Symptome der Kulturindustrie: Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material 9783839438770

The subconscious and the play in the movies: How symptoms of the film theories can give information about the cultural i

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German Pages 414 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einführung
2. Aufbau
3. Einführendes zum Spiel und zum Unheimlichem
4. Kulturindustrie
5. Herangehen
Teil I Grenzüberschreitende spiele
Teil II Unheimliche brüche
Zum Abschluss
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Symptome der Kulturindustrie: Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material
 9783839438770

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Sonja Witte Symptome der Kulturindustrie

Edition Kulturwissenschaft | Band 134

Für Inge Marszolek †

Sonja Witte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im MA-Studiengang Psychoanalytische Kulturwissenschaften an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin. Sie promovierte an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Psychoanalytische Film- und Kulturtheorie, Kritische Theorie, Sexualitätsund Geschlechterforschung sowie Alltagskultur.

Sonja Witte

Symptome der Kulturindustrie Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material

Diese Publikation wurde dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vorgelegt. Disputation am 3.7.2016. GutachterInnen: Prof. Dr. Elfriede Löchel und Prof. Dr. Peter Schneider. Für die Publikation wurden mit Einverständnis geringfügige Überarbeitungen vorgenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Benjamin Thurn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3877-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3877-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung  | 7 Einführung  | 9 1. 2. 3. 4. 5.

Vorausgesetzt: Vorannahmen | 9 Auf bau | 14 Einführendes zum Spiel und zum Unheimlichem | 15 Kulturindustrie | 21 Herangehen | 38

T eil I G renzüberschreitende S piele I.1 Einleitung: Grenzüberschreitung und Spiel, Filmologie und Santiago Sierra | 57 I.2 Filmologie: Grenzüberschreitung als Motiv in der Wissenschaft vom Kino als universelle Institution | 71 I.3 Inszenierungen von Grenzüberschreitungen: Eine Lektüre von Cesare Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel | 113 I.4 Drastisches Spiel – Vom humoristischen Moment kulturindustrieller Grenzüberschreitungen | 147 I.5 Schluss: Es ist ein Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Spiel | 191

T eil II U nheimliche B rüche II.1 Einleitung: Bruch und Unheimliches, Apparatusdebatte und Amélies fabelhafte Welt | 199 II.2 Apparatusdebatte: Bruch als Motiv in Auseinandersetzungen über den ideologischen Kino-Apparatus | 215 II.3 Inszenierungen von Brüchen: Eine Lektüre von Jean-Louis Baudrys Formulierung Quasi | 257 II.4 Brüchige Bilder – Vom Unheimlichen kulturindustrieller Übersetzungen | 291 II.5 Schluss: Das Unheimliche ist eine Hervorkehrung von Entfremdung | 345

Zum Abschluss  | 353 1. Paradoxien der Massenkultur | 354 2. Kulturindustrie I: Verschwinden des Subjekts? | 359 3. Kulturindustrie II: Nicht Jenseits der Subjekte | 366

Literaturverzeichnis  | 375 Abbildungsverzeichnis  | 411

Danksagung Mein Dank gilt an erster Stelle Prof. Dr. Elfriede Löchel und Prof. Dr. Inge Mars­ zolek, die diese Arbeit unterstützt und begleitet haben. Inge Marszolek hat in ihrer verlässlichen Weitsicht und inhaltlich interessierten Zugewandtheit entscheidend mit dazu verholfen, dass diese Arbeit auf ihren eigenen Beinen zu stehen kam. Inge Marszolek verstarb unerwartet im August 2016. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Elfriede Löchel, der Erstgutachterin, hat im Prozess der Entwicklung dieser Arbeit sehr dazu beigetragen, einen Raum für das Durchdenken von Nicht-Vorentschiedenem offen zu halten und mich ermutigt, an kritischen Punkten nicht Halt zu machen. Bei meinem Zweitgutachter Peter Schneider möchte ich mich vor allem für seine Freud-Seminare bedanken, sowie außerdem bei Helmut Reichelt für seine Vorlesungen zu Adorno und Marx und bei Irving Wohlfahrt für seine Walter Benjamin-Seminare, die jeweils in entscheidender und nachhaltiger Weise mein Interesse und Denken geprägt haben. Dies gilt auch für die Diskussionen mit meinen GenossInnen von den „les madeleines“, der „Antinationalen Gruppe Bremen“ und mit den Redaktionsmitgliedern der Zeitschrift „Extrablatt – Aus Gründen gegen fast Alles“. Bedanken möchte ich mich außerdem bei den TeilnehmerInnen des von Inge Marszolek an der Universität Bremen geleiteten Colloquiums für die gemeinsamen Diskussionen unserer Arbeiten über viele Jahre. Die Hans-Böckler-Stiftung bewilligte mir ein dreijähriges Promotionsstipendium und ermöglichte einen Gast-Aufenthalt am „Department of Germanic Languages“ der Columbia University (NYC). Mein besonderer Dank gilt meinen Freunden und Freundinnen. All jenen, die so sorgfältig und inhaltlich interessiert Korrekturarbeiten geleistet haben. Vor allem aber möchte ich mich dafür bedanken, dass ihr mich während dieser nicht immer leichten Phase begleitet, unterstützt, gestärkt und, was manchmal nötig war, aufgemuntert habt: Ulrike Kramer, Volker Beeck, Juliane Hummitzsch, Johanna Müller, Dierck Wittenberg, Hannah Regenberg, Moritz Strickert, Lars Lippmann, Nina Bittcher, Anne Dölemeyer, Christiane Beerbom, Benjamin Thurn, Patrick Viol u.a.

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Auch bei meinen Eltern, Ursula und Wolf-Dieter Witte, möchte ich mich für ihre Unterstützung – in Wort und finanzieller Tat – herzlich bedanken. Mein ganz besonderer Dank richtet sich an Timm Obendorfer, der mit großer Geduld, Interesse, Liebe und Zuversicht zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat.

Einführung Gegenstand dieser Untersuchung sind unbewusste Dynamiken in der Kulturindustrie, wie sie sich in symptomatischer Weise in psychoanalytischen Filmtheorien zeigen. Diese Arbeit soll einen Beitrag leisten zum Verständnis von Verwicklungen zwischen Unbewusstem, wissenschaftlichem Denken und kulturellen Prozessen in kapitalistischer Gesellschaft. Zwei Bereiche kulturellen Erlebens werden dafür in den Blick genommen: Das Spiel und das Unheimliche. Bei diesen handelt es sich – so die These – um kulturindustrielle Austragungsorte von unbewussten Dynamiken. Die Frage lautet: In welcher Beziehung stehen mit spielerischen und unheimlichen Momenten verbundene unbewusste Dynamiken zu Charakteristiken der Kulturindustrie? Dieser Frage wird ausgehend von einer Relektüre von Theodor W. Adornos Kritik der Kulturindustrie und einer Auseinandersetzung mit zwei filmtheoretischen Diskursen gefolgt: Der Filmologie und der Apparatusdebatte. Jeweils ein ausgewählter psychoanalytisch-filmtheoretischer Text wird einer eingehenderen Lektüre unterzogen, im Zuge derer theoretische Symptome herausgearbeitet werden. Diese werden in Konstellation mit ästhetischem Material gebracht, aus deren Deutung Rückschlüsse gezogen werden auf unbewusste Dynamiken im Bereich des Spiels und des Unheimlichen. Es ist somit das Ziel, ausgehend von filmtheoretischen Ambiguitäten Einsicht in konflikthafte Verschränkungen von Unbewusstem und gesellschaftlich-kulturellen Prozessen zu gewinnen und auf diesem Wege Schnittstellen zwischen Psychoanalyse und Kulturtheorie weitergehend zu erschließen, von denen aus sich neue Perspektiven auf eine Kritische Theorie der Kulturindustrie eröffnen.

1.  Vorausgesetzt: Vorannahmen Zunächst möchte ich vier zentrale Annahmen voranstellen, auf denen die vorliegende Arbeit beruht. Meine Untersuchung von Filmtheorien als einem Austragungsort von in der Kulturimdustrie wirksamen Dynamiken beruht auf der Vorannahme, dass jegliches Denken, „[a]uch das logischste und wissenschaftlichste Gedankensystem“ (Devereux 1973, S. 41), in Beziehung zu unbewussten Prozessen steht. Ich folge

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also der grundlegenden psychoanalytischen Annahme der „Triebbegründetheit aller intellektuellen, moralischen und künstlerischen Leistungen sowie aller augenscheinlich über jeden Zweifel erhabenen Ausdrucksformen“ (Gast 2011a, S. 329). Demnach ist „jeder Erkenntnisprozess, jedes Denken, auch wenn es uns aus der unmittelbaren Triebumklammerung befreit, gleichwohl durchdrungen […] von Wünschen, libidinösen Ansprüchen, Phantasien, Ängsten und Konflikten“ (ebd.) und zeugt von unbewussten Übertragungsbeziehungen zwischen (Forschungs-)Subjekt und Objekt (vgl. Devereux 1973). „All die komplizierte Denktätigkeit“, schreibt Sigmund Freud, stellt einen „notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar“ (Freud 1900a, S. 572). Ist das Denken von (immer auch unbewussten) Wünschen angetrieben, so vermag aber zugleich nur die „Hemmung des Wunsches […] Erkenntnis zu produzieren“ (Schneider 1995, S. 17). Somit kann „eben jenes Denken […] zugleich das Instrument“ sein, „das uns den Zugang zur Realität bahnt, und zwar über den einzig möglichen Weg, nämlich über den Weg der Anerkennung eben dieser für das Subjekt und sein Denken konstitutiven Verstrickungen und Verhaftungen in seine eigene innere Welt“ (Gast 2011a, S. 329). Wenn also jede Denkbewegung auf dem gegenläufigen Miteinander von Angetrieben-Sein durch die unbewusste Wunschtätigkeit und ihrer Hemmung beruht, so kann man davon ausgehen, dass jedem Gedanken ein unbekanntes konflikthaftes Movens innewohnt. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive lässt sich somit annehmen, dass jeder Denkakt einen rationalisierenden Zug aufweist. Laplanche und Pontalis fassen Rationalisierung zunächst als ein „sehr allgemeines Vorgehen“ zusammen, „das vom Wahn bis zum normalen Denken reicht“ (Laplanche/Pontalis 1972, S. 418). Es handelt sich hierbei um den Versuch, einer Handlung oder einem Gedanken, „deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben“ (ebd.). Gerade die Wissenschaft, das liegt nahe, ist ein prädestiniertes Feld, auf dem sich Denken unbewussten „Triebwünschen und Konflikten in Gestalt abstrakter Themen […] zuwendet“ (Zepf 2012, S. 64). Ursprünglich wurde der Terminus Rationalisierung von Jones (1908) eingeführt, dem sich Freud u.a. in einer Bestimmung anschließt, die für meine Frage nach dem symptomatischen Gehalt von theoretischen Aussagen entscheidend ist. Es handelt sich demnach bei Rationalisierungen um Aussagen oder Gedanken, die ihre psychische Funktion unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt erfüllen (vgl. Zepf 2012, S. 53). Freud schreibt in diesem Zusammenhang, das Ich sei häufig genötigt, „die ubw Gebote des Es mit seinen vbw Rationalisierungen zu bekleiden“ und „mit diplomatischer Unaufrichtigkeit eine Rücksichtnahme auf die Realität vorzuspiegeln“ (Freud 1933a, S. 84). Die Rücksichtnahme auf die Realität kann gelingen, auch wenn sie – wie Freud es hier formuliert – anderen diplomatischen Zwecken (seitens des Es) dienen mag. Adorno weist in diesem Zusammenhang auf einen Doppelcharakter dieses Wahrheitsgehalts hin: Wenn der Analytiker danach frage, welche unbewussten Konflikte die Rationalisierung verdecke, wird Adornos Auffassung nach „der auf

Einführung

seinen Realismus stolze Analytiker zum sturen Dogmatiker, sobald er die realen Momente der Rationalisierung zugunsten des geschlossenen psychologischen Immanenzzusammenhanges wegschiebt“ (Adorno 1955, S. 64). Allein auf die psychische Funktion der Rationalisierung bedacht, gerate aus dem Blick, dass die „gleiche Aussage […] wahr und falsch sein [kann], je nachdem, ob sie an der Realität oder an ihrem psychodynamischen Stellenwert gemessen wird“ (ebd., S. 63). Alles in allem bedeutet dies auch: Wenn Denkprozessen stets ein rationalisierender Zug eigen ist, besagt dessen Vorhandensein als solches nichts über den Wahrheitsgehalt des Ausgesagten bezüglich des Gegenstandes. Nun geht es mir im Folgenden weder um das eine noch unmittelbar um das andere: Weder um den psychologischen Immanenzzusammenhang (insofern ich theoretische Symptome nicht auf etwaige individuelle Konflikte oder die Biographie des jeweiligen Theoretikers zurückführe), noch unmittelbar um den Erkenntniswert der theoretischen Aussagen bezüglich ihres Gegenstands. Dieser ist in den von mir untersuchten Theorien das Phänomen des filmischen Realitätseindrucks, wie er im Kino entsteht.1 Gegenüber der Frage, ob diese oder jene filmtheoretische Aussage über den Realitätseindruck Sinn macht, übe ich eine gewisse „Urteilsenthaltung“ (Schneider 1995, S. 18), die für meine Herangehensweise eine entscheidende Rolle spielte (s. u.). Spreche ich im Folgenden von theoretischen Symptomen, so betrachte ich diese nicht etwa als mögliche Anzeichen für einen Fehlschluss bezüglich des filmischen Realitätseindrucks, sondern im Sinne eines Abhubs (eine Formulierung, die im Weiteren erläutert werden wird). Meine Auseinandersetzung mit Filmtheorien zielt somit nicht auf die Korrektur oder Optimierung der geleisteten filmtheoretischen Bestimmungen – überhaupt geht es nicht um eine Untersuchung von Filmtheorien aus filmwissenschaftlicher Sicht. Sondern es handelt sich hier um eine psychoanalytisch-kulturtheoretische Untersuchung von spielerischen und unheimlichen Momenten in der Kulturindustrie am Beispiel psychoanalytischer Filmtheorien. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit richtet sich auf das, was sich in dem Ausgesagten zum Realitätseindruck über dieses hinaus mitteilt. Insofern auch ein wissenschaftlicher Diskurs „nicht einfach nur das artikuliert, was er postuliert, sondern selbst ein Symptom einer […] gesellschaftlichen Konstellation bilden kann“ (Härtel 2014b, S. 10 in anderem Zusammenhang), ist dieser „immer auch ‚aufzudröseln‘“ (ebd.). In diesem Sinne wird im Folgenden aufgedröselt, was sich – bezüglich des Spiels und des 1 | Die in der Filmologie und in der Apparatusdebatte vertretenen Auffassungen vom filmischen Realitätseindruck werden in I.2 und II.2 ausführlich eingeführt. An dieser Stelle nur so viel: Der für die Filmwissenschaft insgesamt zentrale Begriff des Realitätseindrucks betrifft einen Aspekt der spezifisch filmischen Wirkung auf die Zuschauenden. Kirsten definiert kurz und knapp: „Der ‚Realitätseindruck‘ bezeichnet einen phänomenologischen Tatbestand, der sich vor allem wahrnehmungspsychologisch erklären lässt: die spontane Wirkung der perspektivisch gestalteten Bewegtbilder, die beim Betrachten den Eindruck hervorrufen, Ausschnitte einer wirklichen Welt darzustellen.“ (Kirsten 2013, S. 23)

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Unheimlichen – den theoretischen Texten ablesen lässt über das hinaus, was diese intendieren auszusagen. Welche Überschüsse sind in den Texten zu finden und inwiefern sind diese als symptomatische Hinweise auf mit dem spielerischen bzw. unheimlichen Moment verbundene unbewusste Dynamiken kulturindustrieller Erfahrung zu deuten? Diese Frage geht mit einer weiteren Vorannahme einher, mit der in Anschluss an Überlegungen zur Bedeutung und Funktion des Unbewussten für kulturelle Prozesse (vgl. Pfaller 2002; Härtel 2011, 2014a) davon ausgegangen wird, dass die von mir untersuchten Filmtheorien selbst spielerische bzw. unheimliche Momente involvieren und (in der Rezeption) evozieren. Diese Theorien weisen also m. E. selbst spielerische und unheimliche Momente auf und werden als Inszenierungen und Austragungsorte für hiermit verbundene unbewusste Dynamiken analysiert. Die theoretischen Aussagen über kulturelles Erleben (in diesem Falle: über den Realitätseindruck im Kino) werden daraufhin befragt, inwiefern in diesen Aussagen (also auf der Ebene wissenschaftlichen Denkens) unbewusste Dynamiken kulturellen Erlebens fortwirken. Ich unterstelle damit, dass diese Filmtheorien selbst in gewisser Weise spielen bzw. vom Unheimlichen ‚bewegt‘ sind. Diese Überlegung nimmt Bezug auf eine dritte Vorannahme. Wie Heinrich hinweist, wird häufig vergessen, dass dynamis Macht heißt und „nicht, wie es der heutige Jargon suggeriert, clevere Beweglichkeit“ (Heinrich 2001, S. 208). Trieb-Macht verweist immer auch auf die Gewalt des gesellschaftlichen Zusammenhangs gegenüber den Subjekten – dies ist einer der zentralen Gedanken in Adornos Theorie, dem diese Arbeit folgt. Dabei stelle ich in meiner Re-Lektüre von Adornos kulturkritischen Texten folgende Annahme in den Vordergrund: Es ist nicht von einem unmittelbaren Übersetzungsprozess (zu diesem Begriff s. u.) zwischen gesellschaftlichen und unbewussten Prozessen auszugehen. „‚Psychodynamik‘ ist die Reproduktion gesellschaftlicher Konflikte im Individuum, aber nicht derart, daß es die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen bloß abbildete. Sondern es entwickelt auch, indem es als ein von der Gesellschaft Abgedichtetes, Abgespaltenes existiert, nochmals die Pathogenese einer gesellschaftlichen Totalität aus sich heraus.“ (Adorno 1955, S. 55f.) Hieran anknüpfend gehe ich davon aus, dass unbewusste Dynamiken nicht unmittelbar gesellschaftliche Machtverhältnisse abbilden. Das Ziel meiner Arbeit ist nicht eine Psychoanalyse der Kulturindustrie, sondern eine Herausarbeitung von konflikthaften, in sich gebrochenen Verschränkungen von unbewussten Dynamiken und kulturellen Prozessen, wie sie sich in psychoanalytischen Filmtheorien niederschlagen. Hiermit ist auch ein bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse verbunden. Ich folge der Auffassung Gasts, dass die Psychoanalyse (auch wenn sie sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigt) im strengen Sinne „keine Kulturtheorie“, auch keine Sozial- oder Literaturwissenschaft, keine Philosophie ist „und auch keine Anthropologie, obschon sie mit ihren Einsichten ins Subjekt immer auch die conditio humana und deren Kulturförmigkeit thematisiert“ (Gast 2011a, S. 327). Den Erkenntnisraum jener

Einführung

„anderen, zweifellos angrenzenden, aber eben nur angrenzenden Wissenschaften“ kann, so Gast, die Psychoanalyse nicht „umstandslos für sich beanspruchen“ (ebd.). Die Psychoanalyse sei demnach keine Kulturtheorie und sie sei auch nicht auch eine Kulturtheorie, sondern „deren Anderes“ (ebd., S. 328).2 Das psychoanalytische Denken kann aber, so betont Gast, neue Fragen aufwerfen, gegenüber anderen Disziplinen, und so „kristallin gewordene Denkmuster verflüssigen, Gewohntes in Frage stellen, selbstreferenziell gewordene Perspektiven dezentrieren und beschwichtigende Gewissheit in einen methodischen, produktiven Zweifel auflösen“ (ebd., S. 332). Auf diese Weise eigne der Psychoanalyse ein einzigartiges Potential, welches „kanonisiertes Denken destabilisiert“ (ebd.) und auf eine ‚Aufklärung zweiter Ordnung‘ (vgl. ebd., S. 329) ziele, die „die irrationalen Abhänge der Aufklärung, nämlich die verleugnete Abseite des wissenschaftlichen Denkens, erneut in den Diskurs einführt“ (ebd.). Die Psychoanalyse steht, so unterstreicht Gast, in der Tradition der Aufklärung und kritischer Wissenschaft, deren „unabschließbares Anliegen“ darin bestehe, „jener Vernunft Geltung und Gehör zu verschaffen, die um ihr anderes, um ihre Abseite weiß“ (ebd., S. 328), also: um das Unbewusste. Die Psychoanalyse hält so die Erkenntnis bereit, dass sich Subjekt und Gesellschaft nicht in einer „unabhängigen Parallelität zueinander“ entwickeln, sondern in „prekär gegenseitiger Verhängtheit“ (Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 91). So, „wie man im Innersten der Subjekte immer auf Gesellschaftliches stößt – dies ist ein wesentliches Fazit von Adornos Freud-Lektüre –, so trifft die Psychoanalyse in der irreduziblen Besonderheit des konkreten Subjekts immer auf Allgemeines“ (Gast 2006, S. 27). M.E. liegt eine der gemeinsamen Stärken des Reservoirs der freudschen Psychoanalyse und der Kritischen Theorie Adornos, die jene – als ein ihr Anderes (vgl. auch Rantis 2001; Müller 2009, S. 140ff.) – in sich aufgenommen hat, darin, dass sich mit diesen Subjekt und Gesellschaft als „grundsätzlich differente, nicht miteinander zur Deckung zu bringende, aber dennoch unzertrennliche Dualitäten“ (Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 94 in anderem Zusammenhang) denken lassen. Auf diese Weise ist es möglich, Beziehungen von Individuen und gesellschaftlichen Verhältnissen als konflikthafte Verstrickung zu untersuchen, d.h., Subjekte und Gesellschaft weder als voneinander Getrenntes vorauszusetzen noch von einer unmittelbaren Einheit auszugehen.3 2 | Diese „Differenz, das Uneinssein, das Nie-ganz Werden der Episteme“ berücksichtigend könne, so Gast, das Denken „in und mit der Differenz […] das kritische Potenzial“ freilegen und als „Scharnier“ wirken (Gast 2011a, S. 327). Auch Adorno charakterisiert kritische Erkenntnis als Scharnier (s. u.). 3 | In diesem Sinne kritisieren Schneider, Knellessen und Passett Tendenzen in der psychoanalytisch-sozialpsychologischen Denktradition, die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft mit einer „Aufspaltung dieser sogenannten Widersprüche auf Inneres (Subjektives) und Äußeres (Gesellschaftliches) bzw. auf Subjektives und verinner-

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Und die letzte Vorannahme, welche es ist, die sich im Folgenden am Gegenstand dieser Arbeit zu erweisen hat, lautet, dass die Kulturindustrie als einer der gesellschaftlichen Austragungsorte dieser konflikthaften Verstrickung angesehen werden kann.

2. Aufbau Bevor ich in dieser Einführung mit dem Gegenstand, den relevanten theoretischen Begrifflichkeiten, Bezügen und weiteren Annahmen sowie meiner Herangehensweise vertraut mache, möchte ich zur Orientierung zunächst den Auf bau der vorliegenden Arbeit skizzieren. Diese gliedert sich in zwei Hauptteile – der erste widmet sich dem Spiel, der zweite dem Unheimlichen. In Teil I bilden das Untersuchungsmaterial Theorien der Filmologie (vornehmlich aus dem Zeitraum zwischen 1946 und 1961), einer filmtheoretischen Strömung mit institutionellem Sitz in Paris. Einer genaueren Lektüre werden zwei Texte des Psychoanalytikers Cesare Musatti (2004a [1950]; 2004b [1952]) unterzogen. Als ästhetisches Material werden Arbeiten des zeitgenössischen Künstlers Santiago Sierra hinzugezogen. In Teil II beschäftige ich mich mit der Apparatusdebatte (begrenzt auf Texte aus den Jahren zwischen 1968 und 1972), die ebenfalls in Frankreich stattfand. Eingehender wird Jean-Louis Baudrys psychoanalytischer Ansatz untersucht (Baudry 2003b [franz. Orig. 1975]). Das ästhetische Material setzt sich hier zusammen aus experimentellen Filmen (v. a. Fotofilm-Projekten von Mitgliedern der Gruppe „Die Tödliche Doris“) und dem Kinofilm Die fabelhafte Welt der Amélie (F/D 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet). Diese beiden Teile folgen jeweils demselben Auf bau. In den ersten Abschnitten skizziere ich Aspekte des Spiels bzw. des Unheimlichen, stelle Bezüge zu Gedankenfiguren aus Adornos Texten her, setze diese in Beziehung zum jeweiligen theoretischen und ästhetischen Material, um hiervon ausgehend Problem- und Fragestellung zu entwickeln (I.1 und II.1). In den zweiten Abschnitten wird das filmtheoretische Feld der Untersuchung abgesteckt. Erhoben wird dabei jeweils ein Motiv – Grenzüberschreitung (I.2) und Bruch (II.2) –, dessen Beziehung zum Spiel bzw. zum Unheimlichen in den ersten Abschnitten (I.1 und II.1) eingeführt wurde. Ich arbeite heraus, inwiefern diese Motive in unterschiedlichsten Couleurs und bezogen auf verschiedene Fragestellungen in dem jeweiligen filmtheoretischen Diskurs auftauchen. In den dritten Abschnitten wird eine konkrete Figuration dieses Motivs in einem psychoanalytisch-filmtheoretischen Ansatz untersucht. Ich analysiere, wie lichte objektive Verhältnisse“ (Schneider/Knellessen/Passett 2003, S. 94) zu beantworten. Gesellschaft werde in diesem Fall letztlich als etwas gedacht, „was jenseits des Subjektes“ liegt, als etwas der Entstehung des Subjekts Unabhängiges. Gesellschaft werde so als etwas ‚Vorgelagertes‘ begriffen, „was auf dieses Subjekt einwirkt“ (ebd., S. 90).

Einführung

das in dem filmtheoretischen Gesamtdiskurs kursierende Motiv sich hier spezifisch ausbuchstabiert. Eine für die jeweiligen Konzeptionen zentrale, aber auf den ersten Blick nebensächlich erscheinende Formulierung wird dabei herausgearbeitet und ihr theorieimmanenter Stellenwert ausgewiesen: Mehr als nur, aber nicht Zuviel (Musatti; I.3) und Quasi (Baudry; II.3). In den vierten Abschnitten werden diese – als theoretische Symptome verstandene – Formulierungen in Konstellation mit ästhetischem Material einer Deutung daraufhin unterzogen, inwiefern in diesen unbewusste Dynamiken in der Kulturindustrie sedimentiert sind und hier auf der Ebene des wissenschaftlichen Denkens fortwirken (I.4 und II.4). Am Schluss der Teile steht je ein collagenhafter Kommentar, mit dem nochmals rückblickende Schlaglichter geworfen werden auf die Verbindungen zwischen Spiel bzw. Unheimlichem und Aspekten der Kulturindustrie (I.5 und II.5). Zum Abschluss werde ich in einem Exkurs rückblickend noch einmal einige zentrale Aspekte meiner Adorno-Lektüre rekapitulieren – und zwar anhand einer Auseinandersetzung mit Hannelore Bublitz’ diskurstheoretischer Auffassung von Massenkultur (vgl. Bublitz 2005), welche an dieser Stelle als Beispiel für im Folgenden so genannter kulturpessimistischer Lesarten dient, von denen ich meine Adorno-Rezeption abgrenze.

3.  Einführendes zum Spiel und zum Unheimlichem Eine auffällige Geneinsamkeit zwischen dem Begriff des Spiels und dem des Unheimlichen besteht darin, dass beiden eine gewisse Unschärfe attestiert wird. So spricht z.B. Wittgenstein bezüglich des Spiels von einem „Begriff mit verschwommenen Rändern“ (Wittgenstein 1977, S. 60; vgl. Schraffl 2014, S. 26) und Cixous vom Unheimlichen als einem „variablen Konzept“, welches „ohne Kern“ sei (Cixous 2006, S. 37; vgl. II.4). Wenn man das Spiel nicht eingrenzt auf das Spektrum der konkreten Spiele (im Sinne des englischen game), sondern das kulturtheoretisch bedeutsame weitere Spektrum des Spiels (im Sinne des englischen play)4 ins Auge fasst, dann ergibt sich noch eine weitere Schnittmenge. Sowohl das Unheimliche als auch das Spiel beschreiben Arten des Erlebens, dessen subjektive Bedingungen auf der Hand liegen. Ebenso wie der „psychische Zustand der Spielsphäre […] Leute auch bei einer Betätigung erfassen [kann], die nach allgemeiner Auffassung kein Spiel ist“ (Pfaller 2002, S. 117; vgl. II.2), erfahren manche Menschen etwas als unheimlich, was andere z.B. komisch finden können. Während aber (zumindest auf den ersten Blick) das Spiel aktiven Charakter hat, scheint das Unheimliche dem Betreffenden eher zu widerfahren. Und im Vergleich zum Unheimlichen, welches vor allem insofern „es motivisch als Erschreckendes vor Augen tritt“ (Herding 2006a, S. 192, Fn. 2) ein vielbearbeite4 | Siehe zum theoretischen Gehalt der Unterscheidung zwischen game und play Scheuerl 1981.

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ter Topos in den Literatur-, Film-, Kunst- und Kulturwissenschaften ist (vgl. z.B. Sturm/Tholen/Zendron (Hrsg.) 1995; Bär 2005; Herding/Gehrig (Hrsg.) 2006; Frackman 2015), wird dem Spiel – als einer der Zentralkategorien der Kulturtheorie – weit mehr eine grundlegende Bedeutung in der Kultur zugeschrieben und mitunter eine konstitutive Funktion für diese angenommen (vgl. Buschkühle 2007; Eibl 2009). Im Vergleich zum Spiel, über das sich seit der Antike bis heute ein breiter Kanon unterschiedlichster Theorien entwickelt hat (s. z.B. hierzu einführend Scheuerl 1991; Matuschek 1998; Schraffl 2014, S. 28ff.), scheint das Unheimliche, wenngleich auch diesem keineswegs wenig Beachtung geschenkt wird, weniger theoretisch griffig zu sein und als „Unconcept“ (Masschelein 2011) umherzuschwirren (vgl. z.B. Doll (Hrsg.) 2011; Ffytche 2013). Bieten sich Spielbegriffe mitunter als handfeste „universelle Erklärung der Welt“ (Schraffl 2014, S. 30) an, so wird im Unterschied dazu das Unheimliche in deren dunklen Ecken verortet, aus denen jenes temporär und flüchtig hervorkommt. Scheint auf dem Spiel die menschliche Kultur zu beruhen und teilt dessen Begriff das Versprechen mit, die Welt grundlegend erfassen zu können, so hat das Unheimliche demgegenüber eher den Status eines Epiphänomens oder wird begrenzt, z.B. wenn es als spezifischer Topos der Moderne (speziell der Romantik; vgl. z.B. Bernard 2006) angesehen wird. So erweist sich das Spiel in einigen Theorien als positive Grundlage der gesamten menschlichen Kulturgeschichte (Huizinga 1958), während etwa im Unheimlichen eine spezifische Kehrseite von Aufklärung und Rationalismus gesehen wird (vgl. z.B. Dolar 1991). Das Unheimliche wird mit Verunklarungen von Grenzziehungen in Zusammenhang gebracht (vgl. Jentsch 2014 [1906]; Freud 1919h; Weber 1981; Herding 2006a), das Spiel wird insbesondere seit dem 16. Jahrhundert als basierend auf einer Grenzziehung zwischen Arbeit und Muße angesehen (vgl. Schraffl 2014, S. 33; Schürmann 2015).5 Es setzen dann historisch, so eine häufige Annahme, „Prozesse der Umbesetzung von ‚Muße‘ zu ‚Freizeit‘“ (Hasebrink/Riedl 2014, S. 2) ein.6 Wobei aber – z.B. laut Soeffner (2014) – das Modell der Muße nicht komplett von dem der Freizeit abgelöst wird. In der modernen Gesellschaft besteht diesem zufolge eine spannungsreiche dreistellige Relation von Arbeit, Muße und Freizeit (vgl. ebd., S. 40). Eingegrenzt auf den Bereich der Muße bzw. der Freizeit in Entgegensetzung zur Arbeit und auch zu den Verpflichtungen des Alltag, die als „Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln empfunden“ (Wöhler 2006, S. 33) werden, wird dem Spiel – zunächst prominent von Schiller (1966 [1795]) – dabei zugleich die gewissermaßen grenzüberschreitende Möglichkeit 7 des Durchlebens verschiedener Gegensätze des menschlichen Lebens zugeschrieben. Am grenzüberschreitenden Potential wird häufig der besondere Wert (in verschiedensten 5 | „‚Muße‘ bedeutet ursprünglich ‚Spielraum‘.“ (Figal 2014, S. 26) 6 | Wöhler spricht auch von einer „Verfreizeitlichung kultureller Objekte“ (Wöhler 2006, S. 35ff.). 7 | Dem Motiv der Grenzüberschreitung im filmologischen Kontext gehe ich in I.2 nach (s.o.).

Einführung

Hinsichten, insbesondere pädagogischen, sittlichen und ästhetischen) des Spiels gemessen (so auch in der Filmologie; vgl. II.2). Während Freuds Perspektive auf das Spiel8 häufig als eine „funktionsorientierte“ (Schraffl 2014, S. 38) eingeordnet wird, insofern dieser das Spiel vorrangig als Möglichkeit der Konfliktbewältigung ansähe (vgl. ebd.), wird der kulturtheoretische Ansatz Huizingas mitunter als Gegenmodell dazu gehandelt. Zentral ist für Huizinga ein Aspekt des Spiels, dem ab dem 20. Jahrhundert verstärkt Beachtung geschenkt wird, welchen Sorel aber bereits im 17. Jahrhundert hervorhebt (Sorel 1977 [1665]): Der fiktive Charakter des Als-ob (vgl. Schraffl 2014, S. 34). Huizingas Schrift „homo ludens“ (Huizinga 1958 [1938/39]) gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Beiträge zur Spieltheorie, an die u.a. auch Caillois (1958) anknüpft. Auch in meiner Arbeit wird ein Begriff Huizingas, der des heiligen Ernsts, eine Rolle spielen (vgl. I.4) und zwar in der spezifischen Weise, wie er von Robert Pfaller – entgegen der üblichen Gegenüberstellung – verknüpft wird mit freudscher Triebtheorie. Pfaller verbindet in „Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur“ (Pfaller 2002) Huizingas These, dass die Kultur im Spiel begründet sei, mit Mannonis Konzeption ästhetischer Illusion (Mannoni 1964; 1969). Pfaller kommt auf diesem Weg zu einer Theorie kulturellen Genießens, für die ebenfalls der Als-ob-Charakter kulturellen Erlebens zentralen Stellenwert hat. Demzufolge beruht auf dem Wissen der Spielenden um den Als-ob-Charakter (bzw. auf deren Nicht-Glauben an die Realität der spielerischen Illusion) das Mehr, der Überschuss des Genießens, den Huizinga als heiligen Ernst des Spiels bezeichnet. Es ist, so Pfallers These, ein dem Spiel gegenüber wirksamer unbewusster Ambivalenzkonflikt, dem die eigentümliche Lust am Spiel entspringt. Pfaller vertritt in diesem Zusammenhang in Anschluss an Huizinga und auch Sennett (1996; vgl. I.1) die Annahme eines Verschwinden des Spiels aus der gegenwärtigen Kultur, welche im Abschnitt I.4 mein Ausgangspunkt sein wird. Ausgehend von Adorno lässt sich diese Annahme als Verweis auf eine – für die spätkapitalistische Gesellschaft signifikante – Krise des spielerischen Moments verstehen (vgl. I.1). Als Untersuchungsmaterial, anhand dessen ich dieser Krise nachgehen werde, eignen sich die Filmologie und die Arbeiten Sierras aus folgendem Grund: Die Filmologie auf der einen und Sierra auf der anderen Seite sind (meiner Interpretation zufolge) Gegenspieler in diesem Konflikt. Die Filmologen9 halten das spielerische Moment hoch, Sierra greift es in seinen Inszenierungen an. Beide Konzeptionen, so wird meine Untersuchung zeigen, verweisen imma8 | Bezuggenommen wird in diesem Zusammenhang meist auf das Fort-Da-Spiel (Freud 1920g). 9 | Nicht nur im Kontext der Filmologie, sondern auch in der Apparatusdebatte traten in den von mir untersuchten Zeiträumen nur männliche Autoren mit Textbeiträgen auf. Um diese Leerstelle weiblicher Autorinnen nicht zu überdecken, verwende ich im Folgenden, soweit ich mich auf die ausgewählten Debattenabschnitte beziehe, nur das Maskulinum.

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nent in Form der Abgrenzung auf die jeweils andere Position. In dieser Konstellation kann im Vergleich gezeigt werden, inwiefern der spielerische Lustgewinn, der in den theoretischen und ästhetischen Inszenierungen wirksam ist, jeweils auf der Absetzung von der gegnerischen Position beruht. In Sierras Aktionen zeigt sich dies in drastischer Weise: In Kritik an der Vorstellung einer Abgehobenheit der Kunst von der profanen Welt, realisiert er in seinen Kunstperformances Ausbeutung von Menschenmaterial (so werden z.B. seine ArbeitnehmerInnen dafür bezahlt, mehrere Tage in Kisten eingesperrt oder in Wände eingemauert zu werden). Ein wesentliches Ergebnis meiner Untersuchung wird – ganz knapp gefasst – lauten: Bei der Frage nach dem Verschwinden des Spiels ist zu beachten, dass für den kulturindustriellen Lustgewinn ein gespieltes Verschwinden des Spiels ein wesentliches Moment ist. Das Unheimliche wird in Teil II mit Lilli Gast (2011b) als ein spezifischer Ausläufer der für den spielerischen Lustgewinn konstitutiven Ambivalenz betrachtet werden. Es wird somit als ein Fluchtpunkt in den Blick genommen, an dem eine Kehrseite des spielerischen Moments zum Vorschein kommt. Überhaupt ist das Unheimliche von Freud – in Anlehnung an Schelling – wesentlich als eine Hervorkehrung, als ein In-Erscheinung-Treten beschrieben worden (vgl. Germer 2006; vgl. II.4). Ist Freud zufolge das Unheimliche (wie man ebenso über das Spiel sagen kann) eine spezifische Darstellungsform der Wiederkehr des Verdrängten (vgl. Freud 1919h), so ist diese Form bestimmt als Schrecken erregende Hervorkehrung von etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen (vgl. ebd., S. 236). Gegenstand sind im Folgenden solcherart Dynamiken der Hervorkehrung und ihrer Beziehung zu unbewussten Prozessen in der Kulturindustrie. Dabei wird insbesondere ein Aspekt von Entfremdung im Fokus stehen. So ist das im Unheimlichen entborgene zu Verbergende Freud zufolge das durch Verdrängung Fremdgewordene (vgl. ebd., S. 254). „Das Unheimliche nämlich sei in Wahrheit das ‚entborgene‘ Heimliche, die Wiederkehr des fremdgewordenen Heimischen, Vertrauten“ (Gast 2011b, S. 351). Dieses Fremdgewordene verweist – so lässt sich an Freud anknüpfen (vgl. II.4) – letztlich auf eine grundlegende Unverfügbarkeit der Subjekte (sich selbst gegenüber und der Objekte): Im Unheimlichen öffnet sich eine Kluft, ein Bruch10, durch den sich nicht nur Nichtrepräsentiertes (als das dem Bewusstsein Entzogene) zeigt, sondern sich das Nichtrepräsentierbare (d.h. konstitutiv Unbewusstes) schreckenerregend geltend macht (vgl. ebd., S. 352). Im unheimlichen Moment erweist sich in schreckenerregender Form ein Ineinander von gesellschaftlich begründeter Entfremdung (s. u.) und die für das Subjekt konstitutive des Unbewussten. Im Unheimlichen, so knüpfe ich an Gast an, kommt in besonderer Weise die konstitutive „Entfremdung und Zerrissenheit“ zum Vorschein, „derer sich das Sub-jekt als Unterworfenes, als 10 | Der Bruch wird in II.2 als ein für die Apparatusdebatte zentrales Motiv herausgearbeitet (s.o.).

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einem konflikthaften Konstitutionsprozess Abgerungenes überhaupt verdankt“ (Gast 2011a, S. 325). Während das Spiel – und vor allem anfänglich dem der Kinder (vgl. Winnicott 1973; Wallon 1950; vgl. I.2) – häufig mit einem welterschließenden Potential als Schlüssel zur Vielfalt von Bedeutungen assoziiert wird, scheint sich hingegen im Unheimlichen, so Gast, der „durchaus auch verstörende Überfluss, die Vieldeutigkeit und der beunruhigende Überschuss an Bedeutung […] in einen „horror vacui“ (Gast 2011b, S. 355) zu verwandeln. Im Unheimlichen tritt, so gesehen, in das Spiel die Nacht und erweist seine innige Verbindung zum Tod – sowohl motivisch (vgl. z.B. Bronfen 1999, 2008) als auch strukturell (vgl. z.B. Freud 1919h; Weber 1981; Gast 2001b). Während im Spiel in libidinösem Überschuss die „lebenszugewandte […] Seite der Ambivalenz“ (Gast 2011b, S. 355) im Vordergrund steht, kann die „Zone des Unheimlichen“ mit Gast als „Chiffre des Todes“ (ebd.; vgl. auch Razinsky 2014) aufgefasst werden (vgl. II.4). Verschiedentlich ist auch die Beziehung der filmischen Erfahrung zum Topos des Todes theoretisiert worden.11 Ein relevanter Fluchtpunkt der in der Apparatusdebatte Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre verhandelten Frage nach der ideologischen Funktion des Kinos ist, wie gezeigt werden wird, ein quasi-totes Subjekt, welches völlig im Apparat eingeschlossen ist. Die Frage Ist das Publikum bruchlos eingeschlossen? wird in diesem Kontext kontrovers diskutiert. Eben solcherart Vorstellung totaler Integration bildet den Ausgangspunkt von Teil II, welcher zunächst mit Adornos Auseinandersetzung mit Huxleys „Brave New World“ (Adorno 1951b) kurzgeschlossen wird. Adorno interpretiert Huxleys Dystopie als eine panische Reaktion auf die schreckenerregende Wahrnehmung einer kapitalistischen Gesellschaft, in der – unter dem waltenden Prinzip des Tauschgesetzes (s. u.) – alles mit Ähnlichkeit geschlagen sei (vgl. ders. 1947a, S. 141; vgl. II.1). Der – für Huxley wie auch für verschiedene Protagonisten der Apparatusdebatte signifikante – Vorstellung totaler Integration haftet Unheimliches an und diese stellt selbst zugleich einen Versuch der Schreckensbewältigung dar, wie ich ausführen werde (II.4). Mit der Apparatusdebatte im Zeitraum zwischen 1968 und 1972 ist ein filmtheoretischer Diskurs ausgewählt, in dem – sowohl in Form metaphorischer Wendungen als auch auf begrifflicher Ebene – das Motiv des Bruchs zentral ist, welches demnach mit dem Unheimlichen in Beziehung stehen kann. Die Ergebnisse der Untersuchung des Motivs des Bruchs (II.2 und II.3) werden in Konstellation mit ästhetischem Material gebracht (II.4). Dessen Herzstück bilden zwei Filmprojekte von Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen – Der Fotomatonreparateur (BRD 1982) und Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten (BRD 1979-81). Im Kinofilm Die fabelhafte Welt der Amélie taucht (scheinbar unversehens) die Idee wieder 11 | So schreibt etwa Döring in Anschluss an Baudrillard (1992), Kinematograph und Film könnten als „‚dinggewordene‘ Gestalten der Abwehr des Todes“ (Döring 2005, S. 20) begriffen werden.

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auf, auf denen die o. g. Filmprojekte basieren: Um Fotofixautomaten herumliegende, weggeworfene Passbilder werden aufgesammelt und in Bewegung versetzt. Mit der Aufnahme dieser Idee in Die fabelhafte Welt der Amélie geht, so werde ich zeigen, eine Glättung der brüchigen Oberfläche der Filme von Müller und Utermöhlen einher (II.4). Gezeigt wird dies u.a. an einer hier spezifischen verschmirgelnden Zusammenführung von Ton- und Bildebene. Dabei jedoch evoziert die Tendenz zur Schließung (wie sie für Die fabelhafte Welt der Amélie charakteristisch ist) eine Brüchigkeit, in der ein unheimliches Moment seinen Sitz hat. In plastischer Weise zeigt sich hierin eine Bewegung, wie sie auch für den Text von Baudry, der in II.3 einer genaueren Lektüre unterzogen wird, charakteristisch ist: Es tauchen im Text wie unter der Hand Formulierungen auf, die gegenläufig zu der intendierten Theoretisierung eines absoluten Einschlusses des Publikums in den kinematographischen Apparat sind. Baudrys Konzeption einer bruchlosen Symbiose von Zuschauendem und Film erweist sich selbst als brüchig und gerät ins Schwimmen. Hier inszeniert sich, so die These, Unheimliches (vgl. auch Witte 2017b). Unter Rückgriff auf die von Adorno und Eisler gemeinschaftlich verfasste Schrift „Komposition für den Film“ (ders. 1969b) erarbeite ich, inwiefern sich in Baudrys Theoriekonzeption diese mit dem unheimlichen Moment verbundene Dynamik der Kulturindustrie fortsetzt (vgl. II.4). Kehrt im Unheimlichen hervor, dass die Kulturindustrie, wie Quadfasel konstatiert, die Erfahrung bereithält, „dass es möglich ist, bei sich selbst nicht ganz zu Hause zu sein“ (Quadfasel 2012, o. S.), so lässt sich – wie kurz gefasst das Ergebnis lauten wird – die Vorstellung totaler Integration auch als Erfahrung eines von Entfremdung ausgehenden Schreckens verstehen. Meine Arbeit ist also aufgespannt zwischen dem Spiel und dem Unheimlichen, die von mir als das kulturelle Erleben strukturierende Modi aufgefasst werden. Handelt es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Weisen, wie sich die grundlegende Ambivalenz des Seelenlebens ausgestalten kann, so jedoch meiner Auffassung nach nicht um getrennte Bereiche oder gar um Gegensätze. Unheimliches und Spiel durchlaufen einander.12 Wie jedeR aus eigener Erfahrung wissen kann, schließen sie sich im Erleben nicht aus. Ich beanspruche im Folgenden nicht, das Verhältnis von Spiel und Unheimlichem zueinander in systematischer und konzeptioneller Hinsicht zu entwickeln. Ausgewiesen und untersucht werden vielmehr Schnittpunkte von Spiel, Unheimlichem und Adornos Kritik der Kulturindustrie, wie sie das untersuchte Material aufweist. Die möglichen Verknüpfungspunkte von Spiel und Unheimlichen mit bestimmten Aspekten von oder Gedankenfiguren aus Adornos Texten sind ein Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem filmtheoretischen und ästheti12 | Das Spiel beruht z.B., wie sich einer Bemerkung McLuhans entnehmen lässt, auf einer unheimlichen Voraussetzung: „Ein Spiel ist ein Automat, der erst funktonieren kann, wenn die Spieler sich bereit erklären, eine Zeitlang zu Marionetten zu werden.“ (McLuhan 1968, S. 258)

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schen Material (nicht aber Gegenstand einer genaueren Ausarbeitung), welches ich nun skizzieren möchte.

4. Kulturindustrie Es finden sich keine systematischen Ausführungen zum Begriff des Spiels oder des Unheimlichen in Adornos Schriften. Wenn überhaupt, tauchen nur sehr vereinzelt Bezüge auf – z.B. in „Ästhetische Theorie“ auf Huizingas Spielbegriff (Adorno 1970, S. 470ff.) und in der „Dialektik der Aufklärung“ (ders. 1947) verweist eine Fußnote zu „Elemente des Antisemitismus“ (ders. 1947d, S. 206, Fn. 1) auf Freuds Schrift „Das Unheimliche (1919h). Im Verlauf meiner Untersuchung haben sich die Topoi von Spiel und Unheimlichem im Wechselspiel zwischen der Befragung der Filmtheorien sowie des ästhetischen Materials und der Auseinandersetzung mit Aspekten von Adornos Kritik der Kulturindustrie herauskristallisiert. Ich verfolge in dieser Arbeit z.B. nicht das exegetische Anliegen nachzuweisen, ob und inwiefern es sich hierbei um versteckte, aber ‚eigentlich‘ für Adornos Schriften zentrale Kategorien handelt (wie z.B. Herding in Bezug auf die Stellung von Freuds Konzeption des Unheimlichen für die „Dialektik der Aufklärung“ annimmt; vgl. Herding 2006b, S. 7).13 Doch die Verknüpfungen von Aspekten des Spiels und des Unheimlichen mit Perspektiven auf Adornos Kritik der Kulturindustrie werfen, wie ich hoffe, neues Licht auf Fragen des Verhältnisses von Unbewusstem und Kulturindustrie. Rettende Kritik Man kann wohl mit Gebur konstatieren, dass es um die Kulturindustrie als „Gegenstand der Wissenschaften […] still geworden“ (Gebur 2002/2003, S. 403) ist.14 Insbesondere die Bedeutung der Psychoanalyse für das Denken Adornos15 insgesamt aber auch speziell für dessen Kritik der Kulturindustrie bildete in den letzten Jahren kein besonders rege beforschtes akademisches Feld.16 Ritserts Beobachtung zufolge bewegt sich die gegenwärtige Rezeption insbesondere von 13 | Eine Untersuchung der Bedeutung von Freuds Schriften für die „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno 1947; vgl. dazu einführend Wiggershaus 1987, S. 338ff.) leistet Rantis 2001. 14 | Es sind wenige Publikationen jüngeren Datums, die aktuelle Problemstellungen kultur- und medienwissenschaftlicher Forschung an Adornos Kritik der Kulturindustrie anknüpfen; z.B. Paetzel 2001; Becker/Wehner (Hrsg.) 2006; Türkmen 2007; Lash/Lury 2007; Knüttel/Seeliger (Hrsg.) 2011; Martin/Resch (Hrsg.) 2014; Jacke 2015. 15 | Insbesondere in den 1970er Jahren wurden Verknüpfungen von Psychoanalyse und marxscher Theorie breiter als heute diskutiert; vgl. u.a. Dahmer 1971; Horn 1972; Vinnai 1977; Lorenzer 1973; später auch Claussen 1988. 16 | Eingehender thematisiert werden Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Kritischer Theorie (Adornos) z.B. in folgenden Publikationen der letzten Jahre: Stapelfeldt

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Adornos Ausführungen zu Kulturindustrie in bemerkenswert verhärteten Bahnen, auf denen sich bestimmte tickets hartnäckig halten (vgl. Ritsert 2014; vgl. II.1). Meist unhinterfragt bleibt in diesem Zusammenhang z.B. die etablierte Lesart der „Kulturindustrie als Motor der Entsubjektivierung“ (ebd.). Von dieser Lesart, die Adornos Kritik häufig als Kulturpessimismus charakterisiert,17 unterscheidet sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, mein Verständnis von Kulturindustrie grundlegend. Kulturpessimistische Lesarten verstehen unter Kulturindustrie im Wesentlichen eine reibungslose „Angleichung der Menschen an die Technik des Marktes und die Technik überhaupt“ (Schwering 2006, S. 359).18 2004; Busch (Hrsg.) 2007; Waniek/Vogt (Hrsg.) 2008; Whitebook 2009; Köchel 2013, S. 147ff.; Kirchhoff/Schmieder 2015; Fong 2016. 17 | Beispiele hierfür sind – in negativer wie positiver Bezugnahme auf die Frankfurter Schule – u.a. Kausch 1988; Göttlich 2003; Prokop 2003, 2005; Hepp 2011. Jacke beispielsweise tritt für eine ‚Entschwärzung‘ der Kritischen Theorie ein (vgl. Jacke 2015, S. 154). Fong vermutet, dass die Verleihung des Attributs pessimistisch gegenwärtig aus einem bestimmten Bedürfnis heraus geschieht: „Whenever I hear mention of this common characterization of the Frankfurt school, I cannot help but feel that theories are not being faulted in such way as to overcome pessimism, but rather that the need to overcome pessimism is fueling a desire to find faulty logics. Indeed, this is the only way I can make sense of claims about the culture industry thesis […] being wrong or dated at a time when the commodification of culture and obedience to blind instrumentalism are so pervasive as to invisible in their obviousness.“ (Fong 2016, S. 133) 18 | So wird, wie Glasenapp (2006, S. 167ff.) hinweist, Adorno einer der beiden Positionen zugeordnet, welche Eco zufolge die Diskussion um Populär- und Massenkultur dominieren: Während die Einen den „Siegeszug“ der Popkultur begrüßen würden, sähen die anderen hierin die Apokalypse (abendländischer) Kultur (vgl. Eco 1989, S. 16). So bezeichnet etwa Goldberg den Kulturindustrie-Abschnitt aus „Dialektik der Aufklärung“ als „markantes Zeugnis pessimistischer Haltung gegenüber Populärem“ (Goldberg 2004, S. 14 zit. n. Glasenapp 2006, S. 169). Lindner weist darauf hin, dass sich schon seit einigen Jahrzehnten die Tendenz bemerkbar macht, das Wort Kulturkritik automatisch mit kulturkonservativen Positionen gleichzusetzen (vgl. Lindner 1983, S. 368). Ein Beispiel hierfür wäre Kauschs Lesart, der (in zustimmender Weise) behauptet, Adorno habe in folgender Weise Kulturindustrie „eindeutig definiert“ (s. u.): „Die Kulturindustrie manipuliert“ (Kausch 1988, S. 85). Was ihm zufolge u.a. bedeutet: „Während die Kunst die Triebe sublimierte, unterdrückt sie die Kulturindustrie“ (ebd., S. 90) und so sei das Resultat „die Entmenschlichung des Menschen […] im Sinne Oswald Spenglers“ (ebd.). Nun schließt sich aber Adorno keineswegs Spenglers These vom Untergang der Kultur an – im Gegenteil kritisiert Adorno Spenglers Verabsolutierung der Annahme eines total angepassten Menschen. Mit dieser Auffassung affirmiere Spengler gerade bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse: „Wenn der Typus des passiv reagierenden Massenmenschen, den Spengler beschreibt, kausalitätslos auf der gleichen Ebene erscheint wie die Konzentration der Macht, die doch als Schlüsselkategorie des ‚Systems‘ und durchs System hindurch den Massenmenschen

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Mein Ausgangspunkt hingegen ist die Einschätzung, dass Adornos Texte in dieser Frage durchaus ambivalente Auskünfte geben. Es sind Ambivalenzen von Adornos Theoretisierungen der Kulturindustrie, die im Folgenden die Folie für die Untersuchung unbewusster Dynamiken bilden. Nicht sollen diese ausgeräumt und ‚geklärt‘ werden, sondern vielmehr soll diesen Ambivalenzen als Verweise auf die konflikthafte Konstitution des Erkenntnisgegenstands nachgegangen werden. Im Zentrum steht dabei eine ganz grundsätzliche Problemstellung, die sich an folgendem Zitat verdeutlichen lässt: „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt.“ (Adorno 1947a, S. 142) Kulturpessimistische Lesarten gehen von einer Einheit des Systems aus (vgl. z.B. Göttlich 2003, S. 47), in welches die Subjekte passgenau eingefasst sind. Meine Lesart konzentriert sich hingegen auf das fast (meint: immer dichter, aber nicht ganz zusammengeschossen). Gerade ausgehend von der Konflikthaftigkeit unbewusster Prozesse soll somit in Betracht gezogen werden, inwiefern – um im Bild zu bleiben – diese Schließbewegung des Zirkels möglicherweise gerade von konflikthaft konstitutierten Lücken angetrieben wird. Weitere Schriften Adornos stützen diese Lesart – insbesondere „Negative Dialektik“ (ders. 1966a), „Ästhetische Theorie“ (ders. 1970), die in den beiden Bänden „Kulturkritik und Gesellschaft“ versammelten Texte (in den Gesammelten Schriften Bd. 10.1 und 10.2) oder „Soziologische Schriften“ (Bd. 8). So äußert Adorno z.B. in seinem Text „Freizeit“ (ders. 1969a) Zweifel am Aufgehen an der „Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewußtsein“ (ebd., S. 653; vgl. II.1). Über die Kulturindustrie als Mittel der Integration und Beherrschung sei viel geschrieben worden, seit er und Horkheimer zwanzig Jahre zuvor den Begriff eingeführt hätten. Fälschlich seien ihre Formulierungen in die Richtung gedeutet worden, „die Kulturindustrie beherrsche und kontrolliere tatsächlich und durchaus das Bewußtsein und Unbewußtsein derer, an die sie sich richtet“ (ebd.). Nimmt man nun gemäß dieser – also bereits seit der Einführung des Begriffs im Kulturindustrie- Abschnitt (ders. 1947a) eingeschliffenen – Lesart an, dass die „Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewußtsein“ (ders. 1969a, S. 653; s.o.) aufgeht (vgl. II.1), so wird m.E. ein kritisches Erkenntnispotential der Kritischen Theorie Adornos verschenkt,19 welches auf Benjamins Begriff materialistischer Gesellschaftskritik als rettender Kritik verweist: „Gegenstand der Geschichte ist dasjenige, an dem die Erkenntnis als dessen Rettung vollzogen wird.“ (Benjamin 1983, S. 595f.) Dieserart Rettung geht über die Sondierung subversiver Tendenzen einerseits wie über die Feststellung totalen Zwangs erst produziert und reproduziert, dann wird es möglich, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse aufs Schicksal und den Stundenschlag der Kulturphasen zu nivellieren und wohl gar dem ohnmächtigen Massenmenschen metaphysisch die Schmach aufzubürden, die ihm historisch von den Cäsaren angetan wird.“ (Adorno 1950, S. 59f.) 19 | Vgl. zu Adornos Kritikbegriff z.B. Djassemy 2002, S. 278ff.

