erschaffung der Welt ist ein Geheimnis, auf dem alles Folgende aufruht.

Der Prolog begründet die initiale Stellung der creacion und Formung (plasmacion) der Welt für das Passionsspiel; sie diene dazu, den eigentlich wichtigen Handlungsteil, Nostre especïale matiere (GP 13), nämlich das Mysterium der Passion (das hault mistere / de Jhesus et sa passion) vorzubereiten: Denn die crëacion du monde sei das Geheimnis (mistere, GP 18), auf welches sich alles Folgende gründe: en quoy se fonde / tout ce qui deppend en aprés (GP 18f.).67 Diese Aussage bezieht sich ebenso auf die postlapsale Heilsgeschichte wie auf den Text des folgenden Spiels. Auch die Illustrationspraxis der Hs. A stellt, wie eingangs erwähnt (s.o. zu Abb. 1), die creacion du monde auffällig heraus: Als einzige ganzseitige Illustration nimmt gerade sie den meisten Raum ein, obwohl der Handlungsabschnitt, den sie illustriert, der kürzeste des Spieltextes ist. In vier einzelnen Bildern stellt sie vier Szenen der creacion dar und nimmt damit auf einer zahlensymbolischen Ebene das Strukturprinzip dieses Handlungsabschnitts vorweg, der ebenfalls aus vier Teilen besteht. Jaques Richers Vorrede wirft allerdings hinsichtlich der Differenz zwischen Lese- und Spielpraxis der »Passion« grundsätzliche Fragen auf. Die Aussage Richers, dass eben jener erste Teil, die creacion, im Rahmen von Aufführungen ausgelassen werden könne, mutet – stimmt man der These von Darwin Smith zu 66 Vgl. zur Bedeutung von litteral im Sinne von ›geschichtlich‹ auch die Rede vom sens littéral in GP 2853. 67 Vgl. die Passage nach Hs. A ediert von Paris/Raynaud, V. 239–241; vgl. zu diesem Prolog auch Smith, La question du Prologue, S. 163.

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– paradox an: Et pourtant qui vouldroit Jouer / ce present liure / par parsonnages / Il fauldroit prendre et commancer / a ce prologue qui s’ensuit et / ce fait delaissier laditte creacion / abregee (A, fol. 0v). Angelpunkt von Smith’ Interpretation ist schließlich gerade die creacion du monde und die Auslegeordnung bezüglich der verschiedenen Rondeauformen innerhalb dieses Handlungsteils. Die Handschrift A scheint damit Zeugnis zu geben von zwei sehr unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten der »Passion«, die nicht nur den Spielumfang, sondern auch und vor allem die hermeneutischen Potentiale der jeweiligen Versionen grundlegend betreffen: Den Zuschauern einer Aufführung – ohne creacion – wird die Heilsgeschichte vor Augen geführt, ohne dass sie die initiale differance du peche vorgestellt bekommen; die Leser der »Passion« dagegen werden zu einer theologischen Gesamtinterpretation des Spieltextes unter diesem Aspekt angehalten. Für die Interpretation von Smith heißt das, dass sich bei einer szenischen Aufführung die Bedeutung der Rondeaus als Reflexion auf die menschliche Erbsünde nicht erschließt, da mit der creacion auch die ›Urszene‹ des Rondeau Simple fehlt. Vor dem Hintergrund dieser (angenommenen) grundlegenden hermeneutischen Bedeutung der creacion für die Interpretation sämtlicher Rondeaus des Spiels scheint sich also eine Kluft zwischen zwei Rezipientengruppen zu öffnen, insofern Richer ausschließlich den Lesern seiner Handschrift eine genaue Lektüre der creacion nahelegt, bei einer Aufführung diesen Teil aber für verzichtbar hält. Hier nun stellen sich zwei Fragen. Erstens: Bildet das Vorspiel tatsächlich eine notwendige Basis für das Verständnis und die Interpretation der Rondeauformen im Sinne von Smith? Im Kolophon wird zwar explizit hervorgehoben, dass die creacion als Schlüssel dient zum Erkennen des Konzepts der ›Differenz der Sünde‹. Doch Richer erwähnt nicht, dass die Vermittlung dieses Konzepts auch durch die makrostrukturelle Semantik der Rondeauformen erfolgt. Jedenfalls wird von den Rezipienten für die Interpretation des Spieltextes und die Dechiffrierung der numerologischen Symbolik der Rondeaus ein hohes Maß an interpretatorischer Subtilität und geschulter Kompetenz vorausgesetzt.68 Die symbolische Dimension der metrischen Formen scheint zwar als Lektüreangebot in das Spiel eingelassen, doch zugleich, einem Geheimnis gleich, gewissermaßen verborgen. Die ersten Worte des eigentlichen Spieltextes der »Passion« besitzen deshalb sowohl für die Aufführung wie auch für die Lesehandschrift eine hohe Signifikanz: Ouvrez vos yeulx et regardez, / devotes gens qui actendez / a oyr chose salutaire 68 Der kategoriale Unterschied zwischen den Sünden der Menschen und jenen der Engel wird außerdem im ›Paradiesprozess‹ ausführlich thematisiert und ist damit auch in der Aufführungsversion zu Beginn der »Passion« prominent verhandelt. Misericorde argumentiert: Mais la differance est notoire: / l’omme a pechié par vaine gloire / de scïence haulte et notable / dont sa nature estoit capable / mieulx que le mal ange n’estoit / de puissance qu’il appetoit (GP 2641–2646).

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(GP 1–3). Die Medien der Vermittlung von Grébans sündentheologischer Aussage fungieren zugleich als deren Geheimnisträger. Zweitens ist zu fragen, wie gültig der Bericht Richers tatsächlich ist und ob er auf alle Aufführungen der »Passion« zutrifft. Seine Aussagen über drei in Paris abgehaltene Inszenierungen, bei denen die creacion weggelassen worden sei (en ce point [Adams Rede im Limbus] l’ont fait ceulx de | paris qui ont Ja par trois fois | Joue ceste presente passion, A, fol. 0v) können kaum mit guten Gründen angezweifelt werden. Aber nicht auszuschließen ist, dass die creacion gleichwohl Bestandteil anderer und weiterer Aufführungen gewesen ist.69 Die handschriftliche Distribution legt jedenfalls nahe, dass die creacion zumeist als integraler Bestandteil der »Passion« wahrgenommen wurde: Sie ist in den Handschriften A, B (creacion und alle drei Tage), F (creacion und die ersten beiden Tage) sowie H und K (creacion und erster Tag) überliefert.70 Überwiegend weist die Überlieferung der creacion in ein klerikales Milieu: F ist eine Sammelhandschrift, die von einem Kartäusermönch angefertigt wurde71 und weitere religiöse, zum Teil lateinische Texte enthält.72 Auch K weist aufgrund gelegentlicher gelehrter Randnotizen auf einen klerikalen Rezipientenkreis,73 während B im Auftrag einer adeligen Pariser Dame niedergeschrieben wurde.74 Hs. H hingegen ist offensichtlich in einem Aufführungskontext entstanden, was belegt, dass die creacion auch in aufgeführten Spielen integriert sein konnte.75 Zur Aussage Richers, dass in Paris die creacion nicht Bestandteil der Aufführungen gewesen sei, scheint zu passen, dass in Hs. C, welche ebendort entstanden ist, dieser Teil ebenfalls fehlt.76

69 Smith, La question du Prologue, S. 164. 70 Nicht enthalten ist sie somit in C, D, E und G; I/J erlaubt wegen des Fragmentcharakters keinen Rückschluss über den ursprünglichen Umfang. 71 So der Schreibervermerk: Scriptum anno Domini millesimo CCCC° LXIX per fratrem Aubertum, religiosum Carthusiensium conventus Vallis Viridis prope muros parisienses (Hs. F, fol. 209r), zitiert nach Jodogne, S. 12. 72 Hs. F enthält verschiedene Schriften von Caesarius von Heisterbach, u.a. den Dialogus miraculorum (fol. 1r–237v) und auf Französisch Révélations faites par Notre Dame à sainte Elisabeth (fol. 239r–245v). 73 Vgl. Jennequin, La première journée, und Jennequin-Leroy, Premier livre. Die Handschrift stellt vor den Text eine Überschrift, welche auch auf den Beginn mit der creacion hinweist: Premier livre ou premiere journee de l’histoire et passion de Nostre Seigneur Jhesus Christ qui commance a la creation du monde jusques a la Vierge. Die doppelte Selbstbezeichnung livre ou […] journee verweist auf die beiden Rezeptionsformen von Grébans Passion. 74 Siehe zu den spärlichen bekannten Informationen über die Auftraggeberin von B die Hinweise bei Clark/Sheingorn, Performative Reading, S. 133, Anm. 18. 75 Smith, Les manuscrits ›de Théâtre‹, S. 3; Jennequin-Leroy, Premier livre. 76 Warning, Funktion und Struktur, vernachlässigt die Existenz unterschiedlicher Versionen, wenn er grundsätzlich von einer Darbietung des Vorspiels ausgeht (S. 175).

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6. Aufführung und Schrift Angesichts des für die Lektüre notwendigen Bildungsstands stellt es keine Überraschung dar, dass die Verbreitung von Lesehandschriften der »Passion« überwiegend in einem klerikalen Milieu und vereinzelt im städtischen Adel bezeugt ist. Bemerkenswert ist hingegen, dass Richers Kolophon das enge Nebeneinander von Aufführung und Schrift, von privater Lektüre und öffentlicher Darbietung, von klerikaler und laikaler Rezeption bezeugt, indem er auf Darbietungen in Paris referiert und nahelegt, auf Grundlage seiner Lesehandschrift könne auch eine Aufführung organisiert werden (qui vouldroit Jouer / ce present liure). Richers Hinweise zur Aufführbarkeit seines Lesetextes bezeugen somit sowohl eine reflektierte Ausdifferenzierung wie auch zugleich die gegebene Verschränkung von Aufführungs- und Lesepraktiken. Und die Charakterisierung Grébans im Kolophon spiegelt wider, welche hohe theologische Würde dem volkssprachigen Passionsspieltext beigemessen wurde, indem der Schreiber sowohl den klerikalen Stand des Autors als auch den theologischen Gehalt des Textes betont: Et deuez sauoir – es sei also bedeutsam zu wissen –, que maistre / arnoul gresban […] fit ceste creacion / abregee. Der als Theologe und Gelehrte angesprochene Gréban (maistre arnoul gresban notable bachelier en theologie) habe das Spiel, wie Richer unterstreicht, den neutestamentlichen Berichten folgend verfasst: bien au long / selonc les saintes euuangiles. Die Lesehandschrift ebenso wie der Aufführungstext erscheinen aus dieser Perspektive als autorisierte Medien biblischen Wissens und theologischer Lehre. Ob die überaus komplexe, in ihrer metrischen Raffinesse sehr voraussetzungsreiche theologische Semantik der Rondeauformen tatsächlich von allen zeitgenössischen Rezipienten, Lesern wie Zuhörern, dechiffriert und verstanden werden konnte, diese Frage wird sich kaum je beantworten lassen. Doch in Anbetracht der elaborierten metrischen Technik des berühmten Chorleiters Gréban und seines hohen Renommees als Autor und theologischer Autorität sowie des breit bezeugten zeitgenössischen Interesses an einem genauen Studium seines Spieltextes als eines literarischen Werks erscheint die These, dass den Rondeaus eine der theologischen (kerygmatischen) Intention entgegengesetzte (mythologische) Dynamik eigne, an Plausibilität einzubüßen. Dass sich ambivalente Effekte, wie von Rainer Warning angenommen, während einer Aufführung und völlig unabhängig von der im engeren Sinne zeitgleichen ›literarischen‹ Tradition entfaltet haben, wäre jedenfalls angesichts des überlieferungsgeschichtlichen Befundes genauer zu belegen und zu begründen. Einige der Prämissen von Warnings Thesen zur »Zwieschlächtigkeit« von Aufführungen geistlicher Spiele sind meines Erachtens aus der Perspektive der aktuellen mediologischen Neuausrichtung der Spieleforschung neu zu diskutieren, im Einzelnen zu prüfen und allenfalls zu modifizieren. Eine seiner zentralen

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Aussagen jedenfalls, dass sich nämlich die Existenz der Spiele einem epochalen Schauverlangen verdanke,77 muss – wie gezeigt – mit Blick auf die Überlieferung der zahlreichen Lesehandschriften relativiert werden. Ist, wie im Fall der Gréban’schen »Passion«, eine »double diffusion« greifbar, so ist meiner Ansicht nach von Rückkoppelungseffekten zwischen und Interferenzen von Aufführung und Schrift auszugehen: Die zahlreichen Kopien der Spielmanuskripte zeugen von einem Interesse am lesenden Nachvollzug der Texte, von einem präsupponierten Mehrwert der Lektüre, der trotz oder sogar wegen der sozialen sowie rituellen Dimensionen der Aufführungen offensichtlich spezifisch im Rahmen einer privaten, meditativen Rezeptionssituation erzielt werden kann. Dass solche Rezeptionserfahrungen wiederum in die Wahrnehmung von theatralen Aufführungen hineinwirken können, sollte ebenso bedacht werden, wie der umgekehrte Fall, die Aufladung der Lektüre durch Eindrücke von einer Inszenierung. Statt von einem strikten dichotomischen Gegensatz von Aufführung versus Schrift, wie ihn Rainer Warning in seiner Studie von 1974 konzeptualisiert hat, auszugehen, dürfen die historischen und mediologischen Bedingungen möglicher Interferenzen nicht außer Acht gelassen werden. Mein Vorschlag, die Dichotomie von Aufführung und Schrift als dynamisch und nach beiden Seiten hin durchlässig zu begreifen, zielt freilich keinesfalls darauf ab, die rezente mediävistische Forschung wieder ›hinter‹ Rainer Warnings Studie und ›hinter‹ die performative Wende der Spieleforschung zurückzuführen und die mediale Differenz zu nivellieren. Deren Beachtung in der germanistischen Spielforschung der letzten Jahrzehnte verdankt sich maßgeblich seiner bahnbrechenden Studie. Einer mediologisch interessierten Spielforschung stellt sich vielmehr fortan die (aufwändige) Aufgabe, die mediale Differenz zwischen Aufführung und Schrift für jeden Einzelfall möglichst adäquat zu kontextualisieren und zu historisieren.78 Womöglich lassen sich auf diese Weise einige 77 Warning, Funktion und Struktur, S. 220. 78 Wie prekär die Rekonstruktion von Aufführungen ist, sollte dabei, mit Blick auf die handschriftliche Überlieferung, stets mitthematisiert werden. So rekonstruiert Warning hypothetisch die theatrale Aufführung des Descensus in der »Passion du Palatinus«, dem ersten vollständig erhaltenen französischen Passionsspiel aus dem 14. Jh., und mutmaßt, dass der gekreuzigte Jesus und der in die Hölle eintretende, siegreiche Jesus auf einer Simultanbühne dem Publikum gleichzeitig vor Augen gestanden seien: »Es konkurriert also das undramatisch-unanschaubare Bild vom siegreichen Leidensmanne mit dem dramatischanschaubaren von der machtvollen Befreiung durch den roys de gloire (1395), und vor dem Hintergrund dieser konkurrierenden Bilder werden die […] Verse doppelt problematisch. Denn da sie ausdrücklich besagen, daß Gott Vater selbst gekreuzigt wurde, nehmen sie den Kerngedanken der Satisfaktionslehre nicht auf und lassen sie also den da am Kreuze Hängenden nicht mehr als den leidenden Menschen Jesus Christus erscheinen, sondern als die zur Überlistung Satans bloß angenommene Scheinleiblichkeit der Gottheit«, Warning, Funktion und Struktur, S. 164f. Warnings weitreichende Mutmaßungen darüber, was den mittelalterlichen Zuschauern der »Passion du Palatinus« tatsächlich vor Augen stand, kann

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Besonderheiten der Spielhandschriften auch als Stufen einer Transformation der Gattungsspezifika des geistlichen Spiels, vielleicht sogar als eine ›Arbeit‹ an ihren Ambivalenzen verstehen.79

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IV. Figurenkonstellation

Jutta Eming Ambivalenz und figura. Überlegungen am Beispiel der Maria Magdalena

Für eine kritische Reflexion der Bedeutung, die der Begriff der Ambivalenz für die Untersuchung des geistlichen Spiels erlangt hat, wird der Umstand relevant, dass es sich um keinen eingeführten literaturwissenschaftlichen Terminus handelt. Die von Rainer Warning für die Spielforschung erschlossene Kategorie ist ursprünglich ein psychologischer Begriff, der ein Sowohl-Als-Auch in den Einstellungen, Emotionen, intellektuellen Haltungen und Verhaltensweisen realer Personen bezeichnet. Es handelt sich um eine gleichzeitige »Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z.B. Liebe und Haß, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt«1. Diese Polarität entspricht der für die Emotionalitätsforschung wichtigen Auffassung von gemischten Emotionen, welche grundsätzlich auch Verbindungen zum Beispiel von Trauer, Wut, Schuld und Scham meinen kann,2 nur bedingt. Als Kategorie für das extreme Gefühlserleben realer Personen kann sich ›Ambivalenz‹ zunächst eigentlich nur auf Zuschauerhaltungen beziehen. Und so hatte Warning sie – unter anderem – auch verwendet.3 Warning führte diese Haltungen allerdings weitergehend auf Mikro- und Makro-Strukturen des geistlichen Spiels zurück, die er in einzelnen Szeneneinrichtungen analysierte. Diese Rückbindung war vermutlich der Auslöser dafür, dass der Begriff jene ›Karriere‹ innerhalb der deutschsprachigen Spielforschung machen konnte, welche die Herausgeber dieses Bandes problematisieren. Die Tendenz, Begriffe aus anderen Kontexten zu adaptieren, ist grundsätzlich Ausdruck einer dynamischen und dialogischen Entwicklung, die jede Disziplin langfristig braucht. Für die Erforschung des mittelalterlichen Schauspiels ist es sogar mehr als für andere literarische Gattungen unerlässlich, interdisziplinär zu verfahren und zum Beispiel historische, theatergeschichtliche, religionswissen1 Laplanche/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, S. 55. 2 Das Beispiel gibt Ben-Ze’ev, The Subtlety of Emotions, S. 4. Komplexität und Idiosynkrasie sind die zentralen Unterscheidungskriterien von Emotionen gegenüber Affekten, vgl. dazu auch Heller, Theorie der Gefühle. 3 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, v.a. S. 27, S. 100, S. 107, S. 112, S. 116, S. 118, S. 129, S. 172, S. 181, S. 212, S. 220, S. 239, S. 245f.

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Jutta Eming

schaftliche oder intermediale Aspekte zu integrieren.4 Mit Blick auf ›Ambivalenz‹ fällt zwar auf, dass der Begriff trotz seiner mittlerweile breiten Verwendung für das geistliche Spiel noch immer nicht über einen Eintrag im »Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft« verfügt. Der affine literaturwissenschaftliche Begriff wäre Ambiguität, und dieser meint nicht Zwei- oder Doppeldeutigkeit, sondern Mehrdeutigkeit.5 Allerdings soll hier keinem Begriffspurismus um seiner selbst willen das Wort gesprochen werden. Im Folgenden wird vielmehr von der Arbeitshypothese ausgegangen, dass die literaturtheoretische Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der Ambivalenz einen Grund in der Sache hat, der sich für die Diskussion von Ambivalenz heuristisch nutzen lässt. Heikel an den Urteilen über die Ambivalenz geistlicher Spiele ist eine methodologische Spannung, die sich in der Frage ausdrückt, ob die Ambivalenz den Spielen selbst eingeschrieben sei oder ihnen als eine literaturwissenschaftliche Metakategorie anachronistisch aufgeprägt wird. Testfall für die Applikation des Ambivalenzbegriffs ist dabei nicht die Ebene der Struktur der geistlichen Spiele – wie bei Warning –, sondern die Ebene der Figur. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Konstruktionsprinzipien der Figur zentral für die Spiele sind, indem sie ihre übergreifenden Anliegen aktualisieren. Auf der Ebene der Figur zeigt sich somit, dass der Rekurs auf literaturwissenschaftliche Begriffskonventionen keinesfalls den Königsweg darstellt, um das AnalyseInstrumentarium für eine hybride historische Gattung wie das geistliche Spiel zu klären. Mit dem Konzept der Figur wird zugleich eine weitere, gerade für mediävistische Untersuchungsgebiete zentrale Form der Begriffsreflexion virulent, die der historischen Semantik. In diesem Sinne geht ich im Folgenden anhand der Untersuchung der vorgeblich ambivalenten Figur der Maria Magdalena der allgemeinen methodologischen und literaturgeschichtlichen Frage nach, ob das Konzept der Ambivalenz für diesen Texttyp nicht besser zu suspendieren sei. Dafür wird sowohl danach gefragt, ob und inwiefern sich davon sprechen ließe, dass die im Spiel auftretenden Figuren ambivalent konzipiert sind, als auch danach, in welchem Sinne davon auszugehen ist, dass in einem geistlichen Spiel ›Figuren‹ auftreten. Dabei wird zwischen der möglichen Ambivalenz einer Figur, der Ambivalenz einer Rezeptionshaltung und von Szeneneinrichtungen, die ambivalent exponiert sind, unterschieden.

4 Dies gilt nicht nur für die deutsche Forschung, sondern auch auf internationaler Ebene, vgl. Enders, Medieval Stages. 5 Vgl. Bode, Ambiguität.

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1. Zum Begriff der Figur Der Begriff der Figur erzeugt, sobald er in den Kontext des geistlichen Spiels transferiert wird, ebenfalls aufschlussreiche Friktionen. Dies ist jedoch in erster Linie in seiner modernen Begriffstradition begründet. Für den literaturwissenschaftlichen Begriff ›Figur‹ wird heute zwischen den Verwendungen für eine rhetorische Figur, für die hermeneutische Tradition der Typologie und für eine ›fiktive Gestalt in einem dramatischen, narrativen oder auch lyrischen Text‹ unterschieden.6 Letztere deckt sich nicht mit dem historischen und theologischen Verständnis der Darsteller7 in geistlichen Spielen, dem zufolge Maria Magdalena ebenso wenig als fiktiv gelten kann wie andere Figuren des biblischen historischen Geschehens. Gottvater, Christus, Engel oder Teufel, die ebenfalls zum Personal der religiösen Spiele gehören, scheinen den Begriff ganz zu sprengen. Dies ist auch aus dem Grunde zu erwähnen, als im Folgenden durchaus, in Ermangelung einer besseren Bezeichnung, zum Beispiel von ›Teufelsfigur‹ gesprochen wird. Dabei wird zugleich unterstellt, dass diese nicht auf derselben Ebene anzusiedeln ist wie etwa die Figur der Maria Magdalena. Grundsätzlich wird der Begriff der Figur auf dieser Ebene unter Vorbehalt und in Ermangelung einer adäquaten Bezeichnung für die spezifischen dramatis personae des mittelalterlichen Schauspiels verwendet. Von Ambivalenz wird im Zusammenhang mit ›Figur‹ im Reallexikon-Artikel von Platz-Waury ebenfalls nicht die Rede; es wird einzig die bekannte Definition einer sogenannten offen konzipierten Figur angeführt, die »wegen der Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit der Informationen poetische Ambiguität«8 schaffe. Das geistliche Spiel wird nicht eigens genannt, dramatische Figuren des Mittelalters und der Frühen Neuzeit werden jedoch summarisch eher als Verkörperungen abstrakter Prinzipien aufgefasst.9 ›Figur‹ gehört darüber hinaus jedoch zu den Eigenbezeichnungen der geistlichen Spiele,10 und dies in einer charakteristischen oszillierenden Semantik, die 6 Platz-Waury, Figur, S. 587. 7 ›Darsteller‹ ist eine – etwa von Freise, Geistliche Spiele in der Stadt, S. 285–310, 494–496 et passim verwendete Bezeichnung für die bei geistlichen Spielen übliche Gewohnheit, nicht auf professionelle Schauspieler zurückzugreifen, sondern Rollen in erster Linie entlang städtischer Hierarchien zu vergeben. Aspekte wie Alter, Stimme, Bildung der Darsteller spielten allerdings ebenfalls eine Rolle. So ist davon auszugehen, dass die Figur des Jesus auf Grund der umfangreichen Sprech- und teilweise Singanteile nur von Klerikern verkörpert wurde, vgl. ebd., S. 313. 8 Platz-Waury, Figur, S. 587. 9 Ein hohes Maß an Abstraktion bestimme die Figurenkonzeption (bzw. Personifikation) im mittelalterlichen Moralitätendrama und im barocken Jesuitendrama, vgl. Platz-Waury, Figur, S. 588. 10 Vgl. Schulz, Die Eigenbezeichnungen des geistlichen Spiels.

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Glenn Ehrstine vor einiger Zeit entfaltet hat: für »u.a. ein ganzes Spiel, einen Spielabschnitt, die dazugehörige szenische Kulisse oder auch ein tableau vivant«11. Für den hier weiter zu verfolgenden Zusammenhang hat eine von Ehrstine als ›inszenierte Körper‹ bezeichnete Ebene der Spiele besondere Bedeutung. Sie bezieht sich auf eine durch die Darsteller hergestellte sinnliche Präsenz der figurae, welche für die Zuschauer zum Erkenntnismedium werden soll.12 Ehrstine hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Gesten, stummen Pantomimen oder Gesangseinlagen hervor, die für diese Form von Präsenz letztlich stärker ins Gewicht fielen als Sprechanteile der Darsteller.13 Erich Auerbach hatte in seinem berühmten Aufsatz die sinnliche und als solche erkenntnisstiftende Dimension von ›Figur‹ mit im Blick.14 Es handelt sich gerade nicht um die bekannteste – jene nämlich, welche typologische Bezüge in den Spielen betrifft. Stattdessen geht es um ein älteres Begriffsverständnis von figura, welches durch Kriterien wie Anschaulichkeit und Beweglichkeit bestimmt ist und das Auerbach im expositiven Teil seiner Abhandlung eingehend erläutert.

2. Zur These der Ambivalenz der Maria Magdalena Was nun könnte an Maria Magdalena ambivalent sein? Diese Frage ist grundsätzlich für die Maria Magdalena der Spiele, der Legendarik oder der biblischen Überlieferung, wenn es hier denn überhaupt eine Figur dieses Namens gibt,15 unterschiedlich zu beantworten. Im Folgenden geht es nur um die Spiele, und zwar genauer nur um solche, welche das sogenannte ›Weltleben‹ der Figur exponieren.16 Was dieses mit einer Ambivalenz Maria Magdalenas zu tun haben könnte, ist von Werner Röcke und Julia Weitbrecht eingehend besprochen worden.17 Beide binden diese Ambivalenz an das mit Maria Magdalena verknüpfte Thema der Konversion. Wie Röcke ausführt, vollzieht sich in den Spielen eine ›Bewe11 Ehrstine, Das figurierte Gedächtnis, S. 416. Vgl. zur Schwierigkeit, mittelalterliche Eigenbezeichnungen der Spiele und theoretische Abhandlungen über dramatische Genres mit modernen Kategorien des Theatralen zu korrelieren, auch Clopper, Drama, Play, and Game. 12 Vgl. Ehrstine, Das figurierte Gedächtnis, S. 417–422 et passim. 13 Vgl. Ehrstine, Das figurierte Gedächtnis, S. 419. 14 Vgl. Auerbach, Figura. 15 Zum Problem, dass die Bibel selbst keine eindeutigen Belegstellen für die Identifikation von Maria Magdalena mit einer Prostituierten hergibt, welche das christliche Dogma aus ihr machte, vgl. Eming, Maria Magdalena, S. 70f., mit weiteren Literaturangaben. 16 Maria Magdalena als zentrale Figur des Ostergeschehens vertritt eine eigene Spieltradition, die allerdings partiell in die großen Passionsspiele des Spätmittelalters aufgenommen wird. Vgl. grundlegend Hennig, Die Klage der Maria Magdalena. 17 Vgl. Röcke, Maria Magdalena und Judas Ischarioth; Weitbrecht, Weltleben.

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gung‹ der Figur zwischen den Polen von Gut und Böse bzw. von Böse und Gut. Maria Magdalena überschreite in den Passionsspielen »die Grenze vom Bösen zum Guten«, sie erlebe »nach der Erfahrung des Bösen erst recht die Gnade der Vergebung«18. Diese in den Spielen – ebenso wie in Legenden – grundsätzlich nicht mehr revidierte Bewegungsrichtung vom Bösen zum Guten oder von der Sünde zur Konversion beschreibt allerdings einen Prozess, keinen Zustand der Ambivalenz.19 Als ambivalent könnte die Konversion Maria Magdalenas retrospektiv erscheinen oder auf das Gesamt der Spiele gesehen, und zwar wiederum dann, wenn der Wahrnehmungsprozess einer realen Person – eines Zuschauers – gemeint ist. Dieser könnte sich gleichsam resümierend und mit Blick auf das Gesamt der Spiele gesehen aus den entgegengesetzten Pole zusammensetzen, welche Maria Magdalena in ihnen nacheinander durchläuft. Von diesem Sonderfall abgesehen, hat die Konversion auf der Ebene der Figur mit Ambivalenz wenig zu tun. Daneben wird von Röcke und Weitbrecht jedoch ein weiterer Aspekt von Ambivalenz akzentuiert, der nicht mehr prozessual gedacht ist, sondern aus einer spezifischen Verbindung aus Sündhaftigkeit und Attraktivität resultiert, welche die Figur der Maria Magdalena kennzeichne. Maria Magdalena, so Röcke, bezieht »aus dem bewußten Verstoß gegen die normativen Grenzen der Heilsgeschichte und der neuen Erfahrung in der Welt des Bösen« ihre Faszination.20 Insbesondere eine ›Selbstermächtigung‹ im Sinne einer Verherrlichung ihres Körpers trage zu dieser Wirkung bei.21 Röcke schließt von der Anlage der Figur in einer spezifisch konstruierten Szene damit auf eine Rezeptionshaltung, genauer: auf Faszination. Letztere ließe sich als Haltung zwischen Abwehr, Unterhaltung und wiederum Anziehungskraft verstehen. Mit solchen ambivalenten Rezeptionshaltungen hatte auch Warning argumentiert und diese im Ambivalenz-Begriff der Psychoanalyse fundiert.22 Julia Weitbrecht hat Röckes Thesen aufgenommen und weiter entwickelt. Sie bezeichnet Maria Magdalena grundsätzlich als »eine der populärsten und zugleich ambivalentesten Konversionsfiguren«,23 eine Ambivalenz, welche auch aus der synkretistischen mittelalterlichen Konstitution der Figur gegenüber der biblischen Überlieferung resultiere. Aus ›medialen Gründen‹,24 das heißt aus 18 Röcke, Maria Magdalena und Judas Ischarioth, S. 82. 19 Vgl. auch die Argumentation bei van den Wildenberg-de Kroon, Weltleben und Bekehrung, S. 71f., die hervorhebt, dass Maria Magdalena in den Weltleben-Szenen deshalb so eindeutig als Sünderin dargestellt werden könne – eindeutiger als in der bildenden Kunst –, weil sie im Szenenwechsel einen Prozess von Sünde, Reue und Bekehrung durchlaufe. 20 Röcke, Maria Magdalena und Judas Ischarioth, S. 84. 21 Vgl. ebd., S. 88. 22 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 212. 23 Weitbrecht, Weltleben, S. 484. 24 Vgl. ebd., S. 495.

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Gründen der Verfügbarkeit über Darstellungsmittel, wie sie insbesondere die Aufführung eines Schauspiels ausmachen, rücken Weltleben und Bekehrung im Spiel gegenüber dem tugendhaften Leben der Maria Magdalena in den Vordergrund. Die Aspekte des sündigen Weltlebens werden dabei voll ausgespielt und konzentrieren sich auf Müßiggang, Genuss und den unreglementierten Umgang der Geschlechter miteinander.25 Weitbrecht hebt hervor, dass Maria Magdalenas Leben ›davor‹ ostentativ gemacht würde, um die Bekehrung zu plausibilisieren, dass sich Maria Magdalena als Figur damit jedoch zugleich verselbstständige.26 Diese These kann gewichtige Argumente aus der Gattungsgeschichte und solchen Spielen beziehen, welche diesen Aspekt der Figur breit entfalten. Dazu gehört das »Ludus Maria Magdalenae in gaudio« (»Erlau IV«).

3. Typik der Weltleben-Szenen Die Beobachtungen Weitbrechts sind neben dem kurzen »Ludus Maria Magdalenae in gaudio« vor allem am »Donaueschinger Passionsspiel« gewonnen. Sie lassen sich durch weitere Forschungen zu den Weltleben-Szenen ergänzen. Weltleben-Szenen haben keine liturgischen Wurzeln;27 insbesondere der frühesten, der des »Benediktbeurer Passionspiels«, wird – etwa auf Grund der Verwendung der lateinischen Sprache und eines hohen Symbolcharakters der Szenen – dennoch eine Nähe zur Liturgie zugesprochen.28 Zu den Spielen, welche solche Szenen aufweisen, gehören das »Benediktbeurer«, das »Wiener«, das »Maastrichter«, das »Frankfurter«, das »Kreuzensteiner«, das vierte »Erlauer«, das »Donaueschinger« und das »Alsfelder Passionsspiel«.29 Indices der weiteren Stufen in der Entwicklung zum Drama sind dann etwa die Entwicklung der Teufelsfigur,30 der zunehmend Sprech- und Handlungsanteile zugeschrieben werden, und die Beifügung weiterer kontrastiver Spielfiguren wie Musiker31 sowie die Gestalt der Schwester Martha. Aus den Regieanweisungen geht hervor, dass Maria Magdalenas Haartracht häufig eine Rolle spielt, wie auch hochwertige Kleidung, Tanz – allerdings nur in drei Spielen als regelrechte Handlung –,32 Gesang und ein gewisses hoch25 Vgl. ebd., S. 496. 26 Vgl. ebd., S. 495. 27 Vgl. Hoffmann, Magdalenenszenen, S. 48. 28 Vgl. ebd., S. 50f., und ebd., S. 50: »Die Doppelszene Weltleben – Bekehrung symbolisiert die Verstrickung der Seele in Sünde und Schuld und ihre Erlösung durch Reue und Buße.« 29 Vgl. van den Wildenberg-de Kroon, Weltleben und Bekehrung, S. 28. 30 Vgl. Hoffmann, Magdalenenszenen, S. 51f. 31 Vgl. van den Wildenberg-de Kroon, S. 64. 32 Wiener, Frankfurter Passionsspiel, Alsfeld, vgl. van den Wildenberg-de Kroon, Weltleben, S. 78–84.

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trabendes Auftreten, das von den Regieanweisungen (pompose, habitu superbo, arroganter, stolczlichenn) entsprechend eingefordert wird.33 Dazu unterstützen Requisiten wie ein Spiegel Maria Magdalenas Auftritt, im »Donaueschinger Passionsspiel« auch ein Schachspiel.34 Die frühe Weltleben-Szene des gemischtsprachigen »Großen Benediktbeurer Passionsspiels« konfiguriert Maria Magdalenas fehlgeleitetes Leben als eine Form von Idolatrie. ›Welt‹ fungiert hier als eine regelrechte Größe, der sich Maria Magdalena willentlich unterwirft: Mundi delectatio eius conuersatio

dulcis est et grata, suavis et ornata. (V. 19f.)

[Die Lust, die die Welt gewährt, ist süß und angenehm, weltlicher Lebenswandel ist verlockend und schön.] Wol dir werlt, daz du bist also vreudenreiche! Ich wil dir sin vndertan durch dein liebe immer sicherlichen. Seht mich an, iunge man, lat mich ev gevallen. (V. 46–52)

Die so exponierte Gefallsucht bietet das Bindeglied zur Salbenkrämerszene, welche im vorliegenden Spiel den Kern des Weltlebens ausmacht. Gedeutet werden diese Szenen zumeist mit Blick auf die zentralen Elemente auf den Typus der Verführerin35 oder Prostituierten. Aber jede Weltleben-Szene ist anders angelegt und funktionalisiert die oben summarisch angeführten Requisiten und Themen auf eigene Weise. Reizvoll ist das von Weitbrecht ausführlich analysierte Weltleben-Spiel aus der Erlauer Überlieferung (»Ludus Maria Magdalena in gaudio«), das von einem ›Auswahlgespräch‹ Luzifers mit mehreren animae eingeleitet wird, die er entweder als Sünder in die Hölle einlässt oder fortschickt. In diesem Zusammenhang fällt sein Blick auf Maria Magdalena als einer möglichen Kandidatin für die Hölle. Im Folgenden wird jedoch die Weltleben-Szene aus dem »Alsfelder Passionsspiel« betrachtet, die auch für Röckes Überlegungen eine wichtige Rolle spielt.36 Sie ist nicht nur die ausführlichste innerhalb der Hessischen Passionsspielgruppe, sondern verfügt auch über das besonders aussagekräftige Element des Tanzes. 33 Vgl. ebd., S. 67. 34 Vgl. ebd., S. 64. 35 Mit Blick auf das »Benediktbeurer Passionsspiel« vgl. vor allem Adam, Maria Magdalena, S. 230–245 (mit einem Exkurs zur Prostitution im Mittelalter). 36 In meinen Ausführungen kehrt eine frühere Analyse aus Eming, Maria Magdalena, wieder.

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4. Die Weltleben-Szene im »Alsfelder Passionsspiel« Auch im Weltleben-Teil des »Alsfelder Passionsspiels« wird Maria Magdalena über breiten Raum als singende, flirtende und tanzende junge Frau dargestellt, die ihren weltlichen Interessen hingegeben ist und dabei – wie im Erlauer Spiel – durch eine Teufelsfigur kontrastiert wird. Die musikalischen Anteile sind in der Szene ungewöhnlich ausgearbeitet – wie im gesamten »Alsfelder Passionsspiel«, das Johannes Janota deshalb auch als »Musiktheater« bezeichnet hat.37 Maria Magdalenas Auftritt wird von einem vigellator und weiteren Teufeln begleitet, die teilweise mit ihr zusammen tanzen. Erhaltene Dokumente sprechen dafür, dass die Rolle, wie in der Spielpraxis der Zeit üblich, von einem Mann übernommen worden ist; da in Alsfeld jedoch vermutlich bei allen Frauenrollen Wert darauf gelegt wurde, dass sie mit eher knabenhaften Männern besetzt wurden, die über eine helle Stimme verfügten, lässt sich davon ausgehen, dass der Darsteller ausreichend feminine Züge für ein überzeugendes mimetisches Spiel mitbrachte.38 Dieses Spiel muss Maria Magdalenas Affinität zur Sünde klar und eindeutig verkörpern. Die Sündhaftigkeit, um die es geht, ist in der Szene aber mehrschichtig angelegt. Auffällig ist dabei die Betonung von Anschaulichkeit: Maria Magdalena ist schön, und eine Funktion der Teufelsfigur liegt darin, diesen Umstand für das Publikum zu fokussieren. Luzifer wird dementsprechend nicht müde, in seinen Sprechanteilen auf ihre Schönheit hinzuweisen (vgl. die hervorgehobenen Redepartien im folgenden Zitat). Zugleich soll Maria Magdalenas hochfahrende, ja aufreizende Körperhaltung – so schreiben die Regieanweisungen es vor – den Eindruck vermitteln, dass diese Schönheit korrumpiert, verderbt ist: Hoc facto Maria Magdalena superbo habitu incedit cum Lucifero et alijs demonibus corisans. Luciper dicit:39 37 Janota, Zur Funktion der Gesänge, S. 115. 38 Freise, Geistliche Spiele in der Stadt, S. 311f. schließt dies aus Aufzeichnungen des Spielleiters in Luzern mit Anweisungen zur Besetzung von Rollen, die etwa 80 Jahre nach den Alsfelder Aufführungen entstanden sind. Den späteren der insgesamt vier erhaltenen Nachrichten über Aufführungen des »Alsfelder Passionsspiels« (in den Jahren 1501, 1511 sowie zweimal 1517) lässt sich ein Darstellerverzeichnis zuordnen, dem bei der Rolle der Maria Magdalena nur noch ein Nachname zu entnehmen ist (vgl. die Dokumentation bei Freise, Geistliche Spiele in der Stadt, S. 563). Es ist also grundsätzlich nicht möglich zu entscheiden, welchen Geschlechts die Person war. Die allgemeinen Zeitumstände sprechen, wie erwähnt, gegen eine Frau. 39 Die Regie- bzw. Bühnenanweisungen des »Alsfelder Passionsspiels« sind, wie in den volkssprachlichen Spielen häufig, in lateinischer Sprache fixiert. Dies lässt verschiedene Rückschlüsse auf den Gebrauchszusammenhang der Spiele zu, in erster Linie den, dass sie auch dann, wenn sie überwiegend mit Laiendarstellern besetzt waren, von lateinkundigen sog. ›Spielleitern‹ inszeniert wurden, also Angehörigen des Klerus. Freise, Geistliche Spiele, S. 328–334, vermutet, dass in Alsfeld wie in Friedberg oder Luzern eine Bruderschaft für die Inszenierung verantwortlich zeichnete.

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[An diesem Punkt tritt Maria Magdalena in hochtrabender Weise mit Luzifer und einigen Dämonen auf, die (auf der Bühne) herumlaufen. Luzifer sagt:] Wan, Maria, bie schone bistu gestalt! dye man werden nummer alt, die dich anschauwen. die schonheyt aller frauwen die hostu genczlich woil an der, des saltu gleuben mer. nu sich her an dit spiegelglaß der schonestn schone, der du hoist. nach schoner dann noch ye keyn wypp, sich, szo schone ist dyn lipp. man sal vns aber lieren, ich wyl dich wol denczerenn (V. 1770–1781)

Die Bedeutung der Anschaulichkeit einer Figur – im Sinne einer szenischen Darbietung – im geistlichen Spiel ist zuletzt unter anderem von Jan-Dirk Müller hervorgehoben worden: »Eine ›Figur‹ ist anschaubar-präsent, insofern buchstäblich wahr, und sie ist gleichzeitig Erscheinungsform einer unanschaulichen, spirituellen Wesenheit. […] ›Sehen‹ ist deshalb beim geistlichen Spiel immer mehr als bloßes Zuschauen, nämlich Stimulus der Meditation.«40 Dies entspricht der von Ehrstine betonten »fließende[n] Mehrdeutigkeit des Begriffs [der Figura]«, welche auf »eine allgemeine Rezeptions- und Wahrnehmungsästhetik hin[weist], bei der das Betrachten eines Spiels direkt in Heilserfahrung überging.«41 Ehrstine stellt in einem neueren Aufsatz zum »Zerbster Fronleichnamsspiel« verschiedene Quellen vor, aus denen hervorgeht, dass die andächtige Betrachtung von figurae als ablasswirksam verstanden worden ist.42 Der Umstand, dass bestimmte Körperhaltungen der versprochenen Heilswirksamkeit förderlich sein sollten, generiert damit eine eigene Theatralität der Zuschauerhaltung.43 Die Betonung von Maria Magdalenas Schönheit in der Weltleben-Szene des »Alsfelder Passionsspiels« lässt sich als Indiz dafür werten, dass die Zuschauer oder Rezipienten an dieser etwas ersehen und verstehen sollen. Ihr Körper wird zu einem sinnlichen Instrument der Erkenntnis und damit in einem Sinne zu einer figura, den Auerbach in seinem wichtigen Aufsatz mit thematisiert hatte.44 In der Rezeption von Auerbachs Aufsatz ist er angesichts der großen Bedeutung der dort entwickelten Figuraldeutung oder Typologie für die Erforschung der christ40 Müller, Symbolische Kommunikation, S. 335. 41 Ehrstine, Das figurierte Gedächtnis, S. 417. 42 Vgl. Ehrstine, Ablass, Almosen, Andacht, passim. 43 Vgl. auch die Untersuchung zu Andachts- und ›Schauhaltungen‹ bei Ehrstine, Ubi multitudo, ibi confusio. 44 Vgl. Auerbach, Figura, S. 57f.

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lichen Hermeneutik jedoch eher vernachlässigt worden. Erst in letzter Zeit erfahren diese Begriffsebenen verstärkte Aufmerksamkeit.45 Dafür werden lateinische Begriffstraditionen mit berücksichtigt, die auch Auerbach untersucht hatte.46 Eine zentrale Rolle spielen aufbauend auf der lateinischen Begriffstradition von figura als Gestalt dabei Vorstellungen von Plastizität oder Gestalt-Gebung. Figur wird ferner als »etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes«47 gedacht. Auerbach verfolgt in seinem Aufsatz die semantische Verschiebung dieses ursprünglichen Verständnisses von Figur als Plastik hin zu Zeichenhaftigkeit, die für das Mittelalter eine bedeutende Rolle spielt; er zeigt an Dante aber schließlich auch, dass ›Figur‹ neben der Verkörperung einer Idee immer noch zugleich auch ›Gestalt‹ ist. Deshalb ist sie Auerbach zufolge letztlich von der Allegorie zu unterscheiden, obwohl beide Begriffe im Mittelalter teils unterschiedlich, teils synonym verwandt werden. Diese unauflösliche Verbindung von unmittelbarer Anschaulichkeit und zeichenhaftem Potential, das bis zur Allegorie ausgespannt werden kann, ist es, welche den Auftritt von Maria Magdalena kennzeichnet.

5. Von der Figur zur Allegorie Niklaus Largier zufolge ist der Rückgriff Auerbachs auf die lateinische Tradition, zum Beispiel auf Tertullian, so zu verstehen, dass er aus der Begriffstradition des Figuralen eine Dimension herausschälen sollte, in der dieses »zunächst keine tiefere Bedeutung, kein spiritueller Schriftsinn«48 ist. Es gehört zur »plastischen und körperlichen Gestalt historischer Vorgänge, das diese in der Sprachwirklichkeit und damit auf der Ausdrucksebene bildhaft-konkret – und durchaus versehen mit einem satten Bedeutungspotential – miteinander verbindet.«49 Und dieses »Bedeutungspotential ist«, so Largier, »ganz im Wahrnehmungsmoment aufgehoben.«50 Dies gilt auch für die Figuraldeutung selbst, die Largier zufolge aus dem Erkennen der Ähnlichkeit zwischen zwei historischen Ereignissen besteht, welche ›innergeschichtlich und wirklichkeitsgesättigt‹ sind, ohne ›etwas Spezifisches zu bedeuten‹.51 Die Bindung an Sprache, die Largier mit Blick auf das Wahrnehmungsmoment hervorhebt, tritt zur Ebene der Plastik oder Gestalthaftigkeit dabei ebenso wenig in Widerspruch wie zu einer dritten, der Ebene der Bewegung oder Choreogra45 Einen Überblick mit Ansätzen für neue Fragestellungen gibt Kiening, Einleitung. 46 Vgl. dazu demnächst Eusterschulte/Krüger (Hgg.), Figurales Wissen. 47 Auerbach, Figura, S. 55. 48 Largier, Zwischen Ereignis und Medium, S. 59. 49 Ebd., S. 59. 50 Ebd., S. 60. Vgl. zum Thema ebenso Largier, Allegorie und Figuration. 51 Vgl. Largier, Allegorie und Figuration, S. 42.

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phie, welcher die Tanzwissenschaft besondere Beachtung geschenkt hat.52 Im Zusammenhang der Konjunktur der Bildtheorie in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist ferner in der klassischen Philologie die antike Auffassung von konkreter Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit unter dem Begriff der Anschaulichkeit wieder in die Diskussion eingeholt worden. Dabei geht es im Sinne einer ›Archäologie des Wissens‹53 darum, eine Tradition antiken Denkens in Erinnerung zu rufen, welche Bild und Begriff als unauflöslich miteinander verbunden erachtet.54 ›Tanz‹ bildet das Stichwort, mit dem wieder an das »Alsfelder Passionsspiel« angeknüpft werden kann, um die gerade skizzierte Figürlichkeit in der dramatischen Darstellung nachzuvollziehen. Das Besondere der Szene liegt darin, dass sie einen Tanz als Element der Handlung vorsieht. Darauf wird bereits sprachlich hingeleitet: Maria Magdalena respondit demonibus: Ja, viel lieben knecht, er kommet mer wol gerecht! du fugest mer freyden gnungk, du bist woil myn gefug! du hilffest danczen und singen: ich wel myt der springen manchen folichen sprungk! (V. 1770–1788)

Musik, Tanz, Werbungssituation und Schmeichelei sowie die Inszenierung weiblicher Eitelkeit und Körperlichkeit konstituieren schon in den ersten Szenen, in denen Maria Magdalena auftritt, einen Ereigniszusammenhang.55 Maria Magdalena ist in ihm Zentrum einer beweglichen, sprachlich gestützten Konfiguration von Hingabe an das Materielle. Diese ist, unterstützt durch die eingebetteten Redeanteile, zunächst ganz darauf ausgerichtet, ihre Wirkung zu entfalten. Dieser vor allem temporale Aspekt der avisierten Rezeption ist wichtig: Die Szene wird noch nicht unmittelbar in Hinblick auf den sündhaften Zusammenhang von vanitas, luxuria und Sünde transparent, um den es hier auch geht. Diese Verweisfunktion, welche man als allegorisches Potential der Szene bezeichnen könnte, ist nachgeordnet. Um noch einmal Largier aufzunehmen und zuzuspitzen: Maria Magdalena ist als Figur im Sinne Auerbachs sowohl Ereignis als auch 52 Vgl. Brandstetter, Figura: Körper und Szene. 53 Die Metapher der Archäologie erfasst dabei den Umstand, dass es sich bei der Begriffsgeschichte weniger um eine Geschichte allmählicher Klärung und Verfeinerung als um eine der Diskontinuität und der Brüche handelt, wie Foucault, Archäologie des Wissens, S. 9–30, erläutert. 54 Vgl. Radke-Uhlmann/Schmitt, Anschaulichkeit. 55 Vgl. dazu auch den Versuch, die Bewegungsregie grafisch nachzuvollziehen, bei Vogelgsang, Kommentar, S. 225f.