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in der Massenkultur andererseits hinaus, sondern zielt auf die Einsicht in die Verwicklung emanzipatorischer Momente in kulturelle Sedimente gesellschaftlicher Herrschaft. „Der geringste Rest von Nichtidentität genügte, die Identität, total ihrem Begriff nach, zu dementieren.“ (Adorno 1966a, S. 33) Der Gegenstand von Adornos Kritik ist das mit dem kapitalistischen Tauschverhältnis verbündete Identitätsprinzip, doch die Kritik versteht sich keineswegs als identisch mit ihrem Gegenstand (insofern sie nicht auf Identität von Begriff und Gegenstand zielt). Wie Kirchhoff unterstreicht, steht die Kritische Theorie Adornos ebenso wie die Psychoanalyse „für jene Lücken“ ein, „die negativ darauf verweisen, dass Freiheit möglich ist“ (Kirchhoff 2011/2012, S. 1; vgl. Adorno 1966a, S. 41). Genau in diesem widersprüchlichen Spannungsverhältnis zwischen dem „Gedanken der Totalität – des totalen Scheins, der totalen Integration –“ (Djassemy 2002, S. 42) und der Ausrichtung auf die Deutung dessen, was hierin nicht aufgeht, entfaltet sich Adornos Kritische Theorie. An verschiedener Stelle greift Adorno in diesem Zusammenhang von Freud die Formulierung Abhub auf. Abhub Freud nennt in der zweiten der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ den „Beobachtungsstoff“ der Psychoanalyse einen „Abhub der Erscheinungswelt“ (Freud 1916/1917a, S. 20). Als Abhub bezeichnete man „ursprünglich das, was auf der Tafel stehengeblieben ist und dann ungegessen weggeräumt wird, ein[en] Rest“ (Prasse 2004, S. 108f. zit. n. Härtel 2006, S. 136; vgl. auch Härtel 2014c). Die Psychoanalyse nehme sich auch jener „unscheinbaren Vorkommnisse“ an, „die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite geworfen werden“ (Freud 1916/1917a, S. 20). Es geht in dieser Vorlesung – die übrigens selbst ‚Abseitiges‘ (nämlich Fehlleistungen wie Versprechen, Verlegen, Verwechseln etc.) zum Gegenstand hat – aber um mehr als um eine Verteidigung der psychoanalytischen Beschäftigung mit Phänomenen, die laut Freud aus der Sicht des damalig gängigen Wissenschaftsverständnisses als Kuriositäten erscheinen. Herausgestellt wird in diesem Zuge eine Besonderheit des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses gegenüber anderen Wissenschaften, welche für Adornos Verwendung der Formulierung Abhub von Belang ist. Adorno grenzt dies Spezifische der psychoanalytischen Erkenntnisweise gegenüber – grob gesagt – positivistischem Denken ab und hält damit ein s.E. kritisches Potential freudschen Denkens fest. Freud seinerseits zieht an dieser Stelle einen Vergleich zwischen Psychoanalyse und Medizin. So führt er in der vorhergehenden ersten Vorlesung aus: Im medizinischen Unterricht sei man daran gewöhnt worden „zu sehen“, vorgeführt bekämen die Medizin-Studierenden „das anatomische Präparat, den Niederschlag bei der chemischen Reaktion, die Verkürzung des Muskels als Erfolg der Reizung seiner Nerven“, ihnen würden Kranke mit ihren Symptomen präsentiert, sie würden „Zeugen der Eingriffe, durch welche man dem Kranken Hilfe leistet“ (ebd., S. 9). Auf diese Weise nehme „der medizinische Lehrer“ die Rolle eines Führers

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durch ein Museum ein, in dem die Studierenden in unmittelbaren Kontakt mit den Objekten kämen und sich so durch „eigene Wahrnehmung von der Existenz der neuen Tatsachen überzeugt zu haben glauben“ (ebd.). In der Psychoanalyse hingegen sei „leider alles anders“ (ebd.). Müsste man sich nicht fragen, so Freud in der darauffolgenden Vorlesung, ob es „nicht sehr bedeutungsvolle Dinge“ gebe, „die sich unter gewissen Bedingungen und zu gewissen Zeiten nur durch ganz schwache Anzeichen verraten können“ (ebd., S. 20)? Dieser Spur folgend könne sich „infolge des Zusammenhanges, der alles mit allem verknüpft, auch das Kleine mit dem Großen, […] ein Zugang zum Studium der großen Probleme ergeben“ (ebd., S. 20f.). Ein Versprecher, der als kleiner Ausrutscher am Rande erscheinen mag, eröffnet sich psychoanalytischer Deutung als bedeutsames Symptom für verdrängte Konflikte und als möglicher Gegenstand des Studiums der Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten. Im Unterschied zum scheinbar unmittelbaren Kontakt mit dem Gegenstand im Museum des medizinischen Unterrichts, liegt das Unbewusste demnach nicht unmittelbar vor, sondern erschließt sich durch Deutung auch und gerade dessen, was als Abhub häufig verworfen wird. Deutung In „Negative Dialektik“ (Adorno 1966a) greift Adorno diesen Gedanken an einer Stelle auf und kritisiert, „das wissenschaftliche Ordnungsbedürfnis“ rede den Subjekten „gewalttätig“ aus, „über Relevantes, mit der Gefahr des Irrtums, nachzudenken“ (ebd., S. 172). Der Positivismus gebe sich stets „zufrieden mit der Vorderwelt, der er abkauft, was sie ihm mit Worten und stumm aufschwatzt“ (ebd.) – dieser, so könnte man sagen, trage also gerade nicht an schwache Anzeichen die Erwartung eines Zusammenhangs heran (vgl. Freud 1916/17a, S. 20f.; s.o.). Der Zusammenhang, auf den Adornos Erkenntnisinteresse zielt, ist die gesellschaftliche Totalität. Diese deute sich, damit knüpft er an Freuds Verwendung der Formulierung Abhub an, in Faktischem an, müsse aber als zu Interpretierendes ergriffen werden. Und hierin liegt auch eine wesentliche Differenz zu den Annahmen einer aufgehenden Gleichung (s.o.), wie in Adornos Ausführungen zur Relevanz der Deutung für die Soziologie deutlich wird: „Daß ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine handfeste Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist, daß es jedoch nur soweit erkannt werden kann, wie es in Faktischem und Einzelnem ergriffen wird, verleiht in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht.“ (Adorno 1969c, S. 315) Der Blick auf das „fürs Verdikt des Weltlaufs Unwesentlich[e], an den Rand Geschleudert[e]“ sei, so heißt es in „Negative Dialektik“, derjenige „auf den Freudschen ‚Abhub der Erscheinungswelt‘“ (ders. 1966a, S. 172). Dieser Blick folge „der Intention aufs Besondere als das Nichtidentische“ (ebd.). So habe „die Philosophie ihren Gegenstand eigentlich an genau dem […], worum sie, ihrem eigenen Ansatz nach, im allgemeinen sich bringt: an dem Abhub des Begriffs; also an dem, was nicht selber

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Begriff ist“ (ders. 1965/1966, S. 95f.).20 Gemeint ist damit nicht etwas vom Begriff noch nicht Ergriffenes, sondern etwas nicht auf den Begriff zu Bringendes, auf welches aber – als ein solches – hin gedacht werden kann. Die Möglichkeit kritischer Erkenntnis hänge daran, „ob dieser Prozeß des Aufdröselns gelingen kann; ob es also der Selbstreflexion des Begriffs möglich ist, eben dadurch die Mauer zu sprengen, die der Begriff durch sein eigenes begriffliches Wesen um sich und um das, worauf er geht, legt.“ (Ebd., S. 96) In eben diesem Sinne verstehe ich auch meine Auseinandersetzung mit den filmtheoretischen Begrifflichkeiten: Als Aufdröseln (vgl. Härtel 2014b, S. 10; s.o.) von vielleicht auf den ersten Blick nebensächlichen Formulierungen (Mehr als nur, aber nicht Zuviel; Quasi). Die Deutungen dieses Randständigen filmtheoretischer Begrifflichkeiten zielen auf eine Entschlüsselung von in der Kulturindustrie wirksamen konflikthaften, unbewussten Dynamiken – man kann auch sagen: auf die Rekonstruktion ihres unbewussten Zusammenhangs. Dies ist etwas anderes, als – wie kulturpessimistische Auslegungen nahelegen – einen (an der Oberfläche unmittelbar abzulesenden) totalen Immanenzzusammenhang am Gegenstand zu konstatieren. Zugleich aber wird der Abub im Sinne eines Symptoms für eine dieses konstituierende Konflikthaftigkeit wiederum auch nicht als subversives, progressives Potential identifiziert (vgl. z.B. Jacke 2015, S. 156). Hier geht es vielmehr darum, solcherart Symptome im Sinne rettender Kritik als Niederschläge widersprüchlicher Dynamiken zu interpretieren, die der Kulturindustrie zugrunde liegen wie zugleich – negativ (s.o.) – über das Bestehende hinausweisen.21 Theoretische Symptome Ein theoretisches Symptom stellt meinem Verständnis nach einen Abhub im obigen Sinne dar.22 Ich lege damit ein recht weites Verständnis von dem an, was unter theoretischen Symptomen verstanden werden kann. Sie bezeichnen in meiner Arbeit zunächst sprachliche Kristallisationspunkte, die in wissenschaftlichem Denken gewissermaßen eine Bühne unbewusster Dynamiken der Kulturindustrie darstellen. Dabei können theoretische Symptome durchaus im Einklang mit Spielregeln diskursiv-wissenschaftlichen Denkens stehen. Theoretische Sympto-

20 | Adorno greift auch anderen Stellen auf den Abhub zurück, s. z.B. Adorno 1927, S. 232; 1931, S. 336; 1966, S. 172; 1968a, S. 34f.; 1968b, S. 188; 1953b, S. 262. 21 | Vgl. dazu insbesondere I.5 und II.5. 22 | Meine Verwendung des Begriffs Abhub beansprucht hier keinen systematischen oder methodologischen Stellenwert. Er dient an dieser Stelle lediglich dazu, meine Forschungsperspektive zu illustrieren. Härtel erschließt derzeit den Begriff des Abhubs für kulturwissenschaftliche Forschung im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Messie“ mit Methode: Wohnmüll im TV-Format (AT)“. Hier befasst sich Härtel mit Funktionsweisen kultureller Reinigungsrituale in sogenannten ‚Messie-Sendungen‘, unter Einbeziehung von Entwürfen ‚unsauberer‘ Methoden (vgl. Härtel 2006; 2014c; 2016).

Einführung

me sind somit nicht notwendig – wie ich bereits unterstrichen habe – als konzeptionelle Schwachstellen zu verstehen. Im psychoanalytischen Sinne gelten Symptome als Bildungen der Mechanismen des Unbewussten. Theoretische Symptome können verstanden werden als Verdichtungen, in denen sich die manifeste Aussage als eine „abgekürzte Übersetzung“ darstellt (Laplanche/Pontalis 1972, S. 580). „Wenn jedes manifeste Element durch mehrere latente Bedeutungen determiniert ist, so kann umgekehrt jede dieser Bedeutungen sich in mehreren Elementen wiederfinden; andererseits gibt es keinen gemeinsamen Bezugspunkt für das manifeste Element und jede seiner Bedeutungen, die es repräsentiert: es faßt sie folglich nicht zusammen, wie das ein Begriff tun würde.“ (ebd., S. 580f.) Deutung zielt darauf, diese Überdeterminiertheit eines Elements zu dechiffrieren – im Folgenden werden die Formulierungen Quasi und Mehr als nur, aber nicht Zuviel gleichsam aufgeblättert und hiervon ausgehend durch die Texte hindurch als Äußerungen der Wirksamkeit konflikthafter Strebungen offengelegt. Zum anderen können die Textsymptome als Produkte des Mechanismus der Verschiebung angesehen werden: „Das Symptom stellt wie der Traum etwas als erfüllt dar, […] aber durch äußerste Verdichtung kann diese Befriedigung in eine einzige Sensation […] gedrängt, durch extreme Verschiebung auf eine kleine Einzelheit des ganzen libidinösen Komplexes eingeschränkt sein.“ (Freud 1916/1917a, S. 381) Als Abhübe, als scheinbar unbedeutende Details, erscheinen auf den ersten Blick Formulierungen wie Quasi oder Mehr als nur, aber nicht Zuviel. Und eben diese scheinbaren Nebensächlichkeiten sind Freud zufolge ein mögliches Resultat einer Leistung des Unbewussten. So hält dieser in Bezug auf die Verschiebung fest: „Ihre beiden Äußerungen sind erstens, daß ein latentes Element nicht durch einen eigenen Bestandteil, sondern durch etwas Entfernteres, also durch eine Anspielung ersetzt wird, und zweitens, daß der psychische Akzent von einem wichtigen Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht“ (ebd., S. 177). So spricht Rancière in Bezug auf Kunst von einem „‚unbedeutenden‘ Detail“, welches als „direkte[r] Niederschlag einer unartikulierbaren Wahrheit“ angesehen werden kann, das „jede wohlgefügte Logik der Geschichte“ durchkreuzt (Rancière 2006, S. 46). Vergleichbar geht es in meinen Untersuchungen um die Anordnungen scheinbar nebensächlicher Details in theoretischen ‚Geschichten‘ des filmischen Realitätseindrucks. Theoretische Symptome werden so als Hinweise auf unbewusste Dynamiken ‚aufgedröselt‘ (s.o.), welche die ‚wohlgefügten Logiken‘ der Kulturindustrie wie auch ihre Theoretisierungen durchkreuzen. Kultur-Industrie Unter Kulturindustrie verstehe ich eine „Dimension von Vergesellschaftung“ (Steinert 2008, S. 9). Kulturindustrie ist insofern, wie Steinert festhält, „mehr als eine bestimmte Produktions- und Vertriebsform bestimmter – eben kultureller – Waren und Dienste“ (ebd.; vgl. auch Behrens 2004, S. 40ff.). Verstanden als Gegenstand von Gesellschaftskritik geht es nicht, wie Jameson unterstreicht, um eine für sich stehende „Theorie der Kultur“ (Jameson 1992, S. 182). Während

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jedoch Jameson betont, stattdessen sei Kritik der Kulturindustrie als „Theorie einer Industrie“ zu fassen und dementsprechend Kulturindustrie als ein Geschäftszweig, „der Geld aus dem schlägt, was für gewöhnlich Kultur genannt wurde“ (ebd.; vgl. dazu in kritischer Abgrenzung Hesse 2003), steht in dieser Arbeit die Frage nach Dynamiken im Verhältnis von kulturellen Objekten und KonsumentInnen im Vordergrund. Es geht demnach nicht allein um die Tatsache des Warencharakters von kulturellen Gütern als solcher, sondern darum, wie sich dieser konkret niederschlagen kann. So hält auch Adorno fest: „Der Ausdruck Industrie ist […] nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang.“ (Adorno 1963, S. 339) Jamesons Formulierung ‚Geld aus dem schlagen, was für gewöhnlich Kultur genannt wurde‘ kann die Annahme nahelegen, es handele sich bei der Kulturindustrie im eigentlichen Sinne nicht mehr um Kultur, sondern mittlerweile um eine Industrie. Statt von dieser Art der Entgegensetzung von Industrie und Kultur kann man gerade auch von der Verbindung der Termini ausgehen, wie sie der Begriff Kulturindustrie eben herstellt. Kritik der Kulturindustrie ließe sich dann verstehen als kritische Bestimmung von Prozessen und Charakteristiken (wie z.B. Standardisierung und Rationalisierung) gegenwärtiger Kultur unter kapitalistischen (was auch heißt: gesamtgesellschaftlich unter massenindustriellen) Bedingungen. Diese Prozesse können sich in sehr verschiedener Weise äußern – so stehen demnach etwa Ausdifferenzierungen einzelner Sparten und Produkte, auch unterschiedlicher Geschmäcker des Publikums, nicht in Widerspruch zum Prozess der Standardisierung, sondern sind Adorno zufolge im Gegenteil Vehikel seiner Durchsetzung (vgl. Babenhauserheide 2015, S. 90ff.). Und so besteht m.E. für eine Kritik der Kulturindustrie der Deutungsauftrag zentral darin, diese verschiedenen Erscheinungsweisen jener Grundprinzipien von Standardisierung und Rationalisierung zu dechiffrieren. So unterlaufen nicht nur Adornos Bestimmungen die hier nahegelegte Entgegensetzung von Kultur oder Industrie, sondern das Unterlaufen von Grenzziehungen kann auch als ein wesentliches Strukturmerkmal von Kulturindustrie selbst gelten. Darunter zählt z.B. auch die zwischen hoher Kunst und niederer Amusier-Kultur und die zwischen Mainstream (wie zum Blockbuster-Kino) und alternativen Sparten (wie z.B. dem Arthouse-Cinema).23 Dieser Auffassung folgend deckt die Auswahl des in mei23 | „Die Exzentrizität von Zirkus, Panoptikum und Bordell zur Gesellschaft ist ihr [der Kulturindustrie] so peinlich wie die von Schönberg und Karl Kraus. […]. Neu […] ist, daß die unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel gebracht werden: die Totalität der Kulturindustrie.“ (Adorno 1947a, S. 157f.) Im Unterschied dazu verhandelt z.B. Duarte als einen Effekt der Globalisierung die ‚Unterdrückung‘ von – von ihm sogenannter – „volkstümliche[r] Kultur“ durch die Kulturindustrie (s. Duarte 2009).

Einführung

ner Arbeit verwendeten ästhetischen Materials eine Spannbreite von zeitgenössischer Kunst über experimentelle und subkulturelle Film-Projekte bis hin zum Mainstream-Kinofilm Die fabelhafte Welt der Amélie (s.o.) ab. „Es gibt keine Kultur außerhalb der Kulturindustrie.“ (Steinert 2008, S. 10) Dies gilt auch, wie Djassemy festhält, für Kulturkritik selbst – keine Kritik der Kulturindustrie steht außerhalb derselben.24 Die „Verstrickung“ der Kulturkritik „in ihr eigenes Objekt“ (Djassemy 2002, S. 39) ist nicht nur, wie Djassemy hinweist, ein zentrales Motiv in Adornos kulturkritischen Schriften, sondern auch Medium kritischer Erkenntnis: Hingegen „Kulturkritik, die vorgibt, einen Standpunkt außerhalb von Kultur und Gesellschaft [...] zu vertreten, verkennt nicht nur die eigene historische Bedingtheit, sondern sie entzieht sich auch der Möglichkeit, in den eigenen Widersprüchen die Unwahrheit des Ganzen zu thematisieren“ (ebd.). Ideologiekritik Diese Auffassung, es handele sich bei Adornos Kritik der Kulturindustrie weder um eine ‚reine‘ Theorie der Kultur einerseits noch um die Theorie einer Industrie andererseits, legt Gewicht auf einen ideologiekritischen Zugang zu kulturindustriellen Phänomenen. Adorno grenzt sich einerseits gegen „Kulturkritik“ im Sinne einer „immanente(n) Kritik der Kultur“ (Adorno 1951c, S. 23; vgl. II.1) ab und kritisiert begriffliche „Abspaltung[en] der Kultur vom materiellen Lebensprozeß“ (von Wussow 2007, S. 44). Wer – Adornos Beispiel ist die idealistische Philosophie – von einer Eigenständigkeit der kulturellen Sphäre gegenüber dem „materiellen Lebensprozeß“ (d.h. der Art und Weise, wie gesellschaftliche Produktion und Zirkulation der Güter geregelt ist) ausgehe, unterschlage „das Entscheidende, die jeweilige Rolle der Ideologie in den gesellschaftlichen Konflikten“ (Adorno 1951c, S. 23). Ganz grob gesagt, folgt Adorno dabei zunächst vorgängiger marxistischer Ideologiekritik von bürgerlicher Theorie als Fetischisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und geht zugleich einen entscheidenden Schritt hierüber hinaus: Es könne „nicht mehr, wie in der traditionellen Ideologiekritik, die hehren Ideale des ‚Überbaus‘ umstandslos der von Ausbeutung geprägten ‚Basis‘ konfrontiert werden oder jene auf diese zurückgeführt werden“ (Djassemy 2002, S. 40). Ideologiekritik selbst unterliegt demnach „einer historischen Dynamik“ (Adorno 1951c, S. 23). Deren Bedingungen sieht Adorno – und Auschwitz stellt hier die historische Zäsur für ihn dar (vgl. I.1) – seit Marx entscheidend verändert: Das Credo der traditionellen Ideologiekritik ‚Das Sein bestimmt das Bewußtsein‘ 24 | Oder wie Babenhauserheide im Rahmen ihrer ideologiekritischen Untersuchung der „Harry-Potter“-Reihe feststellt: „So, wie es nicht möglich ist, aus der Kulturindustrie auszubrechen, ohne hinterm Mond zu bleiben, sich über sie zu stellen, ohne ein besonders verhärteter Teil von ihr zu sein, sie subversiv zu unterwandern, ohne eine neue ihrer Nischen und Sparten zu schaffen, gibt es auch kein richtiges Lesen [sic] im Falschen. Die einzige Chance liegt darin, den Hebel an den Widersprüchen der Kulturindustrie anzusetzen, die die Möglichkeit des Umschlags beinhalten.“ (Babenhauserheide 2015, S. 581)

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sei in gewisser Weise in die gegenwärtige Ideologie selbst eingesickert und „zu einem Mittel geworden, alles nicht mit dem Dasein einverstandene Bewußtsein zu eskamotieren“ (ebd.). Eine pragmatische habe die kritische Einsicht in die „Abhängigkeit des Überbaus vom Unterbau“ abgelöst, „[s]eitdem jedes avancierte wirtschaftspolitische Gremium es für selbstverständlich hält, daß es darauf ankomme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet, sie zu interpretieren“ (ebd., S. 24). Es ist eine entscheidende Frage, die sich hieraus ergibt: Folgt daraus, Interpretation für ‚Allotria‘ zu erachten, dass die Welt in diesem Fall tatschlich nicht interpretiert wird? Würde dies nicht letztlich die Annahme bedeuten, dass hier Begriff und Sache de facto zusammenfallen? Demnach gäbe es letztlich aus ideologiekritischer Sicht an dieser Vorstellung nichts zu deuten. Dies ist eine Möglichkeit, Adornos Diagnose eines Ideologieverfalls zu verstehen (vgl. Djassemy 2002, S. 41), welche mit kulturpessimistischen Lesarten korreliert (vgl. auch Witte 2013). Verdoppelte aber diese Annahme wiederum nicht gewissermaßen, was Adorno zufolge ein wesentliches Charakteristikum von Ideologie selbst ist, nämlich „die Distanz des Gedankens zur Realität“ (Adorno 1951a, S. 141) herabzusetzen? Eine andere Möglichkeit ist, diese Deutung (dass es nichts zu deuten gäbe) wiederum einer ideologiekritischen Deutung zu unterziehen. Gerade „[w]eil die Integration Ideologie ist, bleibt sie selbst als Ideologie brüchig“ (Adorno 1959, S. 101). Vor dem Hintergrund dieser Diagnose hält Adorno an bestimmten Pfeilern traditioneller Ideologiekritik fest, geht aber zugleich davon aus, dass sich die Faktur der Ideologie im Spätkapitalismus entscheidend transformiert habe. Deren Funktion bestünde nicht primär in fetischistischer Idealisierung der Wirklichkeit (als klassischem Gegenstand marxistischer Kritik), sondern Ideologie habe bei gleichzeitiger Übernahme eines irgendwie gearteten Veränderungsanspruchs weitgehend die Form resignativer Kapitulation vor dem Gegebenen angenommen – was natürlich auch Folgen für den Begriff von Ideologiekritik hat. Nach dem Nationalsozialismus könne sich Ideologiekritik nicht länger darauf beschränken, „nach den bestimmten Interessenlagen zu fahnden“ (ebd., S. 25), die Adorno angesichts der Shoah als „zynische Reduktion der Ideologie auf materielle Zwecke“ (Djassemy 2002, S. 41) kritisiert. Somit ist der „im linken Diskurs lange Zeit beliebte Gegensatz von ‚immanenter versus transzendenter Kritik‘“ für Adorno eine „falsche Alternative“ (ebd., S. 43f.). Als Verfahren der Deutung kultureller (und im engeren Sinne ästhetischer) Produktionen versteht sich diese Kulturkritik als Teil einer Kritischen Theorie der Gesellschaft. Kulturkritik in diesem Sinne ist gesellschaftliche Physiognomik (ebd.). Ohne physiognomischen Blick verarme gesellschaftliche Erkenntnis „unerträglich“ (ders. 1969c, S. 315), diese sei auf ein Aufdröseln (s.o.) ‚immanenter Formprinzipien‘ kultureller Produktionen angewiesen. Ausgehend von Adornos Diagnose einer ideologischen Krise bzw. der Krise von Ideologie auch im Sinne eines Zerfallens bürgerlicher Ideale lässt sich ein re-

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levanter Aspekt des von mir in Teil I untersuchten Materials hervorheben. Die Filmologen können hier als Vertreter von bürgerlicher Ideologie alter Schule betrachtet werden, die Arbeiten des zeitgenössischen Künstlers Santiago Sierra hingegen verweisen auf die von Adorno konstatierte aktuelle widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Veränderungsanspruch und Resignation, die mit einem scheinbaren Deutungsverzicht einhergeht. Während die Filmologen dem Kino das Potential zuschreiben, zur gesellschaftlichen Verwirklichung von Idealen wie Freiheit, Fortschritt und Humanismus beizutragen, enttarnen die performanceartigen Aktionen von Sierra dieserart Ideale als bloße Verschleierung von kapitalistischer Ausbeutung. In verschiedener Hinsicht können filmologische Theorien und Sierras Inszenierungen als Gegenpositionen im Streit über das spielerische Moment betrachtet werden. Mich interessiert im Folgenden, was sich aus einer immanent ansetzenden Deutung der Konstellation dieser ideologischen Gegenspieler bezüglich des spielerischen Moments an Erkenntnis gewinnen lässt – gefragt ist hier also ein physiognomischer Blick. Die Filmologen sehen im Kino ein bestimmte Ideale der Kunst potentiell vollendendes Spiel, Sierras Inszenierungen hingegen markieren gerade das Spielerische als bloße Ideologie. Man könnte demnach sagen: Über das Spiel wird von Sierra der Urteilsspruch ‚Allotria‘ verhängt. Auf der Oberfläche von Sierras Arbeiten inszeniert sich eine Anfeindung des spielerischen Moments, welche die kulturtheoretische These vom Verschwinden des Spiels zu bestätigen scheint (s.o.). In bestimmter Hinsicht aber, so wird sich im Folgenden erweisen, sind die filmologische Verteidigung des Spielerischen und Sierras Angriff wechselseitig aufeinander bezogen, ihr gemeinsamer Treffpunkt liegt in humoristischen Momenten. Im gegenseitigen Ausspielen ihrer Positionen, so wird mein Ergebnis lauten, wird in beiden Fällen durch dieses vermittelt spielerischer Lustgewinn gewonnen. Aus dieser Sicht stellt sich die Absage an ‚Allotria‘ selbst als eine Form des Spiels dar, dessen Lustgewinn auf einer im Seelenleben sich vollziehenden Absetzung von den spielfreundlichen Gegnern und zugleich von der sonstigen, nicht-spielerischen Lebensrealität beruht. Diese Absetzung ist für Adornos Kritik der Kulturindustrie entscheidend, die wieder zu der Frage zurückführt, wie Adorno den Gegenstand von Kulturkritik fasst. Warenförmig Wie z.B. Steinert unterstreicht, ist die Warenförmigkeit zweifellos die zentrale Bestimmung der Kulturindustrie (vgl. Steinert 2008). Zugleich ist aber damit noch nicht deren Spezifisches erfasst. Denn Warenförmigkeit ist nicht Sache der Kulturindustrie allein, sondern, wie es bei Marx heißt, die Elementarform, in welcher der Reichtum kapitalistischer Gesellschaft erscheint. „Großartig bekundet sich die Einheit von Kritik im wissenschaftlichen und metawissenschaftlichen Sinn im Werk von Marx: es heißt Kritik der politischen Ökonomie, weil es aus Tausch und Warenform und ihrer immanenten, ‚logischen‘ Widersprüchlichkeit das seinem Existenzrecht nach zu kritisierende Ganze herzuleiten sich anschickt.“

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(Adorno 1969c, S. 307) Wenn sich demnach aus der Form der einzelnen Ware das zentrale Prinzip ableiten lässt, auf dem die kapitalistische Gesellschaft insgesamt beruht, dann kann mit dem Warencharakter der Kultur das Spezifische der Kulturindustrie nicht hinreichend bestimmt sein. So heißt es etwa in Bezug auf die Kunst: „Nicht an sich sind die Produktivkräfte in den Kunstwerken verschieden von den gesellschaftlichen“ (ders. 1970, S. 351). Entscheidend ist in Bezug auf die Kunst für Adorno, welche Position die einzelnen Werke zu diesem Sachverhalt (dass es als einzelnes Kulturgut auf die Gesamtheit aller Waren bezogen ist) beziehen. Gibt es für Adorno in dieser Hinsicht mehr und weniger gelungene Kunstwerke, eigen ist ihnen zunächst allen, dass ihnen „eine konstitutive Absentierung von der realen Gesellschaft“ (ebd.) eigen ist.25 Aber eben diese Absetzung stellt, wie im Folgenden Thema sein wird, so etwas wie eine Krisenzone ästhetischer Inszenierungen dar (vgl. I.1). Betrifft dieses krisenhafte Moment die Stellung des Ästhetischen zur sonstigen Realität (vgl. dazu Gorsen 1981), so macht sich hierin – dies ist der Ausgangspunkt von Teil I – auch eine Krise des spielerischen Moments in der Kulturindustrie geltend. Diese hängt direkt mit der Frage nach der Spezifik der Kulturindustrie zusammen. Für die Kulturindustrie gilt Adorno zufolge, dass sich hier „[f]reilich […] der Tauschwert auf besondere Weise“ (ders. 1938, S. 25; Herv. S. W.) durchsetzt. Das Spiel und das Unheimliche können – so die These – als solch spezifische Formen dieser besonderen Weise der Durchsetzung des Tauschwerts betrachtet werden. Arbeit und Freizeit Diese besondere Art der Durchsetzung des Tauschwerts in der Kulturindustrie hängt mit dem Verhältnis der Sphären von Produktion und Reproduktion, Arbeit und Freizeit zusammen (vgl. I.5; vgl. hierzu Djassemy 2002, S. 39ff.). Für den Freizeitcharakter des kulturindustriellen Konsums ist zunächst das spielerische Moment zentral. Idem Text „Freizeit“ (Adorno 1969a) spricht Adorno davon, dass der Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit dem „Bewußtsein und Unbewußtsein der Menschen […] als Norm eingebrannt worden“ (ebd., S. 647) sei. Im Bereich der Kulturindustrie seien „die Menschen wenigstens subjektiv überzeugt […], nach eigenem Willen zu handeln“ und dieser Wille sei „gemodelt […] von eben dem, was sie in den Stunden ohne Arbeit loswerden wollen“ (ebd., S. 645). Adorno und Horkheimer sprechen im Kulturindustrie-Abschnitt in der „Dialektik der Aufklärung“ vom Amusement als der „Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus“ (ebd. 1947a, S. 158). Diese Verlängerung, so betont Adorno an anderer Stelle, mache sich „hintenherum“ (ders. 1958/59, S. 73) geltend. Hier deutet sich die Annahme eines widersprüchlichen Verhältnisses von Absetzung und gleichzeitiger Verlängerung an, die von Adorno als bestimmend für das kulturelle Erleben angesehen wird. 25 | Vgl. dazu auch Liessmann 1995.

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Eine mögliche – und vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Lesarten durchaus überraschende – Konsequenz dieses Sachverhalts erläutert Adorno in „Freizeit“ an niemals ausgewertetem Material einer vom Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ durchgeführten Befragung anlässlich der Hochzeit von der niederländischen Prinzessin Beatrix und dem deutschen Diplomaten Claus von Amsberg im Jahr 1966 (vgl. hierzu Djassemy 2002, S. 313f.). Es ist der dem Interviewmaterial zu entnehmende Als-Ob-Modus (der als zentral für das Spiel erachtet wird; s.o.), in dem die massenmediale Berichterstattung über die Vermählung rezipiert wurde, der Adorno veranlasst, gegenüber der Annahme einer totalen Manipulation einzuwenden: „Mit aller Vorsicht möchte ich sagen, daß derlei Erwartungen zu simpel waren.“ (Adorno 1969a, S. 654)26 Es zeigt sich hieran, dass die Frage der manipulativen Wirkung der Kulturindustrie (vgl. Witte 2009) keineswegs „eindeutig“ (Kausch 1988, S. 84) für Adorno geklärt und erledigt ist. Einerseits sei dem Interviewmaterial zu entnehmen gewesen, dass der Hochzeit große Aufmerksamkeit geschenkt worden sei, auf die Frage jedoch, welche politische Bedeutung die Befragten dem Ereignis zumaßen, verhielten sich diese laut Adorno plötzlich ganz realistisch – und das heißt: sie nahmen seinem Eindruck nach das Geschehen in einem spielerischen Modus des Als-Ob wahr. Aus dieser uneindeutigen Haltung der Befragten zieht Adorno an dieser Stelle den Schluss, dass das von der Kulturindustrie Gebotene „zwar konsumiert und akzeptiert [wird], aber mit einer Art von Vorbehalt, ähnlich wie auch Naive Theaterereignisse oder Filme nicht einfach als wirklich hinnehmen. Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz dran geglaubt. Die Integration von Bewußtsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen.“ (Adorno 1969a, S. 654f.) Der spielerische Als-Ob-Modus wird hier als Symptom eines „gedoppelten Bewußtseins“ (ebd., S. 654) bezeichnet und als Einwand gegen die Annahme gewertet, Kulturindustrie und ihre KonsumentInnen seien einander adäquat. Der spielerische Modus als Symptom dieser Inadäquatheit stimme mit der „gesellschaftlichen Prognose [überein], daß eine Gesellschaft, deren tragende Widersprüche ungemindert fortbestehen, auch im Bewußtsein nicht total integriert werden kann“ 26 | Auch in den Vorlesungen zur „Einleitung in die Soziologie“ (1968a) kommt Adorno in diesem Zusammenhang auf die Erhebungen bezüglich der Hochzeit von Prinzessin Beatrix und Claus von Amsberg zu sprechen. Hier heißt es: „Wir alle sind bis zu einem gewissen Grade davon ausgegangen, daß die gegenwärtige Kulturindustrie, zu der man alle Mächte der gesellschaftlichen Integration in einem weiteren Sinne hinzurechnen kann, tatsächlich die Menschen so macht, so prägt oder zumindest so erhält, wie sie nun einmal sind. Es steckt darin aber wirklich etwas Dogmatisches und etwas Unüberprüftes […]. Und es wäre eigentlich die wichtigste Aufgabe, so will es mir scheinen, der empirischen Sozialforschung heute, im Ernst einmal dahinter zu kommen, wie weit denn nun wirklich die Menschen so sind und so denken, wie sie von den Mechanismen gemacht werden. Wir haben Anhaltspunkte durch Arbeiten im Institut für Sozialforschung, die wir leider noch nicht weit genug haben treiben können“. (Adorno 1968a, S. 255f.; vgl. I.1)

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(ebd., S. 655). Adorno betont hier: „Es geht nicht glatt, gerade in der Freizeit nicht, die die Menschen zwar erfaßt, aber ihrem eigenen Begriff nach sie doch nicht gänzlich erfassen kann, ohne daß es den Menschen zuviel würde.“ (ebd.; Herv. S. W.). Für Adorno ist dieses Zuviel von weitreichender Bedeutung: In diesem werde „eine Chance von Mündigkeit sichtbar […], die schließlich einmal zu ihrem Teil helfen könnte, daß Freizeit in Freiheit umspringt“ (ebd.). In meiner Arbeit wird das Wörtchen Zuviel bzw. Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel als ein Abhub in den Blick genommen (vgl. I.3), deren Deutung entschlüsselt, inwiefern die Gleichzeitigkeit von Absetzung und Verlängerung (Grenzziehung und Grenzüberschreitung) im Verhältnis von Arbeit und Freizeit mit für den spielerischen Lustgewinn konstitutiven unbewussten Dynamiken interferiert (vgl. I.4 und I.5). Ausgewählt wurde Musattis Konzeption, da in dieser die Annahme einer Absetzung des filmischen vom gewöhnlichen Erleben im sonstigen Alltag zentral ist. Das Kino, so formuliert es Musatti, biete Mehr, doch in der Regel nicht Zuviel; d.h. kein zu grenzüberschreitendes Erleben. Mit Pfaller (2002) lässt sich diese Formulierung als ein Symptom für einen dem spielerischen Lustgewinn konstitutiv zugrundeliegenden Ambivalenzkonflikt verstehen. Anhand der an Musattis Texten extrapolierten spezifischen Figuration eines Ausspielens (s.o.) kann im ersten Teil meiner Arbeit so gezeigt werden, inwiefern sich auch in der Kulturindustrie Vergesellschaftung „nicht jenseits der Konflikte und Antagonismen oder trotz ihrer“ vollzieht. Vielmehr gilt auch in Hinblick auf die unbewussten Dynamiken, dass das „Medium“ des Vergesellschaftungsprozesses „die Antagonismen selbst“ sind (Adorno 1965a, S. 14f.). Der Teil II meiner Arbeit nähert sich eben dieser Frage von einer anderen Richtung aus. Adornos Beispiel des nicht ausgewerteten Interviewmaterials ist noch in anderer Hinsicht interessant. Wichtig ist nämlich bezüglich der von mir vertretenen Auffassung einer konflikthaften Verwicklung von Subjekten und Kulturindstrie, dass Adorno hier gegen die Annahme eines Gleichklangs zwischen KonsumentInnen und Kulturindustrie Einspruch einlegt, nicht aber gegen die Annahme, dass die Kulturindustrie ein „Mittel von Beherrschung und Integration“ (Adorno 1969a, S. 653) sei. Vielmehr hält Adorno fest: Gerade weil „die Kulturindustrie total wurde, Phänomen des Immergleichen, von dem die Menschen temporär abzulenken sie verspricht, ist daran zu zweifeln, ob die Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewußtsein aufgehe“ (ebd.; s.o.). Ist mit dem Spiel eine Absetzung vom sonstigen Bereich verbunden (s.o.), wird hier ein Punkt angesprochen, an dem diese Absetzung brüchig wird und zwar als Resultat (und nicht etwa als widerständiges Gegenmodell) der integrierenden Tendenz. Dies ist der Problembereich des zweiten Teils meiner Arbeit, der sich mit dem unheimlichen Moment kulturindustrieller Erfahrung auseinandersetzt. Totalität Von der Seite der Konsumtion her erscheint Adorno zufolge der Freizeit-Bereich „in der Warenwelt eben als von der Macht des Tausches ausgenommen, als eines

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der Unmittelbarkeit zu den Gütern, und dieser Schein ist es wiederum, dem die Kulturgüter ihren Tauschwert allein verdanken“ (ders. 1938, S. 25). Brüchiges werde in der Kulturindustrie gekittet, es ist die Rede davon, es werde den KonsumentInnen ‚Schonkost‘ vorgesetzt und zu Konsumierendes ‚vorverdaut‘ (vgl. ders. 1969b, S. 130; vgl. II.4). Die in diesem Zusammenhang verwendeten Metaphern entwerfen Bilder eines alles verschlingenden Apparats. Doch bleibt Adorno nicht durchgängig bei dieser Diagnose stehen, sondern er macht in verschiedenen Texten eben dieserart Vorstellung totaler Integration selbst zum Gegenstand seiner Deutung (vgl. o.; vgl. z.B. ders. 1950, 1951b). Das unheimliche Moment, so meine These, lässt sich fassen als ein im Rahmen von Vorstellungen und Inszenierungen totaler Integration unweigerlich erscheinender Umschlagspunkt eben der kulturindustriellen Tendenz, eine „Unmittelbarkeit zu den Gütern“ (ders. 1938, S. 25; s.o.) herzustellen. Ganz knapp gefasst wird im Teil II Folgendes gezeigt werden: Je zwanghafter eine bruchlose Einheit her- oder dargestellt werden soll, desto mehr klafft etwas auseinander. Dieses Auseinanderklaffen kann, wie ich ausführen werde, verbunden sein mit einem Unterlaufen von Grenzziehungen (wie sie für die Kulturindustrie symptomatisch sind; s.o.), zu dem ich die in meiner Lektüre von Baudrys Text herausgearbeiteten Quasi-Formulierungen (II.3) in Bezug setzen werde. Sein Begriff eines völlig einhüllenden Realitätseindrucks wird mit Quasi-Formulierungen relativiert, die dann zur Seite geschoben werden im Zuge von Bestätigungen des absoluten Charakters des Eindrucks. Dieses – an Baudrys Text gut zu studierende – Verschwimmen interpretiere ich als ein mit Entfremdung verbundenes Unheimliches. Adorno schließt explizit an Marx an, wenn er unter dem oben angesprochenen materiellen Lebensprozess (zu dem Kulturindustrie vermittelt – z.B. in spielerischer oder unheimlicher Form – in Beziehung steht) die gesellschaftlich bestimmte Form versteht, in der die Individuen miteinander ihre Produktion und Reproduktion besorgen: das Tauschgesetz, welches als gesellschaftlicher Sachverhalt den Einzelnen vorausgesetzt ist.27 Für den Kapitalismus ist, so Adorno, grundlegend, dass der gesellschaftliche Zusammenhang die Gestalt annimmt, „daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ‚Profitmotiv‘ geleitet werden oder nicht“ (ders. 1965a, S. 14; vgl. ders. 1969c, S. 294). In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass demnach der marxsche „Wertbegriff […] kein Oberbegriff“ ist und auch keine „Meta-Form, die das Besondere unter sich subsumiert“ 27 | Ökonomiekritik, darauf wurde von verschiedener Seite aufmerksam gemacht (vgl. z.B. Johannes 1995), bildet in Adornos Schriften ein begrifflich unausgeführtes Zentrum (vgl. Braunstein 2011; zu deren Stellenwert z.B. in Bezug auf die Kritik des Antisemitismus vgl. Grigat 2007). Es changiert überdies in Adornos Texten, wann er mit dem Tauschgesetz ein universales Prinzip (vgl. Adorno 1947c) oder spezifisch das bezeichnet, was Marx unter dem kapitalistischen Wertgesetz versteht (vgl. ders. 1968a, S. 62).

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(Bonefeld 2004, S. 130). Dies ist insofern relevant für die Bestimmungen der Kulturindustrie, als hier die Kritik nicht darauf zielt, dass Abstraktes (z.B. Stereotype) Konkretes (z.B. die Darstellung ‚echter‘ Menschen) übertünche. Grundlegend ist vielmehr Adornos Auffassung einer widersprüchlichen geselllschaftlichen Verschlingung von Subjektivität und Objektivität: „Subjektiv ist Gesellschaft, weil sie auf die Menschen zurückweist, die sie bilden, und auch ihre Organisationsprinzipien auf subjektives Bewußtsein und dessen allgemeinste Abstraktionsform, die Logik, ein wesentlich Intersubjektives. Objektiv ist sie, weil auf Grund ihrer tragenden Struktur ihr die eigene Subjektivität nicht durchsichtig ist, weil sie kein Gesamtsubjekt hat und durch ihre Einrichtung dessen Instauration hintertreibt.“ (Adorno 1969c, S. 316) Hieraus ergibt sich eine für Adorno wesentliche Konsequenz bezüglich der Verstehensgrenzen, die der Kritik gesetzt und von dieser zu reflektieren seien: Gesellschaft ist demnach „verstehbar und unverstehbar in eins“ (ebd., S. 295). Verstehbar insofern, als Tausch stets einen „subjektiven Akt impliziert“ (ebd.), in dessen Zwecksetzung das Subjekt sich wiedererkennen könne. Doch als verselbständigtes sei dieses gesellschaftliche Prinzip wiederum zugleich nicht verstehbar. Dessen „Objektivität als Unveränderlichkeit“ (ebd.) entferne sich „durch ihre Dynamik immer weiter von dem Modell der logischen Vernunft“ (ebd.). Verstehbar sei „einzig das Gesetz von Verselbständigung“ (ebd., S. 296). Das „Gesetz der Verselbständigung“ ist laut Reichelt „ein konstitutives Moment an Unbewußtheit, das den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß bestimmt“ und stellt den „eigentliche[n] Gegenstand dialektischer Kritik“ Adornos dar (Reichelt 2001b, S. 2). Als verselbständigte reproduziert sich demnach die gesellschaftliche Struktur durch die Tauschakte der Einzelnen hindurch – jene ist somit der Praxis der Subjekte als ein diesen äußerlicher Zusammenhang vorausgesetzt und zugleich durch diese vermittelt. Folgen die Menschen dem Gesetz der Kapitallogik der Wertakkumulation um der Vermehrung des Werts selbst willen, so sind, wie Bonefeld unterstreicht, die „in verdinglichter Form erscheinenden Verhältnisse […] nicht weniger ‚menschlich‘. In ihrer Entmenschlichung sind und bleiben die verselbständigten [Verhältnisse] Formen menschlicher sozialer Praxis“ (Bonefeld 2004, S. 130). Korrelierend dazu lautet Marx’ Kritik an Theoretikern der politischen Ökonomie (wie Adam Smith oder David Ricardo), dass – vereinfacht gesagt – der Wert der Produkte im Austausch nicht die verausgabte konkrete Arbeit des Einzelnen spiegelt, sondern dass sich im qua Austausch realisierten Wert die abstrakte Gleichsetzung der in den Produkten vergegenständlichten Arbeit vollzieht. Es geht Marx also darum, dass die im Tausch vollzogene Abstraktion keine rein theoretische Abstraktion von ‚eigentlichen‘ sachlichen Qualitäten ist, sondern eine in menschlicher Praxis vollzogene Abstraktion.28 Diese wird als Realabtraktion bezeichnet (vgl. dazu Sohn-Rethel 1970; Reichelt 2001a; Backhaus 2011). 28 | „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten.

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Die Rede von einem in der gesellschaftlichen Form der Praxis (von Produktion und Waren-Austausch) sich vollziehenden objektiven Abstraktionsvorgang meint also nicht allein eine Abstraktion von, sondern auch eine Abstraktion der Menschen. „Entmenschlichung ist daher keine Macht von außen, sondern von den Menschen selbst produzierte Verdinglichung. Sie ‚steckt‘ in den Menschen, und die Menschen ‚stecken‘ in ihr.“ (Bonefeld 2004, S. 132) Darauf zielt der für Adornos Kritik der gesellschaftlichen Totalität zentrale „Begriff einer wirklichen Verselbständigung“ (Reichelt 2001b, S. 2). Der gesellschaftliche Prozess vollzieht sich demnach als verselbständigter „über den Köpfen durch jene hindurch“ (Adorno 1966a, S. 299).29 Wird Adorno im Verlauf des sogenannten „Positivismusstreits“ in der deutschen Soziologie von Hans Albert vorgeworfen, er vertrete einen trivialen Gesellschaftsbegriff – d.h. einen abstrakten Gesellschaftsbegriff, der im Grunde nicht mehr besage, als dass ‚alles mit allem zusammenhängt‘ (vgl. ders. 1968a, S. 57) – so wendet Adorno dagegen ein: Die Abstraktheit liegt in der Sache. Diese Abstraktheit sei keineswegs unbestimmt, sondern von ihm gefasst als gesellschaftlicher Zusammenhang, welcher durch das der kapitalistischen Ökonomie zugrundeliegende Tauschprinzip konstituiert werde. „Der Übergang zur Kritik […] liegt […] in dieser Einsicht in die Bestimmtheit, wenn Sie wollen, in den Begriffscharakter der objektiven Struktur selbst […]. Sie sehen also: das ist das Scharnier, könnte man sagen, an dem die Konzeption einer kritischen Theorie der Gesellschaft mit der Konstruktion von Gesellschaft als einer Totalität zusammenhängt.“ (Ebd., S. 60) Für die Frage der Kulturindustrie ist also in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, dass das Tauschprinzip hier nicht als ein Prinzip gedacht ist, was den Menschen – durch wen oder was auch immer – äußerlich auferlegt wäre. Sondern das Tauschprinzip vollzieht sich demnach durch die gesellschaftliche Form der jeweiligen subjektiven Tätigkeiten (und das heißt: durch den Doppelcharakter abstrakt-konkreter Arbeit und die Warenförmigkeit der produzierten Güter) hindurch (vgl. II.5). Wie in Teil II gezeigt werden wird, ist das Unheimliche ein prädestiniertes Feld, auf dem sichtbar werden kann, inwiefern sich in unbewussten Prozessen „die Pathogenese einer gesellschaftlichen Totalität“ nochmals „aus sich heraus“ entwickelt (ders. 1955, S. 56; s.o.) und das Unbewusste als Verselbständigtes in Erscheinung tritt. Nach diesen Ausführungen ist nun das bereits skizzierte Programm inhaltlich angereichert worden. In Teil I und in Teil II ist zunächst ein gründlicher Durchgang durch die Filmologie und die Apparatusdebatte zu erwarten (vgl. I.2 und Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (Marx 1973 [1867], S. 88) 29 | Das Tauschprinzip, so schreibt Adorno, dehne sich „kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen“ (Adorno 1969c, S. 307) aus.

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II.2). In Teil I wird dabei das – für das Spiel zentrale (s.o.) – Motiv der Grenzüberschreitung in der Filmologie und in Teil II das – für das Unheimliche zentrale (s.o.) – Motiv des Bruchs in der Apparatusdebatte in seinen verschiedenen Facetten ausgeleuchtet. Wird die daran anschließende Untersuchung von deren konkreten Ausgestaltungen in den Texten von Musatti (Mehr als nur, aber nicht Zuviel; vgl. I.3) und Baudry (Quasi; vgl. II.3) schließlich in Konstellation mit ästhetischem Material einer Deutung unterzogen (vgl. I.4 und II.4), so wird deren Ergebnis mit zwei Topoi von Adornos Kritik der Kulturindustrie punktuell zusammengeführt werden: In Bezug auf das Spiel das Verhältnis von Arbeit und Freizeit (I.5) und in Bezug auf das Unheimliche das Erleben von Entfremdung (II.5).

5. Herangehen Mein Verfahren lässt sich als eine an Adornos Deutungsbegriff30 angelehnte psychoanalytische Lektüremethode beschreiben, die systematisch im Forschungsprozess auftauchende Irritationspotentiale (vgl. Härtel 2014b, S. 38ff. Bezug nehmend auf Hörisch 1998) einbezieht und die „sich für die inneren Strukturen kultureller Texte, für die immer auch widersprüchlichen Dynamiken“ (ebd., S. 38) interessiert.31 Wenn danach gefragt, wird was aus diesen Strukturen ausgeschlossen ist, so ist die Annahme vorausgesetzt, dass das Ausgeschlossene (vergleichbar dem psychoanalytischen Begriff des Unbewussten) sich nicht in einem Außerhalb befindet, sondern (z.B. textliche oder ästhetische) Zusammenhänge konstituiert und zugleich destabilisiert (vgl. ebd.); woraus sich eben Irritationspotentiale ergeben. Eine hierauf fokussierte Lektüremethode ist für meine Arbeit naheliegend, insofern Abhänge (vgl. Gast 2011a, S. 329; s.o.) und verleugnete Kehrseiten (vgl. Löchel/Härtel 2006, S. 6) filmtheoretischen Denkens aufgesucht werden, um aus der Deutung von scheinbar randständigem Abhub (s.o.) Erkenntnisse über Wirkungsweisen des Unbewussten in kulturindustrieller Erfahrung zu gewinnen. Im Folgenden sei meine Vorgehensweise nun stichpunktartig erläutert, indem ich diese rückblickend – unter Berücksichtigung verschiedener theoretischer und methodologischer Ansätze – rekonstruiere. Lesen Um Abhänge und Kehrseiten von Denkfiguren ausfindig zu machen, ist ein „symptomorientiertes Lesen“ (Kirchhoff 2009, S. 17) gefragt. Das bedeutet, dass ich in der Lektüre des filmtheoretischen Materials insbesondere auf Unschlüssig30 | Deutung ist von Wussow zufolge ein „untergründiger Zentralbegriff“ (von Wussow 2007, S. 9) in Adornos Schriften. Wirklich ‚untergründig‘, meine ich, ist er aber nicht. Adornos expliziert seine Auffassung von Deutung z.B. in „Einleitung zum Positivismusstreit“ (Adorno 1969c). 31 | Vgl. zur Anwendung dieser Lektüremethode (in anderem Zusammenhang, nämlich einer Lektüre des Resonanzbegriffs von Hartmut Rosa) auch Witte 2017a.

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keiten, Holprigkeiten, Redundanzen, sprachliche Eigenheiten und wiederkehrende Wendungen und Motive geachtet habe. Diese wurden von mir als Hinweise auf das genommen „was die vorgesehenen Bedeutungen durchkreuzt“ (Härtel 2014b, S. 38). Der Blick ist damit auf Anzeichen von Überschüssigem „an diskursiv nicht einzufangendem Sinn“ (Schneider 1995, S. 48) gerichtet, also auf Hinweise darauf, was nicht im Text aufgeht (vgl. Härtel 2014b, S. 38). Da das erklärte Ziel nicht darin bestand, theoretische Unstimmigkeiten der Filmtheorie zu klären und eine positive Arbeit an Begriffen zu leisten, war in Bezug auf mein filmtheoretisches Material eine bereits erwähnte „Urteilsenthaltung“ (Scheider 1995, S. 18; s.o.) erfordert. Diese ist mit dem verbunden, was Rothe als „das Halten von Spannung“ im Denken (Rothe 2013, S. 63) bezeichnet. Was zunächst mit der – mit der psychoanalytisch-therapeutischen Technik der gleichschwebenden Aufmerksamkeit (vgl. Freud 1912e)32 verbundenen – Anweisung verknüpft ist, „den vermeintlichen Sinn der Rede nicht festzuklopfen“, um sich dem zuwenden zu können, „das sich dem Verstehen entzieht“ (Rothe 2013, S. 63). Rothe versteht dieses Spannung halten im Denken auch als „ein methodisches Kernstück beim Interpretieren von Narrativen und von Texten in der psychoanalytischen Sozialforschung“ (ebd.), welches sie im Kontext des – in Tradition der Tiefenhermeneutik 33 stehenden – methodischen Konzepts des szenischen Verstehens34 verortet. Ich greife in meiner Arbeit nicht auf diese Methode zurück, aber anhand dieses Ansatzes lassen sich zentrale – mit der oben angesprochenen Urteilsenthaltung in Verbindung stehende – Aspekte meiner Herangehensweise beleuchten. Rothe entfaltet ihre Überlegungen in Bezug auf sozialwissenschaftliche Erhebungssituationen. Diese lassen sich aus methodischer Sicht des szenischen Verstehens, wie die Autorin unter Bezugnahme auf Löchel (1997) ausführt, als „Ensemble von Szenen“ charakterisieren, „in die sich die Teilnehmenden gemeinsam mit den Forschenden involvieren und die auch von unbewussten Konfliktund Abwehrformen motiviert sind, welche sich in der Situation (re-)inszenieren“ (Rothe 2013, S. 64). Es sind dann die in diesem Raum der Schwebe entstehenden „Affekte, Assoziationen und Irritationen“ (ebd.), die nutzbar gemacht werden können. Ausgegangen wird hierbei von der Annahme, dass jeder „erschließbare Bedeutungshorizont […] notwendig auch ‚blinde Flecken‘, Selbsttäuschungen, unbewusste Bedeutungen“ (Löchel 1997, S. 67) enthält. Demzufolge zeigen sich diese „entgegen der Intention der Sprechenden dort […], wo die subjektive Sinnkonstruktion nicht (ganz) gelingt“ (ebd.). Solche „irritierende[n], unverständliche[n], brüchige[n] oder widersprüchliche[n] Stellen sind der ‚Königsweg‘ der Interpre32 | Freuds Bestimmung der gleichschwenden Aufmerksamkeit (1912e) enthält ein methodisch nutzbares Paradoxon (vgl. Härtel 2006), von dem unten die Rede sein wird. 33 | Vgl. Lorenzer 1970; König/Lorenzer/Lüdde et al. (Hrsg.) 1986; König 2001; speziell zum Verhältnis von Adornos Kritischer Theorie und Tiefenhermeneutik vgl. König 2000. 34 | Vgl. Leithäuser/Volmerg 1979; Leithäuser/Volmerg 1988; Löchel 1997.

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tation“ (ebd., S. 51) für das szenische Verstehen, welches „Aufschluss über den Bedeutungsüberschuss geben“ (ebd., S. 67) soll. Hierzu gehört demnach auch die Einbeziehung von Transkriptionen und Texten, die diesem Verständnis nach (ebenso wie ‚akute‘ zwischenmenschliche Interaktionen) Szenen enthalten (vgl. Rothe 2013, S. 49), in die sich die Forschenden verstricken. Überhaupt ist das szenische Verstehen nicht an klassische sozialwissenschaftliche Erhebungssituationen gebunden. Auch tiefenhermeneutische Zugänge im Rahmen von sogenannten Kulturanalysen gehen davon aus, dass „die psychoanalytische Entzifferung“ von Textmaterial „den unbewußten Gehalt freilegen“ (Lorenzer 1986, S. 22) kann. Ausgehend von einer Kritik Reiches an diesem Ansatz komme ich nun darauf zu sprechen, wie sich meine – ebenfalls Irritationspotentiale einbeziehende – Herangehensweise an das Textmaterial konkret gestaltete und welche Rolle die Urteilsenthaltung darin spielte. Fragen Reiche wendet kritisch gegen die Verwendung des Konzepts der Gegenübertragung35 in der Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse ein, ihre „Attraktion“ sei zugleich ihre „Achillesverse“ (Reiche 2001, S. 30). Es bestehe insbesondere im Bereich der Kunstinterpretation die Gefahr, dass sämtliche subjektive Reaktionen als Gegenübertragungen aufgefasst würden. Aber, so Reiches Einwand, man müsse bedenken, dass nicht alle Reaktionen auf ein Bild einzig „das Bild [...] in mir ausgelöst‘“ (ebd.) haben. Deren Subsumtion „unter irgendein psychoanalytisches Konzept“ führe häufig dazu, dass das Werk selbst (in seinen gestalterischen Aspekten und ästhetischer Form) letztlich unbeachtet bliebe (ebd.). Im Ergebnis sage die Interpretation dann weniger über ein Kunstwerk aus, als über die theoretischen Präferenzen des Betrachters oder der Betrachterin. Die wahrgenommenen Irritationen würden sozusagen von den jeweilig bevorzugten psychoanalytischen Begriffen ausgehend ausgewählt und dem Gegenstand übergestülpt. Ich denke, dieser Einwand erweist sich in vielen Fällen als berechtigt.36 Babenhauserheide gibt bezüglich Reiches Kritik zu bedenken, „dass gerade die Subsumtion unter vorhandene Konzepte, die Übertragung theoretischer Vorannahmen auf den Untersuchungsgegenstand, tatsächlich auch eine Reaktion auf das Werk ist: eine Form der Abwehr, ein Versuch, das Material in den Griff zu 35 | Devereux versteht unter Gegenübertragung „die Summe aller Verzerrungen, die im Wahrnehmungsbild des Psychoanalytikers von seinem Patienten und in seiner Reaktion auf ihn auftreten [d.h. dessen Übertragung; S. W.]. Sie führen dazu, daß er seinem Patient antwortet, als sei er eine von dessen frühkindlichen Imagines, und sich in der analytischen Situation verhält, wie es seinen eigenen – gewöhnlich infantilen – unbewußten Bedürfnissen, Wünschen und Phantasien entspricht.“ (Devereux 1973, S. 64) 36 | Wenn z.B. in psychoanalytischen Filminterpretationen die Analysen mitunter den Anschein erwecken, als legten sie die ProtagonistInnen als reale Personen auf die Couch; vgl. z.B. Leuzinger-Bohleber 2007.

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bekommen, auf Distanz zu halten oder zu beschönigen, die wiederum zu reflektieren wären“ (Babenhauserheide 2015, S. 104). Reiches Vorschlag, die tiefenhermeneutische Frage Was macht der Text mit mir? zu suspendieren und stattdessen zwei andere Fragen zu stellen, nämlich: Was macht der Text? und Was mache ich mit dem Text? (vgl. Reiche 2001, S. 32), blendet Babenhauserheide zufolge aus, „dass der Text auch etwas mit mir macht, dass er im Subjekt Reaktionen auslöst, die für dieses nicht kontrollierbar sind“ (Babenhauserheide 2015, S. 104). Gerade das für den Verstehensprozess produktiv zu machende Überschüssige also werde von Reiche tendenziell entschärft. Rückblickend betrachtet kann ich festhalten, dass meine Auseinandersetzung sowohl mit den filmtheoretischen Texten als auch mit dem ästhetischen Material (neben den inhaltlichen Fragestellungen) vorrangig von drei wiederkehrenden Fragen geleitet war: Was macht der Text/das ästhetische Material? Was mache ich mit dem Text/dem ästhetischen Material? Aber auch: Inwiefern und warum verführt mich der Text/das ästhetische Material dazu, dass ich das mit diesem mache? Die Aufrichtung des Ideals der Urteilsenthaltung gegenüber dem Material eröffnete im Schreibprozess den Raum für diese Fragen. Doch sind es gerade die Verstöße gegen die Enthaltsamkeit, die in diesem Zusammenhang interessieren.37 Das Ideal der Enthaltsamkeit stellte die Voraussetzung für die Möglichkeit des Misslingens seiner Einhaltung dar, aus dessen Reflektion wesentliche Erkenntnisse im Verlauf des Forschungsprozesses gewonnen werden konnten. Auch meine eigenen Textentwürfe waren dabei Material eines symptomorientierten Lesens. Ein Beispiel: In Auseinandersetzung mit dem in II.3 untersuchten Text von Baudry produzierte ich erste Texte, die bei verschiedenen LeserInnen Fragezeichen darüber hinterließen, worauf ich mit diesem hinaus wollte. Da zu diesem Zeitpunkt die Ausrichtung der Arbeit noch nicht klar war, waren alle meine Texte zu dem Zeitpunkt mit dieserart Fragezeichen versehen. Gleichwohl reagierte ich auf diese Rückmeldungen in Bezug auf den Baudrytext etwas verzweifelt. Auffällig war dann desweiteren, dass die darauffolgenden Textentwürfe eine gegenläufigen Tendenz aufwiesen: Mit betonter Gewissheit zielten diese auf etwas, nämlich auf eine Widerlegung zentraler Annahmen von Baudry – was ja erklärtermaßen gerade nicht das Ziel meiner Lektüre sein sollte. Rückblickend lassen sich meine Textproduktionen als Reaktion auf den schwankenden Duktus verstehen, welcher Baudrys Text auszeichnet. Schwingt Baudrys Text zwischen im Vagen bleibenden 37 | Die Abstinenz, schreiben Knellessen, Passett und Schneider in Bezug auf die Psychoanalyse, ist „der eine Pol eines Widerspruchs, dessen anderer Pol die Deutung ist. […] In der Haltung der Abstinenz gibt sich der Analytiker als unberührbar und indem er das tut, kann er in der Deutung gerade das Gegenteil exemplifizieren: also alle Äußerungen des Analysanden als Übertragungsäußerungen auf sich beziehen, das heißt, so tun, als ob sie keinen anderen Sinn hätten, als ihn zu berühren“ (Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 116).

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und mit Bestimmtheit artikulierten Annahmen, so changierten korrespondierend damit zunächst meine Texte zwischen einer unklaren und einer klärenden Haltung. Nach und nach konnte sich eben dieses Schwimmen und Schwanken selbst als zu deutender Gegenstand herauskristallisieren. Im Zuge der Lektüre der baudryschen Formulierung Quasi kam so letztlich das Unheimliche zum Vorschein. Umschreiben Das Um-Schreiben von Texten und die Auseinandersetzung mit den Entwürfen erwiesen sich für mein Herangehen als zentral. Die Texte der vorliegenden Arbeit entstanden nicht in einem Rutsch, sondern die verschiedenen Abschnitte (und diejenigen, die letztlich nicht aufgenommen wurden) wurden sukzessive immer wieder, bis zu sechs Mal, umgeschrieben. Das heißt, eine Fassung wurde angefertigt, eine Zeitlang liegengelassen und dann Satz für Satz um- und neugeschrieben. Der zeitliche Abstand zwischen den Um-Schreibungen ermöglichte eine Konfrontation von alten Formulierungen und Gedanken mit neuen, die angereichert waren durch die zwischenzeitliche Bearbeitung anderer Abschnitte und der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Material und weiterer Theorie (die teils ebenfalls schriftlich fixiert wurde). Die alten Fassungen wurden nicht nur auf auffällige Hervorhebungen, Sackgassen, Widersprüche, Missverständnisse, Auslassungen und Ausschweifungen hin befragt, sondern auch darauf hin, wann der Deutungsprozess abgebrochen und in einer Beurteilung der filmtheoretischen Aussagen, also auf der manifesten Ebene, gestockt war. Ein wichtiges Kriterium der Einbeziehung von Irritationspotentialen war, dass meine Textentwürfe an diesen Stellen die Ebene wechselten – wenn sich also ein Korrekturwunsch gegenüber den Filmtheorien geltend machte. In diesen Fällen schwenkte ich merkbar von der Frage ab: Was artikuliert sich in dem, was der Text artikuliert über das hinaus, was er postuliert zu artikulieren (vgl. Härtel 2014b, S. 10; s.o.)? Was lässt sich gewinnen aus der Differenz zwischen dem „Akt des Aussagens und dem Ausgesagten“ (Löchel 1997, S. 50)?38 Ein ‚Einklappen‘ dieser Differenz zeigte sich an, wenn meine Texte also in den ‚Korrekturmodus‘ kippten, d.h. wenn (wider meine Intention, zu deuten) die Texte primär Urteile über gewisse filmtheoretische Aussagen artikulierten. Dieser methodische Fehler wurde als Hinweis auf Verwicklungen mit meinem Forschungsobjekt aufgenommen und

38 | Zur Erläuterung dieser Differenz hält Weber fest, dass das Ich eines Satzes stets bezogen ist auf zwei (und sich darin die Spaltung des Subjekts inszeniert). So weist Weber zufolge das Ich „einerseits auf den Sprecher, sofern er sich innerhalb einer besonderen, bestimmten Aussage bezeichnet“, wobei „andererseits aber und zugleich, sofern er sich als Subjekt eines allgemeinen Vorgangs der Äußerung bezeichnet“ eben das Subjekt bezeichnet ist, welches „nicht einfach mit dem jeweils Gesagten – der Aussage – identifiziert werden darf“ (Weber 2000, S. 115).

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damit als ein zu interpretierendes Misslingen im Zuge des Verstehensprozesses aufgenommen.39 Geht es mir in meiner Arbeit darum, anhand des filmtheoretischen Materials zu zeigen, inwiefern wissenschaftliches Denken sich als verwickelt in unbewusste Dynamiken erweist und welche Rückschlüsse sich daraus auf kulturindustrielle Prozesse ziehen lassen, ist von dieser Annahme somit meine eigene Auseinandersetzung mit Filmtheorien natürlich nicht ausgenommen. Aus den im Verfahren des Um-Schreibens hervortretenden Anzeichen auf Verwicklungen mit dem Material wurden Annahmen abgeleitet, die dann – im Sinne Reiches (vgl. 2001; s.o.) – auf die Analyse des filmtheoretischen und ästhetischen Materials rückbezogen wurden. Insoweit sich eine Verbindung zwischen Irritationspotentialen und Material nachweisen ließ, sind jene in die Interpretationen im Folgenden eingegangen. Die Darstellung ist auf die Widersprüchlichkeiten und Überschüsse des Materials fokussiert (es sind somit die Antworten und nicht die im Forschungsverlauf relevanten Fragen nach meinen Reaktionen auf den Text, die Gegenstand der Darstellung sein werden). Auswählen In einem solchen Verfahren unter „psychoanalytischem Vorzeichen“ (Härtel 2014b, S. 39) geht es stets um den Versuch einzubeziehen, dass nicht nur jeder Erkenntnisprozess von Wünschen durchdrungen ist (vgl. Gast 2011a, S. 329; s.o.), sondern „die Wissensgenerierung […] ihrerseits von dem, was ihr Objekt ist, angesteckt“ wird und sich das Erkennen als „diesbezüglich anfällig“ (Härtel 2014b, S. 39 Bezug nehmend auf Schneider 2001, S. 48 und 51) erweist. Wie Härtel aufzeigt, impliziert die Forderung gleichschwebender Aufmerksamkeit (in Nähe zu der genannten Urteilsenthaltung) eine Paradoxie. Der Forderung, von den „eigenen Erwartungen und Neigungen“ (Härtel 2014b, S. 39.; vgl. Freud 1912e) abzusehen und sich stattdessen gegenüber dem Material zu öffnen, ist, so Härtel, „selbst schon eine Unmöglichkeit eingeschrieben; es ist beispielsweise ebenso wenig möglich, nicht gefangen genommen zu werden, wie nicht auszuwählen“ (Härtel 2006, S. 139 Bezug nehmend auf Reiche 2001, S. 22). Die „Deutungstätigkeit“ kann nicht „ohne Prozesse der Bevorzugung, Anordnung oder ähnliches vonstatten gehen“ (Härtel 2006, S. 140). In Anknüpfung hieran lassen sich nicht nur scheinbar spontane Entscheidungen, sondern auch die vor und in jedem Forschungsverlauf notwendig zu treffende, wohlüberlegte und zu begründende Auswahl, Eingrenzung und Präzisierung von Forschungsgegenstand und Fragestellung vom Ergebnis her daraufhin befragen, inwiefern diese durch Ansteckungen seitens des Objekts angestiftet wurden und was diese über jenes aussagen könnten.

39 | „Aus dem Missgriff taucht die Wahrheit auf.“ (Lacan 1978, S. 327)

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Abheben Das anfänglich abgesteckte Feld der Filmtheorien war groß war und es verschoben sich – was nicht unbedingt ungewöhnlich ist – im Verlauf des Arbeitsprozeses die Fragestellung und der Gegenstand.40 In der ersten Phase musste ich mir (als Nicht-Filmwissenschaftlerin) psychoanalytisch-filmtheoretische Ansätze erschließen. Ich schloss zunächst keinen derartigen Ansatz als mögliches Material aus und arbeitete einen Theoriekorpus von nicht unbeträchtlichem Umfang in der zeitlichen Spanne von 1910 bis heute durch. Ich sortierte wiederkehrende Motive und Streitpunkte, die sich durch verschiedene Debatten und Ansätze ziehen. So ordnete ich etwa, ob in den verschiedenen Theorien die KinozuschauerInnen als aktiv oder passiv beschrieben werden, ob die Kinosituation als ödipal oder prä-ödipal strukturiert eingeordnet wird, ob das Kino als ideologisches Manipulationsinstrument oder als Ort der Subversion begriffen wird. Mehr und mehr verengte sich der Fokus, bis schließlich ‚kleinste Einheiten‘ – nämlich die Formulierungen Mehr als nur, aber nicht Zuviel und Quasi – mein Interesse weckten. Es lässt sich dies auch rückbeziehen auf den Abhub, auf den Freud auch in anderem Zusammenhang zu sprechen kommt, etwa in seinem Text „Der Moses des Michelangelo“ (ders. 1914b). Kapriziert sich Freud in seiner Deutung der Moses-Statue vornehmlich auf die Finger der rechten Hand, so lässt sich Härtel zufolge diese „vorrangige Beachtung“ (Härtel 2006, S. 139) auch als ein „negativer Effekt gängiger Beobachtung und eines – immer schon selektiven und selektiv aufgenommenen – kulturellen Wissens“ (ebd.; Herv. S. W.) verstehen. Härtel lenkt hier die Aufmerksamkeit darauf, dass Freuds Blick auf das bisher Ungenossene (also auf das von der Wissenschaft bisher beiseite gelassene; s.o.) sich in Differenz zum bereits Genossenen eröffnet. Und in „eben diesem Feld verankert sich eine bindende Phantasie“ (ebd.), man könnte sagen: Der Finger am Objekt hat Freud als Abhub, in Differenz zudem – (auch) vom wissenschaftlichen Diskurs – „bereits ‚Genossenen‘“ (ebd., S. 146) befallen. Auch Auswählen (z.B. von theoretischen Symptomen, von Abhüben) erscheint aus dieser Perspektive als Teil der Verstrickung mit dem Objekt. Im Auswählen sind „Ausblendungen oder Abwehrformen“ (ebd., S. 139) enthalten, die nicht nur unumgänglich sind, sondern Härtel zufolge die Deutungstätigkeit befeuern. Insofern wohnte auch der Entscheidung und Festlegung auf die theoretischen Symptome (Mehr als nur, aber nicht Zuviel in I.3 und Quasi in II.3) ein Überschuss inne, von dem im Sinne Härtels mein Interesse angezogen wurde. Es handelt sich hierbei um etwas, was „ausgehend von dem, was einen überhaupt dazu treibt, 40 | So war z.B. in meinem Dissertations-Exposé festgehalten, dass ich eine Untersuchung des Verhältnisses von Subjekt und Bild auf Grundlage psychoanalytischer Filmtheorien und unter Einbeziehung der in Freuds kulturtheoretischen Schriften implizierten Theorie kollektiver Erinnerungsprozesse anstrebe. Aus Freuds kulturtheoretischen Schriften sollten somit ursprünglich Annahmen zur Weiterentwicklung einer Theorie der medialen Vermittlung kollektiver Gedächtnisprozesse gewonnen werden.

Einführung

sich einem Forschungsobjekt über die bereits autorisierten Antworten hinaus zuzuwenden, eher zustößt“ (ebd.). Entscheidungen in Forschungsprozessen nicht so zu begegnen, als vollzögen sie sich nicht immer auch in „nicht zu beherrschende[r] oder methodisch ‚verfügbare[r]‘ Weise“ (dies. 2006, S. 140), gehört meinem Verständnis nach zu den wesentlichen Grundzügen kritischen Denkens, welches einem in Zeiten und im Zeichen von Drittmittelanträgen in vielen Bereichen der Universität abtrainiert zu werden droht. 41 Denken braucht Raum, damit sich Forschungsobjekte abheben können, sich die „die am ‚Begreifen‘ beteiligten Prozesse“ entfalten können ohne vorschnell methodischen Regularien unterwerfen zu werden (ebd., S. 147). Auf welche Weise sonst könnte „lesbar“ gemacht werden, „was von und mit ihnen nicht ohne weiteres überschritten […] werden kann“ (ebd., S. 147)? Öffnen Ein solches Vorgehen erfordert aber zugleich, sich gerade nicht ungehindert vom Objekt mitreißen zu lassen, d.h. die ‚Spannung im Denken zu halten‘ (vgl. Rothe 2013; s.o.) und zudem (wie auch Reiche (2001) fordert; s.o.) mitzudenken in „einer dezidierten Bezugnahme auf die Eigen-Artigkeit des Forschungsobjekts und -prozesses“ (Härtel 2006, S. 132). Die Analyse des Materials erfolgt dann „im Sinne einer konsequenten Sensibilisierung für das, was befremdet und gerade in seinem Nicht-Verstehen auszuhalten ist“ (ebd.). Adornos Deutungsverfahren folgt von Wussow zufolge der Aufmerksamkeit darauf, „in den Texten bestimmte Muster zu erkennen, den Gebrauch von Unterscheidungen zu beachten und den Abgrenzungen von anderen Denkformen nachzugehen“ (von Wussow 2007, S. 12) sowie dem Wissen, „dass das unscheinbare Material etwas bedeutet, dies aber nicht von sich aus kundtut, sondern der Interpretation bedarf “ (ebd., S. 24). Deutung in diesem Sinne erschöpft sich nicht darin, ‚Muster‘ zu identifizieren, sondern ist zu verstehen eben als Öffnung des Begriffs (oder allgemeiner: des diskursiven Den41 | Bevor sich etwa meine Fragestellung weiter entwickelt hatte, hatte ich häufig in Auseinandersetzung mit Theorien den Eindruck, dass andere Ansätze bereits leisten, was ich ‚eigentlich‘ vorhatte auszuarbeiten. Wobei meine Fragestellung noch so unkonkret und weit gefasst war, dass gewissermaßen viel Platz für potentielle Überschneidungen mit Gedanken anderer gegeben war. Die Angst davor, dass ‚mein‘ Raum schon durch andere ‚besetzt‘ sein könnte, die mir scheinbar drohen, den Weg abzuschneiden, verweist, so denke ich, auf eine Konfliktlage, die aus der Konkurrenz im akademischen Betrieb resultiert. Unter Druck geraten kann man z.B. angesichts des paradoxen Auftrags, sich einerseits gegenwärtige hegemoniale Lehrmeinungen zueigen zu machen und zugleich hinreichend als ‚eigene‘ erkennbare Denkleistungen präsentieren zu können. So erwecken häufig Neuerscheinungen besonders bei Promovierende nicht neugierige sondern ängstliche Erwartung. Es wäre so wichtig, mehr Raum für kritische Reflexion dieser (und anderer möglicher) Reaktionen in ihrer Verflechtung mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen (vgl. z.B. Erdheim/Nadig 1987) an den Universitäten zu schaffen.

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kens und seiner ‚Muster‘) auf das Nicht-Aufgehende, welches demnach in diesem einzig negativ erscheint. Hierin liegt eine zentrale Gemeinsamkeit psychoanalytischer Erkenntnisweise mit Adornos Auffassung von Deutung. So gehört für Adorno zum Begriff, sich auf Nicht-Begriffliches zu beziehen, wie sich – als Begriff eben – gegen jenes abzudichten und von diesem zu entfernen.42 „Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik.“ (Adorno 1966a, S. 24; Herv. S. W.) Wenn kritische Erkenntnis hier als ein Scharnier beschrieben wird, so impliziert dieses Bild eine Öffnung, die ermöglicht, die Tür zu schwenken. Jene ist demnach nicht auf die Festlegung, auf die Identifizierung eines positiven Sinns ausgerichtet. Deutung in Adornos Sinne ist „Interpretation dessen am Weltlauf, was Interpretation verwehrt“ (ders. 1969c, S. 350) im Bestehen darauf, den Weltlauf zu verändern. Vergleichbar spricht Schneider von dem „weit verbreitete[n] Irrtum zu meinen, die Wahrheit der Psychoanalyse sei die des unbewußten Inhalts. Die Wahrheit, auf die die Psychoanalyse zielt, ist vielmehr eine der Übersetzung von Unbewußtem in Bewußtes – sie liegt nicht im Inhalt der einen oder anderen Seite, sondern im intermediären Raum des Prozesses der Umwandlung“ (Schneider 1995, S. 43).43 So gesehen, ergibt sich Erkenntnis nicht aus einem Hinter-zuvor-verschlossene-Türen-Gucken, wo das Objekt von der Erkenntnis dingfest gemacht wird. Denn es deckt sich der unbewusste Wunsch, der das Denken antreibt, „nie mit seiner Gestaltung, nicht zuletzt, weil er sich, an seinem ‚Nabel‘ sozusagen, immer selbst ein Rätsel bleibt“ (ebd., S. 49). Hierin liegt m.E. ein grundlegender Schnittpunkt dieser (an Laplanches Verführungstheorie (s. u.) angelehnten) Auffassung der psychoanalytischen Erkenntnisweise und Adornos Verständnis von Kritik und Deutung. Dementsprechend zielt meine Deutung nicht darauf, aus den filmtheoretischen Konzeptionen verdrängte inhaltliche Bedeutungen ans Tageslicht zu befördern. Es geht mir nicht darum, hinter die Fassade der Begriffe zu schauen, sondern anhand einer Deutung der Fassade diese gleichsam punktuell zum Schwenken zu bringen. Was sich an den Scharnierstellen der Einsicht in spielerische und unheimliche Momente der Kulturindustrie eröffnen soll, ist, inwiefern dem begrifflichen Gefüge konstitutiv Entzogenes sich in diesem als wirksam erweist. Ich denke hierbei z.B. an eine Stelle in „Negative Dialektik“ (Adorno 1966a), an der Adorno schreibt, diese neige sich „dem Inhalt zu als dem Offenen, nicht vom Gerüst Vorentschiedenen […]. Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. […] Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden. Ihm dient 42 | Dies verweist auf die oben thematisierte Gleichzeitigkeit von Angetrieben-Sein durch die und Hemmung der Wunschtätigkeit im Denken (s.o.). 43 | In diesem Zusammenhang heißt es: „Die Frage nach wahr und unwahr stellte sich mit der Psychoanalyse auf völlig neue Weise. Wahrheit ist nicht etwas Vorgegebenes, sondern durch Interpretation immer neu zu Gewinnendes.“ (Schneider 1995, S. 37)

Einführung

Denken, ein Stück Dasein, das, wie immer negativ, ans Nichtseiende heranreicht. Allein erst äußerste Ferne wäre die Nähe; Philosophie ist das Prisma, das deren Farbe auffängt.“ (Ebd., S. 66) Kirchhoff hält in Bezug auf diese Passage fest, dass Philosophie hier nicht als das beschrieben sei, „was selbst leuchtet und das Licht wirft, sondern etwas, das aus der Zukunft kommendes Licht aufzufangen in der Lage ist“ (Kirchhoff 2013, S. 60). Hier erhält Denken einen passivischen Zug: Auf es fällt Licht, welches von Ferne kommt, nicht strahlt es allein von sich aus. Es mag auch das sein, was das Denken zu seinen Objekten hin zieht und zugleich blendet.44 Aus Sicht der Laplanchen Psychoanalyse ist hiermit ein Prozess der Übersetzung verbunden (der in Abschnitt II.4 eine entscheidende Rolle spielen wird). Übersetzen Es ist, so schreibt Schneider, „der Überschuß […], der den Menschen zu einem unablässig symbolisierenden Wesen macht“ (Schneider 2005, S. 48). Diese Symbolisierungstätigkeit ist in Laplanches Terminologie (vgl. vor allem Laplanche 1988; 2005) eine unendliche Übersetzungsarbeit, die prinzipiell scheitert, „nicht weil sie fehlerhaft, sondern weil sie wesentlich unvollständig ist, unvollständig jedoch nicht quantitativ, sondern qualitativ“ (Schneider 1995, S. 48). Auch diese psychoanalytische Theorie der Übersetzung lässt sich – wie Schneider betont – als eine Übersetzung zu verstehen. In diesem Fall handelt es sich um den Versuch, sich zu übersetzen, woher der Drang zum Übersetzen rühren mag. Es lassen sich mit Schneider die „Deutungen der Psychoanalyse“ als „ein artifizieller Spezialfall“ eines „spontan ablaufenden Deutungsprozesses“ verstehen, welcher „das psychische Leben überhaupt kennzeichnet“ (Schneider 1995, S. 29). Meine Arbeit lässt sich somit ebenfalls als Fall einer Übersetzung betrachten. Womit sich nicht zuletzt die Wahl speziell psychoanalytischer filmtheoretischer Ansätze als Gegenstand der symptomorientierten Lektüren (I.3 und II.3) in epistemologischer Hinsicht begründen lässt. Es war eingangs die Rede vom destabilisierenden Potential, das der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie eigen ist. Wenn nun – ausgehend von Laplanche – jede Theorie als ein Fall von Übersetzung betrachtet werden kann, so ist auch die eigene Theoriearbeit nicht von der Annahme eines in ihr wirksamen Überschusses ausgenommen. Der wiederum – nachträglich – deutbar, d.h. übersetzbar ist.45 Indem hier psychoanalytische filmtheoretische Ansätze einer Lektüre unterzogen werden, drückt sich in konzeptioneller Hinsicht die Inanspruchnah44 | Dazu, wie sich eine Gleichzeitigkeit von Hin- und Hergezogen-Sein in Gedankenbewegungen zeigen kann, vgl. Witte 2014. 45 | Schneider setzt das Prinzip der Nachträglichkeit in Beziehung mit der methodisch relevanten Urteilsenthaltung: Die „Urteilsenthaltung“ gestattet es, so Schneider, „das Moment der Nachträglichkeit als Prinzip der Erkenntnisgewinnung und Theoriebildung zum Zuge kommen zu lassen“ (Schneider 1995, S. 18).

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me des zu Beginn erwähnten Potentials von Kritischer Theorie und Psychoanalyse aus, „kristallin gewordene Denkmuster“ (Gast 2011a, S. 332, s.o.) in Frage zu stellen – und zwar eben nicht nur die anderer, sondern auch die, auf denen die eigenen Annahmen beruhen. Oder anders formuliert: Indem der Gegenstand (die Filmtheorien) und die Untersuchung sich auf dem gleichen epistemologischen Feld befinden, ist von vornherein eine Durchlässigkeit auf die eigenen Annahmen hin in der Architektur der Arbeit angelegt. Gegenstand, Theorien und Methode sind einander in dieser Hinsicht nicht extern – was bedingt, dass die Forschung (im Rahmen der vorausgesetzten Vorannahmen, s.o.) streckenweise ohne doppelten Boden verlaufen konnte und – so erschließt es sich mir rückblickend – auch konzeptionell bedingt Raum für Hinterfragung und Revision der mitgebrachten theoretischen Annahmen vorhanden war. Mit Freud lässt sich wissenschaftliche Forschung als beginnend mit der kindlichen „Sexualforschung“ (Schneider 2013, S. 111) denken. Die ersten Theorien sind demnach die „infantilen Sexualtheorien, die ein Vorbild solcher [späteren, ‚erwachsenen‘; S. W.]‚ Übersetzungen darstellen“ und Laplanche zufolge „eine vollkommene Weise – gleichzeitig affektiv, imaginativ, intellektuell und aktiv –, sich zu den elterlichen Botschaften in Beziehung zu setzen“, implizieren (Laplanche 2005, S. 167). Somit nimmt sich Laplanches Begriff der Übersetzung nicht so sexuell unschuldig aus, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zentral ist hier die Annahme einer von den Erwachsenen ausgehenden sexuellen Verführung des Kindes, welchem in der (von der psychoanalytischen Theorie konstruierten) Urverführung durch die Milch spendende Brust das Rätsel aufgegeben wird: „Was will sie von mir?“ (Laplanche 1988, S. 224) Ich kann das hier nur grob skizzieren: In die Einnahme der lebensnotwendigen Nahrung mischt sich Laplanche zufolge von Beginn an Sexuelles ein (vgl. auch Härtel 2009).46 Die mütterliche Brust ist „kontaminiert mit etwas Fremden, dem Sexuellen, das vom Erwachsenen eingebracht wird“ (Kirchhoff 2009, S. 101). Mit Sexuellen kontaminiert heißt nach Laplanchem Verständnis auch: Im Zuge der Milchaufnahme überträgt sich Unbewusstes der Erwachsenen (vgl. Zupančič 2009, S. 37). Was hat ihr Begehren nach mir zu bedeuten? Diese nachträglich zu formulierende Frage wird dieser Annahme nach für das Kind aufgeworfen von sogenannten Botschaften der Erwachsenen (in Form von Gesten, Gerüchen, Geräuschen, Stimmen etc.). Diese sind nicht nur für das Kind (da es der Sprache noch nicht mächtig ist) unentschlüsselbar, sondern auch für die Erwachsenen (da es deren Unbewusstes ist, was das Kind anspricht). „Mit dem zu ‚übersetzenden‘ Rätselhaften geht es keineswegs um einen erst zu erwerbenden Code oder dergleichen […]; vielmehr dreht es sich hier um die grundlegend unangemessenen Mittel des Kindes sowie um Sinngehalte, über deren Code auch der Erwachsene nicht verfügt“ (Härtel 2009, S. 45). In dieser 46 | „Kommt es also etwa im Rahmen einer Zufriedenstellung der Ernährungsfunktion zu einer Erregung der Lippen, lehnen sich sexuelle Vorgänge an Funktionen der Lebenserhaltung an“ (Härtel 2014b, S. 27).

Einführung

Verfehlung „entsteht die Erregung sozusagen an der Schnittstelle zu dem (sexuellen) Gehalt, den die Berührung für die Mutter hat“ (dies. 2014b, S. 28). Welche nicht nur den Übersetzungsprozess in Gang setzt, sondern diesen fortan antreibt. Insofern ist das Rätsel in sich Verführung (vgl. Laplanche 1988, S. 225), als es die Frage nach dem Begehren des Anderen aufwirft (vgl. auch Löchel 2008, S. 39). Es ist ein hiermit verbundenes Fehlen und Verfehlen, welches Löchel und Menzner als ein gleichzeitiges ‚zu früh‘ und ‚zu spät‘ charakterisieren: „Ein konstitutives, zwangsläufiges Verfehlen, ein ‚zu früh‘ – die Begegnung mit einem Objekt – und ein ‚zu spät‘ – Erregung in der Nachfolge, in Abwesenheit des Objekts.“ (Löchel/Menzner 2011, S. 1191)47 Dass „diese Brust tatsächlich etwas will, von dem das Kind sowenig weiß, was es ist, wie die Inhaberin der Brust, heißt nichts anderes, als daß diese Brust außer Milchspenderin Repräsentantin einer dunklen Botschaft ist, eines Rätsels, dem das Kind, das Infans – das Nichtsprechende – auf dem Weg zur Sprache mehr und mehr diskursive Sprache verleihen wird. Das Kind wird dabei zum Übersetzer“ (Schneider 1995, S. 46f.). Die elterlichen rätselhaften Botschaften wecken demnach ein Verlangen nach Antworten, demnach wird „die als Übersetzung gefasste Sinnbildung […] erst provoziert“ (Härtel 2011, S. 50 Bezug nehmend auf Waldenfels 2004, S. 213f.). Das Enigamtische der Botschaft stiftet somit den Drang nach deren Übersetzungen und ihre Unvollständigkeit treibt zu neuen Übersetzungen. Jede Interpretation, Deutung (d.h. in Adornos Sinne auch: Kritik), Übersetzung enthält demnach Stellen, die nicht in diese eingebunden sind (was insbesondere in Bezug auf das Unheimliche relevant werden wird; vgl. II.4, II.5). Hier haben wir es, so gibt Zupančič Laplanche wieder, „mit der Konstitution des Unbewussten als dem Abfall (déchet) dieser Interpretation der enigmatischen Botschaft zu tun“ (Zupančič 2009, S. 38). Im notwendigen Scheitern und Misslingen (vgl. Härtel 2011, S. 50) entstehen also Übersetzungsreste als „das, was bei dieser Übersetzung fallengelassen wurde“ (Laplanche 2005, S. 171). Diese haben dieser Theorie nach eine traumatische Qualität. Das „Eindringen der Botschaft [ist] das Traumatische; etwas, das von Außen (vom Anderen) kommend, von innen wirkt und so den Organismus aus der Ruhe und das Subjekt zum Übersetzen bringt“ (Kirchhoff 2009, S. 137). Dem Unübersetzbaren entspringt Laplanche zufolge die „Bewegung der Selbstübersetzung“ (Laplanche 2005, S. 82), d.h. der von Schneider angesprochene Drang, welcher 47 | Womit das Prinzip der Nachträglichkeit angesprochen ist, welches letztlich eine psychoanalytische Theorie der Zeitlichkeit und der Geschichte bezeichnet, wie sie in Freuds Schriften – in unterschiedlichen Fassungen – angelegt ist (vgl. Kirchhoff 2009). Die Konstitution von Subjektivität – und man könnte sagen: die gesamte menschliche Geschichte (vgl. Heinrich 2001, S. 208) – unterliegt demnach ‚Bewegungen der Nachträglichkeit‘, die Kirchhof beschreibt als die des „Zufrüh- und Zuspätkommens; die des Auseinanderfallens in zwei Szenen, deren gegenseitige Konstitution immer wieder zugunsten einer linearen Sicht – entweder vorwärts oder rückwärts – zu entschwinden droht; die des Verschwindens und der Wiederkehr des sich im Verschwinden erst Konstituierenden“ (Kirchhoff 2009, S. 143).

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den Menschen zum „symbolisierendes Wesen“ (vgl. Schneider 1995, S. 48; s.o.) macht. Der „Trieb zur Übersetzung“ wird vom Unbewussten des anderen erregt, entstammt „diesem Unübersetzten oder unvollkommen Übersetzten, das unaufhörlich eine (bessere) Übersetzung fordert“ (Laplanche 2005, S. 82). Wäre auf diese Weise seitens der psychoanalytischen Theorie also eine Deutung dessen vorgelegt, was zur Deutung des Abhubs antreibt, so ist für meine Arbeit nicht nur die Verwandtschaft zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung und infantilen Sexualtheorien von Relevanz, sondern auch eine Verbindung zum Rätselcharakter der Kunst, auf die Schneider in diesem Zusammenhang hinweist. Den Umstand, dass das Rätsel am Ursprung jeglicher Botschaft ein unlösbares ist, tragen Kunstwerke gewissermaßen vor sich her: „Von Anfang unserer Existenz an werden wir zur Interpretation verführt, doch die Interpretation ist nicht die Lösung des Rätsels. Die Interpretation des Rätsels des Kunstwerks […] ist nicht die Lösung seines Rätsels; das Kunstwerk ist ja selbst die Interpretation eines Rätsels.“ (Schneider 1995, S. 47) Sind also auch Kunstwerke als Übersetzungen zu verstehen, so in Adornos Sinne als solche, die in besonderer Weise zum Nicht-Diskursiven hin geöffnet sind.48 „Das Rätselhafte der Kunstwerke ist ihr Abgebrochensein. […] Kunstwerke, mögen sie noch so vollendet sich gerieren, sind gekappt; daß, was sie bedeuten, nicht ihr Essentielles ist, nimmt an ihnen sich aus, als ob ihre Bedeutung blockiert wäre.“ (Adorno 1970, S. 191f.) Diese Blockade führt Adorno auf etwas zurück, was an die Laplanchesche Bestimmung des Unübersetzbaren, welches Übersetzung fordert, erinnert: „Wie in Rätseln wird die Antwort verschwiegen und durch die Struktur erzwungen.“ (Ebd., S. 188) Einem romantischen Missverständnis dieser Aussage baut Adorno hier vor: Der fundamentale Rätselcharakter begründet sich nicht, so betont er, in einer Irrationalität von Kunst, sondern entspringe gerade ihrer Rationalität, die Adorno mit der Kategorie der Form verbindet – „je planvoller“ die Werke (in ihrer Formgebung) beherrscht würden, desto mehr gewönne der Rätselcharakter an „Relief“ (ebd., S. 182). Es ist eine spezifische Rationalität, die hier gemeint ist: „Obwohl die Kunstwerke weder begrifflich sind noch urteilen, sind sie logisch. Nichts wäre rätselhaft an ihnen, käme nicht ihre immanente Logizität dem diskursiven Denken entgegen, dessen Kriterien sie doch regelmäßig enttäuschten.“ (Ebd., S. 205) Sie enttäuschen das diskursive Denken und umgekehrt enttäuscht dieses in gewisser Weise die Kunst. „Ohnehin ist das Fatale an der Interpretation von Kunst, auch der philosophisch verantwortlichen, daß sie genötigt ist, Befremdendes, indem sie es auf den Begriff bringt, durch bereits Vertrautes auszudrücken und dadurch wegzuerklären, was einzig der Erklärung bedürfte“ (ders. 1956, S. 101). Aber in Konstellation gedacht, wie nun abschließend gezeigt werden soll, lässt sich aus solch gegenseitigem Verfehlen Erkenntnis gewinnen. 48 | Diese Öffnung betrifft auch das oben skizzierte Bild für kritische Erkenntnis: Ein Scharnier, im Zuge dessen Neigen sich Nicht-Identisches erschließt; dies wird auch in Bezug auf das Spiel noch Thema sein (vgl. I.1).

Einführung

In Konstellationen denken Der Begriff der Konstellation erweitert das oben gewonnene Bild von Erkenntnis als Scharnier. „Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.“ (Adorno 1966a, S. 166) Es braucht also nicht den einen Schlüssel, sondern eine bestimmte Anordnung: eine Konstellation. „Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Inneren weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann.“ (Ebd., S. 164) Konstellationen können demnach Denken auf Wegerklärtes hin öffnen. Ich komme damit auf die Konstellationen von theoretischem und ästhetischem Material in meiner Arbeit zu sprechen, deren Auf bau ich bereits skizziert habe. Dieser Auf bau enthält drei Ebenen der Interpretation: Motiv – Figuration – Deutung. Um diese Ebenen zu veranschaulichen, hier noch einmal im Überblick die Teile in paralleler Anordnung: I.1 Verknüpfung von Kulturindustrie, Filmologie, ästhetischem Material, Grenzüberschreitung und Spiel

II.1 Verknüpfung von Kulturindustrie, Apparatusdebatte, ästhetischem Material, Bruch und Unheimlichem

I.2 Das Motiv der Grenzüberschreitung in der Filmologie

II.2 Das Motiv der Grenzüberschreitung in der Apparatusdebatte

I.3 Die Figuration des Motivs der Grenzüberschreitung in Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

II.3 Die Figuration des Motivs der Grenzüberschreitung in Baudrys Formulierung Quasi

I.4 Deutung von Mehr als nur, aber nicht Zuviel in Konstellation mit Werken von Santiago Sierra als Symptom für mit dem spielerischen Moment verbundene unbewusste Dynamiken

II.4 Deutung von Quasi in Konstellation mit Die fabelhafte Welt der Amélie als Symptom für mit dem unheimlichen Moment verbundene unbewusste Dynamiken

I.5 II.5 Anmerkungen zu Verbindungen von Anmerkungen zu Verbindungen von Spiel und Kulturindustrie Unheimlichem und Kulturindustrie

Auf der ersten Ebene werden theoretische Motive aus den filmtheoretischen Diskursen der Filmologie und der Apparatusdebatte erhoben (I.2 und II.2). Unter Motiv wird hier – in einem sehr allgemeinen Sinne – ein Element verstanden,

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um das sich inhaltliche theoretische Annahmen, die für diesen Diskurs zentral sind, wiederholt in ähnlicher Ausrichtung gruppieren. Ich zeige bezüglich der Filmologie, wie das Motiv der Grenzüberschreitung durch verschiedene Theorien geistert (I.2) und bezüglich der Apparatusdebatte das Motiv des Bruchs (II.2). Die Fragestellung ist auf dieser Ebene zunächst: Wie gestaltet sich das jeweilige Motiv in den verschiedenen Begrifflichkeiten und Annahmen der Debattenteilnehmer aus? Berücksichtigt werden dabei auch Bezüge zu historischen Rahmenbedingungen der Debatten. Auf der zweiten Ebene analysiere ich konkrete Figurationen der Motive, d. h. ich arbeite heraus, wie sich das jeweilige Motiv spezifisch und en detail in einem theoretischen Ansatz ausformuliert (das Motiv der Grenzüberschreitung in Musattis Texten, I.3; das Motiv des Bruchs in Baudrys Texten, II.3). Dabei geht es um so etwas wie kleine Denkfiguren, in deren Gestalt sich wiederholt verschiedene Annahmen oder Überlegungen äußern. Verdichtungen dieser Figurationen bezeichne ich als theoretische Symptome (Mehr als nur, aber nicht Zuviel, I.3; Quasi, II.3). In diesen Fallbeispielen werden mit den spezifischen Figurationen also einzelne Ausgestaltungen49 des Motivs untersucht (weswegen der jeweiligen Dramaturgie der Texte und Eigenheiten sprachlicher Wendungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird). Liegt der Fokus in den Abschnitten I.2 und II.2 darauf, mit welchen inhaltlichen Bedeutungen die Motive in den filmtheoretischen Debatten verknüpft sind, so tritt in den Abschnitten I.3 und II.3 die Beachtung formaler Charakteristiken hinzu. Die Deutung erfolgt in den Abschnitten I.4 und II.4 in Konstellation mit ästhetischem Material. Auf dieser dritten Ebene werden – unter Einbindung verschiedener weiterer theoretischer Ansätze – die in und durch diese Konstellationen provozierten gegenseitigen Verfehlungen zwischen Ästhetischem und diskursivem Denken nutzbar gemacht. Die Konstellationen von theoretischem und ästhetischem Material ergeben sich zunächst über thematische Brücken. Dies Verfahren kann als ein Übersetzen der theoretischen Symptome durch Versetzung in einen Zusammenhang, nämlich den des ästhetischen Materials, be-

49 | Wobei die Deutung dieser spezifischen Ausgestaltung Aussagekraft beansprucht über den jeweiligen Einzelfall hinaus. Unbewusste Prozesse sind, wie Heinrich unterstreicht, nie eine alleinige Privatangelegenheit. Der psychoanalytische Begriff der Verdrängung, so Heinrich, zielt über rein „private Vorgäng[e]“ hinaus: „Keines der Bilder, die Freud entwirft, um Verdrängungsvorgänge darzustellen, keine der Rahmenvorstellungen, mit denen er versucht, Verdrängung auf den Begriff zu bringen, geht in der Rekonstruktion privater Vorgänge auf: alle Male […] handelt es sich um einen öffentlich bedeutsamen, einen aktuellen, einen gattungsgeschichtlich nicht erledigten Vorgang.“ (Heinrich 2001, S. 208) Wobei, wie z.B. Warsitz vertritt, die Erkenntnisweisen von Psychoanalyse und Kritischer Theorie ein spezifisches Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem involvieren, welches zu den gewohnten Alternativen von Induktion oder Deduktion quer steht (vgl. Warsitz 2006).

Einführung

schrieben werden – was eben bedeutet: in Konstellationen zu denken.50 In den Konstellationen ergab sich nicht ein Schlüssel, sondern eher eine sich peu à peu ergeben habende Kombination, mit der ich hoffe, unheimliche und spielerische Momente auf neue Weise aufschlüsseln und in meiner Deutung die Rätsel, welche die Kulturindustrie aufgeben kann, in ihrer Widersprüchlichkeit offen halten zu können. Rätseln folgen Alle Kunstwerke, schreibt Adorno in „Ästhetische Theorie“, „sind Schriften, nicht erst die, die als solche auftreten, und zwar hieroglyphenhafte, zu denen der Code verloren ward und zu deren Gehalt nicht zuletzt beiträgt, daß er fehlt“ (Adorno 1970, S. 189). In „Das Schema der Massenkultur“ (ders. 1942) hat die Hieroglyphe eine andere Konnotation. Während diese in „Ästhetische Theorie“ für ein zu interpretierendes Schriftzeichen in Form eines an die Rezipierenden gerichtetes Frage-, eines letztlich nicht zu lösenden Rätselzeichens steht, ist mit der Hieroglyphe in „Das Schema der Massenkultur“ gerade eine Art Suspendierung von Deutungsaktivität seitens der KonsumentInnen beschrieben. Der hieroglyphische Charakter der kulturindustriellen Waren reduziere Fremdes und Unverständliches (vgl. ebd., S. 333). Die Hieroglyphe taucht hier in Zusammenhang mit der Darstellung einer Verschiebung der Übersetzungsleistung von den Rezipierenden auf die kulturindustriellen Produkte auf. Die kulturindustriellen Bilder liefern dabei, so Adorno hier, ihren Schlüssel, den Code zur ihrer Entschlüsselung mit. Den KonsumentInnen werde – so kann man sagen – die Übersetzung von dem vorgefertigten Sinn der kulturindustriellen Produkte abgenommen. Adorno hält u.a. in dieser Hinsicht das Kino für „das charakteristischste Medium“ (ders. 1969b, S. 11; vgl. II.4) seiner Zeit. Folglich ließen sich am Kino grundlegende Charakteristiken der Kulturindustrie ablesen.51 50 | Im Unterschied zu dem Um-Schreiben von den Textentwürfen der Abschnitte I.2, I.3 und II.2, II.3 gestaltete sich hier (I.4 und II.4) das Schreiben anders: nämlich weniger um-schreibend als eher kompositorisch. Daran mag sich auch gezeigt haben, dass es, wie Babenhauserheide schreibt, im Bereich des Ästhetischen eher passiert, dass „ein Moment von Fassungslosigkeit dem Subjekt Kontrolle, Verfügungsgewalt und Herrschaftsanspruch entziehen kann“, im Unterschied eben zum Bereich des wissenschaftlich-begrifflichen Denkens, in dem die Kategorien sich auch „als Schutzwall“ anbieten (Babenhauserheide 2015, S. 94). Die potentiell entdisziplinierende Wirkung von ästhetischem Material zeigte sich auch darin, dass ich in diesen Abschnitten mitunter in eine Art Deutungswahn verfiel und zunächst Seite um Seite anhäufte, was bei den auf die Filmtheorien allein bezogenen Abschnitte in dieser Weise nicht der Fall war. 51 | An diese Auffassung anschließend wähle ich als Ausgangsmaterial meiner Untersuchung unbewusster Dynamiken in der Kulturindustrie Filmtheorien. Das Kino galt jahrzehntelang unbestritten und gilt mitunter bis heute (vgl. Elsaesser 2002, S. 291) als das Leitmedium des 20. Jahrhunderts (vgl. Müller/Ligensa/Gendolla (Hrsg.) 2009).

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Symptome der Kulturindustrie

In „Das Schema der Massenkultur“ macht Adorno die hier konstatierte Mitlieferung des Codes zur Entschlüsselung folgendermaßen am Kino fest: „Die Tendenz zur Hieroglyphe hat in der bisherigen Geschichte der Massenkultur Epoche gemacht. Sie nämlich markiert den Übergang vom stummen zum Tonfilm. Im alten Film alternierten noch Schriftzeichen und Bild, und ihre Antithese verlieh dem Bildcharakter der Bilder Nachdruck. Diese Dialektik war gleich jeder anderen für die Massenkultur unerträglich. Sie verscheuchte die Schrift als Fremdkörper aus dem Film, aber nur um die Bilder selber ganz zu der Schrift zu machen, die sie absorbieren.“ (ders. 1942, S. 333)52 Bezüglich des Unbewussten in der Kulturindustrie ergibt sich an dieser Stelle die Frage: Worin bestünde in diesem Fall die verführerische Wirkung auf das Publikum? Scheint hier ein anderes Rätsel auf, welches ebenfalls ein Entzogen-Sein präsentiert: Nämlich das des scheinbaren Mangels eines fehlenden Codes? 53 Ich betrachte jene – die Annahme einer totalen Integration nahelegende – Übersetzung in meiner Arbeit nicht als Antwort, sondern als ein Rätsel, dem ich nachgehen möchte. Das heißt, die Annahme eines Verschwindens des Rätselcharakters in der Kulturindustrie wird selbst als ein zu übersetzendes, zu deutendes Rätsel genommen. Auch Adornos Theorien über Kulturindustrie gehen nicht widerspruchslos in sich auf, was zu weiteren anstiften kann. Das gilt für jede Übersetzung.

52 | Das Verhältnis von Stumm- und Tonfilm ist für II.4 zentral. 53 | Die technischen Bilder, so schreibt Flusser, „sind aus einem seltsamen Grund schwer zu entziffern. Allem Anschein nach müssen sie nämlich gar nicht entziffert werden, da sich ihre Bedeutung scheinbar automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet“ (Flusser 1983, S. 13).

Teil I

G renzüberschreiTende s piele

I.1 Einleitung: Grenzüberschreitung und Spiel, Filmologie und Santiago Sierra

Im Zentrum stehen im Folgenden grenzüberschreitende Aspekte des Spiels in Theorien aus der frühen Phase der Filmologie. Bei der Filmologie handelt es sich um eine filmwissenschaftliche Strömung, die institutionell am 1948 gegründeten „Institut de filmologie“ an der Sorbonne verankert war (vgl. I.2). Zwei Texte des Psychoanalytikers Cesare Musatti werden Gegenstand einer genaueren Lektüre sein (vgl. I.3), deren Ergebnis mit ausgewählten Arbeiten des zeitgenössischen Konzeptkünstlers Santiago Sierra konfrontiert wird (vgl. I.4). Diese vergleichende Interpretation folgt der Frage: Welche Haltungen gegenüber dem Spiel werden hier jeweils in Theorie und ästhetischer Inszenierung an den Tag gelegt? Welche unterschiedlichen spielerischen Momente (und damit verbundenen unbewussten Dynamiken) sind in diese Darstellungen (des Spiels) involviert? Sierras Werke verhandele ich als künstlerische, filmologische Texte als theoretische Inszenierungen von Grenzen des Spiels und deren Überschreitungen im Modus des Spiels. Es geht somit um eine Untersuchung spielerischer Momente in diesen theoretischen und ästhetischen Darstellungen von Spielen (vgl. Einführung). Welcher Aufschluss über unbewusste Dynamiken der Kulturindustrie kann in dieser Konstellation gewonnen werden? Sowohl in filmologischen Theorien als auch in Sierras Aktionen bilden grenzüberschreitende Aspekte des Spiels einen neuralgischen Punkt – der Bereich des Spiels scheint hier letztlich nicht gesichert zu sein. Mit der Frage nach der Grenze zwischen Spiel und Nicht-Spiel gehen die filmologischen Theorien und Sierras Aktionen in nahezu diametraler Weise um. Während die filmologischen Ansätze darum bemüht sind, eine Rahmung des spielerischen Bereichs begrifflich zu sichern, können Sierras Aktionen als Angriff auf solcherart Grenzziehungen verstanden werden (vgl. Einführung). Es zeichnen sich hier – wie einleitend skizziert werden soll – um verschiedene Reaktionen auf eine wahrgenommene Krise des spielerischen Moments in kultureller Erfahrung.1 Beide Reaktionsformen, so 1 | Gegenwärtig sind es insbesondere Ego-Shooter, an denen sich öffentliche Diskussionen um Grenzüberschreitung und Gewalt entzünden. In dieserart Rhetoriken einer Krise

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meine These, gehen mit spielerischem Lustgewinns einher; mehr noch: dieser Lustgewinn hängt maßgeblich an der Gegenüberstellung von Grenzsicherung und Grenzüberschreitung, wie sie sich in der Konstellation von filmologischen Theorien und Sierras Arbeiten beispielhaft zeigt. Eine Krise und mitunter auch ein damit einhergehendes Verschwinden des Spiels in der gegenwärtigen Kultur werden von verschiedener Seite konstatiert. So vertritt z.B. Huizinga, dass der Ursprung aller Kultur im Spiel liegt, die gegenwärtige Kultur aber eine Tendenz zur Vertreibung des Spiels aufweise (vgl. Huizinga 1958). Während Huizinga von einer Ausbreitung der profanen Sphäre und einer Minimierung des spielerisch-sakralen Bereichs ausgeht, bewertet etwa McLuhan diesen Sachverhalt anders: Das scheinbare Verschwinden des Spiels führt dieser auf eine Verallgemeinerung des spielerischen Moments in der Kultur zurück – die Gegenwartskultur zeichne sich durch eine Universalisierung des Spiels, durch dessen Diffundieren in alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Diese Entwicklung begrüßt McLuhan als Möglichkeit der Partizipation ausdrücklich (vgl. McLuhan 2001). Demgegenüber sieht Bourdieu im Spiel eine Art Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Dieses hat ihm zufolge eine zentrale gesellschaftsstrukturierende Funktion. Demnach ist der in verschiedene Felder differenzierte soziale Raum durch unterschiedliche Spielregeln strukturiert, die von den Einzelnen stillschweigend akzeptiert werden. Mit der Teilnahme am Spiel seien die Einzelnen als soziale Akteure in den Kampf um gesellschaftliche Macht und in die Reproduktion von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital eingebunden. Dafür ist, so Bourdieus Auffassung, die affektive Besetzung des Spiels eine wesentliche Bedingung.2 „Das für ein Spiel kennzeichnende spezifische Interesse wird identisch mit der Besetzung (affektives Engagement und materielle Investition des Spiels), mit der illusio als stillschweigende Anerkennung der Spieleinsätze.“ (Bourdieu 1989, S. 399) Bonz (2006) wirft vor diesem Hintergrund die Frage auf, inwiefern aktuelle Diagnosen der Depression als ‚Volkskrankheit‘ der Spätmoderne (vgl. Ehrenberg 2004) auf eine gegenwärtige Problematik für die Subjekte hinweisen, sich als Akteure ins Spiel zu bringen. Ehrenberg bringt das von ihm diagnostizierte „erschöpfte Selbst“ mit einem Zuwachs an Wahlmöglichkeiten im modernen Kapitalismus zusammen (vgl. ebd.). Sennett wiederum sieht in einer Fokussierung auf das unter Erwartungsdruck gestellte Selbst eine Begleiterscheinung einer „Tyrannei der Intimität“ (1996). Er bezeichnet mit dieser, kurz gefasst, eine gesellschaftliche Verschiebung hin zum Privaten, die mit dem Verlust von Öffentlichkeit und eides Spiels geht es zentral um Fragen des „zu viel“ im Sinne eines „zu wenig“ an Spiel (vgl. Böhle 2007). 2 | „Jedes Feld erzeugt seine eigene Form von illusio im Sinne eines Sich-Investierens, Sich-Einbringens in das Spiel, das die Akteure der Gleichgültigkeit entreißt und sie dazu bewegt und disponiert, die von der Logik des Feldes her gesehen relevanten Unterscheidungen zu treffen […].“ (Bourdieu 1999, S. 360)

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ner Entpolitisierung einhergeht.3 Pfaller greift Sennetts Zeitdiagnose einer „Erosion der öffentlichen Kultur“ (Opitz 2006, S. 385) auf und bringt dessen Analyse schwindender Möglichkeiten, den öffentlichen Raum als Spielraum der Begegnung mit Fremdem und Neuem zu nutzen, unter Einsatz der Psychoanalyse u.a. mit Huizingas Kulturtheorie zusammen. Zentrale Aspekte von Pfallers Theorie dienen im Folgenden als Eckpfeiler meiner vergleichenden Interpretation der Darstellungen von Musatti und Sierra (vgl. Einführung). In Anknüpfung an Sennetts Diagnose einer „Tyrannei der Intimität“ konstatiert Pfaller ein Abdrängen des Spiels in neue Intimräume (vgl. Pfaller 2007, S. 158) und spricht – in Anschluss an Huizinga – von einer „umfassenden Profanisierung“ (ders. 2008, S. 25) der gegenwärtigen Kultur. Ein Verschwinden des Spiels und damit verbundener Möglichkeiten des kulturellen Lustgewinns sei zu verzeichnen, das sich im „spürbare[n] Verlust von Glamour und Mondänität auf allen Ebenen“ (ders. 2007, S. 156) bemerkbar mache: Angefangen bei der Verbannung des Rauchens aus dem öffentlichen Raum4 bis hin zu bestimmten Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst, in kritischer Absicht und „gut gemeinten Initiativen“ den ästhetischen Bereich als ein politisches Betätigungsfeld zu nutzen und in diesem Zuge „dafür sorgen, dass alles, was an der künstlerischen Form zauberhaft erscheinen könnte, zugunsten benennbarer und vorhersagbarer Inhalte unterbleibt“ (ders. 2008, S. 23). Diese Entwicklung beschreibt Pfaller u.a. als Ersetzung der gespielten Rolle (im öffentlichen Leben) durch die authentische Person, des Feierlichen durch eine neue Nüchternheit, des Kosmopolitischen durch Provinzialität – kurz: als „Entzauberung der Welt“ (vgl. Pfaller 2007, S. 156 Bezug nehmend auf Weber 1988). Es finde eine Art psychischer Registerwechsel statt, den Pfaller u.a. mittels einer Differenzierung zwischen positiven und negativen Spielen begrifflich einzuordnen sucht. Diese betrifft eine für den spielerischen Lustgewinn entscheidende Haltung der Spielenden: Positive Spiele sind demnach durch eine lustvolle Hingabe an eine mit dem Spiel einhergehende Illusion charakterisiert, negative Spiele sind an einer Haltung der Spielverweigerung und einer damit einhergehenden Humorlosigkeit zu erkennen (vgl. II.4). Während nach Pfaller in positiven Spielen aus der Absetzung der spielerischen von der profanen Sphäre Lust gewonnen wird, geht mit den negativen Spielen ein Verzicht auf eben diese Lustquelle einher. Im Zeichen eines „finsteren Narzißmus“ (ebd.) beruhen diesem zufolge die negativen Spiele auf einer Abwehr der – als Entfremdung erlebten – Absetzung des Spiels vom Bereich des Profanen. 3 | Dementsprechend heißt es: „Man ertrinkt in sich selbst, es entfaltet sich ein entropischer Prozess.“ (Sennett 1996, S. 408) 4 | Bevor das Rauchen laut Pfaller ziemlich plötzlich auf eine gesundheitsschädliche Unsitte reduziert wurde, war dieses „auch ein Zeichen von Zivilisiertheit: Für die Öffentlichkeit – um anderen gesellig zu erscheinen und ihnen dadurch angenehm zu sein – griffen Menschen zur Tabakware. Rauchen war eine Form der Höflichkeit und diente der Erzeugung von mondänem Leben“ (Pfaller 2007, S. 158).

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Dieser Einordnung folgend können filmologische Theorien als Vertretungen positiver Spiele und Inszenierungen von Sierra als Positionen negativer Spiels gelten. Denn ein wesentlicher Impetus filmologischer Theorien liegt in der Verteidigung des Kinos gegenüber kulturpessimistischen Einschätzungen, das Kino trage zum Niedergang der hohen Kunst bei und habe eine schädigende, suggestive Wirkung auf sein Publikum. In der Tat, so lautet eine zentrale Überzeugung der Filmologen, habe das Kino in verschiedener Hinsicht einen grenzüberschreitenden Charakter – dieser sei aber grundsätzlich positiv zu bewerten. Das Kino erweitere im Vergleich zu Darstellungsformen der traditionellen Künste den Raum möglicher Erfahrungen in so entscheidender Weise, dass es einen wichtigen Beitrag zum zivilisatorischen Fortschritt leisten könne. Dem spielerischen Zug der Rezeption im Kino wird im filmologischen Kontext also positive Bedeutung gegeben. In Konstellation erscheinen Sierras Inszenierungen als Rebellion gegen dieserart spielfreundliche Haltung und können unter Rückgriff auf Pfaller als spielfeindliche Wendung gegen positive Spiele beschrieben werden. Sierra ist bekannt dafür, mit seinen Performances gespaltene Reaktionen hervorzurufen – z.B. mit seiner Arbeit 245 m³. 2006 leitete er Autoabgase in die Synagoge Stommeln-Pulheim, in der seit 1991 wechselnde KünstlerInnen jährlich Arbeiten realisieren. Auf der Website des Synagogenprojekts erklärt er, er sei mit seiner Arbeit eingeladen gewesen, „das Gedenken an die unzähligen Juden in Ehren zu halten, die – um ihnen ihren Besitz zu rauben – im 20. Jahrhundert brutal ermordet wurden“.5 245 m³, so heißt es hier, „ist eine Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust, über das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl, über die Armen und die Armseligen“.6 Ralph Giordano bezeichnete – laut der FAZ vom 13.3.2006 – die Arbeit als „Niedertracht sondergleichen“ gegenüber den Opfern und Überlebenden der Shoah: „Hätte Sierra auch nur die kleinste innere Beziehung zu der Welt der Opfer, hätte er sich sein Pulheimer Machwerk verkniffen.“ Der damalige Generalsekretär des „Zentralrat der Juden in Deutschland“ Stephan J. Kramer kritisierte die Aktion als „fiktive[s] und geschmacklose[s] Kunstspektakel“, welches „die Würde der Opfer des Holocausts“ und „der jüdischen Gemeinschaft“ verletze.7 Nicht-jüdische Verantwortliche der städtischen Behörden zeigten sich angesichts dieser Reaktionen überrascht bis verständnislos und verteidigten die Arbeit. „Man braucht ein sinnliches Erlebnis, herkömmliche Denktage bleiben ohne Wirkung“, begründete etwa der amtierende Stommelner Bürgermeister Karl-August Morisse seine Zustimmung zur Re-

5 | http://www.synagoge-stommeln.de/index.php?n1=2&n2=2&Direction=131; zuletzt gesehen 8.1.2015. 6 | Ebd. 7 | Ebenfalls in der FAZ vom 13.3.2006.

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alisierung von Sierras Projekt.8 Als einen Experten aus Kunstkreisen zitierte der stern (12.3.2006) u.a. den damaligen Kurator des „Museum Weserburg Bremen“ Peter Friese mit der Überlegung, solcherart tabuverletzende Aktionen könnten vielleicht die einzige Möglichkeit sein, „gegen das Verflachen und Überformen der Erinnerung anzugehen“ und Sierras Arbeit gäbe „keine Chance, dem Schock zu entgehen“. Die Inszenierung wurde nach einigen Wochen im April 2006 abgebrochen. Sierra erklärte gegenüber der FAZ (20.3.2006), seine Intention sei missverstanden worden. „Empathie mit den Opfern“ zu erwirken, wäre nicht sein Ziel gewesen, vielmehr wollte er „den Menschen einen Anstoß geben, an den eigenen Tod zu denken“. Um eine schmerzhafte Epoche zu thematisieren, müsse er „harte Bilder wählen dürfen“, es „sei ungerecht, daß dies im Kino möglich sei, bildende Künstler aber als ‚radikale Provokateure kritisiert werden‘“. Im Kino sei also, so Sierra, ungerechterweise mehr Provokation erlaubt als im Kontext der bildenden Künste. Sowohl die Referenz auf das Kino als auch auf die Shoah sind für Sierras Themenwahl nicht unbedingt charakteristisch, wohl aber die in diesem Zusammenhang gewählte Rhetorik: In anderem Kontext würde sein Tun als legitim empfunden und die Kritik an ihm als Provokateur sei dahingehend unfair. Nicht nur die Provokation sondern auch dieserart Hinweis sind Teil seines Programms, wie im Folgenden deutlich werden wird. Untersucht werden Arbeiten von Sierra, in denen bestimmte Aspekte kapitalistischer Ausbeutung in den Raum der Kunst übertragen werden. Diese Arbeiten folgen einem bestimmten Grundmuster: Sierra kauft Arbeitskraft, die in einem Handlungsablauf verausgabt wird. Sierras ArbeitnehmerInnen sind stets sozial und ökonomisch Benachteiligte – es werden Obdachlose, Prostituierte, Drogensüchtige oder Slum-BewohnerInnen für u.a. folgende Tätigkeiten bezahlt: sich Striche tätowieren zu lassen, tagelang in Galerien in Kisten eingesperrt oder in Wände eingemauert zu werden, mehrere Stunden mit dem Gesicht zur Wand zu stehen oder vor einer Kamera zu masturbieren. Auf empörte Reaktionen antwortet Sierra: „Ich folge nur den allgemein akzeptierten Regeln der Gesellschaft. Ich kaufe Menschen und zahle ihnen die in ihrem Land üblichen Löhne.“ (Schneider (Hrsg.)/Sierra 2004, S. 30) Die Aussage An meinen Werken wird als provozierend wahrgenommen, was ansonsten als üblicher Bestandteil gesellschaftlich-ökonomischer Praxis akzeptiert wird ist Bestandteil der Arbeiten und mit diesem ist das Motiv der Grenzüberschreitung auf verschiedene Weise verbunden. Zunächst in Form der Provokation: Vom lateinischen Wort provocare – hervorrufen, herbeirufen – stammend, bezeichnet Provokation bekanntlich eine Aussage oder Verhaltensweise, die auf die Evokation von empörten Reaktionen anderer mittels Überschreitung üblicherweise eingehaltener Grenzen (meist auf dem Ge8 | Quelle: http://www.artnet.de/magazine/santiago-sierra-in-stommeln-3/; zuletzt gesehen am 8.1.2015.