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Medium, und sie wird schließlich potentiell zum Zeichen, zur Allegorie.56 Um als Medium dienen und zur Allegorie werden zu können, muss sie jedoch erst einmal als Ereignis ihre Wirkung entfalten. Ihre Wirkung entfaltet sich in diesem Sinne mehrschichtig, prozessual und temporal. Die Wirkung unterstützt der in der Szene sich dann tatsächlich anschließende Tanz, der von einem Musiker begleitet wird und damit, so Ursula Schulze, »eine Szene von außerordentlicher Evidenz« konstituiert.57 Tanz, im Mittelalter immer verdächtig,58 könnte im vorliegenden Spiel über die aktuelle Szene hinaus sogar einen Binnenbezug zum früher im Spiel bereits inszenierten Tanz der Stieftochter des Herodes errichtet haben, die mit der Tötung Johannes’ des Täufers endet (V.  878–1039). Dies hat sich womöglich in Entsprechungen zwischen Gesten und Bewegungen niedergeschlagen.59 Hier ließe sich eine Bewegungsdynamik vorstellen, über welche für die Zuschauer in der konkreten Anschauung der tanzenden Maria Magdalena sukzessive ein Assoziationszusammenhang zur Herodestochter konstituiert wird. Zwischen einer Figur und der nächsten wird der Tanz damit zur speziellen Konfiguration, ja zur Allegorie von Sünde, aber das konkrete Ereignis geht immer voraus. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig zu betonen, weil es diese Szenen ausladender Exponierung von Sinnlichkeit sind, in denen Werner Röcke und Julia Weitbrecht die Grundlage für eine ambivalente Konstruktion der Figur der Maria Magdalena sehen. In der Formulierung von Röcke: »Die ostentative Ausstellung des sündigen Weltlebens wird ihre eigene Faszination auf das Publikum ausgeübt haben und mag sich der paränetischen Intention des Spiels mitunter auch entzogen haben.«60 Dies hieße, dass Sünde dann, wenn sie unterhaltend oder faszinierend wirkt, ambivalent wird. Dies ist tatsächlich der Punkt, über den eingehender zu reflektieren nötig wird. Wirkt Maria Magdalenas Verhalten durch den Umstand, dass ihr Auftritt unterhaltend ist und sie selbst schön, weniger negativ? In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die ›Faszination‹, die hier immer wieder genannt wird, erst einmal kein positiver Begriff ist. Faszination, das bestätigen die dämonischen Ursprünge des Begriffs,61 ist gerade deshalb gefährlich, weil sie sich auf unterschiedliche Gegenstände beziehen kann. 56 Diese drei Funktionen werden von Kiening, Einleitung, S. 15f., systematisch als mögliche Dimensionen von figura beschrieben. Die verweisende Funktion spielt auch in der Argumentation von Ehrstine, Das figurierte Gedächtnis, eine wichtige Rolle. 57 Schulze, Geistliches Spiel, S. 152. 58 Vgl. zu Ambivalenz und potentieller Teufelsnähe des Tanzes Schmitt, Die Logik der Gesten, sowie Zimmermann, Teufelsreigen – Engelstänze. 59 Vgl. Freise, Geistliche Spiele in der Stadt, S. 405; zum Salome-Tanz im Mittelalter vgl. Zimmermann, Teufelsreigen – Engelstänze, S. 227–287. 60 Weitbrecht, Weltleben, S. 501. Weitbrecht zufolge entzieht sich Maria Magdalena dem ›Heilsspektakel des geistlichen Spiels‹, vgl. ebd., S. 500f. 61 Vgl. Baisch, Medien der Faszination, insbesondere S. 221–227.

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Die suggestive Kraft, welche die Tanz-Szene um Maria Magdalena mitsamt ihrem differenzierten Handlungs- und Anschauungsradius entfaltet, resultiert aus ihrem Status als figura im ursprünglichen von Auerbach hergeleiteten Sinne. Durch sie wird sündhaftes Verhalten nicht konterkariert, kontrastiert oder einer ambivalenten Deutung unterzogen, sondern gerade erkenntlich und verständlich. Die Szenen zeigen buchstäblich, wie Sünde aussieht und wie sie funktioniert. Die Bedeutung von Tanz, Musik, Gestik und einigen Requisiten liegt in diesem Zusammenhang also nicht nur in der Notwendigkeit, Präsenz zu erzeugen (wie Ehrstine betont), sondern um zusätzlich zu ihrer hochfahrenden Sprache einund ansichtig zu machen, dass Maria Magdalenas Schönheit die Sünde eingeschrieben ist – dass sie buchstäblich sündhaft ist. Sünde ist kein Gegensatz zur Schönheit, sondern ihre Konstituente. Es ist deshalb vollkommen konsequent, wenn Maria Magdalena im Zuge ihrer conversio alle Vorzüge ihres Körpers und die Requisiten zu seiner Verschönerung aufzählt, in denen sich die vorausgegangene verblendete Orientierung ihres Lebens manifestiert: Nu geseyne mich hude allermeynst gott vatter, sone und heilgeyst. owe, rosenkrencz, owe myner swencz, owe, gele gebende, owe myner wyszen hende, owe myner hoffart, owe, das ich ye geborn wart. […] ich byn nit wirdigk, das die erde trage mich, ich hon gesundiget leyder. woil hen, ir vorfluchten kleyder, ir hot mich gar vorwont vnd gesencket yn der helle grunt. (V. 1994–2015)

Der Begriff von Sünde (vgl. V. 2012), der in diesem Bekenntnis einer Umkehr entwickelt wird, ist in einem Verständnis von Materialismus fundiert, der mit einer Vernachlässigung der einzig entscheidenden, transzendenten Dimension einhergeht. Er steht in der Tradition von luxuria als einer »genetische[n] Prädisposition für Sinnlichkeit«,62 eines sündhaften Hangs zum Laster, der zu kontrollieren dem Menschen aufgegeben worden ist. Die Einbindung dieser Thematik in die Weltleben-Szenen ist als cultural performance63 dann auch in engem Zusam62 Grugel-Pannier, Luxus, S. 110. Zur Affinität von luxuria und Tanz (am Beispiel von Salome) vgl. Zimmermann, S. 254–258. 63 Zum Begriff vgl. einführend Velten, Performativität.

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menhang mit spielübergreifenden Anliegen zu sehen, welche das Leben in der spätmittelalterlichen Kommunität der Stadt betreffen: Fragen des Umgangs der Geschlechter miteinander und Aspekte weiblichen Auftretens in der Öffentlichkeit, sozialer Performanz, Fragen des Umgangs mit materiellen Ressourcen und daran geknüpft und gleichsam sublimierend ethische Aspekte und Fragen der rechten Lebensführung.64 Die Überzeugungskraft der Thesen Warnings scheint demgegenüber vor allem darin fundiert zu sein, dass er zeigen konnte, wie den Spielen selbst, insbesondere solchen der Gewaltausübung gegenüber Christus, Ambivalenzen eingeschrieben sind. Sein vielleicht bekanntestes Beispiel dafür ist die Inserierung von Elementen eines Liedes (»rondeau triolet«), welche die ›Folterknechte‹ von sich geben.65 Indem sie den Vorgang, Christus ans Kreuz zu nageln, einerseits mit Kommentaren sprachlich einholen, welche die Brutalität ihres Handelns unterstreichen, und andererseits in der Form eines munteren Liedes, machen sie, so Warning, ambivalente Rezeptionsangebote an das Publikum: Mitleid (compassio) und Sadismus. Sie konstituieren, so Warning, »jene zutiefst ambivalente Präsenz des Körpers«66, in dem das Bühnengeschehen zum Einfallstor des Imaginären auf Seiten des Publikums wird. Eine solche Ambivalenz bestimmt die vorliegende Szene – und andere, in denen Maria Magdalenes fehlgeleitetes Leben inszeniert werden – nicht.

6. Ein kurzes Resümee Die Szenen des Weltlebens der Maria Magdalena, welche zum zentralen Argument für eine ambivalente Konstruktion der Figur gemacht worden sind, wurden hier auf ein Verständnis von figura bezogen, das in Anschaulichkeit fundiert ist: Maria Magdalenas Sünden, so die These, werden ersichtlich, gerade indem sie schön aussieht und verführerisch agiert. Sie ist also nicht einerseits schön und faszinierend, andererseits sündhaft und verwerflich. Die Szenen exponieren sie deshalb nicht als ambivalente Figur, und sie sind auch sonst nicht ambivalent angelegt. Der Umstand, dass Maria Magdalenas Sündhaftigkeit so eindringlich figuriert wird und dabei sicher auch unterhaltend wirkt, ist weder ein Kippphänomen noch ein Indiz dafür, dass sie nicht nur negativ, als Sünderin, sondern auch positiv beurteilt werden konnte – denn das wäre Ambivalenz. In den Szenen, in denen Maria Magdalena tanzt, schön ist und unterhaltend, wird Sünde vielmehr als das 64 In den Untersuchungen von Freise, Geistliche Spiele in der Stadt, und Weitbrecht, Weltleben, werden diese Aspekte teilweise diskutiert. 65 Dies hatte Warning noch einmal eingehend in einem eigenen Aufsatz expliziert, vgl. Warning, Hermeneutische Fallen, hier S. 39. 66 Ebd., S. 40. Vgl. auch ders., Auf der Suche nach dem Körper.

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kenntlich, was sie ihrem Kern nach tatsächlich auch ist, nämlich faszinierend. Und der Wahrnehmungs- und Reflexionshorizont, der solchermaßen für die Betrachter, nicht nur die weiblichen, konstituiert wird, kann sich dann etwa auf die Frage beziehen, wie es eigentlich um die eigene Hingabe an das Materielle und seine Kontrolle bestellt ist. Aber Maria Magdalena wird, wenn sie unterhaltsam ist, ja noch nicht ›gut‹. Anders gesagt: Wenn Sünde sich konsequent als abstoßend enthüllte, wäre es ein Leichtes, zu ihr auf Distanz zu gehen.

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Das von seinem ersten Herausgeber Otto Schönemann nicht ganz zutreffend als »Der Sündenfall« betitelte Spiel des gelehrten Geistlichen Arnold Immessen1 ist ein inhaltsschweres, poetisch durchaus niveauvolles, dramaturgisch durchstrukturiertes Großdrama von fast 4000 Versen, das die heilsgeschichtliche Phase von der Weltschöpfung bis zur Einleitung des Erlösungswerkes mit der Geburt Marias und ihrer Darstellung im Tempel szenisch umsetzt. Der gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstandene, in einer Abschrift um 1500 überlieferte Text2 in niederdeutscher Sprache mit lateinischen Spielanweisungen wird dem göttingischgrubenhagenschen Sprachgebiet zugewiesen und ist vermutlich in Einbeck zu lokalisieren.3 Beschäftigt man sich mit Ambivalenzen als einem Phänomen, das den geistlichen Spielen eingeschrieben und damit gattungsspezifisch sei, wie es seit Warnings ›Funktion und Struktur‹ (1974) und seiner Rezeption Konsens großer Teile der Spielforschung zu sein scheint, dann sollte dieses bedeutende Zeugnis mittelalterlicher Dramatik, auch wenn es singulär und somit keinem der gängigen Spieltypen zuzuordnen ist, nicht unbeachtet bleiben. Ambivalenzen allerdings, 1 Der erschlossene Name des Spielautors erscheint, so die einhellige Forschungsmeinung, im Text als Akrostichon ARNOLDUS IMMESSEN der 16 Vorredestrophen (V. 1–46). Da sich die strophische Passage über vier weitere Strophen (bis V. 60) erstreckt, bezieht Krogmann, Rez. zu: Wolff: Arnold Immessen, S. 113–116, diese in das Akrostichon ein, woraus sich usuj (Dat. Sing. von lat. usus) ergibt, was » am ehesten ›zur Aufführung‹ zu übersetzen ist« (S. 16) und somit die Zweckbestimmung als Aufführungstext, nicht aber als Lesestück erweise. 2 Aufbewahrungsort: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Cod. Guelf. 759 Helmst.). Der sich am Schluss nennende Hauptschreiber Johannes Bokenem stammt vermutlich aus Goslar und ist möglicherweise identisch mit dem im dortigen Kloster Frankenberg von 1491–1508 belegten Altaristen. Vgl. Krage, Arnold Immessen, S. 3–5; Bergmann, Katalog, Nr. 171, S. 368–370. 3 Aus sprachgeschichtlicher Perspektive konnte die Untersuchung von Dahlberg, GöttingischGrubenhagensche Studien, die Zugehörigkeit zur göttingisch-grubenhagenschen Mundart (mit Einbeck) wahrscheinlich machen und die Ergebnisse der vorgängigen Studie Hohnbaums, Untersuchungen, die für eine Verortung in Goslar plädierte, mit begründeter Argumentation zurückweisen. Zu den nichtsprachlichen Kriterien, die für Einbeck als Herkunftsort sprechen, vgl. unten, Abschnitt 3.2, mit Anm. 18–23.

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wie sie für die Dramatisierung der Ereignisse von Jesu Leiden, Tod und Auferstehung in den Oster- und Passionsspielen als dramatisches Widerspiel von neutestamentlichem Kerygma und archetypischem Mythos geltend gemacht werden,4 können für dieses alttestamentliche Spiel, das nicht im liturgischen Jahr verankert ist, nicht in gleicher Weise relevant sein. Es soll daher in den folgenden Ausführungen abseits theoretischer Erörterungen zum Leitparadigma eruiert werden, inwieweit Ambivalentes in diesem Stück überhaupt fassbar ist. Im Mittelpunkt wird die Beschäftigung mit dem Spieltext stehen. Nach einem informierenden Überblick zu Inhalt, thematischen Schwerpunkten, Anlage, Aufbau und Durchführung (1.) werden unter dem Ambivalenzaspekt die Figuren Luzifers (2.) und König Salomos (3.) im Fokus der Untersuchung stehen.

1. Das Spiel im Überblick Nach einer Anrufung Gottes wird die Aufführung mit einem Appell des Autors an die Zuschauer eröffnet. Mit theologisch-didaktischem Impetus legt er ihnen den horsam (Gehorsam) als christliches Lebensprinzip nahe, ohne den sie die Gotteskindschaft unmöglich erlangen können.5 Denn Vnhorsam (Ungehorsam) gegen Gott hat die ersten Menschen, verführt vom teuflischen Rat, und nach ihnen die gesamte Menschheit ins Verderben gestürzt. Davon leitet er seine den Spielverlauf bestimmende Intention ab: Vnhorsam hefft my hir tho gedreuen, / Dat ick dut spel sus hebbe gescreuen, / Dar gy vth marken mogen vnde leren / Goddes vreuel vnde sine barmherticheyt, / Dar hir beyde van gescreuen steyt. / Dat wyl wy hir spelen tho iüen eren (V. 55–60: »Ungehorsam hat mich dazu angetrieben, dass ich das Spiel auf diese Weise geschrieben habe. Daraus sollt Ihr Gottes Zorn und seine Barmherzigkeit erfahren und erkennen, da hier von beiden geschrieben steht. Das werden wir hier zu Euren Ehren spielen«). Gemäß diesem thematischen Konzept ist der das Geschehen lenkende Creator, so der Name Gottes im Spiel, die Hauptfigur, auch wenn er nicht durchgehend im Vordergrund agiert. Als Quellen werden vor allem die boken, die biblischen Bücher, aber auch außerkanonische Schriften6 genannt, auf die sich die Handlungsträger explizit 4 Zur Diskussion über die Tragfähigkeit des 1974 von Warning, Funktion und Struktur, entwickelten Ambivalenzparadigmas vom gegenwärtigen Forschungs- und Erkenntnisstand aus vgl. die einschlägigen Beiträge im vorliegenden Band. 5 Schulle wy godes kinder werden, / So mothe wy in horsam herden, / Anders kan vns nummer gelingen (V. 40–42: »Wollen wir Gottes Kinder werden, so müssen wir im Gehorsam stark bleiben, sonst kann uns das niemals gelingen«). Sofern nicht anders vermerkt, wird hier und im Folgenden aus der Edition von Krage von 1913 zitiert. 6 Zu Immessens zahlreichen nichtbiblischen Quellen, die im Text explizit genannt werden oder zu erschließen sind (apokryphes und patristisches Schrifttum, volkssprachige Predig-

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berufen und aus denen sie sich selbst auch zitieren, oft auf lateinisch mit volkssprachiger Paraphrase. Die vorchristliche Heilsgeschichte, an deren Ende der aus göttlicher Misericordia erwachsene Erlösungsratschluss und die Geburt Marias, der Mutter des prophezeiten Erlösers stehen, wird anhand dominierender Ereignisse in zwei großen Handlungsteilen vorgeführt.7 Der erste Teil (bis V. 2155a), den man als den bibelhistorischen Teil bezeichnen kann, reiht alttestamentlich-chronologisch Szenen und Auftritte aus den Büchern Genesis und Exodus aneinander. Nach dem Schöpfungsbericht des Creators und der Huldigung durch die neun Engelchöre stehen die weiteren Szenen unter dem Zeichen des Ungehorsams und seiner katastrophalen Konsequenzen: zunächst Luzifers Höllensturz mit allen Angehörigen des neunten Engelschores; dann Erschaffung, Verführung und Sündenfall der Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies; Ermordung Abels durch Kain; Seths Sendung ins Paradies (Seth als gehorsamer Sohn, dem aber im Paradies das von Adam erbetene Öl der Barmherzigkeit versagt wird), gefolgt vom Tod Adams und Evas und ihrer Aufnahme in die Hölle. Mit Noahs Arche, Abrahams Opfer und Moses’ Berufung schließt sich eine Beispielserie für Gehorsam an, die in diesem Spiel offenbar nicht – wie in den nach rückwärts erweiterten Passionsspielen - unter speziell präfigurativer Per­ spektive aufgenommen ist, sondern sich dramatisch und heilstheologisch kontrastierend auf das durch den Ungehorsam in die Welt gekommene Unheil zurückbezieht. Abgeschlossen wird dieser Handlungsteil durch eine mit dem Opfer von Brot und Wein verbundene geistliche Rede des Melchisedek. Der zweite Teil (V.  2155b–3962) ist als Prophetenspiel, in dem die Weissagenden achronistisch gemeinsam agieren, zeitlich unfixiert. Heilsgeschichtlich befindet sich das Geschehen vor dem Ende des bis zur Inkarnation währenden Zeitalters ›sub lege‹. Seine Spannung bezieht dieser Teil aus der immer wieder retardierten Rettungsinitiative der Propheten unter Anführung Davids. Auslöser der Handlung sind die laut erschallenden Klagerufe und Barmherzigkeitsbitten Adams und Evas aus dem Limbus. David ruft die ›großen‹ Propheten Ysayas, Jeremyas, Ezechyel und Daniel zur Erörterung einer Hilfsmöglichkeit für das Menschengeschlecht zusammen. Daniels Vorschlag folgend begibt sich die Prophetengruppe zwecks Raterfragung zum weisen König Salomo. Damit verlagert sich das Geschehen für eine längere Spanne an den Hof Salomos, der seinerseits die zwölf weiteren biblischen Propheten und die zwölf nichtbiblischen Sibyllen ten, antike und mittelalterliche literarische Texte u.a.), vgl. besonders die Zusammenstellung bei Hohnbaum, Untersuchungen, S. 79–94; dazu Wolff, Arnold Immessen, S. 10–13. 7 Detailliertere Inhaltsangaben bei Wolff, Arnold Immessen, S. 20–27, Rosenhagen, Die Wolfenbütteler Spiele, S. 83–85, Krage, Arnold Immessen, S. 71–77.

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herbeiholen lässt. Szenen der Salomo-Handlung sind das Gastmahl, das salomonische Urteil, der Besuch der Königin von Saba, die Fortsetzung des Gastmahls mit einem Trinkgelage und die große Ratsszene, in der die Erlösungsprophetien und die auf Maria und Christus deutenden Weissagungen sämtlicher Anwesender zusammengeführt werden. Nach Zurückweisung der auf Veranlassung Salomos dem Creator von Ysayas, Jeremyas und David vorgetragenen Bitten um Hilfe für die Menschheit gewinnt Salomo die kluge, an die Ratsuchenden weitergegebene Einsicht, dass die Propheten in Demut und Geduld ausharren müssen, bis Gott selbst den Erlösungszeitpunkt bestimmen wird. Den Anbruch der Erlösungszeit signalisiert die Aufspaltung des dramatischen Geschehens in zwei parallel geführte, am Schluss zur Vereinigung gebrachte Handlungsstränge. Es wechseln Szenen der neu einsetzenden Geschichte von Joachim und Anna, den Eltern Marias, mit dem Fortlauf des Prophetenspiels, das von der Versammlung bei Salomo mit nochmaliger Erlösungsbitte Davids zum Himmel führt, wo nach friedvoller Beilegung der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gottestöchtern Justitia und Misericordia der Creator nunmehr den Erlösungsratschluss verfügt und den Erzengel Gabriel als Verkündigungsboten zu Anna sendet. Der von Erlösungsgewissheit und Heilsfreude getragene Prophetengesang des Te deum (V. 3926f.) bewegt Joachim und Anna zur Darbringung der nun dreijährigen Maria als künftiger moder der barmherticheit (V. 3932) im Tempel. David und alle Propheten geleiten sie zur heiligen Stätte und singen gemeinsam zum Beschluss der Aufführung die Marienantiphon »Sancta maria virgo, succurre miseris« (V. 3962). Dieser Schlussgesang könnte auf einen Spieltermin an einem Marienfesttag des Kirchenjahres, etwa Mariae Geburt (8. Sept.), deuten, doch gibt es dafür bislang keine konkreten Anhaltspunkte.

2. Die Rolle Luzifers Die geistliche Handlung des ersten Teils bleibt, geleitet, vorwärtsbewegt und erklärt vom Creator, inhaltlich, religiös-theologisch, dramatisch und dramaturgisch ungebrochen von Ambivalentem im Sinne Warnings. Doch sollte Immessens Ausarbeitung des Sündenfalls als Initialgeschehen für menschlichen Ungehorsam etwas genauer in den Blick genommen werden, da Warning,8 der in seine Ambivalenz-Studien auch die Sündenfallszene des altfranzösischen »Mystère d’Adam« (Mitte 12. Jh.) einbezieht, in Satan als Verführer einen »dramatischdualistischen Widerpart zur göttlichen Figura«9 gestaltet sieht. Die Überlistung 8 Warning, Funktion und Struktur, S. 123–134. (Zweiter Teil, Kap. A: Der Sündenfall in der Ambivalenz von dramatischem und substantiellem Dualismus). 9 Ebd., S. 124.

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Evas (und Adams) sei ein Werk des »mythischen Widersachers«, der damit den Kampf gegen Gott gewinne, so dass durch dieses geistliche Spiel »ein perfekter Dualismus« gelehrt werde, »der die Unterlegenen aus ihrer moralischen Verantwortlichkeit weitgehend entläßt«10. Der so dargestellte »dramatische Dualismus« werde in der Perspektive des Publikums und seiner Rezeption als »substantieller Dualismus« verstanden, da die dem Spiel vorausliegenden theologischen Prämissen (der Teufel »hat die Funktion, den Gehorsam des Menschen auf die Probe zu stellen«)11 in die dramatische Gestaltung nicht eingegangen seien. Diese Folgerungen, die Warning aus der Analyse eines der Frühzeit des geistlichen Dramas entstammenden Textes bezogen hat, sind jedoch nicht zu verallgemeinern. Bei Immessen nämlich wird das Verhältnis zwischen dem Creator und Luzifer gerade nicht als eindeutiger dramatischer Dualismus konturiert, so dass die Möglichkeit, es als substantiellen Dualismus aufzufassen, kaum gegeben ist. 12 Bereits vor der Sündenfallszene wird die Inferiorität des Teufels sichtlich profiliert. Dem abtrünnigen Luzifer,13 der Gott gleich werden wollte, ist es von vornherein unmöglich, sich als Widerpart und dualistische Gegeninstanz Gottes überhaupt zu positionieren. Zwischen dem Creator und Luzifer gibt es keinerlei Interaktion. Ihn nach seiner vom Creator bereits vorhergesagten Hochmutstat in die Hölle zu stürzen, bleibt den göttlich beauftragten Erzengeln unter Führung Michaels überlassen.14 Luzifers große Klage, eine sprachgewaltige Wut- und Hassrede (V. 585–630), die sich zu einer gegen den Schöpfer, alles Geschaffene und sich selbst richtenden Fluchtirade steigert,15 vergegenwärtigt äußerst drastisch den nunmehr existenten Gegensatz zwischen Himmel und Hölle, führt zugleich aber 10 Ebd., S. 131. 11 Ebd., S. 129. 12 Im vorliegenden Darlegungszusammenhang geht es nicht um eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Warnings Thesen. Aufzuweisen ist, dass eine Ambivalenz von dramatischem und substantiellem Dualismus, wie er sie in der Sündenfalldarstellung des »Mystère d’Adam« wirksam sieht, für die dramatische Umsetzung dieser alttestamentlichen Szene im geistlichen Spiel nicht generell charakteristisch oder konstitutiv ist. Vgl. dazu schon Lehnen, Egerer Passionsspiel, S. 307–312, die sich bei der Untersuchung der Parallelszenen (Engelsturz und Sündenfall) des Egerer Passionsspiels, das allerdings andere inhaltliche und dramatische Schwerpunkte setzt als Immessen, kritisch gegen Warning wendet. 13 Der Engelsturz ist im »Mystère d‹Adam«, das mit der Erschaffung der Menschen beginnt, nicht dramatisiert. 14 Nachdem der Creator den Engelchören Unsterblichkeit und Willensfreiheit zuerkannt hat, kündigt er mit dem Zitat von Prov. 16,18 (ante ruinam exaltabitur cor; V. 409) Luzifers Hochmut an. Er berichtet, dass sich sogleich ein schwerer Kampf erheben werde, und delegiert dessen Austragung an den Erzengel Michael, der ihn mit Unterstützung von Gabriel, Raphael und Uriel führen solle. Seinen (= Michaels) Feind solle er to der helle grunt (V. 422) niederstürzen. Wenn Gott Luzifer explizit zum Feind der Erzengel erklärt, ist die Gegnerschaft des Teufels schon hier auf die Ebene der geschaffenen Kreaturen verlagert. 15 Ab V. 612 stößt Luzifer, jeweils einsetzend mit der Fluchformel Vorfloket sy …, 15 präzise adressierte Verwünschungen aus.

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die Begrenztheit teuflischer Aktionsmöglichkeiten vor. Wenn Luzifer ankündigt, künftig in aller Welt rauben, morden und die Gottesanhänger anfechten und verstören zu wollen, dann wird offenkundig, dass ihm nur die göttlich zugelassene Rolle des Versuchers und Verführers zukommt und er seinen Kampf gegen die Menschen, nicht aber gegen Gott führen kann.16 Den teleologischen Verlauf der von Gott gelenkten Heilsgeschichte vermag der Teufel nicht zu beeinflussen, wohl aber das Heil des Einzelmenschen. Selbst in der Hölle ist seine Macht nicht unangefochten. Die mit ihm gestürzten Kumpanen erkennen Luzifers höllische Herrschaftsposition nur gezwungenermaßen an, denn sie sehen sich von ihm, dem Erzlügner (arzelogenere, V. 686), der ihnen grote ere (V. 471 u.ö.) versprochen hatte, verraten und geben seinem Hochmut die Schuld an ihrem nun ewig währenden ungelucke (V. 704). Die Schlange der Verführungsszene bietet keine Assoziation an den »mythischen Widersacher«. Luzifer besitzt nicht einmal das Wissen um die Men­schen­ er­schaf­fung; erst einer seiner Gefolgsteufel, der sich zum Ort des Geschehens geschlichen und die – bei Immessen zu einem Akt zusammengefasste – Schöpfung des Mannes van eynem erdenklumpe (V. 809) und der Frau aus der ribbe (V. 907) des Mannes (V. 785–932) beobachtet hatte, muss ihn auf die unerhörte Neuigkeit hinweisen. Bevor Luzifer dagegen aktiv wird, lässt er sich von seinen teuflischen gesellen bestätigen, dass sein Plan gut ist. Dann begibt er sich ins Paradies, wo er auf den Baum der Erkenntnis klettert, sich als Schlange tarnt und von oben herab Eva zum Ungehorsam anstiftet, die ihrerseits Adam zum Sündenfall verführt (nach Gen 3,1–7). Von der Verantwortung für ihren Vnhorsam werden Adam und Eva als Opfer der Überlistung in Immessens Dramatisierung keinesfalls entbunden, handelt es sich doch um den ersten, in der Vorrede den Zuschauern expressis verbis angekündigten Fall von willentlich begangenem Ungehorsam gegen Gott.17 Unmittelbar nach seiner Erschaffung bereits wurde Adam vom Creator mit dem Verbot der Frucht vom Baum der Erkenntnis auf den horsam verpflichtet (V. 890–899), und Eva widersteht der vermeintlichen Schlange bei ihrer ersten Annäherung noch mit der Begründung, dass sie gegen goddes bot, mit dem Adam vnde my vns beyden das Essen dieser Früchte untersagt worden sei, verstoßen 16 Ohne dass die Menschen, deren Erschaffung heilsgeschichtlich noch bevorsteht, konkret erwähnt werden, sind sie als alle, De itzunt sint vnde noch scult werden / An den luchten vnde der erden (V. 610f.: alle, die jetzt existieren und künftig existieren werden in den Lüften und auf der Erde) in Luzifers Kampfansage einbezogen. 17 Der Frage, ob im »Mystère d’Adam« die Überlisteten so deutlich ihrer Verantwortlichkeit enthoben werden wie von Warning postuliert, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Figura (der dem liturgischen Drama entstammende Rollenname Gottes) vor dem Sündenfall Adam und Eva ausdrücklich die freie Entscheidung für das Gute (den Gehorsam) oder das Böse (den Ungehorsam) anheimstellt: En vostre cors vus met e bien e mal (V. 65).

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würde (V. 968–971). Folglich erkennen und beklagen sie selbst sogleich nach dem Verzehr des Apfels ihr Fehlverhalten, durch das sie die schult der Ursünde auf sich geladen haben. Nach der Vertreibung aus dem Paradies und ihrer Bestrafung mit der Mühsal des Lebens und der Sterblichkeit resümieren sie in langen jammervollen Wehklagen und Selbstanklagen – jeder aus seiner Perspektive – die Umstände des Sündenfalls, die existentiellen Konsequenzen und das Ausmaß ihrer Schuld. Wenn Luzifer sich der erfolgreichen Verführungstat vor seinen Gesellen mit der Ankündigung rühmt, dass er alles Künftige nun nach seinem Willen lenken und Gott nicht länger gewähren lassen werde (V. 1031–1033), enthüllt sich durch sein Nichtwissen um Gottes Allwissenheit und Allmacht einmal mehr die prinzipielle Unterlegenheit des Teufels. Er selbst inszeniert sich als Widerpart Gottes, ohne diese Rolle tatsächlich wahrnehmen zu können. Dies ist das Teufelsbild, nach dem Immessen das Profil seiner Luzifergestalt modelliert. Noch zweimal wird Luzifer von seinen Gefolgsteufeln, die als Kundschafter für ihn unterwegs sind, zu bösen Werken bewegt: zum Schüren der Zwietracht zwischen Kain und Abel (V. 1176–1197; ohne szenische Ausgestaltung) und zur Abführung des verstorbenen Adam in die Hölle (V. 1684–1699a). Im zweiten Handlungsteil hat die Figur des Teufels auf der Ebene des dramatischen Verlaufs keine handlungstragende Funktion, doch bleibt Luzifer mit seiner Teufelsschar in der Hölle anwesend. Seine (verbale) Aktivität reduziert sich darauf, zweimal die jeweils an Wendepunkten des Geschehens eingesetzten Klage- und Hilferufe Adams de profundis (nach Ps. 26,7) höhnisch-gehässig zu kommentieren (vor Beginn des Prophetenspiels, V. 2155b–2174; vor Beginn der Joachim-und-Anna-Handlung, V. 3435a–3467). Die unheimlich-düstere, angsteinflößende Teufelspräsentation ist von der Teufelskomik anderer Spiele, wie sie etwa für die Höllenfahrt- oder die Seelenfang- und Höllengerichtsszenen der Oster- und Passionsspiele als kennzeichnend angesehen wird, weit entfernt und steht offenbar im Dienste der erklärten Absicht Immessens, den Zuschauern den Vnhorsam und seine schrecklichen Folgen, durch den wy all vorwunt (V. 50: wir alle verwundet) sind, mit allen verfügbaren Mitteln theatraler Darbietung so furchterregend wie möglich erlebbar zu machen (vgl. V. 55–60). Unmissverständlich wird ihnen für die Aufführung als Erkenntnishilfe mitgegeben, dass der Fluch Luzifers von seinem Höllensturz an bis heute auf jedem Menschen lastet: Sus schundet de duuel noch alle tydt tho, / Auent spaden, morgen vro, / Vppe dat de mynsche moge vordaruen (V. 52–54: »So stachelt der Teufel [uns] immer noch zu jeder Zeit an, spät am Abend und früh am Morgen, auf dass der Mensch verderben möge«). Angesichts der am ersten Menschenpaar offenbar gewordenen menschlichen Verführbarkeit durch List und Betrug mag sich das Bewusstsein für die eigene Schwäche gegenüber den allgegenwärtigen Anfechtungen des Teufels schärfen.

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3. Die Salomo-Handlung Für den zweiten Teil des Spiels lässt sich feststellen, dass Immessen hier Ambivalentes aufnimmt, indem er König Salomo zur zentralen, die Ereignisse auf der irdischen Ebene dominierenden Figur des Prophetenspiels erhebt. Als biblischer Sohn Davids ist Salomo der mächtige Herrscher über das von seinem Vater geschaffene israelische Großreich, dem unter seiner Regentschaft Frieden und Wohlstand beschieden sind (III Rg [1 Kön] 1–11). Höchstes Ansehen erlangt er durch die ihm von Gott verliehenen Gaben der Weisheit, des Reichtums und der Ehre (III Rg [1 Kön],12–13). Seine vorbildliche Rechtsprechung, seine kluge Ratfindung und seine schier unermesslichen weltlichen Güter machen seinen Hof zum Machtzentrum und Anziehungspunkt »für alle Welt« (III Rg [1 Kön] 10,24). Von dorther und aufgrund der ihm zugeschriebenen Verfasserschaft alttestamentlicher Schriften (Ecclesiastes bzw. Prediger, Hoheslied, Buch der Weisheit) erscheint Salomo im Mittelalter als Exempelfigur für Sapientia. Doch zeichnet die Bibel kein einseitig positives Bild von Salomo; er ist eine Persönlichkeit mit ambivalenten Zügen. Kritisiert wird zum einen der verschwenderische Umgang mit seinem Reichtum und seine maßlose Prachtentfaltung (III Rg [1 Kön] 10,14–29), zum anderen seine Polygamie, durch die er sich am Ende seines Lebens zum Götzendienst anstiften lässt (III Rg [1 Kön] 11,1–8). Aufgrund dieser Haltung wird Salomo in mittelalterlicher Literatur und Ikonografie auch in die Typenreihe der Frauensklaven aufgenommen (zusammen etwa mit Adam, Samson und David). Diese Ambivalenz der biblischen Persönlichkeit greift Immessen auf und kon­tras­tiert der heiligen, von Salomos Weisheit bestimmten Haupthandlung eine profane Zwischenhandlung, die auf seine menschliche, den irdischen Vergnügungen zugewandte Seite fokussiert ist. Sie erstreckt sich über 526 Verse (V.  2277b–2803a). Schauplatz ist der prunkvoll ausgestattete Festsaal am salomonischen Hof in Jerusalem, dem auf der Simultanbühne vermutlich ein großer, zentraler Platz zur Verfügung stand, zu dem sich Personengruppen aus verschiedenen Richtungen zu begeben hatten: die vier Propheten mit David, die Gruppe der von Salomos Diener herbeigeholten zwölf Propheten und zwölf Sibyllen, die beiden vor Salomo als Gerichtsherrn tretenden Frauen und die am weitesten entfernte Königin von Saba, die den Weg mit ihrem Gefolge auf Pferden zurücklegt (V. 2552a). Salomo bietet seinem Vater David und den Propheten Ysayas, Jeremyas, Ezechyel und Daniel einen freundlich-entgegenkommenden Empfang, verbunden mit der bereitwilligen Zusage zur späteren Raterteilung, richtet seinen Gästen zuvor aber ein üppiges höfisches Gastmahl aus. Mit dieser Szene, in der die Gruppe der Propheten keine Sprechtexte und keine handlungstragenden Aktionen hat, wird die auf die Menschheitserlösung abzielende heilsgeschichtliche Handlung vorübergehend suspendiert.

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3.1. Salomo als Frauenliebhaber Die weltliche Handlung trägt komisch-burleske Züge. Ihr Beginn ist deutlich markiert mit Salomos Begrüßung der Sibyllen, die ihre Komik aus dem Durchbrechen der Erwartungshaltung des Publikums bezieht, das bis dahin ein durchweg von religiösem Ernst getragenes geistliches Drama erlebt hat. Nach dem höfisch-förmlichen Willkommensgruß an die von Salomos Diener herbeigeholten zwölf Propheten und zwölf Sibyllen Syd wilkomen, gy werden man vnde wyff! (V. 2360) fährt er fort Myt ju schal syn myn tidvordriff (V. 2361: Mit euch werde ich meinen Zeitvertreib haben) und äußert in Richtung der Sibyllen: To vrauwen vnde iuncfrauwen hebbe eck my geholden / Wente her to, dar mot ick ynne beolden, / Myt one vele scimpes vnde hoge dreuen / Dar alle in den boken steit van geschreuen. (V. 2362–2365: An Frauen und Jungfrauen habe ich mich gehalten bis hierher; so möchte ich alt werden, mit ihnen viel Freude haben und Kurzweil treiben, was alles in den Büchern geschrieben steht). Unter Berufung auf die Bibel also stellt sich der mächtige Herrscher den werdigen propheten vnde erliken sibillen (V. 2339, 2340: den würdigen Propheten und den ehrenwerten Sibyllen) als unverbesserlicher Frauenliebhaber vor. Als solcher geriert er sich denn auch beim Empfang der Königin von Saba, die ihn wegen der weithin berühmten Pracht seines Hofes und wegen seiner Weisheit, die sie prüfen möchte, mit ihrem Gefolge aufsucht (nach III Rg [1 Kön] 10,1–13). Als sie, noch vor der Enthüllung ihrer Identität, vor seinen Thron tritt, wird sie von Salomo unverblümt auf ihre weibliche Schönheit angesprochen: Gy duncket my syn eyn schone frauwe. / Schone frauwen ick gerne schauwe. / Ock hebbe gy by iuck schone derne, / De se ick auer van herten gerne (V. 2559–2562: »Ihr erscheint mir als eine schöne Frau. Schöne Frauen schaue ich gerne an. Auch habt Ihr bei euch schöne Mädchen. Die sehe ich auch von Herzen gern«). Erst nach ihrer Vorstellung als Königin von Saba wird sie standesgemäß begrüßt: Hochgeborne forstinne, nu syd wilkomen! (V. 2578) und mit ihrem Gefolge ebenfalls zum Gastmahl eingeladen. Als sie nach der Weisheitsprobe, den Bekundungen gegenseitiger Wertschätzung und der Übergabe reicher Geschenke bibelgemäß (III Rg [1 Kön] 10,1–13) den Besuch beendet, gibt Salomo ihr das höfische Geleit zu Pferde (V. 2671a–b), so weit, bis die Königin von Saba ihn bittet umzukehren und sie sich höflichförmlich voneinander verabschieden. Nach seinem Wiedereintritt in die Hofszenerie wird Salomo von seiner Ehefrau, der (in der Bibel erwähnten, doch nicht profilierten [vgl. III Rg (1 Kön) 9,16]) Regina Salomonis, mit Vorwürfen wegen seines langen Ausbleibens empfangen. Die Figur der Königin tritt als Typus der eifersüchtigen Ehefrau auf, verkörpert diesen aber in moderater Weise. In ihrer Scheltrede artikuliert sie ohne verbale Ausfälle ihren Kummer, der indes groteske Züge annimmt, wenn sie dem in dieser Szene auf menschliches Maß reduzierten

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König die einschlägige – hyperbolische – Bibelaussage (III Rg [1 Kön] 11,1–3) zu seiner Polygamie vorhält: Wente gy hebbet rede wol seuen hundert / Konigynnen juck to wyuen, / Dar to drehundert […] Dede ock juwe beddenoten sint (V. 2693– 2696: »Denn Ihr habt doch 700 Königinnen zu eurem Willen verfügbar; dazu 300, […] die auch eure Bettgenossen sind«). Salomo reagiert gelassen und ohne jede Einsicht, indem er sich anstelle einer konkreten Antwort über die Seltsamkeit der Frauen auslässt, die so wunderlike mere (V. 2703: »so wunderliche Geschichten«) erzählen, und seine Frau zum Schweigen auffordert: Swiget stille, ick hebbe iuck like leff. / Gy schullen nicht wesen also eyr! (V. 2705f.: »Schweigt still, ich habe euch genauso lieb. Ihr sollt nicht so zornig sein!«). Mit der Versicherung seiner Zuneigung zu ihr legitimiert Salomo seine gleichzeitigen Liebesverhältnisse zu anderen Frauen und negiert den unangemessen erscheinenden Anspruch der Ehefrau auf eine monogame Beziehung. Vor den Zuschauern wird Salomo insofern ein wenig entlastet, als diese ja auf der Bühne gesehen haben, dass er während der Abwesenheit vom Hof nichts anderes getan hat, als die Königin von Saba mit höfischem Anstand zu begleiten. Auch rezipiert Immessen das biblische Motiv der Polygamie ohne die Konsequenz des Abfalls von Gott (nach III Rg [Kön 1] 11,4), der das geistliche, aber auch das weltliche Salomobild seiner Figurenkonzeption konterkarieren würde. Entsprechend ist der Typus des Frauensklaven, der von Salomos Götzendienst unter dem Einfluss seiner heidnischen Frauen abgeleitet wurde, in Immessens Salomo-Charakteristik nicht eingegangen. 3.2. Salomos Gastmahl Das Gastmahl, das als Vergegenwärtigung von Salomos opulenter Lebensweise den szenischen Rahmen der gesamten Zwischenhandlung bildet, wird an deren Anfang und Ende theatral ausgespielt. Nach dem Empfang der Propheten lässt Salomo die Festtafel arrangieren und fordert die Spielleute zum Musizieren auf. Die das Mahl begleitende weltliche Instrumentalmusik charakterisiert mit ihrem starken Kontrasteffekt zu den sakralen Gesängen des himmlischen und irdischen Personals der Haupthandlung ganz besonders die säkulare Sphäre. Gemäß den höfischen Regularien servieren Truchsesse und Mundschenken die Speisen und Getränke. Bei der von Salomo bestimmten Getränkefolge wird unvermittelt ein für das Publikum wohl erstaunlicher Aktualitätsbezug hergestellt: Eymkesbeyr schulle gy vort erste geuen, / Dar negest den wyn vnde den clareyt (V.  2391f.: »Einbecker Bier sollt Ihr zuerst ausschenken, danach den Wein und den Würzwein«). Dieses Bier, als nichtadliges, im städtischen Alltag aber sehr verbreitetes Getränk, steht dann am Schluss der Zwischenhandlung im Mittelpunkt, als sich nach Salomos Redewechsel mit seiner Ehefrau dem Essen ein Trinkgelage

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anschließt (V. 2706a–2741). Die beteiligten Zecher sind aber nur König Salomo und – ganz unzeremoniell – seine Bediensteten, die drei Mundschenken und drei Truchsesse, die sich gegenseitig geselle oder kumpan nennen und einander mit je einem Lobspruch auf das Bier, namentlich das Einbecker Bier,18 zutrinken. Die hier genannten Namen zweier Mundschenken, Cord Vinken (V. 2713) und Sander (V. 2731: van sandere, Dat. Sing; vielleicht »Alexander«) könnten sehr wohl die prominenten Namen zweier Einbecker Bürger sein, die Immessen absichtsvoll in die Trinksequenz aufgenommen hat.19 Da sich im gesamten Stück an keiner anderen Stelle ein derartiger Rekurs auf die Gegenwartsrealität findet, ist eine Aufführung des Spiels auf dem Marktplatz von Einbeck20 sehr wohl zu erwägen. Dazu passt die gemäßigte, keineswegs exzessive, atmosphärisch eher lebenslustig-fröhliche Gestaltung, die frei ist von derber Komik, anstößigen Reden und – vermutlich – auch unzüchtigen Gesten und Gebärden. Dass Arnold Immessen, dessen Familienname sich wohl von seinem Herkunftsort herleitet, aus der Nähe von Einbeck stammt und sich dort vermutlich auch aufgehalten hat, lässt sich einigen von der früheren Forschung ermittelten archivalischen Belegen entnehmen. Neben dem Dorf Immensen bei Odagsen, unweit von Einbeck, in dem schon 1453 die Brüder Hermann und Tydericus Ymessen nachgewiesen sind, findet sich der Familienname auch in Göttingen und Hildesheim. 21 In Einbeck macht eine urkundliche Bezeugung von 1483 einen Geistlichen als dominus Arnoldus Ymmessen namhaft, der möglicherweise dem Alexanderstift angehörte.22 1486 ist im Urkundenbuch der Stadt Alfed 18 Here, dut is gut eymkes beyr. / Dat smecket wol, wet ick vorwar. (V. 2707f.: »Herr, das ist gutes Einbecker Bier. Das schmeckt köstlich, das weiß ich wahrhaftig«); Drinck my to vnde sume nicht lanck, / Eymkes beyr is doch gud dranck. (V. 2739f.: »Trink mir zu und warte nicht lange, Einbecker Bier ist doch ein köstlicher Trank.«) 19 Ein Nachweis der Namen ist lt. Wolff, Arnold Immessen, S. 10, bislang nicht gelungen. Krogmann, Rez. zu: Wolff, Arnold Immessen, S. 108–110, der die Lokalisierung in Einbeck – in bewusster Opposition zu Wolff – bezweifelt, hält die Namen für fiktiv. Immessen habe sie lediglich als Reimwörter gebraucht (V. 2712f. […] drinken / […] vinken; V. 2730f. […] andere / […] sandere). 20 Einen Marktplatz als Spielort legt Joachims Feststellung nahe, dass der Jubelgesang der Propheten, die nach Gottes Erlösungsratschluss das Te deum anstimmen, ouer den gantzen market clanck (V. 3930: über den ganzen Markt erscholl). Dazu passt die Aussage der Autorvorrede wy […] / Sint gesammet vp dussen plane (V. 64f.: »Wir sind auf diesem Platz versammelt«). 21 Vgl. Krage, Arnold Immessen, S. 52; Wolff, Arnold Immessen, S. 9. 22 Zitiert bei Wolff, Arnold Immessen, S. 9. Es handelt sich um den Brief des Vikars Johann Bodeker aus Hameln an Thomas Buninghem von St. Alexander in Einbeck, in dem er ihm mitteilt, ihn für eine Pfarrstelle in Hameln vorschlagen zu wollen. Über die dort zu versehenden Pflichten könne ihn dominus Arnoldus Ymmessen ausführlicher informieren. Außerdem weist er ihn auf die günstigen materiellen Umstände hin, speziell darauf, dass er sich dort

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(Leine) von dem ersamen hern Arnde van Ymesßen die Rede.23 Angesichts dieser Belege kann, zusammen mit dem sprachlichen Argument24, die Verbindung zwischen dem geistlichen Spielautor Arnold(us) Immessen und einer von ihm geleiteten oder unter seiner Mitwirkung veranstalteten öffentlichen Aufführung des Sündenfalls in Einbeck als recht wahrscheinlich gelten. Zurück zur Spielhandlung: Durchweg ernsthaft-seriös werden die zwei in das Gastmahl eingelagerten Sequenzen abgehandelt, in denen Salomo das für die Haupthandlung thematisch essentielle Zeugnis seiner göttlichen Weisheit erbringt25, wenn er im Unterscheiden von Echtem und Falschem die Wahrheit zutage fördert. Hier wechselt er das Rollenprofil zum Weisheitsherrscher. Er fällt als würdevoller Gerichtsherr das – berühmte – salomonische Urteil (nach III Rg [1 Kön] 3,16–28) im Streit der zwei auf dasselbe Kind Anspruch erhebenden Frauen, indem er das Kind der durch kluge Verhandlungstaktik ermittelten wahren Mutter zuspricht. Zum anderen besteht er souverän die – biblisch nicht überlieferte, doch als literarisches Motiv verbreitete – Weisheitsprobe der Königin von Saba. Die Aufgabe, eine echte von einer künstlichen Blume zu unterscheiden, löst Salomo mit Hilfe eines Bienenschwarms, der sich auf der echten Blume niederlässt. Nach der Zwischenhandlung am salomonischen Hof kehrt die Aufführung mit einer verknüpfenden Passage zu der durch das weltlich-profane Geschehen ausgesetzten heilsgeschichtlichen Haupthandlung zurück. Vier Jungfrauen des Hofes und die Königin selbst bitten und mahnen Salomo nachdrücklich, er möge sich jetzt doch dem Anliegen seiner ehrenvollen Gäste, nämlich der Menschheitserlösung, zuwenden. Diese weibliche Initiative, durch die der Herrscher zum richtigen, ihm von Gott auferlegten Handeln gelenkt wird, könnte Immessen – vielleicht im Hinblick auf die Bekanntheit der biblischen Salomogeschichte – hier eingeflochten haben, um sie den biblisch-heidnischen Frauen, von denen kein Bier kaufen müsse. Diese Bemerkung zeigt immerhin, dass das Bier in Einbeck ein offenbar – auch bei Geistlichen – hochgeschätztes Getränk war. 23 Zitiert bei Krage, Arnold Immessen, S. 52, und Wolff, Arnold Immessen, S. 9. Ob die beiden namentlichen Erwähnungen auf dieselbe Person zu beziehen sind, ist unsicher. Von der personalen Identität geht offenbar Krogmann, Rez. zu: Wolff, Arnold Immessen, S. 110–112, aus, um sein Votum gegen Einbeck verfestigen zu können. Bezüglich des Zeugnisses von 1483 vermutet er, dass der dort genannte Ymmessen sich nicht in Einbeck aufhielt, sondern die Pfarrstelle in Hameln innehatte, für die Buninghem – als sein Nachfolger – vorgeschlagen werden sollte. Immessen wäre dann »in seine Heimat« (S. 111) nach Alfeld zurückgekehrt und hätte dort sein Schauspiel verfasst. Mangels eindeutiger Gegenbeweise ist diese Interpretation der Belege nicht zurückzuweisen, doch erscheint sie recht konstruiert. 24 Vgl. oben, Anm. 3. 25 Die salomonische Weisheit zu relativieren oder zu karikieren, wie es als Zentralmotiv etwa die im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit populäre Salomo-und-Markolf-Tradition konstituiert (Überlegenheit der schlauen Zweckrationalität Markolfs), ist für Immessen – auch in der Zwischenhandlung – kein Darstellungsanliegen.

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der mächtige Regent zu widergöttlichem Verhalten angestiftet und Gottes Zorn ausgesetzt wurde (III Rg [1 Kön] 11), zu kontrastieren. Sogleich steht Salomo von der Tafel auf und nimmt abermals und nun endgültig die Rolle des Weisheitsherrschers an, der den Propheten Mit klokem rade […] denen (V. 2800: mit klugem Rate dienen) will. Den Rollenwandel markiert bereits seine erste Rede, die er mit dem lateinischen Zitat des Beginns der salomonischen Sprüche einleitet: Ad sciendam sapientiam et disciplinam, / Ad intelligenda verba prudentie, / Ad suscipiendam eruditionem doctrine etc. (Prv [Spr] 1, 2–3; V. 2804–2806) […]. Das lebhafte, dynamisch bewegte Gastmahlgeschehen wird nunmehr abgelöst von einer langen, 467 Verse umfassenden (V. 2795a–3262) statischen Szene des Prophetenspiels, in der auf Veranlassung Salomos entsprechend der Maxime Wente hort eyn klock man eynen wisen reden, / He wert wiser (nach Prv [Spr] 1,5; V. 2816f.: »Wenn ein kluger Mann einen Weisen reden hört, wird er selbst weiser«; vgl. V. 2814) nacheinander 28 prophetische Reden aus biblischen und antiken Quellen von ihren Urhebern vorgetragen werden. Nach der erheiternden Zwischenhandlung fordern diese anspruchsvollen, zur Beglaubigung mit lateinischen Originalpassagen durchsetzten prophecyen dem Laienpublikum nun erneut ein hohes Maß an Disziplin und Konzentration ab.