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biet moralischer Übereinkünfte) abzielt. Es geht in diesem Fall auch um Grenzziehungen zwischen Kunst und sonstiger gesellschaftlicher Realität, die von Sierras Aktionen radikal in Frage gestellt werden. Als provokativ fällt zunächst auf, dass hier Menschen in zumeist physisch schmerzhafter oder psychisch belastender Weise als Material der Werke verwendet werden. Die Überschreitung der Grenze zwischen bloßer Kunst und tatsächlicher Realität inszeniert sich an den Körpergrenzen des menschlichen Materials in drastischer Weise. „Wer im ästhetischen Kontext drastisch wird, zeigt, dass nicht nur gespielt wird, sondern dass es ernst ist, dass die Kunst das Leben nicht beschönigt, überhöht oder verklärt, sondern mit den auch schmerzlichen Tatsachen des Lebens direkt verbunden ist.“ (Saar 2014, o. S.) Sierras Provokation besteht darin, in dieser Weise ernst zu machen und zu demonstrieren, dass Kunst nicht außerhalb der kapitalistisch organisierten Gesellschaft steht. Dieser Logik nach gibt es beschönigende Kunst, die dieses Eingebunden-Sein ideologisch kaschiert und solche (wie eben z.B. Sierras), die eben dieses thematisiert. Der von Sierras Aktionen thematisierten Grenze zwischen dem Bereich der Kunst und der sonstigen Realität wird so der Charakter einer bloßen Verschleierung einer ‚eigentlichen‘ Zusammengehörigkeit gegeben. Kein Kunstwerk – so kann man seine Position zusammenfassen – ist nur Kunst. Seine Werke demonstrieren: Kunst ist unmittelbares Resultat einer realen, ausbeuterischen Praxis zum Zwecke der Profitmaximierung. Demonstriert wird hier: Kunst ist nicht nur ein Spiel. Als Mehr als ein bloßes Spiel in verschiedener Hinsicht bestimmen auch Vertreter der Filmologie das Kino – jedoch steht gleichwohl für diese fest: Es handelt sich um ein Spiel, welches von der sonstigen Realität abgegrenzt ist. Die Grenze zwischen filmischer und sonstiger Realität gilt den Filmologen als Bedingung von verschiedenen Versprechen, die diese mit dem Kino verbinden – das Kino leiste (zumindest potentiell) Mehr als bisherige künstlerische Darstellungs- und populäre Unterhaltungsformen einen Beitrag zum menschlichen Fortschritt. Dieser Beitrag wird zentral an der Spezifik des im Kino erzeugten Realitätseindrucks festgemacht. Albert Michotte van den Berck stellt in seinem einflussreichen Text „Der Realitätscharakter der filmischen Projektion“ (Michotte 2003a) gleich im ersten Satz eine bestimmte Art der Überschreitung dessen Besonderheit fest: Ein wesentliches charakteristisches Merkmal der filmischen Realität sei die Vermittlung eines „lebhaften Eindruck[s] der Realität der Dinge“, welcher den von anderen plastischen Künsten evozierten „klar übertrifft“ (ebd., S. 110); also: überschreitet. Aus diesem Mehr, mit welchem das Kino alle anderen künstlerischen Darstellungstechniken überflügle, leitet Michotte des Weiteren eine grenzüberschreitende Wirkung auf das Publikum ab. Der Film löse „machtvolle emotionale Reaktionen bei den Zuschauern aus“ – ob „[d]ie Angst, das Vergnügen, die komische Empfindung, die Sympathie oder Antipathie, sogar der Ekel oder Enthusiasmus“, die eine Handlung oder Person auf der Leinwand evoziere: Diesen Reaktionen selbst kom-

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me Realität zu, denn diese „werden tatsächlich empfunden“ (ebd., S. 123). Dies verkopple sich mit einem anderen Prozess, nämlich der „Projektion unserer eigenen Emotionen auf die Person“ (ebd.) – ebenfalls ein grenzüberschreitender Aspekt. Es ist eine Verzahnung von filmischer Wirkung und einer Art affektivem Entgegenkommen der Zuschauenden, die Michotte an dieser Stelle als einen Schock vorstellt: „Ruft das alles nicht eine Art umgekehrten Schock hervor, einen ‚zirkulären Prozess‘ der gegenseitigen Einwirkung, machtvoller, als man es auf den ersten Blick annehmen könnte, der den Personen wie den Dingen, zwischen denen sie sich bewegen, eine richtig gehende Zunahme an Wirklichkeit verleiht?“ (Ebd.) Zentral für filmologische Überlegungen zum Kino ist in diesem Zusammenhang der Vergleich von Kino und Theater. Das grenzüberschreitende Potential des Massenunterhaltungsmediums Kino wird stets in Abgrenzung zum minderen Tatsächlichkeitswert der Darstellung im Theater bestimmt. Aber, so halten filmologische Ansätze gleichwohl fest: Auch dem Kinopublikum sei in der Regel gewahr, dass es sich nur um eine Darstellung (und nicht um Realität) handele. Im spielerischen Modus wird eine Gemeinsamkeit mit ästhetischer Erfahrung im Bereich anderer künstlerischer Darstellungsverfahren gesehen – das Neue und Spezifische des Kinos wird am Mehr an Tatsächlichkeitswert festgemacht. Man kann sagen: Die Filmologen sehen hier ein vergleichsweise drastischeres Spiel. Das Kino weist demnach gegenüber traditionellen Künsten ein grenzüberschreitenderes Potential auf, doch sei auch für die filmische Erfahrung die Abgegrenztheit dieses Schauspiels von der sonstigen Realität grundlegend – es handelt sich der Filmologie zufolge in dieser Hinsicht gleichwohl nur um ein Spiel. In der Konstellation von filmologischen Theorien und Sierras Aktionen können letztere als ein Angriff auf eben dieses nur interpretiert werden, insofern diese im Gegenzug demonstrieren: Kunst ist nicht nur ein Spiel. Filmologische Theorien gehen demnach prinzipiell von einer Unterschiedenheit zwischen ästhetischer und sonstiger Realität (allgemein im Bereich der ästhetischen Rezeption, aber auch speziell der im Kino) aus. Diese Grenze ist eine von den Theorien festgestellte Voraussetzung des filmischen Realitätseindrucks, sie ist aber darüber hinaus auch eine Voraus-Setzung der filmologischen Theorien selbst – nämlich insofern diese in ihrer prinzipiellen Gültigkeit angenommen wird und die Argumentationen ganz grundsätzlich auf dieser Annahme auf bauen. Sierras Aktionen greifen eben diese Voraussetzung an, indem sie diese als ideologische Verschleierung deklarieren. Die Filmologen verteidigen die filmische Erfahrung als ein (in der Regel) ungefährliches Spiel, welches potentiell von gesamtgesellschaftlichem Wert ist – Sierra hingegen führt ein schädigendes Spiel vor, welches demonstriert, Realität zu sein und damit eine ideologische Illusion von der Abgesetztheit der Spielsphäre aufdeckt. In dieser Konstellation erweisen sich Sierras Aktionen als negatives, die Theorien der Filmologen hingegen als ein positives Spiel. Beide Positionen entfalten sich in einem Spannungsfeld von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Ist die betreffende Grenze diejenige zwischen Spiel und Realität, so ist deren Überschreitung mit einer Ver-

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wandlung von Spiel in Realität assoziiert. Es handelt sich hierbei um ein gängiges Denkmodell, welches, wie Rötzer hinweist, ganz maßgeblich auf der Nicht-Befragung der eigenen Voraussetzungen beruht: „Alle aus einer solchen Begrenzung des Spielraums folgenden Überlegungen bewegen sich dann […] mit großem Aufwand innerhalb dieses Rahmens, ohne zu bemerken, dass eine solche Theorie selbst ein Spiel ist, für das die Spielregeln festgelegt werden sollen, so dass das Spiel reproduzierbar bleibt, so dass jeder, der dieses Denkspiel macht, zu denselben oder ähnlichen Ergebnissen kommt, sobald er die Prämissen und die Regeln anerkennt.“ (Rötzer 2013, S. 15f.) Während, wie sich übertragen lässt, Sierra einen Regelbruch demonstriert, halten die filmologischen Theorien an dieser Spielregel fest. Es wird im Folgenden nicht nur untersucht werden, welches die unbewussten Bedingungen dafür sind, mit ‚großem Aufwand‘, wie Rötzer bemerkt, diese Regeln in der Theorie zu bestätigen. Es wird umgekehrt mit den Arbeiten von Sierra auch den unbewussten Bedingungen dafür nachgegangen, diese Regeln zu eskamotieren. Beide Positionen werden dabei als Teil eines gemeinsamen Spiels betrachtet werden (vgl. I.4). Das Spannungsfeld von Grenzziehung und –überschreitung, in dem dieses Spiel stattfindet, lässt sich in Verbindung bringen mit der einführend skizzierten Verortung kulturindustrieller Erfahrung, wie sie Adorno z.B. in seinem Text „Freizeit“ (1969a) vornimmt.9 Als Freizeitvergnügen sei kulturindustrieller Konsum in einer von der Arbeitsrealität abgesetzten Sphäre situiert – zugleich aber bestimmt Adorno das kulturindustrielle Amusement als „Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus“ (ders. 1947a, S. 158). Der kulturindustrielle Bereich ist somit charakterisiert durch eine Grenzziehung (die Freizeit ist vom Bereich der Arbeit abgegrenzt) und zugleich durch deren Überschreitung (als Verlängerung der Arbeit). In ganz grundsätzlicher Weise wird das Spiel auch von Adorno in Absetzung zur sonstigen Realität situiert: Spiele zeichneten sich dadurch aus, „daß sie zunächst einmal nicht Bestandteile der unmittelbaren empirischen Realität sind, daß sie in gewissem Sinne zweckfrei sind und daß man nicht unmittelbar Vorteile mit ihnen verfolgt, sondern wenn das geschieht, dann geschieht es eben nur hintenherum“ (ders. 1958/59, S. 73). Diese vermittelte Beziehung zur empirischen Realität des Spiels vergleicht Adorno mit dem Denken wie auch mit der Kunst. So heißt es, dass Denken notwendig „ein Element der Übertreibung, des über die Sachen Hinausschießens, von der Schwere des Faktischen sich Loslösens“ aufweise, worin „jeder Gedanke dem Spiel“ (ders. 1951a, S. 142) ähnele. Weil der Gedanke zur Realität „nicht ganz hinkommt“, muss er „über seinen Gegenstand hinauszielen“ (ebd., S. 143). In dieser Übertreibung sieht Adorno die Möglichkeit einer „Erfahrung der Grenze, die zu denken und zu überschreiten 9 | Das Spiel ist keine zentrale und ausgearbeitete Kategorie in Adornos Texten (vgl. Einführung). Doch tauchen an unterschiedlichsten Stellen seiner Schriften Bezüge auf dieses auf, die teils eben jene Doppelheit von Abgesetztheit und Verlängerung thematisieren.

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[…] das Gleiche ist“ (ebd.). Auch jedes Kunstwerk partizipiere am Spiel. In seinem ihm immanenten spielerischen Zug dichte sich das jeweilige Werk von den Zwecksetzungen der empirischen Welt ab. Das spielerische Moment wird von Adorno als eine Bedingung dafür ausgemacht, dass sich das Kunstwerk – gemäß der Kantschen Bestimmung – als eine „Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes, ohne allen (weder objektiven noch subjektiven) Zweck“ (Kant 1974, S. 136) behaupten kann. Ein spielerisches Moment trägt demnach dazu bei, dass sowohl Denken als auch Kunst sich „in einem abgesetzten Bereich“ bewegen, der „gewissermaßen in Klammern“ steht (Adorno 1958/59, S. 74). Der Gedanke spreche „eben dadurch genau das aus was ist, daß es nie ganz so ist, wie er es ausspricht“ (ders. 1951a, S. 142) und Kunst wiederum beziehe aus einem spielerischen Moment ein Moment von „Widerspenstigkeit […] gegen die Kommunikation mit der empirischen Realität“ (Adorno 1958/59, S. 76), durch welches diese überhaupt erst etwas von der Welt mitteilen könne. Die Absetzung, so unterstreicht Adorno, ist aber keineswegs objektiv verbürgt und festgelegt: Die „Distanz ist keine Sicherheitszone sondern ein Spannungsfeld“ (ebd., S. 142). So sei auch der Begriff von Kunst selbst „nicht der Umfang eines ein für allemal gesicherten Bereichs, sondern stellte jeweils erst sich her, in augenblicklicher und zerbrechlicher Balance, der psychologischen von Ich und Es mehr als nur zu vergleichen“ (ders. 1970, S. 17). Die Frage nach den Grenzen des Spiels – die m.E. einen neuralgischen Punkt meines Materials darstellt (s.o.) – stellt sich demnach immer wieder aufs Neue. Lassen sich Sierras Aktionen als grenzüberschreitende Angriffe auf Grenzziehungen zwischen dem Bereich der Kunst und der Nicht-Kunst, des Spiels und des Nicht-Spiels verstehen, so inszeniert sich hier auch, was Adorno als Entkunstung der Kunst (vgl. ebd., S. 32ff.) bezeichnet. Als Entkunstung beschreibt Adorno eine Reaktion der Kunstwerke darauf, dass es diesen diesem zufolge „immer schwerer [wird], sich als Sinnzusammenhang zusammenzufügen. Darauf antworten sie schließlich mit der Absage an dessen Idee“ (ebd., S. 229). Diese Idee ist für Adorno gebunden an das Versprechen der Emanzipation bürgerlicher Subjektivität. Im Zuge dessen, so Adorno, die Emanzipation „alle Vorstellungen vorgegebener und sinnverleihender Ordnung demolierte“, sei auch die Idee des autonomen Werks angegriffen, welche von jeher ideologischen Charakters war: „Schon vor Auschwitz war es angesichts der geschichtlichen Erfahrungen affirmative Lüge, irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben. Das hat Konsequenzen bis in die Form der Kunstwerke hinein.“ (Ebd.)10 Kulturindustrie nimmt diese Krise gewissermaßen in ihren Dienst. Der potentielle „Stachel“ (ebd., S. 25), der sich in Distanz zum Faktischen gegen die Verhältnisse wenden kann, werde in affirmativer Wendung umgebogen in eine Verlängerung der empirischen Wirklichkeit. In Adornos Texten steht dafür an verschiedener Stelle paradigmatisch das Kino (vgl. Einführung): „Die alte Erfah10 | Vgl. dazu auch Claussen 1995.

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rung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden.“ (Ders. 1947a, S. 147) In dieser Hinsicht ist für Adorno der ideologische Schein des autonomen Kunstwerk ein historisch spezifisches Gegenbild zur Kulturindustrie (vgl. Ritsert 2014, S. 5). Gegenbild ist nicht mit Gegensatz zu verwechseln. So geht Adorno z.B. nicht davon aus, dass Kunst im Unterschied zu kulturindustriellen Phänomenen „über den Niederungen der Warenform“ (ebd.) stehe. Wie Ritsert zuspitzt: Es geht nicht um die Frage, ob „die ernste Kunst […] sukzessive auf das Niveau von Sendungen wie das ‚Dschungelcamp‘ oder Kochsendungen wie ‚Deutschland sucht den Suppenstar‘“ (ebd., S. 4) heruntergewirtschaftet werde. Auch möchte ich in Frage stellen, dass die von Adorno konstatierte Tendenz, die kulturindustrielle Sphäre als bruchlose Verlängerung des Alltäglichen erscheinen zu lassen, tatsächlich bruchlos sich vollzieht. Vielmehr möchte ich mit diesem Teil der Arbeit eine andere Perspektive einnehmen ausgehend von der Frage: Wie lassen sich vor diesem Hintergrund unter Kulturindustrie Erscheinungsformen gerade der Krisenhaftigkeit des Verhältnisses von ästhetischem Bereich und empirischer Realität im Spätkapitalismus verstehen? Die Annahme ist dabei, dass grenzüberschreitende Aspekte des Spiels und die Spannung zwischen Grenzziehung und -überschreitung einen möglichen Austragungsort dieser Krisenhaftigkeit darstellen. Diese steht in Beziehung mit einer gewissen Zwickmühle, in der Adorno Kunstwerke verortet: Einerseits sieht er in der Abgesetztheit von der empirischen Realität (die Denken, Kunst und Spiel miteinander verbindet) die Bedingung für deren Widerständigkeit, zugleich aber liege gerade in der „Absage an die Empirie“ (Adorno 1970, S. 10) ein affirmatives Moment. So erteile die Kunst in ihrer Enthaltsamkeit der Realität zugleich auch den Segen, so zu bleiben, wie sie ist. In der Abgrenzung von der empirischen Realität sind demnach Widerständigkeit und Affirmation miteinander verknotet; kritische Distanz involviert stets ein Nicht-Antasten des Bestehenden. Jedem Werk sei damit stets sein eigenes „Mißlingen“ (ders. 1966a, S. 359)11 eingeschrieben. Im „emphatischen Anspruch ihrer Autarkie, haust die Unwahrheit“ (ebd.) wie zugleich die Bedingung, eine andere Welt vorscheinen zu lassen. Spätestens seit der Jahrhundertwende macht sich, wie Gorsen festhält, eine deutliche Rebellion geltend gegen diese immanente Wi11 | Das „Mißlingen der Kunst“ sieht Adorno durch die Shoah als „unwiderleglich bewiesen“ (Adorno 1966a, S. 359). Dies betrifft nicht diesem zufolge nur die Kunst im engeren Sinne, sondern die Kultur im Ganzen. Indem diese „restaurierte, nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zur Ideologie geworden, die sie potentiell war“ (ebd.). Sowohl das Festhalten wie der Angriff sind demnach in den Schuldzusammenhang verstrickt: „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche Kultur sich enthüllte“ (ebd., S. 360).

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dersprüchlichkeit in Form der „Tendenz, den ästhetischen Werk- und Scheincharakter in einem Kunst und Wirklichkeit umspannenden Lebenszusammenhang aufzulösen“ (Gorsen 1981, S. 8).12 Seither sei das Scheitern „der Rückbindung der Kunst an die Lebenspraxis“, so Gorsen, „in die moderne Kunstgeschichte involviert“ und habe „eine Folge von Entästhetisierungen, von Grenzüberschreitungen des Traditionell-Ästhetischen hervorgerufen […], die als ‚Antikunst‘, ‚Kunst der Kunstlosigkeit‘, ‚destruction in art‘ usw. begrifflich registriert worden sind“ (ebd.). Gorsen verweist in diesem Zusammenhang auf Adornos Skepsis gegenüber engagierter Kunst, die auf unmittelbaren politischen Eingriff setzt (ebd., S. 10) – gegenüber Kunst also, die (wie Sierras Aktionen) explizit darauf aus ist, Grenzziehungen zwischen Kunst und sonstiger Realität zu überschreiten. Adorno habe den Transzendenzverlust „als neue Qualität einer Kunst, die sich ihre Entästhetisierung einverleibt“ (ebd.) erkannt und dabei aber zugleich gegen kulturpessimistische Klagen über diese Tendenz Einspruch eingelegt. So weist Adorno in der „Ästhetischen Theorie“ darauf hin, dass die Geschichte der modernen Kunst von Thesen ihres Untergangs begleitet wird (vgl. Adorno 1970, S. 474). Regelmäßig würde die „Rede vom Ende der Kunst an dialektischen Knotenstellen laut, dort, wo jäh eine neue Gestalt hervortritt, polemisch gegen die vorhergehende“ (ebd.). Tatsächlich aber sei das prognostizierte Ende der Kunst bisher nicht eingetreten (ebd., S. 309) – gleichwohl sich in der Kunst eine Art allergische Reaktion gegen die Differenz von ästhetischem und alltäglichem Raum geltend mache. Gorsen hält in diesem Zusammenhang fest: „Noch in der absterbenden Kunst überdauert der Einspruch wider die (auch gesellschaftliche) Barbarei.“ (Gorsen 1982, S. 11) So kritisiert Adorno: „Generell ist das Geblök […] gegen Engagement […] subaltern. Die ideologische Sorge, Kultur rein zu halten, gehorcht dem Wunsch, daß in der fetischisierten Kultur damit real alles beim Alten bleibt.“ (Adorno 1970, S. 367; vgl. auch Grimm 2009, S. 70) Es geht hier um einen Konflikt zwischen „dem Moralischen, nämlich dem Anspruch, die Welt zu verändern, und dem spezifisch Ästhetischen, nämlich der Unerträglichkeit der Welt, so wie sie ist“ (ders. 1958/59, S. 194). Entkunstung der Kunst bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht ein tatsächliches Ende von Kunst, sondern vielmehr das Hervortreten von Aporien13; kurz: ein Symptom: „Das, was wir als Entästhetisierung und subjektlose Kunst in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts beobachten und noch äs12 | Wie Adorno in einer Fußnote zu den Vorlesungen zur Ästhetik anmerkt, ist in dieser Tendenz die Krise des Scheins mit der des Spiels verschwistert: „Gegen den Schein wird aber nicht […] zugunsten des Spiels rebelliert […]. Insgesamt dürfte die Krise des Scheins das Spiel in sich hineinreißen: was der Harmonie recht ist, die der Schein stiftet, ist der Harmlosigkeit des Spiels billig.“ (Adorno 1958/59, S. 422, Fn. 176) 13 | So merkt Adorno etwa an: „]S]chon bei Baudelaire wird die Transzendenz der künstlerischen Erscheinung bewirkt und negiert in eins. Unter diesem Aspekt bestimmt sich die Entkunstung der Kunst nicht allein als Stufe ihrer Liquidation sondern als ihre Entwicklungstendenz. Dennoch ist in der mittlerweile sozialisierten Rebellion gegen Aura und At-

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thetisch immanent beschreiben können, drückt die unter Bedingungen der warenproduzierenden Gesellschaft zwangsläufig scheiternde und selber ästhetisierte Hoffnung aus, den ästhetischen Scheincharakter des Kunstwerks abbauen und dessen Glücksversprechen praktisch einlösen zu können.“ (Gorsen 1981, S. 17f.; vgl. I.5) Eben aus dieser Perspektive wird im Folgenden das spielerische Moment in theoretischen und ästhetischen Inszenierungen untersucht: Nicht geht es mir um die Entscheidung der Frage, ob wir es gegenwärtig mit einem tatsächlichen Verschwinden des Spiels zu tun haben, sondern darum, welche Konflikthaftigkeit diesen Auseinandersetzungen um Grenzen des Spiels eingeschrieben ist. Während die Filmologen mit dem grenzüberschreitenden Potential des Kinos (bei gleichzeitiger Wahrung der Unterschiedenheit von Spiel und Nicht-Spiel) die Hoffnung der Einlösung verschiedenster Glücksversprechen verbinden, scheinen Sierras Arbeiten eher auf eine Demaskierung desselben als bloßer Ideologie abzuzielen. Proklamiert Sierra, nur den „allgemein akzeptierten Regeln der Gesellschaft“ (Schneider (Hrsg.)/Sierra 2004, S. 30; s.o.) zu folgen (und das heißt hier: Ausbeutung von Arbeitskraft um der Ausbeutung willen zu betreiben), so scheint mit dem Abbau des Scheincharakters der Kunst kein Glücksversprechen übrig zu sein. Betreibt Sierra ein „leeres Spiel“ (Adorno 1970, S. 379) bloßer Wiederholung der alltäglichen Welt (wie das Kino; vgl. ders 1947a, S. 147; s.o.)? Worin aber begründet sich dann die provozierende Wirkung seiner Aktionen? Deutet sich hier ein Misslingen auch in der Tendenz der Entästhetisierung an, die als charakteristisches Merkmal der Kulturindustrie gilt? In der Einführung hatte ich auf Adornos Anmerkungen zu den Umfrageergebnissen bezüglich der Berichterstattung über die Hochzeit zwischen Prinzessin Beatrix und Claus von Amsberg im Jahr 1966 hingewiesen, die auch als Hinweis auf dieserart Misslingen genommen werden können. Die Umfrageergebnisse standen, so Adorno, im Widerspruch zu der „Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewußtsein“ (ders. 1969a, S. 653; vgl. Einführung), von der Adorno und seine KollegInnen ausgegangen waren. Solcherlei Annahmen hätten „etwas Dogmatisches und Unüberprüftes“ (ders. 1968a, S. 255) – die Umfrageergebnisse hätten demgegenüber gezeigt, dass die „Integration von Bewußtsein und Freizeit […] offenbar doch noch nicht ganz gelungen“ (ders. 1969a, S. 655) sei. Die Gleichung geht also nicht auf – ein Rest bleibt, ein Mehr, ein Überschuss: „Symptome eines gedoppelten Bewußtseins“ (ebd., S. 654). Das Medienereignis wurde, so liest Adorno den Umfragen ab, von den KonsumentInnen zwar „als ein Jetzt und Hier“ genossen, doch verhielten diese sich „ganz realistisch“ (ebd.) gegenüber der Show: „[E]s wird nicht ganz daran geglaubt“ (ebd., S. 655). An dieser „merkwürdige[n] Doppelschlächtigkeit“ (ders. 1968a, S. 256) habe sich abgezeichnet, dass „die Menschen tatsächlich zwar eingefangen sind, aber gleichzeitig auch nicht mosphäre jenes Knistern nicht einfach untergegangen, in dem das Mehr des Phänomens gegen dieses sich bekundet.“ (Adorno 1970, S. 123)

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eingefangen sind“ (ebd.). Ein Spiel wurde für Realität und zugleich nicht für Realität gehalten – eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Grenzüberschreitung und Grenzziehung zwischen gespielter und nicht-gespielter Realität deutet sich hier an. In Bezug auf dieses Phänomen hält Adorno fest, es handele sich hier um einen „Schulfall dafür, was kritisch-theoretisches Denken von der empirischen Sozialforschung lernen“ (ebd., S. 654) könne. Es leitet sich daraus u.a. die Frage ab, der ich im Folgenden nachgehen möchte: Inwiefern ist in spielfeindlichen Formen der Entleerung des Spiels wohlmöglich eine merkwürdige Doppelschlächtigkeit (s.o.) wirksam? Insbesondere sollen dabei die im Spiel involvierten „unbewußte[n] psychische]n] Energie“ (ders. 1953a, S. 508) in Betracht gezogen werden, wie sie sich in der Konstellation von filmologischen Theorien und Sierras Arbeiten zeigen. Ich werde im ersten Schritt das in der Filmologie virulente Motiv der Grenzüberschreitung anhand verschiedener Texte aus den Anfangsjahren des filmologischen Instituts herausarbeiten (vgl. I.2). Exemplarisch wird dann die spezifische Figuration dieses Motivs in zwei Texten von Musatti genauer untersucht (vgl. I.3). Bei Musatti ist das oben am Beispiel von Michottes Begriff des Realitätseindrucks skizzierte Mehr, welches sich die Filmologie vom Kino verspricht, eingebunden in eine bestimmte Figur, die die gesamte Argumentation strukturiert: Mehr als nur, aber nicht Zuviel. In dieser verdichtet sich in symptomatischer Weise das für die Filmologie insgesamt zentrale Motiv der Grenzüberschreitung, dessen Deutung im letzten Abschnitt in einer vergleichenden Interpretation mit Sierras Arbeiten erfolgt (vgl. I.4). Unter Rückgriff auf Pfallers Theorie der Funktion des Spiels für den kulturellen Lustgewinn (vgl. Pfaller 2002; 2008) und auf Freuds Ausführungen zum Verhältnis von Spiel und Humor, stelle ich heraus, inwiefern Musattis und Sierras Konzeptionen als Gegenspieler in einem Spannungsfeld von Grenzüberschreitung und Grenzziehung in Bezug zueinander stehen. Ich weise auf, inwiefern beiden Darstellungen ein spielerisches Moment inhärent ist, welches für kulturellen Lustgewinn konstitutiv ist. Anhand dieser Konstellation zeigt sich, wie sich das für das Spiel charakteristische Spannungsfeld zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung sowohl im Festhalten am spielerischen Moment der Kultur (wie es sich z.B. in filmologischen Theorien zeigt) als auch im Angriff auf dieses (wie z.B. in Sierras Arbeiten) inszeniert. Ich fasse dies als ein Ausspielen einer Ambivalenz gegenüber dem spielerischen Moment in der Kulturindustrie (vgl. I.4; I.5). Es zeigt sich hieran, dass spielerische Lust in der Kulturindustrie durch das Festhalten an der Grenze zwischen Spiel und sonstiger Realität und durch den Angriff auf diese gewonnen wird. Beide sind dabei nicht voneinander isoliert, sondern aufeinander bezogen. In dieser Konstellation zeichnet sich letztlich auch die Krise des spielerischen Moments (s.o.) in der Kulturindustrie ab. Bezeichnet Adorno die Entkunstung der Kunst als ein Moment der ihr eigenen Entwicklungstendenz, so möchte ich in Bezug auf das Spiel zeigen: Der Angriff auf das

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Spiel – damit auch der auf das mit dem positiven Spiel verbundene Lustgewinn – kann als symptomatischer Ausdruck dessen verstanden werden, wie die Subjekte in die Gleichzeitigkeit von abgesetzter und verlängerter kulturindustrieller Erfahrung verwickelt sind. Das spielerische Moment ist der Kulturindustrie keineswegs ausgetrieben – vielmehr ist auch der Angriff auf die Abgesetztheit des Spiels selbst mit einem spielerischen Lustgewinn verbunden, der wider das Spiel die Subjekte in dieses einbindet (vgl. I.5).

I.2 Filmologie: Grenzüberschreitung als Motiv in der Wissenschaft vom Kino als universelle Institution Im Folgenden wird das Motiv der Grenzüberschreitung im Kontext der Filmologie erhoben. Herausgearbeitet werden wird, inwiefern die hier in den Blick genommenen frühen filmologischen Texte über die Unterschiede der jeweilig verwendeten Begriffe, untersuchten spezifischen Gegenstände und theoretischen Disziplinen hinweg von der Idee eines grenzüberschreitenden Potentials des Kinos durchzogen sind. Dabei wird auch in den Blick genommen, inwiefern Grenzüberschreitendes mit spielerischen Aspekten des Kinos bzw. filmischer Rezeption verknüpft wird. Gilbert Cohen-Séats1 Begriff des Kinos als universelle Institution nehme ich dabei zum Ausgangspunkt, an den Zugänge im Wesentlichen dreier weiterer Filmologen angedockt werden – des Philosophen Etienne Souriau 2, des Entwicklungspsychologen Henri Wallon3 und des bereits erwähnten Wahrnehmungspsychologen Albert Michotte van den Berck4 (vgl. I.1). Im Zentrum steht dabei Co1 | Gilbert Cohen-Séat (1907-1980) wurde in Algerien geboren, wuchs u.a. in Paris und Bordeaux auf und begann mit Anfang zwanzig als Journalist zu arbeiten. Von 1948 bis 1963 war er Leiter des „Institut de filmologie“. Er bekleidete hohe Ämter in Organisationen der Filmproduktion, gründete zwei Produktionsfirmen und war zudem Regisseur. 2 | Etienne Souriau (1892-1979) arbeitete vorrangig auf dem Gebiet der Ästhetik, für die er eine Professur an der Sorbonne innehatte. 3 | Henri Wallon (1879-1962) war nicht nur Psychologe, sondern auch Philosoph und Lehrer sowie als Marxist auch politisch aktiv (Anfang der 1930er Jahre zunächst in der „Section Française de l‘Internationale Ouvrière“ (SFIO) und ab Beginn der 1940er Jahre in der „Parti communiste français“ (PCF), für die er auch Abgeordneter war und u.a. eine wichtige pädagogische Reform durchsetzte). Von 1937 bis 1949 war er Professor am „Collège de France“, ab Ende der 1940er Jahre Direktor des Fachbereichs Psychologie an der Sorbonne. 4 | Albert Michotte van den Berck (1881-1965) war Professor für Psychologie an der Universität Leuven. 1946 veröffentlichte er sein Standardwerk „La perception de la causalité“ (Michotte 1946).

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hen-Séats Vision des Kinos als einer potentiell fortschrittlichen gesellschaftlichen Kraft von grenzüberschreitender Wirkung, wie sie auch für Cesare Musattis Ausarbeitung des filmischen Realitätseindrucks von Bedeutung ist, die im darauffolgenden Abschnitt Gegenstand sein wird (vgl. I.3). Insgesamt ist die Entstehung des filmtheoretischen Begriffs des Realitätseindrucks im Umfeld der Filmologie kontaminiert von dieser geschichtsphilosophischen Bestimmung des Kinos, die mit dem Motiv der Grenzüberschreitung aufs Engste verbunden ist. Für filmologischen Beschreibungen des Kinos (wie auch im Speziellen des Realitätseindrucks) ist die Frage zentral, inwiefern sich aus der Spezifik filmischer Darstellung eine erweiternde Wirkung auf das Publikum ableiten lässt (vgl. I.1). (In diesem Punkt unterscheidet sich die Filmologie frappant von der im nächsten Teil verhandelten Apparatusdebatte, in der der Realitätseindruck vorrangig als eine abdichtende ideologische Formation kritisiert wird; vgl. II.2, II.3.) Die in den filmologischen Texten virulenten Figuren eines erweiternden Potentials werden im Folgenden – im Großen (universelle Institution als Ganzes) wie im Kleinen (etwa die filmische Wirkung auf die Zuschauenden) – als Figuren begrenzter Grenzüberschreitungen interpretiert. Grenzüberschreitungen werden im Kontext der Filmologie stets auf eine rahmenbildende Grenzlinie hin gedacht, die (in der Regel) nicht überschritten wird und gerade dadurch Überschreitungen ermöglicht. Diese Rahmung gilt als Bedingung für die fortschrittliche Potenz von Kino und Film (vgl. I.1).

1. Vorgeschichte 1946 erscheint in Frankreich die Gründungsschrift der Filmologie: „Introduction générale. Notions fondamentales et vocabulaire de filmologie“ von Cohen-Séat. Bei diesem Text handelt es sich um eine Fanfare, die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs zur Gründung einer neuen Wissenschaft des Kinos aufruft. Shoah, Krieg, Verfolgung und Vernichtung hatten die Jahre zuvor Millionen Menschen das Leben gekostet, die Bevölkerung Frankreichs war dato unzureichend mit Nahrung versorgt, die Infrastruktur durch Luftangriffe und Sabotage des deutschen Militärs schwer beschädigt, das Schicksal vieler von den Nazis Deportierter und (noch) nicht nach Hause zurückgekehrter französischen ZwangsarbeiterInnen war ungewiss. Die Nachkriegszeit war zugleich der Auftakt zu einer Dekade der Reorganisation französischer Filmproduktion und -distribution. Filmclubs erfreuten sich großen Zulaufs, Filmzeitschriften wie Cahiers du Cinéma und Positif wurden Anfang der 1950er Jahre gegründet. Die Jahre unter deutscher Besatzung hatten auch das Kulturleben in Frankreich mehr als erschwert, wenn auch nicht vollständig zum Erliegen gebracht.5 Die Debatten um das Kino wa5 | „Die Nazi-Okkupation Frankreichs zwischen 1940 und 1944 hatte widersprüchliche Auswirkungen auf die Filmkultur.“ (Bickerton 2010, S. 25) Trotz Zensur entwickelte die Kinokultur eine erstaunliche Produktivität, die ZuschauerInnenzahl stieg zwischen 1938 und

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ren – explizit wie implizit – von diesen Erfahrungen geprägt. So geht, wie Lowry unterstreicht, Cohen-Séats Konzeption zentral von einer historischen Krisensituation aus: „Not only was there a new burst of intellectual activity […], but there was also a sense of moral and intellectual crisis, a recognition in the wake of the war’s devastation of the ineffectuality of intellectual pursuits in confronting the world’s practical, political realities. It is within this context that Cohen-Séat posed the question of film in terms of crisis.“ (Lowry 1982, S. 6) Neben der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma 6 stellte die Filmologie die zweite wichtige filmtheoretische Institution in diesen Jahren dar (vgl. Paech 2004, S. 32f.). Fragen wie diese wurden aufgeworfen: Was folgt aus dem propagandistischen Einsatz des Mediums durch die Nazis?7 Wie ist vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Funktion von 1943 von 220 auf 304 Millionen (ebd.). Auch wenn viele ProtagonistInnen der Kino- und Filmszene emigrieren mussten oder verhaftet wurden, arbeiteten im Land Verbliebene weiter. Wie z.B. Henri Langlois, der 1936 die Cinémathèque Francaise gründete, während der Kriegsjahre heimlich Filmvorführungen veranstaltete und die Rettung von Filmen vor der Beschlagnahmung und Zerstörung durch die Deutschen organisierte (vgl. ebd., S. 27f.). 6 | In den Cahiers du Cinéma wurde in diesen Jahren im Umfeld von André Bazin über die sogenannte politique des auteurs debattiert. Diese Debatte, an der u.a. Francoise Truffaut und Jean-Luc-Godard maßgeblich beteiligt waren, erreichte in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt, prägte aber bis in die 1970er Jahre nachhaltig den filmtheoretischen Diskurs in Frankreich (vgl. II.2). Während Cohen-Séat für eine Art interdisziplinäre Gesamtwissenschaft aller das Kino und den Film betreffenden Aspekte eintrat (s. u.), waren für das Umfeld der Cahiers du Cinéma die Auseinandersetzung mit konkreten Filmen der Ausgangspunkt. Wie Paech formuliert, vertraten die Cahiers du Cinéma in diesen Jahren eine phänomenologische „Theorie ‚des Films‘ als einer filmkritischen Praxis“ (Paech 2004, S. 32). Während aus dieser Debatte Ende der 1950er Jahre die Nouvelle Vague hervorging, steht etwa der Filmtheoretiker Christian Metz (s. u.) in der theoretischen Tradition der Filmologie. Im Unterschied zum Ansatz der Cahiers du Cinéma habe, so Paech, die Filmologie „ihren Gegenstand (das Cinéma) weder historisch noch ästhetisch vorausgesetzt, sondern systematisch konstruiert, indem sie zum Beispiel ein begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung nicht einzelner Filme, sondern kinematographischer und filmischer Relationen, psychologischer Wirkungen (des ‚effet de réalité‘), soziologischer Kontexte oder kunstwissenschaftlicher Kriterien für die Konstruktion und Komposition des Filmbildes entwickelte“ (ebd.). Grundsätzlich, wie auch Casetti betont, geht es in der Filmologie nicht um medienontologische Bestimmungen: „Thus, we are far from the generic and generalistic approaches typical of ‚ontological‘ theories. Instead we find a different spirit, which valorizes pertinence, systematicity, rigorous control of observations, and the possibility of interconnecting them.“ (Casetti 1999, S. 92) 7 | „The meteoric rise of filmology can best be understood in the historical context of the Liberation. The manipulation of film as propaganda and the strictness of censorship during the Nazi Occupation had asserted as never before the importance of film as a mass medium and the potential power available through its control.“ (Lowry 1985, S. 9)

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Massenkultur und -medien zu bewerten? Nach Jahren deutscher Besatzung kam auch das Hollywoodkino wieder auf den französischen Markt und u.a. das Spannungsverhältnis des Films zwischen Massenware und Kunstwerk stand aktuell zur Debatte.8 Neben diesen Problemstellungen wurden in den Diskussionen zudem ökonomische und organisatorische Aspekte des Kinos verhandelt, wie auch dessen mögliche moralische und pädagogische Aufgaben. Cohen-Séats Gründungsschrift (die 1958 in zweiter Auflage unter dem bekannteren Titel „Essai sur les principes d’une philosophie du cinéma. Notions fondamentales et vocabulaire de filmologie“9 erschien) greift verschiedene dieser Debattenstränge auf. Im Zentrum der Schrift steht die – unter unterschiedlichen Gesichtspunkten verhandelte – Frage: Welche gesellschaftliche Funktion kann das Kino als eine massenkulturelle Institution zukünftig haben? In dieser Frage sind bereits zentrale Vorannahmen enthalten: Das Kino wird als eine gesellschaftliche Institution betrachtet10 und zwar hinsichtlich der möglichen Realisierung11 eines bestimmten Vermögens. Cohen-Séats Initiative zur Gründung der Filmologie ist wesentlich motiviert von seiner Annahme, das Kino habe in besonderer Weise das Potential, gesellschaftliche Antriebskraft zur Realisierung von Versprechen 8 | So wurde etwa im Kontext der Cahiers du Cinéma die „industrielle Filmproduktion Hollywoods […] auf die Spuren von Individualität abgesucht und gefunden wurden Autoren wie Howard Hawks oder John Ford, die bis dahin keine Ahnung hatten, daß sie individuelle Filmemacher individueller Filme waren“ (Paech 2004, S. 33). 9 | Im Folgenden kurz: „Essai“, zitiert in der deutschen Übersetzung (Cohen-Séat 1962). 10 | Diese Auffassung ist keineswegs selbstverständlich. Wie Schlüpmann in anderem Zusammenhang herausarbeitet, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa im bildungsbürgerlichen Milieu in Bezug auf das Kino weitgehend „die in ihm angelegte spezifische Form von Öffentlichkeit negiert“ (Schlüpmann 1990, S. 193). „Entsprechend entwickelte sich Geschichtsschreibung und Theorie im Blick auf die Filme, viel weniger im Blick auf das gesamte Kino. Schon Belá Balázs begreift das Revolutionäre in der visuellen Qualität des neuen Mediums unter weitgehender Vernachlässigung der sozialen Institution.“ (ebd.) Damit hängt, wie Schlüpmann zeigt, eine Ausblendung des Kinopublikums zusammen. Schlüpmann interpretiert diese Ausblendung als Zeichen der Angst des Bildungsbürgertums davor, dass sich in der Zusammenkunft der Masse in den Kinosälen ein Verfall der etablierten bürgerlichen Öffentlichkeit anzudeuten schien. „Das Kino kassierte vielmehr die sowieso schon obsolet gewordene bürgerliche Öffentlichkeit, die auf der Trennung von Privat und Öffentlich fußte. […] Das Kino […] eröffnete den Raum für eine unbegrenzte Verständigung über die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Einzelnen – durch keine Schranken zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Verstand und Gefühl.“ (ebd., S. 199) 11 | Für Cohen-Séat geht es maßgeblich um die Erhebung eines Potentials des Kinos. Dabei beschreibt er eine durch das Kino ermöglichte, aber noch nicht beendete „Lehrzeit der Seele“ (Cohen-Séat 1962, S. 63), deren zukünftigen Früchte keineswegs gesichert seien. „Der Film könnte um des Taumels willen ebensowenig verdammt werden wie das Ei, das nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, zu Schnee geschlagen zu werden.“ (ebd., S. 64)

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der Moderne sein zu können. In eben diesem Zusammenhang steht seine Bestimmung des Kinos als universelle Institution. Zur Debatte steht hier die Frage nach den Möglichkeiten des Kinos, als historisches Agens im Dienste des zivilisatorischen Fortschritts wirksam zu werden – und das heißt für Cohen-Séat: in entgegengesetzter Richtung zum gerade überwundenen Nationalsozialismus.12 Cohen-Séats Aufruf blieb nicht ungehört. Kurz nach dem Erscheinen des „Essais“ konstituierte sich im September 1946 zunächst die „Association pour la Recherche Filmologie“. Die Präsidentschaft hatte Mario Roques inne, den Vorstand bildeten neben Wissenschaftlern wie Gaston Bachelard, Etienne Souriau und Henri Wallon auch Vertreter der Filmindustrie, der Filmkritik und der Politik (vgl. Kling 2002, S. 17; Kessler 1997, S. 132). Zielsetzung der „Association“ war es, die universitäre Verankerung der Filmologie voranzutreiben und mit Konferenzen und Publikationen das gemeinsame Anliegen an die Öffentlichkeit zu tragen. Ein wichtiger Schritt war 1947 die Gründung der Zeitschrift Revue internationale de filmologie sowie der im September gleichen Jahres abgehaltene erste internationale Kongress. Im darauffolgenden Jahr waren Mittel und Kapazitäten geschaffen, das erste Ziel der „Association“ war erreicht: Das „Institut de filmologie“ wurde 1948 an der Sorbonne eröffnet. Bis 1963 war das Institut Ort einer regen Forschung und des Austauschs verschiedener, auch vieler renommierter Wissenschaftler13 (vgl. auch Stam 2000, S. 81 ff.). 15 Jahre lang wurden in theoretischen und experimentellen Untersuchungen historische, soziologische, ästhetische und psychologische Aspekte von Kino und Film erforscht. 1948 war damit erstmals weltweit Filmwissenschaft als eigenständige Disziplin universitär verankert. Seit der Schließung des Instituts14 sind bis auf einige zentrale Texte die Ergebnisse der filmologischen Forschung nahezu in Vergessenheit geraten. „Es gibt kaum 12 | „Die implizite Leitfrage der Filmologie lautet […]: Wie können wir den Film aus der bloßen Empirie eines theoriefreien trail-and-error-Verfahrens befreien und zu einer bewussten, von rationalen Prinzipien und humanistischen Ideen (z.B. vom Ideal der Völkerverbindung) geprägten kulturellen Praxis machen?“ (Hediger 2003, S. 62) 13 | Über Wissenschaftlerinnen habe ich nichts in Erfahrung bringen können. 14 | Bis zur letzten Ausgabe der Revue, die 1961 erschien, setzte sich zunehmend eine deutliche Schwerpunktlegung auf das Gebiet der Experimental- und Wahrnehmungspsychologie sowie psycho-soziologischer Problemstellungen in den Veröffentlichungen des Instituts durch. Der anfänglich formulierte interdisziplinäre Anspruch wurde zum Ende hin leiser. „[F]ilmology functioned at first as a free forum where all ideas related to a methodical study of film and the cinema were welcome and sought out. In the years of selection and evaluation which followed, certain of those ideas and methods fell by the wayside, while others tended to dominate. Given the explicitly scientific orientation of filmology, it is perhaps not surprising that the methods of empiricism and experimentation had come to predominate by the time of Second International Congress of Filmology in 1955. “ (Lowry 1982, S. 369f.) Ab 1962 wurde die Revue internationale de filmologie zum Publikationsorgan des „Institut Agostini Gemelli“ und des „Conseil International des Recherches sur

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theoriegeschichtliche Studien zu Filmologie.“ (Paech 2004, S. 32, Fn. 2; vgl. auch Kling 2002, S. 30) Als (fast) vergessener eigener Beginn steht, so heißt es mitunter, die geringe Beachtung der Filmologie in einem merkwürdigen Missverhältnis zu ihrer Bedeutung als Gründungsinstitution der Filmwissenschaft.

2. Filmologie als Wissenschaft: Totalerfahrung des Kinos in der Verbindung partikularer Perspektiven Cohen-Séat selbst verortet die Filmologie in einer historischen Krisensituation – die Menschheit befände sich an einer Schwelle, zu deren Überschreitung beizutragen das letztliche Ziel der Filmologie sei. In der – gemeinsam mit Pierre Fougeyrollas – verfassten Schrift „Wirkungen auf den Menschen durch Film und Fernsehen“ formuliert Cohen-Séat: Der „Einbruch der visuellen Information“ in die „heutigen Lebensbedingungen“ lasse „eine Art Grenzübergang“ entstehen (Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 20). Der Ansturm der visuellen Information schaffe eine „radikale Neuheit des kulturellen Tatbestandes“, der „zutiefst rätselhaft zu sein“ scheine (ebd., S. 20) – ein Rätsel, zu dessen Lösung er bereits in seinem „Essai“ aufruft. In diesem tritt der Film als Türöffner zum Leben auf (vgl. Cohen-Séat 1962, S. 13). Ähnlich der Metapher des Grenzübergangs wird auch hier das Bild einer Schwelle aufgerufen, mit deren Überschreitung Cohen-Séat nicht weniger als die Möglichkeit einer Verwirklichung der Versprechen des Humanismus auf der ganzen Welt verbunden sieht. Das Überschreiten figuriert als ein Einschreiten, als ein Eingriff in den Verlauf der Geschichte. Die Filmologie solle zunächst einen bisher fehlenden „exakten begrifflichen Rahmen“ (ebd., S. 38) aufstellen, um im Einzelnen „die Funktionen des Films zu ermitteln“ und so „eine praktische, wirksame und vernünftige Aktion“ (ebd., S. 40) vorzubereiten, die die weitere Entwicklung des Kinos in den Dienst der Menschheit stellt. Um dieses Ziel zu erreichen, brauche es ein die bisherigen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen überschreitendes Vorgehen, eine einzelwissenschaftliche Untersuchungen verbindende „Totalisierung der Erfahrung des Kinos“ (ders. 2005, S. 42) im Dienste einer alle Aspekte des Kinos umfassenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Den gegenwärtigen Status quo des Kinos hingegen charakterisiert Cohen-Séat als zersplittert und ungerichtet. Für das Publikum etwa sei der Film immaterielles, flüchtiges und relativ leicht zu finanzierendes Vergnügen, ein bloßes Spiel, dem man für gewöhnlich nicht zutraue, Konsequenzen für das eigene Leben zu haben (vgl. ebd., S. 37). Für die Protagonisten der Filmindustrie hingegen stehe der Profit im Vordergrund und somit der Film in seiner Eigenschaft als kosten- und arbeitsaufwendige Massenware. Das Kino erscheine so gesehen entweder als Spiel oder Industrie, Vergnügen oder Ware, Geist oder Materie. Wissenschaftliche Bestimmungen des Films als Spral’information Visuell“ in Mailand und änderte seinen Titel in Ikon – La Revue internationale de filmologie.

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che, Kunst, Kommunikationsmittel, technisches Medium, Manipulationsinstrument, als Industrie oder Massenware thematisierten ihrerseits, so Cohen-Séats Kritik, jeweils isolierte Aspekte von Kino und Film.15 Statt als Einheit hielten die bisher partikularen Perspektiven das Kino und den Film „entweder für eine Sprache oder für eine Industrie, für ein Verfahren der Verbreitung oder für eine Kunst, für ein Mittel der Beeinflussung oder für ein Spiel“ (ebd., S. 38). So ergäbe sich ein unüberschaubares Bild, eine „Verwirrung der Gesamtproblematik“ (ebd.). Diese Verwirrung spiegle die tatsächliche Richtungslosigkeit in der bisherigen Entwicklung des Kinos. Es sei „keineswegs ersichtlich, in welche Richtung dieser seltsame Marsch führt, der abwechslungsweise gepriesen und verschrien wird“ (Cohen-Séat 1962, S. 25). Das Ungerichtete und Ungesicherte wird als Gefahr einer Verselbständigung der kinematografischen Technik gegenüber den Menschen beschrieben. „[W]enn es wahr sein sollte, daß diese Welt schemenhafter Phantome und knirschender Apparate sich anschickt, uns zu zermalmen, so sollten wir zumindest wissen, daß sie dies vorhat, und diese Einsicht verarbeiten.“ (Ebd., S. 33) Diese Idee des möglichen Eingriffs unterscheidet Cohen-Séats Auffassung beispielsweise vom technikpessimistischen Diskurs im postnazistischen Deutschland, für den eine „Hypostasierung der Technik zu einem selbstherrlichen Subjekt“ (Voller 2012, S. 249) ausschlaggebend ist.16 Die alles entscheidende, aber eben noch nicht entschiedene Frage für Cohen-Séat hingegen ist: Bleibt der Mensch als „Sklave einer mechanischen Intervention“ (Cohen-Séat 1962, S. 25) unterworfen? Oder kann sich das Kino als der entscheidende Einsatz erweisen „in eine[r] Partie, wo darum gespielt wird, ob wir das Recht auf Würde und den Namen Mensch, der dieses Recht repräsentiert, irgendwie begründen können“ (ebd.)? Eine wissenschaftliche Erfassung des Gesamtphänomens Kinos ist also hier mit dem großangelegten Versprechen verbunden, dem eigenen Schicksal Herr zu werden und in eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte eintreten zu können.17 Obgleich das Kino doch unübersehbar „den ersten Platz unter den Mitteln zur Verbreitung von Ideen, Handlungen, Worten und Gewohnheiten einnimmt, die den denkwürdigen Fortschritt in unserem Jahrhundert prägen“, sei 15 | „By posing the cinema neither as art nor as industry, but as the object of a science, Cohen-Séat was able to assert the importance of its study with great effectiveness.“ (Lowry 1982, S. 9) 16 | Voller interpretiert die Fetischisierung der Technik zum geschichtsbeherrschenden Subjekt im Nachkriegsdeutschland als eine Transformation nationalsozialistischer Ideologie in folgendem Sinne: „Die Untergangsverfallenheit, die zwölf Jahre lang das nicht minder erotische Revers der Endsiegphantasmen geziert hatte, der militärischen Niederlage zum Trotz jedoch unbefriedigt blieb, bildet das libidinöse Fundament noch jener technifizierten Schreckensszenarien, die nach dem Krieg entworfen werden“ (Voller 2012, S. 277). 17 | „Cohen-Séat proposes the scientific method as the progressive means by which man can understand and finally control the cinema, a human creation which remains dangerous to the extent that it arose without the direction of Reason.“ (Lowry 1985, S. 10)

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die „moralische und in gewisser Weise auch politische Leistungsfähigkeit“ des Mediums bisher nicht genügend erkannt worden (ders. 2005, S. 37).18 Dieses Potential des Kinos bleibe solange unausgeschöpft, bis nicht alle – ökonomische, moralische, ästhetische, distributive, kulturelle, soziologische, psychologische etc. – Aspekte in ihrem Zusammenhang erkannt worden seien. „Diese Institution kann nur dann zu einem Gegenstand der Untersuchung werden, wenn man sie zunächst als ungeteilte Einheit begreift und in dem ganzen Ausmaß ihrer Eigenexistenz begreift.“ (Ebd., S. 46) Als Medium universeller Vermittlung liege dem Kino ein vernünftiges Substrat zugrunde.19 Die Filmologie tritt so auch als Aktion zu dessen Bergung auf: Letzten Endes stoße man „auf die Vernunft vor. Wenn man sich darum bemüht, die Funktion des Films zu ermitteln, so geschieht dies, um die Bedingungen abzuschätzen, unter denen er diese erfüllt“ (ders. 1962, S. 40).20 Und so strebe die Filmologie eine „Totalerfahrung des Filmwesens“ an, „in der dessen Einheit und unbedingte Harmonie zum Ausdruck käme“ (ebd., S. 37) und am Ende eine „‚geregelte Vision‘“ erreicht werde (ebd.)21 – „a ‚logic awaiting its laws‘“ (ders. zit. n. Lowry 1982, S. 96).

3. Das Kino als universelle Institution Es mag schon angeklungen sein: In Cohen-Séats Auffassung der Filmologie als – die Grenzen der Einzelwissenschaften überschreitendes – Projekt einer Totalisierung der Erkenntnis spiegelt sich die Bestimmung seines Erkenntnisgegenstandes. 18 | Es gäbe doch zu wundern Anlass, „daß sich eine so ungeheure Entdeckung zu einer in den methodischen Disziplinen so beschlagenen Zeit in völlig zufälliger Weise dem Willen und dem Druck des Geschäfts ausgeliefert und in Hinterhäusern entwickeln konnte, kurz mit weniger Ernst betrieben wird als die Anwendung einer mittelmäßigen Salbe“ (Cohen-Séat 1962, S. 30). 19 | „Die Verbreitung von Dokumenten, Sensationen, Ideen und Gefühlen innerhalb menschlicher Gruppen setzt eine Verbindung voraus, die eine Art Intelligenz voraussetzt.“ (Cohen-Séat 1962, S. 64) 20 | Charakteristisch nicht nur für Cohen-Séats „Essai“, sondern auch für andere frühe filmologische Texte ist in diesem Zusammenhang die Betonung des Neuen, des Unbekannten, des Ungesicherten am Gegenstand der Filmologen der ersten Stunde. Die Filmologen, so beschreibt Cohen-Séat, erschließen als Entdecker ein neues Universum, dessen Gesetze und Strukturen sie wie Botaniker zu studieren hätten. Wie auch mitunter der Botaniker sei der Filmologe mit einem Wildwuchs, einem scheinbaren Chaos konfrontiert und gleiche einem Entdecker eines bisher unerschlossenen Gebiets. So sei auch dem Filmologen „was die Anordnung, das Volumen, den Stil und den ‚Rhythmus‘ dieser Konstruktion betrifft […] fast nichts bekannt“ (Cohen-Séat 1962, S. 65). 21 | „Only a positive science, empirical and directed toward humane goals, it was argued, could place the power of the cinema at the disposal of humankind.“ (Lowry 1985, S. 14)

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Die „zivilisatorische Errungenschaft“ Kino, so Cohen-Séats, „scheint seit ihrem Auftreten das Hindernis zu überspielen, über das alle kulturellen Ausdrucksformen, selbst die der Religiosität, bisher gestolpert sind; denn so, wie die Dinge liegen, scheint es, als ob diese Institution dem Verlangen nach homogener Einheitlichkeit und der Forderung nach unmittelbarer und universeller Wirksamkeit genüge“ (Cohen-Séat 1962, S. 11f.). Er schreibt also dem Kino das Vermögen zu, die Menschen – über kulturelle, ethnische und individuelle Verschiedenheiten hinweg – zu bündeln und ihre Interessen auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten. In diesem Sinne versteht Cohen-Séat das Kino als eine universelle Institution: als eine Einheit, die grenzüberschreitend Einheit schafft. Mit dem Kino sei erstmals ein Medium mit weltweitem Wirkungskreis erfunden, welches potentiell schrankenlos die vermittelnde Funktion von Institutionen erfülle.22 Er spricht hier von einer universalisierenden Kraft des Kinos, wie sie sich von Beginn an gezeigt habe. Über jegliche kulturelle Differenzen und räumlichen Distanzen hinweg hätten sich die Lichtspielhäuser nahezu schlagartig weltweit ausgebreitet. „Die Entstehung der Lichtspieltheater, die fast sofortige Verbreitung dieses neuartigen Gebäudes, ungeachtet geographischer und kultureller Distanzen, ist seinerseits ein beispielloses Geschehen weltweiten Ausmaßes.“ (Ebd., S. 12) Während Bauwerke sonstiger Epochen Auskunft über die je spezifischen kulturellen Bedürfnisse gegeben hätten, zeuge das Kino von einem orts- und kulturungebundenen Bedürfnis kosmopolitischer Art und erzeuge dieses.23 Egal wo, das Kino ist Cohen-Séat zufolge „von denselben Charakterzügen, Zeichen und Ansprüchen geprägt – gleichgültig, ob es sich um die psychologische und soziale Ebene oder aber um die technische und ökonomische handelt“ (ders. 2005, S. 40). „[I]n ziemlich grober Weise“ bringe der Film dabei „den empfindlichen Grundriß der intellektuellen Meisterwerke“ durcheinander und bekehre die Masse „zum bescheidenen Vergnügen an stückweisen Bildern“ (ders. 1962, S. 56). Man vernachlässige das spezifische Potential des Kinos als kollektive Ausdrucksform, wenn man dieses allein als billiges Vergnügen im Gegensatz zu hoher Kunst betrachte. Das fortschrittliche Potential sieht Cohen-Séat in diesem Zusammenhang eben in der Eigenschaft des Mediums, Differenzen zwischen Hochkultur und Populärem zu überschreiten. Das Populäre der Massen und die Kunst der Eliten seien verbunden in einer Darstellungsform, die sich ausnahmslos an alle richte. In Cohen-Séats Sinne, so Paech, ist das Kino Bestandteil einer völlig neuen Freizeitkultur: „Freizeit soll nichts mit partikularen Freizeiten 22 | „Cohen-Séat’s conception of the cinematic institution as a ‚system of representations‘ is closely modeled on the ‚collective representations‘ which Durkheim saw as the social substance uniting individuals in a society.“ (Lowry 1982, S. 76) 23 | Paech sieht in diesem Gedanken Cohen-Séats eine Vorwegnahme der heutigen „globalen Netze multimedialer Massenkommunikation und ihrer immersiven Effekte der Teilnahme an einer globalen virtuellen Welt“ (Paech 2004, S. 41).

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und deren organisierten Aktivitäten zu tun haben, sondern mit désoeuvrement, Muße allerdings jenseits ihrer Abgehobenheit in der klassischen Kultur.“ (Paech 2004, S. 40) Die Freizeit ist Cohen-Séats Konzeption nach der Bereich, in dem die Muße als Bedingung für die Überwindung der traditionellen Unterteilung des Publikums in Elite und Masse ihren Raum hat: „Die Muße in der Freizeit ist die Voraussetzung für die Hingabe an das Cinéma in Form der universellen Teilhabe an seinem Universum“ (ebd.; vgl. Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 40). In diesem Zusammenhang greift Cohen-Séat auf den Begriff des Spiels zurück. Das universelle Potential des Kinos schöpfe sich aus einer Überschreitung der bisherigen Grenzen des Freizeitbereichs, des Spiels. Die visuelle Information biete nämlich allen Menschen eine „Technik der Muße“ „als höchstem Lebensstil des massifizierten Menschen“ (Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 73). Dieses Spiel sei (im Unterschied zu bisherigen Spielen) mehr als nur ein bloßes Spiel – diese überschüssige Dimension des Spiels taucht in verschiedenen filmologischen Texten auf und wird eine zentrale Rolle in meiner Interpretation von Musattis Konzeption spielen (vgl. I.3). Während populäre Kultur, volkstümliches Schauspiel und Volkskunst Cohen-Séat zufolge vormals untrennbar mit einer spezifischen Gruppe als Zeichen ihrer kulturellen Zusammengehörigkeit verbunden gewesen waren, so kehre sich nun mit der Existenz des Kinos die Bedeutung des Populären ins Gegenteil. Nicht sei wie einstmals Begrenzung und Verwurzelung,24 sondern nunmehr Raumgewinn der Gradmesser der Kultur der Massen – wodurch diese erst wahrhaft zu einer Massenkultur werden könne: „Es geht vielmehr um die beste Idee, getragen von Millionen Menschen, ja sogar, abgesehen von jeder Teilung, um die Vorstellung, welche die größte Chance besitzt, von einem Ende der Welt zum andern Gemeinplatz zu werden.“ (Cohen-Séat 1962, S. 14)25 Popularität trete so in einen Gegensatz zur volkstümlichen Tradition. Im lärmenden Spektakel des Films werde der Einzelne zum Teilnehmer an etwas Allgemeinen. „Diese neue, dramatisierende, surrealisierende und poetisierende Weltanschauung kann nur weltumfassend sein. Der der visuellen Information ausgesetzte Mensch gibt sich einer Weltrealität hin, die in keinem Verhältnis zu seiner existenziellen Eigentümlichkeit steht. Die Sprache dieser Information umfaßt das gesamte Menschengeschlecht.“ (Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 32) Das Kino24 | „Sagt man, es gibt Zerstreuungen aller Art für Menschen aller Arten, dann unter der Bedingung, daß Spiele und Spielende innerhalb mehr oder weniger intimen Koterien verbleiben, in die die Menschheit zerfällt.“ (Cohen-Séat 1962, S. 107) 25 | Hediger paraphrasiert Cohen-Séats Gedanken folgendermaßen: „Die modernen Massengesellschaften kennzeichnen sich durch ein Wegfallen der traditionellen sozialen und politisch-hierarchischen Bindungen. Analog zu dieser Entwicklung – und in Zusammenhang damit – bringen die audiovisuellen Medien ein System von Repräsentationen hervor, die vom konkreten Kontext ihrer Rezeption abgelöst und letztlich ortsungebunden sind.“ (Hediger 2003, S. 59f.)

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publikum werde so zu einer Gemeinschaft von Weltbürgern – und zwar in einem weit umfassenderen Sinne als das Publikum vorhergehender elitärer Künste und volkstümlicher Schauspiele26. „Zum ersten Mal in der Geschichte spielen alle Menschenmassen zur gleichen Zeit und auf der ganzen Erde dasselbe Spiel.“ (Cohen-Séat 1962, S. 12) Die vom Kino hervorgebrachte neue Realität einer nahezu schrankenlosen Vermittlung von Vorstellungen steht für Cohen-Séat am Zenit des Fortschritts: „Wir befinden uns hier an der Spitze aller Begriffsbestimmungen des Menschen, dort, wo es nicht länger möglich ist, die Menschen voneinander zu unterscheiden, geschehe dies sozusagen auf horizontale Weise: Farbige von Weißen, Städter von Landbewohnern, oder im vertikalen Sinne: Wissende von Naiven, Gläubige von Zweiflern, Reiche von Armen, Greise von Kindern, Snobs von Modischen.“ (Ebd., S. 60) So universell diese Ausdrucksform sei, so konkret, was auf der Leinwand erscheine. Die bewegte Bildersprache des Films begreift Cohen-Séat als eine universelle, allgemeinverständliche Präsentationsform von Konkretem. Das Kino schafft in diesem Sinne, so paraphrasiert Hediger, „ein ‚globalisiertes‘ Publikum, das durch die Rezeption geeint, aber auch mit einer Vielzahl von regionalen Differenzen und Eigenheiten konfrontiert wird, von denen frühere Generationen keine Vorstellungen hatten“ (Hediger 2003, S. 60). Aus dem Begriff des Kinos als universelle Institution leitet Cohen-Séat eben den oben skizzierten Grundsatz für die filmologische Forschung ab: Die Forschungen der unterschiedlichen Disziplinen und die Untersuchungen verschiedenster Aspekte des Mediums im Fokus auf das Kino als eine existierende Einheit zu bündeln. „Es ist nunmehr an der Zeit, sich zu vergewissern, ob man beim Film echte Beziehungen, gewohnte Zusammenhänge, praktische Gewohnheiten, ja Verfahren und Methoden des Universums erkennen kann.“ (Cohen-Séat 1962, S. 76)27 Ganz praktisch nun stellte sich vor der Inbetriebnahme des filmologischen Instituts die Frage: Wie kann ein solcher Fokus auf das Kino als Einheit gelingen, ohne dass die verschiedenen Forschungsansätze zerfasern und die Begrifflichkeiten in die genannten Dichotomien und Partikularitäten (Geist oder Materie, Kunst oder Massenspektakel, Vergnügen oder Arbeit etc.) zurückfallen? Cohen-Séat bestimmt eine Art Kreuzungspunkt, an dem sich die unterschiedlichen Phänomenbereiche überschneiden und der einen ersten ordnenden Zugriff auf den Gegenstand erlauben soll. Der Ausgangspunkt filmologischer Forschung habe der Konsum des Schauspiels zu sein, denn in der Vorführsituation trete das spezifisch Neue von Kino und Film, seine universelle, einheitsstiftende Kraft, am ‚reinsten‘ hervor.

26 | Unter Schauspiel wird von Cohen-Séat „die Zuschaustellung verstanden […], gleich, ob ihr Objekt dramatisches Theater oder Gemälde, Tanz oder Statue, Bewegung im Ablauf oder Stillstand ist“ (Cohen-Séat 1962, S. 105). 27 | Zur Metapher des Universums s. u.

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4. Filmische und kinematographische Tatsachen Von der Vorführsituation im Kinoraum ausgehend betrachtet, erscheine der filmologische Gegenstandsbereich folgendermaßen gegliedert: in Richtung des Publikums, der filmischen Wirkung einerseits und in Richtung der Bilder, der Darstellungstechnik andererseits. „Somit ergibt sich von selbst eine grundlegende Unterscheidung zwischen der kinematographischen Tatsache und der filmischen Tatsache.“ (Cohen-Séat 2005, S. 39) Als filmische Tatsachen bezeichnet Cohen-Séat alles, was direkt den Film selbst betrifft. Die kinematographischen Tatsachen hingegen umfassen die Bedeutung und Folgen des Schauspiels – also alles, was sich nicht auf der Leinwand abspielt, aber was jegliche Vorgänge nach, vor und während der Vorführung betrifft und in Beziehung zum Film steht. „Formal gesagt, zeichnet sich die filmische Tatsache dadurch aus, daß sie das Leben […] mittels eines bestimmten Systems von Bildkombinationen darstellt. Dabei handelt es sich um visuelle Bilder, nämlich natürliche oder konventionelle, und um akustische, nämlich rein klangliche oder verbale. Das Wesen der kinematographischen Tatsache bestünde demgegenüber darin, unter den Menschen eine Reihe von Dokumenten, Empfindungen, Ideen und Gefühlen in Umlauf zu bringen – Materialien, die das Leben bietet und die der Film auf seine spezifische Weise gestaltet.“ (Ebd.) Es handelt sich hierbei, so Cohen-Séat, um „unterschiedliche Perspektiven auf das Kino […]; ihr gemeinsames Merkmal ist, daß sie sich auf eine universelle Institution beziehen“ (ebd.). Diese Unterscheidung erlaubt ihm, den Film als ein Objekt und das Kino als eine aktive gesellschaftliche Kraft zu bestimmen (vgl. Lowry 1982, S. 100). An dieser Gegenstandsbestimmung orientierte sich auch die 1947 von der „Association“ in der ersten Ausgabe der Revue festgehaltene Einteilung der drei Hauptforschungsbereiche des zukünftigen Instituts: Im ersten Bereich wurden die Untersuchungen des Filmischen und der psycho-physiologischen Auswirkung des Films auf das Publikum angesiedelt, die sogenannte spezifische bzw. psycho-physiologische Filmologie der filmischen Fakten. Der zweite Bereich beheimatete die soziologischen Untersuchungen der sozialen und institutionellen Aspekte, die soziologische Filmologie des Kinematographischen. Im dritten Bereich sollte an der Zusammenführung der Ergebnisse aus beiden Bereichen gearbeitet werden. Die Umsetzung von Cohen-Séats Ideal der systematischen Erschließung des Zusammenhangs von filmischen und kinematographischen Tatsachen erwies sich von Beginn der Forschungstätigkeiten an als schwerlich erreichbar (vgl. Kling 2002, S. 20ff.; Kessler 1997, S. 133).28 Dies kündigte sich, noch vor der Eröffnung des Instituts, bereits 1946 auf der ersten Versammlung der 28 | Lowry zufolge liegt die Bedeutsamkeit des filmologischen Ansatzes weniger in dessen Zielvorgabe als in den aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen: „[T]he insufficiency of filmology, the fact that it produced no unified or synthetic theory of film, is less important than the degree to which it posed the questions of film and cinema within the concerns

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„Association“ an. Weniger von der von Cohen-Séat ausgerufenen „Einheit von Methode und Ziel“ (Cohen-Séat 1962, S. 40) als von Zwist war dieses Treffen geprägt. Betont Cohen-Séat in seinem „Essai“, die Trennung der Bereiche der filmischen oder kinematographischen Fakten sei ein zwar naheliegendes, aber irreführendes Unterfangen (ders. 2005, S. 41), so war auf der Versammlung ein wichtiges Streitthema zwischen den Vertretern der einzelnen Disziplinen, ob der Bereich der filmischen oder der der kinematographischen Tatsachen mehr Relevanz beanspruchen solle (vgl. Kling 2002, S. 18).29 Cohen-Séats Konzeption des Kinos als eine traditionelle Grenzziehungen überschreitende Einheit bildete gleichwohl eine relevante Folie für die ersten Schritte der filmologischen Forschung und Institutionalisierung. So knüpfte etwa Etienne Souriau, der als Experte für ästhetische Belange im Forschungsbereich der spezifischen Filmologie angesiedelt war, in einer 1950 und 1951 am Institut gehaltenen Einführungsvorlesung an einige von Cohens-Séats Bestimmungen an. Exemplarisch zeigt sich an dieser Vorlesung, inwiefern dessen Auffassung des Kinos als Einheit auch für andere filmologische Perspektiven grundlegend ist; darüber hinaus lässt sich ausgehend von Souriaus Vorlesung der Gegenstandsbereich des filmologischen Begriff des filmischen Realitätseindrucks genauer verorten: Dieser betrifft einen Sachverhalt innerhalb der Gesamtheit der filmischen Tatsachen, der dem Anspruch nach letztlich an die Gesamtheit des Kinos als universelle Institution rückgebunden werden sollte. Deutlich wird hier auch, inwiefern die im filmologischen Kontext dieser Jahre geführte Auseinandersetzung mit dem filmischen Realitätseindruck vor dem Hintergrund der Diskussion um die gesellschaftliche Funktion des Kinos stattfindet und inwiefern diese mit der Idee verbunden wird, das Kino sei mehr als ein bloßes Spiel (s.o.). Hat das Kino in den Augen der Filmologen das Potential, mehr zu sein als lapidares Vergnügen und bloßes Spiel, so geht es wiederum nicht darum, diesem die Weihen der hohen Kunst zu verleihen. Das Potential des Kinos wird eben darin gesehen, u.a. diese kulturelle Differenz zu überschreiten und als eine gesellschaftliche Kraft der sozialen, politischen und auch ästhetischen Vermittof established fields of study, providing a means by which film could be studied psychologically, sociologically, anthropologically, linguistically, aesthetically.“ (Lowry 1982, S. 15) 29 | Dieser Konflikt innerhalb der Filmologie verweist auf eine über den Kontext der Filmologie hinausgehende allgemeine Gespaltenheit des filmtheoretischen Diskurses ab den 1950er Jahren. Diese charakterisiert Casetti als Zwist zwischen ästhetischen Perspektiven einerseits und einer neuen empirischen Herangehensweise andererseits: „In the 1950s and 1960s there was a conflict between those who considered cinema a means of expression through which personality, ideology, and culture were manifested and those who viewed it as an objective reality, to be examined in its tangible components and in the way it actually works. Thus, we have an aesthetic discourse, which in the final analysis is essentialist, and a discourse that attempts to be scientific and is therefore methodological.“ (Casetti 1999, S. 11)

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lung der Menschen wirksam zu sein. Und in diesem Zusammenhang gewinnt die Frage besondere Relevanz: Wie nimmt das Publikum die vom Film dargebotene Realität wahr? Souriau bringt eine in diesem Zusammenhang relevante Unterscheidung verschiedener Realitätsebenen des Films in die Diskussion ein, von der ausgehend ich im Folgenden – auch unter Bezugnahme auf Christian Metz30 – Grundzüge filmologischer Perspektiven auf das Phänomen des filmischen Realitätseindrucks einführen möchte.

5. Souriaus filmisches Universum und Metz’ Verortung des Realitätseindrucks Zum Abschluss seiner Vorlesungsreihe, die in der Revue unter dem Titel „Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie“ abgedruckt wurde, wendet sich Souriau mit folgenden Abschlussworten an seine Studierenden: „Wenn Sie wollen, brauchen Sie vom heutigen Vortrag nur ganz global zu behalten, daß es zunächst notwendig ist, das filmische Universum auf kosmologische Weise zu betrachten, um seinen tatsächlichen Gehalt genau zu erfassen und korrekt zu benennen.“ (Souriau 1997, S. 156) Das Kino wird von Souriau als Universum im Sinne einer in sich geordneten Ganzheit beschrieben,31 als „eine Gesamtheit von Wesen, Dingen, Tatsachen, Ereignissen, Phänomenen und Inhalten in einem raum-zeitlichen Rahmen“ (ebd., S. 141). Den Film verortet er als ein kleines Universum innerhalb des gesamten Kino-Universums, gegliedert durch das, was Souriau die „strukturellen Rahmenbedingungen dieses Universums“ (ebd., S. 143) nennt. Jeder Film setzt seiner Auffassung nach also als in sich geschlossene Einheit das Gesamtuniversum als Rahmen voraus.32 Souriaus Ansatz der kosmologischen Betrachtung knüpft hier an der von Cohen-Séat formulierten Einheit von filmischen und kinematographischen Tatsachen an, deren Ordnung von der Filmologie zu erheben sei. Aufgabe der filmologischen Wissenschaftler sei es zunächst, „nur einfach Tatsachen klar und deutlich dar[zu]stellen […], ihre Zugehörigkeit zu Klassen und Gattungen von Gegebenheiten [zu] bestimmen, deren Daseinsweise sich grundlegend unterscheidet, wenn man sie nur entsprechend genau betrachtet“ (ebd., S. 155f.). Souriaus Untersuchungsgegenstand befindet sich im Bereich der filmischen Tatsachen: Er differenziert verschiedene Ebenen filmischer Realität. Es handele 30 | Christian Metz (1931-1993) gilt als einer der bekanntesten französischen Filmtheoretiker. Er gehörte nicht der Gründergeneration der Filmologie an, knüpft aber theoretisch an diese an (vgl. z.B. Paech 2004). 31 | Auch Cohen-Séat verwendet den Begriff Universum (s.o.). 32 | „Genau genommen setzt jeder Film sein Universum (mit den Figuren, den Wesen und Dingen, seinen allgemeinen Gesetzen sowie dem Raum und der Zeit, welche ihm eigen sind)“ voraus – „dieses ist aber immer nur eine Variante der einen oder der anderen Gattung des filmischen Universums“ (Souriau 1997, S. 142).

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sich hierbei, so hält er fest, um „völlig evidente und unbestreitbare Gegebenheiten bezüglich der (als Tatsache anzunehmenden) Gesamtstruktur der Realitäten, die ich hier unter dem Begriff ‚filmisches Universum‘ behandele“ (ebd., S. 141). Unterschieden werden sieben miteinander interferierende Realitätsebenen innerhalb des Universums filmischer Tatsachen (als Teil des Gesamtuniversums): Die diegetische, die filmophanische, die spektatorielle, die afilmische, die filmographische, die profilmische und die kreatorielle.33 Die afilmische Wirklichkeit bezeichnet die vom Film unabhängig existierende „Welt, in der Sie und ich tagtäglich leben und die bereits da war, bevor es Filme gab“ (ebd., S. 146). Die profilmische Wirklichkeit umfasst zunächst einmal das, was aufgenommen wird, insbesondere, was zum Zwecke der Aufnahme arrangiert wird (Studio, Kulisse, Kostüm). Im Unterschied zu Elementen der afilmischen Wirklichkeit unterhalten die Bestandteile der profilmischen Wirklichkeit eine konkrete, direkte, funktionale Beziehung zum Film. Das Spektatorielle bezeichnet alle, wie Souriau schreibt, subjektiven Phänomene des Zuschauenden vor, während und nach der Filmvorführung – die freudige Erwartung bei Betreten des Kinosaals, Spannung und Langeweile während der Schau, Erinnerungsvermögen usf. Der kreatorielle Bereich umfasst subjektive Belange seitens der Produktion – kurz: Alles, was „durch das Werk hindurchscheint und auf seine Urheber und das, was sie sind, verweist“ (ebd., S. 155).34 Eine weitere „Kategorie von Tatsachen“ (ebd., S. 149) bilden die filmographischen Wirklichkeiten, die alle Aspekte des fertigen Filmstreifens betreffen (wie z.B. Tonbearbeitung, die Operationen im Zuge von Montage und Schnitt, Bearbeitungen des Filmstreifens). Das Filmographische als einen eigenen Bereich von filmischen Tatsachen anzuerkennen sei nicht zuletzt relevant, „um das filmographische Bild unzweideutig vom leinwandlichen Bild unterscheiden zu können“ (ebd.). Die Ebene der leinwandlichen oder filmophanischen Wirklichkeiten bildet Souriau zufolge „das Herzstück des filmischen Universums“ (ebd., S. 150). Hier sind alle „Phänomene verortet, die mit der Projektion vor Zuschauern zusammenhängen“ (ebd.). Souriau erläutert den Geltungsbereich des Filmophanischen in seiner Differenz zur letzten Kategorie: des Diegetischen, welches alles betrifft, „was sich laut der vom Film präsentierten Fiktion ereignet und was sie implizierte, wenn man sie als wahr ansähe“ (ebd., S. 156). Betrifft im Unterschied dazu etwa die filmophanische Zeit die zur Projektion des filmographischen Materials (also u.a. des Filmstreifens) aufgewendete fortlaufende Zeit, so wird insbesondere im Falle einer Rückblende die Differenz zwischen filmophanischer und diegetischer Ebene plastisch – die Zeit der vom 33 | Diese Gliederung ist das Ergebnis eines kollektiven Seminars am filmologischen Institut, in dem eine Basisterminologie der filmologischen Untersuchungen festgelegt werden sollte (vgl. Kessler 1997, S. 135). 34 | Wie zum Beispiel: Nicht umgesetzte Ideen eines Regisseurs oder einer Regisseurin, bestimmte Interessen, die ästhetische Entscheidungen mit beeinflussen können, pädagogische oder propagandistische Zielsetzungen etc.

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Film erzählten Geschichte ist nicht dieselbe Zeit wie die der ablaufenden Filmrolle. Wie Souriau betont, handelt es sich um „zwei deutlich verschiedene und lokalisierbare Realitätsebenen innerhalb eines Systems“ (ebd., S. 145). Mit Souriau lässt sich also der Gegenstandsbereich des filmischen Realitätseindrucks als ein Bereich innerhalb der Gesamtproblematik kennzeichnen, welche das Kino als universelle Institution für die Filmologie darstellt. Vermittelt hängen dieser Auffassung zufolge alle Ebenen miteinander zusammen und wirken wechselseitig aufeinander – die Problemstellung des Realitätseindrucks richtet den Fokus auf das spezifische Verhältnis von diegetischer und filmophanischer Realität und deren Beziehung zu spektatoriellen Aspekten in seiner Wirkung auf die Wahrnehmung des Publikums. Metz unterstreicht in seiner – als Standardwerk der Filmwissenschaften rangierenden – „Semiologie des Films“ (1972) eine für die Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks wichtige Unterscheidung, die der zwischen Diegese und Filmophanischem bei Souriau ähnelt. Zu differenzieren sei, so Metz, „zwischen zwei Problemen: einerseits der Realitätswirkung, hervorgerufen durch die Diegese, durch das fiktive Universum, durch das ‚Dargestellte‘, das jeder Kunstgattung eigen ist, und andererseits der Realität des Materials, das in jeder Kunstgattung angewandt wird zum Zwecke der Darstellung“ (ebd., S. 33). Um die Besonderheit des filmischen Realitätseindrucks herauszustellen, greift Metz auf einen Vergleich mit dem Theater zurück: Warum glaubt man „viel eher an die Fiktion des Films als an die des Theaterstücks“ (ebd., S. 32)? Metz gibt hierauf – unter Berufung auf den Filmologen Wallon – eine Filmologie-typische Antwort: „[G]erade die völlige Irrealität des filmischen Materials […] ist es, die der Diegese Realität verleiht“ (ebd., S. 33). Im Unterschied zum Theater werde im Kino „die Fiktion hermetisch von der Realität isoliert“ (ebd., S. 31), das „kinematographische Ereignis ist […] völlig irreal, es spielt sich in einer anderen Welt ab“ (ebd., S. 30). Im Kino sind, so unterstreicht Metz, der diegetische Raum und der Publikumssaal getrennt, im Theater hingegen findet – wenn auch durch den Bühnenrand abgetrennt – das Schauspiel im Raum des Publikums statt. (Kein Kinopublikum der Welt könnte etwa die filmische Bühne stürmen.) „Dadurch, daß die Welt sich nicht in die Fiktion einmischt […] kann die Diegese von Filmen diesen seltsamen und großartigen Realitätseindruck erzeugen.“ (Ebd.) Diese Grenze zwischen Publikumsraum und leinwandlichem Raum wird – von Metz wie von anderen Filmologen – als wesentliche Bedingung der Entstehung dieses „großartigen Realitätseindruck[s]“ (ebd.) angesehen. So beseitige diese zuallererst „Hindernisse“ (ebd., S. 31), die der Partizipation des Publikums am Schauspiel im Wege stehen könnten. Metz bringt ein äußerst populäres Beispiel, auf welches auch ich in Bezug auf Santiago Sierras Arbeiten zurückkommen werde: Ein unfreiwilliger Nieser auf der Theaterbühne (vgl. I.4). An diesem demonstriert Metz die Brüchigkeit der Realität der Fiktion im Theater im Unterschied zum Kino: Der Theaterschauspieler kann mit einem nicht-gespielten Niesen aus der diegetischen Realität und somit seiner Rolle rutschen – in der

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Regel würde beim Film dieser Art Zwischenfälle schlicht geschnitten werden. Im Theater-Nieser sieht Metz einen „brutale[n] Ausbruch der Realität des Realen“, der „die Realität der Fiktion zerstört“ (ebd.) und an dem sich ein Extremfall der vergleichsweise größeren Instabilität der Realität der Fiktion im Theater zeige. Die Abgeschlossenheit der kinematographischen Realität gäbe hingegen dem Publikum stets „die Möglichkeit, auf etwas anderes umzuschalten“ (ebd.), sich in die Realität des Films hineinzubegeben, an ihr in besonderem Maße teilzunehmen. Diese Bestimmung korrespondiert mit Cohen-Séats Vergleich von Kino uns Spiel. Wird Metz zufolge die filmische Realität auf einer anderen Ebene als der gewöhnlichen Realität statthabend wahrgenommen, so verortet Cohen-Séat den Konsum des filmischen Schauspiels in der Freizeit als vom Ernst des Lebens unterschiedenen Sphäre – zugleich wird in beiden Fällen ein Darüber-Hinausgehendes beschrieben, ein mehr als nur: Metz hebt die Großartigkeit des filmischen Realitätseindrucks hervor, der mehr als die von anderen Darstellungsformen evozierte Realität gefangen nehme; korrespondierend hält Cohen-Séat bezüglich des fortschrittlichen, universellen Potentials des Kinos fest, es gehe um mehr als nur ein bloßes Spiel. Für die filmologischen Ansätze ist in diesem Zusammenhang die Annahme äußerst zentral, dass dieses Mehr des filmischen Realitätseindrucks jedoch nicht (zumindest nicht unbedingt) zu einer Verwechslung der Realität des Tatsächlichen mit der Realität des Fiktiven führt. So hält auch Metz fest: Der Film besteht „immer noch aus Bildern: die Perzeption des Zuschauers behandelt ihn auch so und verwechselt ihn niemals mit einem realen Geschehen“ (ebd., S. 34). Genau diese Feststellung einer (nicht nur von den filmologischen Bestimmungen festgehaltenen sondern auch) vom Publikum gewahrten Grenzen zwischen filmischer und sonstiger Realität ist ebenfalls der Ausgangspunkt von Michottes wahrnehmungspsychologischer Bestimmung des Realitätseindrucks (vgl. Michotte 2003a, S. 110; vgl. I.1). Michotte interessiert die Wahrnehmung von Bildern in ihrer Eigenschaft als Bilder, die zugleich einen lebhaften Eindruck von Realität erzeugen (was der Bildhaftigkeit des Wahrgenommenen zuwiderläuft): „Das wirft ein sehr interessantes psychologisches Problem auf, ist es doch offenbar so, dass wir (und mit uns sogar die Kinder) nicht auf die gleiche Weise auf Ereignisse reagieren, denen wir im Kino beiwohnen, wie wenn wir im täglichen Leben Zeugen analoger Ereignisse werden.“ (Ebd.)

6. Michottes Begriff des Realitätscharakters 35 Michotte beginnt seinen 1948 und damit im Gründungsjahr des Instituts erschienenen Text „Der Realitätscharakter der filmischen Projektion“ (Michotte 2003a) mit eben dieser Beobachtung: Bei gleichzeitigem Eindruck einer äußerst 35 | Michottes Bezeichnung Realitätscharakter wird häufig synonym mit Realitätseindruck verwendet; vgl. etwa Metz 1972.

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lebensechten Realität seien die Zuschauenden doch stets dessen gewahr, bloße Zuschauende zu sein. „Ein Angriff oder ein Unfall zum Beispiel würden in der realen Existenz eine aktive Intervention auslösen, oder zur Flucht führen, oder Schreie provozieren: Dinge, die im Kino nicht vorkommen. Tatsächlich gehen die Reaktionen der Zuschauer über das Stadium des Emotionalen kaum hinaus.“ (Ebd., S. 110) Michotte hält fest: „Es gibt demnach Realität und Realität“ (ebd.). Um die Besonderheiten der filmischen Realität und deren Wirkung zu untersuchen, vergleicht Michotte phänomenologische Aspekte afilmischer und filmophanischer Bedingungen der Wahrnehmung (die die spektatorielle Ebene betreffen). Der Film, so lautet grob gesprochen sein Ergebnis, setzt die Wahrnehmung unter Bedingungen, die in bestimmten Punkten von den Gesetzen, denen die Wahrnehmung unter alltäglichen Bedingungen folgt, abweichen. In anderen Punkten aber nähere sich der Film alltäglichen Eindrücken an. Der filmische Eindruck sei im Ganzen als eine Mischung aus gewohnten und ungewohnten Aspekten zu charakterisieren, die der filmischen Realität den Charakter einer entrückten Gegenwärtigkeit verleihe – real und zugleich irreal, gewohnt und zugleich ungewohnt.36 „Fürs Kino lautet seine Antwort, kurz gefasst: Das Kino vermittelt uns das Reale im Modus der Künstlichkeit.“ (Hediger 2006a, S. 45) Doch Schritt für Schritt. Zunächst sei für das Kino eine Dopplung der Haltung beim Zuschauenden festzustellen, wie sie auch im alltäglichen Leben Geltung habe: ein Auseinandertreten von intuitivem Eindruck von und Glauben an die Realität des Wahrgenommenen. Anders gesagt: Nicht allem, was mir den visuellen Eindruck von lebhafter Realität verschafft, schenke ich den Glauben, es sei real. Das Kino liefere „ein typisches Beispiel“ dafür, dass zwischen der „Tatsache des Glaubens an die Realität eines Objekts oder Ereignisses“ und „dem intuitiven Charakter von Realität, den ein Objekt oder Ereignis aufweisen können“, eine Diskrepanz bestehen kann (Michotte 2003a, S. 111). Michotte zieht hier als Beispiel das Phänomen der Bewegung heran: Auf der Leinwand findet Bewegung statt in Form von sich bewegenden Lichtpunkten. Auch wenn das Publikum weiß, dass eine Abfolge unbewegter Bilder wahrgenommen wird, nimmt es trotz dieses Wissens Bewegung wahr. „Es entsteht demnach ein Widerspruch zwischen der scheinbaren Realität und dem Wissen, das wir uns über die Technik der filmischen Projektion angeeignet haben, zwischen der scheinbaren Realität und dem, was wir naiver Weise für den Bereich ‚der Dinge an sich‘ halten.“ (Ebd., S. 112) Wie aber auch im täglichen Leben „unser Handeln in der Regel eher von der Realität bestimmt ist, an die wir glauben, als 36 | „Einerseits drängt sich die Wahrnehmungsrealität der Dinge und der Handlungen mit einer gleichsam ‚sinnlichen Wahrheit‘ auf, und andererseits weist die filmische Projektion eine Anzahl von abnormen Merkmalen auf, die unserer alltäglichen Erfahrung widersprechen. Es ist dieser Konflikt ziemlich eigentümlicher Ordnung, der unserer Meinung nach den typischen Zug der filmischen ‚Situation‘ ausmacht.“ (Michotte 2003a, S. 123)

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von der, die sich intuitiv erschließt“ (ebd.), sei auch die Haltung im Kino, trotz des lebhaften Realitätseindrucks, von der Überzeugung an die Irrealität gegenüber dem intuitiven Eindruck bestimmt: Im Kino herrscht Michotte zufolge ein Glaube an die Nicht-Realität der lebhaften Realität. Dies erkläre ein Stück weit, warum das Kinopublikum den Unfallopfern auf der Leinwand nicht zu Hilfe eilt – doch keineswegs sei damit die Ausgangsfrage geklärt. „Ganz im Gegenteil: Die psychologischen Beziehungen zwischen dem Glauben an und dem Eindruck von Realität schaffen im Kino, wie übrigens auch für das Theater, äußerst heikle Probleme, von denen wir nur sehr wenig wissen.“ (Ebd.) Nicht selten etwa träten im Verlauf einer Vorführung Oszillationen ein, in denen die Grenze zwischen dem sonst unterschiedenen Glauben an und Eindruck von Realität ins Wanken gerate, mitunter sogar aufgehoben würde. So wirke im Kino eine „Atmosphäre des Gekünstelten und Künstlichen“ oder des Irrealen, verwandt „mit einem Begriff von dem, was nicht unserer bisherigen Erfahrung entspricht“ (ebd, S. 113). Ein Gefühl „des Neuen, des Unerwarteten, des Erstaunlichen“ (im Unterschied zum „Gefühl des Vertrauten und Bekannten “) werde vermittelt (ebd.). Es sind im Wesentlichen drei wahrnehmungspsychologische Phänomene, an denen Michotte die Abweichung der Wahrnehmung im Kinosaal von der unter alltäglichen Bedingungen festmacht, welche die bereits in Zusammenhang mit Metz erwähnte Abtrennung der Räume im Kino im Unterschied zum Theatersaal betrifft.37 Es handelt sich hier Michotte zufolge um „Anomalien, Merkwürdigkei37 | Diese Abweichungen betreffen 1.) den sogenannten Schirmeffekt. Normalerweise erwecken Objekte den Anschein einer räumlichen Kontinuität. Z.B. bei einem Augenaufschlag oder dem Wegziehen eines Vorhanges, wird das Objekt als vorher bereits anwesendes wahrgenommen, nicht als in dem Moment entstehendes. Die Grenze des Blickfeldes wird nicht als die Grenze der Objektwelt wahrgenommen, sondern der Raum scheint sich über die Grenzen des Gesehenen hinaus zu erstrecken. Der Schirmeffekt verbürgt so die phänomenale Dauerhaftigkeit der Objekte. Diese kommt den Objekten im Film nicht zu. Insbesondere abrupte Schauplatzwechsel widersprechen hier der gewohnten Dauerhaftigkeit der Objekte. 2.) Die Materialität der wahrgenommenen Objekte. Im Kino bestehen diese aus Licht, farbigen Flächen auf einer Oberfläche, die jedoch als Eigenfarbe der Objekte erscheinen. Michotte sieht hier eine mögliche Irritationsquelle. So könnten Lichtreflexionen auf der Oberfläche den Eindruck der Festigkeit der Objekte zerstören, das Fehlen von Farbe im Schwarz-Weiß-Film ebenso wie Abweichungen von der natürlichen Farbwelt im Farbfilm den Eindruck von Künstlichkeit erzeugen. 3.) Das Verhältnis von Größe und Form eines Objekts. Normalerweise erscheinen auch bei Perspektivveränderungen Form und Größe konstant. Anders im Kino: „Die Wahrnehmung der dritten Dimension im Kino erscheint in der Tat oft ziemlich mangelhaft, und es ergibt sich daraus in vielen Fällen, namentlich im Fall der Kamerafahrt, dass wir nicht einfach nur sehen, wie sich die Objekte uns annähern oder sich von uns entfernen, sondern wie sie sich ausdehnen oder zusammenziehen, und das in Größenverhältnissen, die mitunter äußerst unangenehm sind.“ (Michotte 2003a, S. 118) Außerdem sei das Verhältnis einer scheinbaren Unbeweglichkeit der Umgebung

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ten und Widersprüche zu all dem […], was uns unsere alltägliche Erfahrung lehrt“ (ebd., S. 119). Und so könne man zu dem Schluss kommen, „das Kino für die gekünsteltste und künstlichste aller Kunstformen zu halten“ (ebd., S. 120). Für Michotte aber ist letztlich die Zwieschlächtigkeit der filmischen Wahrnehmung das Relevante: Neben all den künstlichen Aspekten seien es zwei Faktoren, die den durch die Abweichungen evozierten irrealen Aspekten entgegenstehen und die den filmischen Bildern einen „Grad der Realität“ (ebd.) verleihen – oder in Metz Worten: die Bilder mit Realitätsindizien ausstatten (vgl. Metz 1972, S. 34).38 Michotte nennt zunächst das Phänomen, „dass sich der Eindruck eines Volumens mit dem einer Fläche verbindet“ (Michotte 2003a, S. 120). Hiermit ist noch einmal der Unterschied zwischen der filmographischen und der filmophanischen Ebene berührt: Das In-Bewegung-Setzen des filmographischen Materials durch die Projektion „befreit das Objekt von der Fläche, von der es Bestandteil war. Es ‚substanzialisiert‘ sich in gewisser Weise und entwickelt ein eigenständiges Vorhandensein: Es wird zum ‚körperlichen Ding‘“ (ebd., S. 121). Michotte beschreibt ein durch die Bewegung bewirktes „Beinahe-Wunder“ (ebd., S. 120) des Eindrucks von realem Volumen auf einer zweidimensionalen Fläche – sobald man aber den Film anhalte, so sehe man, „wie das Relief sofort abflacht, seine Realität verliert und dem irrealen Volumen eines einfachen, flachen perspektivischen Bildes Platz macht“ (ebd., S. 122). Kann das Volumen seinen Realitätscharakter bei Stillstellung einbüßen, so gilt dies nicht für den zweiten Faktor, den Michotte geltend macht: die Bewegung selbst. „Dieser eignet immer ein Realitätscharakter“ (ebd.). Und zwar unabhängig, ob sie „darstellenden Wert“ (ebd.) habe oder nicht – ein Punkt, der die Metzsche Unterscheidung zwischen Darstellung und Dargestelltem als Quelle des Realitätseindrucks betrifft (s.o.). Im Falle der Bewegung ist die Darstellung des Dargestellten (Bewegung) selbst reale Bewegung: Sehen wir, so Michottes Beispiele, im Planetarium die Bewegung der Sterne nachgestellt oder im Film das Wachsen einer Pflanze im Zeitraffer, so handelt es sich „um eine ‚reale‘ Bewegung, die eine andere ‚reale‘ Bewegung darstellt, denn die Bildfunktion als solche geht nicht notwendigerweise Weise einher mit einem Verlust an Realität des Symbols“ (ebd., S. 123).

und der scheinbaren Bewegung des Objekts im Kino außer Kraft gesetzt. Die Zuschauenden erhielten in der Regel nicht den Eindruck, dass die Filmwelt die Umgebung sei, der Bildraum erscheint demzufolge als vom Zuschauerraum abgeteilter Bereich. Hier „‚leben‘ und bewegen sich die Schauspieler, in dem anderen befinden sich die Zuschauer“ (ebd., S. 119). Ein Argument, welches zudem auch nochmal den Unterschied der Vorführsituation im Kino und im Theatersaal unterstreicht, auf den ich im vorhergehenden Abschnitt in Bezug auf Metz eingegangen bin. 38 | Metz formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Zusammenfassend kann man sagen, daß das Geheimnis des Films darin liegt, daß er viele Realitätsindizien in Bilder legt, die, so bereichert, dennoch als Bilder perzipiert werden.“ (Metz 1972, S. 34)

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Alles in allem, so Michottes Schlussfolgerung, ist die kinematographische Erfahrung als eine „einzigartige Zusammenführung des ‚Realen‘ mit dem ‚Künstlichen‘“ zu beschreiben (ebd.) – als eine Mischung aus irrealen, ungewohnten, überraschenden und realen, gewohnten, bekannten Sensationen. Ein Konflikt, wie Michotte festhält, der sich in psychologischer Distanz niederschlägt – unser Kontakt mit den Personen auf der Leinwand habe nicht „dieselbe Unmittelbarkeit wie im realen Leben“ (ebd., S. 124). Die kinematographische Realität vermittele uns den Eindruck, „wir nehmen reale Wesen und Ereignisse in unserer Gegenwart wahr, dass es sich dabei aber um eine mehr oder weniger deformierte Realität handelt, die einer Welt angehört, die – psychologisch gesprochen – nicht ganz die unsere ist, und von der wir uns trotz allem ein wenig distanziert fühlen. Darin liegt zweifellos einer der wichtigsten Gründe, weshalb wir uns in der Gegenwart eines Films anders verhalten als im richtigen Leben“ (ebd., S. 125). Der Zuschauer glaube an die Nicht-Realität der Bilder, deren irreal-realer Charakter ihm dennoch einen eindringlichen Realitätseindruck verschaffe. Für Michotte ist also das Moment der Distanz, wie auch Hediger unterstreicht, „ein konstitutives, strukturierendes Element der filmischen Situation“ (Hediger 2006b, S. 223). Auch wenn Michotte an einigen Stellen die Abweichung von alltäglichen Bedingungen der Wahrnehmung als störenden Faktor der filmischen Wirkung verhandelt, so hält er gleichwohl fest: Diese Distanz verhindert „nicht die Vollständigkeit der Illusion, sie stellt sich in unauflöslicher Verschränkung mit dem Realitätseindruck ein, als ‚unaussprechliche‘ Nuance, aber auch als strukturierendes Element der Erfahrung“ (ebd.). Die psychologische Distanz der Zuschauenden gegenüber der filmischen Welt, die „nicht ganz die unsere ist“ (Michotte 2003a, S. 125; s.o.), bezieht Michotte auf seine Ausgangsbeobachtung, dass die filmischen Ereignisse das Publikum nicht zum Eingreifen animieren und somit dessen Reaktionen „über das Stadium des Emotionalen kaum“ (ebd., S. 110) hinausgingen.39 Das hohe Maß an Erregung, in welches das Kino sein Publikum versetzen kann, ist dabei nicht nur für Michotte, sondern auch für die anderen hier verhandelten Filmologen ein zentraler Topos. So setzt Cohen-Séat in seinem „Essai“, auf den ich damit zurückkommen möchte, die Evokation von Gefühlen und Affekten in Bezug zu seiner Auffassung des Kinos als universelle Institution – und er hält in diesem Zusammenhang fest: Das Kino präsentiere das gewohnte Leben lebensnah aber zugleich auf neue, nicht-alltägliche Art Weise und errege so Aufsehen und Emotionen. Cohen-Séat sieht mit diesem emotionalen Aufruhr ein grenzüberschreitendes und fortschrittliches Potential verbunden: Mit diesem könne im Kino ein die übliche Trennung von Denken und Fühlen aufhebendes Erkenntnisvermögen freigesetzt werden. Als wesentliche Bedingung hierfür gilt 39 | In einem zweiten, 1953 in der Revue erschienenen, Text widmet sich Michotte unter dem Titel „Die emotionale Teilnahme des Zuschauers am Geschehen auf der Leinwand“ (Michotte 2003b) noch einmal gesondert der Gleichzeitigkeit von emotionaler Anteilnahme und Distanz gegenüber dem filmischen Geschehen (vgl. auch Hediger 2006a, S. 45).

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Cohen-Séat die Neugier, die eine Welt, die laut Michotte „nicht ganz die unsere ist“ (ebd., S. 125; s.o.), zu erwecken vermag.

7.  Am Faden der Neugier: Filmerleben als Gleichgewichtsstörung In Cohen-Séats Beschreibung der Beziehung von Publikum und Kino sind der Wunsch nach Aufhebung der Langeweile, die Attraktivität von Zerstreuung und Realitätsflucht (Evasion) sowie der Reiz des Neuen zentral. Die Schau einer unmittelbar wirklichen Wirklichkeit im Kino verspräche Erlösung von der – durch Monotonie, Routine und Desinteresse an Neuem gekennzeichneten – Langeweile des Alltags. Nicht allein aber fungiere das Kino als Ablenkung und vergnüglicher Zeitvertreibs, sondern potentiell eröffne es eine völlig neue Dimension des Erlebens. An dieser entzünde sich die Neugier, die ein Band zwischen den Zuschauenden und der filmischen Welt knüpfe und von der nicht zuletzt der Beitrag des Kinos zum menschlichen Fortschritt abhänge.40 Neugier zöge das Publikum vor die Kinoleinwände in Erwartung einer neuen Art des Erlebens, die hinter „unseren Gewohnheiten, unserem normalen Dasein, unserer Erfahrung, sogar unseren Empfindungen“ (Cohen-Séat 1962, S. 16) liege. Dieserart Flucht vor der Langeweile des täglichen Lebens folge letztlich dem Bedürfnis, „sich neu zu erschaffen“ (ebd., S. 105) und richte sich damit gegen das Gefesselt-Sein in Routine, Gewohnheit, Monotonie des Alltäglichen. Langeweile, so Cohen-Séat, zeuge von einer Ermattung der Seele, einer „Entsagung des Herzens“ und „Schwäche des Denkens“ (ebd.) – demgegenüber sei die Neugierde Anzeichen des Bedürfnisses nach Freiheit und des Wunsches „dem ausgefahrenen Geleise und der Stumpfheit zu entkommen“ (ebd., S. 104). Im Sturm der durch Filme ausgelösten Affekte erhofft sich Cohen-Séat ein Auf brechen verkrusteter Bewusstseinsstrukturen in gegenseitiger Anreicherung von Sinnlichem und Geistigem. „‚Cogito ergo sum‘, so lautet das Fundament des verbalen Gebäudes, in dem sich der Geist einschließt und dann sich zu differenzieren beginnt. Aus diesem Engpaß müssen wir heraus.“ (Ebd., S. 112) Auf dem vom Kino neu eröffneten Ausweg könne der Trieb befriedigt werden, „der den Menschen aus sich selbst heraustreibt, dieses unersättliche Verlangen nach neuen Eindrücken und Bedeutungen“ (ebd., S. 117). In Cohen-Sèats Enthusiasmus des Neuen scheinen Veränderung an sich und Freiheit nahezu gleichlautend: So bestünde Freiheit „in40 | Die von Cohen-Séat beschriebene Verlockung des Außergewöhnlichen wird auch aktuell noch von filmtheoretischen Ansätzen konstatiert und ebenfalls als grenzüberschreitend charakterisiert – so schreibt z.B. Elsaesser: „Der Kinobesuch mag in den letzten hundert Jahren alltäglich geworden sein, er wird vom Publikum aber nach wie vor als eine Erfahrung angesehen, die etwas Außergewöhnliches und von der Alltagsnormalität Abgehobenes haben soll. Was uns ins Kino lockt, was wir dort zu finden hoffen und was uns immer wieder dorthin zurückkehren lässt, ist die Vorfreude auf eine extreme Erfahrung, eine Grenzerfahrung.“ (Elsaesser 2005, S. 422)

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mitten der unverrückbaren Gesetze des Universums […] einzig in der Macht […], sich zu verändern […], um eine Persönlichkeit anzustreben, eine Art von eigentlich persönlichem Kunstwerk, einem Meisterstück des freien Denkens und der Rekreation“ (ebd.). Dabei sei – im Unterschied zu bisherigen Arten des Zeitvertreibs – die vom Kino geweckte Neugier „um vieles geringer an Erfahrung, um vieles reiner auch, konfuser, aber natürlicher und vor allem um vieles allgemeiner als jede andere Neugierde“ (ebd., S. 52). Cohen-Séat beschreibt die Ausbreitung dieser ‚reinen‘ Neugierde im Kinoraum kurz vor Beginn der Vorstellung: „Körper räkeln sich zurecht, der Atem geht ruhiger, die Verbindung nach außen, die Interessen, die kleinen und großen Sorgen verschwinden. Es herrscht das große Schweigen aller Leidenschaften, mit Ausnahme der Neugierde.“ (Ebd., S. 45) Als wäre vor Vorstellungsbeginn alles auf Null zurückgestellt, charakterisiert Cohen-Séat diese spezifische Art der Neugier als Erwartung, es möge irgendetwas passieren – ein „allgemeiner Zustand chronischer Emotion, […] einer spezifischen Erwartung, beängstigend und verwirrend, des ‚Irgend etwas‘, das geschehen wird“ (ebd., S. 98). Seien die Zuschauenden bereit, sich der Kamera anheimzugeben, so übergäben sie sich einer „gewissenhaften Mechanik, ausgerüstet mit einem Auge der Präzision, der Unbestechlichkeit und der Botmäßigkeit“ (ebd., S. 72). Durch diese hineingerissen in ein „Durcheinander von Spannung und psychologischer Not“ befände sich der Geist ohnmächtig in einem „Wirbel von Erlebnisschocks“ (ebd., S. 99). Schockhaft wirke der Film gerade aufgrund der Oberflächlichkeit der Bilder und der Beschränkung des Films auf den „kleinen Bezirk des Bewußtseins, der den Dingen des täglichen Lebens vorenthalten ist und der für die einfachen Wesen den Bereich der Seele bedeutet“ (ebd., S. 57).41 Das hohe Ausmaß der Erschütterung führt Cohen-Séat also gerade darauf zurück, dass die filmische Darstellung ohne in die Tiefe zu gehen lediglich flüchtig psychologische Sachverhalte streife – gerade in diesem Mangel ästhetischer Ideale (wie Schönheit, Gehalt, Bildung, Tiefe, Verfeinerung etc.) liegt für ihn das Potential des Kinos. Es ist u.a. die Maskenhaftigkeit der Gesichter der FilmschauspielerInnen, an der dieserart Oberflächlichkeit festgemacht wird: Auf der Leinwand diene die Mimik nicht der Darstellung und Ausgestaltung fiktiver Persönlichkeiten, würden gerade nicht komplexe psychologische Zusammenhänge zum Ausdruck gebracht, sondern 41 | Cohen-Séat charakterisiert in diesem Zusammenhang den Stummfilm gegenüber dem Tonfilm als die ‚reinere‘ Form – die Einführung des Tons sei lediglich als Ablenkung vom Primären des Bildes im Kino zu betrachten, Worte könnten doch nichts weiter sein als „Ausschmückungen und Eselsleitern“ (Cohen-Séat 1962, S. 54). Nur eine „zeitweilige Ungeschicklichkeit“ (vgl. ebd.) habe dem Ton Einlass ins Kino gewährt und der dem Menschen eigenen Schwatzhaftigkeit Genüge getan, jedoch letztlich im Wesentlichen nichts an der Vorherrschaft der Bildsprache geändert: „[I]n der Tat hat der Film nie aufgehört, stumm zu sein, wenn man ihm auch die menschliche Stimme verliehen hat.“ (ebd., S. 58) Auch Adorno geht von einer Stummheit des Tonfilms aus (vgl. I.4).

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hier glichen die maskenartigen Züge der Gesichter eben jenen in Gewohnheit und Routine erstarrten Mienen, mit denen die Zuschauenden im Alltag einander begegneten.42 Belebten Charakter haben laut Cohen-Séat Objekte und Dinge im Kino – Gegenstände sind demnach mehr als Kulisse, sie haben den Rang von Darstellern: Diese „erwarten einander, kreuzen sich, weichen sich gegenseitig aus, stoßen sich aneinander, zirkulieren und pflanzen sich mit ihren Folgen, schwindelerregenden Gesetzen folgend, fort, von denen ein jedes von einem anderen Objekt der Welt […] bestimmt wird“ (ebd.). Es eröffne sich die Welt einer „synkretistischen Totalität, die sich dauernd entwickelt und umformt und deren Elemente unaufhörlich und unmittelbar aufeinander reagieren“ (ebd., S. 53). Eingebettet in diese eigenmächtige und belebte Dingwelt stehe „der Mensch, ein stummer Mensch zwar, […] sozusagen der kosmische Mensch“ (ebd., S. 57). Raumgreifend seien gegenüber diesem „Natur und Leben“ (ebd., S. 58) und auch dadurch verbinde sich „der Film mit der Erschütterung der Seele“ (ebd.) und versetze die Emotionen der Zuschauenden in Schwingungen (vgl. ebd., S. 55). Das Erscheinen eines jeden filmischen Tatbestandes sei wie „die Geburt eines Wunsches, dessen Absicht und Erfüllung wir unmittelbar teilen“ (ebd., S. 100). Dieser Wunsch lenke die Augen in einer „Kurve bis zum Ende oder bis zu einer Unterbrechung, wodurch bei uns innerlich Punkt für Punkt alle notwendigen Kraftsysteme zur Entfaltung und Anwendung gebracht werden“ (ebd.). Es bedürfe aber auch der „Strebkraft“ der Neugier seitens der Zuschauenden. Fehle diese „länger als für einen Augenblick, dann zerschlägt sich unser Antrieb in Untätigkeit, in ‚innerliche Grübelei‘ und in Langeweile“ (ebd.). Die Emotion falle von der filmischen Realität ab, wenn der „fundamentale Faden unserer Neugierde“ unterbrochen sei (ebd.). Wenn hingegen der Faden der Neugierde nicht abreiße, werde dem Publikum ein Studium des Lebens der besonderen Art ermöglicht: Geleitet durch die präzise Mechanik der Kamera werde das Sehen „exakt, es erfaßt das Äußere, in gewissem Sinne das Konkrete, Stoffliche der Dinge; man sieht, wie es sich schickt inmitten der Bewegung des Lebens, das heißt, man versteht. […] An einer Stelle und mit außergewöhnlichen Mitteln überflügelt er [der Film] an Gewalt die anderen bestallten Interpreten des Lebens, wie Literatur, Theater, Ausstellung, Vortrag, alles, was ihm das Leben erklärt und dessen As42 | Das Ausdruckslose der Gesichter auf der Kinoleinwand im Unterschied zur Gestik auf der Theaterbühne ist vor allem in den 1920er Jahren ein wiederkehrender Topos in Filmtheorien, etwa in Béla Balázs’ 1924 erschienenem Band „Der sichtbare Mensch“ (Balázs 2001). Ähnlich wie Cohen-Séat in seinem „Essai“ charakterisiert auch Balázs Filmerfahrung als eine Form physiognomischen Denkens, beide Autoren sehen im demnach ausdruckslosen Körper auf der Leinwand einen Ausdruck von Seelischem. Kappelhoff zeigt, inwiefern dieserart Überlegungen an durchaus „konventionelle Kunstvorstellungen“ anknüpfen, die nicht zuletzt von romantischem Ursprungspathos getragen sind (Kappelhoff 2006, S. 189).

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pekte hervorhebt. Mit seinen perfekten und unermüdlichen Vermittlerdiensten ist der Film der ideale Dolmetscher der Beobachtungen, denn er vertritt sie und gibt sie zu verstehen.“ (Ebd., S. 74) Filmerleben beschreibt Cohen-Séats als verstehendes Erleben und erlebtes Verstehen. Diese Grenzüberschreitung zwischen geistiger und sinnlicher Erfahrung involviert demnach auch, wie Paech hinweist, einen Übergang zwischen Ich und filmischer Welt im Strudel der Überwältigung durch das filmische Szenario: „Die Grenze zwischen Ich und dargestellter Welt, die die Erfahrungswelt repräsentiert, löst sich auf in der Faszination des prägnanten Filmbildes und im völligen Gefangensein durch das Cinéma.“ (Paech 2004, S. 42f.) Die Auflösung dieser Grenze wiederum verweist auch auf die Aufhebung der Isoliertheit der Individuen untereinander – im Kinosaal verschmelzen diese Cohen-Séat zufolge zur universellen Gemeinschaft, die nach der Vorstellung wieder in ihre Partikel zerfalle: Dann nämlich gewinnt das „geheime Leben und der private Kummer eines jeden […] wieder die Oberhand; die Menge, die, zu einem einzigen Publikum verschmolzen, im Einklang bebte, wird zu einer kleinen, vielgestaltigen Menge, in der sich die Lebensgeister regen und wieder zu räsonieren beginnen. Das gemeinsame Erlebnis ist beendet.“ (Cohen-Séat 1962, S. 44) Steht für Cohen-Séat die Rezeption traditioneller Kunst im Register einer Einschließung des Geistes, so berühre hingegen die filmische Realität „gleichzeitig den menschlichen Organismus und die menschliche Psyche“ (ebd., S. 17) und hinterlasse „im kollektiven Dasein ihre Spuren“ (ebd., S. 18). Dies wirft für Cohen-Séat die Frage auf: „Was haben wir nun von dieser anomalen oder zumindest außergewöhnlichen Gymnastik unserer Funktionen in einem Zustand der Egoschwächung, der herabgesetzten Selbstbeherrschung, der auf sich selbst zurückgeworfenen Elemente und organischen Impulsivität zu erwarten?“ (Ebd.) Könnte es nicht sein, dass sich in der universellen Institution „instinktiv die erste wahre Begegnung, die erste ‚Verständigung‘ zwischen scheinbar unvereinbaren Individuen oder Kollektivitäten ergibt“ (ebd.)? Zumindest das Potential für das von ihm anvisierte ‚Wir‘ als einem Inbegriff der Humanität sieht Cohen-Séat gegeben: Im Kino werde der Mensch und die Menschen untereinander zu einer Einheit. Wider die auseinanderstrebenden Tendenzen von Intellekt und Gefühl, von Körperlichem und Geistigem, Taten und Träumen, Freiheit und Notwendigkeit könne sich in einer Art spontanen Koordination Harmonie und Würde einstellen (vgl. ebd., S. 60). In dieser völlig neuen Form medialer Vermittlung werde dabei zugleich Altes geborgen. Korrespondierend seiner Beschreibung ‚reiner‘ Neugier, attestiert Cohen-Séat der filmischen Darstellung eine ‚pure‘ Form des Ausdrucks: Dieser siedele sich „in der Gegend des ersten Schreis als dem Ausgangspunkt der gemeinsamen Emotion an. Von dort rührt es her, daß er die kulturellen Normen in Verwirrung bringt. Denn, indem er das Publikum, das diese Norm verkörpert, von jeder einzelnen Norm ausgeliefert bekommt, bestürmt er sie von allen Seiten: Er bringt ihnen auf seine Weise Vergnügungen, Anregung und Aufregung, ohne auf spezielle Eigenschaften Rücksicht

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zu nehmen. Angesichts dieser Form der Erholung hat das Sprichwort ‚Sage mir, was du spielst, und ich werde deine Langeweile kennen, werde dir sagen, wer du bist‘ seinen Sinn verloren.“ (Ebd., S. 109) Filmerfahrung wird also als ein universelles Spiel beschrieben, welches keine Entfaltungsmöglichkeit auszuschließen scheint – es ist ‚die Seele‘ selbst, welche hier zur Geltung kommen soll: „Es tritt eine Gleichgewichtsstörung unseres seelischen Zustandes ein, wodurch wir geradezu erkennen, daß wir eine Seele besitzen. Genau dieses Ziel wünschen wir zu erreichen.“ (Ebd., S. 55) Die Erreichung dieses Ziels (und das heißt eben auch: die Realisierung des fortschrittlichen Potentials des Kinos) hat Cohen-Séats Auffassung zufolge jedoch eine bestimmte Voraussetzung: Angesichts aller möglichen Überschreitungen von Trennungen – zwischen Ich und filmischer Welt, Ich und anderen, Intellekt und Gefühl, Sinnlichem und Geist – müsse doch grundsätzlich die filmische Welt als eine von der sonstigen, alltäglichen Welt unterschiedene gelten. Wir haben hier also eine weitere Variante jener Gedankenfigur vorliegen, wie sie auch in Texten von Souriau, Michotte und Metz anzutreffen ist (s.o.).43 Cohen-Séat beschreibt den vom Film ausgelösten Wirbel hier als eine Art gerahmtes Chaos und hält dabei der Vorstellung totaler Überwältigung folgendes Ideal entgegen: „Vielmehr muß dem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, auch jenen Strom zu kontrollieren, der ihn durchfließt und mitreißt. Zumindest aber muß er diese Unordnung verstehen können, um die autonome Dynamik, die sich in ihm entfaltet, zu bremsen.“ (Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 61). Wie u.a. auch Michotte unterstreicht Cohen-Séat in diesem Zusammenhang die Unterschiedenheit der filmischen von der sonstigen Realität bei gleichzeitig großer Wirklichkeitsnähe der filmischen Darstellung44: „Wir haben hier schlechterdings eine Wirklichkeit vor uns, zweifelsohne eine von der gewöhnlichen, effektiven Wirklichkeit verschiedene, aber trotzdem eine Wirklichkeit; auch wenn sie nur repräsentativ ist, 43 | So bezieht etwa Hediger auch Michottes Begriff des Realitätscharakters auf die Idee eines gerahmt-grenzüberschreitenden Spiel: „Insofern der Film uns aber das Reale in einem Modus gibt, der uns von einem ‚realen‘ Verhalten zu den Dingen entbindet, schafft er einen Spielraum, einen Raum für ein Spiel, das zwischen den Polen des Künstlichen und des Realen, zwischen Distanz und Distanzverlust ausgetragen wird. Es ist ein Spiel mit der Möglichkeit eines Exzesses, der Möglichkeit einer Überschreitung der psychologischen Distanz hin zu einer […] Äquivalenz, in der jede Enthüllungs- und Errettungsfunktion der Reproduktion verschwindet und der Mehrwert an Sein und Seinsmöglichkeiten, den die ‚Wirklichkeitsübertragung‘ schafft, wieder vernichtet wird – denn wenn ich den Film bloß als Äquivalent der Realität sehe, habe ich den Profit der Wirklichkeitsübertragung wieder verspielt.“ (Hediger 2006b, S. 230) Auch hier findet sich also in diesem Zusammenhang die Figur einer Überschreitung, die durch die Nichtüberschreitung einer Grenze gewonnen wird. 44 | Bezüglich dieses Paradoxons heißt es z.B., es sei „der Realismus des ‚surrealen Auges‘ [der Kamera] von unserer normalen Sichtweise recht verschieden“ (Cohen-Séat 1962, S. 72).

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ist sie unmittelbar wirklich.“ (Cohen-Séat 1962, S. 94f.) Gerade als unmittelbar wirkliche Wirklichkeit wird demnach die Vorführsituation als vom alltäglichen Leben (und damit der Monotonie, Langeweile, Routine) Unterschiedenes erlebt. Auf diese Weise verspräche der Film in seiner Eigenschaft, „Ausdruck eines sichtbaren Gedankens“ zu sein, „den logos als eine vereinheitlichte Erfahrung zu stabilisieren“ (ebd., S. 117). Dieser universelle Charakter filmischen Erlebens wird dabei wiederholt als Wiederbelebung verschütteter Aspekte kindlicher Erfahrung gefasst (auch in dieser Hinsicht geht es nicht nur um das Neue, sondern auch um Vergangenes; s.o.) – auf diesen Aspekt werde ich im Folgenden näher eingehen. Gerade mit dem spielerischen Zug des Filmerlebens verbindet Cohen-Séat eine Wiedererweckung kindlicher Erfahrungswelt, die ihm nach maßgeblich für die evasive Funktion des Kinos ist. Er bezeichnet als Evasion den Wunsch nach Realitätsflucht und zugleich den „Weg, diesen zu beherrschen“ (ebd., S. 110). Dieser Weg, so betont der Begründer der Filmologie, ist nicht vorab festgelegt: „Absolut unbekümmert in der Wahl ihrer Mittel und angesichts ihrer unmittelbaren und stummen Wirksamkeit, ist es unmöglich, zu sagen, wo eine Evasion, die ‚dieses Namens würdig‘ wäre, beginnt, oder sie gar zu erkennen.“ (Ebd.) Die Unbestimmtheit ist Teil der filmologischen Bestimmung der Evasion: Diese steht für eine nicht reglementierte Form der Erfahrung, die Cohen-Séat in Abgrenzung zur Abgedichtetheit sowohl von alltäglicher als auch traditionell-ästhetischer Erfahrung bestimmt.45

8.  Evasion und kindliche Erfahrung Die Assoziation der vom Kino gebotenen Evasion mit Aspekten kindlicher Erfahrungswelten hängt eng mit Cohen-Séats Abgrenzung des filmischen Erlebens von Kunst-Rezeption im traditionellen Sinne zusammen: Letztere sei durch einen latenten Intellektualismus gezügelt, während im Kino die Neugierde ungebremst auf ihren Begriff komme, Begierde auf Neues zu sein. Im Kino werde so „der Gipfel des Komforts im Bereich des Spiels, der Ablenkung, der zweckfreien Tätigkeit und der Erholung erreicht. Nichts aber ist neben Erholung oder zweckfreier Tätigkeit der Zielsetzung des einzelnen, ein menschliches Wesen zu werden, zuträglicher als Erholung, Spiel und Ablenkung.“ (Cohen-Séat 1962, S. 19) Für Cohen-Séat speist sich die evasive Funktion des Kinos aus einem ‚ursprünglichen‘ Vermögen des Schauspiels – und zwar könne das Kino, wenn „das Leben seine Frische verliert, sich wiederholt und sich mit geschlossenen Augen selbst nachahmt“, dem Publikum die Augen öffnen und das Leben „überraschend 45 | Auch für Musattis psychoanalytische Bestimmung des Realitätseindrucks ist, wie im nächsten Abschnitt Thema sein wird (vgl. I.3), der Begriff der Evasion zentral – ebenso wie Cohen-Séat hält auch Musatti fest, das Gelingen der Evasion als einer grenzüberschreitenden Erfahrung sei abhängig von der Geltung der Unterschiedenheit von filmischer und sonstiger Realität.

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und einfallsreich, ausgefallen und ungebunden“ präsentieren (ebd., S. 106). Eben diese Qualität sei dem Schauspiel im Verlauf der Geschichte abhandengekommen als es sich schied in die Bereiche des gemeinen Spiels und der hohen Kunst, d.h. des populären Zeitvertreibs einerseits und der ästhetischer Erbauung andererseits. Die evasive Kraft des Kinos überschreite diese etablierte Grenzlinie und verhelfe so sowohl dem Populären als auch der Kunst in veritabler Weise zu ihrem jeweiligen Recht. Denn mit der Spaltung von Kunst und Spielen seien auf beiden Seiten Verluste einhergegangen: Das Spiel tendiere dazu, in seiner Funktion der Zerstreuung und als das „mittelmäßige Spiel, dem sich die überwiegende Zahl der Leute hingibt“ zur Routine zu werden (ebd., S. 107). Da partikular geworden, hätten die Spiele „die Verschiedenheiten der Menschen angenommen und wie diese ihre Eigenarten vervielfacht“ (ebd.). Auch die Kunst lasse ihr universelles Potential unausgeschöpft: Diese habe sich im Zuge der Spezialisierung ihrer Formen, der Verfeinerung ihrer Techniken, der Herausbildung von Dogmen etc. „Einschränkungen des Realen und der Freiheit“ auferlegt und minimiere ihr „universelles Privileg“ (ebd.) in Ausrichtung auf ein kleines, wohldistinguiertes Publikum. Es habe sich also eine „gewaltige Aufspaltung des Publikums“ (ebd.) ergeben: zwischen den privilegierten RezipientInnen hoher Kunst und den diversen TeilnehmerInnen der Spiele zum Zwecke der individuellen Zerstreuung. Es errichte sich ein Gegensatz zwischen „dem Universum und dem Bereich der Personen, die wir sind“ – „das Sternbild der Langeweile“ werde fixiert (ebd., S. 108). Die Kunstwerke verlören den Kontakt zum Leben, die Spiele hingegen an Differenz zum Alltäglichen. Etwa im Theater minimierten die hier geltende soziale Etikette und die verlangte kultivierte Haltung den ‚Reinheitsgrad‘ der Neugier. Es sei doch vom Theaterpublikum „Reflexion, Kultur und ästhetisches Empfinden“ (ebd., S. 47) gefordert und dieses verlange seinerseits vom Theater „eine Handlung, die vom übrigen Leben abgesondert, geradezu entbunden ist“ (ebd., S. 46). Zwar werde ein Drama erwartet, aber ein lebensfernes und mithin undramatisches, „so kunstvoll dosiert und bereinigt, daß nichts, was nicht erwünscht und wahrlich ‚in Szene gesetzt‘ worden ist, zur Darstellung kommt“ (ebd.). So bleibe „eine preziöse und etwas erkünstelte Neugierde übrig, die eher zur Vorsicht als zur Ergiebigkeit neigt. […] Es handelt sich sozusagen um eine halbe Neugier, die einen höflichen und auf vorzügliche Beziehungen abgestimmten Ton zwischen der Kunst und der Intelligenz anschlägt, da sie sich selbst in der Gewalt zu halten wünscht. Sie erlaubt es uns eher, vom Leben abgelenkt zu werden, als auf naive Weise mit ihm zu sympathisieren.“ (Ebd., S. 53) Im Unterschied zum Theater sei das Kino einer der ungeeignetsten Orte, Naivität zu reglementieren: „Die kinematographische Emotion hingegen, wie sie Herrn Jedermann zukommt, scheint nichts von alledem zu erfordern.“ (Ebd., S. 47) Hier werde zum Leben hin- statt von diesem abgelenkt in einer Art ungebremster Übernahme des Bewusstseins durch die bewegten Bilder. „Da er von jeder Form der Einheit, außerhalb seiner eigenen, nämlich der Einheit der Inszenierung oder des Schnittes, der Einheit des Ortes, der Zeit, der

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Zielsetzung und allen Arten der Homogenität oder willkürlichen Zugehörigkeit frei ist, ist der Film auf eigene Faust so explizit, wie man nur wünschen mag, und oft noch mehr.“ (Ebd., S. 57) Dieserart Explizitheit vermöge den Wunsch nach Evasion auf bisher ungekannte Weise zu erfüllen und zwar indem der Evasion im Kino Züge einer Wiederbelebung kindlicher Erfahrungswelt verliehen würden. Cohen-Séat entwirft Kindheit als romantischen Hort ‚ursprünglicher‘ Potentiale des Schauspiels: Diese sei „zu Beginn ein reines Künstlertum von bewundernswerter Aktivität, harmonisch und von entzückender Würde. Sie ist in wunderbarer Weise Zuschauer der Wirklichkeit, das heißt des Schauspiels in Perfektion.“ (Ebd., S. 105) In der Teilnahme an der filmischen Welt könne der oder die ZuschauerIn zum Kind werden, welches „sich in einer noch intakten Wirklichkeit munter tummelt“ (ebd.). Das Kind steht in Cohen-Séats „Essai“ für „ungebrochene Naivität, eine Kraft der Kontemplation, mit einem Wort eine Freiheit, die sich in seinen Gedanken manifestiert“ (ebd.). Wie das Kind im Spiel die Welt entdecke, erfahre der Erwachsene im filmischen Schauspiel auf eine neue und überraschende Weise Aspekte der Welt und damit etwas von dem unter der alltäglichen Routine verschütteten Leben. Im Kino ersetze auf diese Weise die Evasion „die Probleme des Glaubens oder die ihnen vorgeschriebenen Lösungen durch Aufrichtigkeit und eine primitive Form der Toleranz. Es handelt sich also wahrhaftig um die Rückkehr zur Kindheit, die nichts anderes bedeutet als das Recht des Besens, der Arbeit zu entfliehen und wieder zum Reitstecken zu werden.“ (Ebd., S. 110) Die Beziehung der filmischen zur kindlichen Welt ist auch Thema des Entwicklungspsychologen Wallon, der in diesen ersten Jahren die filmologische Forschung im psychologischen Bereichs am „Institut de filmologie“ leitete. Ich werde im Folgenden skizzieren, inwiefern sich in Wallons Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Publikum und Film bestimmte Aspekte seiner entwicklungspsychologischen Annahmen über das Spiel spiegeln. Wallon selbst bezieht das Filmerleben nicht zentral auf das Spiel, aber die Einbeziehung seiner entwicklungspsychologischen Erwägungen erhellen noch einmal den – für die Filmologie dieser Jahre insgesamt typischen – Gedanken Cohen-Séats, dass die im Kino statthabende Wiederbelebung kindlicher Erfahrungswelt wesentlich für das progressive Potential des Kinos sei. Mit Wallons Auffassung des Spiels kommt darüber hinaus ein weiterer Aspekt hinzu, der sich im Folgenden auch für Musattis Auffassung des filmischen Realitätseindrucks als bedeutsam erweisen wird (vgl. I.3): die Differenz zwischen der Kinoerfahrung von Erwachsenen und Kindern. Die filmologischen Ansätze verbindet dabei, dass Kindern (und auch Angehörigen sogenannter primitiver Kulturen) im Unterschied zu Erwachsenen ein Mangel an Glauben an die Nicht-Realität des Films zugeschrieben wird. Der demnach für die Entstehung des filmischen Realitätscharakters wichtige Glauben an die Nicht-Realität (die Neugier etwa richtet sich darauf, Unglaubliches wirklichkeitsgetreu vor sich zu sehen) wird dabei in Abgrenzung zum kindlichen Glauben, das filmische Spiel sei real, bestimmt. Im filmologischen

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Kontext ist damit das Subjekt des Filmerlebens als Erwachsener (in expliziter Abgrenzung zum Kind) markiert – diese begriffliche Grenzziehung wird für meine Frage nach dem Lustgewinn filmologischer Theoriebildung von entscheidender Bedeutung sein (vgl. I.4).