4. Fazit Es ist zu bilanzieren: Salomo ist für das Mittelalter, wie andere alttestamentliche Figuren auch, durch eine gewisse Ambivalenz geprägt. Am Ende der von schwankhaften Elementen durchzogenen Zwischenhandlung ist die Person Salomos gleichwohl nicht durch Lächerlichkeit demontiert; der König bleibt seiner großen heilsgeschichtlichen Aufgabe weiterhin würdig. Es wurde seine andere, in der Bibel problematische Seite vorgeführt, die Arnold Immessen aber durch eigene Akzentsetzung und Komisierung gegenüber der Brisanz und Tragweite des biblischen Berichts entschärft hat. Durch die dramatische Ausformung des Ambivalenten der Persönlichkeit Salomos gehört die Opposition von Sakralem und Profanem als substantielle Komponente zum Stück, wenn auch die Zwischenhandlung jenseits des Fortlaufs der Heilsgeschichte keineswegs handlungsnotwendig oder dramaturgisch zielführend und auch nicht heils- oder moraldidaktisch belehrend ist. Aber es wird mit ihr, wie es die heilige Handlung nicht zulässt, die zeitgenössische Lebenswirklichkeit in das theatrale Geschehen aufgenommen. Mit dem gerade nicht strikt negativ gezeichneten menschlichen Personal am salomonischen Hof erhält die Einbecker Zuschauergemeinde einen ganz eigenen Zugang zum Spiel, der nicht zuletzt auch ihrem Unterhaltungsbedürfnis gerecht wird. Und schließlich soll der Ruf des hochgelobten Einbecker Bieres nicht durch einen negativen Hand-

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lungskontext untergraben werden. Dies ist ein Faktum, das Arnold Immessen im Rahmen seiner differenzierten Strategien publikumsbezogener Dramaturgie offenbar ganz bewusst kalkuliert hat.26 Das Ambivalente dieses Spiels also ist in besonderer Weise an die aktuelle Aufführung gebunden, wird aber tendenziell eher vermieden oder sogar wieder aufgehoben.

Literaturverzeichnis I. Texte und Quellen Immessen, Arnold, Der Sündenfall und Marienklage. Zwei niederdeutsche Schauspiele aus Handschriften der Wolfenbüttler Bibliothek, hg. v. Otto Schönemann, Hannover 1855. Immessen, Arnold, Der Sündenfall. Mit Einl., Anm. u. Wörterverz. neu hg. v. Friedrich Krage, Heidelberg 1913 (= Germanische Bibliothek. Untersuchungen und Texte 8). Le mystère d’Adam (ordo representacionis ade), eingel. u. hg. v. Paul Aebischer, Genève/Paris 1963 (= Textes littéraires français 99). Das altfranzösische Adamsspiel. Altfranzösisch/Deutsch, hg. von Uda Ebel, München 1968 (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters 7).

II. Forschung Bergmann, Rolf, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (= Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Dahlberg, Torsten, Göttingisch-Grubenhagensche Studien, Lund 1937 (= Lunder Germanistische Forschungen 4). Damköhler, Eduard, Zum »Sündenfall«, in: Niederdeutsches Jahrbuch 41 (1915), S. 127–132 u. Niederdeutsches Jahrbuch 47 (1921), S. 65–68. Hohnbaum, Wilhelm, Untersuchungen zum »Wolfenbütteler Sündenfall«. Diss., Marburg/ Coburg 1912. Krage, Friedrich, Einleitung, in: Arnold Immessen, Der Sündenfall. Mit Einl., Anm. u. Wörterverz. neu hg. v. Friedrich Krage, Heidelberg 1913 (= Germanische Bibliothek. Untersuchungen und Texte 8), S. 3–87. Krogmann, Willy, Rezension zu: Wolff, Arnold Immessen, in: Einbecker Jahrbuch 27 (1966), S. 108–116. Lehnen, Brigitte, Das Egerer Passionsspiel, Frankfurt a. M. u.a. 1988 (= Europäische Hochschulschriften 1034). Rosenhagen, Gustav, Die Wolfenbütteler Spiele und das Spiel des Arnold Immessen, in: Niederdeutsche Studien, FS Conrad Borchling, Neumünster 1932, S. 78–90. 26 Diese Überlegungen aufgreifend und weiterführend hat in der dem Vortrag angeschlossenen Diskussion Jörn Bockmann die sehr einleuchtende Vermutung geäußert, dass die Initiatoren der Spielaufführung auch eine Familiarisierung der Heilsgeschichte bezweckt hätten, indem durch die Aktualisierung der Salomo-Handlung die Heilsgeschichte nach Einbeck geholt worden sei. Möglicherweise kann eine Wiederaufnahme der Nachforschung in archivalischen und historischen Quellen hierzu genaueren Aufschluss erbringen.

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Warning, Rainer, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, Habil., München 1974 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35). Wolff, Ludwig, Arnold Immessen, Bedeutung und Stellung seines Werks in der Geschichte der geistlichen Spiele, Einbeck 1964 (= Studien zur Einbecker Geschichte 2).

V. Gattungsgeschichte

Fidel Rädle Hrotsvit von Gandersheim. Von der poetischen Salvierung einer unheiligen Welt1

Dieser Beitrag soll nicht nur, im Sinne des Tagungsthemas und seiner spezifischen Terminologie, von Hrotsvits Dramen handeln – auch wenn gerade sie an ›Ambivalenzen‹ wahrhaftig nicht arm sind –, sondern von dem gesamten Œuvre dieser einzigartigen Dichterin, die bis auf den heutigen Tag für die kulturelle Tradition Gandersheims steht und die Stadt so sichtbar repräsentiert.2 Solche Präsenz ist durchaus erstaunlich, denn Hrotsvits Leben liegt nun schon über tausend Jahre zurück, und ihr Werk ist natürlich in der damals allein diskutablen lateinischen Sprache verfasst, der man heutzutage lieber aus dem Weg geht.3 Ihre Lebenszeit können wir nur indirekt aus der historischen Situierung ihrer Schriften, insofern sie zur ottonischen Familie und zur Politik Ottos des Großen in Beziehung stehen, erschließen. Hrotsvit4 dürfte um 935 geboren sein und einem adelsfreien sächsischen Geschlecht entstammen; vermutlich schon in früher Kindheit wurde sie dem Frauenstift Gandersheim übergeben, das zu ihrer Zeit ein spiritueller Hort des Ottonengeschlechts war und dessen Gründung und Geschichte sie in ihrem letzten, besonders charmanten Werk, den »Primordia coe­ no­bii Gandeshemensis«, beschrieben hat.5 Hier ist sie ausgebildet worden – eine Nichte Ottos des Großen namens Gerberga war eine ihrer Lehrerinnen – und hier hat sie als Kanonisse, also ohne ausdrückliches Ordensgelübde, ihr Leben 1 Der vorliegende Beitrag ist die erweiterte Fassung des öffentlichen Abendvortrags, der zum Abschluss des ersten Tagungstages (16.3.2016) im Kaisersaal der Stadt Bad Gandersheim gehalten wurde. 2 Als Einführung nach wie vor schätzenswert: Nagel, Hrotsvit; zur Orientierung: Rädle, Hrotsvit; Brown/Wailes (Hgg.), A Companion to Hrotsvit; die gründlichste Darstellung der Person und des Werks von Hrotsvit bietet Goullet, Introduction, in: Dies., Théâtre, S. X–XCIII. 3 Die heute maßgebliche Edition, der die Zitate des vorliegenden Beitrags entnommen sind, stammt von Berschin; von Winterfelds erste kritische Ausgabe von 1902 ist vor allem wegen ihrer reichen Indices zu Hrotsvits Sprache wertvoll. Nützlich und mit ihren Einleitungen und Kommentaren viel gebraucht ist Homeyers Ausgabe: Hrotsvithae opera. 4 Dies ist ihr altsächsischer Name, den sie nur in den lateinisch flektierten Formen mit th (Hrotsvithae etc.) schreibt; daraus leitet sich der heute gebräuchliche Name Roswitha ab. 5 Vgl. Hrotsvit, Primordia, mit den Einführungen zur Gandersheimer Frühgeschichte von Henke/Popp, Hrotsvits Primordia.

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verbracht. Wann sie gestorben ist, wissen wir nicht. Offen bleibt, ob sie den Tod Ottos des Großen (7. Mai 973), der in den »Primordia« noch nicht vorkommt, überhaupt erlebt hat, oder aber, ob sie über dieses Ereignis hinaus tätig war und vielleicht auch noch weitere inzwischen verlorene Dichtungen verfasst hat.6

1. Hrotsvits Entdeckung Es ist sehr erstaunlich, dass Hrotsvits durch und durch mittelalterlich geprägtes Werk über sechs Jahrhunderte bis in die Frühe Neuzeit hinein nahezu vergessen war und der Stern der Dichterin just zu dem Zeitpunkt aufging, als das christlichlateinische Mittelalter untergegangen und von der säkularisierten Welt des Humanismus abgelöst schien. Diese für Hrotsvit und für uns glückliche Wendung verdanken wir dem universal gelehrten, umtriebigen deutschen Humanisten und Poeten Conrad Celtis (1459–1508),7 der im Jahr 1493 auf seiner Jagd nach alten Handschriften im Benediktinerkloster Sankt Emmeram in Regensburg einen heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München liegenden Codex aus dem Ende des 10. Jahrhunderts mit den gesammelten Werken Hrotsvits (allerdings ohne die »Primordia«) aufgespürt hat.8 Der bald darauf ebenfalls von Celtis veranlasste und von Kurfürst Friedrich von Sachsen bezahlte Druck dieser Texte erschien in Nürnberg im Jahr 1501 (mit zwei von Dürer gezeichneten Widmungsblättern und weiteren Illustrationen aus seiner Werkstatt).9 Die Entdeckung Hrotsvits entfachte eine nationalistisch

6 Dazu könnten die nicht mehr erhaltenen Viten der heiligen Päpste Athanasius und Innocentius gehören (mehr dazu unten), deren Entstehung man sich eher nach dem in den »Primordia« geschilderten Reliquienerwerb vorstellen möchte. Tino Licht hat jüngst in einer heute in Würzburg liegenden hagiographischen Sammelhandschrift (vielleicht Weißenburger Provenienz) ein isoliert stehendes Widmungsgedicht gefunden, das er mit überzeugenden Argumenten Hrotsvit zusprechen kann, vgl. ders., Hrotsvitspuren, S. 350–353, mit Abb. S. 352). Die vier einsilbig leoninisch gereimten Hexameter beziehen sich auf die Übersendung abgeschriebener Texte, für die als Dank das Gebet der Empfänger erbeten wird. 7 Vgl. Robert, Celtis, Konrad. 8 Der Codex, Clm 14485 (in der Forschung mit der Sigle M bezeichnet), ist von Berschin, Editoris Praefatio, S. X–XIV, beschrieben und neu, auf kurz vor 980, datiert. Er ist in Gandersheim geschrieben und vor dem Jahr 993 nach St. Emmeram gekommen, wo er unter dem Titel Ars metrica de nativitate sanctae Mariae (!) im Bibliothekskatalog verzeichnet wurde. Die Zeugnisse der spärlichen sonstigen Überlieferung (vgl. ebd., S. XV–XXX) und Rezeption hat Licht durch den Nachweis von Rezeptionsspuren u.a. bei Froumund von Tegernsee und Wulfstan von Winchester erheblich erweitert (vgl. Licht, Hrotsvitspuren, S. 347–353). 9 Vgl. Wuttke, Dürer und Celtis; Hess, Amor als Topograph, Nr. 29.

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grundierte Begeisterung unter den deutschen Humanisten.10 Denn sie konnten in ihrem ansonsten hoffnungslosen Wettstreit mit den feinen Italienern nun endlich etwas vorweisen, was keine andere Nation zu bieten hatte: eine lateinische Dichterin aus dem frühen Mittelalter mit einem höchst originellen literarischen Werk. Tatsächlich kann, wer auf kulturelles Ranking aus ist, mit Hrotsvit Eindruck machen: sie ist nicht nur die erste deutsche Dichterin und Geschichtsschreiberin, sondern überhaupt die erste bedeutende lateinische Autorin seit der Antike und die erste Dramatikerin der christlichen Welt. Ob allerdings Celtis und seine gelehrten Freunde mit den Texten Hrotsvits – zumindest bei näherem Hinsehen und anhaltendem Lesen – tatsächlich viel anzufangen wussten, darf man bezweifeln. Denn ihr Latein ist weit entfernt vom damals geforderten klassisch-antiken Standard, und vor allem ihre Metrik zeigt erhebliche Schwächen. Dieses schwerwiegende Manko räumt Celtis selber in seinem Widmungsbrief des Drucks an den Kurfürsten bereitwillig ein,11 gleichzeitig bittet er für den Fall, dass manche darüber die Nase rümpfen sollten (Quodsi aliquibus orationis compositio in carmine et oratione eius nasum contraxerit), um Berücksichtigung der schwierigen kulturellen Bedingungen, unter denen Hrotsvit ihre Werke verfasste.12 Johannes Cuspinianus (1473–1529)13, Freund und Nachfolger von Celtis auf dessen Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik an der Universität Wien, erwähnt und bewertet in seinem zwischen 1510 und 1524 verfassten Geschichtswerk über die Kaiser des Imperium Romanum14 Hrotsvits Epos über Otto den Großen mit folgenden Worten:

10 Vgl. dazu die vorzügliche Studie von Finckh/Diehl, Monialis nostra, S. 53–72, bes. 53–60; ferner Bodarwé, Hrotsvit and her Avatars, S.  329–362 (u.a. über »Hrotsvit as Feminist«, S. 342–344). 11 Vgl. Celtis, Briefwechsel, Nr. 267, S. 464. 12 Mit solchen stereotypen humanistischen Urteilen über die notorische Verwahrlosung der lateinischen Sprache im Mittelalter wurden Hrotsvits Schwächen noch für lange Zeit begründet und verziehen; vgl. dazu Finckh/Diehl, Monialis nostra, S. 55–69. Heinrich Meibom der Ältere urteilte im Jahre 1621 in seiner »Vita Roswithae monialis«: Dictio est tolerabilis, seculum quo vixit, redolens: in prosodiam plurimum peccavit, quod sexui condonandum est. (zit. nach Finckh/Diehl, S. 68; »Ihre Sprache ist noch zu ertragen, da dieser eben der Geruch der Epoche anhängt, in der sie gelebt hat; metrische Fehler hat sie sehr viele gemacht, was man ihr als einer Frau nachsehen muss.«) 13 Vgl. Stelzer, Cuspinianus, Johannes. 14 Johannes Cuspinianus, De Caesaribus, erst 1540 und dann wieder 1561 gedruckt; im Folgenden zitiere ich nach dem Druck von 1561.

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Res item gestas Othonis, Rosuita uirgo monialis complexa est uersibus: qui licet sint, ut tempora ferebant, neque elegantes, neque satis culti: mirandum tamen est, ingenium muliebre in Saxonia, et ipsa Barbaria educatum et genitum, ea praestare potuisse.15 Die Taten Ottos hat auch Roswitha, eine junge Klosterfrau, in Versen dargestellt; ihre Verse sind allerdings, wie es die damalige Zeit eben mit sich brachte, weder elegant noch überhaupt sprachlich hinreichend gepflegt. Trotzdem muss man sich wundern, wie eine weibliche Begabung, die in Sachsen, und also inmitten barbarischer Kulturlosigkeit, geboren und ausgebildet wurde, so etwas zustande bringen konnte.

Ein schweres Hindernis für eine ehrliche Anerkennung der Dichtungen Hrotsvits im Humanismus war mit Sicherheit die Tatsache, dass sie durchweg in einsilbig binnengereimten (sog. leoninischen) Hexametern und Pentametern bzw., im Fall der Dramen und der nichtmetrischen Vorreden, in Reimprosa verfasst sind. Gereimtes Latein, vor allem aber die vielfach verspotteten Leoniner, galten den Humanisten prinzipiell als Verstoß (vitium) gegen die Natur der lateinischen Sprache und als exemplarisch für die mittelalterliche Verhunzung antiker Sprachkultur.16 Dazu kommt, dass sich Hrotsvits eigenwillige Werke nicht leicht der antik normierten Gattungspoetik fügen: ihre »Dramen« haben in der Antike kein wirkliches Modell, und die hexametrischen hagiographischen Legenden mit ihren Adaptierungen christlicher Hymnik und ihrer fromm gestimmten Subjektivität waren eher fremde Exempel epischer Dichtung.

2. Die Legenden Es handelt sich zunächst um eine Gruppe von Texten, die man als Hrotsvits Legendenbuch zu bezeichnen pflegt. Es ist in zwei Teile geteilt, die jeweils durch einen kurzen poetischen Prolog an Hrotsvits junge Äbtissin und Lehrerin Gerberga eröffnet werden. Ganz am Anfang aber steht eine Praefatio, in der die Verfasserin, noch ohne Nennung ihres Namens, in ungewöhnlich offener Weise über ihr Dichten spricht, und zwar einerseits über ihre schulische Konditionierung und ihr Gefühl, zumal als Frau den ›technischen‹ Anforderungen bezüglich der Sprache und speziell der Metrik nicht zu genügen, andererseits über ihren von Anfang an unbeirrbaren inneren Drang (affectus), Poesie zur Ehre Gottes zu schaffen, und ihre stolze Zuversicht, eben dazu erwählt und befähigt zu sein. Dieser schwer zu entwirrende Komplex aus unablässig wiederholten Eingeständnissen, durch ignorantia, rusticitas, feminea fragilitas, vilitas (»Unwissenheit«, »unkulti15 Ebd., S. 303. 16 Vgl. dazu Rädle, Über mittelalterliche lyrische Formen, S. 340–343; alle Übersetzungen in diesem Beitrag stammen vom Verfasser.

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vierte Sprache«, »weibliche Schwäche«, »Verächtlichkeit«) in der Konkurrenz der männlich dominierten Bildungswelt a priori unterlegen zu sein,17 und, andererseits, einem kaum verhüllten, ja kecken Ausdruck kreativen Selbstbewusstseins, bleibt, auch nach Berücksichtigung und Abzug der Topoi, Kennzeichen und Wesen Hrotsvitscher Selbstdarstellung. Vor allem die geradezu hartnäckige Behauptung ihrer handwerklichen Unzulänglichkeit – die ja auch nicht ernsthaft zu leugnen ist18 und die sie subjektiv ihrem Geschlecht zurechnet – ist alles andere als ein topisches Kokettieren. Das Legendenbuch eröffnen zwei apokryphe Erzählungen mit biblischen Sujets, eine umfangreiche über die Kindheit Jesu mit Maria in der Hauptrolle (nach dem weitverbreiteten sog. Pseudo-Evangelium Matthaei, das vor der Mitte des 9. Jahrhunderts zusammengestellt worden ist) und eine ganz kurze über die Himmelfahrt Christi mit dem Abschied Jesu von seiner Mutter Maria als zentraler Szene. Dazu kommen sechs recht unterschiedliche Legenden. Sie handeln vom heiligen Gongolf, einem ›Märtyrer der Ehe‹, den seine Frau mit einem Priester betrügt, vom Martyrium des Jünglings Pelagius aus Cordoba, vom Teufelsbündler Theophilus, von der Bekehrung des Jünglings Basilius, vom heiligen Märtyrer Dionysius und von der heiligen Märtyrerin Agnes. Ihre literarischen Vorlagen, und das gilt auch für das Dramenbuch, fand Hrotsvit nach ihren eigenen Worten »innerhalb des Bezirks unseres Gandersheimer Klosters« (intra aream nostri Gandeshemensis […] caenobii, S. 2), d.h. in der

17 Nicht nur die Praefationes sind voll von Selbstverkleinerungen, auch mitten in den poetischen Texten bekennt Hrotsvit ihre Unterlegenheit gegenüber den zeitgenössischen poetae docti: Haec sed linquentes doctis tractanda [tractando Hs.] poetis | Pingamus coepta nos fragili calamo (»Aber wir überlassen dies den gelehrten Kollegen zur Bearbeitung und wollen unsererseits darangehen, das Begonnene mit unserem zerbrechlichen Griffel weiter darzustellen« (Gong., V. 337f.); das wie zum Beweis dieser Aussage sehr unglücklich gesetzte Gerundium tractando der Handschrift musste durch die modernen Editoren erst einmal in das erträgliche Gerundivum tractanda verbessert werden!). 18 Von Winterfelds Listen ihrer grammatischen und prosodischen Verstöße sprechen für sich. Die Verse sind syntaktisch sehr locker gebaut, die consecutio temporum wird oft vernachlässigt und nach wechselndem metrischen Bedarf entschieden (ein besonders krasses Beispiel: Pelag., V. 114–119), die Modi werden inkonsequent angewendet; das ablativische Gerundium (mit bald lang, bald kurz gemessener Schluss-Silbe) anstelle des Partizips wird regelrecht totgeritten. Es wimmelt von Pleonasmen und willkürlich wirkenden, weil oft unlogischen Füllwörtern (vgl. Pelag., V. 156); zahlreich sind die aus Versnot kreierten Diminutiva, die gelegentlich geradezu absurd wirken, z.B. wenn Hrotsvit (in den obliquen Kasus) anstelle des metrisch sperrigen gratia das diminutive gratiola selbst dort einsetzt, wo sie ausgerechnet die unermessliche göttliche Gnade meint (z.B. gratiolae […] tantae, vgl. Gesta, V. 132); Entsprechendes gilt für gloriola statt gloria (vgl. Pelag., V. 365), für sentenciola statt sentencia (vgl. Pelag., V. 295) und gar für tanti […] duculi (vgl. Gong., V. 334); zu Hrotsvits Sprache und der Schwierigkeit ihrer Übersetzung vgl. auch Robertini/Giovini, Nota dei trauduttori, in: Dies., Poemetti agiografici e storici, S. 9f.

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Klosterbibliothek,19 und es sind in der Mehrzahl20 spätantike, aus dem Griechischen übersetzte Texte21, überwiegend Berichte von Martyrien. Ihre populärste Legende erzählt die später auch in den Volkssprachen vielfach bearbeitete dramatische Geschichte von Theophilus, dem sogenannten Faust des Mittelalters, der durch die Vermittlung eines Magiers seine Seele mit dem eigenen Blut dem Teufel verschreibt, hier aber zuletzt durch die Fürbitte Mariens vor dem ewigen Verderben gerettet wird. Am Ende des ersten Teils des Legendenbuchs, unmittelbar nach dem »Theophilus«, steht in der Handschrift ein Tischsegen in acht einsilbig gereimten leoninischen Hexametern. Er endet mit folgenden Versen: Quod sumus et quod gustamus vel quicquid agamus, Dextera factoris benedicat cuncta regentis. (S. 93) Was wir sind und was wir kosten und was immer wir tun, das segne die Hand des Schöpfers, der alles regiert.

Man darf daraus schließen, dass Hrotsvits Legenden im Gandersheimer Konvent als Tischlektüre gedient haben.

3. Der Fall Pelagius: Hrotsvits literarische ›Außenbeziehungen‹? Eine interessante Ausnahme unter den Legenden, die, wie schon angedeutet, meist in die ferne Zeit und Welt der Christenverfolgungen führen, bildet die »Passio Sancti Pelagii« mit ihrer ganz speziellen Quelle. Diese Märtyrergeschichte stammt überraschenderweise aus Hrotsvits eigenem Jahrhundert, und sie bezeugt und illustriert mit historischen und geographischen Realien eine von Krieg und Gewalt geprägte Phase der Auseinandersetzungen zwischen dem islamischen Kalifat von Cordoba und den spanischen Christen. Im Zentrum der Handlung steht der mit blendender Schönheit ausgezeichnete (formae splendore decorus, 19 Sie wurde vermutlich durch die erste Gandersheimer Brandkatastrophe, der vor dem Jahr 973 die Stiftskirche zum Opfer fiel, zerstört; aus dieser Bibliothek hat sich immerhin ein einzelnes Blatt (9. Jh.) mit einem Textstück des spätantiken Vergilkommentars von Servius erhalten, den Hrotsvit mit einiger Sicherheit in Händen gehabt haben dürfte (vgl. Abb. 7 in Hrotsvit, Primordia, S. 46). Weitere klägliche Reste verzeichnet Hoffmann, Schreibschulen, S. 72. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass Hrotsvits Verstummen nach 973 mit der Vernichtung der Gandersheimer Bücherschätze zusammenhängt. Zur damaligen politischen und kulturellen Bedeutung Gandersheims vgl. Popp, Nieders. Klosterbuch, S.  433f.; zur Literaturproduktion der Region und Epoche vgl. Schieffer, Die Anfänge. 20 Ausgenommen ist, neben dem gleich zu erwähnenden »Pelagius«, die Geschichte des aus dem 8. Jahrhundert historisch verbürgten Gongolf. 21 Staubach, Graecae Gloriae, S. 356, sieht hier eine literarische Beeinflussung Hrotsvits durch ihre »Interessen- und Studiengemeinschaft mit der graecophilen Königsnichte Gerberga«.

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V. 145) christliche Jüngling Pelagius, den der Kalif Abd ar-Rachman III. sexuell begehrt, und der zur Strafe für seine Verweigerung im Jahr 925 auf grausame und abstoßende Weise, durch Enthauptung mit anschließender Schändung der Leiche, getötet wird. Hrotsvit hat die Geschichte dieses Martyriums durch den angeblichen Augenzeugenbericht »eines Bürgers von Cordoba« kennen gelernt. Dies erfahren ihre Leser am Ende des Legendenbuchs und zu Beginn des Dramenbuchs in der folgenden kurzen klärenden Verlautbarung der Verfasserin, die der Forschung einige Fragen stellt: Explicit liber primus, incipit secundus dramatica serie contextus Huius omnem materiam sicut et prioris opusculi sumsi ab antiquis libris sub certis auctorum nominibus conscriptis, excepta superius scripta passione sancti Pelagii, cuius seriem martirii quidam eiusdem in qua passus est indigena civitatis mihi exposuit, qui ipsum pulcherrimum virorum se vidisse et exitum rei attestatus est veraciter agnovisse. Unde si quid in utroque falsitatis dictando comprehendi, non ex meo fefelli sed fallentes incaute imitata fui. (S. 131) Hier endet das erste Buch, und es beginnt das zweite, das im dramatischen Stil22 verfasst ist. Den gesamten Stoff zu diesem folgenden wie auch zu dem vorausgehenden Buch habe ich aus alten Büchern genommen, die unter gesicherten Autorennamen stehen. Eine Ausnahme bildet die Passion des heiligen Pelagius: die Geschichte seines Martyriums hat mir (für mich) ein einheimischer Bürger der Stadt, in der er sein Martyrium erlitten hat, berichtet (dargestellt), der wahrheitsgemäß bezeugt hat, dass er selber diesen schönsten aller Männer gesehen und vom Ausgang der Affäre Kenntnis erhalten habe. Wenn ich mir also in den beiden Büchern etwas Unwahres eingefangen habe, so stammt die Täuschung nicht von mir, sondern ich habe mich nur unvorsichtigerweise denen angeschlossen, die ihrerseits Unwahres verbreiten.23

Lange Zeit war umstritten, wie in diesem Text der Ausdruck mihi exposuit zu verstehen ist, d.h. auf welche Weise, ob mündlich oder schriftlich (und wo), Hrotsvit die Geschichte von Pelagius kennen gelernt hat. Die Annahme einer mündlichen Kommunikation24 scheint zu überwiegen und sich durchzusetzen, wobei dem mozarabischen Bischof Recemund von Elvira (mit dem arabischen Namen Rabi ibn Zayd), der im Auftrag des Kalifen von Cordoba im Jahr 956 in 22 series bedeutet hier und oft bei Hrotsvit »(sprachliche) Darstellung«, »Art der Darstellung«, »Erzählung«, »Erzählweise« und ist nicht etwa ein Terminus gliedernder Werkorganisation (so Staubach, Graecae gloriae, S. 357); vgl. Goullet, Théâtre, S. 281, mit dem Zitat aus Isidor, Etym. I.41. 23 Hrotsvit verwahrt sich gegen mögliche Zweifel an der Verlässlichkeit ihrer Quellen, nachdem sie in der ersten Praefatio von Kritik wegen ihrer Verwendung apokrypher Schriften zu berichten hatte. 24 So auch bei Rädle, Hrotsvith, S. 201, mit unvorsichtiger Berufung auf Cerulli, Le Calife, der bis heute in der Literatur als wichtigster Gewährsmann gilt.

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Frankfurt die diplomatischen Verhandlungen mit Otto dem Großen führte, eine entscheidende Rolle zugedacht wird.25 Hrotsvit wäre demnach von Recemund in einer persönlichen Begegnung mündlich über die von ihr später dargestellte Pelagius-Geschichte informiert worden26, und dieser konkrete (internationale!) Außenkontakt der Gandersheimer Kanonisse soll Anlass und Ausgangspunkt für ihre wiederum persönlich gedachte Begegnung und Verbindung mit den bedeutendsten Literaten und überhaupt für eine repräsentative Rolle in der Ottonischen Kulturdiplomatie gewesen sein.27 Cerullis folgenreiche Interpretation ist aber denkbar unrealistisch. Man stelle sich vor: Der hohe in Frankfurt agierende Diplomat Rabi ibn Zayd, wohlbestallter Protégé des Kalifen Abd ar-Rahman III., von dem er kurz vor seiner diplomatischen Mission zum Dank für treue Dienste das Bistum von Elvira übertragen (und nach seiner Rückkehr bestätigt) bekommen hat, nimmt sich für 14 Tage frei und zieht, als honoriger Bischof Recemundus, zwischen seinen diplomatischen 25 Vgl. D’Angelo, Homosexuality, S. 30: »It is – as everyone knows – the only work written by the German poet without using a written source (it is based on an eye-witness’ account), and Pelagius is the only contemporary martyr about whom she writes.«; Berschin, Biographie, S. 64; Goullet, Introduction, S. XXIVf.: »Hrotsvita affirme avoir travaillé d’après un récit oral, et on a tout lieu de la croire.«; Wailes, The sacred Stories, S. 94: »by word of mouth«. Staubach, Graecae gloriae, S. 357, schließt sich der Vermutung an, dass »kein anderer als Bischof Recemund von Elvira […] ihr Gewährsmann war« und gründet darauf auch seine These von einer Bekanntschaft Hrotsvits mit Liudprand von Cremona, der Recemund bekanntlich im Jahr 956 in Frankfurt getroffen hat und von ihm zu seinem Geschichtswerk angeregt wurde. Mit dem Postulat dieser Dreierbeziehung Hrotsvit – Recemund – Liudprand ist Staubach zufolge die »Aufhellung von Hrotsviths Hofbeziehungen« (S. 357) gelungen. 26 Cerulli, Le Calife, hält es für logisch, dass Recemund damals von Frankfurt nach Gandersheim zog, »um dem dortigen Konvent die erbauliche Geschichte des heiligen Pelagius zu erzählen« (»il est claire qu’un prélat mozarabe faisant partie de l’ambassade de Cordoue à Othon Ier était plus en mesure de raconter au couvent de Gandersheim la légende édifiante de saint Pélage qu’un ›mercator‹ venu dans le Nord en quête de fourrures et d’esclaves […]«, S.  72). Demnach hätte Hrotsvit in Gandersheim (im Kreise ihrer Mitschwestern) durch Recemund/Rabi ibn Zayd (»son informateur verbal«, Cerulli, S. 72, Anm. 3) die PelagiusGeschichte erzählt bekommen; sie selber schreibt freilich, ihre Quelle sei ein quidam aus Cordoba gewesen. Schon Köpke hat es für kaum glaubhaft gehalten, dass sie von einem sonst so hofierten Bischof Recemund in dieser respektlosen Form gesprochen hätte (vgl. Wailes, The sacred Stories, S. 107, Anm. 71). Dieser Bischof übrigens, der, wie man neuerdings bei Hitchcock, Mozarabs, S. 46f., dargestellt findet, als politisch erfolgreicher Laie und Funktionär des Hofes in Cordoba sein Bistum durch die Gunst des Kalifen zur Belohnung übertragen und nach der diplomatischen Aktion in Frankfurt bestätigt bekam, hat in der Folgezeit seinen Amtssitz in Granada nicht eingenommen, sondern weiter als »courtier« am Hof in Cordoba gewirkt: »There was no incentive for him to dissociate himself from his duties at court. […] In other words, he was an administrator in the Islamic state« (ebd., S. 46). 27 So mit äußerster Konsequenz von Staubach, S. 357, zu Ende gedacht; im Gegensatz zu Cerulli legt er sich nicht fest, wo die »Begegnungen« Hrosvits mit den Männern stattgefunden haben könnten; für ihre simultane Bekanntschaft mit Recemund und Liudprand scheint er an Frankfurt zu denken.

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Verhandlungen im Jahr 956 von Frankfurt nach Gandersheim; dort erzählt er der fleißig auf Wachstafeln mitschreibenden eben 20jährigen Hrotsvit (von deren poetischen Versuchen im Jahr 956 ja noch gar niemand etwas weiß!), wie er selber (!) als Augenzeuge vor 30 Jahren das Martyrium des christlichen Jünglings Pelagius erlebt hat, der doch, dem Bericht zufolge, just ein Opfer des schändlichen »sodomitischen« Kalifen Abd ar-Rahman III. von Cordoba28, also seines derzeitigen Gönners, war! Ganz abgesehen von der lediglich postulierten, durch nichts bezeugten Rolle Recemunds: eine mündliche Erzählung hätte gerade der poetischen Debütantin Hrotsvit nichts genützt, die ihre Dichtung ja, wie man von ihr selber weiß, aus vorhandenen autorisierten Texten zusammen-»webt«29. Liegt es da nicht einfach nahe anzunehmen, dass durch den sich lang hinziehenden diplomatischen Verkehr zwischen Cordoba und dem Ottonischen Hof schriftliche Zeugnisse von aktuellen christlichen Märtyrerschicksalen nach dem Muster des älteren Berichts des spanischen Geistlichen Raguel über Pelagius30 auch nach Gandersheim gelangt sind? Da traf es sich wohl gut, dass die junge Dichterin Hrotsvit gerade dabei war, ihr Talent an der poetischen Bearbeitung alter christlicher Legenden zu erproben, was sie nun ausnahmsweise auch mit einer zeitgenössischen Legende versuchen konnte. Für deren Vermittlung war freilich keine Reise eines Würdenträgers erforderlich. Im Mittelalter ist ja nicht etwa persönliches Kennenlernen, sondern der Austausch übersandter handschriftlicher Texte der normale und bewährte Weg literarischer Kommunikation. Nichts Gegenteiliges bedeutet die vielfach missverstandene, aber eigentlich unproblematische Aussage cuius seriem martirii quidam […] mihi exposuit : »der Augenzeuge hat mir/für mich das Martyrium erzählt/dargestellt«. Das vieldeutige Verb exponere meint keineswegs nur »mündlich erzählen«, sondern auch »schriftlich darstellen«31, wofür Hrotsvit selber schon eine Seite später einen Beleg liefert: nec innocentium laudem adeo plene iuxta meum posse exponerem

28 In Hrotsvits Pelagiuslegende ist der Kalif, der in Wirklichkeit von seinen Zeitgenossen hochrespektiert war, von Anfang an als ein degenerierter, sexuell ausschweifender (deterior patribus, luxu carnis maculatus, V. 73) Tyrann gezeichnet, der sich insgeheim vornimmt, das Land mit unschuldigem Blut zu tränken, indem er das Leben heiliger und gerechter Männer vernichtet (Sed volvens animo servans quoque corde profundo | Saepius innocuo madefecit sanguine rura | Corpora iustorum consumens sancta virorum, V. 80–82). Da müsste Hrotsvit ihren angeblichen Gewährsmann Recemund doch gravierend missverstanden haben. 29 Vgl. 1. Praefatio, S. 2: conficere textum ex sentenciis scripturarum. 30 Vgl. dazu Homeyer, Pelagius, S. 124f. 31 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 1661f.: expono: […] 2 de actione dicendi, scribendi: a narrare, referre – erzählen, berichten […] darlegen, auseinandersetzen, kundtun, vorbringen.

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(S. 132; »und [wenn] ich das Lob der Unschuldigen nicht so vollständig, nach meinen Kräften, darstellen würde […]«).32 Somit darf man annehmen, dass Hrotsvit auch im Fall des Pelagius nach einer schriftlichen, aber eben zeitgenössischen Quelle gearbeitet hat, vor allem aber, dass ein Zusammentreffen Hrotsvits mit dem Bischof Recemund (wo auch immer) ein reines Konstrukt ist.

4. Hrotsvits Dramen und ihre gebildeten Gönner Von Anfang an hat das Buch ihrer Dramen die größte Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Es enthält folgende sechs Stücke: 1. »Conversio Gallicani principis milicie«, eine Liebes- und Konversionsgeschichte zwischen dem heidnischen Feldherrn Konstantins des Großen Gallicanus und der Kaisertochter Constantia; der zweite Teil erzählt das Martyrium Gallicans und der beiden christlichen Lehrer Constantias, Johannes und Paulus, unter Julian Apostata; 2. [Dulcitius], »Passio sanctarum virginum Agapis, Chioniae et Hirenae«, die unter Diokletian spielende Geschichte dreier junger Christinnen, die sich zunächst mit mimisch komischen Tricks der Vergewaltigung durch ihren Bewacher Dulcitius entziehen, schließlich aber ein triumphales, für die Heiden verwirrendes und demütigendes Martyrium erleiden; 3. [Calimachus] »Resuscitatio Drusianae et Calimachi«, ein nach Handlung und Emotionen extremes Stück aus den apokryphen Johannes-Akten: der Heide Calimachus nähert sich leidenschaftlich der verheirateten Christin Drusiana, die Gott in ihrer Not um den Tod bittet; beim Versuch, die Leiche zu schänden, stirbt Calimachus, wird aber durch das Gebet des heiligen Johannes, ebenso wie Drusiana, ins Leben zurückgeholt und »von einem Heiden in einen Christen und von einem nichtsnutzigen in einen enthaltsamen Mann verwandelt« (a gentili in christianum, a nugace in castum transmutatus virum, S. 189); 4. [Abraham] »Lapsus et conversio Mariae neptis Habrahae Heremicolae«, eine anrührende und typisch hagiographische Geschichte vom Einsiedler Abraham und seiner naiv-leichtsinnigen Nichte Maria, die sich, vom Teufel verführt, in ein Bordell in der Stadt verirrt und von ihrem Onkel in der überzeugenden Rolle eines Freiers zurückgeholt wird, Hrotsvits Meisterwerk; 5. [Paphnutius] »Conversio Thaidis meretricis«, ein »Abklatsch« des »Abraham«33: 32 Vgl. ferner Hrotsvits Praefatio zu den »Gesta Ottonis«, S. 272: […] eo quod pomposis facete urbanitatis exponenda eloquentiis praesumpserim dehonestare (»weil ich es gewagt habe, das zu entehren, was eigentlich unter Aufwand feinster rhetorischer Eleganz darzustellen wäre«). 33 Vgl. Strecker, Hrotsvit, S. 595, Anm. 1. Im Argumentum des »Paphnutius«, S. 218, verweist Hrotsvit mit den Worten aeque ut Habraham ausdrücklich auf die Ähnlichkeit mit dem vorausgehenden Stück.

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Der Einsiedler Paphnutius redet der Dirne Thais34 ins Gewissen und veranlasst sie, ihr Leben zu ändern und Buße zu tun; 6. [Sapientia] »Passio sanctarum virginum Fidei, Spei et Karitatis«, in dieser rein allegorischen Legende werden die drei Theologischen Tugenden, als standhafte Töchter der Sapientia, vor den Augen ihrer Mutter grausam gemartert und von dieser in der Nähe Roms bestattet. Bevor das Martyrium beginnt, unterzieht Sapientia den Kaiser Adrianus einer für ihn blamabel endenden mathematischen Prüfung über das Wesen der Zahlen, wofür sich Hrotsvit, wie sie am Anfang ihres Dramenbuchs ausdrücklich ankündigt, mit Fachwissen aus der »Ars arithmetica« des Boethius (ca. 480–524) versehen hat.35 Die Sammlung der sechs Dramen wird eröffnet durch eine nicht adressierte Praefatio der Verfasserin, die ihren Namen noch auf Lateinisch umschreibt: Clamor Validus Gandeshemensis (S. 132, »Starker Ruf aus Gandersheim«), und durch eine »Epistula eiusdem ad quosdam sapientes huius libri fautores« (S. 134; »Brief derselben Verfasserin an einige gebildete Förderer dieses Buchs«). Hier nennt sie gleich zu Beginn ihren altsächsischen Namen Hrotsvit. Bedauerlicherweise weiß man nicht, wer diese »hochgebildeten, moralisch untadeligen, fremde Leistung neidlos anerkennenden« Förderer ihres Dramenbuchs waren (im Dativ: Plene sciis et bene moratis nec alieno profectui invidentibus, S. 134), denen Hrotsvit hier stolz und froh und voller Dankbarkeit für Ermutigung und Lob ihr Dramenbuch übersendet.36 Zur Debatte stehen seit längerem Ottos gelehrter, literarisch besonders an Terenz interessierter Bruder Brun, Erzbischof von Köln (gest. 965),37 sowie zwei weitere zeitgenössische Autoren und politische Akteure, die sich in den frühen 60er Jahren des 10. Jahrhunderts am Hof Ottos des Großen begegnet sind38 und mit deren literarischer Produktion Hrotsvit mehr oder weniger erkennbar bekannt geworden ist. Es handelt sich um Rather (ca. 887–974),39 Mönch von Lobbes, abwechselnd Bischof von Verona und Lüttich, übrigens ebenfalls Terenzkenner, der nach 952 auch eine Zeit lang an der Hofschule Ottos dessen jüngeren Bruder Brun unterrichtete, und um den bereits erwähnten politisch versierten Liudprand von Cremona (ca. 920–970/2).40

34 Thais ist ein klassischer Hetärenname der Antike. 35 Hrotsvit folgt hier eindeutig den Spuren Rathers; vgl. Staubach, Graecae gloriae, S. 358. 36 Dass es drei an der Zahl waren, könnte man nach Hrotsvits Deuteronomium-Zitat 19,15 (wonach drei Zeugen die Wahrheit verbürgen) erwägen, was Staubach, Graecae gloriae, S. 359, Anm. 128, jedoch auf seltsam höhnische Art bestreitet. 37 Vgl. Fleckenstein, Bruno I, Sp. 753–755; vgl. dazu Staubach, Graecae gloriae, S. 356 sowie Licht, Hrotsvitspuren, S. 348. 38 Vgl. Macy, Hrotsvits Theology, S. 80. 39 Schaller, Rather, S. 457f. 40 Karpf, Liutprand von Cremona, S. 2041f.; vgl. auch Staubach, Historia oder Satira, S. 461– 487, wo Rather, aber noch nicht Hrotsvit, ins Bild kommt.

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Durch intensive Textvergleiche programmatischer Partien vor allem aus Rathers »Phrenesis«, vereinzelt auch aus Liudprands »Antapodosis«,41 hat Staubach verblüffende Parallelen zu Hrotsvits Vorreden aufgedeckt. Sie betreffen im Grundsätzlichen den eher souverän als polemisch-verbissen diskutierten Konflikt zwischen heidnischen Autoren (vom Schlage eines Terenz), deren formale Kultur immer zu schätzen sei, und dem christlich belehrten Dichter vom Schlage eines Prudentius. Im Einzelnen aber betreffen sie auffallende Übereinstimmungen in den Denk- und Argumentationsformen sowie, im Sprachlich-Formalen und in der Lexik, eine Fülle identischer Fälle (Ausdrücke der Selbstverkleinerung vor allem in Bezug auf die Sprache, Metaphernmanierismus, Gebrauch von Diminutiva etc.).42 Von solchen Befunden ausgehend postuliert Staubach, wie bereits im Zusammenhang mit Recemunds Rolle erörtert, ein enges, auf persönlicher Bekanntschaft beruhendes und entwickeltes, für die Hofkultur repräsentatives gemeinsames literarisches Bewußtsein zwischen Hrotsvit und den beiden in der politischen Welt erprobten Akteuren Rather und Liudprand. Dieses »ottonische Dreigestirn« existiere in einem »Beziehungsgeflecht«, das »am Hof oder durch den Hof geknüpft worden ist.«43 Dass Hrotsvit damals, als eben Zwanzigjährige, die frühestens sieben Jahre später ihr erstes Werk, das von ihr zunächst heimlich (clam cunctis et quasi furtim, S. 2) gedichtete Legendenbuch, abschloss, bereits »am geistigen Leben der Hofgesellschaft teilnahm«44 und literarische Beziehungen hätte knüpfen können, die über eine normale, intertextuell-literarische Rezeption hinausgegangen wären, ist sehr unwahrscheinlich. Es gibt keine objektive Quelle, vor allem aber kein subjektives Indiz aus Hrotsvits Selbstzeugnissen dafür, dass sie schon früh ihren Fuß – wörtlich oder metaphorisch – etwa (gar zum Zweck literarischer Vernetzung) außerhalb des Bezirks ihres Gandersheimer Klosters gesetzt hätte bzw. hätte setzen dürfen oder müssen. Jedenfalls hat sie, nach ihren eigenen Angaben, für ihr Dichten ausschließlich auf den Literaturvorrat innerhalb dieses Bezirks (intra aream nostri Gandeshemensis coenobii, S. 2) zurückgegriffen. Angesichts der nachgewiesenen Übereinstimmungen zwischen Rathers »Phrenesis« und Hrotsvits Prosavorreden (einmal abgesehen von rein sprachlichen Charakteristika, etwa den skurrilen Diminutiva, die natürlich auch in den Versdichtungen zu belegen sind) ist unstrittig, dass Hrotsvit Rathers Werk gekannt und intensiv benutzt hat. Ihre mehrfache Bezugnahme auf Boethius (»Consolatio Philosophiae«, »Ars arithmetica«) verdankt sie ihm, und vor allem geht die 41 Vgl. Staubach, Graecae gloriae, S. 364, Anm. 141. 42 Eine aus vielen Urteilen zusammengestellte Charakterisierung der völlig unkonventionellen Sprache Rathers bei Staubach, Historia oder Satira, S. 462 mit Anm. 5. 43 Vgl. Staubach, Graecae gloriae, S. 362. 44 Ebd., S. 357.

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kostbare (gleich näher zu behandelnde) Allegorisierung des biblischen Gleichnisses von den Talenten auf ihn zurück. Also: Die in Gandersheim schreibende Kanonisse Hrotsvit ist stark beeinflusst von Rather, der übrigens, wenn man die akzeptierten jeweils geschätzten Geburtsjahre zugrunde legt, 48 Jahre älter ist als sie. Staubach spricht mehrfach von einer »Replik« Hrotsvits auf Rathers »Phrenesis«, aber auch von ihrer »Rezeption«. Ist sie aber deshalb schon die »kongeniale literarische Dialogpartnerin«45, für welche »die Begegnung mit Rather den wohl wichtigsten Entwicklungsimpuls« auf ihrem Weg »von der Rolle einer Schülerin« zur »selbstbewussten Autorin« bedeutet haben muss?46 Und sind Hrotsvits verschiedene Praefationes und zumal die »Epistola ad quosdam sapientes huius libri fautores« tatsächlich »Teil eines einzigen literaturtheoretischen Diskurses«47, den sie sich im Austausch mit den beiden gebildeten Männern des »ottonischen Dreigestirns« erarbeitet hat? An keiner Stelle verraten Hrotsvits Vorworte irgendeine ›professionell‹ begründete Vertrautheit mit auswärtigen »Schriftstellerkollegen«48. Das einzige diesbezüglich eindeutig nach außen, wenn auch anonym, adressierte Selbstzeugnis, die »Epistola«, spricht nicht etwa von einer gemeinsamen geistigen im Dialog erzielten Konsens-Ebene aus. Sie spricht vielmehr nicht literaturtheoretisch, sondern zum Glück person- und werkauthentisch, ihres eigenen Wertes und ihrer gottgegebenen und eigenartigen Begabung wohl bewußt, aber aus einem demonstrativen und objektiv erkennbaren Abstand zu den Meistern. Zwar nimmt Hrotsvit in der Praefatio des Dramenbuchs direkt Bezug auf den antiken Komödiendichter Terenz (ca. 195/190–159 v. Chr.), ihre Stücke haben jedoch mit diesem nicht sehr viel zu tun, wenn man die lediglich unspezifischen Ähnlichkeiten in Bezug auf szenische Konstellationen, Handlungsverläufe und Personencharakterisierung nicht überbewerten will.49 Denn Terenz ist hier nur 45 Ebd., S. 359. Es gibt, außer den stillschweigend rezipierten und variierten Gedanken und Wendungen aus der »Phrenesis«, keinen namentlich adressierten Brief und keine Widmung, woraus man auf einen wirklichen »Dialog« und auf eine entscheidende »Begegnung« zwischen Hrotsvit und Rather schließen könnte (falls man nicht jedes intertextuelle Geschehen als Dialog bezeichnen will). Ein anonymer Dankesbrief an mehrere »Gönner« begründet noch keinen »Dialog«, denn der willkürlich Nominierte meldet sich ja nicht zurück. 46 Ebd., S. 362. Auch nach dem Urteil von Goullet, Introduction, S. XXIIIf. hat Staubach Ra­ thers Bedeutung für Hrotsvit übertrieben. 47 Staubach, Graecae gloriae, S. 359. 48 Ebd., S.  355, über die an Rather intertextuell teilnehmenden Autoren, zu denen Hrotsvit gehört. 49 Sie sind auf der Basis der Untersuchungen von Giovini und Tuzzo thematisiert bei Cardelle de Hartmann, Klassiker, bes. S. 147–149, wo die prinzipielle Inadäquatheit eines Vergleichs zwischen Hrotsvit und Terenz durch folgende Überlegung auf geradezu entwaffnende Weise zum Ausdruck gebracht wird: »Auch die dramatische Struktur ist [bei Hrotsvit] häufig [wie bei Terenz] um ein Liebespaar (allerdings in divina übertragen, nämlich eine Jungfrau und Christus), dessen Widersacher und dessen Helfer, aufgebaut. Das Paar ist am Ende glücklich

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Ausgangspunkt und Objekt einer »Kontrastimitation«50, von dem sich Hrotsvit mit gleich noch zu diskutierender Begründung distanziert und emanzipiert. Immerhin hat sie sich mit ihren sechs Stücken an der Zahl der überlieferten Terenzkomödien orientiert und von ihrem Autor wenigstens eine elementare Auftritts- und Dialogtechnik mit typisch verknappten Anrede- und Replikformeln übernommen, dazu auch den einen oder anderen sprachlichen Ausdruck entliehen. Aber es sind keine Dramen im Sinne der antiken Muster, wie sie erst viel später in der humanistischen Schule aufkommen, es sind vielmehr gattungsmäßig ungefüge »Dialoglegenden«51 bzw. »dramatisierte Legenden«52. Etwas heimatlos zwischen den Gattungen stehen am Ende des Dramenbuchs 35 leoninische Hexameter, die offenbar als Tituli zu zwölf bildlichen Szenen aus der Apokalypse des Johannes verfasst wurden.