9.  Wallon: Kino, Spiel, Fortschritt Mit seinen Texten „Über einige psycho-physiologische Probleme, die das Kino aufwirft“ (Wallon 2003a) – 1947 in der ersten Ausgabe der Revue erschienen – und „Das Kind und der Film“ (ders. 2003b) – 1951 ebenfalls in der Revue veröffentlicht – liefert Wallon erste Forschungsskizzen für die anstehende Arbeit im Bereich der psycho-physiologischen Filmologie. In diesen zwei Texten aus den Anfangsjahren des filmologischen Instituts formuliert Wallon ungelöste Probleme und offene Fragen, die sich seines Erachtens aus der Spezifik der psycho-physiologischen Wirkung des Films ergeben. Ausgangspunkt beider Texte ist die Beschreibung des Kinos als universelle Institution, wobei ihn – wie auch die anderen Filmologen – die irritierende Mischung aus gewohnten und ungewohnten, realen und irrealen Aspekten der filmischen Realität interessiert. Die Wirkung des Kinos, so Wallon, erstrecke sich weit auf alle möglichen Gebiete des menschlichen Lebens: „Der Film kann als eine neue Art von Situation betrachtet werden, die sich unter ganz und gar eigentümlichen Umständen einstellt. Tatsächlich konstituiert die Situation des Kinos schon jetzt eine Realität, eine umfassende menschliche Realität mit sehr verschiedenen Aspekten, und zugleich ist sie auch eine künstliche Schöpfung, die man als eigentliches Experimentierfeld betrachten könnte.“ (Ebd., S. 99) Wie auch Cohen-Séat in seinem „Essai“ hebt Wallon hervor, die filmische Darstellungsform schaffe durch die Allgemeinverständlichkeit der Bilder (im Unterschied z.B. zur Literatur) und die von Ort und Zeit unabhängige Ausstellungssituation (im Unterschied z.B. zum Theater) eine globale Verbindung der Menschheit. In einzigartiger Weise, so auch Wallons Auffassung, verbände sich im Kino die Universalität kinematographischer Tatsachen mit der Partikularität der konkretistischen Wirklichkeitsschau, wie sie die filmischen Tatsachen offerierten.46 „Psychologisch gesehen, handelt es sich dabei um eine gänzlich neue Situation.“ (Ders. 2003a, S. 95) Die Spannung zwischen universaler Form und partikularem Inhalt stellt Wallon zufolge Altes auf die Probe und verlangt auf Seiten des Publikums eine Entwicklung von neuen Fähigkeiten, also einen Fortschritt.

46 | „Er [der Zuschauer] weiß, dass die Szene auf der ganzen Welt in genau der gleichen Weise gesehen werden kann, wie er sie sieht […]. Der Illusion, die der Zuschauer im Kino sucht, liegt die bereits erwähnte Mechanisierung des Lebens zu Grunde, die Universalität seiner gegenwärtigen Eindrücke und der gleichsam exotische, aber auch einsiedlerische Partikularismus ihres Inhalts“ (Wallon 2003a, S. 95).

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Für Wallon besteht zunächst ganz grundsätzlich Fortschritt in einer Zunahme an Rationalität, wie Hediger unterstreicht: „Wallon glaubt an die Möglichkeit des Fortschritts, und er stützt sich dabei auf die Annahme einer inhärenten Rationalität des Films. […] Wallon geht sogar so weit, den Film nicht nur zum Agenten einer neuen Ordnung, sondern auch zum Agenten des Rationalismus per se zu erklären.“ (Hediger 2003, S. 66) Jedoch (und das verbinden Wallons Auffassungen vom Kino und vom Spiel; s. u.) versteht dieser – ähnlich wie auch Cohen-Séat – das Potential des Kinos als die Einbeziehung von vom bisherigen Fortschritt verschütteter Formen des Weltzugangs. Onto- wie Phylogenese bestimmt Wallon als eine fortschreitende Entwicklung abstrakter Repräsentationsformen, die sich aus ‚primitiven‘, emotionalen Quellen schöpfen.47 „The rituals of primitive peoples usually draw on tremendous emotional resources, which are dissipated as the intellectual image emerges in their stead.“ (Wallon 1984a, S. 245) Im Kino würden diese emotionalen Quellen48 in ergiebiger Weise angezapft. So vergleicht Wallon die Zeit- und Raumordnung des Films mit dem Vorhandensein merkwürdiger Gleichzeitigkeiten und Zufälle, wie sie Lucien Lévy-Bruhl als charakteristisch für die Weltwahrnehmung der sogenannten primitiven Mentalität auffasst (vgl. Wallon 2003a, S. 96). Die bewegten Bilder des Films erwecken Wallon zufolge alte Formen nicht-kausaler Bezüge des Denkens wieder zum Leben, die filmische Technik reaktiviere also animistische Wahrnehmungsmodi: Dinge scheinen ein Eigenleben zu haben, verschiedene Orte können im gleichen Raum präsent sein, unterschiedliche Zeiten in einem Zeitpunkt zusammenkommen, Zeit kann – dem chronologischen Zeitverlauf zuwider – gerafft und gedehnt werden, Raum komprimiert und ausgeweitet werden. „Die Zeit des Films ersetzt die chronologische Zeit durch eine affektive, und der Raum des Films öffnet den kartesischen geometrischen Raum hin auf einen dynamischen Raum, in dem lange Verdrängtes sich neu entfalten kann.“ (Hediger 2003, S. 66) Im Kino wird Wallon nach die „Auflösung von Kategorien, die im Zeitalter der Raum-Zeit zu eng für die neuen technischen Fähigkeiten des Menschen geworden sind“ (Wallon 2003a, S. 96), ermöglicht. Durch die Wieder-Entdeckung alter Wahrnehmungsformen komme es im Kino zu einer Überschreitung gewohnter räumlicher und zeitlicher Grenzen (vgl. ders. 2003b, S. 99) – Grenzen, die für ‚primitive Völker‘ und für Kinder noch keine Geltung hätten: „Für das Kind sind Objekte unbegrenzt wandelbar, weil es sich den Wandel an sich nicht vorstellen kann. Es nimmt immer nur eine Abfolge von Aspekten und Objekten war. Es sieht, wie diese sich, wie in einem Feuerwerk, von einem ins andere verwandeln. Es empfindet darüber ein gewisses Erstaunen, das von seiner Leichtgläubigkeit herrührt. 47 | Vgl. dazu auch Netchine-Grynberg 1991. 48 | „Underneath conceptual (representational) thought are still found the gestures and attitudes that seem to underline representational thought in children or the simple-minded, and which provide representational thought with its first rough contours in the form of rituals or rites“ (Wallon 1984a, S. 245).

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Entsprechend empfänglich ist es für die Zaubereien, die sich mit den Mitteln des Kinos so leicht realisieren lassen.“ (Ebd., S. 101f.) Die Leichtgläubigkeit des Kindes im Kino beruht Wallon zufolge also auf der Nähe zwischen bestimmten Charakteristiken filmischer Darstellung und animistischer Weltanschauung – in verschiedenster Hinsicht bestätige der Film die kindliche Weltinterpretation.49 Für das Filmerleben des Erwachsenen hingegen sei in diesem Zusammenhang der fehlende Glauben an Zauberei und Magie relevant. Im Kino erscheine – in unmittelbar bildlicher Präsenz – als möglich, was sonst als faktisch unmöglich ausgeschlossen werde. Es begegnet uns hier wieder die auf verschiedenste Aspekte bezogene filmologische Auffassung einer – bei aller Überzeugungskraft des filmischen Bildes zugleich wirksamen – Differenz von filmischer und sonstiger Realität, wenn Wallon unterstreicht: Das Unvorhersehbare, Überraschende von Sensationen in einer nicht-chronologischen Zeitund dynamischen Raumordnung ist gebunden an deren Differenz zur alltäglichen Wahrnehmung der Welt.50 Für das Kind hingegen sei eben diese Differenz nicht gegeben, zumindest aber unscharf. Hierin liegt für Wallon ein wesentlicher Grund, warum das Kind – nicht trotz, sondern vielmehr: gerade wegen der Verwandtschaft von kindlicher Wahrnehmung und filmischer Darstellung – gewisse Bedingungen für die von ihm als spezifisch filmisch beschriebene Erfahrung nicht erfüllt. Gerade weil sich die kindliche Wahrnehmung der äußeren Dingwelt „ohne Unterlass [vermischt] mit subjektiven Eindrücken, mit persönlichen Wünschen und Erinnerungen, die es mehr oder weniger stark von der Handlung“ (ebd., S. 104) des Films ablenken, könne eine Irritation eintreten.51 Diese Irritation unterscheidet sich von dem von Cohen-Séat beschriebenen fruchtbaren Wirbel, in den das erwachsene Publikum gestürzt wird. Das Kind, wie es Wallon charakterisiert, entbehrt eben jener Kontrollmöglichkeit, die Cohen-Séat als Be49 | Unter kindlichem Animismus versteht Wallon – unter Berufung auf Jean Piaget – Folgendes: „He [the child] grasps and interprets the existence of his milieu only through the screen of his desires and intentions. The sole reality accessible to him is inhabited by his own subjectivity. Even when this reality seems to be detaching itself from him, he continues to attribute intentions to it which are similar or complementary to his own. This is what is known as his ‚animistic‘ phase.“ (Wallon 1984b, S. 218) 50 | Margolis bezieht dies z.B. auf die Erwartung des Publikums an den weiteren Verlauf der Narration: „Even if involvement in the narrative may lead to expectations of what will follow, this remains an uncertain form of anticipation. […] The point remains that our perception of cinematic representations differs from everyday perception“ (Margolis 1988, S. 99). 51 | „Man kann sich leicht vorstellen, welch fundamentale Verwirrung sich für das Kind angesichts von Bildern einstellen kann, die den Raum, die Dinge und Personen mit Ansichten darstellen, die aufeinander folgen, sich abwechseln und mit Auslassungen arbeiten, die eine substantielle Realität auf einer Zeitachse in einzelne Abschnitte zerteilen, und die der Notwendigkeit unterliegen, die Elemente der gerade ablaufenden Handlung miteinander zu vermischen.“ (Wallon 2003b, S. 102)

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dingung für den fortschrittlichen Charakter des Filmerlebens ansieht (s.o.). Das kindliche Kinopublikum verliert Wallon zufolge also allzu leicht das Geländer seiner Wahrnehmung im Strudel der Ereignisse – der Geist scheint in diesem Fall überwältigt, statt von sinnlichen Schocks angereichert zu werden: „Diese Verzettelung in die einzelnen Momente seiner Wahrnehmung verbindet sich in jedem Moment mit einer Verdichtung, in der alle simultan gegenwärtigen Eindrücke ohne Möglichkeit der Unterscheidung ineinander fließen. Die Eindrücke des objektiven Wahrnehmungsvermögens lassen sich von denen des subjektiven nicht mehr unterscheiden, die gegenwärtige Realität nicht von den Erinnerungen, das Ding nicht vom Wort und die Teile nicht vom Ganzen.“ (Ebd., S. 102) Nicht allein aufgrund einer allzu großen Nähe von kindlicher und filmischer Welt sieht Wallon Konflikte entstehen, sondern auch aufgrund von Diskrepanzen in anderen Hinsichten – zwischen Kind und Film stellt Wallon also zu große Nähe und zugleich zu große Differenz fest, die jeweils das Filmerleben beeinträchtigen würden. So bewege sich z.B. das Kind für gewöhnlich im „Raum seiner freien Nachforschungen, ein[em] Raum, dessen Struktur es kennt und dessen Struktur es vermittels seiner eigenen Aktivität vermisst“ (ebd.), während im Publikumsraum ein fester Platz vorgesehen ist. Der Film biete auch hinsichtlich der rechteckigen Bildfläche „[s]trikte Grenzen“ – es ist „ein starrer und winziger Rahmen, in dem alle Gegenstände erscheinen und alle Bewegungen sich abzeichnen müssen“ (ebd., S. 106). All jene hieraus resultierenden Strukturierungsleistungen der Wahrnehmung seien für das Kind ungleich schwerer als für den Erwachsenen zu bewältigen. Des Weiteren komme hinzu, dass die vorhandenen drei Räume (Raum der Leinwand, Publikumsraum, diegetischer Raum) für das Kind schwer einzuordnen seien. Wallon hält diesbezüglich zwei mögliche Reaktionen fest: Das Kind habe einmal die Tendenz, die Räume untereinander zu vermischen oder zum anderen die, die Räume auseinanderfallen zu lassen. Beide Tendenzen wirken, wie Wallon unterstreicht, der Entstehung filmischer Illusion entgegen. Das Kind ist demzufolge ein weniger idealer Zuschauender als der Erwachsene: Zu sehr oder zu wenig werde das Kind von der filmischen Illusion ergriffen; in jedem Fall seien beim Kind – aufgrund der mangelnden Unterscheidung von filmischer und sonstiger Realität – die Bedingungen erschwert, vom Film aus der realen, alltäglichen Welt in einen imaginären Raum versetzt zu werden (vgl. ebd., S. 108). Entweder verschmelzen demnach für das Kind die Räume zu einem52 oder das Kind bleibt im realen Raum verhaftet und vom Geschehen in dem starren Bilderrahmen untangiert – mit Cohen-Séat gesprochen handelt es sich beim ersten Fall um eine Form unkontrollierter Überwältigung 52 | Einen derartigen Fall beschreibt Wallon anhand der „Nöte des Kindes, wenn es seine Träume zu erklären versucht. Es war im Bett, und doch hielt es sich gleichzeitig an imaginären Orten auf, während das Bild in seinem Kopf ablief: eine Unterscheidung, die es erst nachträglich und oft mit einiger Unsicherheit und auf widersprüchliche Weise trifft“ (Wallon 2003b, S. 108).

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und im zweiten Fall um ein Abreißen des Fadens der Neugier; die evasive Funktion des Kinos wäre in beiden Fällen blockiert. Eben diese Grundzüge der Beziehung von Publikum und Film korrespondieren in verschiedenster Hinsicht mit Wallons entwicklungspsychologischer Auffassung des Spiels, auch bezüglich der jeweilig thematisierten grenzüberschreitenden Aspekte. Umreißt Wallon als Bedingung der Entstehung der filmischen Illusion eine Versetzung des Zuschauenden in den imaginären Raum der filmischen Welt, so nimmt er etwa in Bezug auf das Spiel gleichlautend an: Für das Vergnügen am Spiel ist die Versetzung von Tätigkeiten aus dem alltäglich-gewohnten Bereich in den Rahmen des Spiels ausschlaggebend. Mit diesem Vorgang sieht er eine Überschreitung etablierter Anwendungsgrenzen von Funktionen verbunden: „Ein Spiel ist es nur, wenn eine Befriedigung darin liegt, für den Augenblick den Gebrauch einer Funktion den Beschränkungen oder Begrenzungen zu entziehen, welche sie für gewöhnlich von gewissermaßen mehr verantwortlichen Tätigkeiten erfährt, die einen höheren Rang im Verhalten der Anpassung an die physische oder soziale Umwelt einnehmen. Die vorübergehende Desintegration setzt die gewohnte Integration voraus.“ (Ders. 1950, S. 48) Im Unterschied zu spielerischen unterlägen realistische, praktische Tätigkeiten dem Eingreifen der „Funktion des Wirklichen“ (diesen Begriff bezieht Wallon von Pierre Janet), d.h. der Notwendigkeit, sein „Verhalten den Umständen anzupassen, so daß man Ergebnisse erhält, die einer äußeren oder beabsichtigten Notwendigkeit entsprechen“ (ebd., S. 45). Setzt die Desintegration von Funktionen im Spiel deren sonstige Integration (das Eingreifen der Funktion des Wirklichen) voraus, so steht für Wallon das Spiel keineswegs in einfachem Gegensatz zu ernsthaften, zweckgerichteten Tätigkeiten. Vielmehr unterstellt er auch der Entbindung des Spielerischen aus dem Bereich funktionaler Handlungen eine Ausrichtung auf das Reich der Zwecke im Sinne eines Entwicklungsziels – diese Auffassung gewinnt Wallon zentral aus einem Vergleich vom Spiel Erwachsener mit dem der Kinder. Ergebe sich die Freude am Spiel aus dem Entzug sonst gewohnter Beschränkungen, so erscheine es auf den ersten Blick, als zeichne sich das Spiel primär dadurch aus, Erholung von den Anstrengungen des Arbeitsalltags zu bieten und in diesem Sinne als Frei-Zeit, als Aus-Zeit bestimmbar zu sein. Jedoch, so Wallons Einwand, diese Annahme gelte nicht in Bezug auf das Spiel der Kinder: Deren Leben teile sich noch nicht auf zwischen Reproduktion und Produktion, Freizeit und Arbeit und insofern könne der Erholungsfaktor kein allgemeingültiges Kriterium sein. Für das Kind ist, so Wallon, das Spiel keine Aus-Zeit, sondern vielmehr seine eigentliche, seine allgemeine Tätigkeit (vgl. ebd., S. 44). Doch auch in Bezug auf das Spiel der Erwachsenen selbst erweise sich die Funktion der Erholung als ungenügende Bestimmung: Denn keineswegs alle spielerischen Tätigkeiten dienten im Sinne einer abgesunkenen Tätigkeit der Erholung, viele Spiele überstiegen – ob in geistiger oder in körperlicher Hinsicht – gar die Anstrengung, die viele Arbeitstätigkeiten abverlangen. Am Grad der Anstrengung also ließe sich nicht

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das Spielerische einer Tätigkeit festmachen, auch erhebt Wallon nicht den Inhalt der Tätigkeit zum Gradmesser – vielmehr ist es die Absehung von der Verfolgung äußerer Zwecksetzungen und der sich darauf ergebende besondere Modus der jeweiligen Tätigkeit,53 die Wallon als erstes Kriterium festhält: „Die Aufgaben, die sich das Spiel steckt, dürfen keinen Grund außerhalb ihrer selbst haben. Man hat auf das Spiel die Definition anwenden können, die Kant für die Kunst gegeben hat: ‚Eine Zweckursache ohne Zweck‘, eine Verwirklichung, die nichts weiter als sich selbst verwirklichen will.“ (Ebd., S. 45) Alle spielerischen Handlungen sind demnach allein auf das Spiel bezogen, alle Zwecksetzungen sind Zwecke, die vom Spiel selbst gesetzt sind. Der Zweck ist also im Rahmen des Spiels situiert und eben darin sieht Wallon die wesentliche Quelle des spielerischen Vergnügens. Im Rahmen des Spiels kann demnach die damalig unbegrenzte spielerische Aktivität des Kindes in seiner jetzigen Differenz zur sonstigen Verpflichtung des Erwachsenen auf den Ernst des Lebens in Form spielerischen Vergnügens verkostet werden.54 „Das Wohlgefühl, das es [das Spiel] im ersten Augenblick verursacht, ist das einer Periode, in der nichts zählt als die Anregungen, seien es solche innerer oder äußerer Art, die sich auf die Betätigung sonst eingezwängter Fähigkeiten beziehen, Fähigkeiten, die im Daseinskampf behindert werden und hierbei ihr Aussehen und ihren ursprünglichen Reiz verlieren.“ (Ebd., S. 47) Das erwachsene Vergnügen am Spiel ist somit an dessen Verlust im sonstigen Leben gebunden. Auf Grundlage dieser Annahme sieht Wallon im erwachsenen Spiel ein Moment der Wiederkehr kindlicher Erfahrung und zugleich begründet diesem zufolge deren Verlust eine wesentliche Differenz von kindlichem und erwachsenem Spiel. Die Folie für Wallons Bestimmung des Verhältnisses von kindlichem und erwachsenem Spiel ist dabei die Annahme einer phylogenetisch fortschreitenden Zunahme an Zweckrationalität. Er charakterisiert das Spiel der Kinder als eine Probe auf die fortschreitende Funktionalität ihrer Handlungen und das der Erwachsenen als einen momenthaften Rückschritt. „Der funktionelle Fortschritt, der die Abfolge der Spiele während des Wachstums des Kindes kennzeichnet, wird beim Erwachsenen zum Rückschritt, aber einem erlaubten und sozusagen ausnahmsweisen Rückschritt.“ (Ebd.) Die kindliche Freude am Spiel speise sich aus dem Jubel über eine Vorwegnahme, die des Erwachsenen aus der moment53 | Das verbindet Wallons Auffassung des Spiels mit der von Johan Huizinga, über die Pfaller schreibt: „Der psychische Zustand der Spielsphäre hingegen kann Leute auch bei einer Betätigung erfassen, die nach allgemeiner Auffassung kein Spiel ist. Eine Praktik wie Tennis zum Beispiel kann eines Tages die Spielsphäre verlassen; manche Personen dagegen können auch bei profanen Praktiken wie Einkaufen, Autofahren oder Kapitalveranlagen in die Spielsphäre eintreten.“ (Pfaller 2002, S. 117; vgl. Einführung) 54 | „Das Spiel bedeutet zweifellos einen Einbruch in die Ordnungen oder die Aufgaben, die jedem Mensch die praktischen Notwendigkeiten seiner Existenz, die Sorge um seine Stellung und seine Persönlichkeit auferlegen. Weit entfernt davon, diese zu leugnen oder auf sie zu verzichten, setzt es sie voraus.“ (Wallon 1950, S. 48)

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weisen Suspension der sonstigen Einbindung von Aktivitäten in zweckrationale Handlungsbezüge. Eben dieser momenthafte Rückschritt steht Wallon zufolge (in der Regel) gleichwohl im Dienste des allgemeinen Fortschritts. Vergleichbar Cohen-Séats Bewertung der als regressiv beschriebenen Aspekte des Filmerlebens, sieht auch Wallon eine erweiternde, bereichernde Wirkung der spielerischen Regression: Das Laissez-faire der spielerischen Situation fördere Spaß, Ehrgeiz und Kreativität, die letztlich auch der Ausführung, Verfeinerung und Höherentwicklung zweckgerichteter Tätigkeiten zugutekommen könnten. Während sich der Erwachsene im desintegrierenden Rückschritt von den Schranken der vorhergehenden Einbindung der Funktionen in zweckgerichtete Tätigkeiten befreie und ihren Anwendungsbereich potentiell erweitere, entwickele das Kind in der lustvollen Erprobung seiner selbst Voraussetzungen der zukünftigen Integration, der Anbindung seiner Tätigkeiten an äußere Zwecke.55 Gemeinsam aber ist demnach dem Spiel der Erwachsenen und dem der Kinder, die Betätigung von Funktionen auf die Probe zu stellen und neue Anwendungsmöglichkeiten zu erschließen. Beim Kind „trachtet diese Tätigkeit danach, über sich selbst hinauszugehen“ gleich „einem jubilierenden oder leidenschaftlichen Ausbruch, der die Funktionen in allen ihren Möglichkeiten erproben möchte“ (ebd., S. 48.). Die Lust am Spiel der Erwachsenen schöpfe sich hingegen daraus, die gewohnte Gebundenheit an äußere Zwecke zu suspendieren und in den Rahmen des Spiels zu versetzen. Das Vergnügen des Spiels rühre aus dem Schwung dieser Versetzung, d.h. aus der Differenz zwischen spielerischem Selbstzweck und alltäglicher äußerer Zweckgerichtetheit. „Das Spiel selbst resultiert aus dem Gegensatz zwischen einer freigewordenen Aktivität und den Handlungen, in die sich diese normalerweise eingliedert. Es entwickelt sich also unter Gegensätzen, es verwirklicht sich, indem es sie überwindet.“ (Ebd., S. 52) Die Grundzüge der Wallonschen Spieltheorie weisen einige Ähnlichkeit mit denen filmologischer Ansätze auf: Es gilt die Differenz von filmischer und alltäglicher Realität als eine Bedingung der evasiven Funktion und damit letztlich des fortschrittlichen, bisherige Grenzen überwindenden Potentials des Kinos; Wallon sieht in vergleichbarer Weise die Abgesetztheit des Spielerischen von dem Reich der Zweckgebundenheit alltäglicher Verrichtungen als konstitutiv für das spielerische Vergnügen an und diese (für die Erwachsenen geltende) Differenz als Bedingung der funktionalen Rolle des Spiels im menschheitsgeschichtlichen Fortschritt (verstanden als Zunahme an Zweckrationalität). Für die verschiedenen filmologischen Theoretisierungen des Vergnügens im Kino bzw. des Spiels 55 | „And before he can successfully distinguish his own person from impressions that he must set aside as not being part of himself, he has to go through a whole series of exercises and games, which become increasingly well-defined while at the same time occasioning in him expressions of anxious expectation and outbursts of surprise or joy.“ (Wallon 1984c, S. 96)

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ist also das Gewicht auf der Differenz zwischen filmischer bzw. spielerischer und sonstiger Realität charakteristisch und damit zusammenhängend erhält die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern bezüglich ihres Erlebens und ihrer Fähigkeiten eine besondere Relevanz. Oder anders: Die Grenzziehung zwischen Erwachsenen und Kindern ist auf engste verknüpft mit der Grundannahme dieses theoretischen Diskurses, die emotionale Teilnahme und der für das Kino typische Realitätseindruck setze – bei aller grenzüberschreitender Qualität – die Geltung der Differenz von spielerisch-filmischer und sonstiger Realität voraus. Diese theoretische Figur wird im Zentrum meiner Auseinandersetzung mit Texten des Psychoanalytikers Musatti stehen, welche sich an die nun zunächst folgende kurze Rekapitulation des Vorangegangenen anschließen wird.

10.  Überblick und Überleitung Die Ausgangsfrage von Cohen-Séats „Essai“ Wie kann das Potential des Kinos, eine gesellschaftliche Institution des Fortschritts zu sein, zukünftig realisiert werden? ist bezogen, wie einleitend skizziert wurde, auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs (1.). Dass die Gründung des „Institut de filmologie“ im Kontext der Reorganisation Frankreichs unmittelbar nach der Zeit der deutschen Besatzung stattfand, korrespondiert mit Cohen-Séats Verortung der Filmologie in einer historischen Krisensituation. Dies verdichtet sich im Bild der Schwelle: Der Film öffne für die Menschheit eine neue Tür (2.). Wird die Chance ergriffen, das Kino zukünftig im Dienste des Fortschritts und Humanismus zu nutzen? Das Überschreiten der Türschwelle wird von Cohen-Séat als historische Entscheidungssituation beschrieben: Wird das Kino zukünftig ein bloßes Vergnügen für die Massen sein, oder ein propagandistisches Instrument oder mehr als das, nämlich eine universelle Institution (3.)? Die neue Wissenschaft der Filmologie versteht Cohen-Séat als Beitrag, das Potential dieses Mehr auszuschöpfen und in die gewünschte Richtung zu lenken. Anvisiert ist eine bisherige Schranken der Erkenntnis überwindende, disziplinen-übergreifende Perspektive auf das Kino. Formuliert wird das Ziel, eine kontrollierte Entwicklung der kinematographischen Technik und des Films zu ermöglichen. Es geht nicht zuletzt darum, die Menschen als Herren über die (kulturelle) Technik und als Subjekte ihrer Geschichte einzusetzen. Im Zuge der ersten Abschnitte wurde deutlich, inwiefern Cohen-Séats Wissenschaftsverständnis in enger Beziehung mit zentralen Bestimmungen seines Erkenntnisgegenstands steht: Das Kino habe das Potential, bis dato wirksame (kulturelle, ethnische, religiöse) Grenzen zu überscheiten und als eine kosmopolitische Kraft zu wirken, welche eine Einheit der Menschheit stiften könne. Dieses Potential sei von der Filmologie (deren wissenschaftliches Selbstverständnis ihrerseits grenzüberschreitende Aspekte aufweist) zu realisieren. In diesem Zusammenhang habe ich auf eine Konnotation des Begriffs des Spiels hingewiesen, die in der nun folgenden Auseinandersetzung mit Musattis Konzeption des filmischen Realitätseindrucks ins Zentrum rücken wird: Die

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Wirkung des Kinos könne sich einzig in der Muße, also in der Sphäre der Freizeit entfalten, so Cohen-Séat, aber hinsichtlich des fortschrittlichen Potentials sei das Kino mehr als nur ein bloßes Spiel. Die Vorführsituation wird dabei als Ausgangspunkt auch der filmologischen Erforschung des Kinos ausgemacht: Von dieser ausgehend teilt Cohen-Séat den Gegenstandsbereich in filmische und kinematographische Tatsachen (4.). Umfassen erstere ihm zufolge alle Sachverhalte in direktem Bezug zur Vorführsituation, so letztere alle darüberhinausgehenden Wirkungsverhältnisse. Das Zusammenwirken beider zu untersuchen bestimmt Cohen-Séat als letztgültiges Ziel der Filmologie: Erfasst wäre damit das Kino als universelle Institution. Exemplarisch habe ich anhand Souriaus Beschreibung des Kinos als Universum verdeutlicht, inwiefern der Begriff der universellen Institution als wissenschaftlich zu erschließende Einheit auch grundlegend für andere frühe filmologische Konzeptionen ist (5.). Souriau betrachtet das filmische Universum, wie er es nennt, als Teil eines Gesamtuniversums (der Gesamtheit filmischer und kinematographischer Tatsachen also) und differenziert dabei verschiedene Ebenen von Realität. Michottes Begriff des filmischen Realitätseindrucks (der den wahrgenommenen Wirklichkeitscharakter des filmischen Geschehens bezeichnet) konnte so als ein Gegenstandsbereich innerhalb des von der Filmologie umrissenen Gesamtkomplexes der universellen Institution verortet werden. Kenntlich wurde, dass die Beschäftigung mit dem Realitätseindruck in frühen filmologischen Konzeptionen stets mit dem (letztlich nicht realisierten) Anspruch verbunden war, diesen gewissermaßen als Teil auf ein Ganzes (die universelle Institution) zu beziehen. In diesem Sinne kann m.E. auch die Betonung Cohen-Séats, das Kino sei mehr als nur bloßes Spiel, verstanden werden: Das Kino (insbesondere das Kinovergnügen des Publikums) ist situiert in der Spielsphäre, es handelt sich demnach aber um ein Spiel, welches die Grenzen bloßer Spiele überschreitet. Daran hängt für den Begründer der Filmologie zentral die gesellschaftliche Funktion des Kinos, im Dienst von Humanismus und Fortschritt wirksam zu sein. Ich bin in diesem Zusammenhang auch kurz auf Metz’ Bestimmung des Realitätseindrucks eingegangen, die u.a. auf Souriaus Unterscheidung verschiedener Ebenen filmischer Realität auf baut. Ich habe an dieser Stelle eine die filmologischen Auffassungen insgesamt typische Auffassung hervorgehoben, die besagt: Die filmische/diegetische Realität erscheint – mehr noch als im Theater – dem Publikum als eine von der Ebene der tatsächlichen/afilmischen unterschiedene Realität und fängt aus diesem Grund das Publikum in höherem Maße als andere ästhetische Darstellungsformen ein. Auch hier ist wieder ein Moment der Überschreitung impliziert: Das Publikum tritt von der alltäglichen in den (abgegrenzten Bereich) der filmischen Realität über und ist in diese leidenschaftlich involviert (fast, als ob es sich um tatsächliche Geschehnisse handele). Dieses Zugleich von abgegrenzter und involvierender filmischer Realität steht auch im Zentrum von Michottes wahrnehmungspsychologischer Untersuchung (6.). Ausgehend von der Beobachtung, dass das Publikum zwar äußerst ergriffen

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im Kino reagiere, sich aber dennoch anders als in der alltäglichen Realität verhalte, unternimmt Michotte eine vergleichende Untersuchung von Wahrnehmungsbedingungen im Kino und im Alltag. Er kommt zu dem Ergebnis: Das Besondere des filmischen Realitätseindrucks bestehe in der einzigartigen Zusammenführung von realen und irrealen, künstlichen, überraschenden und gewohnten, bekannten Sensationen auf der Leinwand. Es ist demzufolge, als nähmen wir im Kino gegenwärtige, reale Szenen und Objekte wahr, jedoch in einer Realität, die nicht zu unserer Welt gehört. Gerade diese spezifische Mischung versetze das Publikum in emotionalen Aufruhr. Mit dieser Mischung beschäftigt sich auch Cohen-Séat im „Essai“. Die lebensnahe Filmerfahrung ködere die Neugier des Publikums und führe zugleich aus der Monotonie, Langeweile und Routine des Alltagslebens heraus (7.). Hierin sieht der Autor ein wesentliches Versprechen: Im Kino könne sich der Mensch neu erschaffen und verschüttete Qualitäten wieder erwecken. Es geht vor allem um eine grenzüberschreitende Verbindung sinnlicher und geistiger Erfahrung: der Film ermöglicht Cohen-Séat zufolge ein sinnliches Verstehen der Welt und eröffnet neue Dimensionen der Erfahrung. Ich und Welt, Gefühl und Verstand, Körper und Geist sieht dieser im Rausch der Kinoerfahrung auf einzigartige Weise verbunden. Unterstrichen habe ich in diesem Zusammenhang, dass Cohen-Séat diese Qualität filmischen Erlebens von einem (ebenso im Kino möglichen) richtungslosen Delirium abgrenzt. So zeigt sich an dieser Stelle deutlich auch eine von der Filmologie konstatierte Gefahr des grenzüberschreitenden Potentials des Kinos. Korrespondierend damit, wie diese das Kino als Institution begrifflich fassen soll, um die grenzüberschreitenden Wirkungen kontrolliert in gewünschte Richtung lenken zu können, so gilt im Sinne der Filmologie auch bezüglich der Ergriffenheit des Publikums: Grenzüberschreitende Aspekte erhalten ihre positive Konnotation in Abgrenzung zu negativ bewerteter Uferlosigkeit. Cohen-Séat unterstreicht: Bei aller wünschenswerter Gleichgewichtsstörung, die der Film zu bewirken mag, sei das Publikum doch in gewisser Weise ‚geerdet‘ und wisse seine Realität von der des Films zu unterscheiden. Die Wahrnehmung dieser Grenze ist für ihn eine wesentliche Bedingung der Realisierung des fortschrittlichen Potentials des Kinos, welches als Schaffen von Verbindungen zwischen Intellekt und Gefühl, Physischem und Seelischem, Taten und Träumen charakterisiert wird. Es ist u.a. der Begriff der Evasion, mit dem Cohen-Séat die Besonderheit der filmischen Erfahrung fasst (8.). Ich habe skizziert, wie Cohen-Séat den evasiven Erfahrungsmodus von der traditionell-ästhetischen Erfahrung hoher Kunst wie auch vom populären Vergnügen bloßer Spiele abgrenzt: In einzigartiger Weise belebe die vom Kino gebotene Evasion bei gleichzeitiger Absetzung eine Verbindung zum Leben, während einerseits Kunstwerke den Kontakt zu diesem verloren hätten und andererseits populäre Unterhaltung die Differenz zum alltäglichen Leben vermissen lassen würden. Zu gekünstelt etwa seien die Theaterschauspiele, demgegenüber erlaube das Kino, auf eine naive Weise mit dem Leben zu sym-

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pathisieren. In dieserart von der filmischen Evasion gestifteten Kontakts mit der Welt sieht Cohen-Séat auch ein Moment der Rückkehr zur Kindheit wirksam sein. Diese Figur spielt in verschiedenen anderen filmologischen Ansätzen eine zentrale Rolle: So verwendet Musatti das kindliche Spiel als Vergleichsform der Kinoerfahrung Erwachsener (vgl. I.3) und auch z.B. in der entwicklungspsychologischen Konzeption von Wallon spielt die Idee einer momenthaften Wiederkehr kindlichen Erlebens zentrale Rolle . Wallon greift den Begriff der universellen Institution auf und beschreibt eine für die filmische Erfahrung charakteristische Wiederbelebung früherer Wahrnehmungsmodi, in der gewohnte Grenzen der Raum- und Zeitwahrnehmung überschritten würden. Vergleichbar Cohen-Séats Konzeption ermöglicht Wallons Auffassung zufolge das Kino in dieser Hinsicht eine Rückkehr zur Kindheit – er unterstreicht aber auch: keinesfalls sind die Modi filmischer und kindlicher Erfahrung identisch. Dieser Aspekt wurde dann im Zuge eines Abstechers in Wallons Spieltheorie vertiefend verhandelt. Erachtet Wallon die Versetzung aus dem alltäglichen Rahmen für das Spielvergnügen der Erwachsenen als konstitutiv, so geht er in Bezug auf das Kind davon aus, dass die Grenze vergnüglicher und ernsthafter Tätigkeit (z.B. zwischen Spiel und Arbeit) in der kindlichen Welt keine Geltung hat. In dieser Theorie ist also das Moment der Versetzung für Erwachsene reserviert. Dies verweist nicht zuletzt auf Wallons Beschäftigung mit Aspekten des filmischen Realitätseindrucks, welche ihm nach das Vergnügen von Kinder an Filmvorführungen beeinträchtigen können: Eine wesentliche Ursache der differenten Bedingungen des Kinovergnügens von Erwachsenen und Kindern sei die bei Kindern fehlende Etablierung kausaler Raum- und Zeitbezüge (d.h. ihr animistischer Weltzugang), wie sie die erwachsene Wahrnehmung von Welt strukturieren. Die gesamte Argumentation in diesem Zusammenhang baut auf der Annahme auf, dass die Abgrenzung von filmischer und sonstiger Welt (in die das Publikum versetzt wird) für das Filmerleben Erwachsener, nicht aber für das der Kinder grundlegend sei. Während für das Kind die Differenz zwischen Alltäglichem und Nicht-Alltäglichem noch keine Geltung habe, ergebe sich das Kino-Vergnügen für Erwachsene aus der Versetzung in eine andere, vom Alltäglichen abweichende und von dessen Zwecksetzungen entbundene Realität. Es ist diese theoretische Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern am Kriterium der Grenzziehung zwischen alltäglicher und filmischer Welt, welche im Folgenden im Zentrum meiner Lektüre von Texten des Psychoanalytikers Musatti stehen wird. Habe ich im Vorangegangen das Motiv der Grenzüberschreitung (und seine Verknüpfung mit Aspekten des Spiels) erhoben, wie es in verschiedenen filmologischen Ansätzen kursiert, so wird im Folgenden analysiert, wie sich dieses Motiv en detail in Musattis Ansatz ausbuchstabiert. Dabei wird insbesondere das Mehr in den Blick genommene, welches von filmologischen Ansätzen häufig in Abgrenzung gerade zum Theaterschauspiel konstatiert wird: Mehr noch als das Theater übermittele der Film den Eindruck eines realen Geschehen, mehr noch sei das

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Publikum hier in das dargestellte Geschehen involviert. Doch es überschreite die vom Kino gebotene Evasion zugleich auch Grenzen des Populären: Das Kino sei mehr als ein bloßes Spiel, evoziere mehr als ein bloßes Delirium. Dieses Mehr wird hier formuliert in Abgrenzung zu einem Zuviel: Das Erleben im Kino sei, so die Annahme, (in der Regel) nicht Zuviel. Man kann sagen: Die Hoffnung, dass das Kino als universelle Institution eine bisherige Schranken und Grenzen gesellschaftlichen Fortschritts überschreitende Wirkung zeigen könne, wird zugleich auch wieder gemäßigt. Ich werde herausarbeiten, wie in Musattis Texten die Eingrenzungen des Mehrs häufig durch das Einbringen von Beispielen für das Zuviel erfolgt (z.B. eben das filmische Erleben von Kindern, wie es insbesondere auch von Wallon thematisiert wird; s.o.). In diesem Zusammenhang vertritt Musatti die Filmologie-typische Annahme, das (erwachsene) Publikum unterscheide (außer in pathologischen Fällen) die filmische von der sonstigen Realität. Bei der Untersuchung, wie das Motiv der Grenzüberschreitung in Musattis Texten in der Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel formuliert ist, steht im Zentrum: Wie werden überschüssige Aspekte des Filmerlebens in Musattis Texten konkret ausgestaltet, formuliert oder inszeniert? Wie wird der Überschuss des Zuviel in Musattis Texten herausgestellt und vom Mehr grenzüberschreitender Aspekte filmischer Erfahrung gesondert? Vor allem aber geht es im Folgenden dabei auch um die Frage: Und welche Überschüsse weist die theoretische Darstellung von Grenzüberschreitungen selbst auf? Welche Ausschweifungen, Umbrüche und sonstige Auffälligkeiten zeigen sich in den Texten? Wie macht sich hier das von der Theorie aus dem filmischen Erleben ausgelagerte Zuviel des Spiels in der Theorie geltend? Es wird also nun das Augenmerk vor allem auch auf das Wie der Darstellung gelegt (vgl. Einführung). Ist es dabei nun zunächst das Ziel, in dieser Hinsicht die konkrete Ausgestaltung der Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel zu studieren, so wird unter Berücksichtigung der konkreten Textgestalt im Ergebnis das theoretische Symptom gewonnen. Dieses wird im darauffolgenden Kapitelabschnitt (I.4) einer Deutung unterzogen werden in Ausrichtung auf die Frage: Inwiefern sind dieserart theoretischen Überschüsse auch Sedimente unbewusster Dynamiken des Spiels selbst?

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I.3 Inszenierungen von Grenzüberschreitungen: Eine Lektüre von Cesare Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel Im Vorangegangenen habe ich ausgehend von Cohen-Séats Begriff des Kinos als universelle Institution das Motiv der Grenzüberschreitung in filmologischen Texten herausgearbeitet. Charakteristisch für verschiedene filmologische Ansätze ist die Annahme, dass die Unterschiedenheit und Unterscheidbarkeit von filmischer und alltäglicher Realität eine Bedingung des fortschrittlichen Potentials des Kinos darstellt. Im Sinne der Filmologen handelt es sich dabei um eine Rahmung, die das grenzüberschreitende Potential von Kino und Film begrenzt und dessen fortschrittliche (bisherige Schranken überwindende) Kraft zugleich ermöglicht. Vor diesem Hintergrund beschäftige ich mich im Folgenden eingehend mit zwei filmologischen psychoanalytischen Texten von Cesare Musatti1: mit „Kino und Psychoanalyse“ (Musatti 2004a)2 aus dem Jahr 1949 und mit dem 1952 verfassten Aufsatz „Die psychischen Prozesse, die vom Kino in Gang gesetzt werden“ (Musatti 2004b)3.4 Musattis Publikationen sind im Forschungsbereich der spezifischen bzw. psycho-physiologischen Filmologie angesiedelt (vgl. I.2). Zen1 | Cesare Musatti (1897-1989) wuchs in einem sozialistisch geprägten jüdischen Haushalt auf. Er studierte Mathematik und Philosophie und hatte ab 1938 einen Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Mailand inne – wobei er seine Lehrtätigkeit in den 1940er Jahren aufgrund antisemitischer Gesetzgebungen unterbrechen musste. Musatti praktizierte darüber hinaus als Psychoanalytiker und war Herausgeber der psychoanalytischen Zeitschrift Rivista di psicoanalisi. Er gilt als Mitbegründer der Gestalttheorie in Italien. 2 | „Kino und Psychoanalyse“ (Musatti 2004a) erschien erstmals 1949 in der Revue, eine erweiterte Version wurde 1950 abgedruckt (vgl. Hediger 2004). 3 | Im Folgenden kurz: „Psychische Prozesse“. 4 | Die von mir verwandten deutschen Übersetzungen der beiden Aufsätze erschienen 2004 in der Zeitschrift montage/av (im Fall von „Kino und Psychoanalyse“ die längere Version aus dem Jahr 1950). Beide Artikel wurden auch in einem Band mit Aufsätzen von Musatti (1960) abgedruckt, die sich allesamt mit der Frage der filmischen Wirkung auf das Publikum auseinandersetzen.

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tral ist für diesen die Frage, wie die von Michotte festgestellte Charakteristik des filmischen Realitätseindrucks als Wahrnehmung einer Realität zweiter Ebene in Beziehung zu unbewussten Prozessen im Kino steht. Ganz grundsätzlich ist Musattis Haltung – wie auch die der anderen Filmologen – dem Kino gegenüber positiv; eine von Hediger übermittelte Anekdote berichtet auch von dessen Neugier darauf, wissenschaftlich etwas über die Wirkungen des Kinos auf die Psyche in Erfahrung zu bringen: „Musatti berichtet von einer Kollegin, die sich noch in den 1950er-Jahren weigerte, ins Kino zu gehen, weil sie es für schädliche Zeitverschwendung hielt. Diese Kollegin, so Musatti, hätte einen wunderbaren Untersuchungsgegenstand abgegeben: Jemand, dessen Psyche den formenden Potenzialen des Kinos noch nicht ausgesetzt gewesen war und an dem sich deren Auswirkungen zumindest potenziell in vivo hätten untersuchen lassen.“ (Hediger 2006c, S. 149) Musatti war im Unterschied zu der besagten Kollegin ein erklärter Freund des Kinos und distanziert sich von Befürchtungen, das Publikum sei der manipulativen Kraft des Films wehrlos ausgeliefert. Er macht dabei – wie auch Cohen-Séat – im Gegenzug stark, das Kino eröffne einen einzig- und neuartigen evasiven Erfahrungsraum. Doch weist Hediger auf eine gleichzeitige Ambivalenz gegenüber diesem hin (vgl. ebd.), auf die die wissenschaftlich-distanzierte Haltung hindeutet. So betont Musatti z.B. in „Kino und Psychoanalyse“, sein berufliches Interesse am Filmerleben anderer führe ihn ins Kino, nicht thematisiert er in diesem Zusammenhang sein eigenes Vergnügen daran. So hält er fest, aus dem Umstand, dass in Träumen seiner Patienten und Patientinnen mit „bemerkenswerter Häufigkeit“ (Musatti 2004a, S. 134) Bruchstücke aus Filmen auftauchten, ergäbe sich für ihn die Verpflichtung, sich über „das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben auf dem Laufenden“ zu halten, „namentlich auch über das Angebot an Filmen“ (ebd.). Diese Adelung der eigenen Kinobesuche als fachlich begründete Notwendigkeit macht, so Hediger, den Anschein, „als möchte hier ein leidenschaftlicher Kinoliebhaber, von schlechtem Gewissen angetrieben, sein guilty pleasure mit fachlichen Argumenten rechtfertigen“ (Hediger 2004, S. 116). Diese Rechtfertigung kann als ein Hinweis gelten auf eine mit der spielerischen Lust (im Unterschied zum Ernst der Arbeit) verbundenen Ambivalenz (vgl. I.1; I.4), welche im Folgenden im Zentrum meiner Lektüre von Musattis Texten stehen wird. Die von mir untersuchten Texte Musattis haben einen das Kino verteidigenden Charakter – implizit und explizit wendet sich seine Argumentation gegen Annahmen einer prinzipiellen Schädlichkeit des Kinos und begründet im Gegenzug eine für den Regelfall geltende positive Wirkung des Kinos auf das Publikum. Vollziehen Musattis Texte demnach Abgrenzungen zwischen einer unschädlichen Beziehung zwischen Publikum und Film im Normalfall einerseits und besonderer Möglichkeiten negativer Wirkungen des Kinos andererseits, so erweisen sich dieserart Grenzziehungen – wie ich in meiner Lektüre zeigen werde – in verschiedener Weise als aufgeladen. Schließt Musatti aus dem seiner Auf-

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

fassung nach typischen filmischen Realitätseindruck ein mögliches Zuviel (d.h. ein die Differenz zwischen filmischer und sonstiger Realität überschreitendes Moment) aus, so vollzieht sich diese theoretische Unterscheidung nämlich wiederholt in selbst überschüssig-grenzüberschreitender Weise. Dieserart Textbewegungen werde ich im darauffolgenden Kapitelabschnitt als Textsymptome von mit dem spielerischen Moment in der Kulturindustrie verbundenen Ambivalenzkonflikten deuten (vgl. I.4). In diesem Kapitelabschnitt geht es aber zunächst um die Frage: Welche grenzüberschreitenden Figuren involvieren die begrifflichem Grenzziehungen? Weist Hediger darauf hin, dass Musattis Texte eine Rechtfertigung des schuldhaften Vergnügens am Kino implizieren, so werde ich hiervon ausgehend weitere Ambivalenzen in Musattis Texten herausarbeiten. Wobei es mir im Ergebnis nicht um Musattis persönliche Einstellung zum Kino geht. Vielmehr geht es um die Frage: Welche Hinweise auf allgemeine, in der Kulturindustrie wirksame Dynamiken geben die spezifischen Ambivalenzen, wie sie sich Musattis Texten zeigen? Inwiefern treibt die Kulturindustrie dieserart Ambivalenzen einer theoretischen Inszenierung an? Interessiert mich im Folgenden, welche und vor allem wie theoretische Grenzziehungen und -überschreitungen in Musattis Texten auftauchen, so unterscheidet sich der jetzige Fokus von dem meiner vorhergehenden Auseinandersetzung mit filmologischen Texten (vgl. I.2). Hier war es das Ziel, eine Auswahl filmologischer Texte auf das Vorkommen des Motivs der Grenzüberschreitung hin zu untersuchen und dieses in seinem theoretischen Kontext zu situieren. Damit habe ich in gewissem Sinne das Feld erhoben (vgl. Einführung), von dem nun ein Ausschnitt en detail untersucht wird um ein Textsymptom näher einzukreisen. Damit zielt die folgende Auseinandersetzung nicht vorrangig auf eine Ein- und Zuordnung von Musattis Position in den theoretischen Diskurs der Filmologie. Vielmehr isoliere ich einzelne Formulierungen und Argumentationsschritte, um aus deren Analyse die hier spezifische Figuration des Motivs der Grenzüberschreitung – also das Textsymptom – zu gewinnen. Dabei interessiert nun mehr als zuvor die formale Gestaltung der filmtheoretischen Annahmen: Wie wird das Motiv der Grenzüberschreitung von und in den Texten inszeniert? Das Textsymptom, welches meine Lektüre einkreist, lautet verdichtet: Mehr als nur, aber nicht Zuviel – d.h. das Motiv der Grenzüberschreitung findet sich in Musattis Texten in wiederholt eben dieser Form, wie ich anhand von Interpretationen verschiedener Textstellen ausweisen werde. Musattis Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks ist in Hinblick auf Ausnahmefälle formuliert, in denen die filmische Realität nicht als Realität zweiter Ebene erfahrbar ist. Phänomene von Überschüssigem, Entgrenztem und Grenzverlust dienen Musatti als Beispiele des gefährlichen Potentials (in ungewöhnlichen Fällen). Es handelt sich hierbei um Fälle von grenzenloser Überschreitung (Zuviel), die von dem ‚eigentlichen‘ filmischen Realitätseindruck als Modus einer gerahmten Überschreitung unterschieden werden. Musattis Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks verläuft

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somit auf der Negativfolie eines ungerahmt-grenzüberschreitenden Wahrnehmungsmodus. In ähnlicher Weise wie auch Wallon (vgl. I.2) begründet Musatti die seiner Auffassung nach für die Kinoerfahrung wesentliche Abgrenzung von filmischer und sonstiger Realität dabei mit einer Unterscheidung zwischen einem kindlichen und einem erwachsenen Publikum, welche auch belegen soll: Es handelt sich bei Kinobesuchen in der Regel um ein ungefährliches spielerisches Vergnügen. Im Fokus meiner Lektüre wird stehen, inwiefern aus solcherart Abgrenzungen gegenüber einem möglichen Zuviel an Überschreitung die Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks gewonnen werden. Das Textsymptom Mehr als nur, aber nicht Zuviel wird sich dann im darauffolgenden Kapitelabschnitt als Kristallisation von unbewussten Dynamiken des Spiels erweisen (vgl. I.4). In dieser Formulierung des Motivs der Grenzüberschreitung – wie ich in Anschluss an Pfaller (2002) herausarbeiten werde – gestaltet sich eine Ambivalenz des Verhältnisses der Theorie zu ihrem Gegenstand aus, wie sie für das Spiel selbst grundlegend ist. Ist nun zunächst das in Musattis Theorie sich abzeichnende Spannungsfeld zwischen Grenzüberschreitung und Grenzziehung Thema, so wird dann in Konstellation mit Sierras Arbeiten letztlich auch ein Schlaglicht darauf geworfen werden, inwiefern diese Ambivalenz auf das konflikthafte Verhältnis von Arbeit und Freizeit verweist (vgl. I.5), welches Adorno zufolge der Beziehung zur Kulturindustrie inhärent ist (vgl. I.1).

1.  Der einleitende Schlenker – Auf indirektem zum direkten Wege In einem Schlenker wird in „Kino und Psychoanalyse“ (Musatti 2004a) die Auseinandersetzung mit dem filmischen Realitätseindruck eingeleitet. Eine Art Gedankenspiel mit möglichen Erwartungen seiner Leser5 bahnt in den ersten beiden Abschnitten gewissermaßen dem filmischen Realitätseindruck den Weg. Wie eröffnet Musatti im Einzelnen mit diesem Gedankenspiel das Terrain des filmischen Realitätseindrucks? Im ersten Satz steckt Musatti in einer Klärung einer möglichen fälschlichen Erwartung sein Feld ab. Er erläutert, um was es in seinem Text nicht gehen wird: „Der Titel dieses Textes könnte vermuten lassen, dass ich die Absicht habe, mich mit den zahlreichen Filmen zu beschäftigen, die, wie man sagt, psychoanalytischen Inhalts sind und die uns die amerikanische Filmindustrie in den letzten Jahren beschert hat. Doch dem ist nicht so.“ (ebd., S. 126) Musattis Spekulation bringt einen Jemand – einen nicht weiter benannten, potentiellen Leser – ins Spiel, den der Titel „Kino und Psychoanalyse“ etwas vermuten lassen könnte. 5 | Musatti spricht hier von Lesern und nicht auch von Leserinnen, ebenso wie er in Bezug auf das Kinopublikum nur die männliche Form verwendet – dies übernehme ich im Folgenden dann, wenn sich meine Darstellung ganz direkt auf Musattis eigene Darstellung bezieht. Ansonsten verwende ich weiterhin das Binnen-I.

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

Eine Vermutung, die auf die falsche Fährte führen würde, der Autor verhandle im Folgenden das Aufgreifen der Psychoanalyse als Topos in Filmen: „Doch dem ist nicht so.“ (Ebd.; s.o.) Es werde nicht um die Psychoanalyse als Inhalt gehen, Gegenstand dieses Textes sei also nicht die im Film dargestellte Psychoanalyse. Bevor Musatti seine LeserInnen darin einweiht, was er stattdessen unter dem Titel „Kino und Psychoanalyse“ verhandeln wird, begründet er zunächst diese Absteckung. Er entwirft dabei drei unterschiedliche Perspektiven: erstens eine ästhetische Perspektive des Films auf die Psychoanalyse, zweitens eine Perspektive des Publikums auf psychoanalytische Filme und drittens seine eigene, eine von ihm sogenannte wissenschaftlich-psychoanalytische Perspektive auf das Thema Psychoanalyse und Kino. Im Zentrum dieser Differenzierung steht die Frage: Entspricht die tatsächliche Psychoanalyse ihrer filmischen Darstellung? Dabei spricht Musatti als Fachmann, der weiß, was die ‚tatsächliche‘ Psychoanalyse ist und welchem Verhältnis diese zu ‚dem Film‘ in Wahrheit steht. Musatti betont zunächst, von psychoanalytischer Seite aus bestehe kaum Interesse an psychoanalytischen Filmen: „[I]m Grunde sind die so genannten psychoanalytischen Filme für die Psychoanalyse nur von beschränktem Interesse.“ (Ebd.) Denn mit der tatsächlichen Psychoanalyse hätten die Darstellungen der Psychoanalyse in Spielfilmen wenig zu tun. „‚Psychoanalytische‘ Filme enthalten mit anderen Worten immer Veränderungen und Verdrehungen, manchmal auch eigentliche Verfälschungen wissenschaftlicher Ergebnisse und Methoden.“ (Ebd.) Nun – im Unterschied zum Anfang dieses Absatzes – sind psychoanalytische Filme in einfache Anführungszeichen gesetzt. Die Anführungszeichen unterstreichen, was Musatti den LeserInnen übermittelte: Psychoanalytische Filme sind mit Distanz zu nehmen und mit Vorsicht zu genießen, im Ernst könne man gar nicht von solchen sprechen, die Wahrheit über die Psychoanalyse nicht von diesen erwarten. Griffen Spielfilme die Psychoanalyse als Sujet auf, so sei – quasi aus Sicht der Filme – auch gar nicht eine der Psychoanalyse adäquate Darstellung das Ziel, sondern die filmische Umsetzung folge primär künstlerischen Kriterien, die sich „notwendig von denen einer objektiven wissenschaftlichen Dokumentation“ unterschieden (ebd.). Aufgrund ihrer Unwissenschaftlichkeit ködere das Aufgreifen von Elementen aus der psychoanalytischen Praxis demnach nicht sein fachmännisches Interesse, wohl aber die Neugier des Kinopublikums – die Filme nutzten, so Musattis Überzeugung, die Neugierde von Laien auf die Psychoanalyse aus (vgl. ebd.).6 Das an der Psychoanalyse interessierte Publikum würde demnach von den Filmen auf falsche Fährte gelockt: Dieses erwarte vom Film etwas über die tatsächliche Psychoanalyse zu erfahren, bekomme aber – ästhetischen Kriterien geschuldete –Veränderungen, wenn nicht gar Verfälschungen vorgeführt (s.o.). 6 | Durchaus vergleichbar mit Cohen-Séats Auffassung von den partikularen Perspektiven auf Kino und Film (vgl. I.2), fächert Musatti hier differente Interessen auf und nimmt selbst die Haltung eines dem Kino gegenüber scheinbar neutralen Analytikers ein.

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Nachdem Musatti ganz zu Beginn des Textes über einen vom Titel seines Textes in die Irre Geführten Leser Überlegungen anstellt, kommt hiermit also ein weiterer Jemand ins Spiel, der von falschem Anschein verlockt würde: ein Kinopublikum, welches mit falschen Erwartungen psychoanalytische Filme schaut. Der Autor nimmt gegenüber den potentiell Fehlgeleiteten (dem Kinopublikum und seiner Leserschaft) eine Autorität in der von diesem Abschnitt aufgeworfenen Frage ein: Welche Herangehensweise an die Verbindung von Kino und Psychoanalyse ist aus Sicht der Psychoanalyse tatsächlich interessant? Die Abgrenzung gegenüber den anderen laienhaften Perspektiven charakterisiert Musattis Position nicht zuletzt als eine des Wissens um den Unterschied zwischen fälschlich dar- oder vorgestellter Psychoanalyse einerseits und der tatsächlichen Psychoanalyse andererseits, also zwischen verzerrtem Bild und eigentlicher Realität. Diese Konstellation kehrt im weiteren Verlauf des Textes im Zusammenhang mit der Beschreibung der Zuschauererfahrung auf anderer Ebene wieder. Im nächsten Abschnitt bringt nun Musatti seine eigene wissenschaftlich-psychoanalytische Perspektive ein: „Die Beziehungen zwischen Kino und Psychoanalyse, um die es mir geht, sind von anderer Natur, und sie betreffen bestimmte Aspekte des filmischen Bildes oder auch die Art und Weise, wie es der Zuschauer erlebt, wenn es auf die Leinwand projiziert wird.“ (Ebd.) Er wendet sich damit von Fragen des Inhalts des filmisch Dargestellten ab und eröffnet einen anderen Zugang: Eine Psychoanalyse der filmischen Darstellungsweise. Wie wirkt die Spezifik der filmischen Darstellungsweise auf das Publikum? Mit dem Aufwerfen dieser Frage kündigt Musatti eine direkte Verbindung von Kino und Psychoanalyse an. Die erwähnten bestimmten Aspekte stünden in „direktem Bezug zu den Prozessen […], die sich in unserem Unbewussten abspielen und den eigentlichen Gegenstand der Psychoanalyse darstellen“ (ebd.). Er stellt damit die eingangs aufgeworfene Frage zur Seite, inwiefern die im Film dargestellte Psychoanalyse der tatsächlichen Psychoanalyse entspricht (bzw. ob dies überhaupt möglich ist) oder welchen Kriterien eine solche Darstellung folgen müsste. Es wird also die Blickrichtung gewechselt weg von Fragen eines konkreten Bildinhaltes hin zu Fragen allgemeiner Charakteristiken der Wirkung filmischer Bilder. Diese Einleitung verläuft gegenläufig zu einer der wesentlichen Aussagen dieser Passage, welche lautet: Musattis Zugang schlägt einen direkten Weg zu seinem Gegenstand (der Beziehung von Kino und Unbewusstem) ein. Keineswegs direkt verläuft der Text selbst, sondern er nimmt, wie gezeigt, einen Umweg über Erwägungen möglicher Fehlannahmen, bevor die eigentlichen Ausführungen beginnen: Auf einen als genuin psychoanalytisch charakterisierten Zugang zu der direkten Beziehung zwischen Film und Unbewusstem kommt der Text über den Umweg aufgeworfener irriger Erwartungen (an den Text, an psychoanalytische Filme) und Verfälschungen (seitens der filmischen Darstellungen). Mit dem Übergang zum zweiten Abschnitt wird der Fokus vom Inhalt der Filme auf die filmische Darstellungsweise und deren Wirkung verschoben. Diese Verschiebung

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

bedeutet auch eine Grenzziehung zwischen zwei Ebenen: die Ebene des Dargestellten (des Inhaltes) einerseits, auf die sich das Gedankenspiel mit den Erwartungen des Publikums und der Perspektive des Films bezieht, und die Ebene der Darstellungsweise und ihrer Wirkung andererseits, auf der Musattis Fragestellung angesiedelt ist. Auf dieser Ebene scheint Musatti selbst nicht dem von den psychoanalytischen Filmen ausgelegten Köder (also dem Versprechen, man könnte von psychoanalytischen Filmen tatsächlich etwas über die Psychoanalyse erfahren) zu folgen. Um aber eben dies den LeserInnen vor Augen zu führen unternimmt der Text einen ausgiebigen Schlenker, in dem er diesen zum Thema macht. Ausführlichst, so kann man sagen, wird der Köder zur Seite gelegt, um dann auf den ‚richtigen‘ und direkten Zugang zum Thema zu kommen. Auf dem Umweg über falsche Fährten erst wird der als direkt bezeichnete Weg eingeschlagen. Im weiteren Verlauf des Texts wird dem Thema psychoanalytische Filme keine weitere Beachtung geschenkt – allein der filmische Realitätseindruck steht nun als Gegenstand einer psychoanalytischen Untersuchung im Zentrum. Dieser einleitende Schlenker ist für das Folgende auf inhaltlicher Ebene tatsächlich nicht weiter wichtig. Doch die hier vorgenommene Gegenüberstellung von tatsächlicher versus dargestellter Psychoanalyse (sowie der möglichen Täuschung über deren Differenz bzw. dem Wissen um diese) stellt eine Konstellation dar, die im weiteren Verlauf des Textes auf anderem Terrain und in anderem inhaltlichen Zusammenhang wiederholt wiederkehrt: Stets dreht sich der Text darum, Phänomene von Differenzierung und Nicht-Differenzierung (von filmischer und sonstiger Realität) zu unterscheiden. Diese Konstellation werde ich nun weiterverfolgen und zeigen, inwiefern diese ein Schema der Darstellung des filmischen Realitätseindrucks bildet. Musatti füllt dieses Schema u.a. mit der erwähnten Gegenüberstellung von kindlichem und erwachsenem Publikum und eben diese Gegenüberstellung wird sich später als wesentlich für die Frage nach dem spielerischen Gehalt dieser theoretischen Darstellung erweisen (vgl. I.4). Zunächst aber sei kurz in Erinnerung gerufen, inwiefern die – offensichtlich auch für Musattis Texte zentrale – Fokussierung auf die filmische Darstellungsweise und die Frage der Differenz von filmischer und sonstiger Realität im Kontext der Filmologie mit der Annahme eines grenzverschiebenden und fortschrittlichen Potentials des Kinos verbunden ist.

2.  Filmischer Realitätseindruck und Fortschritt in der Filmologie Den Filmologen gilt die filmische Darstellungsweise als primäre Ursache der Entstehung des Realitätseindrucks. Dessen Entstehung wird also auf bestimmte Aspekte der filmischen Darstellung zurückgeführt – und zwar eben weitgehend unabhängig davon, was gezeigt wird. Diese Auffassung steht in Zusammenhang mit Cohen-Séats Entwurf des Kinos als universelle Institution, mit der eine Kritik an partikularen Perspektiven auf den Film verbunden ist. Den Filmologen geht

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es ja eben nicht z.B. um die Auseinandersetzung mit konkreten Filmen, sondern sie verstehen den Film als ein (wenngleich natürlich das zentrale) Element des in seiner Einheit zu betrachtenden Kino-Universums (Souriau; vgl. I.2). Auf dieser Annahme beruhte nicht zuletzt die Einteilung der drei Hauptforschungsbereiche des filmologischen Instituts (vgl. I.2). Für die Filmologie ist die Annahme charakteristisch, dass das auf der Leinwand Dargestellte aufgrund der filmischen Darstellungsweise in einem hohen Maße den Eindruck von Realität evoziert. Aber, und dies ist entscheidend, sie gehen auch davon aus, dass das Dargestellte vom Publikum in der Regel nicht mit der tatsächlichen Realität verwechselt wird (vgl. I.2). Die Zuschauenden nehmen demzufolge die filmische Realität (das Dargestellte im Sinne der präsentierten Fiktion, der Diegese) als different von der tatsächlichen Realität wahr. Wie Michotte formuliert: „Es gibt demnach Realität und Realität“ (Michotte 2003a, S. 110; vgl. I.2) – filmische versus tatsächliche, alltägliche Realität. Evoziert werde – so der weitgehende, auf Michottes Untersuchungen zurückgehende Konsens – ein Eindruck von Realität des Dargestellten bei Beibehaltung des Charakters eines Dargestellten, welches auf einer anderen Ebene der Realität als der tatsächlichen wahrgenommen wird. Der filmische Realitätseindruck ist nach filmologischer Denkweise nicht ein einfach realistischer, sondern ein real-irrealer Eindruck von Realität. Die filmische Welt würde daher – in der Regel – vom Publikum mit einer gewissen Distanz aufgenommen. Es ist diese paradoxe Konstellation, die auch Musatti von Michotte aufgreift: „Wir sind der Ansicht, dass sich die kinematografische Situation beschreiben lässt, indem man festhält, dass diese den Eindruck vermittelt, man nehme reale Dinge und Ereignisse tatsächlich wahr, dass es sich dabei aber um eine mehr oder weniger deformierte Realität handelt, die einer Welt angehört, die unter einem psychologischen Gesichtspunkt betrachtet nicht unsere Welt ist und von der wir uns trotz allem erheblich distanziert fühlen.“ (Michotte zit. n. Musatti 2004b, S. 146). Indem Musatti diesen Satz von Michotte zustimmend zitiert, rechnet er sich selbst dem ‚wir‘ an – ‚wir‘ sind der Ansicht, dass ‚wir‘ im Kino den von Michotte beschriebenen Eindruck empfangen. Für die Filmologen ist eben dieser Eindruck ein zentraler Grund dafür, dass das Kino im Vergleich zu anderen Darstellungsformen ein Novum darstellt (vgl. I.2). Zentral ist in diesem Zusammenhang die Annahme, das Neue und Besondere des kinematographischen Mediums hinge mit Grenzverschiebungen gegenüber vorgängigen ästhetischen Darstellungsweisen zusammen. Das Kino verschiebe gewissermaßen die Relationen von Alltäglichem und Nicht-Alltäglichem, Kunst und Spiel, Realem und Irrealem, Gewohntem und Ungewohntem. In Musattis Texten ist hiermit ein Mehr verbunden, in zweierlei Hinsichten: der Film sei – im Vergleich z.B. zum Theater – mehr real und zugleich mehr irreal (s. u.). Mit diesem Mehr ist die im filmologischen Kontext virulente Idee eines grenzverschiebenden und potentiell fortschrittlichen Potentials des Kinos berührt. Die am Fortschritt ausgerichtete Idee einer Grenzverschiebung impliziert die Vorstellung, dass eine

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

vorherige Grenze nach vorne verschoben wird. Die Grenzverschiebungen bedeuten hier im filmologischem Kontext in räumlicher Hinsicht stets eine Verlagerung nach vorn, eine Ausweitung, eine Vergrößerung, eine Vermehrung eben. Im Folgenden werde ich zeigen, inwiefern in Musattis Texten die Formulierung des Mehr zugleich mit Einschränkungen im Sinne eines nicht Zuviel verbunden ist – der filmische Realitätseindrucks ist bestimmt als mehr real und zugleich mehr irreal in Abgrenzung zu einem Zuviel (z.B. in Form einer Verwechslung von Bild und Realität). In Bezug auf ein mögliches Zuviel rufen die Texte Vorstellungen von ungerahmten Grenzüberschreitungen auf, um demgegenüber die typische filmische Erfahrung als eine Art ein- und abgegrenzte Grenzüberschreitung darzustellen.

3.  Mehr in zweierlei Hinsicht: Mehr real, mehr irreal Das Mehr beschreibt Musatti als etwas Besonderes und Außergewöhnliches. Einleitend heißt es in „Psychische Prozesse“ (Musatti 2004b), die Kinematografie erscheine unter empirischen Gesichtspunkten als ein besonderes technisches Mittel der Darstellung, doch sei diese in psychologischer Hinsicht „mehr als nur das“ (ebd., S. 144; Herv. S. W.). Kennzeichnend für die Besonderheit der Kinosituation sei als „erstes und grundlegendes Element“ (ebd., S. 145) eben der sich von „jeder anderen darstellenden Kunst“ (ebd.) unterscheidende Realitätseindruck. Prozesse bei den Zuschauenden würden angestoßen, die „die filmische Rezeptionssituation zu etwas ganz und gar Außergewöhnlichem machen“ (ebd., S. 144). Aufgeworfen ist damit die Frage: Worin besteht dieses Mehr?, die Musatti in einem Vergleich mit dem Theater beantwortet. Im Unterschied zum Theater vermittele der Film mehr den Eindruck, das Dargestellte sei real und zugleich mehr den Eindruck, sich nicht in ‚unserer‘ Welt abzuspielen.7 Es sind jeweils die realen und die irrealen Aspekte, die Musatti als dem Theater gegenüber verstärkt einstuft. Das Kino sei also in beiderlei Hinsicht Mehr: mehr real, mehr irreal. Mehr, stärker, über das Theater hinausgehend – in diesem Vergleich stellt sich der überschreitende Charakter des Kinos dar. Im Unterschied zum Theater, wo die Bühne sich im realen Raum befindet, sei der filmische Raum „bloß illusorisch“ (ders. 2004a, S. 127): „Tatsächlich befindet sich der dreidimensionale Raum, in dem sich die Szene befindet, ungeachtet seines Realitätscharakters – und das ist sein eigentlich paradoxes Element – nicht im selben realen Raum, den der Filmzuschauer im Saal als seinen Raum empfindet, oder als Raum schlechthin.“ (Ebd., S. 127f.) Während die Theaterbühne eine Zone sei, „die Teil der [sic] Raumes ist, in dem sich der Zuschauer befindet, und von diesem auch so wahrgenommen wird“ (ebd., S. 128), gelte für das Kino, dass sich die Szene „nicht im selben realen Raum“ abspielt, „den der Filmzuschauer im Saal als seinen Raum empfindet, oder als Raum schlechthin“ (ebd.). Das Mehr 7 | Ähnlich ist auch die Auffassung von Metz (vgl. I.2).

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des Kinos bestehe gegenüber dem Theater desbezüglich in der „größeren Kluft, die sich in der filmischen Szene zwischen der Ebene des Films und der Ebene des wirklichen Lebens auftut“ (ebd., S. 130). Der Charakter des jeweiligen Geschehens auf der Leinwand und der Theaterbühne wird als diesen Eigenschaften der Räume gegenüber je konträr gelagert beschrieben: Tatsächlichen und realen Charakter habe das Geschehen im illusorischen Raum des Films, fiktiven Charakter hingegen das des Theaterschauspiels im realen Raum. „Was die Darstellungsform des Theaters betrifft oder die theatralische Form, so ist sie, obwohl sich das Geschehen natürlich in einer dreidimensionalen Umgebung abspielt, an sich schon Fiktion, und sie kann diesen Charakter niemals ganz ablegen.“ (Ders. 2004b, S. 145; Herv. S. W.) Dieses Mehr an realen Aspekten führt Musatti in „Kino und Psychoanalyse“ anhand eines Beispiels aus, nämlich dem Verhältnis von Schauspieler und Rolle. Im Theater wirkten die Schauspieler als „reale Personen, die eine Rolle spielen, ohne jedoch ihre Individualität für uns zu verlieren“ (ders. 2004a, S. 128). Im Kino hingegen erschienen die Handelnden – und zwar gleichgültig ob im Dokumentar- oder Spielfilm – als „tatsächliche Figuren in einer realen Situation, in der sie agieren“ (ebd.). Darstellender und Dargestelltes scheinen Musatti zufolge im Kino – im Unterschied zum Theater – mehr zu verschmelzen, wodurch der handelnden Person auf der Leinwand ein höherer Grad an Realität zukomme. Bezüglich dieses Mehr an Eindruck von realem Geschehen macht Musatti in den anschließenden drei Absätzen die Einschränkung: nicht Zuviel. Auf diese Entkräftung des Zuviels legt Musatti Wert. Ich werde nun zeigen, dass Musattis Abgrenzung des filmischen Realitätseindrucks von Zuviel an dieser Textstelle als eine Herausstellung in doppelter Hinsicht beschrieben werden kann: Das Zuviel wird herausgestellt (beleuchtet) und aus dem Umkreis des filmischen Realitätseindrucks herausgestellt (ausgegliedert). Im Verlauf dieser Herausstellung wird eine wichtige Bestimmung des Zuviels geleistet: dieses wird kindlicher Wahrnehmung zugeschrieben – in Abgrenzung zur Wahrnehmung des erwachsenen Kinopublikums.

4. In einem Bogen herausgestellt: Beim Publikum im Allgemeinen nicht Zuviel Die drei Absätze verlaufen in einem Bogen, der mit der bereits erwähnten Annahmen sowohl beginnt als auch endet: Tendenziell würden im Kino Figur und Schauspieler als eine Person wahrgenommen, im Theater darstellende und dargestellte Person eher als getrennt. Der Bogen fügt dieser Annahme nichts Wesentliches hinzu – gezeigt wird vielmehr, was diese Annahme nicht impliziert. Das geschieht in einer recht komplizierten Anordnung von drei Protagonisten: Ein Kino-Fachmann, ein kindlicher Rezipient und ein Kinopublikum – dieses Publikum wird mit den Lesern und dem Autor zu einem ‚wir‘ zusammengefasst, welches im Folgenden als das Publikum im Allgemeinen bzw. als ‚wir‘ bezeich-

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

nen werde. Mit diesen drei Protagonisten vollführt Musatti ein spielerisches Gedankenexperiment: Sie werden von ihm wechselnd im Kino oder im Theater platziert und die jeweiligen Realitätseindrücke verglichen. Im Verlauf des Bogens wird deutlich, dass der fachmännische und der kindliche Erfahrungsmodus zwei Extreme repräsentieren, zwischen denen sich ‚unsere‘ Kinoerfahrung bewege. Es ist eine Art ideale Mitte, als die sich der filmische Realitätseindruck des Publikums im Allgemeinen im Verlauf des Bogens abzeichnet und zwar in Form der Herausstellung dieser beiden Extreme. Zu Beginn des ersten Absatzes relativiert Musatti zunächst seine Annahme, der filmische Eindruck weise dem Theater gegenüber ein Mehr an realen Aspekten auf: „Natürlich ist dieser Unterschied zwischen Theater und Kino nur gradueller Natur und unterliegt Schwankungen.“ (Musatti 2004a, S. 128). Es sei für die Entstehung des jeweiligen Realitätseindrucks durchaus auch entscheidend, wer ins Kino oder Theater geht. Dies wird anhand von verkehrten Rollen durchgespielt: Jemand verfolgt das Geschehen im Kino wie im Theater, ein anderer im Theater wie im Kino. Beschrieben wird also ein Kinobesucher, der den Film hinsichtlich des Realitätscharakters der Darstellung wie ein Theaterstück rezipiert und ein Theaterbesucher, welcher das Geschehen auf der Bühne für real nimmt. Der Erste wird beschrieben als Fachmann, der mit einem professionellen Blick die filmische Darstellung betrachtet: „Wer regelmäßig ins Kino geht und ein fachmännisches Interesse daran entwickelt (was mehr oder weniger jedem von uns passieren kann), vermag den Schauspieler auch als Schauspieler zu würdigen, der von Mal zu Mal verschiedene Rollen interpretiert; und ein solcher Connoisseur [sic] des Films kann den Schauspieler schließlich als jemanden wahrnehmen, der seine Rolle ebenso ‚wiedergibt‘, wie er sie einfach nur ‚lebt‘.“ (Ebd.; Herv. S. W.) Dieser Fachmann erfährt demnach die lebensecht wirkenden Szenen und Personen als Fiktion und vorrangig unter ästhetischen Aspekten. Die Formulierung „was mehr oder weniger jedem von uns passieren kann“ (ebd.) beschreibt diese Wahrnehmung als eine möglicherweise auch seinen Lesern vertraute. Es schwingt zudem auch die Frage mit: Verspricht das Kino nicht mitunter Mehr als nur das fachmännische Interesse zu befriedigen? Der Zweite, der das Theatergeschehen wie im Kino betrachtet, wird als kindlicher Rezipient beschrieben: „Andererseits ist es auch möglich, die Personen und Geschehnisse des Theaters als real zu empfinden. So erscheinen sie beispielsweise den kindlichen Theaterbesuchern.“ (Ebd.) Dieser kindliche Rezipient erhält demnach auch im Theater den – eigentlich für das Kino typischen – Eindruck einer Einheit von Darsteller und dargestellter Person; kurz: Szenen und Personen erscheinen als real. Auch dieser Erfahrungsmodus sei ‚uns‘, dem allgemeinen Publikum, wohlbekannt – allerdings nur in eingeschränktem Maße, nämlich nur insoweit diese Realität nicht ihre Grenze zu ‚unserer‘ verliere, nicht Zuviel werde. Diese Gegenüberstellung von Kino-Fachmann und kindlichem Zuschauer ist in folgender Hinsicht ähnlich wie die obige Konstellation von Kinopublikum und

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dem Film im einleitenden Schlenker: Wie auch der kindliche Rezipient Darstellung und Realität verwechselt, so geht es auch einleitend um ein Kinopublikum, welches (in Musattis Augen) zu Unrecht psychoanalytische Filme als wirklichkeitsgetreue Darstellung der tatsächlichen Psychoanalyse wähnt – und ebenso wie für den Kino-Fachmann darstellerischer Kriterien im Vordergrund stehen, ist in der Einleitung von der Ausrichtung des ‚Interesses des Films‘ an ästhetischen Prinzipien (und weniger an Fragen der Übereinstimmung mit der realen Welt) die Rede. In beiden Passagen werden also die Protagonisten angeordnet anhand der Kriterien Nicht-Unterschiedenheit (Kinopublikum, kindlicher Theaterbesucher) oder Unterschiedenheit von filmischer und sonstiger Realität (der Film, der Kino-Fachmann). Beide Fällen, so wird im Folgenden zu sehen sein, stehen für eine Verfehlung des Typischen des filmischen Realitätseindrucks, dessen Träger ‚wir‘, das Publikum im Allgemeinen, sind. Der zweite Absatz dieser Passage beginnt mit dem Satz: „Doch die ganze Frage betrifft letztlich das allgemeine Problem der ‚Realität‘ und ‚Irrealität‘ künstlerischer Darstellung.“ (Ebd.) Auf dem Terrain künstlerischer Darstellungen bewegt sich, so Musattis Punkt hier, die Wirkung auf das Publikum stets in einem gewissen Spektrum zwischen wahrgenommener Realität und Irrealität des Geschehens. Die Spezialfälle kindlicher Theaterbesucher und Kino-Fachmann bahnen gewissermaßen im vorhergehenden Absatz der Auseinandersetzung mit der allgemeinen Problematik von Realität und Irrealität im Bereich der ästhetischen Darstellung den Weg. „In gewisser Weise verfügt jede solche [ästhetische] Darstellung über einen bestimmten Grad von ‚Realität‘ und kann sicherlich Empfindungen und Regungen wecken, die denen entsprechen, mit denen wir auf die tatsächliche Realität reagieren. Wir lieben und hassen die Figuren eines Romans, und wir lassen uns genauso von ihren Taten bewegen, wie das auch bei realen Personen der Fall wäre […].“ (Ebd., S. 129) Insofern wohnt ‚unser‘ aller ästhetischer Erfahrung ein kindlicher Zug inne. Allerdings macht Musatti hier eine gewichtige Einschränkung: „[A]uch wenn wir die Ebenen der künstlerischen Realität von der Ebene des Lebens unterscheiden und jederzeit von ersterer auf letztere zurückkehren können“ (ebd.). ‚Wir‘ können also, wie Musatti hier unterstreicht, im Unterschied zum kindlichen Rezipienten grundsätzlich zwischen Realität und Bild unterscheiden und – ebenso wie der Kino-Fachmann – erkennen, dass es sich um ein fiktives Geschehen handelt. ‚Wir‘ lassen uns, so Musatti, vom Eindruck des Realen bewegen, wenn auch nicht so sehr wie der kindliche Theaterbesucher – und zugleich sind ‚wir‘ distanziert, wie der Connaisseur. ‚Wir‘, das Publikum im Allgemeinen, befindet sich demzufolge in einer Balance zwischen Connaisseur und kindlichem Theaterbesucher – abzüglich des fehlenden Unterscheidungsvermögens auf Seiten des letzteren und zugleich mit etwas mehr emotionalem Involviert-Sein als der Fachmann. Der Fachmann und das Kind sind hier Repräsentanten für Extreme, zwischen denen Musatti zufolge die Zuschauererfahrung im Bereich ästhetischer Erfahrung pendelt; sie verkörpern die Eckpunkte eines möglichen Erfahrungsspekt-

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

rums: „Gerade in dieser Möglichkeit des Pendelns zwischen einem Sich-Einlassen auf die Fiktion und einem Sich-Entziehen oder einer Einsicht in ihren Fiktionscharakter liegt zu einem guten Teil die emotive Wirkungskraft der Kunst.“ (Ebd.)8 Diese Eckpunkte haben in Muattis Formulierung eine je unterschiedliche Färbung: Wenngleich in Bezug auf den Connaisseur von einer Haltung die Rede ist, die auch ‚uns‘ passieren könne (s.o.), so hat die Unterscheidung der Ebenen von künstlerischer Realität und sonstigem Leben zugleich den Charakter eines intentional einsetzbaren Instruments, welches ‚uns‘ davor bewahrt, im Durcheinander zwischen Realität und Bildern unterzugehen. So heißt es: ‚Wir‘ können die Ebene der künstlerischen von der des Lebens unterscheiden und „jederzeit von ersterer auf letztere zurückkehren […], womit wir uns den Empfindungen und der Gefühlsbewegung entziehen, die in uns entstanden sind, und uns gegen sie verteidigen“ (ebd.). Der kindliche Erfahrungsmodus hat hier eine durchaus bedrohliche Qualität. Die Fähigkeit zur Unterscheidung tritt demgegenüber wie eine Notbremse und ein regulierender Eingriff gegenüber einem Zustand auf, in dem die filmische Realität möglicherweise zu sehr bewegt, Zuviel ist. Unterscheiden ist hier gleichbedeutend mit der Möglichkeit eines Herausziehens, die dem Publikum im Allgemeinen „jederzeit“ (ebd.) gegeben sei. In welcher Gefahr befindet sich der kindliche Theaterbesucher im Vergleich zum Connaisseur im Kino? Diese lässt sich an Musattis Gedankenexperiment der vertauschten Rollen (s.o.) verdeutlichen. Wenn der kindliche Theaterbesucher ein Geschehen im Theater als real empfindet, welches in seinem Raum stattfindet, während der Connaisseur ein Film-Geschehen vorrangig als irreales/fiktives erfährt, welches sich in einem Raum außerhalb des seinen abspielt, so handelt es sich hierbei jeweils um eine Dramatisierung und Isolierung von Aspekten, die Musatti als Teil ‚unseres‘ gesamten Erfahrungsspektrums begreift. Während der Kino-Fachmann Distanz zum Geschehen hält, ist der kindliche Theaterbesucher diesem Beispiel zufolge doppelt eingeschlossen: emotional involviert in das Geschehen und mit diesem auch tatsächlich in einem Raum befindlich. Das doppelt Eingeschlossen-Sein ist in Musattis Darstellung bedrohlich konnotiert. Dies führt Musatti mit einem Beispiel vor Augen, in dem die Differenz von ästhetischer und sonstiger Realität keine Verankerung in der Unterschiedenheit der Räume hat. Der Connaisseur im Kino ist demgegenüber in doppelter Hinsicht draußen: Nicht nur hält er professionellen Abstand zum Dargestellten, sondern dieses spielt sich zudem in einem anderen, an den Leinwandgrenzen endenden Raum ab. Im dritten Absatz setzt Musatti die Spezifik des filmischen Realitätseindrucks von dem beschriebenen Pendeln zwischen Realität und Irrealität als Charakteristikum von ästhetischer Erfahrung im Allgemeinen ab. Endet der zweite Absatz mit dem oben zitierten Satz, dem Pendeln zwischen „Sich-Einlassen“ und

8 | Dies Pendeln erinnert an Cohen-Séats Darstellung der Schwingungen, in die der Film das Publikum versetzen kann (vgl. I2).

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„Sich-Entziehen“ verdanke die Kunst im Allgemeinen ihre „emotive Wirkungskraft“ (ebd.), so hebt der dritte an mit: „Aber“ (ebd.). Nun wird die Kino-Erfahrung zwar im Spektrum dieses Pendelns verortet, als besonderes Charakteristikum des filmischen Realitätseindrucks aber wird erneut eingeräumt: Die filmische Welt ist im Unterschied zu der des Romans oder des Theaters existent und präsent. „Aber während die Romanhandlung für den Leser eine imaginierte Realität ist und das Theaterstück eine repräsentierte, ist die Realität der filmischen Handlung eine präsentierte: Sie existiert vor unseren Augen, und zwar nicht deshalb, weil Menschen und Szenen, die zu unserer Welt gehören – wie im Theater –, etwas Bestimmtes bedeuten, sondern weil eine andere Welt sich als solche in unserer Gegenwart entfaltet.“ (Ebd.) Im Unterschied also dazu, wie der kindliche Besucher das Geschehen auf der Theaterbühne laut Musatti erlebt, hebe sich für ‚uns‘ – wie auch für den Connaisseur – das filmische Geschehen als eine andere Welt von der Realität ‚unseres‘ Lebens ab. Die Kinovorstellung, so Musatti, bietet den Rezipierenden eine grundsätzlich andere Realität als die vom Roman oder im Theater entworfene – es handele sich nicht wie beim Roman um eine vorgestellte, imaginierte Realität und auch nicht um eine repräsentierte und in Szene gesetzte wie im Theater. Sondern im Kino spiele sich das Geschehen vor ‚unseren‘ Augen ab, die filmische Realität als in einer anderen Welt befindlich sei präsent. Der Bogen endet in diesem Absatz mit der Feststellung: „Aus diesem Grund bleibt, mit anderen Worten, auch beim Theaterschauspieler viel deutlicher sichtbar, dass er über eine doppelte Persönlichkeit verfügt: als Darsteller und als handelnde Person, während der Schauspieler in der Kinematografie nachgerade in der verkörperten Figur aufgeht.“ (Ebd.) An diesem Punkt war die Argumentation bereits vor Beginn des Bogens, diese Schlussfolgerung fügt der Sache nach den zuvor getroffenen Bestimmungen des filmischen Realitätseindrucks nichts Neues hinzu. Was aber im Verlauf des Bogens herausgestellt wurde, ist: Das Mehr an Gegenwärtigkeit und Präsenz der filmischen Realität bedeutet für ‚uns‘ kein Zuviel. Oder anders: Das Spezifische der filmischen Erfahrung besteht nicht darin, dass das Publikum im Allgemeinen Bild und Realität verwechselt – auch wenn das Kinopublikum in der Regel keine fachmännische Distanz übt. Im Verlauf des Bogens wird die komplett fehlende Unterschiedenheit von ästhetischer und ‚unserer‘ Realität für das Publikum im Allgemeinen ausgeschlossen. Das heißt, die mit bedrohlichen Aspekten ausgestattete kindliche Wahrnehmungsweise, die keine Rückzugsmöglichkeit auf die Ebene ‚unserer‘ Welt bereit zu halten scheint, wird als aus der kinematographischen Situation nicht ableitbarer Eindruck definiert. Zusammengefasst: Obgleich ‚wir‘ im Kino den Eindruck Mehr-real als im Theater erhalten, wird im Kino Musatti zufolge also in der Regel nicht die Grenze zwischen ‚unserer‘ und künstlerischer Realität überschritten. Das Mehr an Realität im Kino verspräche, ‚unsere‘ Gefühle mehr als jegliche andere Künste (und mehr als die des Connaisseurs) in Aufruhr zu bringen. Im Kino übersteige der Reali-

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

tätscharakter den vom Roman oder Theater gewohnten Eindruck, es handele sich beim Dargebotenen letztlich nur um Vorstellungen – aber gleichwohl bedeute dies Übersteigen nicht (wie beim kindlichen Besucher) Zuviel. Dieses Zuviel wird im Bogen über das allgemeine Problem von Realität und Irrealität aus der Spezifik der Filmerfahrung heraus-gestellt – in folgendem Sinne: Der kindliche Theaterbesucher wird als ein spezieller Besucher aus der Masse des Publikums hervorgehoben, von ihm wird eine Eigenschaft herausgestellt im Sinne von verdeutlicht, beleuchtet. Eine Eigenschaft, die ihn von den anderen unterscheidet – von ‚uns‘ sowie vom Connaisseur. Diese wird aus dem Spektrum ästhetischer Erfahrung im Allgemeinen sowie filmischer Erfahrung im Besonderen ausgeschlossen. Woraufhin der Text zu der Annahme zurückkehrt: Das Geschehen im Kino erscheint ‚uns‘, dem Kinopublikum, mehr real, aber als Geschehen auf einer anderen Ebene als ‚unserer‘ Realität. Für ‚uns‘ finde die Filmerfahrung mithin in einem geschützten Erfahrungsbereich statt.

5.  Maximale Evasion im Kino – Mehr als nur Musatti bestimmt in „Psychische Prozesse“ diesen geschützten Bereich als evasiven Raum. Auch die Überlegungen zur Evasion sind in der Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel angeordnet. Mehr als andere Künste befriedige das Kino das Bedürfnis nach Realitätsflucht. Die Realität der filmischen Szene mache den Film zu einem „Instrument der Flucht aus dem Alltag, das von maximaler Wirkkraft ist“ (Musatti 2004b, S. 148) – Kino verspricht gar maximal Mehr. Auch hier wird das (nicht) Zuviel in einem Vergleich zwischen erwachsenem und kindlichem Publikum gewonnen. Und wieder wird der Kinozuschauer im Allgemeinen verortet zwischen einem Jemand, der die filmische Darstellung als entsprechend der tatsächlichen Realität wahrnimmt (wie das Kinopublikum im einleitenden Schlenker und der kindliche Theaterbesucher im Bogen) und einem Jemand, der sich an dem wirklichkeitsgetreuen Charakter der Vorführung eher desinteressiert zeigt (wie der Film und der Kino-Fachmann). Evasion bezeichnet Musatti als die Möglichkeit, „uns von der Alltagswelt zu lösen, um uns anderswo hin zu begeben, und [die] uns erlaubt, unser Leben zu bereichern, indem wir Erfahrungen machen, die fernab von denen liegen, die uns unsere alltägliche Existenz auferlegt“ (ebd., S. 146). Die Evasion ermöglicht demnach Erfahrungen fernab des Tatsächlichen. Die Darstellung des maximalen Werts der evasiven Funktion des Kinos verläuft an dieser Stelle in Form einer Steigerung: Im Vergleich zum evasiven Wert des Phantasierens und der Kunst spricht Musatti dem Kino die besten Bedingungen der Realitätsflucht zu. Das Kino überschreitet ihm zufolge Grenzen, die der Evasion andernorts gesetzt sind. Dabei ist die Evasion selbst wiederum als eine Art Grenzüberschreitung charakterisiert: Musatti definiert die Evasion als Fortsetzung des kindlichen Spiels insofern die von der Realitätsprüfung getroffene Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Eindrücken ein Stück weit aufgehoben sei.

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Musatti entwickelt also die maximale Wirkkraft des Kinos im Abgleich mit der jeweiligen evasiven Funktion von Phantasie und Kunst. So heißt es: „Noch mehr als von der Kunst werden unsere Bedürfnisse nach Evasion von der Fantasie gestillt: von unserer Vorstellungskraft im weitesten Sinne“ (ebd.). Denn im Unterschied zur Kunst, so unterstreicht Musatti, ist die Phantasie nicht an die „raumzeitlichen Koordinaten“ gebunden, „auf die uns unser Verhältnis zur Umwelt, das wir über unser körperliches Wahrnehmungsvermögen auf bauen, tendenziell festlegt“ (ebd.). Doch dieser Vorteil der Phantasie gegenüber der Kunst bringe zugleich einen Nachteil mit sich. „Solange die Evasion sich kraft meiner Fantasie vollzieht, bleibt sie jedoch labil, und das Gewicht der tatsächlichen Realität stellt einen schwerwiegenden Ballast dar, der ihre Reichweite einschränkt.“ (Ebd.) Gerade aufgrund der Freiheit der Phantasie sei ihr evasiver Raum einsturzgefährdet – der Realitätssinn funke gewissermaßen dazwischen mit der störenden Frage, ob eine Wahrnehmung der Imagination oder der äußeren Realität entstamme. So mangele es letztlich dem Phantasierten an Glaubwürdigkeit, dieses lasse als vom Tatsächlichen unterschiedenes an Konsistenz vermissen. In diesem Zusammenhang findet sich erneut ein Vergleich von Erwachsenen und Kindern. Im Unterschied zum Kind könne der Erwachsene „die Elemente, die ihm die tatsächliche Realität anbietet, und die Fantasien, die von der Einbildungskraft aufgerufen werden, nicht mehr frei gestalten, um daraus ein Ganzes zu machen, indem er den Fantasien den Stoff realer Dinge verleiht und so, unter Zuhilfenahme der Imagination, die Realität transfiguriert“ (ebd., S. 147). Das Kind hingegen „verfügt über die Möglichkeit, seinen Fantasien ein reales und materielles Gerüst zu verleihen, und es tut dies im Spiel, indem es ein beliebiges Objekt, das ihm in die Hände fällt, benutzt, um daraus ein Pferd zu machen, einen Zug, den Feind, je nach Szenario seiner siegreichen Abenteuer“ (ebd., S. 146).9 Die Kinder setzen demnach ihre Phantasien in spielerische Tätigkeit um, während das Phantasieren für die Erwachsenen allzu offensichtlich im Rahmen „des bloßen Fantasierens: unser privates Theater“ (ebd., S. 147; Herv. S. W.) verbleibe. Das erwachsene Spiel in Gedanken erscheint, so unterstreicht Musatti, als bloßes Gedankenspiel und zu fernab vom Tatsächlichen. „Die Freiheit, die wir beim Fantasieren genießen, nimmt dem Gegenstand der Fantasie seinen bindenden Charakter, der eben derjenige der Realität ist und den wir im gleichen Akt, in dem wir uns etwas einbilden oder der Realität entfliehen, auch in dem wiederfinden möchten, was wir ihr entgegenstellen.“ (Ebd.)

9 | Diese Formulierung erinnert sowohl an Cohen-Séats Ausführungen des ‚reinen‘ Spiels als auch an Wallons Beschreibung des Spiels als ‚eigentlicher‘ Tätigkeit des Kindes. Die Aufteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit strukturiert diesen zufolge die kindliche Erfahrungswelt noch nicht (vgl. I.2). In vergleichbarer Weise geht Musatti hier von einer Einheit der kindlichen Welt aus, in der tatsächliche Realität und Phantasie, Wach- und Traumwelt ineinander übergehen.

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

Keineswegs gilt demnach also: Je weiter die tatsächliche Realität entfernt, desto Mehr an evasivem Wert ergibt sich. Musatti betont vielmehr: Je größer die wahrgenommene Differenz zwischen (bloßer) Vorstellungswelt und (tatsächlicher) Realität, desto eingeschränkter der evasive Genuss. In diesem Fall sieht Musatti die Kinder im Vorteil: Während diese ihren Phantasien durch Umsetzung in spielerische Handlung und Anbindung an reale Objekte Gewicht verliehen, rutschen ihm nach die freischwebenden Phantasien der Erwachsenen allzu leicht ins Belanglose. Die Kunst, so Musatti, begegne eben dieser Leerstelle einer fehlenden Rahmung – wie auch das kindliche Spiel binden ihm nach Kunstwerke phantasierte Szenarios an die Welt des Tatsächlichen. Wobei ein Unterschied zwischen kindlichem Spiel und Kunstwerken darin bestehe, dass (zumindest im Fall der Rezipierenden) bei letzterem die Szenarios in ihrer Existenz und ihrem Ursprung unabhängig von der eigenen Phantasietätigkeit seien. Gerade die fehlende Zugriffsmöglichkeit der Rezipierenden auf die künstlerische Gestaltung verleihe den Werken „bis zu einem gewissen Grad den einschränkenden Charakter der Realität“ (ebd.), den die Phantasien vermissen ließen.10 Vom Künstler gestaltete Szenarien erschienen dem Publikum „in gewisser Weise als wahr“, sie eröffneten eine „höhere Realität“, in die einzutreten bedeute, die reale Welt hinter sich zu lassen (ebd.). Eine Realität, die den Charakter eines Gegebenen (im Unterschied zu bloß Vorgestelltem) und zugleich aber nicht den gleichen Stellenwert habe wie die tatsächliche Realität, so Musatti. Ist also der evasive Wert der Kunst ungleich höher als der der Phantasie? Musatti wägt weiter ab und sieht in einer anderen Hinsicht die evasive Wirkkraft der Kunst geschmälert: Diese stehe allzu sehr im Zeichen der (fachmännischen) Urteilsfunktion. Denn die „Essenz der Kunst“ (ebd., S. 146) erschöpfe sich nicht in der evasiven Funktion, da die ästhetische Form nicht den „bindenden Charakter, der eben derjenige der Realität ist“ (ebd., S. 147; s.o.), aufweise. Für Musatti geraten im Bereich der Kunst der evasive und der ästhetische Wert in ein Konkurrenzverhältnis zueinander. Es sei doch so, dass der für die evasive Funktion konstitutive Charakter der Bindung an die tatsächliche Realität gemeinhin als Minderung des ästhetischen Werts eines Werks angesehen: „‚Das ist allzu wahr‘, urteilt bisweilen die Kritik.“ (Ebd.) Demgegenüber unterliege der evasive Wert anderen Kriterien: „Soweit es aber nur um die Wirkungen im Rahmen einer Realitätsflucht geht, gilt jedenfalls, dass die Kunst umso mehr unseren Anforderungen gerecht wird, je mehr sie uns in eine tatsächliche Welt transportiert und je perfekter die Illusion ist (auch wenn sie vom Bewusstsein begleitet wird, dass es 10 | Auch Tagträume, so Musatti, wiesen mitunter diesen „gewissen Grad an einschränkendem Charakter der Realität“ (Musatti 2004b, S. 147) auf, nämlich dann, „wenn wir den Eindruck haben, dass die interne Logik unserer Vorstellungen sich unseren Intentionen gegenüber verselbständigt: ganz so, als würden wir die Fantasie rezipieren, als wäre sie schon von Anfang an in ihren Einzelheiten genau bestimmt und als würden nicht wir sie nach Gutdünken in die eine oder andere Richtung treiben“ (ebd.).

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sich um eine Illusion handelt).“ (Ebd.) Während sich also die ästhetischen Kriterien gerade an Differenzen zwischen ästhetischer Formgebung und den realen Gestalten der tatsächlichen Welt bemessen, werde die Lust an der Evasion umso mehr gesteigert, je mehr die ästhetische Darstellung dem Tatsächlichen ähnele. Mehr noch als die anderen Künste werde der filmische Realitätseindruck dieser Anforderung an eine Technik der Realitätsflucht gerecht. Die filmische Welt biete im Unterschied zur Phantasie mehr als nur eine Vorstellung und im Unterschied zu anderen Künsten mehr Genuss an realem Eindruck – aber kein Zuviel, kein Verschwimmen der Ebenen von Illusion und Realität (wie etwa im kindlichen Spiel). „Entsprechend macht die Realität der filmischen Szene […] das Kino zu einem Instrument der Flucht aus dem Alltag, das von maximaler Wirkkraft ist.“ (Ebd., S. 147f.) Die Evasion im Kino habe demnach vergleichbar der Kunst den Vorteil einer gerahmten Erfahrung, ohne aber in Konflikt mit der ästhetischen Urteilsfunktion zu kommen. Musatti beschreibt hier eine Art gelungenen Kompromiss, der vergleichbar mit Cohen-Séats Sichtweise ist, das Kino überwinde potentiell den Gegensatz zwischen hoher Kunst und populärer Unterhaltung. Cohen-Séat spricht in diesem Zusammenhang von einer Situation der Aufrichtigkeit und einer primitiven Form der Toleranz und auch er sieht in der Evasion im Kino ein Abkömmling des kindlichen Spiels, wenn es heißt, es handele sich beim Kinoerleben „wahrhaftig um die Rückkehr zur Kindheit, die nichts anderes bedeutet als das Recht des Besens, der Arbeit zu entfliehen und wieder zum Reitstecken zu werden.“ (Cohen-Séat 1962, S. 110; vgl. I.2) Es ist dabei m.E. wichtig zu beachten, dass die in filmologischen Texten als Rückkehr zur Kindheit beschriebenen Aspekte der Kinoerfahrung (wie Neugier, Überraschung, Entdeckergeist, Erstaunen) gerade nicht als Rückfall in eine kindliche Wahrnehmungsweise zu verstehen sind.11 Dies gilt auch für Musattis Texte. Dieser nimmt an, dass das Kino für die Erwachsenen eine Art Ersatz der verlorenen kindlichen Freiheit ist, im Spiel ihren Phantasien „den Stoff realer Dinge“ zu verleihen (Musatti 2004b, S. 147). Dass diese Rückkehr nicht gleichbedeutend mit einem Rückfall in die Kindheit ist, sondern zwischen erwachsener Kinoerfahrung und kindlicher Erfahrungswelt gewichtige Differenzen gelten, macht Musatti im weiteren Verlauf des Textes anhand zweier Fälle deutlich, in denen das Kino für das Kind keine evasive Befriedigung bietet. Wie ich im Folgenden skizzieren werde, dienen an dieser Stelle erneut Abweichungen des Kindes vom Erwachsenen dazu, begriffliche Bestimmungen – in diesem Fall der Evasion – zu schärfen. Der Text verläuft dabei in Form eines Umschwungs, im Zuge dessen der evasive Raum als eine Art dritter Bereich der Erfahrung zwischen den Polen Realität und Irrealität situiert wird. Als ein solcher ist der evasive Raum, wie ihn Musatti fasst, der Konzeption des Übergangsraums von Winnicott ähnlich: Abgesetzt von der 11 | Wie ich im Vorhergehenden insbesondere anhand des Wallonschen Spielbegriffs ausgeführt habe, wird vielmehr der Verlust kindlicher Welterfahrung als konstitutiv für die vom Kino ermöglichte Rückkehr zur Kindheit gedacht (vgl. I.2).

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Ebene der tatsächlichen Raum befindet sich der evasive Raum in einer Schwebe, in der innere und äußere Realität in Verbindung miteinander treten können.

6.  Ein Umschwung führt zur Balance: Es ist ja nur ein Film Im Kino kann Musatti zufolge auch der Erwachsene jene Verbindung von Realität und Imagination des kindlichen Spiels auskosten, die sich ihm mit der Verfestigung des Realitätssinns nicht mehr ohne weiteres ergibt. Dem fügt Musatti eine wichtige Differenzierung hinzu: Aber im Unterschied zum Spiel des Kindes, welches unmittelbar Imagination und Realität auf einer Ebene vereinige, handele es sich beim Film um eine als Einheit wahrgenommene Realität neben der tatsächlichen Realität. In dieser Realität auf zweiter Ebene könnten sich – gemäß den Bestimmungen der Evasion – Imagination und wahrgenommene Realität wie im kindlichen Spiel verbinden. Dies Aber wird hier im Textverlauf in Form eines Umschwungs eingebracht – statt das Maximum des evasiven Werts weiter zu explizieren, bricht Musatti ab und wendet sich der Frage nach gegenteiligen Phänomenen zu, also Fällen, in denen keine evasive Wirkung eintritt. An dem Punkt, an dem Musattis Darstellung der evasiven Funktion gewissermaßen ihren Höhepunkt in der Bestimmung der maximalen Wirkungskraft des Kinos erreicht, wird – durchaus unvermittelt – die Frage aufgeworfen: „Gilt dasselbe auch für Kinder und Jugendliche?“ (Musatti 2004b, S. 148) Die Antwort lautet: Nein, nur in eingeschränktem Maße. Diesen Einschränkungen widmet sich Musatti im Weiteren ausführlich. Ausgeführt werden zwei Beispiele, zum einen wird ein am Film desinteressiertes Kind geschildert und zum anderen ein Kind, welches von der filmischen Realität zu sehr gefangengenommen wird. Es handelt sich in beiden Beispielen jeweils um Fälle, in denen die filmische Wirkung keinen evasiven Wert hat.12 Auf diese Weise wird Evasion als eine erwachsene Form des Erlebens zwischen zwei möglichen Reaktionen von Kindern auf die filmische Realität situiert. Die erste Variante geht von einer mangelnden kognitiven Kompetenz des Kindes aus, Filme zu verstehen. Die Geschichte des Kinos wäre mit einer fortschreitenden Erziehung des Publikums einhergegangen, so dass „heutzutage […] auch Menschen von geringem kulturellem und intellektuellem Niveau“ (ebd.) in der Lage seien, einem Film zu folgen. Ein kleines Kind sei, so Musattis Gedanke hier, noch nicht auf diesem Entwicklungsstand. Für dieses bestehe z.B. eine Schwierigkeit darin, „die einzelnen Episoden in einen Zusammenhang zu bringen und den Sachverhalt in seiner Ganzheit zu erfassen“ (ebd.). In diesem Fall ziehe sich dieses „in den Kinosessel neben seiner Mutter zurück, lutscht an der Süßigkeit, die man ihm gegeben hat, damit es sich ruhig verhält, und bleibt fest verankert 12 | Musatti führt hier ähnliche Probleme an, die die Wahrnehmungssituation im Kino für das Kind bereithalten kann, wie Wallon (vgl. I.2).

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in der langweiligen Realität eines dunklen Kinosaals voll fremder Leute“ (ebd.).13 Dieses Kind zeigt sich also desinteressiert an der filmischen Welt, die das übrige Publikum mit einem Mehr an Realitätsnähe zu locken vermag. Hinsichtlich seiner Unempfänglichkeit für diesen Köder des filmischen Realitätseindrucks ähnelt dieses Kind dem Kino-Fachmann sowie der Perspektive des Films im einleitenden Schlenker von „Kino und Psychoanalyse“. Das Kind verfällt der Langeweile, deren Vertreibung Cohen-Séat als ein Moment des fortschrittlichen Potentials des Kinos ansieht (vgl. I.2). Während dieses Beispiel von zu wenig Ergriffenheit handelt, beschreibt Musatti in der zweiten Variante ein Zuviel an Ergriffenwerden – das Kind in diesem Beispiel wird zu sehr in die filmische Realität involviert, vergleichbar dem kindlichen Theaterbesucher. „Wird hingegen [in Abgrenzung zum Erwachsenen; S. W.] das Kind von der Realität des Films ergriffen, verfängt es sich darin und reagiert mit Verzweiflung. Vor allem aber fürchtet es sich, weil es sich persönlich von der Handlung auf der Leinwand bedroht fühlt wie von einer realen Gefahr. So hat sich zum Beispiel Walt Disneys Schneewittchen-Film […], obwohl von großer technischer Perfektion, als ganz ungeeignet für Kinder erwiesen: Bei der Szene mit der Hexe erfüllten sie den Saal mit Schreien und Schluchzen und hielten sich die Augen zu, weil das Geschehen, das ihnen von der Leinwand herab entgegen kam, sie real verängstigte.“ (Ebd., S. 149) Dieser Fall zeugt von einer grenzüberschreitenden Wirkung des Realitätseindrucks – es zeige sich, so Musatti, dass der Realitätseindruck „für das Kind auch über das Ziel hinausschießen“ (ebd., S. 148) könne. Wenn sich das Kind in der von der sonstigen ununterschiedenen filmischen Realität verheddere, so entstünde – wie auch in der ersten Variante – kein evasiver Wert. Knapp kann man zusammenfassen: Nicht Zuwenig, nicht Zuviel – nur in der goldenen Mitte kann Musatti Auffassung nach der filmische Realitätseindruck sein Maximum an evasiver Wirkkraft erreichen. Diese Situierung der Evasion lässt sich mit Winnicotts Konzeption des Übergangsraums vergleichen, der ebenfalls in einem Dazwischen angesiedelt ist. Winnicott bezeichnet hiermit einen dritten Bereich neben dem der inneren und dem der äußeren Realität: „Dieser dritte Bereich des menschlichen Lebens, den wir nicht außer Acht lassen dürfen, ist ein intermediärer Raum von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen. Es ist ein Bereich, der kaum in Frage gestellt wird, weil wir uns zumeist damit begnügen, ihn als eine Sphäre zu betrachten, in der das Individuum ausruhen darf von der 13 | Erst ab der Pubertät, hier aber ganz besonders, könne der Film mehr und mehr als zuverlässiges Mittel der Realitätsflucht dienen, welches „ihn, der immer noch klein ist, in die Welt der Großen entführt, in ihr geheimnisvolles Leben, zu dessen Sphären auch er aufsteigen möchte.“ (Musatti 2004b, S. 149) Ebenso wie Wallon und Cohen-Séat betont also auch Musatti hier die Abhängigkeit des Vergnügens im Kino von Entwicklung (vgl. I.2).

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lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten.“ (Winnicott 1973, S. 11) Ursprünglich herausgebildet im kindlichen Spiel, sind in diesem intermediären Bereich, so Winnicott, kulturelle Erfahrungen jeglicher Art verortet (Kunstgenuss, Religion, Spiele, Illusionen etc.). Diese helfen Winnicott zufolge „in kreativer Weise […], sichere innere Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen aufzurichten“ (Leuzinger-Bohleber/Klumbies 2010, S. 14), gerade weil der Übergangsraum demnach einen Bereich der Übergänge zwischen Innen und Außen darstellt. Vergleichbar Musattis Charakterisierung des Spiels als eine Umsetzung von Imaginationen in die äußere Realität, gilt auch ganz zentral für das Spiel in Winnicotts Sinne, dass dieses „in Wahrheit weder eine Sache der inneren, psychischen Realität, noch eine Sache der äußeren Realität“ (Winnicott 1973, S. 112) ist. Von beiden Autoren wird demnach kulturelles Erleben als Abkömmling des kindlichen Spiels definiert, als Fortsetzung der hier etablierten Kommunikation zwischen innerer und äußerer Realität: „Wir erfahren das Leben im Bereich der Übergangsphänomene, in der aufregenden Verflechtung von Subjektivität und objektiver Beobachtung und in einem Bereich, der zwischen innerer Realität des Einzelmenschen und wahrnehmbarer Realität außerhalb des Individuums angesiedelt ist.“ (Ebd., S. 77) Wie auch Musatti in Bezug auf ästhetische Erfahrung festhält, ist für Winnicotts Konzeption in diesem Zusammenhang relevant, dass in diesem Zwischenraum die Realitätsprüfung zumindest ein Stück weit suspendiert ist – das bedeutet, das Zurücktreten der Frage Ist das wahrgenommene Phänomen imaginiert oder real? ist demnach konstitutiv für die Entstehung des Übergangsraums bzw. der Evasion. Gleichwohl aber gilt des Weiteren für beide Konzeptionen, dass die Grenzziehung zwischen Innen und Außen nicht grundsätzlich aufgehoben ist und innere und äußere Realität nicht (wie z.B. im Schrecken vor der Hexe) ineinander fallen. Der Raum darf, so kann man sagen, zu keiner Seite aus der Schwebe kippen: Eine allzu rigide Trennung wie auch ein Zusammenfallen sind also gleichbedeutend mit einem Verschlossen-Sein des Übergangsraums bzw. des evasiven Raums. Dementsprechend repräsentiert an dieser Textstelle das Kind verschiedene Zustände jenseits der Balance, die Musatti zufolge die Basis der Evasion darstellt. So heißt es etwa: Das Kind „verfügt nicht über die Fähigkeit des Erwachsenen, sich in einen Film zwar zu versenken, sich aber im richtigen Moment wieder daraus zurückzuziehen, wenn die emotionalen Reaktionen zu stark werden (wie wir das beim Träumen tun, wenn der Traum zu Angst erregend wird und wir aufzuwachen versuchen, um in die Realität zurückzufinden). Auch vermag das Kind nicht wie wir die Balance zu halten, wenn wir uns von einem Film zwar bewegen lassen, dabei aber stille Tränen vergießen und nicht solche der verzweifelten Bestürzung.“ (Musatti 2004b, S. 148f.) Auf der Folie des Ungleichgewichts des Kindes hebt sich das Gleichgewicht des Erwachsenen ab: ‚Uns‘ (dem Publikum im Allgemeinen) sei es möglich, im Film versunken zu sein und ‚uns‘ zugleich jederzeit herauszuziehen und ‚uns‘ gewahr zu werden, „dass wir uns nur im Kino

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befinden“ (ebd., S. 146.; Herv. S. W.). Der hier in Klammern eingeschobene Vergleich mit dem Traum ist zentral für Musattis Konzeption – die Frage nach unbewussten Prozessen wird über einen Vergleich von Kino und Traum eröffnet; dieser wird wesentlich über das nur gestiftet: Nur im Kino – Nur im Traum. Wie sich der Erwachsene im Kino jederzeit herausziehen, sich von der Wirkung des Films distanzieren könne, so könne man sich im Erwachen aus einem schlechten Traum „vollends davon […] überzeugen, dass es sich tatsächlich nur um einen Traum gehandelt hat“ (ders. 2004a, S. 134; Herv. S. W.). Nach Alpträumen, geht der Gedanke Das war ja nur ein Traum mit Erleichterung einher. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Umschwung im Textverlauf in gewisser Weise als eine Erleichterung interpretieren, als Erleichterung um ein mögliches Zuviel. Auf die Darstellung des Maximums evasiver Wirkkraft des filmischen Realitätseindrucks – welche selbst die Form einer Steigerung hat: Mehr noch als Phantasien, mehr noch als die Kunst entführt ‚uns‘ das Kino in eine andere Welt – erfolgt der Umschwung: Am Kind erweist sich dieses Maximum als nicht Zuviel. Diese Beweisführung hat selbst Ähnlichkeit mit dem dargestellten Erwachen aus dem Traum, und zwar insofern mit dem Umschwung der evasive Raum als abgegrenzter, geschützter Raum des Erlebens umrissen wird. Wie auch nach dem Erwachen Traum- und Wachwelt auseinandertreten, demonstriert Musatti an dieser Stelle, dass – im Unterschied zum kindlichen Erleben – sich für den Erwachsenen der evasive Raum von der sonstigen Realität abhebt. Es treten demnach im evasiven Raum Imagination und wahrgenommene Realität auf einer von der der tatsächlichen Realität unterschiedenen zweiten Ebene in Verbindung miteinander, ohne dass diese Verbindung ‚uns‘ in bedrohlicher, d.h. zwingender Weise einschließen würde. Es ist das Wissen nur ein Film, nur ein Traum welches hier mit einem Schutz des Publikums verknüpft ist – ein Wissen, um dessen mögliche schützende Funktion die LeserInnen am Ende der Passage wissen. Ist es eben dieses Wissen, welches in Musattis Konzeption gleichsam als Stütze der Trennlinie zwischen dem evasiven Raum des Filmerlebens und der sonstigen Realität fungiert, so entspinnt sich von dieser Feststellung ausgehend sein Vergleich von Traum und Kino: In beiden Fällen, so Musatti, handelt es sich um ein Geschehen mit hohem Realitätswert, welches gleichwohl auf einer anderen Ebene als der tatsächlichen Realität verortet wird. „Genau diese strukturelle Analogie zwischen Filmen, die wir sehen, und unbewussten Fantasien (oder, was auf dasselbe hinausläuft, Träumen) erlaubt auch einen gewissen ‚Austausch‘ zwischen beiden.“ (Ders. 2004b, S. 151) Musattis These lautet also, dass Michottes Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks als Gleichzeitigkeit einer höchst real wirkenden Welt, welche sich gleichwohl eklatant von ‚unserer Welt‘ unterscheidet, in gleicher Weise für unbewusste Phantasien Geltung hat. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, ist für Musattis Analogie von Filmerleben und unbewussten Prozessen das Wissen um das Nur entscheidend: Dieses liegt zufolge

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

dem Austausch zwischen Film und unbewussten Prozessen zugrunde, der ihm nach für die evasive Funktion des Kinos von entscheidender Bedeutung ist.