5. Die historischen Epen Das dritte Buch enthält zwei historische Epen, die »Gesta Ottonis« über die ruhmreichen Taten Ottos des Großen und die für Gandersheim kostbaren »Primordia coenobii Gandeshemensis«, also die Geschichte der Gründung des Klosters und der Klosterkirche in Gandersheim durch Herzog Liudolf und seine Gemahlin Oda.53 Dieses letzte Werk Hrotsvits ist als einziges nicht im St. Emmeramer Codex enthalten und erst etwa 30 Jahre nach dessen Entdeckung separat in einer inzwischen leider verlorenen mittelalterlichen Handschrift in Gandersheim aufgefunden worden, wozu gleich noch etwas zu sagen ist. Mit ihren beiden Epen hat Hrotsvit die fast ausschließlich fiktionale, historisch zumindest weit entrückte Welt ihrer Legenden und Dramen hinter sich gelassen, um zuletzt aus ihrem eigenen Lebensbereich und von ihrer eigenen Zeit zu berichten. Und während sich das Legendenbuch und das Dramenbuch dem spontanen und freien schöpferischen Impuls der Autorin verdanken, sind die Epen offizielle Auftragsarbeiten der ottonischen Hofgeschichtsschreiberin Hrotsvit, die offenbar durch ihre poetischen Werke nunmehr als für diese Aufgabe qualifiziert galt.54 vereint, was aber bei diesem besonderen Paar bedeutet, dass die Jungfrau sich dem asketischen Leben widmet oder das Martyrium erleidet«(ebd., S. 149). 50 Vgl. Meier, Seneca redivivus, S. 280. 51 Neumann, Denkstil, S. 50 52 Cardelle de Hartmann, Kreative Imitation, S. 366, Anm. 36. 53 Näheres dazu bei Rädle, Hrotsvits poetisches Werk, S. 14–31. 54 Vgl. Berschin, Biographie, S. 65f.: »Hrotsvit verläßt mit dieser Arbeit [d.h. den »Gesta Ottonis«] gewissermaßen die Schule und begibt sich ins Milieu des Hofes. Wie wenig wohl ihr dabei ist, läßt sie in ihrer vierten und letzten Prosavorrede durchblicken.«

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Bedauerlicherweise haben die beiden historischen Texte schwere Überlieferungsverluste erlitten. Etwa 680 Verse von ursprünglich 1511 (bzw. 1517) der »Gesta« sind verloren, den »Primordia«, die heute noch knapp 600 Hexameter umfassen, fehlt im ersten Drittel eine Partie von geschätzten 200 Versen. Dieser letztere Verlust ist für Gandersheim besonders schmerzlich, weil es gerade an dieser Stelle um die Erwerbung der Reliquien der beiden heiligen Stiftspatrone Anastasius und Innocentius ging. Durch den Textverlust fehlt Hrotsvits Bericht von der Übergabe der vom Papst zugesagten Reliquien an Liudolf und Oda, vor allem aber die Beschreibung der vermutlich von Wundern begleiteten Überführung (der ›Translatio‹) dieser Reliquien von Rom nach Sachsen mit ihrem Empfang in Gandersheim und ihrer zwischenzeitlichen Deponierung in der alten Kirche in Brunshausen. Der um Gandersheims Geschichte hochverdiente Historiker Hans Goetting hatte vor 65 Jahren zum ersten Mal und später wiederholt auf diese eklatante Lücke in den »Primordia« hingewiesen und sich gewundert, dass alle Herausgeber – und man darf hinzufügen: auch alle Übersetzer und Interpreten – den Bruch in der Erzählung entweder gar nicht bemerkt oder aber daran keinen Anstoß genommen haben.55

6. Verlorenes und eine Reliquienschenkung für Gandersheim Vielleicht noch schmerzlicher ist ein weiterer Verlust. Nach einer zuverlässigen Quelle aus den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts hatte Hrotsvit für eben die beiden genannten Heiligen auch eigene Viten geschrieben, die zusammen mit den »Primordia« in der erwähnten damals noch existenten mittelalterlichen Handschrift überliefert waren. Als Probe aus den also nur lückenhaft erhaltenen »Primordia«, die nach Paul von Winterfeld »Heimatkunst im schönsten Sinne«56 darstellen, sei hier wenigstens zitiert, was dort unmittelbar vor der beklagten Textlücke über diese heiligen Päpste und ihre heute in Gandersheim verehrten Reliquien geschrieben steht. Die Szene spielt in Rom im Jahr 845. Herzog Liudolf bittet den Papst Sergius II. »um die Gnade, verehrungswürdige Reliquien von Heiligen zu empfangen, zu deren Ehre der ganze Bau des Gandersheimer Klosters mit reichem Segen geweiht und durch deren Verdienste er geschützt werden kann« (Praesta sanctorum nobis sacra pignora, quorum / Omnis coenobii constructio possit honori / Apte signari sacris meritisque tueri., V. 149–151). Der Papst antwortet: 55 Vgl. Goetting, Die Anfänge, S. 11 und 36f.; vgl. Goetting, Überlieferungsschicksal, S. 96f.; das Problem dieser Lücke ist diskutiert bei Rädle, Hrotsvits poetisches Werk, S. 20–26 und S. 44f. 56 von Winterfeld, Deutsche Dichter, S. 450.

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[…] Nec vobis credo fas esse negare petita. Hic duo rectores fuerant aliquando potentes, Praesul Anastasius sedis sanctissimus huius Et coapostolicus sacer Innocentius eius, Qui post pastorem Petrum Paulumque magistrum Ecclesiae meritis celebres fulsere supremis; Quorum tam magna servantur corpora cura Hactenus a cunctis huius rectoribus urbis, Ut nec particulam quisquam subtraxerat umquam Pleno membrorum numero remanente sacrorum. Sed quia iure piis concedere debeo votis, Amborum vobis donabo pignora gratis Corporibus sacris abscisa patenter ab ipsis, Si sacramento confirmatis mihi facto Haec in coenobii venerari iam memorati Finetenus templo vestri munimina facto Nocte dieque sacris illic resonantibus hymnis Necnon accenso praeclaro lumine semper. (V. 160–177) Ich hielte es nicht für richtig, euch eure Bitten abzuschlagen. Hier in Rom gab es einmal zwei mächtige Lenker der Kirche: Anastasius, den hochheiligen Bischof dieses apostolischen Stuhles, und Innocentius, auch er ein heiliger Papst. Nach dem Hirten Petrus und dem Lehrer Paulus erstrahlten sie im Glanz ihrer höchsten Verdienste. Ihre Leiber wurden bisher von allen Lenkern dieser Stadt Rom mit so großer Sorgfalt verwahrt, dass niemand auch nur ein Stückchen davon weggenommen hat und somit die Zahl ihrer heiligen Glieder vollständig erhalten geblieben ist. Aber da ich frommen Bitten von Rechts wegen entgegenkommen muss, will ich euch gerne Reliquien dieser beiden Heiligen, wenn sie offen sichtbar von den heiligen Leibern abgetrennt worden sind, ohne Bezahlung übergeben, – sofern ihr mir durch Eid bestätigt, dass sie in der dann unter eurem Schutz zu Ende gebauten Kirche des erwähnten Klosters durch die dort Tag und Nacht erschallenden heiligen Hymnen und das ewig brennende herrliche Licht verehrt werden.

Unmittelbar nach diesen Worten bricht der Text ab. Wenn die Erzählung wieder einsetzt, befindet man sich bereits wieder in Gandersheim, auf der Suche nach einem geeigneten Bauplatz für die vom Papst approbierte Kirche.

7. Hrotsvit über sich selbst. Die Anfänge: clam cunctis et quasi furtim Wie schon mehrfach erwähnt, hat Hrotsvit allen ihren drei Büchern jeweils Vorworte bzw. Widmungsbriefe vorangestellt, aus denen wir zwar nur wenig zu ihrer objektiven Biographie, dafür aber vieles, und fast Einzigartiges über ihr

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Dichten und über ihr Selbstverständnis als Autorin erfahren. In der Praefatio zum Legendenbuch berichtet sie, wie sie als junges Mädchen zuerst von ihrer hochgebildeten und gütigen Lehrerin Rikkardis und deren Stellvertreterinnen unterrichtet worden sei, dann aber bei der neuen Äbtissin Gerberga, einer Nichte Ottos des Großen, die übrigens im Unterricht sehr freundlich zu ihr gewesen sei, die lateinische Literatur studiert habe. Gerberga, die jünger war als Hrotsvit, aber, »wie es sich für die Nichte des Kaisers geziemte, in ihrer Bildung fortgeschrittener« (scientiâ provectior), hatte ihrerseits ihr Wissen bei besonders kundigen Männern (a sapientissimis, S.  2, vielleicht in Sankt Emmeram in Regensburg) erworben. Dieser geliebten Lehrerin widmet Hrotsvit ihr Legendenbuch in einem eigenen, sprachlich und metrisch recht hinfälligen Gedicht, in dem die Schülerin ihre Lehrerin feierlich als »hehre Herrscherin« (dominatrix alma) anredet und mit einem nicht nur gespielten schlechten latinistischen Gewissen, aber doch auch in recht couragiertem Ton um gelegentliche Lektüre ihrer Texte und Korrektur ihrer Fehler bittet. Sie schreibt: Salve, regalis proles clarissima stirpis, Gerbirg, illustris moribus et studiis. Accipe fronticula, dominatrix alma, serena Que tibi purganda offero carminula, Eius et incultos dignanter dirige stichos, Quam doctrina tua instruit egregia, Et cum sis certe vario lassata labore, Ludens dignare hos modulos legere, Hanc quoque sordidolam tempta purgare camenam Ac fulcire tui flore magisterii, Quo laudem domine studium supportet alumnae Doctricique piae carmina discipulae. (S. 3) Gruß Dir, ruhmreicher Sproß aus königlichem Stamm, / Gerberg, von Sitten und Bildung erstrahlend, / empfange, hehre Herrscherin, mit heiterer Stirn / die bescheidenen Dichtungen, die ich Dir zur Korrektur vorlege. / Und verbessere gnädig die missratenen Verse Deiner Schülerin, / die Du mit Deiner überragenden Gelehrsamkeit unterrichtest. / Und auch wenn Du sicherlich müde bist von all der vielfältigen Arbeit, / sei so gütig und lies diese Verse, ohne Dich anzustrengen, / und versuche, auch diese verschmutzte Dichtung zu reinigen / und mit Deiner kraftvollen Meisterschaft zu stützen / damit der Eifer ihres Zöglings der Herrin / und die Gedichte der frommen Schülerin ihrer Lehrerin zum Ruhm gereichen.

Hier und vor allem in ihren insgesamt vier prosaischen Praefationes sowie in mehreren poetischen Widmungen an Einzelpersonen bedient sich Hrotsvit offensichtlich forcierter Bescheidenheitstopoi, denen man jedoch nicht grundsätzlich misstrauen sollte. Sie betreffen das Eingeständnis mangelhafter literarischer

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Qualität und das Bekenntnis intellektueller Minderwertigkeit. Beides begründet Hrotsvit regelmäßig und beinahe penetrant mit ihrer condicio als Frau. Als solche hat sie zum einen schlechtere Bildungsmöglichkeiten als die männlichen welterfahrenen Gebildeten (die sie die sapientes, manchmal auch die sapientissimi nennt) oder als »die gelehrten Dichter« (die docti poetae, Gongolfus, V. 337), zum andern ist sie als Frau nach der herrschenden theologischen und gesellschaftlichen Konvention von der Natur bzw. von Gott auf den zweiten Rang verwiesen. Zahllos und auch maßlos sind die negativen Qualifizierungen, die Hrotsvit selber für den sprachlichen und ästhetischen Wert ihrer Werke findet. Ähnlich übertrieben erscheinen die vielfachen Variationen demütiger verbaler Selbsterniedrigung, die sich auf ihre eigene Person als Angehörige des notorisch schwachen weiblichen Geschlechts beziehen. Sie nennt sich »ganz dumm« (nesciola, im Vergleich zu den – natürlich männlichen – sapientes) und ein »verächtliches Weiblein« (vilis muliercula), und sie bittet, »der Leser möge die armselige Frau in ihrem schwachen Geschlecht nicht gänzlich verachten, die mit ihrer zerbrechlichen Rohrflöte diese Weisen vorgetragen hat« (Nec fragilem vilis sexum spernat mulieris, | Quae fragili modulos calamo cantaverat istos, Basilius, V. 10f.).57 Aus allen diesen Äußerungen spricht – positiv – ein großer Respekt vor sprachlicher Bildung, vor Schulwissen allgemein und speziell vor den handwerklichen Voraussetzungen des Dichtens. Auffallend oft kommt sie auf die technische Schwierigkeit der Textkomposition und ihrer metrischen Umwandlung und Dekorierung zu sprechen, immer mit erkennbar ehrlicher, nicht nur topischer Bescheidenheit. Hier tritt tatsächlich ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl zutage, das ihr aber nicht zur Schande gereicht. Größer noch ist ihr Respekt, vielmehr ihre Demut vor der Würde von Dichtung als einem fast religiösen kreativen Akt, zu dem der Mensch berufen sein kann und zu dem sie sich selbst tatsächlich berufen fühlt, wie gleich deutlich werden wird. Ihre Haltung als Dichterin ist am zutreffendsten mit dem oft wiederkehrenden Begriff devotio bezeichnet, der Demut und Ehrfurcht vor der schweren Aufgabe vereinigt und zugleich eine Art Erwähltheitsbewusstsein nicht ausschließt. Er bezieht sich zum einen auf die grundsätzlich verehrungswürdigen Stoffe und zum andern natürlich auf die freie und kühne Entscheidung, für sich die Rolle einer Dichterin anzunehmen, wenn nicht sogar ausdrücklich zu beanspruchen. Sie hat, wie sie in der ersten Praefatio an den Leser erzählt, schon in ganz jungen Jahren auf eigene Faust zu dichten angefangen, denn sie wagte es nicht, ihre sie insgeheim lockende Neigung, etwas zu dichten (sie nennt das einen affectus), irgendeinem der sapientes zu verraten und sich Rat zu holen, weil sie fürchtete, wegen ihrer unzulänglichen sprachlichen Fähigkeiten von vornherein 57 Den aus der Bukolik stammenden Ausdruck calamo cantare (»dichten«) verdankt Hrotsvit Vergils Eclogen (vgl. Ecl.1,10; 2,32).

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davon abgehalten zu werden: ne prohiberer pro rusticitate (S. 1). Sie wollte aber unbedingt etwas dichten! Das folgende Zitat, in dem sich eine kreative Begabung freimütig und ungeniert zu ihrer ersten poetischen Produktion äußert, ist im Mittelalter durchaus ungewöhnlich: Unde clam cunctis et quasi furtim nunc in componendis sola desudando nunc male composita destruendo satagebam iuxta meum posse licet minime necessarium, aliquem tamen conficere textum58 […]. (S. 2) Deshalb bemühte ich mich, unbemerkt von allen und gewissermaßen verstohlen, bald einsam über der Ausarbeitung schwitzend, bald das Misslungene wieder verwerfend, unbedingt, nach meinem schwachen Vermögen, irgendeinen Text zu schreiben [eigentlich zu ›weben‹], obwohl der überhaupt nicht nötig gewesen wäre.

Hrotsvits pointiert konzessive Bewertung ihrer Dichtung: licet minime necessarium (scil. textum), die so viel meint wie: ›die kein Mensch vermisst hätte‹, und die ihr Bekenntnis zu diesem Erstling kess unterstreicht, ist mehrfach missverstanden worden.59 Etwas später schreibt sie in demselben Vorwort, sie habe ihr Legendenbuch allein im Vertrauen auf die Hilfe der stets sich erbarmenden göttlichen Gnade, nicht etwa im Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte, in Angriff genommen, ne crediti talentum ingenioli sub obscuro torpens pectoris rubigine neglegentiae exterminaretur, sed sedule malleo devotionis percussum aliquantulum divine laudationis referret tinnitum, quo si occasio non daretur negociando aliud lucrari, ipsum tamen in aliquod saltim extreme utilitatis transformaretur instrumentum.60 (S. 2) damit nicht das Talent der mir anvertrauten schwachen Begabung in der unerleuchteten Höhle meines Verstandes ungenutzt herumliegt und vom Rost der Gleichgül58 textus hat bei Hrotsvit noch die alte Bedeutung von »Gewebe«. 59 Homeyer, Hrotsvithae opera, S. 37, Anm. 6, verfälscht den Sinn, wenn sie minime necessarium (ohne textum zu berücksichtigen), mit »etwas(!), das wenigstens einen kleinen Nutzen hat«, wiedergibt; ihr folgt Brown, Apostolic mission, S.  242, nach Wilson (ebendort in Anm. 18 zitiert): »to put together a text – be its merit ever so slight«; Goullet, Œuvres, S. 38, bezieht licet minime necessarium irrtümlich auf meum posse: »mes moyens, si faibles fussentils«. 60 Wie bereits weiter oben angedeutet, hat Staubach die Herkunft dieser komplizierten Überlegung aus Rathers »Phrenesis« völlig überzeugend nachgewiesen; im 5. Brief an Erzbischof Rotbert, den der Herausgeber Weigle auf die Jahre 939–944 datiert, schreibt Rather: Quae similitudo, ut reor, monet inter cetera me peccatorem tantillum ingenioli, quod Deo sum assecutus largiente, illo potius acui oportere, ubi Christus est in dextera sedens, quam terrenae vanitati committere et nihil aliud exinde nisi ventum inanem nec sine detrimento animae maximo captare (Die Briefe des Bischofs Rather, S. 31; »Dieses Gleichnis ermahnt, wie ich glaube, unter anderem, mich als Sünder, dass die Winzigkeit meines bescheidenen Geistes, den ich durch die freigebige Güte Gottes erlangt habe, eher dort geschärft werden muss, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt, als dass ich ihn (d.h. meinen bescheidenen Geist) irdischer Eitelkeit

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tigkeit zerstört wird, sondern vielmehr, angeschlagen vom Hammer eifrigen demütigen Dienstes, wenigstens einen kleinen Ton von Gottes Lob erklingen lässt, damit, wenn sich schon keine Gelegenheit bietet, ein weiteres Talent hinzuzuerhandeln, dieses eine Talent zu einem (Musik-)Instrument umgeformt wird, das wenigstens einen minimalen Nutzen hat.

Der Satz, der exemplarisch für Hrotsvits metaphernreiche Sprache stehen mag, ist so schwierig, weil er mehrere Bedeutungsebenen des Worts talentum ineinanderschiebt. Das Talent ist bei den Griechen die höchste Maß- und Werteinheit aus Edelmetall. Bestimmend für Hrotsvit ist aber natürlich das im Matthäusevangelium überlieferte Gleichnis von den Talenten, die ein Hausherr an seine Knechte austeilt (je nach der Qualifikation des Empfängers: fünf oder zwei oder nur eines), damit sie während seiner Abwesenheit ihren Besitz durch Handel vermehren (Mt 25,14ff.). Aber Hrotsvit beutet zusätzlich auch die Metall-Qualität dieses Zahlungsmittels aus und gewinnt dadurch noch die Rost-Metapher und die beiden Klang- bzw. Musikmetaphern hinzu.61 Bedeutsam und für Hrotsvits gesamtes Werk gültig ist in diesem Zitat der Ausdruck divine laudationis tinnitus, der Zweck und Idee ihres Dichtens treffend zusammenfasst. Hrotsvit ist vor allem eine lobpreisende Verherrlicherin Gottes und seiner Werke, zu denen die triumphalen Lebensschicksale ihrer Heldinnen und Helden gehören. Sie empfindet ihr Dichten als die Vorstufe des ewigen Lobgesangs im Himmel, den sie dafür verdient hat, und ihr dringlichster, mehrfach geäußerter Wunsch ist, dort im Chor der Jungfrauen weniger fehlerhaft weitersingen zu dürfen.62 Hrotsvit ist also in keinem Fall eine theologische Lehrerin und auch keine moralisch richtungweisende Predigerin.63 Sie predigt nicht, sie widme und dabei nichts anderes als eitlen Wind erhasche und schwersten Schaden für meine Seele ernte.«) Wie man sieht, ist Hrotsvits Selbstbewusstsein als Autorin im Vergleich zum notorisch aufgeregten Rather religiös entspannt, begütigend und fast souverän. 61 Auch in dieser Hinsicht geht sie über ihre Vorlage entschieden hinaus. 62 Vgl. Maria, V. 13–44; Ascensio, V. 147–150. 63 Insofern ist der von Brown vielfach gebrauchte Begriff »apostolic mission« für Hrotsvit nicht glücklich. Das von ihr (vgl. Apostolic mission, S. 236) als Beleg aus »Ascensio« (V. 23–29) genommene Zitat ist in Wirklichkeit aus Matthäus (28,19) bzw. Johannes (20,2) kompilierte Figurenrede Jesu und beweist keineswegs ein »apostolisches« Sendungsbewußtsein Hrotsvits. Sie ›predigt‹ nicht, um die Menschen zu bekehren. Natürlich verkündet und lehrt sie implizit christliche Normen, doch gibt es gewiss wenige mittelalterliche Autoren, deren Schriften so wenig missionarisch sind und so wenig auf conversion zielen wie die ihren. Sie versteht ihr Werk als kleine Danksagung für die Erlösungstat Christi: »qui […] me, licet exiles, fecit persolvere grates«, Maria, V. 900f.). In solchem Sinn schreibt Zampelli, Hrotsvits »Predigen« beziehe sich auf die Verherrlichung der Glorie und Macht Christi (vgl. Zampelli, The Necessity, S.  154), und sie setze die theatralischen und dramatischen Mittel ein »not only for teaching about, but also for making present, integrative spiritual experience« (ebd., S. 148); in seiner »Conclusion« variiert er den Gedanken noch einmal: »Hrotsvit is composing actual dramas that attempt not only to teach but also to make present mysteries of faith

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verkündet, besingt und feiert die letztlich selige Welt der von Gott Erwählten und Belohnten. Sie hat darum auch wenig aktives Interesse an der Verfolgung und Bestrafung der Bösen, die ja nur in ihrer Verblendung das Werk des Teufels vollbringen. Dass sie von der Seligkeit Gottes ausgeschlossen sind, ist in ihren Augen Strafe genug. In den Praefationes kann man beobachten, wie unbeirrbar Hrotsvit an ihrer eigenen Verpflichtung und Berufung zur Dichterin festhält.64 Das bringt sie noch einmal auf entwaffnende Weise in der Praefatio zu ihrem Dramenbuch zum Ausdruck. Sie schreibt dort: Nec enim tantae sum iactantiae, ut vel extremis me presumam conferre auctorum alumnis, sed hoc solum nitor, ut licet nullatenus valeam apte, supplici tamen mentis devocione acceptum in datorem retorqueam ingenium. Ideoque non sum adeo amatrix mei, ut pro vitanda reprehensione Christi qui in sanctis operatur virtutem quocumque ipse dabit posse cessem praedicare. Si enim alicui placet mea devotio, gaudebo, si autem, vel pro mei abiectione vel pro vitiosi sermonis rusticitate nulli placet, memet ipsam tamen iuvat quod feci […]. (S. 133) Ich bin nicht von solcher Prahlsucht beherrscht, dass ich mich auch nur mit den geringsten Zöglingen der Autoren65 zu vergleichen wagen würde, vielmehr geht es mir nur darum, dass ich, auch wenn ich dazu überhaupt nicht angemessen in der Lage bin, mich doch in aller Demut des Herzens für meine Begabung dem gegenüber dankbar erweise, der sie mir geschenkt hat.66 Deswegen ist mir meine Person nicht so wichtig, dass ich, nur um mich nicht zu blamieren, davon abließe, die Macht Christi, der ja in seinen Heiligen wirkt, zu preisen, wie immer er mir das gewährt. Wenn also jemand mit meiner demütigen Entscheidung zu dichten einverstanden ist, freut mich das; wenn sie aber jemandem missfällt, sei es wegen der Verächtlichkeit meiner Person, sei es wegen meiner unkultivierten und fehlerhaften Sprache, so habe ich doch in jedem Fall selber meine Freude an dem, was ich da gemacht habe.

(S. 199). Alle ihre Werke, nicht nur die Dramen, haben mit ihrer starken inneren Bewegung, ihrer Nähe zum Gebet und zum Hymnus statt einer didaktischen eine deutlich liturgische Qualität. 64 Vgl. dazu Spanily, Autorschaft, S. 60–66, bes. S. 64f. über Hrotsvits aus Demut und christlichem Erwähltheitsbewußtsein gemischten »Selbstbezeichnungen«. 65 Möglicherweise meint Hrotsvit damit ihre jungen Zeitgenossen, die, wie sie selber, in den Schulen unter Anleitung von Lehrern mit heidnischen und christlichen Autoren vertraut gemacht werden. 66 Der Gedanke, den auch Rather (vgl. Staubach, Graecae Gloriae, S.  358) zum Ausdruck bringt, ist den christlichen Dichtern der Spätantike geläufig.

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8. Terenz und das Paradies der Bräute Christi Und Hrotsvit traut sich tatsächlich immer mehr zu. Das äußert sich vor allem in ihrem kühnen Projekt, den attraktiven heidnischen und erotiklastigen Terenz, der frommen Seelen schaden könnte, christlich zu ersetzen. Sie möchte nämlich »auf dieselbe Art, wie bei Terenz die schändlichen Hetärengeschichten vorgeführt wurden, [ihrerseits] die rühmenswerte Keuschheit heiliger Jungfrauen feiern« ([…] quo eodem dictationis genere, quo turpia lascivarum incesta feminarum recitabantur, laudabilis sacrarum castimonia virginum iuxta mei facultatem ingenioli celebraretur. S. 132). Aber sie ist sich klar darüber, dass sich dieser ehrgeizige Plan nur dann dramatisch überzeugend verwirklichen lässt, wenn dem intendierten Sieg der Jungfräulichkeit bzw. der Jungfrauen über ihre Peiniger eine glaubwürdige Gefährdung eben dieses ihres Ideals vorgeführt worden ist. Also musste sich Hrotsvit, um die Handlungen ihrer Anti-Terenzdramen zu motivieren, schwer zu bewältigende, möglichst auch erotisch verfängliche Situationen ausdenken (bzw. aus den tradierten Märtyrerlegenden extrahieren), die am Ende regelmäßig in einen Triumph der feminea fragilitas über die rohe Kraft der Männer münden, und das gelang ihr umso besser, je näher die erotischen Verlockungen der blind Verliebten an die sexuelle Verführung heranreichten. So musste sie zugeben, sie geniere und schäme sich oft bei dem Gedanken, dass sie sich, dem Zwang der komödienspezifischen Darstellung gehorchend, eigentlich verbotene erotische Szenen, die man gar nicht anhören dürfte, ausgedacht und niedergeschrieben habe: Hoc tamen facit non raro verecundari, gravique rubore perfundi, quod huiusmodi specie dictationis cogente detestabilem inlicite amantium dementiam, et male dulcia colloquia eorum, quae nec nostro auditui permittuntur accommodari, dictando mente tractavi, et stili officio designavi. (S. 132). Hrotsvit hat in dieser Hinsicht tatsächlich Mut bewiesen und viel gewagt. In ihrem populären »Dulcitius« kommt es gleich nach Beginn zu einem systematisch vorbereiteten Vergewaltigungsversuch. Die drei christlichen Schwestern Agape, Chionia und Hirena, die das Götteropfer verweigert haben, werden von Kaiser Diokletian dem Praeses Dulcitius zur Folterung übergeben. Der lässt sich die Frauen wie bei einer Auktion erst einmal vorführen, kommentiert dabei im kennerhaften Gespräch mit seinen Soldaten ihre verführerische Schönheit, und ruft aus: »Ich brenne danach, sie mir gefügig zu machen.« (Exaestuo illas ad mei amorem trahere. S. 167ff.). Die Soldaten antworten: »Da sind wir aber nicht so sicher, dass du das schaffst.« (Diffidimus te praevalere.). Dulcitius: »Warum denn das?« Die Soldaten: »Das sind doch unerschütterliche Christinnen.« (Quia stabiles in fide). […] Dulcitius: »Und wenn ich ihnen mit der Folter drohe?« (Quid si terream suppliciis?) Die Soldaten: »Das macht denen überhaupt nichts aus.« (Parvi pendunt.). Und so fort.

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Dulcitius befiehlt den Soldaten, die jungen Frauen in einem Abstellraum neben der Küche einzusperren, damit er sie dort bei Nacht »ein bißchen öfter mal besuchen« könne (saepiuscule visitare). Er wartet die Nacht ab und verschafft sich Zugang mit den Worten: »Ich gehe jetzt da hinein und sättige mich an ihren Umarmungen, nach denen es mich sehr verlangt« (optatis amplexibus me saturabo). In der höchsten Not aber fällt Dulcitius in ein Delirium, und die Szene endet in einer Orgie von etwas naiver mimischer Komik. Aus Rache für sein Scheitern befiehlt Dulcitius den Soldaten, die drei Frauen öffentlich zu entkleiden, doch deren Kleider haften wie ihre Haut auf den Körpern. Ein schöner Einfall ist, dass Dulcitius während dieser Aktion auf seinem Sessel einschläft – was zugleich den göttlichen Schutz der Jungfrauen vor Entehrung wie natürlich die Stupidität der geilen Männer vor Augen führt. Die drei Frauen werden nun zur Strafe für die Blamage des Dulcitius einem neuen Beamten zugewiesen. Da sie das Götteropfer ablehnen, werden die beiden älteren auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wobei ihre Körper aber unversehrt bleiben. Hirena, die jüngste, soll ins Bordell geschickt werden, doch das schreckt sie nicht. Sie antwortet mit einem Satz, den Hrotsvit vermutlich aus der Benediktregel (7,31) kennt: Voluntas [al. lectio: voluptas] parit poenam, necessitas autem coronam. (»Eigenwille [bzw. Lust] führt zur Strafe, das Erleiden einer Zwangslage erwirbt die Krone.«)67

9. Necessitas parit coronam Bei Benedikt bezieht sich der Satz auf die gebotene Demut des Mönchs, der auf seine eigenen Wünsche verzichten und sich im Gehorsam der Notwendigkeit beugen soll, was im Himmel durch die »Krone der Gerechtigkeit«, die corona iustitiae, von der Paulus (2 Tim 4,8) spricht, belohnt wird. Der schwerste denkbare Fall eines lohnenden Erleidens von necessitas im Sinne der genannten Formel ist das christliche Martyrium, und seine emotional strapaziöseste Ausprägung ist das Martyrium in Verbindung mit einer Vergewaltigung. Es empfiehlt sich, zu realisieren, dass es bei den zahlreichen Martyrien von Jungfrauen, die in den literarischen Berichten über Christenverfolgungen überliefert sind, zwar meist stereotyp und vordergründig um das Bekenntnis zum christlichen Glauben und die mutige Verweigerung des heidnischen Götterkults geht, dass dahinter aber sehr oft diskret verhüllte Vergewaltigungshandlungen zu erkennen sind. Frauen sind in den Martyrologien bzw. Legendarien prinzipiell

67 Der Satz steht so bereits in Hrotsvits Quelle, den »Acta Sanctarum Agapes, Chioniae et Irene«, sowie bei Gregor dem Großen (Moralia XX,14); die älteste Quelle ist jedoch offenbar die Benediktregel; vgl. dazu Strecker, Drei Rhythmen, S. 389, Anm. 1.

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wehrlose Opfer und als solche der brutalen Gewalt von Männern ausgeliefert, die vom tyrannischen Herrscher alle Freiheiten haben, über sie zu verfügen. Die historische Realität der Spätantike hat die Patristik in einer vergleichbaren Situation zur Stellungnahme gezwungen. Dabei ging es nicht um die (klar entscheidbare) theologische ›Bewertung‹ der in den Himmel aufgenommenen Märtyrerinnen, sondern um die pastorale Betreuung und Tröstung der Frauen nach einer Vergewaltigung. Augustinus hat im ersten Buch seines Werks vom Gottesstaat das Problem der Vergewaltigungen der Christinnen bei der Eroberung Roms 410 durch Alarichs Westgoten in mehreren Kapiteln erörtert,68 und er sah die Verpflichtung, die psychisch zerstörten Frauen, die oftmals in den Selbstmord flüchteten,69 durch theologische Belehrung zu beruhigen und zu trösten sowie eine allgemein gültige Richtlinie für die Bewältigung derartiger Situationen zu geben. Diese entsprach ganz und gar der zitierten Formel »necessitas parit coronam«. Die vergewaltigten Christinnen, schreibt Augustinus, »haben in ihrem Innern die Glorie der Keuschheit und das Zeugnis ihres Gewissens bewahrt, und sie verfügen über diesen Besitz auch vor den Augen ihres Gottes.« (Habent quippe intus gloriam castitatis, testimonium conscientiae; habent autem coram oculis Dei sui […].)70 Hrotsvits Dichtungen über Märtyrerinnen und Märtyrer (z.B. auch die Pelagius-Legende) beruhen auf diesem paradoxen Prinzip: das Martyrium ist die höchste denkbare Form christlichen Glaubenstriumphes; die, irdisch bemessen, kläglichste Niederlage ist in Wirklichkeit ein Sieg, und jede poetische Vergegenwärtigung eines Martyriums endet zwangsläufig in einer Siegesfeier. Diese christliche Poetik des Martyriums konnte Hrotsvit bei ihrem Vorbild und Lehrmeister Prudentius (348–ca.405)71 studieren, dem bedeutendsten christlichen Dichter der Spätantike, der vor allem mit seinen 14 Märtyrerballaden (»Peristephanon«) an die Späteren die (durchaus problematische) Faszination von Martyrien vermittelt und an vielen Fallbeispielen vorgeführt hat, wie irdische Vernichtung in sublimierten geistlichen Triumph umschlägt. Hrotsvit kennt und bejaht diesen Mechanismus, der ihre Legenden und noch mehr ihre Dramen recht eigentlich in Gang hält. Alle Konflikte lösen sich bei ihr durch dieses Kalkül: Märtyrer sind von Seiten der Welt, zum Beispiel durch sexuelle Gewalt, unzerstörbar. Ihr Sieg steht a priori fest. Die vermeintlich Mächtigen und Gewalttätigen scheitern und blamieren sich. Und dieses Scheitern bietet reichlich Gelegenheit für den 68 Augustinus, De civitate Dei, edd. Dombart / Kalb I, 16-20; ähnlich nochmal I, 26–28. 69 Als Argumentationsmodell diente ihm der Selbstmord der geschändeten Römerin Lucretia (vgl. De civitate Dei I,19). 70 De civitate Dei I, 19,28–30. 71 Vgl. Döpp, Prudentius, S. 522–525. Interessanterweise war Ottos des Großen Bruder Brun (925–965), Erzbischof von Köln und eventuell einer der fautores ihrer Dramen, nach dem Zeugnis seines Biographen Ruotger ein großer Verehrer dieses Dichters; vgl. Staubach, Graecae Gloriae, S. 356, Anm. 98.

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Hrotsvitschen Humor, der auf der souveränen Gewissheit des in ihrem Fall nicht in Frage stehenden und nicht widerlegbaren Glaubens beruht. So läuft auch die brutalste Handlung in einer ungefährdeten Hintergrundheiterkeit auf ihr sicheres, glorreiches Ende zu. Über allem steht die Verheißung des Paulus aus dem Römerbrief (8,18), dass »die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen sind mit der künftigen Herrlichkeit (gloria), die an uns offenbar werden wird.« Es ist nicht nötig, das gewissermaßen garantierte selige Ende der drei Jungfrauen und die Blamage ihrer Peiniger im »Dulcitius« weiter zu verfolgen. Mit knapper Not vermiedene Vergewaltigungen sind sicherlich die krasseste Form von Hrotsvits dramatischen Verherrlichungen der castimonia oder virginitas, denen in der Regel vom Teufel gelenkte brutal sexuelle Aktionen als Motiv und zugleich als steigernde Kontrastfolie dienen. Gleich zwei ihrer Stücke behandeln das eng benachbarte Thema der Prostitution: Hrotsvits überhaupt bestes und feinstes Drama »Abraham«, in dem der Eremit Abraham seine Nichte Maria persönlich, als Freier getarnt, aus dem Bordell herausholt, sowie der verwandte, weniger originelle »Pafnutius«. In beiden Fällen besteht der Triumph der virginitas in der Abkehr der Protagonistinnen von der Prostitution, von der kein Makel zurückbleibt. Hrotsvits Konzeption von Sexualität ist komplex, insofern sie sexuelles Begehren fast immer im feindseligen Entweder-Oder zur paradiesischen Welt der Jungfrauen Christi denkt und darstellt. Damit erhält die Sexualität in ihren Dramen eine gewalttätige und zerstörerische Qualität, und über die Bewertung der beiden Sphären kann es natürlich keinen Zweifel geben. Jenseits aber von Vergewaltigung und »Hetärenliebe« kennt und anerkennt sie erotische Anziehung, die z.B. im »Gallicanus« sehr ernst genommen wird, sie kennt den Zustand und die Strategien der Liebenden und redet prinzipiell nicht verächtlich von der Liebe. Sie versteht den Sklaven im »Basilius«, der sich in ein Mädchen verliebt, sich selber aber nicht standesgemäß (indignum coniugio, V. 39) findet und sich nicht traut, die neuartige Qual seines Herzens zu offenbaren (nudare novum cordis cruciatum, V. 40), und sie hat Sympathie mit dem Mädchen, das vor Liebeskummer zu sterben fürchtet (Ne moriar, tristis languens per taedia cordis, V. 109). So auch beschreibt sie in den »Gesta Ottonis« mit geradezu reizendem Einfühlungsvermögen, wie Otto der Große sich allmählich »mit häufigem Traktieren seines Herzens« (crebro tractamine cordis, V. 637) seiner zweiten Gemahlin Adelheid annähert. Gerade weil Hrotsvit das Menschenherz kennt, weiß sie um die Konflikte zwischen dem christlichen Ideal der Keuschheit und der menschlichen Sexualität. Jungfräulichkeit war für Hrotsvit ja nicht nur Dramenthema, sie spielte in ihrem persönlichen Leben und im Leben ihrer Mitkanonissen, die sich alle explizit als Jungfrauen oder Bräute Christi verstanden, natürlich eine zentrale Rolle.72 Ihr 72 Vgl. D’Angelo, L’ultima Rosvita, S.  608: »Rosvita indica loro [scil. ihren Mitschwestern]

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klösterliches Gemeinschaftsleben, wie es in den »Primordia« geschildert wird, wirkt nach außen wie eine täglich durch die Liturgie erneuerte sublimierte Intimität mit dem Bräutigam Christus, der, was in ottonischen Kreisen vermutlich besonders zählte, den Vorzug hat, ein Königssohn zu sein, nämlich der Sohn des himmlischen Königs, von dem Hrotsvit so gerne spricht. Es gibt in den »Primordia« eine Szene, die fast das Zeug zu einem eigenen Drama gehabt hätte. Dabei geht es um die Berufung Gerbergs, der zweiten Gandersheimer Äbtissin (die mit Hrotsvits Lehrerin Gerberg nichts zu tun hat): Interea Christi virgo felix Hathumoda, Cum gregis undenos curam bis gesserat annos, Ocius in Christo moriens transivit ad astra; Gerbergae tenerum commisit ovile regendum. Haec fuit illustri cuidam nimiumque potenti Desponsata viro Bernrad de nomine dicto: Sed sese Christo clam consecraverat ipsa Caelesti fervens sponso velamine sacro Omnino sponsum spernens animo moriturum. […] Interea venit, quem sponsa dei reprobavit, Uti colloquiis eius quaerens manifestis; Audivit vero, votum quia fecerit ipsa Velle puellarem caste servare pudorem. Quae cum tardaret cito nec procedere vellet, Quod prius audierat, verum fore valde timebat; Inpatiensque morae domnam precibus placat Odam, Donec ipsa suam iussit procedere natam Ornatam pulchre cultu vestis pretiosae Necnon gemmatis sponsarum more metallis. Ast ubi Bernradus vidit, quam desideravit, His verbis caram causari fertur amicam: ›Non raro didici fama prodente sinistra, Quod tu nitaris nostrum disrumpere pactum Et fidei foedus servandum solvere prorsus. At nunc ad bellum citius properare futurum Praecepto regis cogor, nostri senioris; Hinc tempus quidni non est hoc discutiendi. Si redeam certe sospes comitante salute Scito procul dubio, quod te mihimet sociabo Atque tui votum penitus pessumdabo vanum.‹ Dixerat et dextra permotus mente levata Iurat per gladium, per candidulum quoque collum, l’unica strada maestro possibile: la castità, come dimensione di un esistere che si prepara ad una vita trascendente.«

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Iuxta posse sui factis praedicta repleri. Respondens ergo Gerberg ait ore modesto: ›Christo me totam committo meam quoque vitam, Utque fiat de me iuxta domini rogo velle.‹ His ita colloquiis mutuo sermone peractis Bernrad mox abiit casuque suo cito sensit Nil contra dominum quemcumque valere superbum, Et, quia plus iusto deliquit inania fando, Decidit in bello victus virtute superna; Ac Christi virgo sponsi caelestis amori Se mox coniunxit, quem caste semper amavit. (V. 315–360) Unterdessen übertrug die Braut Christi, die selige Äbtissin Hathumod, als sie nach 22jähriger Leitung ihres Konvents unerwartet in Christus starb und ihre Seele dem Himmel anheimgab, ihre junge Herde zur Lenkung an Gerberg. Diese war mit einem hochangesehenen und sehr mächtigen Mann namens Bernrad verlobt, doch hatte sie sich selbst insgeheim Christus geweiht, denn sie verzehrte sich im heiligen Schleier nach dem himmlischen Bräutigam und achtete einen sterblichen Bräutigam in ihrem Herzen für nichts. […] Unterdessen erschien der Mann, den die Braut Christi ja ablehnte, um sie zu treffen und mit ihr zu sprechen. Doch er hatte erfahren, sie habe das Gelübde abgelegt, ihre jungfräuliche Keuschheit bewahren zu wollen. Da sie ihn also hinhielt und nicht gleich hervortreten wollte, erfasste ihn große Angst, es könnte wahr sein, was er gehört hatte. Schließlich verlor er die Geduld und wandte sich mit freundlichen Bitten an die Herrin Oda, bis diese ihrer Tochter befahl, wie eine Braut prächtig gekleidet in einem kostbaren Gewand und mit Gold und Edelsteinen geschmückt hervorzutreten und sich zu zeigen. Als aber Bernrad sie, nach der ihn so sehnlich verlangte, erblickte, soll er seine liebe Freundin mit folgenden Worten angesprochen haben: »Ich habe mehrfach gehört, weil es ein böses Gerücht verbreitet, dass du die Absicht hast, unser Verlöbnis aufzulösen und den verpflichtenden Treuebund völlig zu brechen. Nun bin ich freilich durch den Befehl des Königs, meines Herrn, gezwungen, eiligst in den bevorstehenden Krieg zu ziehen. Deshalb habe ich natürlich jetzt keine Zeit, diese Sache zu verhandeln, – wenn ich jedoch glücklich zurückkehre und unversehrt geblieben bin, kannst du jedenfalls gewiss sein, dass ich dich mir nehmen und dein Gelübde vereiteln und zunichte machen werde.« So sprach er, und mit erhobener Hand schwor er voller Erregung bei seinem Schwert und bei ihrem weißen Hals, dass diesen seinen Worten, entsprechend seiner Macht, auch Taten folgen würden. Gerberg antwortete und sprach mit gedämpfter Stimme: »Ich übergebe mich selbst und auch mein Leben ganz Christus, und ich bitte, dass mir nach dem Willen des Herrn geschehe.«73 Nachdem die Unterredung mit diesen Worten von beiden Seiten zu Ende war, zog Bernrad unverzüglich davon, und er bekam durch sein eigenes Schicksal bald zu spüren, dass kein hochmütiger Mensch gegen den Herrn etwas vermag: denn da er sich versündigt hatte, indem er sich mehr, als recht war, in schändlichen Worten erging, fiel er im Krieg, besiegt von 73 Das Vorbild der Jungfrau Maria (Lk 1,38) ist hier klar zu erkennen.

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der Macht des Himmels. Und die Braut Christi verschrieb sich alsbald der Liebe zu ihrem himmlischen Bräutigam, den sie für immer in Keuschheit liebte.

10. Sunt lacrimae rerum Hrotsvits Werke, auch die historischen, sind erkennbar zusammengehalten und geprägt durch einen verlässlichen einheitlichen Denkstil, den Friedrich Neumann zutreffend als »Legendendenken« bezeichnet hat.74 Dieser Denkstil ist ausgesprochen unintellektuell und auch theologisch tolerant oder nachlässig, weit entfernt von strengen und scharf argumentierenden Wertungen; er bringt dafür aber eine auf Harmonie zielende versöhnliche Ungenauigkeit ins Spiel, die viel Emotion und überraschenden Humor zulässt und von innerer Souveränität und Freiheit zeugt. Der durchgehend heitere Ton ihrer Dichtungen und die überwältigende Seligkeit ihrer Schlussszenen (mit garantiertem Blick in den vom Lobgesang erfüllten Himmel) können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hrotsvit keine naive Idyllikerin und keine ahnungslos singende Braut Christi ist. Man erschrickt beinahe, wenn man die nihilistische Summe aus Chaos und Gewalt, politischer Zwietracht und psychischen Verletzungen aller Art Revue passieren lässt, die Hrotsvit in ihren Werken regelrecht abgearbeitet hat. »Die Dinge haben ihre Tränen«, schrieb Hrotsvits vermutlich verehrter Vergil in seiner »Aeneis« (I,462). Auch sie hat die absurde Tragik der kontingenten Welt nicht geleugnet, nicht leugnen können, aber sie hat sie transzendiert – was ihr in den fiktionalen Schriften leicht und beinahe routiniert gelingt. Dagegen wirken die historischen Epen, zumal die »Gesta Ottonis«, die eine objektiv sehr unfriedliche Epoche (auch des Ottonischen Hauses) nacherzählen, verständlicherweise beschwerter. Zwar kommt Hrotsvit auch dort durch die Aktivierung ihrer frommen Salvierungskunst gegenüber den tragischen Anfälligkeiten des Menschenlebens über das Schlimmste hinweg, doch manchmal scheint ihr hochgestimmter Mut zu ermüden, und sie nimmt die unabänderlichen Entscheidungen des Himmels gleichsam widerstrebend und eigentlich verständnislos zur Kenntnis. Das gilt vor allem für Todesfälle, in der Ottonischen Familie75 oder in der Gandersheimer Klostergemeinschaft, die stets schwerste 74 Neumann, Denkstil, S.  57f.: »In Hrotsvit webt, sobald sie dichtend schreibt, ein Legendendenken, das in ihr wie von selbst auf das Weltliche übergreift. Was sie als Wirklichkeit erkennt, wird in eine stilisierte Welt eigenen Gepräges erhöht. […] Alles Dunkle verblaßt in der Erinnerung unter legendenhaftem Glanz.« 75 Vgl. die tiefe Trauer über den Tod Eadits, der ersten Gemahlin Ottos, in den »Gesta«, V. 395417.

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Erschütterungen und eine Flut von Tränen auslösen. Dies mag, zum Abschluss dieses Beitrags, ein Zitat aus den »Primordia« dokumentieren; es schildert den schmerzlichen Abschied von Herzog Otto, der im Jahr 912, acht Tage vor der Geburt des späteren Kaisers Otto des Großen, in Gandersheim gestorben war: Cuius ad exequias summo nisu celebrandas Undique nostrates confluxerunt lacrimantes Atque sui loetum cari senioris amarum Omnes immodicis pariter flevere lamentis. Sed luctum procerum vulgi pariterque lamentum Vicit nonnarum miseranda querela suarum; Quae pro defectu mentis solito muliebris Vivere spernentes citiusque mori cupientes In lacrimando modum voluerunt ponere nullum. Hinc patris eiusdem cari dominique benigni Corpus per triduum conservabant inhumatum, Ceu sese lacrimis sperarent posse refusis Extincti flatum citius revocare reductum. Tandem concilium sapiens satis advenientum Decernens vanae spei debere reniti Ocius in tumulo non absque dolore parato, Sed luctu nimio circumstantum madefacto, Membra ducis tanti digne servanda locari Fecit in ecclesiae medio, quam struxerat ipse.(V.538–556) Zu seiner Bestattung, die mit höchstem Aufwand zu begehen war, strömten unsere Landsleute von überall her weinend zusammen und betrauerten alle gemeinsam den bitteren Tod ihres lieben Herrn mit maßlosen Klagen. Doch noch größer als die Trauer und Klage der Vornehmen und des Volkes war die jammervolle Wehklage seiner Nonnen, die nun, entsprechend der bekannten Schwäche der weiblichen Natur, gar nicht mehr leben wollten, ja sich selbst den Tod wünschten und in ihrem Jammer kein Maß mehr kannten. Dann bewahrten sie den Leichnam ihres lieben Vaters und gütigen Herrn drei Tage lang unbestattet auf, als ob sie hofften, mit ihren immer wieder fließenden Tränen den Geist des Toten gleich wieder zurückholen zu können. Schließlich aber entschied die wohlberatene Versammlung des einberufenen Klerus, man müsse dieser unsinnigen Hoffnung entgegentreten, und ließ den Leichnam dieses großen Herzogs unverzüglich in einem Grab, das man unter tiefer Trauer vorbereitete und das von den Tränen der Umstehenden benetzt war, würdig bestatten – mitten in der Kirche, die er selbst hatte erbauen lassen.

Ob sie, gleichsam von ihrem eigenen Gesang emporgehoben, die himmlische Seligkeit ihrer geretteten Heldinnen und Helden feiert, oder ob sie selber ratlos auf der Erde bleibt und mit den Weinenden weint, Hrotsvit von Gandersheim ist eine Autorin von besonderer, ja unvergleichlicher Art und eine tief berührende Erscheinung ihrer Epoche.

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Verena Linseis Tod oder Taufe? – Vermittlung und Verifizierung von Glauben im Drama des 15. und 16. Jahrhunderts

Verkündigung und anschauliche Vermittlung des christlichen Glaubens sind zentrale Charakteristika des geistlichen Spiels im Mittelalter und werden von den Dramen der Frühen Neuzeit aufgenommen und auch im reformatorischen Zeitalter zweckdienlich moduliert weiterverwendet. Mit diesen beiden ›Kernkompetenzen‹ der Spiele hängt eine der folgenreichsten Entscheidungsfragen zusammen: diejenige nach den ersten und letzten Dingen, nach Tod oder Taufe.1 Die variablen Ausformungen appellativer Verkündigung in Oster- und Passionsspielen wurden in der Forschung immer wieder thematisiert: Einzelne Figuren treten dort aus dem Geschehen heraus, explizieren dem Publikum das Heilsgeschehen vorausgreifend oder zusammenfassend und legen es aus. Doch diese retardierenden Elemente, die sich meist deutlich vom eigentlichen Spiel abheben, sind nur eine Ebene der Verkündigung. In diesem Beitrag soll es dagegen um ihren Hauptstrang gehen, um die missionarische Vermittlung des christlichen Glaubens in seiner Gesamtheit und um die Figuren, die dafür funktionalisiert werden. Hieran soll auch der Begriff der Ambivalenz untersucht werden auf seine Anwendbarkeit und Tragweite. Die vordergründig offenkundige Ambivalenz der Vermittlung, die sich sowohl für zunächst positive Identifikationsfiguren wie auch für negative Exklusionsfiguren oder Widersacher im Glauben feststellen lässt, muss an ausgewählten Textbeispielen hinterfragt werden. Die Wahl meiner Beispieltexte versucht, einen Bogen zu schlagen vom Mittelalter in die Reformationszeit anhand von Märtyrerdramen der Frühen Neuzeit, denen zunächst in einem Vorgriff Heiligenspiele des ausgehenden Mittelalters entgegenhalten werden sollen. Letztere weisen eine geradezu ›zähe‹ Tradition auf, die sich noch weit ins 16. Jahrhundert fortsetzt und daher für eine kurze Zeit als Parallelerscheinung zu gelten hat. 1 Mit Taufe ist in diesem Zusammenhang primär die Bekehrung zum richtigen Glauben gemeint, die gleichgesetzt wird mit dem Bekenntnis. Die Taufe als Sakrament, das von Sünde reinigt, wird immer wieder im geistlichen Spiel inszeniert, bleibt jedoch nur eine unmittelbare Folge der Umkehr und damit sekundär. Im Zentrum steht das Bekenntnis, das dem körperlichen wie seelischen Tod entgegengesetzt wird.

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Für die Begriffe ›Verkündigung‹ und ›Vermittlung‹ sind in der Spielforschung die Theorien Rainer Warnings relevant zur Ambivalenz oder »Zweiwertigkeit«2, wie er sie auch nennt. Diese Ambivalenz bezieht sich bei ihm ausschließlich auf »Kerygma und Mythos«3. Im Fokus dieses Beitrags steht jedoch weniger die Verdrängung des Kerygmas durch das Hereinholen eines archaischen Mythos im Osterspiel, sondern vielmehr die Spannungen innerhalb spielinterner und -externer Verkündigung selbst. Die von Warning definierte Ambivalenz erweist sich für die gewählten Texte als sekundär, wenn nicht sogar fragwürdig, da dem mythologischen Kampf Gut gegen Böse nur noch ein sehr begrenzter Raum zur Verfügung gestellt wird. Die Heiligenspiele und Märtyrerdramen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zählen nicht mehr zu Warnings Untersuchungsgegenstand. Diesen Spielen am nächsten steht das Fronleichnamsspiel, dem er »das weitaus stärkste Maß an theologischer Selbstkontrolle« zuspricht, weil es »die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht« präsentiere und »damit ganz konsequent die theologische Bestimmung der Eucharistie in Anschaubarkeit um[setze], denn diese Bestimmung [schließe] die zukünftige Erfüllung wesentlich ein.«4 An diese zukünftige Erfüllung schließen jedoch auch Heiligen- und Märtyrerspiele an, und dies über konfessionelle Grenzen hinweg. Aus diesen Gründen soll hier der Begriff der Ambivalenz ausgeweitet werden und eine breitere Anwendung erfahren. Dies beginnt bereits bei den einzelnen Hauptfiguren selbst, die spielintern und -extern eine unterschiedliche Funktion erfüllen können und häufig vor eine Entscheidung gestellt werden zwischen Gut und Böse. Sie sind quasi der personifizierte mythologische Kampf und geben ihn auch an andere Figuren und die Zuschauer weiter. Der Sieg des wahren Glaubens wird zunächst im Figureninneren, dann im Spielinneren ausgespielt und schließlich den Rezipienten performativ vermittelt. Ambivalenz wohnt schon den Texten beziehungsweise dem legendarischen Substrat inne, doch ist deren Tragweite für die mittelalterlichen Spiele und frühneuzeitlichen Dramen größer bei einer Anwendung des Begriffs über den mythologischen Kampf hinaus. Dieser Versuch soll in diesem Beitrag anhand der Frage nach der Glaubensvermittlung unternommen werden, die sich in der Opposition Tod oder Taufe an den Figuren kristallisiert. Dabei muss – wie schon bei Kerygma und Mythos mehrfach 2 Warning, Funktion und Struktur, S. 84. 3 Ebd., S. 27: »In diesem Sinne ist die Ambivalenz von Kerygma und Mythos zur Leitthese der hier vorgelegten Untersuchung gemacht. Sie besagt, daß die Fragen, auf die das geistliche Spiel Antwort ist, nicht oder zumindest nicht primär in jener Dimension anschaubarer Heilsvermittlung zu suchen sind, in denen es sein offizielles Selbstverständnis artikuliert. Seine primären Bezugsprobleme sind latent, sie liegen in derjenigen Dimension, in der Gehlen die von ihm so genannten ›nichtbewußten kulturanthropologischen Kategorien‹ der ›unbestimmten Verpflichtung‹, der ›Stabilisierung‹ und ›Entlastung‹ durch ›Darstellung‹ ansetzt. Auf sie werden die archetypischen Strukturbildungen der Spiele zu beziehen sein.« 4 Ebd., S. 220.

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geschehen und meist abgewiesen – die Gewichtung hinterfragt werden und ob es sich dabei tatsächlich um eine »Zweiwertigkeit«, also um ein symmetrisches Konstrukt handelt. Erst seit kurzem werden über Epochengrenzen hinweg zunehmend Verbindungslinien aufgezeigt5 und statt den Unterschieden zwischen mittelalterlichen Spielen und frühneuzeitlichen Dramen wieder die Gemeinsamkeiten stark gemacht, worauf unlängst auch Regina Toepfer in einem Beitrag zur »Gewalt im reformatorischen Bibeldrama« hinwies.6 Sicher haben die neueren Konfessionen sich in manchen Stoffen niedergeschlagen und sogar eingegraben – aber abgesehen von stark polemischen Spielen sind die strukturellen und funktionalen Veränderungen oft nur graduell beziehungsweise eben den neuen Glaubensinhalten angepasst. Die Autoren lösten sich bei Weitem nicht so schnell und strikt von den alten Spielen, den Inhalten und dem beliebten Personal, wie oft konstatiert wird. Vereinzelt wird sogar auf altes Textmaterial zurückgegriffen oder es spielen Darsteller beider Konfessionen für ein gemischtkonfessionelles Publikum.7 Und so erstaunt es nicht, dass sich auch reformierte Autoren noch an Stoffen und Figuren abarbeiten, die unter den Altgläubigen der Heiligenverehrung dienen. Relativ unproblematisch sind Stoffe des Alten Testaments oder eine Figur wie der erste Märtyrer Stephanus, dessen Existenz und Beständigkeit im Glauben als biblisch erwiesen gelten und der somit als ein besonders gutes Vorbild im Kampf für die neuen Glaubensaspekte dienen kann.8

1. Die Heiligenspiele des Mittelalters 1.1 Der hl. Georg und das Un(glaubens)tier im »Augsburger Georgsspiel« Doch zuerst ist ein Blick auf die ausgehende Tradition der Heiligenspiele zu werfen. Hier soll einerseits kurz auf die Georgsspiele eingegangen werden, die eine erstaunliche Langlebigkeit, zum Teil bis ins 18. Jahrhundert, vorweisen können. 5 So etwa auch der Weg vom antiken Drama zum mittelalterlichen geistlichen Spiel in einer umfassenden Studie zum Thema Mitleid von Barton, eleos und compassio. 6 Toepfer, Gewalt im reformatorischen Bibeldrama, S. 216. 7 Dies ist etwa belegt für Kaufbeuren, wo Protestanten und Katholiken sogar nebeneinander im gleichen Stück für ein gemischtes Publikum spielten. Vgl. dazu die detaillierten Untersuchungen zu Oster- und Passionsspiel des Michael Lucius bei Metzler, Das Kaufbeurer Passionsspiel. 8 Vgl. dazu die umfassende Studie von Metz, Das protestantische Drama, S. 527–632, der auch die Stephanusdramen von Michael Sachs, Sebastian Wild, Zacharias Zahn und Melchior Neukirch behandelt. Die beiden Dramen von Michael Sachs und Melchior Neukirch werden voraussichtlich 2018 in einer kommentierten Edition herausgegeben. Neukirch, Stephanus und Sachs, Stephanus.

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Andererseits soll mit dem »Kremsmünsterer Dorotheenspielfragment«9 ein Spiel über eine weibliche Heilige in den Fokus genommen werden. Während es sich bei der hl. Dorothea um eine klassische Bekennerheilige mit einer typischen Jungfrauenpassio handelt, ist Georg in jeder Beziehung ein Sonderfall. An dieser ungewöhnlichen Figur fanden die katholischen Dramenautoren viel Gefallen und das, obwohl er weder Büßer noch Bekenner ist und sein Martyrium konsequent von der dramatischen Gestaltung ausgeschlossen bleibt. Seine Leistung als Heiliger ist in den Spielen der Kampf gegen den Drachen. Dieses Untier ist gleichzusetzen mit dem Teufel oder aktuellen politischen und religiösen Feinden. In diesem Kampf ist er vergleichbar mit anderen Märtyrern, die für ihren Glauben kämpfen und ihn etwa gegen Teufel, Tyrannen und andere Anfechtungen und Versucher verteidigen. Exemplarisch ist hier das »Augsburger Georgsspiel«10 anzuführen, das in besonderer Weise das ›Funktionieren‹ einer heidnischen Stadtgemeinschaft kritisch vorführt. Da die Götter machtlos sind gegen die Bedrohung durch den Drachen, entschließen sich die Bürger zum Menschenopfer. In dieser demokratischen Entscheidung, die auch vor der Königstochter nicht Halt macht, zeigen sich Feigheit und Schwäche der Heiden. Die einzige Ausnahme ist ein mutiger Bürger, der zu Gegenwehr und Kampf rät und dies nach dem Vorbild der Frommen, sprich: der Christen, fordert: Vnd land vns tůn als from leütt Vnd land vns retten vnser heütt Vnd land vns machen ainen sturm Gegen dem bösen gifftigen wurm (V. 113–116).

Die frommen Leute würden sich, wären sie an ihrer Stelle, wehren und ihre Gemeinschaft schützen, indem sie mit Mut gegen das Untier und für ihr Leben kämpften. Doch die Heiden entscheiden sich für die Zerstörung ihrer Gemeinschaft, sie opfern die Schwächsten, aber gleichzeitig auch das regenerative Potential: ihre eigenen Frauen und Kinder. Die Männer als Entscheidungsträger schützen sich vor einer direkten Lebensbedrohung, indem sie die Opfer nicht aus ihrem eigenen Kreis wählen. Dennoch macht der Tod, den die Heiden hier selbst verschulden, vor keinem Stand halt, denn die Gewalt richtet sich nicht nach außen gegen die Bedrohung, sondern nach innen. Die Bestimmung des Opferkreises, der nicht die Schwachen schützt, sondern sie preisgibt, zeigt einen Missbrauch des hierarchischen Machtgefüges und damit die Brüchigkeit der 9 Vgl. dazu Ukena, Die deutschen Mirakelspiele, S. 42–96 u. S. 315–357. 10 Das »Augsburger Georgsspiel« (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 4o Cod. H 27) wird datiert auf kurz vor 1486. Eine Aufführung ist nicht belegt, aber die Handschrift legt nahe, dass es sich um eine Abschrift einer Aufführungshandschrift handelt. Die grundlegende Untersuchung und Edition der Sammelhandschrift findet sich bei Ukena, Die deutschen Mirakelspiele, S. 97–132 u. S. 361–451. Zuletzt Wolf, Die Sammelhandschrift 4o Cod H 27.

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heidnischen Gesellschaft. Die heidnische Stadt offenbart sich als ›verkehrte‹ Welt aufgrund eines falschen Glaubens, zeigt also, wie eine Stadt nicht funktionieren sollte. Diesen Missstand beendet das Eingreifen des hl. Georg. Ein Engel erteilt ihm den Auftrag, den Heiden im Land des Königs von Libia Gottes namen vnd kristen glaben zu verkünden, Vnd sy da mit ir abgött berben (V. 723f.). Den Drachen verschweigt der Engel übrigens. Aber er deutet an, dass die Missionierung nicht friedlich ablaufen wird. Als Georg auf die Prinzessin trifft, lässt er sich vorerst von ihr täuschen, denn zum einen spricht sie von dem Drachen als Teufelshund und zum anderen ist ihm ihre Opferung ohnehin unbegreiflich. Nicht zuletzt von ihrer Schönheit geblendet, scheint er zu glauben, eine Christin vor sich zu haben. Doch als sie Sonne und Mond um Hilfe anruft, erhält das schöne Bild Risse. Georg entlarvt sie als Heidin: Nun hör ich an den worten dein Das du bist ain haydenin […] Wiltu dich an iesu crist ergeben So wirt dir seiner helffe schein Das hab auff die trw̋e mein. (V. 969–978)

Mehrfach versucht Georg die Prinzessin zu seinem Gott zu bekehren und ihr dafür seine Hilfe anzubieten, doch sie zweifelt an der Macht eines Gottes, wenn ihr ihre vier Götter nicht helfen können. Schließlich lässt Georg jede Behutsamkeit fallen, er droht ihr offen mit der helle se (V. 1042) und weist sie auf ihren Irrtum hin: Du bist an deinen göttern trogen / Was sy sagent das ist erlogen (V. 1047f.). Während ihr Georg nach einem Glaubensbekenntnis Hilfe für Leib und Leben zusichert, also die Erlösung von weltlichem und ewigem Tod, so droht er ihr im Fall des weiteren Verharrens mit dem ewigen Tod in der Hölle. In diesem Fall bedeuten Drache11 und leiblicher Tod das Gleiche, werden aber im Vergleich zum ewigen Tod zur Nebensache.12 Georgs Missionierung ist ganz auf Finalität ausgerichtet und seine nötigenden und furchteinflößenden Methoden nicht mit heutigen Maßstäben zu bewerten. Dies bedeutet aber nicht, dass im Text Zweifel an der Richtigkeit von Georgs Handeln aufkommen könnte. Der Heilige führt einen göttlichen Auftrag aus, er ist nur Werkzeug und gegenüber den Heiden müssen die Mittel richtig gewählt werden, das heißt: Sie müssen eine deutliche Sprache sprechen. Verkündigung ist hier begleitet von Druck, Gewalt und Bedrohung. Als die Prinzessin schließlich ihren Glauben bekennt, dreht sie Georgs Forderung um: Wenn er sie vom Drachen befreit, dann verspricht sie ihm, dass am selben Tag noch das ganze Heidenland christlich wird. Da Georg nur Werkzeug Gottes ist, gibt er die Bedingung für die Mission in seinem Gebet an Gott weiter: Hilff 11 Zur Rolle und Bedeutung des Drachen in den Georgsspielen vgl. Linseis, Item den lintwurm; dies., Die Faszination am Kampf des Heiligen mit dem Bösen. 12 Zum Tod in den Georgslegenden vgl. Koch, Erzählen vom Tod.

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mir den wurm pringen ze spot / Das sy gelauben an diser frist / Das du aller creatur gewaltig bist (V. 1134–1136). Ein Engel gibt Georg für den Kampf einen Schild, mit dem bereits Christus die Höllenpforten aufgebrochen hatte. Damit kann der Heilige den Drachen besiegen und das Untier der Prinzessin als Beweis der Stärke seines Gottes vor die Füße legen. Der Handel mit dem Glauben, mit Tod oder Taufe setzt sich nach dem Sieg über den Drachen fort. Die Prinzessin soll den – wohlgemerkt noch lebenden – Drachen an ihrem Gürtel in die Stadt führen. Gemeinsam bringen Heiliger und Bekehrte die zuvor ausgeschlossene Bedrohung in die Stadt, bringen die Ursache als Beweis und zur unmittelbaren Konfrontation zu den Betroffenen. Entmachtet birgt der personifizierte besiegte Unglaube keine Gefahr mehr für die Städter. Hier weicht das Spiel von der Legende ab, in welcher der Drache in seiner Bedrohlichkeit quasi als Druckmittel in die Stadt geführt wird und so die Heiden zur Bekehrung zwingt.13 Im »Augsburger Georgsspiel« dagegen will das Herrscherpaar den Retter ihres Kindes kennenlernen und in einer Art Sensationslust auch den besiegten Feind bestaunen. Dieser wurde nicht etwa in nötigender Absicht mitgebracht, sondern als lebendiger Beweis für Macht und Stärke Jesu, also um die Mission durch Anschauung zu befördern. Nach einigen Missverständnissen zur Rolle Georgs bekennt sich der Landesvater mit seinen Untergebenen zum christlichen Glauben. Besiegelt wird dies sogleich mit der Taufe, welche die neuen Christen vor der Hölle und damit dem pitterlichen tod (V. 1264) bewahrt: Der tauff beschluist ew̋ch der helle tor / Das ew̋er kainer kompt dar ein (V. 1324f.). Wer getaufft wird vnd gelaubt / Dem ist der helle tor verspertt / On vrtail er gen hymel fert (V. 1350–52). Nun ist Georgs Ziel erreicht: die Heiden bitten ihn um die Taufe und um eine Auslegung des Evangeliums. Sie erkennen darüber hinaus den Nutzen der Taufe: Das gott die sünd wöll abelan Die wir dem abgott hand getan Vnd durch des tauffes gnd wöll geben Applas der sünd vnd ewigs leben. (V. 1417–20)

Der Erfolg zieht weitere Kreise: Der König selbst will nun missionieren und die Zuschauer werden durch den beschließenden Herold daran erinnert, im Glauben beständig zu sein und Gott immer vor Augen zu haben (V.  1505f.). Im »Augsburger Georgsspiel« zeigt sich die Glaubensvermittlung zumeist von einer geschäftlichen Seite. Zuerst wird die Hilfe abhängig gemacht von einem Glaubensbekenntnis und dann die Christianisierung eines ganzen Landes an den 13 So spricht Georg bei Jacobus de Voragine, Legenda aurea, S. 814: Nolite timere, ad hoc enim dominus me misit ad vos, ut a poenis vos liberarem draconis. Tantummodo in Christum credite et unusquisque vestrum baptizetur et draconem istum occidam.

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Erfolg der Hilfeleistung gekoppelt. Verkündigung wird hier zum Nachklang eines Tauschgeschäftes: Drachensieg gegen Taufe. Erst in der Missionierung des Landes, die nach der Taufe einsetzt, werden dann Einzelheiten des neuen Glaubens erklärt und man kehrt zur traditionellen Form der Glaubensverkündigung zurück – sowohl zwischen den agierenden Figuren, wenn Georg die lehrende Rolle einnimmt, als auch am Schluss zwischen Herold und Publikum. Natürlich steht in diesem Spiel neben dem großen Ziel der Taufe auch die finale Frage nach dem Tod im Raum, die mit der Taufe untrennbar als ihr Spiegel- oder Gegenbild verknüpft ist. Im Drachen steht schon am Anfang den Heiden der Tod personifiziert vor Augen und sie sind unabhängig von ihrem Stand gleichermaßen betroffen – die Männer sind durch den Verlust ihrer Familien wenigstens indirekt betroffen als Hinterbliebene. Durch das Eingreifen Georgs werden die Stadtbewohner nicht nur von dem Un(glaubens)tier und damit der tödlichen Bedrohung erlöst, sondern mit der Taufe auch vor einem ewigen Tod. In der Taufe tauschen sie den Tod gegen das ewige Leben. Die Ambivalenz lässt sich in diesem Spiel also weniger als ein Dualismus Gut gegen Böse oder einem »Kampf Gottes mit dem Teufel«14 im Warning’schen Sinne bezeichnen, sondern als eine vorgeführte Entscheidung. Ein ernsthafter Kampf kann deshalb nicht entstehen, weil zum einen die Stadtbewohner von Anfang an als ängstliche Heiden porträtiert werden und zum anderen der heilige Georg als der strahlende, im Glauben starke und überzeugende Held dargestellt wird. Dies muss dazu führen, dass der königliche Vater ihn als Gott verkennt. Das Ungleichgewicht der beiden Kampfpartner, des überwältigenden Heiligen und des Glaubensuntieres, das eigentlich nur aufgrund der (Glaubens-)Schwäche der Heiden eine Angriffsfläche hat, schließt von vornherein einen echten Dualismus

14 Warning, Funktion und Struktur, S. 30, betrachtet die Höllenfahrt im Osterspiel als dualistisch angelegten »Fluchtpunkt«. Er stellt ein dreistufiges Modell fest, mit dem Anfang im Sündenfall, dem Tod am Kreuz als Mitte und der Höllenfahrt als Ende. »Heilsgeschichte erscheint so als ein in mythischer Vergangenheit ausgetragener Kampf Gottes mit dem Teufel, und das Spiel setzt gegen die fortwirkende Erdenmacht des in seiner metaphysischen Ohnmacht schon enthüllten Widersachers nicht das Kerygma eines zukünftigen Endsiegs […], sondern die Rückkehr in den Anfang, die identische Wiedervergegenwärtigung von Kampf und Sieg im Sinne eines archetypischen Modells. So wird Heilsgeschichte zum Mythos, das Spiel zu seiner rituellen Wiedervergegenwärtigung.« Man könnte versucht sein, im Drachenkampf Georgs eine Wiederholung dieses mythischen Kampfes auf der städtischen Bühne zu sehen. Doch geht es in diesem Spiel nicht darum, den Teufel als tatsächlich ernstzunehmenden Gegner darzustellen, der besiegt werden muss. Der Drache wird zwar zur Lebensbedrohung, doch der Grund dafür, der heidnische Glaube, wird von Anfang an deutlich gemacht. Nicht für einen mythischen Kampf wird das Untier benötigt, sondern um den falschen Glauben zu demaskieren, ihn zu strafen und mit seiner Vernichtung zugleich den Weg der Erlösung aufzuzeigen. Der Mythos ist marginalisiert und wird funktionalisiert, um dem Kerygma Spielraum zu geben.

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aus.15 Dieser wird stattdessen verlagert auf eine bereits entschiedene Frage, die Georg den Heiden stellt und welche die Zuschauer in ihrer Entscheidung16 und in ihrem Glauben bestärkt, da sie auf der richtigen Seite stehen: Tod (also Heidentum) oder Taufe (Christentum). Das »Augsburger Georgsspiel« zeigt daher zwar einen aktiven Kampf für das Gute im Drachenkampf, aber keine »terroristische[] Realität teuflischer Allmacht«17. Der wahre Kampf oder die Ambivalenz ist hier in der innerliche Haltung zu suchen, die von der Gemeinschaft der Heiden wie von jedem einzelnen der Zuschauer verlangt und die von Georg vermittelt wird. Die Überlegenheit im äußerlichen, körperlichen oder personifizierten Kampf ist notwendig, weil dieser zum Mittel der inneren Überzeugung wird, die im eigentlichen Zentrum des Spiels steht, und die nicht mit direkter Gewalt erreicht wird. Der legendarisch bedingte Kampf ist, mit Walter Haug gesprochen, ein zugelassene[r] Mythos […], zuglassen im Bewußtsein, daß man bei der dramatischen Vergegenwärtigung der Erlösung spielend nochmals in den Prozeß eintritt, der zur Überwindung des Mythos geführt hat, ja, im Bewußtsein, daß man als Einzelner in ihn eintreten muß, um der Erlösung teilhaftig zu werden.18

Damit ist in einem ersten Schritt gemeint, dass sich die versammelten Gemeindemitglieder mit Georg identifizieren können,19 sich auf seiner, also der richtigen 15 Vgl. dazu Haug, Rainer Warning, S. 368, zum erspielten Raum des Teufels im geistlichen Spiel: »Man weiß zwar, daß der Teufel am Ende heilsgeschichtlich den kürzeren ziehen wird, daß es – wenn man den Begriff denn gebrauchen will – nur einen scheinbaren Dualismus gibt, einen Dualismus aus der anmaßenden Sicht des Teufels; aber damit man die Überwindung dieses dualistischen Anspruchs zeigen kann, muß man ihm einen gewissen Entfaltungsraum eröffnen.« 16 Dass diese Entscheidung nicht mit der Wiederholungsstruktur des Mythos vereinbar ist, stellt Haug, ebd., im Hinblick auf die kirchliche Allegorese fest, die sich auch in der Messe wiederfinde: »Unter dem Aspekt dieser allegoretischen Aktualisierung aber gab es seit je ein Gegenüber von absoluten Positionen, insofern man sich für den Himmel oder für die Hölle zu entscheiden hatte. Und diese Entscheidung ist von historischer Einmaligkeit, so wie die Erlösung historisch einmalig ist.« 17 Warning, Funktion und Struktur, S. 75. 18 Haug, Rainer Warning, S. 369. 19 Vgl. dazu Weitbrecht, Häusliche Heiligkeit, S. 64, die auf die Funktionalisierung der Heiligen hinweist, die sogar eine Gewichtverschiebung in den Erzählungen bewirken kann: »Denn wie die legendarische Überlieferung zeigt, kann selbst von ein und demselben Heiligen auf ganz unterschiedliche Arten erzählt werden. Diese Varianz rührt aus den vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der traditionellen Elemente legendarischen Erzählens her (etwa: Martyrium, Heidenbekehrung, Keuschheit, tugendhafte Lebensführung, Heilungswunder, Mildtätigkeit etc.). Sie hängen aber insbesondere auch mit den jeweils aktuellen Anforderungen an die Heiligen zusammen, denn diese stellen religiöse Leitbilder in Bezug auf Gesellschaftsentwürfe, Herrschaftsformen, Geschlechterrollen, kurz: auf christliche Lebensformen bereit. Das macht sich darin bemerkbar, dass gut eingeführte Heilige immer wieder neuen Leitbildern anverwandelt werden, wie der Heilige Georg, der im Laufe des Mittelalters vom Märtyrer zum Ritterheiligen und Drachenkämpfer stilisiert wird. […] Wie diese Texte

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Seite des Glaubens wissen und in der Heidenmissionierung ihren eigenen Glauben stärken können. Auch für sie bekämpft Georg den Drachen und auch für sie sehen die Heiden den überwältigenden Sieg des Heiligen. In der Entscheidung für die Taufe treffen die Heiden die richtige Wahl und werden so zu Mitgliedern der christlichen Gemeinde und Teil des Publikums. 1.2 Überzeugende Glaubenszeichen im »Kremsmünsterer Dorotheenspiel« Ein anderer Heiligentypus als Beispiel für den Umgang mit der Verkündigung ist der des Bekennerheiligen. Das »Kremsmünsterer (schlesische) Dorotheenspiel«20 ist nur fragmentarisch überliefert. Details des Spielausgangs müssen Spekulation bleiben, doch der Tod der Heiligen ist von der Legende vorgegeben und wird im Prolog kurz erwähnt: Von sente Dorotea der blůmen / Wy sy zcu der marter sy comen (V.  22f.). Im erhaltenen Teil erregt für die Frage nach Verkündigung und Missionierung der heidnische Herrscher Fabricius und sein missionarischer Eifer für seinen Gott Aufsehen – ein Streben, das in dieser Vehemenz im legendarischen Substrat21 fehlt: Mynnen got den wil ich eren. / Vnd alle myn wolk zcu hym keren (V. 80f.). Seinen Untertanen lässt er diesen Glauben durch einen Boten befehlen: erzählt und in welchen medialen Kontexten sie überliefert werden, hängt in hohem Maße davon ab, für wen vom Heiligen erzählt wird und welche Vorbildfunktion er erfüllen soll, in welcher Weise er also eine persona imitabilis darstellt.« 20 Das »Kremsmünsterer Dorotheenspiel« (Stiftsbibliothek Kremsmünster: Codex Cremifanensis No. 81) stammt wohl aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele, S.  180, lehnt einen Aufführungszusammenhang für das Fragment als Teil eines lateinischen Sammelbandes ab. Aufgrund von handschriftlichen Korrekturen will Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters, S.  326, nicht ausschließen, dass »vom Sammler D eine Benutzung des Textes als Aufführungsgrundlage zumindest erwogen wurde«. Sie hält eine Freiluftaufführung für wahrscheinlich, S. 351: »Das Stück mit seinen sieben für den erhaltenen Teil erforderlichen Spielorten […] und szenischen Schaueffekten wie Martern, Hinrichtungen und Zerstörung der heidnischen Kultstätte scheint für eine Aufführung im Freien projektiert zu sein. Es ist wohl an eine Veranstaltung unter Leitung des geistlichen Schulmeisters und Mitwirkung seiner Schüler bei finanzieller Unterstützung und auch eventueller Spielbeteiligung durch Stadtbürger zu denken.« Der schulisch-städtische Rahmen ist daher vergleichbar mit dem »Augsburger Georgsspiel« und den unten angeführten Spielen. Dazu kann Biermann, ›Kremsmünsterer (schlesisches) Dorotheenspiel‹ (Fragment) eine breite Streuung von Aufführungsbelegen für Dorotheenspiele nachweisen: »Aufführungsnachrichten aus Bautzen (1413), Kulm (1436), Bad Mergentheim (1498), Eger (1500, evtl. 1517 und 1544), Butzbach (1517) und Dresden (1523) lassen auf eine relativ breite zeitliche und räumliche Streuung der Dorotheenspiele mit einem gewissen Schwerpunkt im Osten und Südosten schließen.« 21 Vgl. dazu den Abschnitt zur Dorotheenlegende bei Gold, Dorothea als lutherische Heilige bei Balthasar Thamm, S. 86f; Balthasar Thamm, Dorothea, S. 5–10. Zur Legende der Heiligen im Mittelalter allgemein Williams-Krapp, Dorothea.

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Nu horet ir wrowen vnd ir man. Ir sullet alle tůn mynes herren gebot. Vnd komet in den tempil zcu dem aptgot. […] Vnd velche nicht dar komen. Dy nem syn keynen vromen. (V. 91–97)

Das Prinzip, dass die Landesreligion von der des Herrschers abhängig ist,22 von seinem willen (V. 77, 85, 107), scheint auch für die Heiden zu gelten und nicht negativ bewertet zu sein. Dann jedoch wendet sich Fabricius ad ydolum (V. 97a) und spricht zu dem Götzenbild. Ihm antwortet ein Demon, der ihm das Begehren nach der schönsten Frau des Landes – wer die Schönste ist, sagt der Teufel nicht23 – einflüstert: Noch eyner mayt loz sten dynen gyr (V.  104). Fabricius bietet der Frau weltliche Schätze und sich selbst zu einem elichen leben (V. 145) an, doch sie schlägt das Angebot aus mit der generellen Ankündigung, dass sie keinen Mann nehmen werde – nur Christus wolle sie als Bräutigam. Mit der Feststellung, dass jener ein König über alle Könige sei, würdigt sie Fabricius und seinen Antrag als minderwertig und reizt ihn damit (Fabricius furore succensus, V. 151a). Die unkontrollierte Wut des Verschmähten gegenüber der kühlen Absage der Heiligen demaskiert ihn und seine Ziele als oberflächlich und sogar teuflisch – also als direkte Konsequenz des falschen Glaubens. Nach den daraufhin vollzogenen körperlichen Strafen verweigert sich Dorothea jedoch noch immer, und Fabricius versucht sie zu ›bekehren‹: Dorothea ich sage dirs an allen wan / Nu bete myn apgote an (V. 250f.). Er hat weder Argumente noch Beweise für die Macht seiner Götter, sondern nur Drohungen: Wenn Dorothea nicht seinen Abgott anbete, werde er sie an einen Galgen hängen und verbrennen lassen (V. 245–247). Die Bekehrung zum christlichen Glauben erfasst nicht alle Heiden gleichzeitig, sondern vollzieht sich in Etappen. War der Sieg über den Drachen beim »Augsburger Georgsspiel« sozusagen ein schlagender Beweis für den Herrscher, der ein Stellvertreter seines Volkes ist, dem auch in Glaubenssachen Folge geleis22 Im späteren Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde dies sogar ausdrücklich mit der Formulierung cuius regio, eius religio verankert. Dennoch gilt dieses Prinzip bereits seit der Antike, vgl. Kästner, Cuius regio eius religio. Neben dem aktuellen Bezug und der Wirkung auf das mittelalterliche Publikum muss der historische Hintergrund der Christenverfolgung im Römischen Reich mitbedacht werden. Darauf verweist Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters, S. 353. Auch das Spiel selbst setzt diesen Bezug im Prolog, unter anderem mit der Formulierung Czu rome als ich do von han gelesen / Gros achtunge der cristenheyt, V. 25f. 23 Dies wird allerdings schon im Prolog vorbereitet, als es um die Vorgeschichte der Dorothea geht. Ihre beiden Eltern fliehen vor der Christenverfolgung und lassen die Tochter heimlich taufen. Aus den Namen der Eltern Dorotheus und Theodara zusammengesetzt ergibt sich ihr Name, und sie wird in der Taufe erfüllt mit dem Heiligen Geist. Sie zeichnet sich aus durch Zucht und Tugend, aber auch durch ihre körperliche Schönheit: Sy waz schone vbir alle iuncwrowen / Daz in alle dem rich nicht schoner was zcu schowhen (V. 66f.).

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tet wird, fehlt dieses Kampf-und-Sieg-Element bei der Bekennerheiligen. Sie können nur durch ihre Beständigkeit überzeugen, die sich, wie die Foltermethoden, schrittweise steigert und damit immer mehr Ungläubige erreicht. Wie Fabricius zunehmend immer härter und grausamer wird in seinen Drohungen und den Qualen, die er für Dorothea vorsieht, so steigern sich die sichtbaren und nachvollziehbaren Beweise für den richtigen Glauben, und immer mehr Heiden werden dafür gewonnen. Nach einem Bad in siedendem Öl, von dem Dorothea verzückt schwärmt Ia sicze ich in eynem balsem smac vnd in eynem towe / Glichirwis als in eyner owe (V. 188) bekehren sich die ersten Heiden. Am unversehrten Körper der Heiligen wird ein erster Beweis für Gottes Macht sichtbar: Nu set ir wrowen vnd ir man / Waz czeychans got an mir hat getan (V. 190f.). An der mangelnden Beweislage für die Gegenseite packt Dorothea daraufhin auch ihren Glaubenswidersacher. Nachdem sie dem Hungertod im Gefängnis entgehen konnte, weil ein Engel sie ernährte, wird sie – schöner als zuvor – von den Folterknechten hervorgeholt und betet für die Zerstörung der Götzenbilder, die dez teuphil gespenst (V. 253) seien. Klagend entfliehen die Teufel aus den Bildnissen, Dorothea dankt Gott für den Beweis seiner Göttlichkeit und wieder lassen sich einige Heiden dadurch bekehren. Hier endet das Fragment. Heidnische Missionierung, so zeigt es dieses Spiel, vermittelt nicht einen Glauben, sondern bestimmt ihn und setzt ihn durch, indem der Herrscher seine Macht gebraucht. Auf die Verweigerung der Heiligen gegen den falschen Glauben und gegen die Avancen des Heiden folgen Drohung, Qualen und schließlich Tötung. Der Glaube des Heidentums offenbart und verbreitet sich durch Gewalt. Er ist ganz ausgerichtet auf das Weltliche, sowohl in der Religion selbst, welche die Verehrung der Götzen mit Rauchopfer bedeutet, als auch im Lebensende seiner Gläubigen. Der heidnischen Religion mangelt es an zwingenden Belegen für die Macht ihrer Götzen. Dorothea kann diese dagegen für ihren Gott erbringen respektive erwirken. Sie freut sich auf das Martyrium, wie sich auch die frisch bekehrten Heiden mutig dem Tod stellen,24 denn sie vertrauen schon auf Gott. Die Freude wird zu einem markanten Kennzeichen des christlichen Glaubens und reicht bis in den Tod hinein. Der Tod wird sogar freudig für den Glauben angenommen. Das Heidentum zeigt sich dagegen geprägt von Furcht, Bedrohung und Pein. Auch diese Bedrohlichkeit und Emotionen der Angst setzen sich bis zum Tod fort, der dort allerdings ein definitives Ende ist – nicht nur ein Ende der Furcht, denn danach warten weder Erlösung noch Himmelreich.25 Auch hier ist 24 Die Bekehrten bekennen sich zu Gott und zu Dorothea und wollen mit ihr den Tod erleiden. Eine Rettung von diesem irdischen Tod scheint nicht möglich. Stattdessen sind sie sich der Konsequenzen ihrer Konversion voll bewusst, vgl. dazu V. 196–199 oder V. 210f.: Wir wullen ouch geleuben an den selben got / Vnd sulde wir mit dir lyden den tot. 25 Dies zeigt sich an den beiden Gefährtinnen Dorotheas, die sich von Fabricius einschüchtern lassen aus Angst vor dem Tod. Sie haben nicht begriffen, dass der Tod für den christlichen

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ein Bekenntnis zum Heidentum im Gegensatz zur Taufe gleichzusetzen mit dem Tod. Es zeigt sich, wie schon im »Augsburger Georgsspiel«, eine Ambivalenz der Glaubensvermittlung, verteilt auf die gegnerischen Religionen. Kein Mythos untergräbt in diesem Fall das Kerygma, sondern die Vermittlung selbst eröffnet eine Option, die mit dem Begriff der Ambivalenz gefasst werden kann. Freude und Furcht werden als emotional nachvollziehbare Empfindungen vor Augen gestellt, um die Wahl, die eigentlich keine wirkliche Wahl zwischen Gleichrangigem ist, klar und leicht treffen zu können. Für das Publikum oder den Leser müssen auf den ersten Blick auf emotionaler wie rationaler Basis das Christentum und die Taufe als einzig richtiger Weg erscheinen. Textimmanent entscheidend für den rechten oder unrechten Glauben sind die angewandten Methoden der Glaubensvermittlung – also Druck oder Erpressung auf der heidnischen Seite Fabricians und Wunder, Freude und Heilsversprechen auf der christlichen Seite Dorotheas –, die schon auf den ersten Blick eine Einschätzung ermöglichen. Die glaubhafte Vermittlung des Christentums erfolgt für die Menschen mittels Zeichen, die sichtbar, fühlbar oder begreifbar sind und so die Macht Gottes erschließen und erweisen. Die dämonische Gegenseite darf allerdings in der Zerstörung der Götzenbilder gestraft werden. Quasi als späte Rache für die Folterungen der Heiligen greift der Engel strafend ein und der Dämon beklagt sich bei Dorothea über diese Rache. Die Heilige jedoch spricht nicht mit dem Dämon, sondern wendet sich in einem Dankgebet an Gott. Es gibt folglich weder eine direkte Kommunikation mit noch einen Sieg über das Böse. Der mythische Kampf wird ausgelagert auf Engel und Dämon – die Heilige selbst fungiert in dieser Beziehung weniger als Kämpfende, denn als Auftraggeberin. Sie lässt kämpfen, denn ihren eigenen Kampf besteht sie innerlich, indem sie Folter und Tod um des Glaubens willen erträgt. Körperlich ist sie während der anfänglichen Foltermaßnahmen wie Georg von strahlender, imposanter Überlegenheit. Auch diese offensichtliche Schönheit – als Gegenpart zur körperlichen Kraft des ritterlichen Heiligen – vermag durch ihre Widerstandskraft zum wahren Glauben zu bekehren. Letztlich aber kann der Herrscher die Heilige doch töten. Ihr eigentliches Ziel und damit den Sieg im Hinblick auf den richtigen Glauben, erreicht sie dennoch. Obwohl sie sterben muss, kann sie überzeugen, ihren Glauben vermitteln und die Heiden bekehren. Das Sehen mehrfacher Wunder bringt die Heiden dazu, sich zu Christus zu bekennen und damit den leiblichen Tod bereitwillig auf sich zu nehmen. Die jenseitige Dimension ist dabei immer schon angedeutet durch die beiden Figuren von Dämon und Engel. Die Taufe wird hier nicht angesprochen, was möglicherweise dem fragmentarischen Überlieferungsstand des Spiels angelastet Glauben kein ewiger Tod ist, sondern eine Perspektive über diesen hinaus bietet. Sie vurcten dy not / Dy do brennet den grimmyn tot (V. 162f.).

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werden kann. Doch davon abgesehen wird dem Publikum sehr wohl eine Wahl vor Augen gestellt: die beiden Gefährtinnen Dorotheas, die sich im Angesicht der Folter und des Todes vom christlichen Glauben abwenden, die Heiden, die sich wegen der offensichtlichen Wunder dem richtigen Glauben zuwenden und die Märtyrerin, die im richtigen Glauben von Anfang an beständig bleibt und nicht wankt. Schmerz und Furcht vor dem Tod treiben dabei die Frauen zu einem Glaubensabfall, zeigen ihre Schwäche im Glauben. Dorothea vertraut dabei ganz auf Gott, auf seinen Trost (V. 186), seine Gnade (genediclichen hast du mich hte irlost, V. 187, und sine genedikeyt, V. 258) und seine Milde (eyn milder got du bist, V. 265). Der Tod wird hier zum Moment, in dem sich der wahre Glaube und seine Beständigkeit erweist. Da das mythologisches Kampfelement Gut gegen Böse von der Hauptfigur losgelöst und auf nicht-menschliches Personal ausgelagert wird, kann in diesem mittelalterlichen Heiligenspiel keine Ambivalenz von Mythos und Kerygma entstehen. Die Verkündigung ist das eigentliche Ziel, obwohl auch sie hier mit Hilfe von Siegen über den Peiniger erwirkt wird. Doch diese Siege zeigen sich nur an der Heiligen. Statt selbst aktiv im Kampf zu werden, betet sie bei Gott um Hilfe, aber nicht um die Erlösung von ihrer Marter, sondern um Unterstützung für die Glaubensvermittlung. Dem Mythos wird also kein Platz eingeräumt, was zuallererst daran liegt, dass es sich bei Dorothea um eine Bekennerheilige handelt, deren herausragendste Qualität in der Beständigkeit liegt. Die Vertreibung der Teufel aus den Götzenbildern böte jedoch die Chance, den mythologischen Kampf in das Spiel hereinzuholen. Dass dieser Weg nicht beschritten wird, sondern der Umweg über das Gebet, das himmlische Mächte auf den Plan ruft, gewählt wird, zeigt zwar die Akzeptanz des Mythos, zugleich aber seine Auslagerung und so eine Neutralisierung im Wert für die Glaubensvermittlung.

2. Neue Formen der Vermittlung im reformatorischen Märtyrerdrama? 2.1 Balthasar Thamms »Dorothea« Auf Zeichen oder Beweise kann und darf es im reformatorischen Märtyrerdrama nicht mehr ankommen, das allein durch das Wort überzeugen will. Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch dort die Beweisführung mit einem gewissen Druck oder Zwang verbunden sein kann. Um die Entwicklung der Frage nach Tod oder Taufe am Dorotheenstoff weiter zu verfolgen, soll nun dem »Kremsmünsterer Dorotheenspielfragment« ein protestantisches Stück von 1594, also gut 100 bis 150 Jahre später, entgegengesetzt werden: die »Tragicomoedia, Ein schn Christliches Spiel / von der Gottseligen / züchtigen Jungfrawen Dorothea«, von

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Balthasar Thamm.26 Der singulär überlieferte Druck wurde im Rahmen eines DFG-Projektes zu Märtyrerdramen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts an der Universität Gießen27 von Julia Gold ediert, mit einer Einleitung versehen und ausführlich kommentiert.28 In diesem Drama kommt die hl. Dorothea im Gespräch mit ihren Gefährtinnen auch auf die Taufe und ihre Funktion zu sprechen. In einem Lehrer-Schüler-Dialog fordert Dorothea Sabina auf, ihr das Gelernte über das Sakrament der Taufe vorzusagen. Sabina beginnt mit der biblischen Aussendung der Apostel in alle Welt vor der Himmelfahrt Christi. Sie berichtet über den Auftrag Jesu, die Menschen zur Buße zu bewegen und sie im Anschluss zu taufen. Dann fährt sie mit dem Hinweis fort, den die Jünger den Täuflingen mit auf den Weg geben sollen: Wer gleuben thut vnd wird getaufft / Dem sey der Himmel schon erkaufft. Wer aber ja wil gleuben nicht / Dem sey die Hell auch zugericht. (V. 1250–1253)

Hier wird deutlich differenziert zwischen wahren Gläubigen und ›nur Getauften‹. Die Taufe ohne den Glauben nütze nichts, im Gegenteil: Sie bedeute die sichere Hölle. Wenn aber zu der Taufe auch der Glaube komme, dann seien Wiedergeburt, ewige Seligkeit und Erlösung von Tod, Sünde, Hölle und Teufel gewiss (V. 1254–1267). Der Tod ist hier explizit nur ein körperlicher Tod, der für die Gläubigen nicht das Ende bedeutet (V. 1598f.). Hier zeigt sich, dass sich in der Reformationszeit die Unterschiede verfeinern, obwohl alte Differenzen bestehen bleiben, weil sie der Tradition des Stoffs entstammen. Zwischen Heiden- und Christentum bleibt die Kluft beinahe unüberbrückbar: auf der einen Seite Verdammnis, auf der anderen Erlösung. Doch auch das Christentum wird aufgrund der sich herausgebildeten Konfessionen differenzierter gesehen, und Glaubensinhalte werden umakzentuiert. Der Glaube ist für das Christentum immer essentiell, doch wird er in den protestantischen Dramen noch stärker als Grundvoraussetzung für die Erlösung herausgestellt, die vor der Taufe erfüllt sein soll. In Bezug auf das Ende bringt Dorothea noch einen weiteren Aspekt ins Gespräch: das Jüngste Gericht, bei dem schwere rechenschafft abgelegt werden 26 Das Stück wurde 1594 aufgeführt im Schloss zu Altenburg, anlässlich des Geburtstages der Fürstin von Sachsen, Dorothea Maria, Herzogin von Sachsen, Landgräfin von Thüringen und Markgräfin von Meissen, geborene Fürstin von Anhalt. Der Druck aus dem Jahr 1595 stammt aus der Offizin von Abraham Lamberg in Leizpig (VD 16 T 689). 27 DFG Einzelprojekt: Inszenierungen von Heiligkeit im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen. Protestantische und katholische Märtyrerdramen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts (https://www.staff.uni-giessen.de/~g91159/maertyrer.htm – letzter Zugriff: 06.04.2017). 28 Die Edition erscheint voraussichtlich 2018 unter dem Titel Balthasar Thamm, Dorothea, Tragicomoedia.

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muss vor dem gerechten Richter Jesu Christ / Der euch jetzt borgt ein gute frist (V. 1702–1704). Im durchaus hitzigen Disput mit den Heiden rechtfertigt Dorothea ihren Glauben und führt hier – wie in den bisher gezeigten Spielen – wieder Beweise für die Macht Jesu an, nämlich die Wunder, die er bewirkt habe an stummen / tauben / blinden vnd lahmen (V. 1723). Sogar Tote habe er auferweckt. Der Bezug zum überwundenen Tod ist für den Glauben der Heiligen elementar. Sie vertraut auf den auferstandenen Christus, der ihr ebenfalls das ewige Leben geben wird (V.  2644–2647). In diesem Vertrauen, das die Grundlage für ihren Glauben ist, ergibt sie sich in ihr Martyrium. Aber allein dadurch wird noch keine Missionierung eingeleitet. Wieder brauchen die Heiden sichtbare und greifbare Beweise. Ein Knabe bringt die von Dorothea noch vor ihrem Tod versprochenen Rosen aus dem Paradies und übergibt sie an Theophilus. Dieser bekehrt sich daraufhin sofort, während Fabrician immer noch im falschen Glauben verharrt. Doch die Strafe Gottes für diese Verstocktheit ereilt ihn sofort: er erleidet einen Schlaganfall (Apoplexia corripitur, Marginalie bei V. 2896), an dem er kurze Zeit darauf stirbt – eine Todesart, die im zweiten Akt als vom Teufel herbeigeführt erklärt wurde. Dort beschreibt der Teufel in einer Mönchskutte, wie er nachts den sündigen Menschen im Schlaf den Hals breche und man die Leichen dann am Morgen entdecke und beklage: O weh der Schlag hat jhn gerrt / Ja wol der Teuffl hat jhn verfrt (V. 463f.).29 Fabricians Schlaganfall lässt sich also mit Sicherheit als Teufelswerk und damit als direkte Strafe für seine Verstocktheit deuten. Für ihn als Negativfigur gibt es keine Rettung mehr und daher ist sein Tod endgültig. Doch die anderen Heiden sind keineswegs so starrsinnig. Sie entscheiden gemeinsam, ja beinahe schon demokratisch durch Abstimmung, ihre Conversio. Für sie gibt es drei schlagkräftige Beweise für Gottes Macht: 1. das Knäblein mit den Rosen, das sie als Engel erkennen, 2. die Bekehrung des Kanzlers Theophilus und 3. die Strafe Gottes für Fabrician. Sie stehen also nicht nur vor der Wahl Tod (wie Fabrician) oder Taufe (wie Theophilus), sondern sie haben darüber hinaus noch einen unmittelbaren Boten aus dem Paradies sehen dürfen. Für sie ist der Glaube vermittelt durch positive und negative Beispiele – die Vermittlung selbst hat zwei Seiten. Lohn und Strafe durch Gott zeigen sich an Theophilus und Fabrician. Während der eine sanft mit einem Korb voll Rosen zum Glauben bekehrt wird, ereilt den anderen die Rache Gottes.30 Die Wahl zwischen Tod oder Taufe wird ihnen also exemplarisch vor Augen geführt. Erst nach dem Entschluss zum 29 Vgl. dazu auch das Argument zum fünften Akt, V. 247f.: Einen pltzlich der Schlag thut rrn / Den andern der Teuffel thut weg fhrn. Dort wird die Einwirkung des Teufels vom Schlaganfall getrennt und auf die zwei Personen Fabrician und Zoroaster verteilt. 30 Ja daß im Himmel Gott sein rach / Bewiesen hat in dieser Sach / Am Stadpfleger / wie wir gesehen / Der nicht kunt von der stelle gehen / Jch glaub der Schlag der thet jhn rhrn / Weil man jhn muste tragn vnd fhrn / Jns Hauß hinein / Es ficht mich an / Daß er kaum kommen mcht daruon / (Bürger, V. 2914–2921).

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gemeinsamen Bekenntnis31 wird den Zuschauern noch eine weitere Stufe von Gottes Gerechtigkeit gezeigt: Zauberer und Kupplerin, zwei weitere Gegenfiguren, haben beide einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und werden nun von ihm geholt und in die Hölle mitgenommen. Sie standen schon immer auf der verwerflichsten Seite und erhalten nun den gerechten Lohn. Hier entfällt das schonende Bild einer plötzlichen Krankheit und die Widersacher erleiden als Verbündete des Teufels nicht nur den ewigen Tod, sondern darüber hinaus ewige Höllenqualen. An diesem Spiel zeigt sich deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Tod keine rein mittelalterliche Erscheinung ist. Vielmehr sind die verschiedenen Möglichkeiten nach dem Ende des Lebens, vom Paradies bis zur Hölle, ein immer aktuelles Thema, das auch in der Auseinandersetzung der Konfessionen zum Brennpunkt wird. Dabei gibt es bei der Verkündigung eines neuen Glaubens anhand von Beweisen nicht nur zwei Möglichkeiten, es gibt nicht nur Gut oder Böse. Stattdessen werden hier Abstufungen auf dem letzten Weg32 differenziert, vor allem, was den Weg des Bösen betrifft. Während Fabrician noch eines scheinbar natürlichen Todes stirbt, werden die Teufelsbündler ganz offen vom Teufel geholt. Doch auch der Weg des Guten muss differenziert betrachtet werden. Nicht etwa Dorothea ist für die Heiden das entscheidende Beispiel, und nicht durch ihre Worte werden sie bekehrt – übrigens erstaunlich für ein protestantisches Stück, das doch ein Hauptaugenmerk auf das Wort Gottes legen müsste. Davon abgesehen muss die Heilige natürlich in ihrem Martyrium das leuchtendste Vorbild für den unerschütterlichen Glauben sein. Auf diesen Tod kommt es dem Märtyrerdrama natürlich vor allem an.33 Die Nebenfigur des Theophilus muss erst durch einen Beweis bekehrt werden und darf in diesem Drama auch nicht Dorothea im Märtyrertod folgen, obwohl er es will. Zwischen Gut und Böse, zwischen Tod und Taufe zeigt sich hier eine Spannung, die graduelle Abstufungen vor Augen führt. Die Beispiele sind variabel, doch weisen sie alle in eine Richtung, nämlich in die der Bekehrung zum richtigen Glauben im Hinblick auf das Ende, also auf die Vermittlungsebene. 31 Also wir der Abgtterey / Dermal ejns knnen werden frey (V. 2950f.). Die Bürger bestimmen einen Reformator. 32 Die Möglichkeiten von Abstufungen des Guten wie des Bösen sind eine Gemeinsamkeit von mittelalterlichem geistlichem Spiel und protestantischen Dramen. Beide Seiten bleiben jedoch strikt getrennt, sodass eine Verwechslung nahezu ausgeschlossen ist und das Publikum dadurch gut Position beziehen kann. Die Seite des Bösen zeichnet dabei immer den Weg in die Hölle vor. Vgl. dazu auch Chesterton, Sternschnuppen, S. 116: »Man kann sich vielleicht auf einer gewissen Stufe des Guten halten, doch beim Bösen hat das noch kein Mensch vermocht. Dort führt der Weg nur immer weiter abwärts.« 33 Vgl. dazu Hammer, Ent-Zeitlichung und finales Erzählen, S. 177: »In besonderer Weise gilt das für das Martyrium als Nachvollzug der Leiden Christi. Eine Heiligenvita bildet immer auch Leben und Sterben Christi ab, doch zumindest für die Märtyrerlegenden gilt: Auf den Tod vor allem kommt es an.«

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2.2 Melchior Neukirchs »Stephanus« Als letztes Textbeispiel für die Frage nach einer ambivalenten Glaubensvermittlung soll das Stephanusdrama von Melchior Neukirch von 1591 herangezogen werden: »Ein schne geistliche Tragedia von dem ersten Merterer im newen Testament / nach der himmelfarh Christi«.34 Das Leiden und Sterben des ersten Märtyrers verläuft erwartungsgemäß nach der biblischen Vorlage, doch es bietet darüber hinaus Raum für eine bislang ausgesparte Frage: Warum, wenn Gott so mächtig ist, müssen diese guten Menschen, diese Vorbilder im Glauben, sterben? Kommt es zur Theodizee-Frage, muss im Hinblick auf die Märtyrer die Antwort meist lauten, dass sie als Lohn für ihre Beständigkeit im Glauben sterben dürfen und dadurch für sich und andere die ewige Seligkeit erlangen. Eine direkte Antwort jedoch gibt dieses Stück nicht. Es bietet keine geringere Erklärung dafür an, dass oft den größten Schurken das höchste Glück auf Erden widerfährt, während die Frömmsten oft im größten Elend leben (V. 5168–5173), als den Willen Gottes. So wird den Glaubensgegnern jede Macht über den Märtyrer abgesprochen, trotz der körperlichen Gewalt. Ihre Macht reicht nur für dieses Leben, und selbst ihre Handlungen im Diesseits sind von Gott gewollt und geplant. Wie der Märtyrer selbst, so sind auch seine Peiniger Werkzeuge Gottes. Zwischen beiden Seiten steht der Glaube, aber auch der Tod, der für die einen Übergang und Lohn bedeutet, für die anderen aber endgültige Bestrafung ist. Dass Gott die Seinen nicht im Stich lässt, erfährt der Zuschauer direkt aus Gottes Mund. In einem Gespräch zwischen Gottvater und Jesus wird beschlossen, dass Stephanus nun das Martyrium erleiden müsse, aber seine Seele solle als Lohn für diesen grausamen Tod sofort von den Engeln geholt und in die ewige Freude im Himmel gebracht werden (V.  5134). Von dieser Vereinbarung erfahren die Gläubigen nichts und so bleiben sie ratlos zurück. Sie denken über das irdische Schicksal von Gottes Heiligen nach: So meineten viel Gott achte nicht / Was gutes oder bses gschicht (V. 5195f.). Schließlich aber kommen sie zu dem Schluss, dass viele, die auf Erden leiden müssen, nach ihrem Tod Gerechtigkeit erfahren werden.35 Diese Ausrichtung auf Erfüllung und Freude im Jenseits steht ganz in der Tradition des Mittelalters. Als die Christen den Körper des Märtyrers wegtragen, 34 Das Drama wurde in Braunschweig 1591 aufgeführt, im gleichen Jahr und ein Jahr später, 1592, nochmals gedruckt bei Johann Francke in Magdeburg. Die Edition erscheint voraussichtlich 2018, Neukirch, Stephanus. 35 Der G’rechte mus viel leiden zwar / Noth / Elend / Trbsal / vnd Gefahr / Aus welchem all’m jm hilffet Gott / Wenn er kein Trost auff Erden hat. / Mannicher stirb darber hin / So scheints / als sey vergessen sein (V. 5221–5226). – Vgl. dazu auch die Ausführungen von Regina Toepfer zum Stephanus-Drama des Michael Sachs: Toepfer, Gewalt im reformatorischen Bibeldrama, S. 230: »Die Gewalt gegen fromme Christen soll weder Empörung hervorrufen noch Mitleid wecken, sondern deren Glaubensfestigkeit demonstrieren und zur Akzeptanz des Leidens anleiten.«

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um ihn zu beerdigen, nehmen Uriel und Raphael die Seele mit sich fort. Raphael wendet sich an die Zuschauer und fordert auch sie dazu auf, sich in Leben und Tod in Gottes Hand zu geben. Dann, so versprechen es die Engel, würden sie auch in ihrer Todesstunde zur Stelle sein, die Seele in ihre Hände nehmen und sie dorthin bringen, wo sie in ewiger Freude sein werde (V. 5257–5262). Der Märtyrertod des Stephanus bewirkt in diesem Drama keine Bekehrung von Heiden seiner Umgebung. Er wird als mustergültig für das Publikum vorgestellt, jedoch scheint der Anreiz zur Nachahmung weniger in der Beständigkeit des Heiligen zu liegen, als vielmehr in jenseitigen Versprechungen. Die Gewissheit dafür wird von höchster Stelle bestätigt, von Engeln, Christus und sogar Gott. Hoffnung auf jenseitige Gerechtigkeit und Heilsgewissheit ersetzen hier gemeinsam mit den Zusicherungen die Beweise. Heilsvermittlung ist hier die Versicherung der jenseitigen Belohnung und bedarf keines mythischen Kampfes mehr, denn die Teufel haben keine Chance, an die Seele des Heiligen zu gelangen. Soweit zumindest für die Hauptfigur Stephanus. Aber das Stück setzt früher in der Apostelgeschichte ein und nimmt eine Art biblischer Gegenerzählung mit auf. Mit dieser Erzählung erinnert es an die Allgegenwart des Todes36 und an einen strafenden Gott. Die Eheleute Ananias und Saphira wollen Christen werden. Sie verkaufen ihr Hab und Gut, um es den Aposteln zu geben und der Gemeinschaft beizutreten. Als sie auf dem Weg zu den Aposteln sind, hat die Frau die Idee, dass die Apostel ja nicht wüssten, wieviel Geld sie für den Verkauf bekommen hätten – schließlich seien sie keine allwissenden Götter – und dass sie doch besser einen Teil des Geldes vergraben sollten für den Fall, dass die Gemeinschaft der Christen doch nicht von Dauer sei. Sie einigen sich auf diesen Plan und Saphira läuft schnell zurück, um ihn in die Tat umzusetzen. So kommt Ananias zunächst allein zu den Aposteln und wirbt sich und seine Frau mit dem Geld in die Gemeinschaft ein. Doch Petrus ahnt die Unterschlagung und hakt nach. Dreimal leugnet Ananias den Betrugsversuch und wirft sein Leben für seine Ehrlichkeit in die Waagschale (V.  1294–1296, 1308–1310, 1325f.). Petrus verliert die Geduld, wirft ihm seine Lügen vor und klärt ihn über die Folgen auf: Weil du denn so vermessen bist / Vnd meinst / du wollst mit deiner List / Beid vns vnd Gott im Himml betriegn / So keck dem heilgen Geist vor liegn / So geh dirs / wie du selbst begert / Das dich nicht lenger trag die Erd / 36 Hier muss die mittelalterliche Literatur zum Thema Tod und Sterben mitbedacht werden. Vgl. Habel, Der Tod im Fastnachtspiel, S.  66:, zur »[…] umfangreichen und vielfältigen ›Todes‹-Literatur der Zeit: der Ars-moriendi- und Totentanztexte, der Vado-mori-Gedichte und Trauer-Carmina, der Buß- und Leichenpredigten, der Streitgespräche zwischen Leben und Tod und Schauspiele vom sterbenden Menschen.«

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Die gwaltig Hand Gotts greiff dich an / Das sich an dir spiegl jederman. (V. 1335–1342)

Ananias begreift nicht, was ihm nun droht. Er leugnet ein letztes Mal: Jch sag’ noch wo ich Lgen red / So reiß’ mich weg der gehend’ Tod (V. 1343f.). Kaum ausgesprochen, steht der leibhaftige Tod37 vor dem Betrüger. Er ist die erste Figur, die in den Sprecherangaben in Fraktur geschrieben ist, eine Markierung für alle außerbiblischen Figuren. Diese Figur ist, so Elisabeth Kunstein 1972, ein »Charakteristikum der protestantischen Höllenfahrtsikonographie«.38 Der Tod verspricht Ananias, dass er seine Bitte sofort erfüllen werde, weil dieser leichtfertig gehandelt habe. Dann stellt er sich dem Publikum vor und wendet sich an jeden einzelnen, den er irgendwann holen und zum Totentanz führen werde. Wie auch in Bad Gandersheim39 gab es im Aufführungsort des Stephanusdramas, in der Braunschweiger St. Andreaskirche, eine Totentanzdarstellung,40 die leider nicht mehr erhalten ist. Möglicherweise bestand zwischen der Darstellung und dem Drama einmal eine reziproke und befruchtende Verbindung mit der Funktion einer Verlebendigung und einer Verstetigung, die sich aufgrund des Verlustes der Tanzillustration nun nicht mehr nachweisen lässt. 37 Vgl. dazu Haug, Rainer Warning, S. 368: »Sie [die dramatische Umsetzung] erlaubt es, ja, sie erzwingt es, daß das trotz der Erlösung zugelassene Böse sich einen Freiraum erspielt, in dem es sich leibhaftig entfalten kann.« Bei der Personifizierung des menschlichen Endes in der Figur des Todes spricht Haas, Die Auffassung des Todes, S. 176, von einer Säkularisierung des Todes: »Anstelle der Vorstellung von Hölle und Paradies ist die Vorstellung der eigenen physischen Vernichtung getreten, des tragischen, aber völlig menschlichen Untergangs der eigenen Person. Ein Stück Säkularisation vollzieht sich hier unter christlichen Vorzeichen.« 38 Vgl. Kunstein, Die Höllenfahrtsszene im geistlichen Spiel, S. 139. Ebd.: »Als Vertreter der heilsfeindlichen Mächte werden immer Tod und Teufel gemeinsam besiegt – spricht Luther doch oft von Christi ›sieg und triumpf an tod, Teuffel, helle.‹« 39 Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur, Tanz der Toten, S. 122. 40 Seit Mitte des 15. Jahrhunderts muss es diese Darstellung in der St. Andreaskirche gegeben haben. Zerstört wurde sie vermutlich während des 30-jährigen Krieges. In dieser Kirche war der Vater des Autors Pastor. Melchior Neukirch kannte den »Braunschweiger Totentanz« also wohl seit seiner Kindheit. Über das Gemälde berichtet Hilscher, Beschreibung Des so genannten Todten-Tantzes, S. 92 noch: Fast dergleichen Worte fhret auch Erasmus Rothmaler / in der 3.  Predigt ber den Kirchen-Gesang: Christ lag in Todes-Banden / und meldet dabey / daß der Todtentantz auch zu Braunschweig in der S. Andreas-Kirchen / als ein altes Gemlde auff einer Tafel allda noch dazumal zu sehen gewesen. Man findet ihn berdiß in einer Kirchen zu Lbeck. Eine mögliche Verwandtschaft mit dem berühmten »Lübecker Totentanz« ist nicht mehr nachzuweisen. Hilschers Quelle ist Rhotmaler, Sieben Christliche Osterpredigten, Jv: Solchs haben die alten angedeutet hirdurch / das sie den Todt tantzende / vnd vorn angemahlet / der fret einen grossen reigen / vnd hat angefasset / Babst / Keyser / König / vnd allerley Personen / auß allerley geschlechten vnd stenden / Edel vnd Vnedel / Herren vnd Knechte / Frawen vnd Jungfrawen / Alte vnd Junge / reich vnd arme / schn vnd heßliche / gros vnd klein / gelerte vnd vngelerte / Menner vnd Kinder / etc. Vnd tantzet mit jhnen zur Welt hinaus / vnd dauon / wie zu Braunschweig in S. Andreas Kirchen ein solch alt gemlde vnd Taffel zusehen ist. An solchen Todes Reigen gehren sie alle / […].

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Der Tod im Stephanusdrama Neukirchs büßt seine bedrohliche Rolle jedoch bald ein, denn er gibt zu, dass sein Stachel durch Tod und Auferstehung Christi gebrochen sei. Deshalb könne er nicht mehr töten als den Körper. Die Seele aber bleibe vor ihm sicher, Drmb frcht jr euch gar nicht fr mir (V. 1401–1403). Rainer Warning bezeichnete dies als »theologisch ruinöse Ambivalenz in aller Schärfe: das geschaute Leiden« – oder in unserem Fall der Tod der Sünder –

soll den Blick zurückwenden auf die Schuld der Menschen, aber solche fromme Einkehr wird ständig auch entlastet durch Projektion eben dieser Schuld in den sonst übermächtigen, hier im Spiel aber unterlegenen Urfeind.41

Was im Osterspiel bei Warning für den Teufel gilt, gilt im Stephanusdrama für den schwachen und deshalb nur begrenzt bedrohlichen Tod. Auch dort handelt es sich nicht mehr um eine echte Ambivalenz, um eine Doppelwertigkeit. Der Mythos und damit die Macht des Todes ist gebrochen, er stellt keine echte Gefahr mehr dar – die von Warning unterstellte Ambivalenz wird bewusst zerstört. Doch, so fährt der Tod im Stephanusdrama Neukirchs fort, tröste es ihn, dass viele so lebten, dass sie zuletzt mit Leib und Seele ihm gehörten, wie Ananias, der nun in Ewigkeit zur Hölle verdammt sei. Mit dem Tod wird hier eine Figur eingeführt,42 die zuerst weder gut noch böse ist. Sie ist das personifizierte Ende, ohne jede Wertung, aber sie führt ohne Erbarmen ihre göttlichen Befehle aus. Im schadenfrohen Erwarten der Sünder, die ihm völlig gehören würden, zeigt sich jedoch, dass dieser Tod nicht neutral, sondern mit den Teufeln verknüpft bzw. als göttliche Strafinstanz zu verstehen ist. Einem Eingreifen dieser Figur folgen immer die Teufel, welche die Seele mit sich fortführen. Insofern steht der Tod als Vorbote der Teufel auf der Bühne und bekleidet somit wieder eine warnende Funktion. Er ist zwischengeschaltet zwischen Diesseits und Jenseits, und doch ist er eigentlich nur zuständig für die Sünder. Er fungiert darüber hinaus im Sinn einer ambivalenten Missionierung, führt diese einerseits doch vor Augen, welches Schicksal Ananias und später auch seine 41 Warning, Ambivalenzen, S. 181. 42 Über das Aussehen und die Ausstattung der Figur wird weder im Personenregister noch in den Regieanweisungen etwas gesagt. Während im Mittelalter der Tod auch in Totentanzdarstellungen meist als Hautskelett oder als von Würmern zerfressene und der Verwesung anheim gegebene Leiche dargestellt wird, setzt sich in der Frühen Neuzeit zunehmend eine eigene Todesdarstellung durch. Vgl. dazu Habel, Der Tod im Fastnachtspiel, S. 94, Anm. 144: »Der Tod erscheint bei Mercatoris also noch nicht als ›Knochenmann‹, sondern – wie im 15. Jahrhundert üblich und durch den Vers: Du bist vull Wrme vnd Slangen (V. 22) belegt – als ›Toter‹ im Sinne eines verwesenden Leichnams.« Ein möglicherweise besonderes Beispiel für die dramaturgische Inszenierung der Figur könnte etwa im Tod aus Georg Rollenhagens »Spiel vom Reichen Mann und armen Lazaro« (vgl. Rollenhagen, Vom reichen Mann und armen Lazaro, S. 7) zu sehen sein, wo der Tod mit einem schwarzen Fähnlein auftritt, das die Schrift trägt: Veni, vidi, vici.

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Frau ereilt und beklagt andererseits, dass der Tod keine Gewalt über wirklich gläubige Christen habe. Der Tod führt nicht nur einen Auftrag aus, sondern ist zugleich Mahner. Im Beispiel von Ananias und Saphira wird gezeigt, wie der Zorn Gottes alle Falsche vnd Maulchristen treffe (V. 124–130) und dass ebenso plötzlich wie im Dorotheendrama Fabrician vom Schlag getroffen wird.43 Falscher Glaube und mutwilliger Betrug statt Gottesfurcht und Ehrfurcht vor seinen Dienern können mitunter sofort bestraft werden (V. 149–162).44 Petrus kommentiert den Tod des Betrügers45 als gerechte Strafe, und auch er warnt die Zuschauer vor Eigennutz und Respektlosigkeit vor Kirche und Schule, denn der große Gott sehe alles.46 Petrus ordnet an: Jr Jnger schlept das Aß hinweg | Damit es hie nicht lenger leg (V. 1443f.) – und die Teufel bekommen die Seele. Nun kommt auch Saphira zu den Aposteln; und auch sie leugnet die Unterschlagung, doch in ihrem Fall wartet der Tod drohend bereits neben ihr und fordert sie sogar arglistig dazu auf, in ihrem Leugnen weiter zu verharren. Doch erst, als Petrus sie dem Tod zuspricht, ergreift dieser sie: Awe / awe / Jch bin des Todtes / Mich drckt die gwaltig Hand Gottes (V. 1537f.). Saphira erkennt also im plötzlichen Tod Gott, doch für sie ist es zu spät. Sich da / wie du jtzt hast begert / Vnd mich darmb hieher citirt / So g’scheh dir nu: Streck dich / reck dich / Man darff nicht lange laden mich. Jch kom wol eh man mein begert / Deins wndschens bistu nu gewerth. (V. 1539–1544)

Um Saphiras Leichnam kümmern sich Satan und weitere Teufel. Daraufhin unterhalten sich zwei Christen über die erschreckenden Ereignisse und darüber, dass Gott wirklich lange Geduld zeige. Wenn er aber keine Besserung sehen könne, dann handelte er, so wie man es bei dem Ehepaar gesehen habe. Mit dem Tod wird die bedrohliche Negativseite des Bühnenpersonals um eine Figur erweitert. Er wird in einem Atemzug mit anderen Feinden der Gläubigen 43 Vgl. dazu Eming, Gewalt als Kommunikation im geistlichen Spiel, S. 26: »Die Beschwörungen von Gottes Zorn haben in diesem Sinne die Funktion von Appellen, die Drohung in gewisser Weise in Selbst-Gewalt zu verwandeln und sich psychisch so zu konditionieren, dass Angst vor Zorn und Strafe Gottes zur festen Instanz im Innenleben wird.« 44 Althaus, Luthers Wort vom Ende und Ziel des Menschen, S. 100: » […] daß Gott dem sündigen Menschen im Todesschicksal mit dem Nein der Abweisung, mit seinem heiligen Zorne wider die Sünde begegnet, also unter dem Zeichen des Gesetzes. Dieses Nein Gottes zum Mensch ist der Tod im Tode.« 45 Ein Betrug an den Aposteln ist selbstverständlich gleichzusetzen mit einem Betrug Gottes: Wer meint er wil betriegen Gott / Der bringt sich vnd die sein’n in Noth. / Das fasst vnd b’halt’t aus diesem Spiel (Epilog, V. 5292–5294). 46 Der grosse Gott der alles sicht (V. 1441).

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genannt47 und doch hat er über die wahren Gläubigen keine Macht.48 Er steht auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, doch unter seiner Begleitung führt es nur in eine Richtung. Für die Gläubigen ist diese Schwelle unbesetzt. Die hier gezeigten Textbeispiele verweisen auf ein variables Repertoire im Umgang mit der entscheidenden Frage: Tod oder Taufe? Glaubensvermittlung wird in all diesen Texten von zwei Seiten eschatologisch beleuchtet, von der Seite des Himmels und der Hölle. Gleichzusetzen sind diese zwei Positionen zum Glauben mit ewigem Leben und ewigem Tod im Jenseits oder Glaube und Unglaube oder falscher Glaube im Diesseits. Als positive Beispiele werden Heilige, Märtyrer und Bekehrte gezeigt, als negative Tyrannen, Heiden, Andersgläubige und falsche Christen. Rainer Warning sagte über die von ihm untersuchten Texte: Die volkssprachliche geistliche Bühne präsentiert Heilige und Sünder, Engel und Teufel, Bilder der Hoffnung und solche der Furcht, sie zeugt in ihrer Entwicklung von der Produktivität ihres genetischen Prinzips – zumal von der Produktivität der Furcht […].49

Doch die Heiligen- und Märtyrerspiele denken über die Furcht hinaus. Sie setzen ihr nicht nur Hoffnung, sondern Heilsgewissheit entgegen und behandeln »die heilsgeschichtliche Spannung zwischen vergangener Heilstat, gegenwärtiger Verbürgung […] und zukünftiger Erfüllung«.50 An die Schnittstellen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Vorbild und Nachahmung stellen sie abschreckende und vorbildliche Figuren. Doch eine Ambivalenz im Sinne eines echten Dualismus gibt es in diesen Spielen und Dramen nicht. Tod, Teufel und Hölle sind wie alle Gegenfiguren Werkzeuge für den Glauben und abhängig von der Macht Gottes. Trotzdem wird zu Zwecken der Missionierung von Gewalt erzählt, von einem scheinbaren Kampf Gut gegen Böse. Physische Gewalt wird immer unter den gleichen Voraussetzungen gezeigt. Immer sind es Heiden und Ungläubige, welche den Heiligen und Gläubigen Gewalt antun.51 Hinzu kommt in Form von Einschüchterung und Nötigung eine Sprachgewalt, die sich nicht allein 47 Last rumoren Tod / Teufl / vnd Hell / Vnd wer nicht vnser Freund sein wil. / Wenn Gott auff vnser Seiten ist / So kan vns / wedr des Teufels List / Noch G’walt vnd Tyranney der Welt / Zufgen schadn / wenns Gott nicht g’felt (V. 5244–5249). 48 Der Tod erhält auch in den Überlegungen Martin Luthers kein eigenes Recht, vgl. dazu Pesch, Theologie des Todes bei Martin Luther, S. 767f.: »Daraufhin – diesen biblischen Hinweis liebt Luther offenbar – darf der Christ den Tod fortan ansehen wie die eherne Schlange des Mose: Sie hat zwar das Aussehen einer Schlange allenthalben bewahrt, aber sie ist ganz ohne Leben, ohne Bewegung, ohne Gift, ohne Biß – so ist der Tod dem Christen tot.« 49 Warning, Ritus, Mythos und Geistliches Spiel, S. 219. 50 Warning, Ambivalenzen, S. 26. 51 Es handelt sich hier um einen »Modus der vergeblichen Destruktion des Göttlichen« – so Eming, Gewalt als Kommunikation im geistlichen Spiel, S. 12.

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auf die Antagonisten beschränken lässt. So sehen wir schon im »Augsburger Georgsspiel« Drohungen mit Drache, Tod und Hölle, und noch in den beiden Märtyrerspielen wird mit dem Tod als Strafe für den falschen Glauben gedroht. Dort wird sogar unmittelbar vorgeführt, wie diese Konsequenz aussehen kann. Drohungen gegenüber den Märtyrern tragen zur »Konstituierung der Figur der oder des Heiligen«52 bei; Drohungen gegenüber Ungläubigen oder dem Publikum sollen im Glauben bestärken. Beide Formen sind wirksame Wege der Vermittlung von Glauben. Trotz physischer und psychischer Gewalt kann hier nicht im Warning’schen Sinne von einem »terroristisch besetzten Raum« gesprochen werden oder von einer »terroristischen Realität teuflischer Allmacht, die […] hinweggespielt«, werde.53 Eine Allmacht haben die Gegenfiguren gerade nicht und auch keine Macht, die ihnen nicht von Gott zugestanden wird. Dennoch präsentieren Spiele und Dramen zum einen eine Faszination an diesen vielfältigen Gestalten und andererseits eine Freude daran, ihre Überwindung und Machtlosigkeit vorzuführen. Und so stellen Heiligenspiele und Märtyrerdramen Anfang und Ende vor Augen. Begann im »Augsburger Georgspiel« alles mit der Bedrohung durch den Tod, so mündete es in einem Anfang, in der Taufe der Heiden. Die Missionierung der Untertanen durch den heidnischen Herrscher im »Kremsmünsterer Dorotheenspielfragment« stand dagegen ausschließlich unter dem Zeichen des Todes. Erst Dorotheas Beweise führten die frisch Bekehrten zu einem Neuanfang im Glauben – ein Neuanfang allerdings, der zugleich das leibliche Ende bedeutet.54 Für die protestantischen Märtyrer schließlich erfüllt der Tod noch sehr viel deutlicher die »Funktion der Mitte«55. Für sie ist ewiges Leben im Tod, während für die bestraften Heiden nur endgültiger Tod vorgesehen ist. Die Glaubensvermittlung der Heiligenspiele und Märtyrerdramen richtet sich vor allem an das gläubige Publikum – in unterschiedlichen Ausformungen: als Drohung, mit handfesten Beweisen und davon überzeugten Bekehrten, als Beispiel einer unmittelbar ausgeführten Todes- oder Höllenstrafe, als Rache Gottes oder als Versprechen der Erzengel für die Todesstunde. Tod und Taufe sind dabei nur zwei Seiten einer Medaille im Kampf um den richtigen Glauben. Der Mythos, der meist mit der Bedrohung durch den Tod in Verbindung gebracht werden kann, kommt nur noch zu Wort, wenn er der Glaubens- und Heilsvermittlung dient. Die Ziele dieser Vermittlung für die textimmanenten Glaubensgegner sind 52 Ebd., S. 22. 53 Warning, Ambivalenzen, S. 75. 54 Vgl. dazu Pesch, Theologie des Todes bei Martin Luther, S. 747: »Getauft werden heißt, sich in den Tod für die Sünde ergeben und darum den leiblichen Tod ersehnen, und: in Kampf und Leiden mit der Tötung der Sünde beginnen, die im leiblichen Tod zum Abschluß kommt.« 55 Hammer, Ent-Zeitlichung und finales Erzählen, S. 189.

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Bekehrung und Taufe. Für die Zuschauer vor der Bühne soll der wahre Glaube anhand von Beweisen der Macht Gottes und Beispielen für menschliches Fehlverhalten gestärkt werden. Taufe und Beständigkeit im wahren Glauben werden exponiert und propagiert als Rüstzeug gegen den Tod, ein für alle getauften und glaubenden Christen nur vorläufiges Ende.

Literaturverzeichnis I. Texte und Quellen Das Augsburger Georgsspiel, in: Elke Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte, 2 Teile. Diss., Bern 1975 (= Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache 1), S. 97–132 u. S. 361–451. Hilscher, Paul Christian, Beschreibung Des so genannten Todten-Tantzes, Wie selbiger An unterschiedlichen Orten, Sonderlich an hertzog Georgens Schlosse in Dreßden, Als ein curiöses Denck-Mahl Menschlicher Sterbligkeit zu finden, Dresden/Leipzig: Johann Christoph Mieth 1705 [VD 18 14602032]. Jacobus de Voragine, Legenda Aurea. Goldene Legende. Jacopo da Varazze, legendae sanctorum, Legenden der Heiligen, 2 Teile, Einl., Ed., Übers. u. Komm. v. Bruno W. Häuptli Freiburg/Basel/Wien 2014 (= Fontes Christiani), Teil 1, Freiburg/Basel/Wien 2014. Kaufbeurer Passionsspiel 1562, Kaufbeurer Osterspiel. Textausgabe mit Einleitung und Spielerbiographien, hg. v. Anne Metzler. Diss. masch., Augsburg 1995. Kremsmünsterer Dorotheenspiel, in: Elke Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte, 2 Teile. Diss., Bern 1975 (= Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache 1), Bern 1975, S. 313–357. Neukirch, Melchior, Stephanus, Ein schöne geistliche Tragedia von dem ersten Merterer, hg. u. komm. v. Verena Linseis, Wiesbaden 2018 (im Erscheinen). Rhotmaler, Erasmus, Sieben Christliche Osterpredigten / Vber den schnen Kirchengesang / LVTHERI. Christ lag in Todesbanden / etc. […] Gehalten Franckenhausen / in der lblichen Graffschafft Schwartzburgk / etc., Jena: Salomon Richtzenhan/Salomon Gruner 1600 [VD 16 R 2122]. Rollenhagen, Georg, Vom reichen Mann und armen Lazaro. Ein Deutsche Action, Magdeburg: Ambrosius Kirchner 1590, hg. v. Johannes Bolte, Nachdr. Berlin 2013 [Halle 1930]. Sachs, Michael, Stephanus, Tragedia von Stephano dem heiligen marterer, hg. u. komm. v. Karolin Freund, Wiesbaden 2018 (im Erscheinen). Thamm, Balthasar, Dorothea, Tragicomoedia, Ein schön Christliches Spiel von der Gottseligen, züchtigen Jungfrawen Dorothea, Welche vnter dem Keyser Maximino zu Alexandria die Kron der Martyrer empfangen, hg. u. komm. v. Julia Gold, Wiesbaden 2018 (im Erscheinen).

II. Forschung Althaus, Paul, Luthers Wort vom Ende und Ziel des Menschen, in: Mitteilungen der Luthergesellschaft 28/3 (1957), S. 97–105. Barton, Ulrich, eleos und compassio. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater, Paderborn 2016.

Tod oder Taufe? – Vermittlung und Verifizierung von Glauben im Drama

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Bergmann, Rolf, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (= Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Biermann, Heinrich, Kremsmünsterer (schlesisches) Dorotheenspiel (Fragment), in: Verfasserlexikon, Bd. 5 (1985), Sp. 357. Chesterton, Gilbert Keith, Sternschnuppen, in: Ders., Die seltsamen Schritte – Pater Brown Stories, übers. v. Heinrich Fischer, Zürich 2004, S. 97–119. Eming, Jutta: Gewalt als Kommunikation im geistlichen Spiel, in: Cora Dietl/Christoph Schanze/ Glenn Ehrstine (Hgg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater, Göttingen 2014, S. 11–29. Gold, Julia, Dorothea als lutherische Heilige bei Balthasar Thamm, in: European Medieval Drama 18 (2014), S. 79–109. Haas, Alois M., Die Auffassung des Todes in der Deutschen Literatur des Mittelalters, in: Hans Helmut Jansen (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst, Darmstadt 1978 (= Sonderausgabe aus Zeitschrift für Gerontologie 11), S. 165–176. Habel, Thomas, Der Tod im Fastnachtspiel. Beobachtungen zum Verhältnis von Stoff und Medium, in: Paul Richard Blum (Hg.), Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert, Wolfenbüttel 1983 (= Wolfenbütteler Forschungen 22), S. 63– 95. Hammer, Andreas, Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden, in: Udo Friedrich/Andreas Hammer/Christiane Witthöft (Hgg.), Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2013 (= Literatur – Theorie – Geschichte 3), S. 173–197. Haug, Walter, Rainer Warning, Friedrich Ohly, und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 361–374. Kästner, Karl-Hermann, Cuius regio eius religio, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 6 Bde., Berlin 2008ff., Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 913f. Koch, Elke, Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen, in: Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin (Hgg.), Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 2010 (= Historische Semantik 13), S. 110–130. Kunstein, Elisabeth, Die Höllenfahrtsszene im geistlichen Spiel des deutschen Mittelalters. Ein Beitrag zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte. Diss., Köln 1972. Linseis, Verena, Die Faszination am Kampf des Heiligen mit dem Bösen: Georg, Margarete und der Drache im städtischen Kontext, in: European Medieval Drama 18 (2014), S. 17–52. Linseis, Verena, Item den lintwurm, ritter sant Georg. Der Heilige / Herzog Georg als Leitfigur der Ingolstädter Prozessionsordnung (1498?), in: Franz Niehoff (Hg.), Das Goldene Jahrhundert der Reichen Herzöge, Landshut 2014 (= Schriften aus den Museen der Stadt Landshut 34), S. 94–114. Metz, Detlef, Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter, Köln u.a. 2013. Pesch, Otto Hermann, Theologie des Todes bei Martin Luther, in: Hansjakob Becker/Bernhard Einig/Peter-Otto Ullrich (Hgg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, 2 Bde., St. Ottilien 1987, Bd. 2, St. Ottilien 1987 (= Pietas Liturgica 4), S. 709–790. Tanz der Toten, Todestanz. Der monumentale Totentanz im deutschsprachigen Raum, hg. v. Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur (= Jahresgabe für die Mitglieder des Vereins für christliche Kunst), Dettelbach 1998. Toepfer, Regina, Gewalt im reformatorischen Bibeldrama. Zur Tragedia / von Stephano dem heiligen marterer von Michael Sachs (1565), in: Cora Dietl/Christoph Schanze/Glenn Ehrs-

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Verena Linseis

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Ulrich Müller und Klaus Wolf Katholischer Brauch bei frommen Protestanten. Das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtsspiel«. Erstedition und Erläuterung der reformationszeitlichen Gattungsambivalenz Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels wurden und werden bislang vor allem anhand hoch- und spätmittelalterlicher Texten erörtert. Lohnend scheint daher die Frage, ob das Deutungsparadigma der Ambivalenz in der Prägung durch Rainer Warning auch auf frühneuzeitliche, genauer Dramen der Reformationszeit mit Gewinn anwendbar ist. Dies soll jetzt anhand eines bislang der Spielforschung unbekannten, von Ulrich Müller entdeckten, hier erstmals edierten Fastnachtsspiels aus Königsberg in Ostpreußen aus dem Jahr 1553 demonstriert werden. Das Spiel wird zunächst (erstmalig) ediert und am Ende des Aufsatzes ausführlich im Hinblick auf den Ansatz von Warning interpretatorisch profiliert. Der Fall ist umso interessanter, da solche Stücke im protestantischen, damals noch nordostdeutschen (niederdeutschen) Sprachraum nicht eben häufig sind. Heute wird das Spiel im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin (GStA PK) in der XX. Hauptabteilung (Historisches Staatsarchiv Königsberg), Herzogliches Briefarchiv, Abteilung D (Livland) als Beilage 1 zu Nr. 1589 verwahrt. Es befand sich bei den Beständen, die gegen Kriegsende nach Westen verlagert wurden, während der andere Teil des Archivs untergegangen ist. Stefan Hartmann hat den größten Teil dieser Livland-Abteilung in Regesten verzeichnet, das hiesige Fastnachtsspiel in Band IV.1 Unter den Tausenden von Regesten stieß Ulrich Müller im Zuge von Reformationsforschungen darauf. Ein weiterer Glücksfall war, dass er an völlig anderer Stelle im Herzoglichen Briefarchiv in den nur grob verzeichneten Beständen zufällig auf einen inhaltlich genau dazu gehörenden Text stieß.2 Zukünftig soll der Text, der im Folgenden (mit dazu gehörigem, weiterem archivalischen Schrifttum) ediert wird, als »Königsberger Fastnachtspiel« firmieren. Die Edition versucht das Erscheinungsbild des Überlieferungsträgers möglichst getreu wiederzugeben. 1 Vgl. Hartmann, Herzog Albrecht. Wenn Hartmann in seinem Regest Nr. 1589 irrtümlich In vigilia Matthei liest, und so das Stück auf den 20. September datiert (was nicht zur Fastnachtszeit passt) oder den Autorennamen als Busillus liest, sind das Kleinigkeiten, die gegenüber der Größe des Regestenwerkes verschwinden. 2 GStA PK, XX. HA, HBA J 2, Kasten 956 (Altsignatur: III.35.198), Bl. 1r–2r.

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»Königsberger Fastnachtsspiel« von 15533 [Bl. 5r]4 Ein gemein klagliedt etlicher reiffen, manbaren Jungfrawen, dessgleichen vieler Jnbrunstiger, riebsuchtiger Jungkirgen5 Jn Königsbergk, welche Jn nehest vorschinnen fastnachtagen auserhalb dem heiligen ehestandt sindt vberbliben. In thon: ›den meinen balck hab ich vorloren‹. Getichtet durch S. Peters Vnnd Matthias gesellen. vnnd brudern6 [Bl. 5v] Ach7 mein ehegath hab ich vorlohrn.

3 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, XX. Hauptabteilung (Historisches Staatsarchiv Königsberg), Herzogliches Briefarchiv, Abteilung D (Livland), Nr. 1589: 1553 September 20, o.O., Andreas Busillus (Pusillus), Christi famulus, an Erzbischof Wilhelm; hier Nr. 1589/1 Beilage. Das Original selbst trägt keinen Titel. 4 Der Text ist weitgehend diplomatisch abgeschrieben. Die Zeilen sind umbruchmäßig originalgetreu wiedergegeben. Unterstreichungen gemäß dem Original. 5 Hier könnte beim Diminutivsuffix ein Reflex der Königsberger Mundart vorliegen. Denn im Nürnbergischen ist das Diminutivsuffix auf -lein beziehungsweise -le oder -la anzusetzen. 6 Dieser Hinweis sowie die im Folgenden markierten Zeilen sind unterstrichen. 7 Der Anfangsbuchstabe jeder Strophe ist als Initiale vor der Zeile als Akrostichon geschrieben. Zusammengesetzt ergibt sich Anna Sophia (bei ihr handelt es sich um die Tochter Herzog Albrechts in Preußen).

Ulrich Müller und Klaus Wolf

Es hat mirn8 Jemandt gnomen, das thut mir aus der massen tzorn, es wirdt Jm nicht wol bekommen. Nhu, wer denselben funden hat, der soln mir wieder geben; thut ehr das nicht, er kumpt Jn not, bringt sich vmb leib vnnd leben. Nach eins ich itzt vormelden muß, thut mir mein gwissen plagen, mich frist der schimmel vnd der ruß, mein hertz will mir vortzagen. Aber9 mir nach wol tzu helffen ist, auch itzundt diesse stunde, man seume nicht lange, entlichen wist, das sag ich freij vnnd runde. [Bl. 6r] So mir mein trost benomen ist durch diesser werlet kunste, Abgewendet gantz mit falscher liest, Geht10 vien hirß In der brunste. O reicher got Jns himmels thron, schaff mir ein anders leben, Jn Jesu Christo, deinem Sohn, darnach will ich auch streben. Pracht, adell, gelt, nichts helffen will, das hab ich wol11 erfharen, got hat meiner sach gestackt ein tzil, so lang muß ich noch sparen. Hilff, Jesu Christs ists helffens tzeit, Ein ehgath thu mir bescheren, mein heupt vnd hern gantz mit bescheit ich halten will Jn ehren. 8 Folgt gestrichen den. 9 Nach A ein Buchstabe gestrichen. 10 Vor dieser Zeile steht von anderer Hand ein N[ota]. Ein ähnliches Notizzeichen findet sich auch im Brief an Dr. Basilius Axt links neben einer unterstrichenen Zeile. 11 Am rechten Seitenrand nachgetragen für gestrichenes itzt.

Das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtsspiel«

[Bl. 6v] Jch traw vnnd hoff allein tzu dir, du weist mein krangheit schwere, kum heut tzu mir meins hertzen gir meiner bit mich auch gewere. Amen sprech ich auss hertzen grundt12 Vnnd will nicht weiter sorgen, kumpts gluck nicht heut tzu diesser stundt, So wardt ich sein auff morgen. Was gott beschertt13 Bleit vnerwertt Vnnd weren der neider nach souiell, So geschicht doch, was gott haben will. [Bl. 7r]

Die Tochter spricht tzum Vater. Gebt mir ein from gotfurchtigs kindt Vnnd lasts den liebn14 got walten, der bschert vns gluck vnd heil geschwindt, wir werden In freuden15 gfalten. Der Tichter singet Wenigk danck /16 klein lohn / ich dauon bring / man wigt gering / vnnd17 thut mein twzar / vorgessen gar / wie ich stetz erfhare / gnad gunst vorhofft das gluck tzu schloss / sich wendet offt.

12 Diese Zeile erinnert an die fünfte Strophe des Kirchenliedes Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not[…], deren Anfang lautet: Amen, zu aller Stund’ sprech ich aus Herzensgrund […] Das Kirchenlied ist jedoch später entstanden. 13 Diese und die folgenden drei Zeilen sind in einer weniger kursiven Schriftart geschrieben. 14 Zwischen b und n wohl gestrichen e. 15 Folgt gestrichen alten sowie gfe (Lesung unsicher). 16 Zur (u.a.) metrischen Gliederung am Sei­ ten­ende vgl. Bl. 7r. 17 Folgt gestrichen t (Lesung unsicher).

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[Bl. 7v]

Der Schreiber18 Wolt got, das ich ein kleussner wer, So wer nichts anders mein beger, dan blinde kess vnnd sehnde brodt, die solt ich haben Jn meiner nodt. Ein aldes Bier, Springender wein Stetz muste mein getrencke sein. Junge hunner19, dartzu alte fisch, die mucht ich leiden auff meinem tisch. Ein medlein Jungk mit20 schmallen21 lend, darmit ich stetz mein trubsal wend, das geb mir balt der guttige got Vnnd helff mir frey aus aller nodt22. A[men]23. Wer mochte das nicht?24 Sprach der apt von Pose. [Bl. 8r] Reumb dich aber sulh dije25 stigen Ehijn.

18 Der obere Bogen des S ist abgeschnitten. Dieser Teil könnte auf Blatt 8r auf dem Kopf stehend zu finden sein. Demnach ist das Papier wohl erst nach dem Beschreiben auseinander geschnitten worden. 19 Nach und für gestrichen hundt. 20 Nach mit wohl zwei Buchstaben gestrichen. 21 Folgt durch Verwischen getilgtes len am rechten Seitenrand. 22 Diese Zeile erinnert an die erste Strophe von Martins Luthers 1528 gedichtetem Lied: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not […]. 23 Evtl. für Andreas Pusillus. 24 Diese und die folgende Zeilen sind wohl von anderer Hand geschrieben. 25 Die Lesung beider Zeilen auf Blatt 8 ist sehr unsicher. Sie sind von einer anderen, sehr flüchtigen Hand hingeworfen.

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[1553 Februar 23, o. O.] [Andreas Pusillus] an [Erzbischof Wilhelm von Riga oder Herzog Albrecht in Preußen26] GStA PK, XX. HA., HBA J 2, Kasten 956 (Altsignatur: III.35.198), Bl. 1r–2r. Gnad und fried vonn27 Gott dem vatter durch Christum Jhesum etc. Hochwirdigster in Gott genedigster her. Nachdem d[octor] Morlein, wie man sagt, von hier zogenn unnd mir hundert Jochims taler, so er mir durch ein vortragk vnnd vorheissung in kegenwart D[octoris] Georgij Sabinj vnd einess Magisters auss Schippenpeil geschehenn, schuldig worden, derwegen ich zu e[wer] f[urstliche] d[urchlaucht]*28 alss einem Patronen Jn Geistlichen sachen*, weil er nicht alhier29, fliehe, hoffende eine gnade zuerlangen, bittende, wo es geschehen kan, mir wegen dess abwesenden auss furstlicher miltigkeit solchs zu betzalen. weil ich auch weiss, dass e[wer] f[urstliche] g[naden] nicht wieder die geistligkeit ist,*30 auch den heyligen Estandt nicht voracht, So vberantwort ich hiemit e[wer]. f[urstliche] g[naden] ein hubsches teutzsches Liedlein*, so von einem Gottfurchtigen Jungen gesellen gemacht, vnd mir heut vberantwort, welches, so es e. f. g., wie ich nicht zweiffel, gefellig, ist es dem Autorj Lieb. Wo nicht, wolle es dennoch in gnaden annehemen. Jch mochte aber wol wunschen*31, weil E. f. g.32 ein geistlicher Artzt, dass e. f. g. Jre freundin wolle gesundt machen, welche an einer schweren krankheit leit33* vnd thue mich e. f. g. alss einem Geistlichen vater, weil ich alhier ein frembdling, datzu Arm auss grundt meiness hertzenss, bevhelen, e. f. g. leben vnd sein gesegnet, wollen mir auch gutig34 wiederschreiben oder beantworten. Vermutlich anderes Konzept [Bl. 1v] Alle die Jenig, so die heylige Ehe vorachten, misfallenn Gott, den Gott ist Jm Gram vnd weil er lebt, wil ers35 kegen seinem geschlecht nicht vorgessen, den er sicht nicht, dass es eine gabe Gottes ist, vnd dass es Gott selbst geheyliget, 26 Ein Umschlagbogen aus der 2. Hälfte des 19. Jhs. beschreibt den Brief folgendermaßen: »Eines Ungenannten Brief (an Herzog Albrecht) in Betreff einer Schuld von 100 Thalern Seitens Mörlin’s an ihn. ccc. O. O. J. M. T..« 2 Bl. + 1 (AZ, 3.35.198.). 27 Folgt gestrichen: Christe. 28 Am linken Seitenrand nachgetragen von * bis *. 29 Folgt gestrichen: komme. 30 Alt unterstrichen von * bis *. 31 Alt unterstrichen von * bis *. 32 Am linken Seitenrand eine Notierung: N. o.ä. gestrichen. 33 Anfangsbuchstabe durch einen Tintenfleck halb überdeckt. 34 Folgt gestrichen: be. 35 Folgt gestrichen: nu o.ä. (Lesung unsicher).

Das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtsspiel«

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wil auch solchen36 standt heylig durch seine guete erhalten. Aber wer in lastern geborn ist, der lebt und wirt auch Alt in Lastern vnnd findet in seinen lastern alle sein beger. Gehe nuhn du Gottloser Babst vnd vorleugne dein Gottloses37, vntzuchtigs leben in dieser welt. Gehe mit deinen Munchen. Gehet alle, welche die zarten oliuen dess heyligen dauidis vbel anrichten, auss welchen oliuen dass ganzte menschliche geschlecht entsprossen, auss welchen alle Reich vnd gesetze gemacht seint vnd die Stete in grosen Ehren halten, gleich alss Gott selber, weil ich nuhn solchs rede, so vorkundigt dir dein vntergang ein38 gut gluck vnnd wunschen. Gehe nuhn, du Gottloser Pabst mit deinen Monchen.

[O. D. u. O.] Schreiben eines unbekannten Verfassers an Dr. Basilius Axt, Leibarzt Herzog Albrechts GStA PK, XX. HA. HBA D Nr. 1589/2, Bl. 1. [Bl. 1r] Ann Do[ctor] Basilium M[einer]39 f[urstlichen] d[urchlaucht] Jnn preussen etc. artzt. M. g. a. Gnade vonn gott durch Christum, ins heiligen geistes krafft a[men] Jch binn Jnn erfarung kommen, als sollet Jhr sampt ewerm gantzenn hause einn groll, haß vnnd neidt, achtbar her Docter, auff mich geworffenn habenn, vnnd noch Jm hertzenn tragenn, wie ich dann mit prügelnn auß ewerm hause binn geschlagenn wordenn. Godt der herre vorgebe es denenn, so solches auß vnwissenheidt gethan haben, wenn es Jhnnenn leide wirt. Zum andernn bitte ich dann gemeiner Christlicher liebe, vnnd hoch dringender noth wegenn, weil Jhr einn docter der leiblichenn artznei seiet: wollet einenn geistlichenn artzt mit euch nehmenn, vnnd zum Jungenn frewleinn M[eines] G[nedigsten]40 fürstenn gehenn, vnnd Ihnn gottes krafft vorsuchenn, ob gabriel Jhr einn botschafft

36 Anfangsbuchstabe verschrieben. 37 Folgt gestrichen: vn. 38 Folgt gestrichen: glu. 39 Brief liest als Anfangsbuchstaben irrtümlich: N. 40 Am linken Seitenrand neben der Unterstreichung ein N[ota], das wohl Bezug nimmt auf die Unterstreichung mit dem N[ota] am linken Seitenrand in dem Fastnachtsspiel.

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brechte41, vonn einem siebenn schu lanngenn pflaster, denn das ists42 ander43 so Jhr mangeltt etc. Intellige Pauca. J[n] pres[en]t[ia] ddt.44 in d[omi]no And. Crucif. Gab.45 [Bl. 1v46] Visitis Al[brecht]. Der Entstehungsort und wohl auch Aufführungsort des Fastnachtspiels, Königsberg, wird ausdrücklich genannt und der zeitgenössische Registrator in der herzoglichen Kanzlei hat den zur Fastnachtszeit passenden Betreff Narrenpossen gewählt. Da die Königsberger Narrenpossen selbst nicht datiert sind, ist die Entstehung mittels des Hauptschreibens festzulegen. Der im archivalischen Kontext beigegebene Brief an Erzbischof Wilhelm hat als Datum den Vortag des Tages des Apostels Matthias, also den 23. Februar 1553. Das passt auch zu einem Fastnachtsspiel, das uns zudem weismachen will, es sei von Sankt Peters und Matthias Gesellen und Brüdern gedichtet worden. Die im deutschsprachigen Konzept noch als Gerücht gehandelte (... wie man sagt) Landesverweisung des Königsberger Dompfarrers Joachim Mörlin war bereits am 19. Februar 1553 erfolgt. Der Briefschreiber mag vier Tage später noch keine Gewissheit gehabt haben, aber sieben Monate später, im September, ist dies undenkbar. Auch will Pusillus47 die Narrenpossen am selben Tag erhalten und weiter gegeben haben. Das vorliegende Fastnachtsspiel von 1553 ist eine von vier Beilagen zum lateinischen Brief eines Andreas Pusillus, der sich als Christi famulus bezeichnet, an Erzbischof Wilhelm von Riga. Zur weiteren Klärung trug dann ein anderer Fund bei, ein deutsches, undatiertes und anonymes Konzept eines Schreibens mit teilweise sehr ähnlichem Inhalt wie die lateinische Ausfertigung, gerichtet an einen ungenannten Fürsten. In beiden Schreiben folgt auf ein Bittgesuch in einer Darlehenssache gegen Joachim Mörlin über 100 Joachimstaler der Hinweis auf ein beigefügtes Liedlein und die Kritik an theologischen Auffassungen. Der deutschsprachige Entwurf wird seit alters bei den Geistlichen Angelegenheiten verwahrt. Der Archivumschlag nennt als Betreff: Ein Unbekannter bittet (den 41 Lesung unsicher, evtl. brochte. 42 Folgt verwischt: nichts. 43 Am Wortende gestrichen ß. 44 Evtl. Abkürzung für den Plural von Durchlauchtigkeiten; hier also Herzog Albrecht und Erzbischof Wilhelm. 45 Die Ergänzung der Abkürzungen der lateinischen Zeile durchgehend sehr unsicher. 46 Evtl. Sichtvermerk Herzog Albrechts. 47 Bei dem humanistischen Namen könnte es sich um eine Latinisierung etwa zum deutschen Familiennamen ›Klein‹ handeln. Recherchen in Königsberger Quellen bezüglich der Namen ›Klein‹ (auch französisch ›Petit‹) ergaben für den hier vorliegenden Spielkontext jedoch keine befriedigenden Ergebnisse.

Das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtsspiel«

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Herzog Albrecht) ihm 100 Joachimsthaler, die ihm Mörlin schuldig ist, zu zahlen; er schickt ihm ferner ein Lied über den Ehestand.48 Nun wüsste man gern mehr über den Briefsteller Pusillus und mehr noch, ob er auch der Verfasser der Königsberger Narrenpossen war, oder wenigstens der Schreiber. Hier aber liegt vieles im Dunkeln. In dem Konzept schreibt Pusillus ausdrücklich, dass er hier ein Fremdling sei und arm. Zu dem Ersteren passt das Geldgeschäft in Joachimsthalern. Diese im Herzogtum ungebräuchliche Münze hatte ihren Namen vom Prägeort Joachimsthal in Böhmen. Daraus nun auf die Herkunft zu schließen oder gar eine Glaubensrichtung ableiten zu wollen, wäre zu gewagt. Einen Hinweis hätte die genauere Zuordnung des deutschen Entwurfs unter »Kirchliches, Gelehrte, Universität Königsberg« geben können. In der Matrikel49 der Universität Königsberg war aber nichts zu finden, auch nicht bei den Famuli. Ebenso wenig taucht der Name in den Personenregistern der gedruckten Regestenwerke und in den Ausgabenlisten des Hofes für Bedienstete oder Feste auf. Doch das behauptete Darlehen gibt Hinweise auf das gesellschaftliche Umfeld. Der Schuldner Joachim Mörlin50 war in Wittenberg geboren und Schüler Luthers, Melanchthons und Bugenhagens, und die Zeugen waren Georg Sabinus, Schwiegersohn Philipp Melanchthons und Gründungsrektor der Universität Königsberg, sowie ein Magister aus Schippenbeil. Also bewegte sich Pusillus in den besseren Kreisen Königsbergs. Dazu passt das beiliegende weitere Konzept des Briefes eines Unbekannten an den herzoglichen Leibarzt Dr. Basilius Axt. Die Hand des lateinischen Nachsatzes dieses Schreibens könnte die von Pusillus sein und der vorangehende Brief wohl auch, da dieselben Schreiber in lateinischen Texten ein anderes Schriftbild zeigen als in deutschen. Der Verfasser erhebt den Vorwurf, mit Prügeln aus dessen Haus geworfen worden zu sein und bittet, einen geistlichen Arzt zum Herzog mitzunehmen, der dessen Tochter fragen sollte, ob ihr Gabriel – zweifellos der Erzengel – eine Botschaft von einem sieben Schuh langen Pflaster gebracht habe, denn daran mangele es ihr. Da diese Angabe normale Pflastergrößen übersteigt, könnte hier ein vermeintlich langer Kerl (oder ein entsprechendes Körperteil) gemeint sein, der der Prinzessin zur Besserung ihres Zustandes fehle. In dem Brief an Wilhelm verwendet Pusillus dasselbe Bild, wenn er schreibt, der Erzbischof möge ein geistlicher Arzt sein, der eine/n schwer erkrankte/n Verwandte/n heilen solle Das ist dahingehend interpretierbar, dass der Metropolit seinen Bruder, Herzog Albrecht, von dessen Osiandrismus kurieren möge. Das Wort agnatam spricht eher für die Prinzessin als Verwandte. Deren Onkel allerdings das genannte Heilverfahren zu empfehlen, wäre schon ziemlich heikel. Die letzte Briefbeilage an diesen enthält fünf Seiten undatierter Abschrif48 Vgl. Anm. 26. 49 Vgl. Erler, Matrikel. 50 Vgl. Mager, Mörlin.

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ten von lateinischen Pamphleten und Epigrammen gegen die Osiandristen.51 Die Königsberger52 Lehrstreitigkeiten zwischen Lutheranern und Osiandristen sind hier deshalb kurz anzusprechen: Osianders53 heftigster Feind Mörlin hatte gerade als Pfarrer am Dom von Königsberg ein Mandat Herzog Albrechts in Religionssachen an Fastnacht 1553, also am Dienstag, den 14. Februar, von der Kanzel herab als Teufelswerk bezeichnet. Das hatte die sofortige Landesverweisung zur Folge, so dass Mörlin am 19. Februar 1553 das Herzogtum verlassen musste. Damit war Pusillus’ Schuldner verschwunden und er wandte sich hilfsweise an den Erzbischof. Wie Pusillus darauf kam, sich an den Rigaer Kirchenfürsten zu wenden, wird klar, wenn man weiß, dass Wilhelm die Fastnachtszeit 1553 nicht in Livland, sondern in Königsberg verbrachte. Andreas Osiander nun, Weggefährte von Hans Sachs in Nürnberg bei der Einführung der Reformation, hatte dort 1523 den Hochmeister des Deutschen Ordens, Markgraf Albrecht54 von Brandenburg-Ansbach, nominell auch Burggraf von Nürnberg, zur evangelischen Konfession bekehrt, wobei Nürnberg für den Herrscher in Königsberg ein wichtiges Personalreservoir für geistliche und weltliche Ämter bildete. Der Herzog war dem Nürnberger dafür sehr zum Dank verbunden, auch als Osiander vom Luthertum abweichende Lehren entwickelte. Osiander – dies ist in unserem Kontext besonders wichtig – war ein ausgesprochener Gegner aller Fastnachtsspiele. Das gipfelte 1539 darin, dass Osianders Haus in Nürnberg nach einem Schembartlauf mit Feuerrohren beschossen wurde und die Narren versuchten, die Türen aufzubrechen, was das sofortige Verbot des (fastnächtlichen) Schembartslaufs55 zur Folge hatte. Derselbe Albrecht, nunmehr seit 1525 Herzog in Preußen, holte Osiander 1549 nach Königsberg, wo dieser am 17. Oktober 1552 angefeindet starb, ohne dass ein Sinneswandel hinsichtlich der Fastnachtsspiele bekannt wäre. Vier Monate später hoffte Pusillus offenbar, nun könne der Herzog vom Osiandrismus geheilt werden. Zudem war jetzt die erste Fastnacht nach Osianders Tod und es bestand vielleicht Hoffnung, Narrenpossen aufführen zu können. Die Einstellung Herzog Albrechts zu diesem Thema ist unbekannt, kann aber durchaus von der Osianders abgewichen sein. Diesen nahm er zwar überall in Schutz, aber der Landesherr war ein sehr eigenständiger Denker. Zu klären ist noch, ob der Briefschreiber auch der Autor des Fastnachtsspiels sein könnte. Die Handschriften jedenfalls unterscheiden sich und Pusillus selbst erklärt, nicht er, sondern ein gottesfürchtiger junger Geselle habe das Liedlein verfasst und ihm heute übergeben. In der Ausfertigung heißt es zudem, es handele sich um eine ins Deutsche übersetzte Cantilena über die Vernachlässigung 51 Zu Andreas Osiander grundlegend: Osiander, Reformation. 52 Zur Universitätsgeschichte vgl. Jähnig, Universität. 53 Vgl. Seebaß, Osiander. 54 Vgl. Hubatsch, Albrecht. 55 Vgl. Küster, Schembartlauf.

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und Verachtung des heiligen Ehestandes. Da Sankt Peters und Matthias Gesellen und Brüder, die das Stück als Autoren anführt, in der Realität institutionell (als Spielbruderschaft etwa) nicht auffindbar waren, sollen sie hier als lustige Gesellen gedeutet werden. Den Ausgangspunkt bilden die Apostelfeiertage Petri Stuhlfeier, 22. Februar, und der Matthiastag, 24. Februar. Das Briefdatum des 23. Februar in der Mitte fügt sich hier gut ein. Zu einer Aufführung in diesem Zeitraum würde auch das Kleinformat von 8,5 mal 11 cm passen, das sich bei einem Vortrag als Gedankenstütze unauffällig halten lässt. Mit etwas Glück liegt uns hier also ein tatsächlich benutztes Original vor. Jemand muss sich die Mühe gemacht haben, die zwei Doppelblätter zuzuschneiden, zu falten, mit einem Faden zu heften. Für die Abschrift hätte statt der sieben beschriebenen Seiten ein normales Folioblatt gereicht. Vielleicht gab es einst sogar so viele Exemplare wie Vortragende. Der erste Teil handelt von einer Person, der ein Ehegatte entgangen ist und die darunter leidet. Zwar wird dies auch hier, wie in den zuvor genannten Schreiben als Krankheit beschrieben, aber insoweit wäre das Ganze noch ein unverfängliches Vergnügen. Betrachtet man aber die hervorgehobenen Anfangsbuchstaben jeder Strophe zusammen, so ergeben diese den Namen Anna Sophia. Das war der Name der ältesten Tochter Herzog Albrechts, die mit knapp 26 Jahren schon längst im heiratsfähigen Alter und eine sehr gute Partie war. Wenn nun der Erzbischof zur Fastnacht 1553 in Königsberg weilte, kann von Festlichkeiten ausgegangen werden, zu denen sich auch mögliche Heiratskandidaten eingefunden hatten, ohne jedoch Gnade vor den Augen Herzog Albrechts gefunden zu haben. Zwei Jahre später, also 1555, heiratete Anna Sophie dann Herzog Johann Albrecht I. von Mecklenburg.56 Sicher setzte der Verfasser des »Königsberger Fastnachtspiels« darauf, dass diese Anspielung auf die Herzogstochter nicht auffallen würde. Der Aktenbefund beweist jedoch das Gegenteil, denn sowohl das Fastnachtsspiel als auch der Entwurf an Dr. Axt enthalten Unterstreichungen mit einem N[ota] am Seitenrand, das für herzogliche Bedienstete typisch ist. Schließlich kann noch der Versovermerk des Briefes an den Leibarzt als Sichtvermerk des Herzogs gedeutet werden. War man aber an die Entwürfe gekommen, hätte man auch den Täter selbst fassen können. Und bei Spottgedichten auf seine Tochter verstand Albrecht mit Sicherheit keinen Spaß. Leider wissen wir nicht, wie die Sache ausgegangen ist. Für uns ist wiederum erfreulich, dass der verärgerte Herzog die Narrenpossen nicht dem Kamin, sondern der Registratur überantwortet hat. Vielleicht war zudem das Auffliegen des gut getarnten Fastnachtsscherzes der Grund, aus dem der Absender des Briefes an Dr. Axt, also wohl Pusillus, im hohen Bogen aus dessen Haus geflogen war.

56 Vgl. Thierfelder, Johann Albrecht.

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Den zweiten Teil des Spieles übernehmen verschiedene Sprecher, die sich auch nicht aufeinander oder auf die Zuschauer beziehen, sondern eine Reihe von Monologen bieten, wie sie etwa für spätmittelalterliche Nürnberger Reihenspiele charakteristisch sind. Diesen eignet etwa auch der topische, freilich vielfach real eingeforderte Lobpreis auf Speis und Trank.57 Von daher sind aber auch Folgerungen bezüglich der Gattungszugehörigkeit sinnvoll: Entgegen der geläufigen Ansicht, das Fastnachtspiel stoße als Gattung in manchen protestantischen Kreisen auf Vorbehalte – Hans Sachs ist ja das bekannte Gegenbeispiel zu Andreas Osiander in Nürnberg – eignet dem vorliegenden Text sogar eher der Charakter eines Nürnberger Fastnachtspiels des 15. Jahrhunderts (also im noch altgläubigen Kontext), nicht zuletzt mit den Schlussversen der Schreiberrolle. Auch die Spielgesellen mit den (altgläubig anmutenden) Heiligennamen ihrer Gesellschaft passten eher ins 15. Jahrhundert. Ebenso knüpft die offenkundig eher akademische Spielträgerschaft beim »Königsberger Fastnachtspiel« an schon spätmittelalterliche akademische Theaterleidenschaft an.58 Das dezidierte, ja kirchenpolitisch zelebrierte Feiern der Fastnacht im liturgischen Kirchenjahr war im 16. Jahrhundert und später dagegen – wie Dietz-Rüdiger Moser59 und seine Schüler gezeigt haben – eher ein Spezifikum der Jesuiten, welche vor allem in den katholisch gebliebenen oder rekatholisierten oberdeutschen Gebieten diesbezüglich wirkten. Oberdeutsch, wenn nicht gar Nürnbergisch, ist auf jeden Fall auch weitestgehend die Schreibsprache des »Königsberger Fastnachtspiels« in einem doch ganz anders (nämlich niederdeutsch) sprechenden Königsberg, vielleicht hier im Spiel ein Reflex der Lutherischen Kirchensprache, denn bekanntlich mussten sogar niederdeutsch sprechende Lutheraner das Idiom der Lutherbibel erst mühsam erlernen. Jedenfalls zeigt in der Summe das »Königsberger Fastnachtspiel« weitestgehend hochdeutschen Charakter der Schreibsprache (nur niederdeutsches Jungkirgen im ansonsten eher oberdeutschen Spieltext). Nachdem nun das neuentdeckte »Königsberger Fastnachtspiel« einigermaßen in eine Nürnberger Fastnachtspieltradition gestellt werden konnte, was nicht zuletzt mit der Reformation nürnbergischer Observanz in Königsberg (eben durch den wirkmächtigen Theologen und Reformator Andreas Osiander) hinreichend historisch erklärt werden konnte, gilt es nun, das »Königsberger Fastnachtspiel« als – wie uns scheint – aufschlussreichen Quellentext für die hier interessierende Fragestellung nach den »Ambivalenzen des geistlichen Spiels« abzuklopfen. Dabei sollen die Deutungskategorien Rainer Warnings60 auf den neuentdeckten Text angewandt und auf ihre Stichhaltigkeit hin geprüft werden, zumal Warnings 57 Vgl. etwa die Epiloge in diversen Nürnberger Fastnachtspielen bei Wuttke, Fastnachtspiele. 58 Vgl. Wolf, Universitätsangehörige. 59 Vgl. Moser, Fastnacht. 60 Grundlegend Warning, Funktion und Struktur.

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Monographie etwa noch jüngst Jan-Dirk Müller wertvolle Argumente für die Deutung von Amalars Messallegorese lieferte.61 Der zunächst naheliegende gattungsbezogene Einwand gegen die Beiziehung von Warnings Ansatz, der sich ja ausschließlich auf geistliches Spiel zu fokussieren scheint, für die Deutung des »Königsberger Fastnachtspiels«, muss ernst genommen werden. Denn ein Fastnachtspiel, gar Narrenpossen – wobei eine Narrenfigur jedoch auch im reformatorischen Kaufbeurer Passionsspiel62 auftaucht – haben auf den ersten Blick nichts mit geistlichem Spiel zu tun. Dies lässt sich mit Warning selbst unschwer widerlegen, denn er weist – wie auch jüngst Verena Linseis63 – mehrfach auf die Schnittmengen von Fastnachtspiel und Osterspiel hin, wobei Warning insbesondere im Typus des fastnächtlichen Arztspiels deutliche Bezüge zu den Mercatorszenen des Osterspiels herausarbeitet. So eigne dem Fastnachtspiel durchaus kultischer und heidnischer Charakter, genauer kämen kultische »Supplikate« von Fastnachtbräuchen im Fastnachtspiel erst zur spielerischen Entfaltung. Dabei hebt Warning auch die Rolle von Essen und Trinken im Fastnachtspiel besonders hervor.64 Während demnach dem Arztspiel die Darstellung sexueller Triebe inhärent ist, gibt es, so Warning, in der Gattung Fastnachtspiel auch die typische Fressgier und Zechfreude, wobei die szenische Präsentation aller drei vitalen Antriebe ebenso unserem »Königsberger Fastnachtspiel« durchaus deutlich eignet. Von daher bietet Warnings Ansatz grundsätzlich auch Deutungskategorien für die Gattung Fastnachtspiel allgemein und des »Königsberger Fastnachtspiels« im Besonderen – Warning selbst hatte wohl vor allem die mittelalterlichen Vertreter der Fastnachtsspiele im Auge –, wobei jedoch unser erstmalig ediertes Beispiel, das freilich (wie gezeigt wurde) viel der Nürnberger Fastnachttradition des 15. Jahrhunderts verdankt, durchaus zu weiteren Überlegungen Warnings als Quellen- und Untersuchungstext gut passt. Denn Warning hebt an anderer Stelle das »Krämerspiel als Agon von jung und alt, von Rubin und dem alten man der Krämersfrau (»Innsbrucker Osterspiel«, »Erlauer Osterspiel«)«65 als Belege seines Ansatzes hervor (und die Krämer- oder Mercator-Szenen sind für Warning ja eng mit der Fastnachtstradition verbunden). Genau diesen Gegensatz von »jung und alt« als dramatische Problematik in sexualibus thematisiert tatsächlich das »Königsberger Fastnachtspiel« mehrfach, wenn es etwa die Befürchtung der gesellen hervorhebt, ohne Braut am Ende dazustehen, als kauziger Hagestolz alt zu werden; umgekehrt zielt das »Königsberger Fastnachtspiel« (ziemlich kühn) ja auf die sich tatsächlich schon (für damalige Verhältnisse) im vorgerückten heiratsfä61 Vgl. Müller, Messallegorese. 62 Vgl. Metzler, Passionsspiel, S. 54. 63 Vgl. Linseis, Heilige, S. 205f. 64 Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 9, 79, 85, 106f., 121f. 65 Warning, Körper, S. 347.

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higen Alter befindende Tochter des Herrschers und Landesherrn in Königsberg. Das Spiel der Königsberger Fastnachtsnarren beschwört somit letztlich auf der wohl einfachen Bühne eines traditionellen Nürnberger Reihenspiels eine Erweckung der erstarrten sexuellen Triebe, worin man als »mythisch-rituelles Moment« nichts weniger als eine (freilich erst im Frühjahr endgültig realisierte, eben mit ostarun) erhoffte »Wiederkehr des (paganen) Frühlingsgottes«66 sehen kann. Insofern wäre das »Königsberger Fastnachtspiel« als später, reformationszeitlicher und damit letztlich frühneuzeitlicher Beleg der »Remythisierungsthese«67 auf den ersten Blick durchaus brauchbar Andererseits steht und fällt die »Remythisierungsthese« mit dem Grad oder Anteil des Heidnischen versus Christlichen in den jeweiligen Spieltexten. So wäre eben grundsätzlich – und man hat dies gleich nach Erscheinen von Warnings Buch auch getan – zu fragen, ob nicht vieles von dem, was bei Warning unter »pagan« firmiert, besser mit christlicher Tradition aufgefangen werden kann.68 Denn namentlich das von Warning besonders betonte Sündenbockritual der Passionsspiele ist ja bis ins Detail in spätmittelalterlichen Passionstraktaten quellenmäßig vorgeprägt.69 Zumindest für die deutschen Passionsspieltexte, etwa die Frankfurter Passionsspieltradition, sind pagane Reste als Erklärungsmodell der Passionsszenen durchaus verzichtbar.70 Zu den französischen Passionsspielen, die Rainer Warning ausgiebig beizieht, wäre zumindest bei den Spielen mit universitärer Provenienz darauf hinzuweisen, dass man an der Sorbonne, dem Zentrum der Frömmigkeitstheologie Gersonscher Prägung, auf Orthodoxie achtete und kaum pagane Riten restituieren wollte.71 Was die Fastnachtspiele anbelangt, so hat Dietz-Rüdiger Moser die germanentümelnden Ansätze zugunsten gut christlicher, letztlich augustinischer Traditionen abwehren können, was zudem den Vorteil hat, auf schriftliche Quellen statt auf ominöse, quellenphilologisch nur schwer nachweisbare, vorzeitliche Brauchtumstraditionen zu rekurrieren.72 Von daher ist Jörn Bockmann zuzustimmen, wonach »jene Konzeption einer grundsätzlichen Ambivalenz von Kerygma/Dogma vs. Mythos kritisierbar« ist, wobei »sich die betrachteten Oppositionen« sogar auflösen, denn das »Dogma ist als Normhorizont, die Mythisierung als Darstellungsmodus des Erzählten zu sehen«. Dann aber bleibe der »Ambivalenzbegriff« entweder als »historisches Gattungskriterium« oder als »literaturwissenschaftliche Metakategorie«, wobei

66 Bockmann, Dogma, S. 142. 67 Vgl. ebd., S. 139. 68 Vgl. Haug, Wiederkehr. 69 Vgl. Wolf, Rezension. 70 Vgl. Wolf, Kommentar, S. 777–784. 71 Vgl. Wolf, Universitätsangehörige. 72 Vgl. Moser, Fastnacht.

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»konzeptionelle Diskussionen des Ambivalenzenkonzepts sich in Textanalysen erproben müssen«73. Diese Textanalyse ergibt aber beim »Königsberger Fastnachtspiel« eine reformationszeitliche Gattungsambivalenz als (nur noch) literaturwissenschaftliche Metakategorie, weil man die traditionelle Einbindung des ursprünglich spätmittelalterlichen Fastnachtspiels in das Kirchenjahr mit der »Fastnacht als Bestandteil des christlichen Kalenders und daher bestimmt durch die Zeitvorstellung des Kirchenjahrs als Vollzug des Heilswerks Christi«74 nicht unbesehen auf ein protestantisches Fastnachtspiel anwenden kann. Einerseits wird im Protestantismus ja die Bedeutung des Fastens als Werkgerechtigkeit zurückgedrängt und damit auch die vorangehende Faschings- oder Karnevalszeit ihrer höheren Bedeutung im Kirchenjahr beraubt, andererseits aber bedient sich das »Königsberger Fastnachtspiel« gerade dieser Einordnung im Kirchenjahr als quasi gottgefälliger Datierung, wodurch man hier von einer altgläubig-neugläubigen Ambivalenz zu sprechen versucht ist. Und um die Dichotomien weiterzudenken: Einerseits lebt hier im »Königsberger Fastnachtspiel« die auch von Hans Sachs, dem Anhänger Luthers und Osianders, gepflegte Tradition des Fastnachtspiels weiter, noch dazu in einer vom Idiom des Hans Sachs nicht weit entfernten Schreibsprache, andererseits gehörten Fastnacht und Karneval gerade zu den von Osiander – selbst prominentes Opfer (wie oben gezeigt) des fastnächtlichen Schembartlaufs – und Luther inkriminierten Bräuchen der alten Kirche, denn die Prinzipien des Karnevals widersprachen der Theologie und Ethik Luthers grundsätzlich, wofür sich mehrere Gründe anführen lassen: Zum einen nahm Luther das Heilige zu ernst, als dass es Gegenstand des Gelächters werden durfte. Zum anderen verloren religiöse Vorschriften durch die reformatorische Lehre sola gratia ihre Verbindlichkeit, weshalb sie nicht mehr zeitweilig außer Kraft gesetzt werden mussten.75

Ohne die theologische Verankerung im Kirchenjahr aber verlieren Karneval und Fastnacht samt den zugehörigen Fastnachtspielen ihre letztlich religiöse Tiefendimension, sie bleiben auf einer eher oberflächlichen Ebene der mehr profanen Unterhaltung; die religiös-profane Ambivalenz ist also zugunsten des Profanen verschoben; das Komische ist nicht subversiv im Sinne eines gegenchristlichen Mythos. Die gleichwohl innewohnenden Ambivalenzen der karnevalesken Texte, konkret der Fastnachtspiele, sind dann nur noch als literaturwissenschaftliche Metakategorie anzusprechen, wobei letztere aber äußerst fruchtbar für die interpretatorische Profilierung des »Königsberger Fastnachtspiel« wäre, wie im Folgenden deutlicher zu zeigen ist. Denn fragt man nach dem literaturgeschichtlichen Grund dieser Gattungsambivalenz beim »Königberger Fastnachtspiel« als 73 Bockmann, Dogma, S. 157–158. 74 Vgl. Ortmann/Ragotzky, Fastnacht, S. 209. 75 Toepfer, Herodes, S. 436.

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Hybrid zwischen dem in seiner Machart spätmittelalterlichen und damit letztlich altgläubigen Nürnberger Fastnachtspiel und dem (von der Entstehungszeit in Königsberg her) Fastnachtspiel der Reformationszeit,76 die ja eigentlich den religiösen Sinn der Fastnacht auflöste, so ist dieser Grund der Gattungsambivalenz nicht zuletzt im schon länger (zumindest kirchengeschichtlich) beobachteten Kontinuum von Spätmittelalter und Reformationszeit begründet. Das Konzept der Frömmigkeitstheologie nach Berndt Hamm zeigt das Aus- und Weiterlaufen spätmittelalterlicher Theologie bei Luther und anderen Reformatoren.77 Auf die Spielwirklichkeit übertragen ließe sich dementsprechend die Beliebtheit des Susannastoffs auf der Bühne vor und nach der Reformation anführen, welche von der europaweiten epochenübergreifenden Popularität von Susanna-Liedern flankiert wird. Die schöne Susanna ist in Lied und Spiel vom 15. bis 16. Jahrhundert ein durchgehendes Medienphänomen – nicht nur in Frankfurt am Main, sondern auch in West- und Mitteleuropa allgemein.78 Dieses epochenübergreifende, nicht nur stoffliche Kontinuum auf der Bühne im Sinne der mittelalterlich-reformationszeitlichen Gattungsambivalenz beim jeweiligen Spiel des 16. Jahrhunderts betrifft jedoch nicht nur das »Königsberger Fastnachtspiel«, sondern ist weitaus häufiger als bislang angenommen, wie etwa das »Kaufbeurer Passionsspiel« zeigt, das sowohl Verse des Zwinglianers Jakob Rueff wie auch des spätmittelalterlichen »Augsburger Passionsspiels« integriert.79 In diesem Sinne zeigen viele gemeinsame Verse des altgläubigen »Augsburger Passionsspiels« mit dem von einem Protestanten (Lutheraner) verfassten »Kaufbeurer Passionsspiel« interessante Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis in die Reformationszeit, ein Faktum, das in der Spielforschung bislang weitgehend ungedeutet blieb. Jedenfalls diente das altgläubige »Augsburger Passionsspiel«, bei dem auch die Klosterschule eine wichtige Rolle als Darstellerreservoir spielte, nicht nur für das Kaufbeurer, sondern sogar für das wesentlich jüngere »Oberammergauer Passionsspiel« zusammen mit dem Passionsspiel des Augsburger Protestanten und Meistersingers Sebastian Wild als Quelle. Und diese Ökumene auf dem Theater finden wir ebenfalls in der Reichsstadt Kaufbeuren sogar ganz spielpraktisch auf der Bühne, wo Katholiken wie Protestanten als Darsteller gemeinsam die Passion spielten, obwohl der Hauptverantwortliche, der Lehrer Michael Hecht alias Lucius, nicht nur auf die protestantische Augsburger AnnaSchule, wo der Humanist Sixt Birck seine lateinischen Schuldramen aufführte, gegangen war, sondern auch in Wittenberg, namentlich bei Melanchthon, studiert hatte. Daraus ergibt sich von der Spielträgerschaft her, dass Theater vor und nach 76 Vgl. den Überblick bei Michael, Drama, S. 39–44, 323–356. 77 Vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie. 78 Vgl. Wolf, Juden. – Zu den epochenübergreifenden Susanna-Liedern wird demnächst Megan Eagan (East Carolina University) eine Edition vorlegen. – Zu Frankfurt vgl. Toepfer, Bühne. 79 Vgl. Metzler, Passionsspiel, S. 8–32.

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der Reformation in vielen Städten (so außer in Augsburg und Kaufbeuren auch in Frankfurt am Main) wesentlich öffentliches Schulspiel war, wobei die Grundlagen dazu ebenfalls epochenübergreifend häufig an den Universitäten gelegt wurden.80 Und die Königsberger Universität bildete wenig überraschend dazu das fruchtbare Milieu des »Königsberger Fastnachtspiels«. Ebenfalls wird am Fall des konfessionell ambivalenten, letztlich eher protestantischen »Kaufbeurer Passionsspiels« deutlich, dass man trotz Luthers bekannten Vorbehalten gegen Passionsspiele keineswegs gegen geistliches Schultheater generell eingestellt war, vielmehr protestantischerseits im gesamten oberdeutschen Raum die Passion sogar ausgiebig agierte, wie etwa an den Passionsspielen des Nürnbergers und Lutheraners Hans Sachs, des Zürchers Jakob Rueff und des Augsburger deutschen Schulmeisters Sebastian Wild deutlich wird.81 Den Passionsstoff brachten im 16. Jahrhundert natürlich auch die Katholiken auf die Bühne. Eine weitere ökumenische, thematische Einheit brachte darüber hinaus die Türkenthematik zur Aufführung,82 nicht zuletzt beim Augsburger Sixt Birck,83 der sich darin kaum vom vorreformatorischen Reflexionsgrad auf der Bühne, etwa beim »Augsburger Georgsspiel«84 abhebt. Auf das »Königsberger Fastnachtspiel« übertragen bedeutet dies, dass die epochenübergreifende Fastnachtsfreude auch epochenübergreifend nach Darstellung auf der Bühne verlangte. Dem Fastnachtspiel des 16. Jahrhunderts und insbesondere dem »Königsberger Fastnachtspiel« eignete so epochenübergreifende Gattungsambivalenz zwischen mittelalterlichem Spiel im Kirchenjahr und reformationszeitlicher wegen des sola fide-Prinzips tendenziell profanisierter Unterhaltung. Auf den Punkt gebracht steht damit das »Königsberger Fastnachtspiel« in der Gattungsambivalenz zwischen den Extrempunkten spätmittelalterliches Fastnachtspiel und frühneuzeitlicher Komödie.

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80 Vgl. ausführlich Wolf, Universitätsangehörige. 81 Vgl. Wolf, Augsburg. 82 Vgl. Wolf, Kruzitürken. 83 Vgl. Pfeiffer, Birck. 84 Vgl. Wolf, Sammelhandschrift.

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Karolin Freund Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584) von Zacharias Zahn

Ambivalenzen gelten seit Rainer Warnings Studie ›Funktion und Struktur‹ (1974) als Gattungsmerkmal des geistlichen Spiels. Jan-Dirk Müller1 charakterisiert dies treffend, wenn er die Spannung zwischen Kult und Theater2, rituellen und mimetischen Elementen beschreibt. Das Geistliche Spiel […] schließt an echte Kulthandlungen an, beutet sie aus und mündet wieder in ihnen […]. Seine institutionellen Bedingungen sind denen neuzeitlichen Theaters diametral entgegengesetzt. Tatsächlich überschneiden sich durchgängig mimetische und rituelle Elemente; unterschiedliche Raum- und Zeitstrukturen überlagern einander; Kultsprache und Volkssprache erlauben unterschiedliche Formen der Partizipation; spielinternes und spielexternes Sprechen gehen ineinander über; fiktionale Elemente dringen ein.3

Entscheidend ist hierbei die »mimetische Vergegenwärtigung des vergangenen Passionsgeschehens«4. Weil die Vergegenwärtigung nicht mehr an den liturgischen Rahmen gebunden ist, entzieht sie sich der vollständigen Kontrolle und macht Ambivalenzen erst möglich.5 Das Verhältnis von rituellen und mimetischen Elementen verweist auch auf die Ambivalenz von Präsenz6 und Repräsentation. Während in der Messe Christus in der Transsubstantiation real präsent wird, repräsentiert und erinnert das geistliche Spiel vergangenes (Passions)Geschehen. Die liturgischen Handlungen der Messe sind indes nicht mimetisch, sondern verweisen stets auf die Eucharistie.7 Auch wenn das geistliche Spiel anders als die Liturgie eine Grenze zwischen Spielern und Zuschauern zieht, 1 Zur Auseinandersetzung mit Warning vgl. Müller, Mimesis und Ritual; zur kritischen Diskussion von Warnings und Ohlys Thesen vgl. Haug, Rainer Warning. 2 Vgl. Müller, Mimesis und Ritual, S. 542. 3 Müller, Präsenz des Heils, S. 283. 4 Müller, Mimesis und Ritual, S. 570. 5 Vgl. ebd. 6 Zur Problematisierung des Präsenz-Begriffs vgl. Kiening, Präsenz – Memoria – Performativität. 7 Vgl. Müller, Realpräsenz, S. 116–118. Petersen, Ritual und Theater, S. 180 sieht im Osterspiel die Umsetzung eines »kollektive[n] Verlangen[s] nach der Präsenz Christi in Handlung«.

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wird die »Verbindung zum liturgischen Anlaß […] nie ganz gekappt.«8 Vielmehr wird sie beispielsweise im gemeinschaftlichen Gebet oder Gesang »rückgängig gemacht«9. Für das Drama der Reformationszeit stellt Müller in Abgrenzung zum geistlichen Spiel fest, dass es zwar weiterhin um die »Darstellung biblischer Geschichte« gehe, Exzesse aber »radikal beschnitten«10 würden. Das Spiel werde »auf seinen frommen Kern zurückgeführt und die komischen Szenen überwiegend aus dem Spielzusammenhang verdrängt.«11 Neben der veränderten didaktischen Intention seien es die fehlenden Ambivalenzen, die das geistliche Spiel vom Reformationsdrama unterscheiden.12 Auch im Märtyrerdrama »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584) von Zacharias Zahn sind Ambivalenzen nur noch bruchstückhaft zu finden. Im Zentrum der folgenden Analyse steht der erste Akt des »Stephanus«, den Zahn der eigentlichen Geschichte um den Diakon vorangestellt hat. Der erste Akt bildet zusammen mit der letzten Szene die rahmende Handlung im Himmel. Gott und Christus führen einen Dialog über die Sünden der Menschheit. Christus möchte die Sünden der Menschen auf sich nehmen und sie erlösen. An diesem ersten Akt und den aktbeschließenden Liedern möchte ich darlegen, wie der Dialog zwischen Gottvater und seinem Sohn humanistische Tradition und reformatorische Glaubenslehre vereint. Daraus ergeben sich die gattungsspezifischen Fragen, ob der »Stephanus« überhaupt zum geistlichen Spiel zu zählen ist und weiterführend ob Müllers Behauptung einer grundlegenden Differenz zwischen Reformationsdrama und geistlichem Spiel zutreffend ist. Bevor ich den ersten Akt und die aktbeschließenden Lieder auf diese Frage hin untersuchen werde, stelle ich im ersten Schritt den Dichter vor, beleuchte seine 8 Müller, Realpräsenz, S. 131. 9 Ebd., S. 132. 10 Müller, Mittelalterliches Theater, S. 28. 11 Ebd. Ähnlich argumentiert auch Washof, Bibel auf der Bühne, S. 53: »Aber nicht nur ungewolltes Unvermögen in der Darstellung stand dem von vielen Protestanten geforderten Ernst im Umgang mit dem Allerheiligsten entgegen. In die geistlichen Schauspiele des Spätmittelalters waren aufgrund des Verlangens nach Vergnügen und Unterhaltung in zunehmenden Maß mit Absicht derb-komische Szenen eingefügt worden.« 12 So verweist Müller, Realpräsenz, S.  133, z.B. auf die »scharfe[n] Grenzen«, die während der Reformation gezogen wurden, während das »Spätmittelalter […] an einer Abgrenzung zwischen bloß imaginativer Vergegenwärtigung, Re-Präsentation im Spiel und Realpräsenz im liturgischen Akt nicht interessiert gewesen zu sein [scheint].« Auch Schulze, Formen der Repraesentatio, S. 349, grenzt ähnlich wie Müller das Reformationsdrama vom geistlichen Spiel ab: »Seinen didaktischen Intentionen dient auf andere Weise die neue Gattung des Reformationsdramas, das aber als eigenständiges Instrument der Glaubens- und Sittenlehre die Konzeption des geistlichen Spiels nicht fortsetzt. Nur einzelne reformatorische Dramendichter knüpfen an die mittelalterliche Tradition an, markieren jedoch zugleich ihre Differenz, vor allem in der Konzentration auf die biblische Grundlage.«

Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584)

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Zielsetzung in den Vorreden und im Prolog und gehe der Frage nach Aufführungshinweisen nach. Im zweiten Schritt möchte ich anhand des ersten Aktes den Einfluss von humanistischer Tradition und reformatorischer Wissensvermittlung auf die dramatische Präsentation der Erlösungsfrage darlegen. Es soll gezeigt werden, dass Zahn Ambivalenzen zwar zurückgenommen hat, diese jedoch weiterhin Bestandteil des Reformationsdramas bleiben. Der dritte Schritt leitet mit der möglichen Rückbindung an den Kult in den Liedern zum abschließenden Plädoyer, das Märtyrerdrama trotz der Zurücknahme von Ambivalenzen zum geistlichen Spiel zu zählen, über.

1. Aufführung und Schrift Der 1541 geborene Verfasser des Märtyrerdramas Zacharias Zahn hatte seinen Wirkungsraum stets in der Nähe seines Geburtsortes Northeim. Von der Hansestadt zog es ihn als Schulrektor zunächst nach Osterode und von 1567 an als Pastor nach Avendshausen. Während seiner Tätigkeit als Pastor dichtete er die ›Tragoedia‹ von der Steinigung des Stephanus und als zweites dramatisches Werk, die »Tragoedia Fratricidii«13, die die Geschichte von Kain und Abel behandelt.14 Zahn motiviert den Brudermord mithilfe der »allegorischen Figuren Serpens, Furia und Pluto, die mit den Erzengeln Raphael, Gabriel und Michael im Kampf stehen.«15 Im VD 16 sind insgesamt 22 weitere Werke aufgelistet. Darunter befinden sich u.a. Lieder und eine Hauslehre. Holstein gibt an, dass Zahn nach 1596 in Avendshausen gestorben ist, nach Metz wurde er 1614 in Avendshausen »wegen Unfleißes« als Pastor abgesetzt, von einer Angabe zum Todesdatum ist auch bei ihm keine Rede.16 Als Zahn seine ›Tragoedia‹ von der Steinigung des Stephanus 1584 fertigstellte, war er bereits der dritte protestantische Dichter, der die Geschichte des Protomärtyrers dramatisierte.17 Fünf Jahre später, 1589, ließ er sie in der Offizin Andreas Hantzsch in Mühlhausen drucken.

13 Der vollständige Titel lautet: »Tragoedia Fratricidij. Wie Cain vnd Abel opffer thaten / vnd darvber vnwillig worden / weil Abels opffer fr Gott agenemer gewesen / vnd von seinem eigenen Brder Caino zu Tode geschlagen worden.« Gedruckt hat es ebenfalls Andreas Hantzsch in Mühlhausen 1590. Der vollständige Titel des »Stephanus« lautet: »Tragoedia Lapidati Stephani. Wie der heilige Martirer S. Stephanus vmb der Warheit vnd Bekentnis reiner Lehre von den Jden zu Todte gesteiniget worden.« 14 Vgl. Holstein, Zahn. 15 Metz, Protestantisches Drama, S. 572. 16 Ebd. 17 In chronologischer Reihenfolge sind es Michael Sachs (1565), Sebastian Wild (1566), Zacharias Zahn (1589) und Melchior Neukirch (1592).

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Dem Spieltext gehen drei Vorreden voraus. Sie vermitteln eindrücklich das grundlegende »Spannungsverhältnis zwischen Aufführung und Schrift« und wie es sich in »Dramentext[en] der Reformationszeit zugunsten der Schriftlichkeit«18 verlagert hat. Die erste auf Latein verfasste Vorrede (fol. Ajv) ist an die Leser – Lectori – gerichtet. Zahn erklärt, dass er den »Stephanus« auf Deutsch verfasst hat, damit die Zuschauer alles Notwendige verstehen können. Ansprechen möchte Zahn als lesende Rezipienten die Doctores bzw. ministerii verbi, wie er sie später nennt. Ihnen soll das Stück Trost spenden, wenn sie Leid auf sich nehmen müssen. Zahn verfolgt somit eine klare Zielsetzung und einen ähnlichen Ansatz wie die Verfasser der protestantischen Märtyrerbücher. Sie binden die Funktion, Trost zu spenden, jedoch nicht nur an die Prediger, sondern an alle Menschen, die im Glauben verfolgt werden.19 In der zweiten Vorrede (fol. Aijr–Aijjv), die Zahn ebenfalls erst dem 1589 in Mühlhausen entstandenen Druck hinzugefügt hat, wendet er sich an die Widmungsträger, die Grafen Johann und Anton von Oldenburg und Delmenhorst. Er legt dar, dass Gott den ersten Eltern Christus geschenkt habe, um das Gesetz zu erfüllen und die Menschheit von den Sünden zu erlösen. Die Historia vom Hl. Stephanus habe er dramatisiert, damit die junge Welt zu besserem gehorsam des Heiligen Ministerij gebraucht mcht werden (fol. Aiijr). Die Hochachtung vor dem Predigeramt stellt er als das zentrale Anliegen heraus. Die dritte Vorrede (fol. Aiiijr–A5r), die 1584 entstanden ist, richtet sich an die Prediger selbst und die Liebhaber des Göttlichen Wortes. Jeder solle seinen Beichtvater ehren, seine Lehren annehmen und nicht für Geschwätz halten. Außerdem ermahnt Zahn seine frommen Adressaten, im Leiden genauso geduldig wie Stephanus zu sein.20 Zahns Einteilung der Vorreden zeugt von einer genauen Kenntnis der verschiedenen Rezipientengruppen und der unterschiedlichen Anforderungen an Aufführung und Druck. Die in diesem differenzierten Umgang hervorgehobene Ambivalenz zwischen Aufführung und Schrift ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal des geistlichen Spiels, sondern gilt für nahezu alle dramatischen Texte nach der Erfindung des Buchdrucks.21

18 Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S.  142. Eine knappe Forschungsdiskussion zu den Gattungsbegriffen ›Schauspiel‹ und ›Lesedrama‹ gibt Herberichs, Lektüren des Performativen, S. 169f. 19 Vgl. Freund, Dramatisierung, S. 56–60. 20 Dem Spieltext ist eine lateinische Nachrede angefügt. Sie ist einem Pastor aus Markoldendorf, mit Namen D. Stephan Siburg zugeeignet. Zahn versucht darin, mögliche Vorbehalte des Pastors gegenüber einem deutschsprachigen Text zu beseitigen. 21 Vgl. Dietl, Frühes deutsche Drama, S. 118, die besonders protestantische Stücke hervorhebt; diese wurden in der Regel ein Jahr nach der Aufführung gedruckt.

Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584)

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Das Spannungsverhältnis von Aufführung und Schrift wird in den Vorreden hinsichtlich der Intention des Stückes indes aufgehoben. Hier unterscheiden sich die Vorreden zum Druck (1589) und zum Spiel (1584) nur marginal. Allen gemein ist die Forderung, die Prediger in der Ausübung ihrer Tätigkeit zu unterstützen, sodass sich diese Lehre sowohl an Leser als auch an Zuschauer richtet und nicht an eine bestimmte Form der theatralischen Umsetzung gebunden ist. Hier zeigt sich, dass das Märtyrerdrama stärker als das geistliche Spiel den Lehrgehalt akzentuiert. Geistliche Spiele des Mittelalters dagegen sind durch ihre Nähe zum liturgischen Rahmen weitaus mehr an die Aufführungssituation gebunden, auch wenn sie in Lesehandschriften überliefert sind.22 Wie bereits in der ersten Vorrede an die Leser angeklungen ist, wurde der Stoff für eine Aufführung dramatisiert, denn dort unterscheidet Zahn zwischen Lector und Auditor; für letztere habe er bewusst in deutscher Sprache gedichtet. Die Konzeption für eine Aufführung tritt auch in einer Passage zutage, in der Zahn nicht unbedingt an die Textsicherheit seines Stephanus-Schauspielers geglaubt zu haben scheint. Vor dessen sieben Folioseiten langer Predigt lässt er Stephanus selbst sagen, dass er seine Rede ablesen wird: Hrt doch nun diese meine wort / Die ich euch wil anmelden fort Wie ich gefast sie schriftlich hab / So wil ich sie euch lesen ab. (fol. Gvv)

Ein ähnliches Verhalten hat Zahn bereits für den Prologsprecher vorgesehen, wenn er auf dem Blatt neben der Sprecherangabe vermerkt: occasionem scripti recitans. (fol. A6r) In den rahmenden Teilen wird darüber hinaus erkennbar, dass das Drama für eine Bühne in einem Saal gedacht ist. Der Prologsprecher erklärt, warum die Geschichte von Sanct Stephanum […] hier auff diesen plan (fol. A6v) gebracht wird, und im Epilog werden die lieben Herren angesprochen, die hie sein auff diesem Saal (fol. Jviijv). All dies spricht für eine Konzeption für eine Aufführung. Ob das Stück eine solche erlebt hat, bleibt ungewiss. Zahn knüpft an bekannte Dichtungstraditionen an und formuliert den Anspruch, die Geistlich sache (fol. A6v) in antiker Dramenform zu dichten. In seiner Begründung beruft er sich auf die Alten, die nicht nur schöne, sondern auch nützliche Werke für Frauen und Männer gedichtet hätten: Wie das die Alten auch frbas, Viel schner Werck getichtet han / Dienlich fr Frawen vnd fr Man. 22 Herberichs, Lektüren des Performativen, S. 178–180, geht von einem ›comunitas‹-Konzept aus, bei dem sich die Teilhabe an einer Gemeinschaft auch während der Lektüre konstituieren kann.

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Gleich wie da sein die Tragici / Vnd auch die Comici dabey. Jhr Schrifft auff sitten han gericht / Wann sie bewiesen jhr getich. (fol. A6v)

Die Alten – so einige Verse weiter unten – waren, wie man ihren Büchern entnehmen könne, Heiden (fol. A7r). Dennoch hält Zahn den Rückgriff auf ihre Tragödien und Komödien für bedenkenlos, weil sie ihre Dramen um der guten Sitten willen gedichtet haben: Theten die guten Sitten fein / Exempels weise fren ein. Auff das ein Erbar jederman / Sein leben solt jm Zaume han. (fol. A7r)

Die Möglichkeit der moralischen Unterweisung mit Hilfe dramatischer Texte hatte auch Luther in den Mittelpunkt gestellt, als er die Dramatisierung allerdings alttestamentlicher Stoffe empfahl.23 Neben der exempelhaften Moral ist für Zahn das Anliegen, Trost zu spenden, ebenfalls wichtig. Die Bezeichnung ›Tragoedia‹ stellt prinzipiell kein Ausschlusskriterium für die Zuordnung zum geistlichen Spiel dar. Bergmann und Stricker zählen ›Tragoedia‹ und ›Comoedia‹ zu den Gattungsbezeichnungen der geistlichen Spiele und bemerken dazu lediglich, dass diese aufgrund ihrer »charakteristische[n] zeitliche[n] Stellung«24 in Handschriften von 1549 bis 1614 »gewiß in den Umkreis des Humanismus«25 gehörten. Auch Matthias Schulz listet alle geistlichen Spiele auf, die als ›Tragoedia‹ bezeichnet sind,26 lässt aber die Märtyrer- und Bibeldramen außen vor, weil er von den nachreformatorischen Spielen nur Passionsspiele einbezieht.27 Augenscheinlich bleibt, dass Zahn den Bezug zum antiken Drama herstellt und den exemplarischen Gehalt seines Stückes betont. Er möchte die aus der Heiligen Schrift entnommene Geistlich sache damit weniger an das geistliche Spiel des Mittelalters zurückbinden, als sie in die Tradition des antiken Dramas stellen. Es geht Zahn nicht um eine mimetische Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, sondern vor allem um die exemplarische Vermittlung der Lehre.28

23 Vgl. Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 138. 24 Bergmann/Stricker, Terminologie, S. 58. 25 Ebd., S. 59. 26 Vgl. Schulz, Eigenbezeichnungen, S. 272–278. 27 Vgl. ebd., S. 70. 28 Wie das geistliche Spiel seine Rezipienten belehren will und welche Strategien dafür verwendet werden, zeigt Ukena-Best, Strategien der Lenkung, am Beispiel des »Frankfurter Passionsspiels«.

Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584)

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2. Argumentation vs. Repräsentation Die dramaturgische Umsetzung des Anspruchs, wie die Alten zu dichten, zeigt sich vor allem auf der formalen Ebene: in der Aufteilung in fünf Akte, der szenischen Präsentation und möglicherweise den Liedern am Aktende. Im ersten Akt tritt die Verknüpfung aus reformatorischer Wissensvermittlung und humanistischer Tradition besonders prägnant hervor. In der ersten Szene verkündet der Prologsprecher, dass sich Deus Pater, Christus und Michael im Kniglichen Saal (fol. A7r) versammeln. Gottvater und Christus führen ein Vater-Sohn-Gespräch, das jener mit der Ankündigung beginnt, die Menschen für ihre Sünden strafen zu wollen. Christus interveniert und rät davon ab, begründet aber nicht warum. Gottvater möchte zwar sein Motiv erfahren, weist Jesus aber zunächst daraufhin, dass der Zeitpunkt seiner Menschwerdung nahe, die er Adam im Paradies versprochen habe. Er bittet Michael um Rat, der an den Fall der Menschheit erinnert: Die schlang hat das zu wegen bracht / (fol. Bjv). Das Gespräch zwischen Deus Pater, Christus und Michael endet, ohne dass in der Regieanweisung ihre Abtritte erwähnt werden. Die Szene beschließt Pluto, der wahrscheinlich simultan präsent ist und sich als Verkörperung des Teufels nicht im Himmel befindet.29 Er ist wütend über Michael, bestätigt aber, die Menschen mit einem Apfel verführt zu haben – ganz der heilsgeschichtlichen Deutung des Alten Testaments folgend, nach der die Schlange mit dem Teufel identifiziert wird. Mehr noch, Pluto will weiterhin versuchen, Unglück anzurichten und die Menschen zu verführen: Wil brauchen zeit / weil / vnd auch frist / Vnd vben nochmals alle list. Vorsuchen bey Frawen vnd Man / Wie ich vnglck mcht richten an | (fol. Bijr)

Die Einführung einer teuflischen Figur entspricht der ambivalenten Grundkonstellation, die Warning für die geistlichen Spiele des Mittelalters folgendermaßen beschreibt: »[D]ie wesentlich bildlose heilsgeschichtliche Opposition von Sünde und Gerechtigkeit, Ungehorsam und Gehorsam [ist] zu einer Opposition dualistisch strukturierter Bilder geworden.«30 Heilsgeschichte ereigne sich nun »auf dem Umweg über die Instanz des Teufels.«31 Die »theologische Problematik der dualistischen Bilder«32 interpretiert Warning vor dem Hintergrund des frühscholastischen Traktats »Cur Deus Homo« Anselms von Canterbury (1098). Auch die 29 Er spricht vom zürnenden Gott, der im Himmel ist: Ob gleich darumb im Himel hoch | Der Gott darumb thut zrnen noch. (fol. Bij) 30 Warning, Funktion und Struktur, S. 147. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 148.

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ersten drei Szenen der Stephanus-Tragödie, die eine Art Vorspiel zur eigentlichen Handlung bilden, können in diesem Kontext gelesen werden. Die Anknüpfung an das Traktat Anselms eröffnet die Möglichkeit zu zeigen, dass die Ambivalenzen im Reformationsdrama trotz der fehlenden liturgischen Einbindung nicht vollständig aufgelöst sind. Das Vorspiel verhandelt sowohl das ambivalente Verhältnis von Gott und Mensch als auch die stets ambivalente Rolle des Teufels. Ähnliche, von der Haupthandlung losgelöste Vorspiele gibt es auch im Passionsspiel. So planen im »Alsfelder Passionsspiel« die Teufel »das Verderben Christi und geben so eine Vorschau auf die Passion aus invertierter Perspektive.«33 Seltener ist hingegen der Auftritt Gottes in vorreformatorischen geistlichen Spielen. Ursula Schulze meint sogar, dass dies wohl bewusst vermieden wurde.34 Freilich bekam Gott in der Gestalt Jesu, des menschgewordenen Gottes, seinen Auftritt. Im 16. Jahrhundert finden sich Dialoge mit Gott häufiger, beispielsweise in den Tragedien und Comedien von Hans Sachs oder auch in »Christus patiens«, einem Salzburger Passionsspiel35 vom Ende des 16. Jahrhunderts und im Tiroler Spiel »Ain recht das Christus stirbt« (1529 überliefert, aber wohl eher entstanden).36 Die Besonderheit im »Stephanus« von Zahn ist die dialogische Präsentation zwischen Gott und Christus, die auch in der zweiten Szene weiter geführt wird. Gott erscheint als greifbare Figur in der Vaterrolle, der über die Sündhaftigkeit der Menschen mit seinem Sohn diskutiert. 2.1 Mantuanus’ »Parthenice prima« Sowohl der humanistisch anmutende Einstieg, wenn sich Zahn auf die Alten bezieht, als auch das Vorspiel im Himmel legen die Vermutung nahe, dass sich der deutsche Dramatiker an einem neulateinischen Dichter orientierte, der Humanismus und christliche Lebenswelt auf geradezu nachahmenswerte Weise

33 Koch, Inszenierung des Heiligen, S. 206. 34 Vgl. Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter, S. 123. Dietl, Repräsentation Gottes – Repräsentation des Kaisers, S. 238 und Anm. 7, benennt Auftritte Gottes in der Schöpfungsszene im »Egerer Fronleichnamsspiel«, im »Künzelsauer Fronleichnamsspiel«, im »Freiberger Passionsspiel«, im »Wolfenbütteler Sündenfall« und im »Chester Corpus Christi Cycle«. 35 Vgl. Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter, S.  122–126. Eine Edition bietet Klein, Eine salzburgische Passionsspielhandschrift, S. 49–140. 36 Vgl. Roloff, Geistliches Gerichtsspiel, S. 159. Speziell in den Märtyrerdramen bekommt Gott in Wolfgang Waldungs »Catharinæ Martyrivm« eine Rolle zugeschrieben und in Melchior Neukirchs »Stephanus« eine kurze Rede.

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verband: dem Carmelitermönch Johannes Baptista Mantuanus37 (1448–1516).38 Unter dessen zahlreichen Schriften finden sich »sieben hexametrische Parthenicae« – Lobgedichte – auf die heiligen Jungfrauen Maria, Katharina, Margareta, Agatha, Lucia, Apollonia und Caecilia.39 Im Lobgedicht auf Maria »Parthenice prima« gibt es im liber primus (521–593) ein ›Götterkonzil‹ der Trinität: Gottvater berichtet vom Engelssturz und der Lage auf Erden. Versöhnung ist nur durch ein göttliches Opfer möglich. Dazu müssen die Menschen erneut zu Gott bekehrt werden und dem Götzenkult entsagen. Gottvater bittet seinen Sohn, diese Aufgabe zu übernehmen und stellt Maria als zentrale Gestalt seines Heilsplans vor.40

Mit dem Bezug auf Mantuanus wäre Zahn nicht allein. Luther nennt Mantuanus als den ersten Poeten, den er noch vor Vergil und Ovid gelesen habe; mehrfach zitiert er ihn in seinen Werken. Seine »Dichtungen wurden intensiv ediert und gelesen, sie etablierten sich neben Vergil als Schullektüre.« Der Italiener wurde »von den meisten Zeitgenossen gefeiert und teilweise sogar über die lateinischen Klassiker erhoben.«41 Zahn wäre auch nicht der einzige Dichter eines Märtyrerdramas, der sich auf Mantuanus beruft: Schon Kilian Reuter stellte 1507 in seiner »Dorothea«, einer »Comedia gloriose parthenices et martiris Dorothee agoniam passionemque depingens«, mit einem »Einschub von 50 Hexametern«42 im vierten Akt die Referenz zu Mantuanus’ »Katharina« (»Parthenice secunda sive Catharinaria«) deutlich her, worin ihm Wolfgang Waldung mit seinem – allerdings erst nach dem »Stephanus« 1602 entstandenen – Drama »Catharinæ Martyrivm« folgte.43 Beide Texte sind anders als der »Stephanus« auf Latein gedichtet und stehen in deutlichem Kontext zur Universität bzw. der Hohen Schule in Altdorf. Beide Dichter haben die artes studiert und anschließend Jura bzw. Medizin. Waldungs Drama könnte womöglich sogar eine Bewerbungsschrift für eine Rhetorik-Professur gewesen sein.44 All dies trifft auf den Pastor aus Avendshausen nur bedingt zu. Zumindest äußert er sich explizit zum Gebrauch der deutschen Sprache, was

37 Johannes Baptista Mantuanus oder Giovanni Battista Mantovano – oft mit dem Zunamen Spagnoli – (1448–1516), befreundet mit Erasmus von Rotterdam und Pico della Mirandola, »war einer der Initiatoren des katholischen Humanismus in Italien« – Tilg, Die Hl. Katharina, S. 28. 38 Vgl. Schwarz, Martin Luther, S. 171f. 39 Tilg, Die Hl. Katharina, S. 28. 40 Wiener, Marienlob, S. 106. 41 Tilg, Die Hl. Katharina, S. 29. 42 Kipf, Poeta minores, S. 48 43 Vgl. Dietl, Nürnbergs ›zweite Stadtheilige‹, S. 48. 44 Vgl. Kipf, Poetae minores, S. 47, und Dietl, Nürnbergs ›zweite Stadtheilige‹, S. 72f.

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im Umkehrschluss bedeuten könnte, dass das Stück eigentlich auf Latein zu erwarten gewesen wäre. 2.2 Satisfaktionstheorie und Rechtfertigungslehre Diesen humanistischen Ansatz verbindet Zahn in seinem Vorspiel mit Anselms von Canterbury Satisfaktionstheorie und im Sinne der reformatorischen Wissensvermittlung mit der Rechtfertigungslehre. In der zweiten Szene nun erläutert Christus, welchen Rat er Gott geben möchte. Er will die Schuld aller Menschen auf sich nehmen, für sie sterben und mit seinem Blut erlösen. Christus geht nicht nur bereitwillig in den Tod, wie es schon bei Anselm heißt, sondern er bringt selbst den Vorschlag, sein Leben zu opfern.45 Ich wil mich geben in die sach / Auff mich nehmen jhr vngemach. Vnd tragen semptlich jhre Snd / Darin stecken die Menschen kind / Wenn ich war mensch auf deinem rath / Auff Erden bin geboren drat. (fol. Bijv)

Mit vier Versen fällt die Reaktion Gottes spärlich aus. Er hält den Vorschlag seines Sohnes für rechtens und erklärt, dass dieser mit seinen eigenen Plänen übereinstimme: Dasselb hab ich auf fr bedacht / Ehe du mir dis wort angebracht. (fol. Bijv–Biijr) In der dritten Szene kommen Gott allerdings Zweifel. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich erneut, dass im Reformationsdrama Ambivalenzen enthalten sind, die sich auf das Gott-Mensch-Verhältnis beziehen. Gott zweifelt kurzzeitig am Menschen und erwägt, seinen Heilsplan fallen zu lassen. Er fragt Christus, wie er damit umgehen solle, dass die Menschheit sein Gesetz für geschwetz (fol. Biijr) halte. Das Verhalten der Menschen sei Beweis genug, dass keiner von seinen Sünden lassen könne. Auch diese Schuld will Christus auf sich nehmen und die Menschen vom Fluch des Gesetzes befreien. Gott entschließt sich noch einige Jahre zu warten, bis Christus als Mensch geboren werden soll. Damit zeigt Zahn einen zögerlichen Gott, der vor der Konsequenz seines eigenen Heilsplans zurückschreckt und die Umsetzung einige Jahre aufschiebt. Gleichwohl beschließt der Erzengel Michael die Szene mit dem Verweis auf Gottes Gnade. Michaels Behauptung der göttlichen Gnade steht in einem klaren Spannungsverhältnis zu Gottes Zögerlichkeit. Zahn setzt die von Warning postulierten »dualistischen

45 Zu Anselms Satisfaktionslehre vgl. überblickshaft Gerlitz, Opfer, S. 278f.

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Bilder«46 hier nicht mit dem Teufel als Gegner in Szene, sondern mit dem Zweifel Gottes an seinen Geschöpfen. Wenn Müller in Bezug auf Warning meint, dass der »latente ›Dualismus‹, der sich in den geistlichen Spielen einnistet, […] diese Heilsgewissheit nicht grundsätzlich erschüttern«47 könne, ist seiner Auffassung in Bezug auf Zahns Vorspiel zu widersprechen. Bei Anselm von Canterbury heißt es, dass der Mensch nicht in der Schuld des Teufels, sondern Gottes stehe. Gottes Ehre wurde »mit dem Sündenfall verletzt, und diese Verletzung verlangt entweder Genugtuung oder Strafe (›satisfactio aut poena‹).«48 Im ersten Akt des »Stephanus« ist dieser Dualismus auf Gott, der die strafende, und Jesus, der die genugtuende Haltung einnimmt, verteilt. Freilich sind die Ausführungen der Satisfaktionslehre im Vergleich zu Anselms Traktat stark reduziert und lutherisch abgeändert. Dies erklärt wohl auch, warum Christus selbst den Rat gibt, mit seinem Tod die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen. Zahn setzt die komplexe Frage dramatisch um, warum nur Christus die Menschen von der Schuld des Sündenfalls befreien kann und keine Selbsterlösung möglich ist. Auch in diesem Punkt sind die Ausführungen Warnings für das Märtyrerdrama höchst aufschlussreich: Weil für die »harmonische Ausführung des göttlichen Schöpfungsplanes« einerseits die Menschen dazu bestimmt sind, die »Engelschöre wieder aufzufüllen und so an der Vollendung der civitas caelestis mitzuwirken«, kann Strafe keine Lösung sein. Warning argumentiert: Wenn aber die Menschen engelgleich nur durch volle Genugtuung werden können, so sind sie doch andererseits, da diese Genugtuung sich nach der Größe der unendlichen Schuld bemessen muß, außerstande, sie selbst zu leisten. Das kann allein Gott. Wenn aber der Mensch etwas geben muß, was allein Gott geben kann, so folgt, daß nur ein Gott-Mensch den Anforderungen dieser Genugtuung nachzukommen vermag. Indem er sich opfert, gibt er das Höchste, das der Mensch zu geben imstande ist, und indem er dieses Höchste, das der Mensch allein nur als debitum geben könnte, freiwillig und unschuldig gibt, erwächst aus seinem Leiden ein Verdienst, kraft dessen die gesamte sündige Menschheit erlöst werden kann.49

Zentrales Anliegen dieses Vorspiels ist im Sinne der Rechtfertigungslehre darzustellen, dass die »Initiative für die Rettung des Menschen allein von Gott ausgehen« muss und es somit keinen Weg gibt, »der von der menschlichen Seite beschritten werden kann, um zum Heil zu gelangen.«50 Zahn versucht in seinem Vorspiel nachvollziehbar zu machen, warum Jesus die Sünden der 46 Warning, Funktion und Struktur, S. 148. 47 Müller, Präsenz des Heils, S. 273. Müller räumt zwar ein, dass die widergöttliche Welt ausführlich zu Wort kommt, hält ihren Spielraum aber durch die Heilsgewissheit begrenzt. 48 Warning, Funktion und Struktur, S. 149. 49 Ebd., S. 149. 50 Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 155.

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Menschheit trotz ihres Starrsinns auf sich genommen hat. Im Unterschied zum geistlichen Spiel des Mittelalter vermittelt er die »rational schwer zu bewältigenden Widersprüche[]«51 hinsichtlich der Erlösungsproblematik ohne besondere affektive Aufladung. Obwohl das Vorspiel Heilsgeschichte in lebendigen Bildern darstellt, verfolgt es nicht das primäre Ziel »mentale und emotionale Wirkung zu erzeugen.«52 Relativ nüchtern tauschen Gottvater und sein Sohn Argumente aus. Die dramaturgische Umsetzung zielt darauf ab, das Gottvertrauen der Rezipienten zu stärken, nicht zur compassio anzuleiten.53 Der Dialog zwischen Gott und Christus ist Teil einer argumentativen Strategie, um die Sündenhaftigkeit der Menschheit und das Gnadenwirken Gottes einzuprägen. Die »kulturelle Distanz« zur »mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis« tritt in der unterschiedlichen Wirkintention deutlich zutage,54 wenngleich auch Zahn den Glauben seiner Rezipienten stärken möchte. Der im Vorwort getätigte Appell, Das man im Creutz gedultig sey (fol. A4v), findet hier seine dramatische Begründung. Deutlich zu unterscheiden ist das Vorspiel im Himmel von der eigentlichen Stephanus-Handlung. Hier wird die Verschiebung von Präsenz zu Repräsentation besonders augenscheinlich.55 Zwar zeichnet Zahn den Protomärtyrer als von Beginn an standhaft im Glauben und lässt ihn keinerlei Figurenentwicklung durchlaufen. Als nachahmenswertes Beispiel dient er indes dazu, die lutherischen Glaubenslehren anschaulich und unmissverständlich zu vermitteln. Während das Vorspiel im Himmel somit Teil der Argumentation ist, veranschaulicht die Stephanus-Handlung als Akt der Repräsentation die lutherischen Lehren. Das Gnadenwirken Gottes am Protomärtyrer zeigt, wie Gott den Gläubigen Trost spendet und ihnen beisteht. Zahn geht ganz im Sinne Luthers vor, der 1519 in »Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leiden Christi« fordert, dass der Mensch selbst zur Erkenntnis kommen soll, er habe »mit seiner Sünde das Leiden Christi verursacht.«56 Aus dieser Erkenntnis der eigenen Schuld soll jedoch Trost erwachsen. Deshalb stellt Zahn zunächst die Sündhaftigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Menschen in den Vordergrund, um dann Christus selbst die Entscheidung treffen zu lassen, für die Sünden der Menschheit zu sterben. Doch ist dieser mein bester rath / Den ich hie will anmelden drat. Bezalen wil ich alle schuldt / 51 Schulze, Geistliche Spiele, S. 124. 52 Ebd., S. 200. 53 Vgl. zur compassio Schulze, Formen der Repraesentatio, S. 340–345. 54 Müller, Realpräsenz, S. 132. 55 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 150 zur Verschiebung von Präsenz und Repräsentation im Hinblick auf die »Susanna« Rebhuns. 56 Schulze, Formen der Repraesentatio, S. 347.

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Vnd tragen der Menschen vnhuldt. Vnd jhre missethat / darein Sie durch den fall gerhaten sein. (fol. Bijr)

Die szenische Präsentation der Erlösungsfrage stellt bewusst kein Leiden Christi dar, weil die Erlösung – so Luther – »nicht durch Leistungen im Zusammenhang mit der Passionsbetrachtung zu erringen sind.«57 Dass die Erlösung nur durch Christi Leiden geschehen kann, dessen muss sich der einzelne im Glauben stets versichern.58 Zahns Dramatisierung ist charakteristisch für das reformatorische Spiel, insofern er »sein Publikum dazu anleiten will, die dargestellten Lehren Luthers rational zu erkennen und sich zu merken.«59 Die argumentative Dramaturgie im ersten Akt verbunden mit der Frage, wieso Christus für die Sünden der Menschen sterben musste, verhandeln mindestens zwei weitere Spiele des 16. Jahrhunderts. Die Forschung ordnet sie den geistlichen Spielen zu. Es handelt sich um »Christus patiens« und »Ain recht das Christus stirbt«. Auch im Salzburger Passionsspiel »Christus patiens« erinnert Gott im ersten Akt an die Sünden der Menschheit. Neben dem Erzengel Michael treten die allegorischen Figuren Omnipotentia und Innocentia auf. Hier ist es Michael und nicht Jesus selbst, der den Tod des Gottessohnes vorschlägt. In dem 1529 von Vigil Raber als Abschrift überlieferten »Ain recht das Christus stirbt« führt Maria vor einem Gericht Klage, um den Tod ihres Sohnes zu verhindern. In mehreren Instanzen bis zur höchsten, Gott selbst, wird ihr Ansinnen jedoch zurückgewiesen und Jesu Tod bestätigt.60 Es ist davon auszugehen, dass dieses Stück wesentlich früher als 1529 entstanden ist. Roloff bezeichnet es als »Gründonnerstagsspiel […], das zu einer religiösen Vertiefung der Passion führen [sollte], indem es das sentimentale Element menschlicher Emotionen zugunsten einer transparenten Demonstration des Heilsplans verdrängt.«61 Kontrapunktisch angeordnet ist der ›dolor‹-Effekt Marias. »Der Konflikt zwischen Gefühl und ratio bei Betrachtung des Leidens Christi soll durch dieses Theaterstück eindeutig zugunsten der ratio entschieden werden.«62 An diesen beiden Stücken wird ersichtlich, dass die rationale szenische Erörterung der Erlösungsfrage bereits vor dem »Stephanus«, sehr wahrscheinlich sogar als vorreformatorisches geistliches Spiel, und nahezu zeitgleich im »Christus patiens« vom Ende des 16. Jahrhunderts zu finden ist. 57 Vgl. ebd., S. 348. 58 Vgl. ebd. 59 Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 151. 60 Vgl. Schulze, Formen der Repraesentatio, S. 345 und Roloff, Geistliches Gerichtsspiel, S. 157– 168. 61 Roloff, Geistliches Gerichtsspiel, S. 166. 62 Ebd., S. 167.

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3. Der »Stephanus« als geistliches Spiel? Ob dem »Stephanus« überhaupt ein ambivalenter Charakter zwischen Kult und Theater eingeschrieben ist, lässt sich auch an den eingeschobenen lateinischen Liedern diskutieren. Würde man den mit Mantuanus und der formalen Struktur anzitierten humanistischen Faden weiter spinnen, könnte man auch die aktbeschließenden Lieder als »Aufnahme des antiken Chores«63 ansehen, wie dies beispielsweise Detlef Metz annimmt. Die lateinische Sprache, in der die Lieder abgefasst sind, wäre demnach weniger als Kultsprache, sondern als Ausweis humanistischer Tradition zu deuten. Am Ende des ersten Aktes nennt Zahn den Liedanfang audi tellus audi magnis maris mymbus (fol. Bviijv). Es bleibt unklar, ob ein Chor das Lied vorträgt oder das Publikum einstimmt und das Lied folglich als »gemeinschaftliche Kulthandlung«64 anzusehen ist; in der Druckfassung heißt es schlicht Inter hunc Actum canatur (fol. Bviijv). Der Liedanfang gehört zu einem Hymnus, der bis »ins 16. Jahrhundert hinein Teil der Totenliturgie« war. Er hat die »Vergänglichkeit irdischer Macht, Weisheit, Schönheit und irdischen Reichtums«65 zum Thema. Da Zahn nur den ersten Vers angibt, könnte es sich auch um eine abgewandelte Form des Hymnus als Motette aus dem Jahr 1566 handeln.66 Das zentrale Thema ist in beiden Varianten die Vergänglichkeit alles Weltlichen, nur werden in der Version von 1566 antike Dichter und Figuren wie Vergil, Aristoteles, Paris und Helena mit einbezogen. Ob der Gesang eine kommentierende Funktion einnehmen sollte, wie der Chor im neulateinischen Drama, bleibt offen.67 Wahrscheinlich sind die Gesänge wie jene in den Dramen Joachim Greffs einzuordnen; sie sind zwar unter humanistischem Einfluss entstanden, die funktionale Nähe zum Kirchenlied im Gottesdienst bleibt jedoch bestehen.68 Greff hat in seiner Aufführungsanleitung Empfehlungen zur musikalischen Gestaltung eines seiner Dramen gegeben. Diese decken sich mit dem Liedeinsatz in Zahns »Stephanus«, der zwischen den weiteren Akten u.a. einen Psalmengesang und eine Antiphon einfügt.69 Greff regt dazu an, lateinische oder deutsche Gesänge einzusetzen,

63 Metz, Protestantisches Drama, S. 573. Zu den einzelnen Gesängen Vgl. ebd., S. 573f., Anm. 1628. 64 Müller, Realpräsenz, S. 132. 65 Burger, Gottes strafender Gerechtigkeit, S. 94. 66 Von Orlando di Lasso. 67 In den beiden letzten Szenen des ersten Aktes, also vor dem Lied, tritt Gott mit den Erzengeln in Dialog. Er beauftragt sie auf Stephanus achtzugeben, den er erwecken will. Sie erinnern daran, dass sein Sohn die Menschen von den Sünden erlösen muss. Den Akt beschließen die Teufel Pluto, Charon und Cerberus, die an der Gnade Gotte verzweifeln. 68 Vgl. Möller, Joachim Greff, S. 206. Vgl. Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 160. 69 Vgl. Metz, Protestantisches Drama, S. 573, Anm. 1628.

Ambivalenzen im Märtyrerdrama. Die »Tragoedia Lapidati Stephani« (1584)

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Psalmen / Mutteten / Responsori / und Geistliche Lieder […] sintemal ja diese heilige kunst der Music / zu Gottes lob vnd preis furnemlich vnd am allermeisten / in vnsern lieben Gott / darmit zu ehren erfunden vnd offenbart ist. (Tv)70

Ein Bezug zum Kult wäre mit der Einbeziehung des Kirchenliedes dann also auch noch im »Stephanus« gegeben.71 Natürlich weit weniger als beispielsweise im Osterspiel, wenn die Gesangsfolge ein Gerüst formt, »das den Handlungskern des Spiels strukturiert und zugleich auf das paraliturgische Ritual der Osterfeier verweist«72, wie Christoph Petersen ausführlich untersucht hat. Aber auch in anderen geistlichen Spielen war es üblich, dass Gesänge in der Kultsprache Latein »aus anderen liturgischen Zusammenhängen«73 integriert wurden. Das Reformationsdrama unterscheidet sich somit hinsichtlich der Ambivalenzen nicht vollends vom geistlichen Spiel des Mittelalters. Es ist sogar möglich Kontinuitäten vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit festzustellen, wenn man bspw. das Gotteslob, die Vermittlung von Glaubenslehren und die moraldidaktische Intention als prägend für religiöse Spiele betrachtet. Im Falle des »Stephanus« – dies gilt aber auch für einen Großteil der Spiele, die unter die Kategorie Reformationsdrama bzw. Märtyrerdrama fallen – resultieren die Veränderungen aus humanistischen und reformatorischen Einflüssen. Schlüssig erscheint der Ansatz von Regina Toepfer, von vorreformatorischen und nachreformatorischen geistlichen Spielen zu sprechen.74 Die geistlichen Spiele der Reformationszeit behalten die zentrale religiöse Funktion, Gott zu ehren; der Hauptunterschied liegt im reformatorischen Grundanliegen, der katechetischen Intention und der konfessionellen Ausdifferenzierung der Glaubenslehre. Für die Frage nach den Ambivalenzen im geistlichen Spiel ist diese Ausgangslage, wie sie am »Vorspiel« zur Stephanus-Handlung dargelegt wurde, äußerst fruchtbar. Mit ihr stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Gattungsgrenze des geistlichen Spiels. Wenn ein Dichter seinen dramatischen Text als ›Tragoedia‹ bezeichnet, einen biblischen Stoff dramatisiert, diesen in eine humanistische Tradition stellt und zur reformatorischen Wissensvermittlung funktionalisiert, liegt die Frage nahe, ob es sich überhaupt um ein geistliches Spiel handelt. Im Sinne der Minimaldefinition, nach der es sich um eine »literarische Gattung des Mittelalters zur szenischen Darstellung biblischer und legendenhafter Stoffe in kirchlichem Bezugsrahmen«75 handelt, ließe sich eine Vereinbarung treffen, wenn die zeitliche 70 Zitiert nach Washof, Drama als Gottesdienst, S. 66. 71 Vgl. Müller, Die lateinischen Gesänge, S. 231: »Latein ist Kultsprache; als Kultsprache wird es durchweg gesungen.« 72 Petersen, Ritual und Theater, S. 144. 73 Müller, Mittelalterliches Theater, S. 25. 74 Vgl. insbesondere Toepfer, Frühneuzeitliche Wende. 75 Schulze, Geistliches Spiel, S. 683.

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Spanne auf die Frühe Neuzeit erweitert würde. Man wäre aber wohl eher geneigt, den »Stephanus« in die Kategorie ›Reformationsdrama‹ oder ›protestantisches Schuldrama‹ einzufügen und damit vom geistlichen Spiel abzugrenzen. Zahns erster Akt dient weder dazu, compassio zu fördern, noch gibt es eine Ambivalenz zwischen Präsenz und Repräsentation. Ganz im Sinne Luthers greift Zahn im ersten Akt zu einer Argumentationstechnik, durch die die Erkenntnis beim Zuschauer reifen soll, dass nur Gott die Menschheit von den Sünden befreien kann. Gleichwohl zeichnet Zahn ein mit Ambivalenzen versehenes Gottesbild und gibt die Ambivalenz zwischen Kult und Theater in den Gesängen nicht vollends auf. Wenn die Herausgeber des Bandes fragen, ob die Ambivalenzen den geistlichen Spielen eingeschrieben sind oder ob es sich um moderne Kategorien handelt, ist festzuhalten, dass wir in den Dramen der Reformationszeit Verfahrensweisen nachweisen können, die den ambivalenten Status reduzieren, ohne ihn ganz auflösen zu können. Ich möchte daher dafür plädieren, auch von Ambivalenzen des reformatorischen Dramas zu sprechen. Der Begriff bietet die Möglichkeit, die Variationsvielfalt und Entwicklungslinien innerhalb des geistlichen Spiels nachzuvollziehen, wie es hier beispielhaft mithilfe des ersten Aktes von Zahns »Stephanus« gemacht wurde. Voraussetzung dafür ist, den »Stephanus« überhaupt als geistliches Spiel zu sehen. Es wäre falsch die Reduktion von Ambivalenzen dazu zu funktionalisieren, den Großteil der nachreformatorischen Spiele nicht mehr als geistliche Spiele zu bezeichnen. Auch wenn Zahn sein Drama in eine antike Tradition stellt, liegen diesem Reformationsdrama dennoch Ambivalenzen zugrunde. Sie werden insbesondere an der dualistischen Gott-Mensch-Beziehung und an den Liedern augenscheinlich. Der lutherisch geprägte »Stephanus« ist eine ›Tragoedia‹ im humanistischen Gewand. Die Überlegungen, dieses Drama dem geistlichen Spiel zuzuordnen schließen an die Arbeiten von Regina Toepfer und Cora Dietl an. Cora Dietl hat jüngst die Parallelen zwischen dem Märtyrerdrama »Tragedia Johannis Hus« und dem Passionsspiel aufgezeigt, ohne indes dezidiert auf Ambivalenzen einzugehen. Demnach weist die »Tragedia« zwar einen »Bruch mit dem geistlichen Spiel des Mittelalters« auf, aber keinen radikalen, weil sie »alte Versatzstücke neu verwendet.«76 Regina Toepfer hat das »Frankfurter Passionsspiel« und Paul Rebhuns »Susanna« verglichen. Sie kommt zu dem Schluss, dass der »Selbstanspruch des Bibeldramas, Gott ehren zu wollen, und die Integration liturgischer Elemente« Beleg dafür ist, »daß das nachreformatorische geistliche Spiel den Bezug zum Kult nicht aufgegeben hat.« Vor allem die »grundlegende religiöse Ausrichtung«77 erscheint als verbindendes Element. Das gilt auch für den »Stephanus« von Za76 Dietl, Brüche in der Theatertradition, S. 421. 77 Toepfer, Frühneuzeitliche Wende, S. 160.

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charias Zahn, der trotz der Integration humanistischer Elemente, trotz des Verzichts auf Affekt-Erregung sein Drama zur »Verkündigung des heilsvermittelndes Wortes«78 nutzt. Weil es um die Verkündigung des Wortes geht, spricht Zahn dezidiert die ministerii verbi in seinen Vorreden an und lässt Stephanus sieben Folioseiten lang eine Predigt halten. Trotz des humanistischen Ansatzes ist es Zahns Anspruch, Frömmigkeit und Gottes lob (fol. A5r) zu fördern.79 Wenngleich Zahn die Ambivalenzen zurückgenommen hat, kann von einer grundlegenden Differenz zwischen geistlichem Spiel und Reformationsdrama nicht gesprochen werden. Vielmehr lassen sich Kontinuitäten und verbindende Elemente zwischen vorreformatorischen und nachreformatorischen geistlichen Spielen aufzeigen, wenn neben Ambivalenzen die Förderung von Gotteslob und die Vermittlung von Glaubenslehren als Gattungsmerkmale stark gemacht werden.

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Verzeichnis der Abkürzungen

ABäG DTM LiLi MGH MTU

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Deutsche Texte des Mittelalters Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Monumenta Germaniae historica Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Beitrage zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur PBB PL Patrologiae cursus completus. Series Latinae. Hg. von Jacques Paul Migne. 221 Bde. Paris 1844–1864 u. 1958–1971. RLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde. Hg. von Klaus Weimar u.a. Berlin, New York 1997–2003. RUB Reclams Universal-Bibliothek Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw TRE Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. 36 Bde. Berlin, New York 1977–2004. TMP Trends in Medieval Philology UTB Uni-Taschenbücher. VD 16 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. 25 Bde. Stuttgart 1983–2000 (fortlaufende Aktualisierungen: http://www.vd16.de). 2 VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hg. von Kurt Ruh u.a. 14 Bde. Berlin, New York 1978–2008. ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie

Personen- und Werkregister

Aufgenommen sind neben historischen Personen und Werktiteln auch biblische Bücher und Figuren. Die biblischen Bücher sind nach den Loccumer Richtlinien zitiert. Abd ar-Rachman III., Kalif von Cordoba 265 Abel  180, 206, 243, 247, 337 Abraham  243, 268, 283, 304 Adam  39, 53, 56, 61, 180, 202–203, 210– 211, 229, 237, 243–248, 254, 341 »Adamspiel« s. Gréban, Arnoul Adrianus, Kaiser  269 Agape 280 Aischylos 107 Albrecht, Markgraf von Brandenburg-Ansbach, später Herzog von Preußen  320, 322–325 »Alsfelder Passionsspiel«  63, 68, 77, 87, 89, 228–231, 233, 237–239, 342 Amalar von Metz: Messeallegorese  15, 30 Ananias  143, 308–311 Anna, Mutter Marias  244 Anna Sophia, Tochter des Herzogs Albrecht  318, 324–325 Anselm von Canterbury   130, 344 –– »Cur Deus Homo«  341 Aristoteles  95, 114, 118, 120, 122, 348 –– »Poetik«  114, 120 Astaroth 143–146 Athanasius 260 »Augsburger Georgsspiel«  184, 293–294, 296, 298–300, 302, 313–314, 331 »Augsburger Passionsspiel«  180, 184, 190, 330 Augustinus, Aurelius  17, 113–114, 117– 118, 130, 187, 282 –– »Bekenntnisse« (»Confessiones«)  113

–– »De civitate Dei » (»Vom Gottesstaat«) 282 –– »De doctrina christiana«  17 –– »Enarrationes in Psalmos«  41, 60 Axt, Dr. Basilius  321, 323, 325 »Backchen« s. Euripides »Benediktbeurer Osterspiel«  86, 97 »Benediktbeurer Passionsspiel«  55, 60, 228–229 Benediktregel (7,31)  281 »Berliner rheinisches Osterspiel«  86, 88 »Berliner thüringisches Osterspielfragment« 88 »Berliner Weltgerichtsspiel«  188, 190–191, 200, 218 Bibelstellen:  Gen 1-7 246  Gen 19 146   1 Kön 1-11  248   1 Kön 3,12-13  248   1 Kön 3,16-28  252   1 Kön 9,16  249   1 Kön 10,1-13  249   1 Kön 10,14-29  248   1 Kön 10,24  248   1 Kön 11  253   1 Kön 11,1-8  248   1 Kön 11,4  250   1 Kön 11,1-13  250   Hiob 42,2   129  Ps 23,7-10 40  Ps 26,7 247

358  Ps 110,1 129   Jes 14,12   128, 132–133  Jes 63,2 50  Mt 11-15 47  Mt 25,14ff. 178  Mt 25,31.34.41 51  Mt 27,62-28,7 47  Mt 28,19f. 51  Lk 1,38 285  Lk 24,12 47  Lk 24,50 51  Lk 24,9-11 47  Joh 14,16 51  Joh 16,22 51  Joh 16,7 51  Joh 20,11-17 47  Joh 10,17 51  Joh 20,13 48  Joh 20,18 48  Joh 20,3-10 47  Apg 1,11 51   1 Kor 15,25-28  129   1 Kor 15,28  128   2 Tim 4,8  281 Birck, Sixt   330–331 Boethius 269–270 –– »Ars arithmetica«  269–270 –– »Consolatio Philosophiae«  270 »Bordesholmer Marienklage«  32, 123 »Bozener Himmelfahrtsspiel«  50 »Bozener Passionsspiel«  89 »Brandenburger Osterspiel«  94, 97 »Brandenburger Osterspielfragment«  88 Brummer, Johannes  142–143, 147–148, 151–152 –– »Tragicocomoedia actapostolica« (»Apostelspiel«) 143 Brun, Erzbischof von Köln  269 Bugenhagen, Johannes   323 Busillus, Andreas (auch: Pusillus, Andreas)  320, 323–324 Calimachus 268 Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius  60 –– »Expositio Psalmorum«  60 »Cavaleser Himmelfahrtsspiel«  50–52 Celtis, Conrad  260–261 –– Briefwechsel  261, 288 Chester Corpus Christi Cycle  342 Chionia  268, 280

Personen- und Werkregister Christiana 167 Christus   20, 22, 28, 31–32, 39, 41–42, 44– 52, 54–55, 58, 61–63, 68–69, 71, 74–75, 81, 106–108, 110–112, 118–120, 123–125, 129, 131–135, 138, 141–142, 145, 148, 151, 153–155, 164, 170, 180, 186–187, 189, 191, 199, 202, 208, 216, 225, 236, 244, 263, 271, 277–280, 283–286, 296, 300, 302, 304–310, 318, 322, 329, 332–333, 335–336, 338, 341–342, 344–347, 351 »Christus Patiens«  106–107, 342, 347, 351 »Christos Paschon« s. Gregor von Nazianz Constantias 268 Creator  242, 244–246 Cuspinianus, Johannes  261 –– »De Caesaribus«  261 Daniel  32, 243, 248, 333 David  30, 61, 122, 210, 243–244, 248, 332 Diokletian  268, 280 »Donaueschinger Passionsspiel«  24, 53, 60, 160, 165–167, 169, 171, 173, 228–229 Dorothea, Heilige  294, 300–306, 313 »Dorotheenspielfragment« (auch: Kremsmünsterer (schlesisches) »Dorotheenspielfragment«)  294, 299, 303, 313–315 Drusiana 268 »Dulcitius« s. Hrotsvit von Gandersheim Duns Scotus, Johannes   131 »Egerer Fronleichnamsspiel«  81, 134, 151, 342 »Egerer Passionsspiel«  89, 112, 134, 137–140, 142, 147–148, 153, 245, 254 »Eisenacher Zehnjungfrauenspiel«  133, 149 Elisabeth von Lothringen –– »Hug Schapler«  178 Erasmus von Rotterdam  309, 343 »Erlauer Krämerspiel«  89 »Erlauer Marienklage«  111, 122 »Erlauer Osterspiel« (auch: »Erlau III«, »Erlau IV«)  86, 88–90, 97, 228, 327 »Erlau III« (s. »Erlauer Osterspiel«) »Erlau IV« (s. »Erlauer Osterspiel«) Euripides  107–108, 110, 123 –– »Bakchen« 110 –– »Medea« 108 Eva  61, 180, 210, 237, 246 Evangelia Apocrypha  40 (Pseudo-)Evangelium Matthaei  263 Ezechyel  243, 248

Personen- und Werkregister Fabricius (auch: Fabrician)  301–303, 313 »Frankfurter Passionsspiel«  29, 32, 68, 75, 77, 87, 218, 228, 333, 340, 350, 353 »Freiberger Passionsspiel«  342 Gallicanus   268, 283 Gerberga  259, 262, 264, 275 Gréban, Arnoul  25, 195, 199–201, 205–207, 210–211, 214–216 –– »Le mystère de la Passion«  25, 195, 200, 217, 219 –– »Mystère d’Adam« (Adamspiel)  244– 246 Greff, Joachim   348 Gregor der Große  281 –– »Moralia« 281 Gregor von Nazianz  107 –– »Christos Paschon«  107, 124 »Großes Neidhartspiel«  93 Hadewijch 117 »Haller Osterspiel« (auch: Das Spiel von Hall) 87 Hantzsch, Andreas   337, 351 Helena 348 Hieronymus, Sophronius Eusebius  41, 60, 152 –– »Breviarium in Psalmos«  60 Hirena  268, 280–281 Horaz –– »Ars poetica« (Poetik)  143 Hrotsvit von Gandersheim  26, 259–284, 286–290 –– »Dramata« 288–289 –– »Dulcitius«  268, 280–281, 283 –– »Gesta Ottonis«  268, 272, 283, 286 –– »Primordia coenobii Gandeshemensis  259, 272, 288–290 Hugo von St. Viktor  41, 60, 135, 151 –– »De fructibus carnis et spiritus«  135, 151 –– »De sacramentis Christianae fidei«  60 Immessen, Arnold  25–26, 241–248, 250–255 –– »Der Sündenfall«  241, 244, 254 Innocentius, Papst  260, 273–274 »Innsbrucker Osterspiel«   40 Jacobus de Voragine  296, 314 –– »Legenda Aurea«  314

359 Jan I., Herzog von Brabant  162, 170 Jesus  20, 58, 72, 107, 116, 123, 143, 160, 162, 166, 169, 196–197, 200, 202, 204–205, 207–208, 210, 212, 216, 225, 242, 263, 278, 296, 304–305, 307, 318, 341–342, 345, 347 Joachim, Mann Annas (s. dort) Johann Albrecht I., Herzog von Mecklenburg  325, 333 »Johannes-Akten« 268 Johannes, Apostel  47, 49, 107, 111, 167, 268 Johannes-Evangelium 51 Johannes, Evangelist  268 Johannes der Täufer  39, 200, 204 Johannes-Apokalypse s. Offenbarung des Johanness Joseph von Arimathia  107 Judas Ischarioth  63, 226–227, 238 Judea 167 Julian Apostata  268 Kain  180, 210, 243, 247, 337 »Katharinenspiel« 190 »Kaufbeurer Passionsspiel«  293, 314, 327, 330–331 »Klosterneuburger Osterspiel«  45, 48–49, 52, 60, 97 »Königsberger Fastnachtsspiel«   317–333 Konstantin, Kaiser  60, 268 Königin von Saba  244, 248–250, 252 »Kopenhagener Weltgerichtsspiel«  188, 200 »Kremsmünsterer (schlesisches) Dorotheenspielfragment« s. »Dorotheenspielfragment« »Kremsmüsterer Dorotheenspiel« s. Dorotheenspielfragment« »Kreuzensteiner Passionsspiel«  228 »Künzelsauer Fronleichnamsspiel«  58, 60, 342 Lombardus, Petrus  41, 61 –– »Commentarium in Psalmos« (Psalmenkommentar) 61 »Lübener Osterspielfragment«  88 Lucius, Michael (auch: Michael Hecht)  152, 293, 330 Luidprand von Cremona –– »Antapodosis«  270, 290 Luther, Martin  27, 74–75, 80, 118, 131, 146, 151, 309, 311–315, 319, 232, 329–331, 340, 343, 346–347, 350, 353

360 –– »Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum« 74–75 –– »Vom Abendmahl Christi«  131, 151 »Luzerner Osterspiel«  87, 166, 230 Luzifer  25–26, 128, 132–146, 230–231, 245–247 »Maastricher Passionsspiel« s. »Maastricher (ripuarisches) Passionsspiel« »Maastricher (ripuarisches) Passionsspiel«  160–162, 170–173 Mantuanus, Johannes Baptista  342–343, 348, 353 –– »Parthenice prima«  342–343 –– »Parthenice secunda sive Catharinaria 343 Mardach, Eberhard –– »Sendbrief von wahrer Andacht«  180 Marguerite Porete  117 Maria Magdalena  25, 47–49, 53–54, 56, 58, 61, 63, 161–162, 166–167, 170, 184, 223–239 Martha  55–59, 228 Matthias, Apostel  143, 322, 325 Mechthild von Magdeburg  117, 172 –– »Das fließende Licht der Gottheit«  155, 172 Medica  88–89, 93 Medicus  81, 83, 85, 87–89, 91–95 Melanchthon, Philipp  323, 330 Melchisedek 243 »Melker Osterspielfragment«  86, 88 »Melker Salbenkrämerspiel«   89, 94, 99 Melusine 178 Mercadé, Eustache  199 Mercator  23, 82, 85–86, 88, 90–92, 97, 99–100, 327 Mercatrix 82 Michael, Erzengel  204, 245, 337, 341, 344, 347 Millstätter Predigten  179, 190 »Mittelniederdeutsches Theophilusspiel«, s. Theophilusspiel, mittelniederdeutsch »Mittelrheinisches Passionsspiel der St. Galler Handschrift« (auch: »St. Galler Passionsspiel«)  32, 57–59, 61, 123 Mörlin, Joachim  320, 322–324, 332 Mose(s)  146, 243, 312

Personen- und Werkregister »Neidhartspiel« s. »Großes Neidhartspiel« Neukirch, Melchior  293, 307, 309–310, 314, 337, 342, 351 Nicodemus-Evangelium  40, 42, 46, 167 Noah 243 »Oberammergauer Passionsspiel«  330 Oda  272–273, 285 Offenbarung des Johannes (auch JohannesApokalypse) 272 Orlando di Lasso  348 Origenes  128–131, 149, 151–154 –– »De principiis« (Vier Bücher von den Prinzipien)  128–129, 151 Osiander, Andreas  26, 324, 326, 329, 332–333 »Osterspiel von Muri«  40, 61, 86, 88, 97, 99 Otto der Große, Kaiser  259–262, 266, 269, 272, 275, 283, 287 Otto, sächsischer Herzog  287 Paphnutius (auch: Pafnutius)  268–269, 283 Paris 348 »Passion de Palatinus«  216–217 Paulus  143, 148, 268, 274, 281, 283, 333 Pelagius  263–268, 282, 289 Pentheus 110 Petrus, Apostel  47, 49, 107, 274, 308, 311 »Pfäferser Passionsspielfragment«  86, 97 Prudentius  270, 282, 289 –– »Peristephanon« 282 Phrenesis  270–271, 277 Pico della Mirandola  343 Pilatus  86, 207 Platon  113–114, 117–119, 122 –– »Politeia« (Res publica)  113–114, 122 Pusillus, Andreas: s. Busillus, Andreas Pusterbalk  84, 90–91, 93 Quintilianus, Marcus Fabius  16 –– »Institutio oratoria« (»Institutionis oratae libri XII«)  16 Raber, Virgil  50, 61, 95, 98, 347 Rather, Bischof von Verona  269–271, 277–279, 288, 290 Recemund, Bischof von Elvira  265–268, 270 »Redentiner Osterspiel«  132–135, 137–138, 140–141, 144, 146–148, 151–154, 184– 186, 190–192

361

Personen- und Werkregister Reuter, Kilian  343 –– »Dorothea« 343 Richer, Jaques  200, 202–204, 211–215 Rikkardis 275 »Rheinisches Osterspiel« s. »Berliner rheinisches Osterspiel« Rollenhagen, Georg  310, 314 –– »Spiel vom Reichen Mann und armen Lazaro« 310 Roswitha von Gandersheim s. Hrotsvit von Gandersheim Rotbert, Erzbischof   277 Roys de gloire  216 Rubin (auch: Rubinus, Rubein)  72, 77, 81–82, 84–85, 87–95, 99–100, 327 Rueff, Jakob  87, 97, 180, 330–331 Sachs, Hans  324, 326, 329, 331, 342 Sachs, Michael  32, 293, 307, 314–315, 337, 352 Salome 234–235 Salomo  25, 242–244, 248–254 Salvator  72, 140, 184 »Salzburger Passionsspiel« (auch: »Salzburgische Passionshandschrift«)  342, 347, 351 »Salzburgische Passionshandschrift« s. »Salzburger Passionsspiel« Samson 248 Saphira  143, 308, 311 Sapientia  248, 269 Saulus  143–146, 148 »Schiitisches Passionsspiel«  118, 122 Schwäbische Heiligenpredigtensammlung 180 »Schwarzwälder Predigten«  179, 193 »Seckauer (Benediktbeurer) Osterspiel«  86 Sergius II., Papst  273 Seth  135, 243 Seuse, Heinrich  115–116, 122, 238 –– »Büchlein der Ewigen Weisheit«  115– 116 Siburg, Stephan   338 Simon  18, 32, 54–56, 100, 122, 166, 172 Sokrates 113 »Spiel von den zehn Jungfrauen«  190 »St. Galler Passionsspiel« s. »Mittelrheinisches Passionsspiel der St. Galler Handschrift« »St. Galler Weihnachtsspiel«  187, 192 »St. Georgener Predigten«  179, 193

Stephanus, Märtyrer  143, 293, 307–308, 346 Stephanus-Dramen s. Neukirch, Melchior; Sachs, Michael; Zahn, Zacharias »Sterzinger Ipocrasspiel«  95, 98 »Sterzinger Osterspiel«  61, 76, 97, 238 Sticca  107, 124 –– »Planctus Mariae«  107, 124 Susanna  32, 330, 333, 346, 350–351, 353 Terentius, Afer (Terenz)  26, 269–271, 280 Thamm, Balthasar  299, 303–304, 314–315 Theophilusspiel, mittelniederdeutsch (auch: »Mittelniederdeutsches Theophilusspiel«) 187 Theophilus  188, 190, 193, 263–264, 305–306 Thomas von Aquin  130, 151 –– »De demonibus«  130 –– »De malo«  130, 151 –– »Quaestiones Disputatae«  130, 151 »Thüringische Zehnjungfrauenspiele«  186, 192 »Tiroler Osterspiel«  89 »Tiroler Passion«  180 »Trierer Osterspiel«  86 Vergil  276, 286, 343, 348 –– »Aeneis« 286 »Villinger Passionsspiel«  180 Visio Philiberti  189 Waldung, Wolfgang  342–343, 351–352 –– »Catharinæ Martyrivm«  342–343, 351–352 »Wiener Osterspiel«  40, 61, 86, 98 »Wiener Passionsspiel«  56, 61 »Wienhäuser Osterspiel« (auch: »Wienhäuser (lateinisches) Osterspiel«)  24 Wild, Sebastian   293, 330–331, 337 Wilhelm, Erzbischof von Riga  318, 320, 322–324 »Wolfenbütteler Marienklage«  188 »Wolfenbütteler Osterspiel«  87–88, 98 Ysayas  243–244, 248 Zahn, Zacharias  27, 293, 335–340, 342– 346, 347–348, 350–352 –– »Tragoedia Lapidati Stephani« (Stephanus-Tragödie)  27, 335–337, 351

362 »Zerbster Fronleichnamsspiel«  73, 75, 231, 237 Zimmern, Wilhelm Werner von   189–190 –– »Vergänglichkeitsbuch« 189–190 Zoroaster 305 »Zürcher Passion«  180 »Zweiter Merseburger Zauberspruch«  44

Personen- und Werkregister

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525301906 — ISBN E-Book: 9783647301907