7.  Die Beziehung von Film und Unbewusstem – Im Traum nur ein Traum Musatti berichtet aus seiner psychoanalytischen Praxis, dass Elemente aus Filmen häufig in Träume seiner AnalysandInnen Eingang finden und schließt daraus, die Traumarbeit lege eine „besondere Vorliebe für Bilder aus kürzlich gesehenen Filmen“ (Musatti 2004a, S. 134) an den Tag. Als Tagesrest dienen diese, so Musatti, dazu, „bestimmten Impulsen und Begehrungen, die im Unbewussten am Werke sind, einen verstehbaren Ausdruck und eine halluzinatorische Aktualität zu verleihen“ (ebd.). Doch eine zweite Annahme ist für Musatti im Grunde entscheidender: Der Traum bediene sich dabei des filmischen Realitätseindrucks. „Dank ihrer Bildhaftigkeit“ hätten Traum und Film etwas gemein und beide wiesen einen hohen Grad an Realität auf, „ohne sich deswegen in die Realität selbst einzugliedern“ (ebd., S. 133). Dieser real-irreale filmische Realitätscharakter werde als Darstellungsmodus von der in der Traumarbeit wirksamen Abwehr in den Dienst genommen. Für gewöhnlich wird, so Musatti, die kinematographische Situation „mit mehr Distanz wahrgenommen […] als das, was im Traum zum Ausdruck kommt“ (ebd., S. 135). Die Zensur mache sich diese Wahrnehmungssituation zunutze: „Eine der Möglichkeiten, in der sich diese Abwehr in Träumen kundtut, ist […] genau der Eindruck, dass die Szene im Traum nicht vom Subjekt selbst erlebt, sondern vielmehr angeschaut wird wie im Kino.“ (Ebd.) Musatti spricht hier davon, die „Doppelung der Realitätsebenen“ werde besonders deutlich in Träumen, „in denen man träumt, dass man träumt: Wenn also die Szene des Traums ihre Wahrnehmbarkeit als solche behält, obwohl man sie im Traum selbst als etwas wahrnimmt, das nicht der tatsächlichen Realität angehört“ (ebd., S. 133). In diesem Zusammenhang findet sich erneut die Formulierung (vgl. o.): Nur ein Traum. Musatti schildert die Situation, in der jemand „im Zuge eines Traums plötzlich gewahr wird, dass ‚die Dinge schlecht laufen‘, dass also der Traum zu angsterfüllend ist und sich das Geschehen immer unerfreulicher entwickelt. Daher entscheidet sich die betreffende Person, dem Traum willentlich ein Ende zu setzen, indem sie versucht, jene Art von Trägheit zu besiegen (den ‚Wunsch zu schlafen‘), die sie daran hindert aufzuwachen und sich vollends davon zu überzeugen, dass es sich tatsächlich nur um einen Traum gehandelt hat.“ (Ebd., S. 133f.; Herv. S. W.) Bei diesen Träumen behalte „das Subjekt in gewisser Weise und in unterschiedlichem Ausmaß ein vages Gefühl dafür […], dass es sich im Grunde ‚nur um einen Traum‘ handelt; und in extremen Fällen hat man sogar deutlich den Eindruck, beim Träumen zu wissen, dass man träumt“ (ders. 2004b, S. 150). Musattis Vergleich von Träumen und Filme-Schauen geht von dieser Dopplung der Realitätsebenen aus: Die „besondere Resonanz unseres Unbewussten auf die Sprache des Films“ lasse sich zurückführen auf die „Ähnlichkeit, die solche Bilder, so wie wir

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sie erleben – in ihrem Realitätscharakter, aber losgelöst und wie auf einer ‚anderen‘ Ebene –, mit unbewussten Fantasien aufweisen“ (ders. 2004a, S. 143).14 Sowohl für das Erleben des Films wie für das Unbewusste gelte demnach, dass der Realitätssinn keinen Einspruch dagegen erhebt, wenn die Aspekte Tatsächlichkeit und auf einer anderen Ebene als die tatsächliche Realität nicht in Widerspruch miteinander geraten – ebenso wie im evasiven Raum Tatsächliches und Illusion ineinander übergehen können (vgl. o.). „Bei der Untersuchung der psychischen Prozesse des Unbewussten ist die Psychoanalyse inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass die klare Unterscheidung, die wir im bewussten Zustand zwischen Fantasie und Realität, zwischen reinem Denken und Handeln und zwischen dem Begehren und seiner Umsetzung machen, für das Unbewusste keinerlei Wert hat.“ (Ebd., S. 131) Wiederum ist das Kind an dieser Stelle ein Referenzpunkt: Es sei „die Logik des Unbewussten in vieler Hinsicht dieselbe wie die Logik des kindlichen Verstandes“ (ebd., S. 132), denn – so unterstreicht Musatti – auch in der kindlichen Psyche ist „die Forderung nach logischer und rationaler Kohärenz nicht existent […], muss sich die Ebene der Fantasie oder der Einbildung nicht von der Ebene der tatsächlichen, sinnlichen und wahrnehmbaren Realität unterscheiden“ (ebd., S. 134). Ausgehend von der Annahme der gleichzeitigen Involviertheit in ein als real erscheinendes Geschehen im Kino und dem Wissen Es ist nur ein Film verknüpft Musatti also den filmischen Realitätseindruck mit einer zentralen Charakteristik des Unbewussten. An der Faktur des Realitätseindrucks liest er die konflikthafte Verwicklung von Wunsch und Abwehr ab: Einerseits vermöge der Film Reaktionen zu erwirken, die denen gleichen, die Geschehnisse im realen Leben evozieren können, doch der gleichzeitige Eindruck, sich nur im Kino zu befinden, ginge mit einer Abmilderung einher. So hätten etwa Tränen im Kino einen besonderen Charakter: Es sind Tränen von „geringem Gewicht“ (ders. 2004b, S. 151) – doch „überraschen und erstaunen sie selbst jenen, der sich von ihnen hat ergreifen lassen, weil er sich über die Gründe seiner Gefühlsreaktion nicht im Klaren ist“ (ebd.). Die Gründe für eine derartige Wirkung sieht Musatti eben in einer Anrührung unbewusster Konflikte durch den Film. Wenn im Kino etwa auch banale oder ästhetisch wenig anspruchsvolle Szenen tief erschüttern könnten, so „müssen wir konstatieren, dass die Rührung nicht direkt vom filmischen Sachverhalt ausgelöst wurde, sondern dieser Sachverhalt seinerseits […] eine bestimmte Konfliktsituation oder eine emotionale Gestalt reaktiviert, die an vergangene Schichten unserer persönlichen Erfahrung gebunden sind und sich latent erhalten haben.“ (Ebd.) 14 | „Musatti […] takes up the comparison between films and dreams and notes how the representation elaborated by each have a peculiar ‚appearance of reality‘, which makes them both a copy of and something different from life. This characteristic of both cinematographic and oneiric images explains why it is so easy to transfer material back and forth between film and dreams.“ (Casetti 1999, S. 162)

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

Es ist Musatti zufolge gerade nicht der halluzinatorische Charakter, den der Traum mit dem filmischen Realitätseindruck gemein hat, sondern die doppelte Faktur der wahrgenommenen Realität, wie sie sich nach dem Erwachen oder beim Träumen zu träumen einstellt. Hier unterscheidet sich Musattis Auffassung ganz grundsätzlich z.B. von Jean-Louis Baudrys Position, dessen Texte im zweiten Teil untersucht werden. Baudry sieht gerade im halluzinatorischen Charakter eine Gemeinsamkeit der Wahrnehmung in Traum und Kino (vgl. II.3). Diesem zufolge impliziert der filmische Realitätseindruck gerade nicht den Aspekt einer von ‚unserer‘ abgegrenzten Realität. Während Baudry dementsprechend von einer Homogenität des Realitätseindrucks ausgeht, basiert Musattis Konzeption auf der Annahme eines paradoxen Eindrucks eines Geschehens auf anderer Ebene – sowohl in Bezug auf den Traum als auch in Bezug auf die Filmerfahrung. So unterstreicht Musatti: „Gleichwohl ist die Realität des Films nicht etwa die einer Halluzination. In jedem Moment ist es möglich, uns aus ihr zurückzuziehen, uns bewusst zu werden, dass wir uns nur im Kino befinden und die wahre Realität, in der sich unser Leben abspielt, eine andere ist.“ (Ebd., S. 145f.; Herv. S. W.) Aus diesem Grund blieben Filmszenen bei gleichzeitig hoher Affizierung des Publikums für dieses doch meist „pleonastisch und nebensächlich“ (ebd., S. 158). Die hiermit verbundene „Abschwächung“ sieht Musatti, wie skizziert, von den „verdrängenden Kräften“ ausgehen (ders. 2004a, S. 138) – eine Abschwächung, die im Dienste der Abwehr genau jenes unbewussten Szenarios steht, welches zugleich „von der filmischen Szene in Gang gesetzt wird“ (ders. 2004b, S. 152). Die um verdrängte Wünsche kreisenden Phantasien können demzufolge in Deckung der Abwehr (die in Form der Distanz erlebt wird) in eine Art Korrespondenz mit den filmischen Szenen treten. Als einen wesentlichen Mechanismus dieser Verschlingung von filmischen Szenen und unbewussten Prozessen sieht Musatti die Identifikation: „Einerseits kann also die kinematografische Situation dank des Abstands zwischen Film und Realität […] genutzt werden, um bestimmte Identifikationen […] abzuschwächen“ und andererseits „aber verdankt sich die emotionale Wirkungsmacht dieser Situation gerade auch der Möglichkeit zur Identifikation, die sie anbietet“ (ders. 2004a, S. 139; Herv. S. W.). Mit der Formulierung einerseits-andererseits unterstreicht Musatti die von ihm angenommene Verschaltung des filmischen Realitätseindrucks mit der grundlegenden Konflikthaftigkeit unbewusster Prozesse, d.h. das Ineinangreifen der konflikthaften Verbindung von Wunsch und Abwehr mit der paradoxer Faktur von Mehr real und Mehr irreal: Einerseits schwäche das durch den Abstand zwischen der filmischen und der sonstigen Realität (Mehr irreal, nur ein Schauspiel) die Identifikation mit Figuren auf der Leinwand, andererseits prädestiniere der (gegenüber anderen Künsten) erhöhte Tatsächlichkeitsgrad (Mehr real) im Kino unbewusste Übertragungsprozesse. Dies ist im Wesentlichen Musattis Antwort auf die von ihm selbst einleitend aufgeworfene Frage danach, in welch ‚direktem Bezug‘ (vgl. ebd., S. 126; s.o.) unbewusste Prozesse und filmischer Realitätseindruck zueinander stehen. In diesem Erklärungsmodell hat die Abwehr

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eine dem Wissen Es ist nur ein Film vergleichbare Funktion: Beide distanzieren das Publikum vom filmischen Geschehen, sie sind verbunden mit dem Schutz vor einer übergreifenden Wirkung des Films, die im Sinne eines Zuviels über die Grenzen zwischen filmischer und sonstiger Welt und somit über die Abgrenzung des evasiven Raums hinausgehen würde. So heißt es z.B.: „Wir identifizieren uns mit verschiedenen Figuren und leben ihr Leben, ohne uns deswegen einer Gefahr auszusetzen, ist doch die Ebene der filmischen Realität eine andere, eben weil der Abstand zwischen ihr und der tatsächlichen Realität herrscht.“ (Ders. 2004a, S. 138) Insbesondere die Identifikation mit Helden auf der Leinwand sieht Musatti mit der evasiven Funktion des Kinos verknüpft. „Der gesamte Prozess, durch den sich Evasion und Identifikation vollziehen, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Der Zuschauer will sich von seinem Alltag lösen und sich in eine Welt, eine Umgebung und eine Geschichte versenken. Er findet sie in den Helden, die sich im Kino seiner Bewunderung darbieten, aber empfindet diese zugleich als weit entfernt und unerreichbar.“ (Ders. 2004b, S. 154) Doch – zumindest in begrenztem Maße – könne diese strikte Begrenzung des evasiven Raums auch überschritten werden; wenn z.B. die evasive Funktion sich in den Alltag hinein erstrecke und das Publikum seine Helden mit nach Hause nähme. Ausgehend von diesen Erwägungen bezüglich der Überschreitung der Grenzen zwischen filmischer und sonstiger Realität geht Musatti auf die Frage nach der vom Kino ausgehenden suggestiven Gefahr ein. Ein brenzliger Punkt der Beziehung zwischen Film und Publikum ist damit angesprochen: „Genau in dieser Fortführung der Identifikation […] besteht das, was man für gewöhnlich die suggestive Wirkung des Kinos nennt“ – wobei sich in diesem Fall mit der Identifikation sich auch die evasive Funktion verlängere: „Weit davon entfernt, sich auf die kurze Zeit der Vorführung zu beschränken, perpetuiert sich damit auch die evasive Funktion des Kinos.“ (Ebd.) Das Potential der Suggestion sieht Musatti damit mit der evasiven Funktion selbst verbunden. Beschrieben ist die Suggestion als ein Fall von Grenzverlust: Der Film bleibe dann nicht nur ein Film. Besonders prekäre Folgen sieht Musatti im Fall einer Ansteckung des Publikums durch filmisch dargestellte Gewalt, dann also, wenn die Gewalt die Grenzen der Leinwand überschreitet und sich verlängert in den alltäglichen Raum der Zuschauenden. Der schützende Rahmen der Evasion wird in diesem Fall gesprengt. Musatti Erwägungen zufolge korrespondieren diese Ernstfälle absoluter Grenzüberschreitung sowohl mit der Realität des Unbewussten als auch mit dem beschriebenen kindlichen Wahrnehmungsmodus – in beiden Fällen liegen Musattis Formulierung zufolge Phantasie und Realität auf einer Ebene. Ganz deutlich wird an dieser Stelle die Assoziation von dieserart ungerahmten Überschreitungen mit Gefahr. Bevor ich abschließend auf Musattis Auseinandersetzung mit solcherart gefährlichen Ernstfällen filmischer Suggestion eingehe, folgt zunächst eine Rekapitulation meiner vorangegangenen Lektüre.

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

8. Rekapitulation Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung mit Figuren von Grenzüberschreitungen in diesen beiden Texten von Musatti war die im vorhergehenden Abschnitt in den Blick genommene theoretische Konzeption des Kinos als universelle Institution von Cohen-Séat (vgl. I.2). Dessen Vision vom Kino als eine Institution im Dienste des modernen Fortschrittsversprechens, die gesamte Menschheit in Form einer Einheit zu verbinden, zeigte sich hier mit den Ansätzen unterschiedlicher filmologischer Vertreter verschiedenster Disziplinen in einer wesentlichen Hinsicht verbunden: Grenzüberschreitende Aspekte des Kinos werden stets auf die Grenze zur alltäglichen Welt hin gedacht. Vom Publikum wird in den von mir vorgestellten filmologischen Ansätzen angenommen, dass dieses im Erleben prinzipiell die Ebene der Darstellung von der Ebene der tatsächlichen Realität zu unterscheiden weiß, auch wenn das filmische Erleben durch den Eindruck eines – im Vergleich zu anderen ästhetischen Darstellungsformen – gesteigerten Tatsächlichkeitswerts charakterisiert wird. Michotte van den Bercks Auffassung des filmischen Realitätseindrucks war für die in diesem Zusammenhang zentrale Frage nach der filmischen Wirkung auf das Publikum ein wichtiger Bezugspunkt für diverse Filmologen; auch für Musatti, welcher dessen Konzeption aus psychoanalytischer Sicht weiter entwickelt. In diesem Abschnitt habe ich untersucht, wie Musatti das Motiv der Grenzüberschreitung en detail formuliert. Im Zentrum dieser Untersuchung stand dabei die der Argumentation Musattis zugrundeliegende Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel – verschiedene Aspekte wurden von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Dabei war es das Ziel herauszustellen, dass und inwiefern diese Figur als ein Grundmuster der musattischen Argumentation zugrunde liegt, welches als wiederkehrendes Textsymptom identifiziert werden kann. Musatti bestimmt die von Michotte aufgenommene Annahme einer gedoppelten Realitätsebene stets in Abgrenzung zum kindlichen Wahrnehmungsmodus, welcher durch fehlende Grenzen zwischen ästhetischer und sonstiger Realität charakterisiert wird. Mit eben der Abgrenzung zwischen einem ‚grenzbewussten‘ erwachsenen Publikum (dem Publikum um Allgemeinen) und einem kindlichen (speziellen) Publikum erweist sich das Textsymptom Mehr als nur, aber nicht Zuviel wiederholt verbunden – wobei die begrifflichen Grenzziehungen stellenweise in selbst grenzüberschreitender Weise vollzogen werden. So beginnt Musattis Text „Kino und Psychoanalyse“ mit einem ausführlichen Schlenker, in dem dieser darlegt, worum es in seinem Text nicht gehen werde (um eine Untersuchung psychoanalytischer Filme) (1.). In diesem Schlenker ist in verschiedener Hinsicht eine Gegenüberstellung zentral, welche sich im weiteren Textverlauf auf anderer Ebene als eine wiederkehrende Figur erweist: Die Gegenüberstellung eines Jemand, der um die Differenz zwischen Tatsächlichen und Dargestellten weiß und eines Jemand, der um diese Differenz nicht weiß. Steht auch in Musattis Konzeption die Frage der Differenz von filmischer und sonstiger

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Realität im Zentrum, so verweist diese auch auf die im vorhergehenden Kapitelabschnitt thematisierte filmologische Auseinandersetzung mit dem fortschrittlichen Charakter des Kinos (2.). Es ist der real-irreale Charakter des filmischen Realitätscharakters und das Erscheinen der filmischen als von der sonstigen Welt unterschiedene, die in der Filmologie mit dem progressiven Potential des Mediums verknüpft wird (vgl. I.2). In einem Vergleich der Realitätseindrücke im Theater und im Kino spricht Musatti letzterem eine Steigerung in zweifacher Hinsicht zu: Gegenüber dem Theater erwecke der Film einen höheren Grad an Tatsächlichkeitswert der Darstellung und gleichzeitig habe der filmische Raum irrealeren Charakter als der im Theater (3.). Musatti unterstreicht in diesem Zusammenhang: Gleichwohl im Kino Mehr als im Theater der Eindruck eines realen Geschehens erweckt werde, würde das Publikum gleichwohl der Unterschiedenheit von filmischer und sonstiger Realität gewahr sein und verwechsele nicht Film und Realität – kurz: der filmische Realitätseindruck ist demnach Mehr real, aber nicht Zuviel. Untersucht wurde eine weitere Textpassage, in der in einem ausschweifenden Bogen dieses Zuviel als nicht zugehörig zu dem im Kino typischerweise entstehenden Eindruck herausgestellt wird (4.). Wiederholt arbeitet Musatti hier mit der Gegenüberstellung eines Jemand, der filmische und sonstige Realität zu unterscheiden weiß (erwachsenes Publikum) und eines anderen, dem die Ebenen verschwimmen (kindliches Publikum). Auch Musatti setzt sich – ebenso wie z.B. Cohen-Séat (vgl. I.2) – ausgehend vom filmischen Realitätseindruck mit der evasiven Funktion des Kinos auseinander (5.). Wieder findet sich hier die Figur einer Steigerung, welche durch die Feststellung aber nicht Zuviel begrenzt wird: Das Kino sei ein Instrument der Evasion von maximaler Wirkkraft – aber sei nicht gleichbedeutend mit einem absoluten Grenzverlust. Evasion wird vielmehr als ein abgegrenzter Bereich der Erfahrung beschrieben, innerhalb dessen Grenzen Verflüssigungen von Grenzen und Überschreitungen des alltäglichen Erfahrungsspektrums statthaben. Es ist dabei die Idee eines In-der-Schwebe-Bleibens zwischen Realität und Phantasie, zwischen innerer und äußerer Realität, welche Musattis Auffassung der Evasion mit Winnicotts Konzeption des Übergangsraums verbindet (6.). Sowohl Übergangsraums als auch evasiver Raum setzen das Halten einer Balance voraus. Diese Balance verdeutlicht Musatti in einer weiteren von mir untersuchten Passage, in welchem dieser als Negativ dieser idealen Balance zweierlei kindliche Modi der Filmerfahrung ausführt: Ein Kind, welches von der filmischen Darstellung überfordert der sonstigen Realität verhaftet bleibt und ein Kind, welches zu sehr vom filmischen Geschehen erfasst die filmische Realität mit einem tatsächlichen Szenario verwechselt. Der Verlauf des Texts wurde hier von mir als Umschwung beschrieben: Just an dem Punkt, an dem das Maximum der evasiven Kraft des Kinos erörtert wird, wendet sich der Text und widmet sich anhand jener zwei Beispielfälle dem Gegenteil einer maximalen Evasion zu, nämlich Fällen des Ausbleibens evasiver Erfahrung. Die hierfür Musatti nach notwendige

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Balance wird auch in Bezug gesetzt zum Erwachen nach einem Traum – es ist der Gedanke Das war ja nur ein Traum, auf dem der für Musattis Konzeption zentrale Vergleich von filmischen Realitätseindruck und Traumerleben basiert. Der Umschwung der Darstellung – vom Maximum zum Ausbleiben der Evasion – ist vergleichbar eben jener Situation des Erwachens, wie sie der Autor schildert: So führt der Textverlauf den LeserInnen vor Augen, dass selbst ein höchstvorstellbares Maß an Realitätsflucht im Kino die Differenz zwischen filmischer und sonstiger Realität nicht völlig vergessen macht – die Beispiele von den Kindern im Kino lassen daran denken, dass Evasion im Kino für ‚uns‘ (das erwachsene Publikum) nicht Zuviel an Grenzüberschreitung ist. Nicht der Traum als solches, sondern speziell die Träume, in denen man träumt zu träumen, sind für Musatti der Vergleichsfall zum filmischen Realitätseindruck (7.) – es geht hierbei eben um die Doppelung der Realitätsebenen. Die in beiden Fällen typische Mischung aus realen und irrealen Aspekten setzt Musatti in Beziehung zur Konflikthaftigkeit von unbewussten Wünschen und ihrer Abwehr. Im Kino, so Musatti, kann diese einer Distanzierung von den von der filmischen Situation angestoßenen unbewussten Phantasien und Identifizierungen entgegenwirken. Verdrängte Phantasien, so Musattis Formulierung, wirken stets wie tatsächliche Taten – das Unbewusste kennt keine Differenz von bloß Vorgestelltem und tatsächlich Gemachtem. Insofern korrespondieren ihm zufolge die im Kino wirksamen unbewussten Prozesse der Erwachsenen mit dem kindlichen Erleben des Films: als unmittelbare, tatsächliche Realität. Der Eindruck einer wie tatsächlichen Welt, an der leidenschaftlich Anteil genommen wird, zeuge von dem Angesprochen-Sein unbewusster Phantasien – im Dienste der Abwehr stünden dabei die irrealen Aspekte der filmischen Szenen, die mit der distanzierten und auch distanzierenden Haltung in dem Wissen Und doch ist es nur ein Film verbunden seien. Es schließen sich Erwägungen über die Gefahr der suggestiven Wirkung des Kinos an – Was ist, wenn sich die evasive Funktion über die Kino-Vorstellung hinaus in den Alltag des Publikums verlängert? Was, wenn z.B. die auf der Leinwand gesehene Gewalt und mit ihr verbundenen (unbewussten) Phantasien in Taten umgesetzt werden? Es ist der Ernstfall des Zuviels, der von Musatti in diesem Zusammenhang erörtert wird. Es zeigte sich somit in meiner Lektüre, inwiefern die Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel ein sich wiederholendes Grundmuster der Texte darstellt. Nach diesem Modell beschreibt Musatti den filmischen Realitätseindruck von ‚uns‘, dem erwachsenen Publikum im Allgemeinen – und zwar stets in Abgrenzung zum speziellen, meist kindlichen Publikum, welches das Zuviel verkörpert. Im Mehr als nur, aber nicht Zuviel verbinden sich Bestimmungen grenzüberschreitender Aspekte der Kinoerfahrung (Mehr als) mit Grenzziehungen (nicht Zuviel). Wobei an mehreren Passagen deutlich werden konnte, dass die von der Argumentation gezogenen Grenzziehungen und Abgrenzungen (des Begriffs des filmischen Realitätseindrucks gegenüber einem möglichen Zuviel an Grenzüberschreitung) selbst in vielfach überschüssiger (umständlicher, ausladender, abrupter) Weise

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vollzogen werden. Diese sind Hinweise auf eine gewisse Aufgeladenheit dieser Grenzziehungen, daher kann die Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel als ein Textsymptom gelten. Musatti legt offensichtlich Wert darauf, mit dieserart Be- und Abgrenzungen die Kinoerfahrung in einem vor totalen Überschüssen geschützten Raum der Evasion zu situieren – oder genauer: deren Regelfall. Auf diese Weise wird der filmische Realitätseindruck abgesondert von einem gefährlichen suggestiven Wirkungspotential – dieses beschränkt Musatti auf Spezialfälle (etwa des kindlichen Publikums). Abschließend möchte ich nun noch eine Passage näher beleuchten, in der sich Musatti mit dieserart Ernstfall einer Aufhebung der Grenzen der spielerischen Sphäre der Evasion auseinandersetzt – denn es sind künstlerische Inszenierungen von Ernstfällen, die im darauffolgenden Kapitelabschnitt im Zentrum stehen werden (vgl. I.4).

9. Ansteckungsgewalt: Zuviel – Wenn aus Spiel Ernst wird Ausgehend von der Frage nach der suggestiven Macht des Kinos verbindet Musatti seine vorherigen Überlegungen zu der Beziehung zwischen Film und Unbewusstem mit medienpädagogischen Erwägungen. Die „vielerorts geäußerte Befürchtung“ (Musatti 2004b, S. 155), das Kino könne sich auf das Publikum, und insbesondere das jugendliche, negativ auswirken, gründe in beobachtbaren Konsequenzen einer in den Alltag verlängerten Identifikation (s.o.). Solche suggestiv genannten Wirkungen decken ihm nach ein breites Spektrum ab, welches von „der bloßen Nachahmung von Ticks, Gesten und Ausdrucksweisen“ oder der „Übernahme von Kriterien der moralischen Beurteilung […] bis zur Wiedergabe spezifischer Verhaltensweisen und schließlich zur Ausführung bestimmter Handlungen“ (ebd., S. 154) reiche. Doch sei es wichtig, dieser Befürchtung differenziert zu begegnen, werde diese doch häufig „als Anklage in vager und ungenauer Form vorgetragen und auch nur deshalb, weil es bequem ist, einem besonders publikumswirksamen modernen Medium alle Übel anzulasten, die bei der moralischen Entwicklung der Jugendlichen zu beklagen sind“ (ebd., S. 155). Dem Gangsterfilm etwa werde zur Last gelegt, Kriminalität und Gewalt bei Jugendlichen hervorzurufen. Die Verantwortung dafür, so Musatti, trage aber nicht der Gangsterfilm. Sähen die Ankläger des Kinos aus dem Interesse an gewalttätigen Filmen kriminelle Impulse hervorgehen, sei vielmehr umgekehrt anzunehmen: Aufgrund krimineller Impulse entstehe ein einseitiges Interesse an derartigen Filmen. „[D]iese Impulse gehen nicht aufs Konto der Filme. Vielmehr sind bei den Jugendlichen bereits – latent oder manifest – starke aggressive Tendenzen zu verzeichnen, weshalb ihnen diese Filme gefallen.“ (Ebd.) Und Musatti hält, das Kino verteidigend, fest: „Es ist daher notwendig, Vorsicht walten zu lassen, bevor man alle Filme boykottiert, die in der einen oder anderen Weise gewalttätige Episoden enthalten oder Verhaltensweisen darstellen, die antisozial sind oder in unserem gesellschaftlichen Leben dem Tadel oder der Bestrafung

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

unterliegen und deshalb geeignet scheinen, kriminelle Tendenzen zu befriedigen.“ (Ebd.) Denn durchaus könnten dieserart Filme „ein Sicherheitsventil“ (ebd.) darstellen, welches davor schütze, die im Kino gesehene Gewalt im realen Leben auszuleben. Im Folgenden treten beispielhaft als ehrenwert beschriebene erwachsene Personen auf, anhand derer diese mögliche kathartische Funktion belegt wird – ein „alter Richter“ und „Gebildete mit hoch entwickeltem Geschmack“ (ebd.). Diese scheuten sich nicht, nach getaner Arbeit am Abend Filme zu schauen, die „von einer Atmosphäre der Gewalt durchtränkt sind“ oder des Sonntags dem Spiel lokaler Fußballteams „mit Schreien, Fluchen und ausdrücklichen Bekundungen des Enthusiasmus“ beizuwohnen (ebd.). Diese Männer sind sich Musattis Schilderung zufolge des „nicht eben würdevollen Charakters“ (ebd.) ihres Verhaltens sehr wohl bewusst. Im Rahmen „sonntägliche[r] Realitätsflucht“ könnte so „kämpferischen Impulsen freien Lauf“ gelassen werden (ebd.), was die Voraussetzung nicht zuletzt dafür sei, den Belastungen und Verzichtsanforderungen der beruflichen Pflichten im Alltag standzuhalten. Diese ‚ehrenwerten‘ Männer wissen demnach Spiel und sonstige Realität, letztlich auch Arbeit und Spiel zu unterscheiden und kommen so in den Genuss der Evasion. Eine pauschale Ablehnung gewalttätiger Filme würde, so Musatti, die Möglichkeit der damit einhergehenden kathartischen Wirkung bei dieserart Publikum nicht berücksichtigen. Statt solcherart Kritik am Kino fordert Musatti Differenzierung in der Frage: Wann schützt das Kino vor „antisozialem Verhalten“ und stillt in „harmloser Form unbewusste Regungen“ und wann „wiederum werden diese Regungen ihrerseits durch das Kino verstärkt, so dass aus Unbewusstem und Verdrängtem Tendenzen werden, die das Subjekt übernimmt und sein reales Verhalten mit Verhaltensweisen durchsetzt, welche die Suggestionen des Kinos aufgreifen und nachahmen“ (ebd., S. 156)? Musattis Antwort lautet: Für Erwachsene, die „gut in der tatsächlichen Realität verankert und in der Lage sind, deutlich zwischen den Ebenen der Realität und der Fantasie zu unterscheiden“, könne eine „gefährliche Wirkung“ „ohne weiteres“ ausgeschlossen werden (ebd., S. 156). Die nur vagen und ungenau begründeten Befürchtungen bezögen sich fälschlicherweise auch auf das erwachsene Publikum, dem es in der Regel gelänge, „die emotionalen Faktoren während der Filmrezeption auf diese Situation festzuschreiben und zu verhindern, dass es zu Folgewirkungen oder Suggestivwirkungen kommt“ (ebd.). Eine Gefahr hingegen stelle sich bei Jugendlichen ein, die „die kindliche Unfähigkeit noch nicht überwunden haben, die Ebenen auseinander zu halten“ (ebd.). Musatti fragt, wie dieser Gefahr von Seiten der Filme begegnet werden könne. Bezüglich der formalen Gestaltung seien genauere Aussagen und Empfehlungen schwer zu treffen. Denn jeglicher Versuch der Einschränkung der suggestiven Wirkung beträfe auch die Bedingungen der Identifikation und damit der Evasion – insofern ja „die Suggestivwirkung nichts anderes ist als eine verlängerte Identifikation“ (ebd., S. 157). Eine Minderung der Identifikationsangebote eines

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Films mit dem Ziel, die suggestive Wirkung einzudämmen, griffe zugleich auch die vom Kino gebotene evasive Funktion an. In Anschluss an diese Überlegung kommt Musatti zu dem Schluss: „Was man vermeiden sollte, ist die konkrete und direkte Wiedergabe von Gewaltakten in allen Details ihrer Ausführung, und das unabhängig davon, welche Stellung sie im Gesamtzusammenhang der Erzählung einnehmen, beispielsweise auch unabhängig davon, ob der Verantwortliche im Film verurteilt wird und seine Taten sühnen muss. Eine solche konkrete, in die Einzelheiten gehende Darstellung ist in der Tat besonders geeignet, auf der Grundlage einer natürlichen Disposition zur Gewalt, sei sie nun verdrängt oder nicht, eine intensive Suggestivwirkung auszuüben, die zur Nachahmung verleitet.“ (Ebd.) Vermieden werden soll also eine Verführung, die Grenzen des Spiels zu überschreiten. Was Musatti hier vorschlägt zu vermeiden, ist nun genau das, was der Künstler Santiago Sierra in seinen Arbeiten tut – seine wesentliche künstlerische Strategie besteht in der expliziten Zurschaustellung von körperlicher Gewalt. In der Anwendung von destruktiven Verfahren richten sich diese Inszenierungen gegen die für Musatti gewichtige Grenze zwischen ästhetischer und sonstiger Welt. Diese Grenze wird von Sierra im buchstäblichen Sinne angegriffen und qua Anwendung von Gewalt überschritten. Im Folgenden werde ich zeigen, inwiefern Musattis Filmtheorie und Sierra künstlerische Inszenierungen fundamental differente Zugänge zu der Frage des spielerischen Charakters ästhetischer Darstellungen implizieren. Sierras Aktionen demonstrieren eine Deckungsgleichheit von dargestelltem und erlebtem Leid – die Personen, die hier zu Schaden kommen, spielen ihre Schädigung nicht. Sierras Inszenierungen lassen sich als ein Spiel (im Sinne einer künstlerischen Inszenierung) beschreiben, in dem paradoxerweise nichts gespielt und alles echt zu sein scheint. Musatti hingegen beschreibt ein Spiel, welches als Spiel erkennbar bleiben muss, um ein Spiel zu sein. Ich werde zunächst herausarbeiten, welche Beziehungen zum Spiel Musattis und Sierras Darstellungen jeweils aufweisen. Ich gehe also davon aus, dass sowohl Musattis Theorie als auch Sierras Inszenierungen Aussagen über das Spielerische ästhetischer Erfahrung enthalten. Mit diesem Vergleich ist der Ausgangspunkt für eine Deutung von Musattis Textsymptom Mehr als nur aber nicht Zuviel gewonnen: In der Konstellation von Musattis und Sierras Konzeptionen des Spiels werde ich dann im nächsten Schritt analysieren, welche spielerischen Momente in diesen Konzeptionen selbst enthalten sind. Auf diesem Weg wird Musattis Gegenüberstellung von kindlichem und erwachsenem Publikum – in Anschluss an Pfaller (2002; vgl. Einführung; vgl. I.1) – als ein Symptom spielerischen Lustgewinns in der Kulturindustrie ausweisbar. Die Annahme von der Gefährdung durch eine mögliche überschüssige Wirkung erweist sich in Konstellation mit Sierras Inszenierungen selbst als begleitet von einem gewissen Überschuss. Es geht also nun darum, den von Musattis Theorie mitgeführten verschwiegenen

Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel

Gewinn herauszustellen (vgl. Einführung; I.1). Dieser Gewinn wird, wie zu sehen sein wird, im Wesentlichen bezogen aus der theoretischen Distanzierung von ‚uns‘, dem Publikum im Allgemeinen, und dem speziellen Publikum. Die thematische Brücke (vgl. Einführung) zwischen diesem und dem nächsten Kapitelabschnitt besteht also darin, dass Musatti das theoretisiert, was Sierra tut – Musatti spricht über spielerische Momente in ästhetischer Erfahrung der RezipientInnen, Sierra bietet seine Gewaltspiele den RezipientInnen dar. Beide stellen sehr unterschiedliche Formen von Spielen dar. Ich werde Musattis Spielkonzeption im Folgenden durch Sierras Spiel hindurch lesen und anders herum. Theoretische Figuren und künstlerische Inszenierung sind somit in meiner Herangehensweise auf einer Ebene angesiedelt – beide werden daraufhin befragt, welcher Art Spiele hier jeweils präsentiert und gespielt werden. Ziel ist dabei nicht allein die Herausstellung der Unterschiede der beiden Spiel-Konzeptionen. Vielmehr geht es darum, die in dieser Konstellation von theoretischem und ästhetischem Material sich kristallisierenden Schnittpunkte herauszuarbeiten (vgl. I.1), in denen sich – so die Annahme – unbewusste Dynamiken des Spiels in der Kulturindustrie fortsetzen (vgl. Einführung). Ein zentrales Ergebnis wird dabei lauten, dass die These vom Verschwinden des Spiels (vgl. Einführung; I.1), der Sierra in gewisser Weise zuarbeitet, zur Logik des spielerischen Moments in der Kulturindustrie gehört (vgl. I.4; I.5).

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I.4 Drastisches Spiel – Vom humoristischen Moment kulturindustrieller Grenzüberschreitungen Nachdem die Figuration Mehr als nur, aber nicht Zuviel des Motivs der Grenzüberschreitung in Musattis Theorie herausgearbeitet wurde, wird diese nun in Konstellation mit Arbeiten des zeitgenössischen Künstlers Santiago Sierra als Symptom für unbewusste Dynamiken kulturindustrieller Erfahrung in den Blick genommen. Während Musatti um das Mehr der filmischen Wirkung eine Demarkationslinie in Form des nicht Zuviel zieht, treibt Sierra in gewisser Weise das Spiel über seine Grenzen hinaus. Musatti nimmt, wie gesehen, eine vorsichtige Haltung in der Frage ein: Was empfiehlt sich angesichts der potentiell suggestiven Wirkung von konkreten Gewaltdarstellungen im Kino? Er rät, auf diese weitgehend zu verzichten. Im Bereich der Kunst thematisiert Sierra konkrete Gewaltdarstellung auf seine Weise. Sierra exponiert, ja arbeitet mit konkreter Gewalt – dieser gibt dem Publikum zu sehen, wovon Musatti bezüglich des Kinos abrät. In Bezug auf Sierras Arbeiten ist in der Sekundärliteratur und in Rezensionen häufig von Grenzüberschreitung die Rede und davon, es handele sich hier um Mehr als nur eine Darstellung. Es würde, so ein relevanter Tenor, von Sierra nicht bloß etwas abgebildet und gezeigt, sondern tatsächlich etwas hergestellt – durch reale Ausübung von Gewalt wird tatsächlicher Schaden erzeugt, was nicht selten als Zuviel bewertet wird. Auch hier spielen die für Musattis Texte zentralen Figuren von Grenzüberschreitung, Mehr als nur und Zuviel eine Rolle – es liegt somit eine thematische Verbindung zwischen Musattis Texten und Sierras Arbeiten vor. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, inwiefern ausgehend von dieser thematischen Verbindung ein innerer Zusammenhang dieser Konstellation erschlossen werden kann (vgl. Einführung). In der Auseinandersetzung mit dem Spiel wird ein wesentlicher Fokus auf dessen Beziehung zum Humor liegen. Humoristische Elemente des Spiels wie auch spielerische Momente des Humors werden dabei als Schnittstelle von Kunst und Theorie situiert (vgl. I.1). Letzten Endes kann diese auf ein in der Kulturindustrie wirksames ambivalentes Verhältnis von Ent- und Begrenzung bezogen werden und auf diesem Wege eine Deutung der für dieses

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ästhetische und theoretische Material spezifischen Inszenierungen von grenzüberschreitenden Aspekten des Spiels gegeben werden. Ich werde dabei folgendermaßen vorgehen: Zunächst werden Musattis Darstellung und Sierras Inszenierung einer vergleichenden Untersuchung unterzogen ausgehend von der Frage: Welcher Art Spiele werden jeweils dargestellt? Um den Unterschied zwischen den in Musattis Texten dargestellten und den in Sierras Aktionen inszenierten Spielen herauszuarbeiten, werde ich auf Pfallers Unterscheidung von positiven und negativen Spielen zurückgreifen (Pfaller 2002; 2008). Während Musattis Konzeption der Kinoerfahrung als Beschreibung eines positiven Spiels einzuordnen ist, haben Sierras Inszenierungen die Form eines negativen Spiels. Der Unterschied zwischen einem positiven und einem negativen Spiel besteht Pfallers Bestimmung nach nicht darin, dass es sich bei dem einen um ein Spiel handele und bei dem anderen nicht. Vielmehr fasst dieser das negative Spiel als eine Spielverweigerung auf und auch diese ist ihm zufolge ein Spiel (vgl. ders. 2008, S. 40f.) – gespielt wird hier, nicht zu spielen. Gleichwohl wertet Pfaller solcherart Wendung gegen das Spiel, wie sie Sierras Inszenierungen m.E. implizieren, als eine allgemein in der gegenwärtigen Kunst und Kultur zu beobachtende spielfeindliche Tendenz (vgl. Einführung), die nicht zuletzt in Verbindung mit einem gewissen Moralismus steht. In dieser Tendenz stehende Spiele der zeitgenössischen Kunst erzeugen Pfaller zufolge „kaum Lust […], sondern vielmehr ernste Selbstachtung – das Publikum verlässt nachdenklich gestimmt den Ausstellungsraum und ist dabei stillschweigend ein wenig stolz auf seine eigene ernste Nachdenklichkeit“ (ebd., S. 59). Humorlosigkeit ist für Pfaller ein wichtiges Merkmal negativer Spiele im Unterschied zu positiven. Ausgehend vom Begriff der ästhetischen Grenze werde ich im ersten Schritt zeigen, inwiefern Sierras Inszenierungen als ein Gegenstück zum Humor beschrieben werden können. Es bleibt aber damit die Frage offen, inwiefern es sich gleichwohl auch bei negativen Spielen um Spiele handelt, wenn – wie Pfaller anzunehmen scheint, diesen eine Wendung gegen spielerische Lust (welche demnach mit einem humoristischen Moment ausgestattet ist) eigen ist? Dieser Frage folgende, wird in einem nächsten Schritt ein zweites Kriterium der Unterscheidung von positiven und negativen Spielen hinzugezogen: Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein der Vorstellung eines naiven Beobachters. Pfaller bezeichnet diese Vorstellung als eine Einbildung der anderen, der er für den (auch dem psychischen Vorgange des Humors verwandten) Lustgewinn am Spiel (in seinen illusionären Aspekten) entscheidende Bedeutung beimisst. Mit diesem Instrumentarium untersuche ich, welche Gegenfiguren den beiden Darstellungen je inhärent sind (in Musattis Theorie sind dies das Publikum im Allgemeinen und das spezielle Publikum – in Sierras Aktionen diese selbst und Kunstwerke der Minimal Art). Auch in diesem Zusammenhang erscheinen Musatti und Sierra als Gegenspieler: Sierra richtet sich gegen eben jenes Wissen, welches Musatti zufolge für die ästhetische Erfahrung maßgeblich ist, nämlich das Wissen des Publikums im Allgemeinen um den Unterschied zwischen ästhetischer

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und sonstiger Realität. Die damit verbundene Figur des speziellen Publikums, welches diese Differenzierung Musatti zufolge nicht trifft, kann mit Pfaller als Symptom eines für den kulturellen Lustgewinn konstitutiven Ambivalenzkonflikts1 ausgewiesen werden. Dann erfolgt eine entscheidende Wende in meiner Darstellung: Unter Rückgriff auf Freuds Ausführungen zum Humor in „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908e) wird die bisherige Gegenüberstellung von Sierra als ‚humorloser‘ Gegner von Musattis ‚humorvoller‘ Theorie durchkreuzt. Gezeigt wird: Auch Sierras Aktionen implizieren ein humoristisches Element – womit ausgewiesen ist, inwiefern es sich auch bei diesem negativen Spiel um ein Spiel handelt. Dieses Element ist, so wird mein Ergebnis lauten, einmal in Wendung gegen totale Grenzüberschreitung (Musatti) und einmal gegen Grenzziehung (Sierra) zwischen Spiel und sonstiger Realität situiert – und: Diese Wendungen sind in sich ambivalent. Das von Sierra so eindrücklich demonstrierte Verschwinden des Spiels (wie es der zeitgenössischen Kultur insgesamt derzeit attestiert wird; vgl. I.1) kann somit selbst auch als Teil des Spiels verstanden werden, d.h. als kulturelle Form, in der paradoxerweise gerade in spielfeindlicher Wendung spielerische Lust gewonnen wird.

1. Drastisch „Zu viel“ lautet die Überschrift eines Artikels von Saar in der Zeitschrift polar, in dem Sierras Werke als ein Beispiel drastischer Kunst erwähnt werden. „Wer im ästhetischen Kontext drastisch wird, zeigt, dass nicht nur gespielt wird, sondern dass es ernst ist, dass die Kunst das Leben nicht beschönigt, überhöht oder verklärt, sondern mit den auch schmerzlichen Tatsachen des Lebens direkt verbunden ist.“ (Saar 2014, o. S.) Drastische Darstellungen, so der Autor, treten als ungeschöntes Aufzeigen von Realität auf – „der Drastiker lügt nicht und spielt auch nichts vor“, andererseits stehe Drastik „generell im Verdacht der Übertreibung (oder des Übermaßes in den Darstellungsmitteln)“ (ebd.). Weswegen das Drastische auch seinen Ort zumeist in kulturellen Schmuddelecken habe – in den nur „halblegitimen Sphären“ (ebd.) wie etwa im Comic oder im Horror- und Splatterfilm und eben in der Performance-Art. „Es bleibt etwas Zweifelhaftes an der kulturellen Praxis, etwas zu zeigen oder auszusprechen, was nicht nur deutlich, sondern überdeutlich, unerträglich deutlich sein soll, vielleicht sogar mehr 1 | Der Begriff der Ambivalenz ist, wie Dreyfus hinweist, inflationär in Gebrauch, häufig wird unter diesem „jede Mehrdeutigkeit oder Vielfalt ganz allgemein subsumiert“ (Dreyfus 2011, S. 421). Ich verstehe hier unter Ambivalenz eine Zweiwertigkeit (ich liebe es, ich hasse es) und nicht (wie der Begriff Ambivalenz auch und landläufiger verwendet wird) eine Mehr- oder Zweideutigkeit. Aus dieser Perspektive kann gerade das Bestehen auf Eindeutigkeit als ein mögliches Symptom für das Vorliegen einer Ambivalenz in den Blick genommen werden (vgl. Knellessen 2011).

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als deutlich ist: wie Körper zerstört und manipuliert werden können, wie das Überschreiten von Schamgrenzen aussieht, was Lust macht und was weh tut. […] Drastisch werden bedeutet, gewisse Grenzen und Beschränkungen gerade nicht zu respektieren, sondern aufzuheben.“ (Ebd.) Sierras drastisches Darstellungsverfahren in diesem Sinne besteht in der Anwendung von physischer Gewalt. In puncto Gewalt bilden seine Performances eine Schnittstelle von ästhetischer Darstellung und dargestellter Realität – insofern scheint der Drastiker Sierra nicht zu spielen. Zugleich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, geben die Aktionen keinen Anlass, an ihrem ästhetischen Status zu zweifeln, diese verorten sich demonstrativ im Kunstkontext – abgesehen vom Ausstellungskontext gibt z.B. auch innerhalb der Werke deutliche Bezüge auf Strömungen wie die Minimal Art. So mag hier die Anwendung von Gewalt als Mittel eines künstlerischen Verfahrens zur Darstellung von Realität zugleich auch, wie Saar schreibt, als ein übertriebenes Moment erscheinen – einerseits scheint der Drastiker nicht zu spielen und andererseits zugleich einem Spiel der Übertreibung nachzugehen. Hiermit hängt m.E. auch zusammen, dass in der Sekundärliteratur häufig ein Changieren zu beobachten ist zwischen Formulierungen einerseits, es handele sich bei Sierra nicht um Dar- sondern um die Herstellung von Realitäten, und solchen andererseits, die den ästhetischen Charakter betonen. Eine Gleichsetzung von Kunst- und Realraum wird betont und zugleich die Diskrepanz beider festgestellt (häufig ohne diese beiden Aussagen in Beziehung zueinander zu setzen). So spricht etwa Huber einerseits von „Realräume[n] der Diskriminierung“ (Huber 2013, S. 171) und hebt andererseits hervor: „Sierra betreibt keine ‚reale‘ Agentur für die Leistung diverser subalterner Dienste, sondern inszeniert Performances im Kunstbetrieb.“ (Ebd.; Herv. S. W.) Sierra selbst hält lakonisch fest: „‚Ich folge nur den allgemein akzeptierten Regeln der Gesellschaft‘, sagt er. ‚Ich kaufe Menschen und zahle ihnen die in ihrem Land üblichen Löhne.‘“ (Sierra zit. n. Schlüter 2004, o. S.) Sierras Arbeit wird gemeinhin als politische Kunst wahrgenommen – als eine, die nicht bloß etwas darstellt, sondern darüber hinaus etwas bewegen möchte; also Mehr sei als bloß Kunst. Die Drastik seines Darstellungsverfahrens wird häufig als Appell verstanden: Seht her, so sieht es in der kapitalistischen Realität aus. Diese Interpretation unterstützt Sierra, wenn ihn etwa die österreichische Zeitung Der Standard (vom 17.3.2014) mit der Aussagen zitieren kann: „‚Meine Arbeit ergreift Partei für das vom Kapitalismus zerstörte Leben. Und Kapitalismus ist für mich die ökonomische Spielart des Sadismus‘, sagt Santiago Sierra, und er meint es ernst! Weltweit erhitzen sich die Gemüter angesichts seiner Arbeit, die mit drastischen Mitteln die strukturelle und institutionalisierte Gewalt von wirtschaftlichen und politischen Systemen gegen das Individuum thematisiert.“2 Bei 2 | http://derstandard.at/13926874w0/Menschenzoo-Nahtoderfahrung-im-Gefaengnisund-der-Tabubruch-in-der-Fussgaengerzone; zuletzt gesehen 17.9.2014.

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den Tätigkeiten, für die Sierra andere entlohnt, handelt es sich ausnahmslos um solche, die in der Regel als anstrengend und unangenehm empfunden werden und häufig auch mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder zumindest deren Gefährdung verbunden sind. Seeßlen fasst das Prinzip dieser Art Aktionen folgendermaßen zusammen: „Ein Segment des menschlichen Elends wird, statt repräsentiert oder zitiert, als Kunstwerk in der Mitte der Kultur, die es erzeugt, noch einmal hergestellt. Dieses Kunstwerk ist der Punkt, an dem sich die Fortsetzung von Unterdrückung und Zerstörung mit dem Protest gegen sie schneidet.“ (Seeßlen 2006, o. S.) Anknüpfend an diese Beschreibung kann man hinzufügen: Nicht nur bezüglich der in der kapitalistischen Arbeitswelt wirksamen ausbeuterischen Strukturen und den Subjekten gegenüber gewaltsamen Prinzipien verknüpfen sich in den Werken Fortsetzung und Protest, sondern auch bezüglich der Kunstwelt selbst. Sierras Fortsetzung von und gleichzeitige Kritik an dem, was hier als gesellschaftliche Realität (z.B. eben mit Qualen für die Einzelnen verbundene Arbeitsverhältnisse) vorgestellt wird, verbindet sich in vielen seiner Arbeiten mit der Kritik an der (scheinbaren und von ihm kritisierten) Abkopplung der Kunst von der sonstigen Realität. Um mich der Frage zu nähern, inwiefern in Sierras Inszenierungen und in Musattis Texten das spielerische Moment einen je anderen Stellenwert einnimmt, werde ich nun zunächst anhand der Arbeit Herausgerissene Mauer einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden (2000, Santiago Sierra) genauer zeigen, wie Sierra die Grenze zwischen Kunst und alltäglicher Welt thematisiert. Sierras Arbeiten beschränken sich nicht darauf, qua Herstellung kapitalistischer Ausbeutung noch einmal diese anzuprangern, wie es bei Seeßlen heißt, sondern diese Anprangerung richtet sich zugleich gegen die Idee einer autonomen Sphäre der Kunst. Ebenso wie laut Seeßlen mit der Herstellung eines Segments menschlichen Elends (s.o.) gegen das kapitalistische System protestiert werde, kann die Herstellung des Kunstwerks auch zugleich als Protest gegen die gesellschaftliche Institution Kunst gelesen werden. Mit dem Schnittpunkt von Fortsetzung der und Kritik an kapitalistischer Lohnarbeit geht zugleich eine Wendung gegen den Kunstraum als von der sonstigen Welt unterschiedenem einher. Diese Kritik versteht sich als eine Offenlegung des Warencharakters der Kunst und wird in diesem Fall in einer von der Kunst gegen die Kunst gerichteten Wendung vollzogen. Das von Seeßlen sogenannte Sierrasche System der Herstellung von Elend in alltäglichen Arbeitsprozessen lässt auch den ästhetischen Raum nicht unbeschadet. Es kann dies als ein Beispiel der von Gorsen sogenannten Tendenz zur Entästhetisierung verstanden werden (vgl. Gorsen 1981, S. 8; I.1).

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2.  Herausgerissene Mauer – Mit Kunst gegen die Kunst Bereits der Titel Herausgerissene Mauer einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden3 thematisiert einen Raum, in dem sich in der Regel Kunst befindet – es handelt sich hier nicht um irgendeine Mauer, sondern um die einer Galerie (s. Abbildung 1). Sierras Arbeiten aus dem Zeitraum Ende der 1990er Jahre bis 2010 haben zumeist, wie auch diese, ähnliche Bestandteile: Eine durchgeführte Aktion, die dafür notwendigen Materialien und Arbeitskräfte, Anweisungen zur Durchführung, sowie dann nach Ende der Aktion die Dokumentation in Form einer schriftlichen Version der Anweisungen sowie Schwarz-Weiß-Fotos und Videos, die in anderen Galerie- oder Museumsräumen ausgestellt und auf Sierras Website und in Werkkatalogen präsentiert werden. Die Dokumentationen aller Arbeiten dieses Typs folgen einem strikt durchgehaltenen Muster. Alle Fotografien und Videos sind schwarzweiß, „typographisch ist mit der Helvetica maximale Neutralität gewählt; die von ihm [Sierra] verfassten Werkbeschreibungen referieren präzise die Zahlen, Maße und Prozessschritte der jeweiligen Aktion“ (Huber 2013, S. 151f.). So lautet Sierras Beschreibung dieser Arbeit: „A tablaroca wall installed in the gallery was pulled out from its place, and for four hours a day, over a period of five days, five workers acted as a buttress to keep it at 60 degrees from the ground. Four of them held the wall while a fifth checked that the inclination was correct. For the five working days, each worker earned 700 pesos, about $65.“4 Es handelt sich um eine Aktion mit dem Charakter einer Installation, in der auch Menschen als Elemente integriert sind. Das schriftliche Konzept erklärt diese Installation zum Produktionsvorgang einer Ware. Bezahlung und die Verausgabung von Arbeitskraft sind damit als zentrale Elemente thematisiert. Insofern Kauf und Verausgabung der für das Kunstwerk aufgewendeten Arbeit nicht nur zur Herstellung desselben beiträgt, sondern dieser Beitrag auf eine spezifische Weise im Rahmen der Aktion selbst artikuliert wird, werden Kunstwerk-Herstellung und ökonomischer Produktionsvorgang als untrennbare Prozesse ausgewiesen. Hier wird, wie auch Seeßlen feststellt (s.o.), demonstriert: Dieses Kunstwerk besteht aus dem Akt seiner Herstellung, welcher nicht wesentlich anders abläuft als in der sonstigen Realität – es stellt sich als Ware und damit als Produkt der ökonomischen Verwertung von Arbeitskraft dar. Dieserart Engführung von Kunstwerk- und Warencharakter zeigt sich in der scheinbar zwangsläufigen Befolgung bestimmter konzeptueller Vorgaben: So existiert die Installation genauso lange, wie viele der in Lohn bemessenen Stunden vom Konzept veranschlagt werden. Der Neigungswinkel wiederum 3 | Der englische Originaltitel der Arbeit lautet: „THE WALL OF A GALLERY PULLED OUT, INCLINED 60 DEGREES FROM THE GROUND AND SUSTAINED BY 5 PEOPLE Acceso A. Mexico City, Mexico. April 2000“ (http://www.santiago-sierra.com/2000_1024.php; zuletzt gesehen 23.8.2014). 4 | http://www.santiago-sierra.com/20006_1024.php; zuletzt gesehen 23.8.2014.

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von sechzig Grad der Wand wird von den Arbeitern eingehalten, weil sie dafür bezahlt werden. Sechzig Grad sind kein rückenfreundlicher Grad – es handelt sich um eine mühselige, vermutlich schmerzhafte und für einige vielleicht auch körperlich schädigende Arbeit. In allen Arbeiten von Sierra, in denen Menschen verwendet werden, sind Verletzung oder Drangsalierung wesentliches Repertoire und es kann der Eindruck entstehen, dass für Tätigkeiten bezahlt wird, „die unter pragmatischen Gesichtspunkten sinnlos sind“ (ebd., S. 150). Das künstlerische Konzept, so kann man sagen, kopiert in gewisser Weise ökonomische, kapitalistische Sachzwänge und stellt diese in Form der Drastik und Übertreibung als zwingend zu befolgende dar. Ein Effekt dieser Engführung ist die Demonstration einer Grenzüberschreitung angenommener Differenzen zwischen künstlerischer und sonstiger Realität.

Abbildung 1: Herausgerissene Mauer einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden (2000, Santiago Sierra)

So ist die herausgerissene Mauer – oder, wie eine weitere Übersetzung des Titels bezeichnet: ‚die losgebrochene Wand‘5 – aus einem Durchbruch gewonnen, der ein Loch in der Wand einer Galerie hinterlassen hat. Wände fungieren in der Regel als Abtrennungen, sie begrenzen Räume, schützen vor Einwirkungen von außen. Kirschenmann hält fest: „Es ist sein Konzept, die Grenze als radikale Abtrennung, als Einschluss und Ausschluss zu markieren.“ (Kirschenmann 2010, S. 132) Der Akt des Durchbruchs hebt die Abtrennung des Kunstraums hervor und zugleich schafft die Zerstörung der Wand die Möglichkeit ihrer Durchque5 | Vgl. in Schneider (Hrsg.)/Sierra (2004) die deutsche Übersetzung: Losgebrochene, in einem Winkel von 60 Grad zum Boden geneigte und von fünf Personen gehaltene Wand einer Galerie.

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rung: Ein Loch in einer Trennwand markiert die Abschirmungsfunktion von Wänden und bietet zugleich die Möglichkeit, hindurch zu klettern. Das Loch ist somit als Markierung zugleich als Auf brechen der schützenden Funktion von Wänden zu verstehen – womit sich Sierra gegenüber und in der Kunstwelt in einer bestimmten Weise positioniert. Mit der Zerstörung der Galeriewand artikuliert Sierra Kritik an der Institution Kunst, wie sie in ihrem räumlichen Rahmen, dem White Cube, vergegenständlicht ist. Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist, wie O’Doherty ausführt, wesentlich verbunden mit der Vorstellung vom Ausstellungsraum als neutralem Behälter: „Die ideale Galerie hält vom Kunstwerk alle Hinweise fern, welche die Tatsache, daß es ‚Kunst‘ ist, stören könnten. Sie schirmt das Werk von allem ab, was seiner Selbstbestimmung hinderlich in den Weg tritt. Dies verleiht dem Raum eine gesteigerte Präsenz, wie sie auch andere Räume besitzen, in denen ein geschlossenes Wertsystem durch Wiederholung am Leben gehalten wird.“ (O’Doherty 1996, S. 9) Die herausgerissene Mauer steht m.E. auch für einen Bruch mit eben dieser Wiederholung – indem die Wand attackiert und als Element ins Werk einbezogen ist. In diesem Zerstörungsakt wird diese in einer anderen Weise als in ihrer schützenden Funktion produktiv gemacht – der Raum bildet hier nicht nur Umgebung, sondern ein Element wird eingespeist. Und auf diese Weise wird sie als ein Verweis wirksam: Los- oder herausgebrochen, weist die Wand zugleich auf ihre (auch im institutionellen Sinne) abgrenzende Funktion hin, welche Sierra als verschleiernd-ideologische thematisiert. Dass Sierra, so schreibt Saar, „direkt“ ausbeuterische Arbeitsbedingungen inszeniere, „rührt an Wunden, deren Nichtberühren eine stillschweigende Voraussetzung des reibungslosen Funktionierens von Kunstgenuss und Kunsthandel zu sein scheint“ (Saar 2014, o. S.). Durch die Verwendung des herausgebrochenen Teils des Galerieraums wird deren Charakter als scheinbar neutraler Container eines Werks thematisiert. Das Kunstwerk besteht hier im Wesentlichen in der Prozedur selbst – welche nach Ablauf der Aktion festgehalten ist in deren nachfolgender Dokumentation. Die Wand wird in den Tauschakt Geld gegen die Nutzung des Körpers als Arbeitskraft eingesetzt zur Konstituierung eines Kunstwerks, welches demonstriert: Hier wird eine Ware hergestellt. Indem Sierra dafür zahlt, dass sich Arbeitskräfte als Wandstützen verdient machen, wird ostentativ gezeigt, dass die Galerie „in letzter Instanz […] eine Verkaufseinrichtung“ (O’Doherty 1996, S. 85) ist. Sierras Aktionen machen Ernst – wie es mitunter heißt.6 Angesichts dessen, dass hier eine den Körper in Mitleidenschaft ziehende Tätigkeit ausgeübt wird, lässt sich ja in der Tat nicht sagen, es werde hier bloß etwas gespielt. Es handelt sich hier nicht um ein Schauspiel im klassischen Sinne. Im Unterschied zu SchauspielerInnen, die in eine Rolle schlüpfen und deren bezahlte Arbeit darin 6 | Z.B. in dem oben erwähnten Artikel in Der Standard (http://derstandard. at/1392687490440/Menschenzoo-Nahtoder fahrung-im-Gefaengnis-und-der-Tabu bruch-in-der-Fussgaengerzone; zuletzt gesehen 17.9.20149.

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bestehen kann, so zu tun, als ob sie einer bezahlten anderen Arbeit nachgingen (z.B. Arbeit in einer Galerie), werden die an Sierras Aktionen beteiligten Personen nicht für eine darstellerische Leistung bezahlt, sondern für das Ausüben dieser Arbeitstätigkeit. Die jedoch selbst etwas zeigen, und in diesem Sinne eben etwas darstellen soll: Resultate von Prinzipien kapitalistischer Ausbeutung. Sicher und sichtbar ist: Das Gewicht der losgebrochenen Wand drückt tatsächlich auf die Rücken – das Erleiden der Last ist nicht gespielt, sondern in diesem Punkte ernst. In Musattis Vergleich zwischen Theater und Kino unterscheidet dieser den jeweiligen Realitätseindruck bezüglich der Personen auf Bühne und Leinwand u.a. anhand des gesteigerten Tatsächlichkeitswerts im Kino (vgl. I.3). Tendenziell, so dessen Annahme, werden im Unterschied zum Theaterstück im Kino Personen und Rolle als indifferent wahrgenommen. Dennoch, so unterstreicht Musatti, kann sich das Publikum anhand des irrealen Charakters des filmischen Raumes stets der Tatsache vergewissern, dass es sich bei dem Geschehen und den Personen auf der Leinwand nur um einen Film handelt – d.h., dass das Publikum der Grenze zwischen filmischer und realer Welt gleichwohl gewahr werden kann. Wie sieht dies nun in Bezug auf Sierras Inszenierungen aus? Der in den Rezeptionen relevante Tenor, hier handele es sich tatsächlich um ausbeuterische Verhältnisse, im Ernst werde Menschen Schaden zugefügt, spricht in gewisser Weise von einer Aufhebung der Grenze. Andererseits wird stets eine Grenze betont – nämlich insofern diese Aufhebung im Rahmen (innerhalb der Grenzen) einer ästhetischen Inszenierung stattfindet (s.o.). Ich möchte nun zunächst den Begriff der ästhetischen Grenze einführen, um mit diesem zu zeigen: Paradoxerweise kann der gegenüber Musattis Konzeption stärker ins Gewicht fallende Überhang des Tatsächlichen und der Charakter eines Ernstfalls (in dem die Grenze zwischen Kunst und Realität aufgehoben scheint), damit in Verbindung gebracht werden, dass die ästhetische Grenze hier gerade hervortritt.

3.  Ästhetische Grenze Der Begriff der ästhetischen Grenze7 bezeichnet zunächst das im Rahmen der ästhetischen Darstellung repräsentierte Verhältnis von Bild- und Realraum. Ganz wortwörtlich kann in diesem Zusammenhang die Formulierung im Rahmen verstanden werden: Die ästhetische Grenze bezeichnet z.B., wie im Bereich des durch einen Rahmen begrenzten Bildes Bezüge zum Außerhalb aufgemacht werden. Prange zufolge geht es um folgendes „Problemfeld“ im Bereich der Bildgestaltung: Die ästhetische Grenze ermöglicht Unmögliches, „nämlich einen hermetischen autonomen Raum als zugänglichen bzw. immer schon für den Beschauer geöffneten auszugestalten“ (Prange 2010a, S. 133). Boehm wiederum verortet die ästhetische Grenze als die Stelle des Konflikts zwischen autonom-ästhetischem und hetero7 | Der Begriff der ästhetischen Grenze geht wesentlich auf Michalski (1932) zurück.

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nom-realem Raum (vgl. Boehm 1973). Die ästhetische Grenze kann demnach als Konfliktfeld des Verhältnisses von Bild- und Realraum im Bereich des Bildes bestimmt werden – ein Problemfeld, welches der Begriff des filmischen Realitätseindrucks auf anderem Terrain als dem der Bildgestaltung, nämlich auf dem der Wahrnehmung, verhandelt. Die Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts spiegelt die Grenzen des Bildfelds im Bildraum als in sich abgeschlossenes. Etwa durch architektonische Bildelemente wird das Bild im Bild reproduziert (vgl. Prange 2010b, S. 55) und zugleich aber bietet sich dieses dem Betrachter „als ein begehbares Innen“ (dies. 2010a, S. 160) dar. Die für die Filmologie insgesamt charakteristische Beschreibung der Publikumserfahrung als Eintreten in eine Realität auf zweiter Ebene, korrespondiert mit dem traditionellen Bildraum der Malerei. Dies steht nicht in Widerspruch dazu, dass die Filmologie den Film in seiner Eigenschaft als Massenmedium in Abgrenzung zu Zugängen zum Film als Kunst untersucht (vgl. I.2 und I.3). Denn der konventionelle Spielfilm beerbt Prange zufolge eine wesentliche Eigenschaft des klassischen Bildraums der Malerei. „Und wie für die älteren Bildmedien der Malerei und Skulptur gilt auch für das dynamisierte filmische Bild die Notwendigkeit, auf die Grenze jenes Raums zu verweisen, sodass in der Differenzbestimmung gegenüber dem Realraum das ästhetische Erleben einer sinnlich und sinnhaft geschlossenen Totalität möglich wird.“ (Dies. 2010b, S. 55) Die Rede ist hier von einer durch die Bildgestaltung geschaffenen Spannung von Offenheit und gleichzeitiger Geschlossenheit des Bildraumes. „Während die Repräsentationsbehauptung des Bildes dieses ‚durchsichtig‘ macht auf ein von ihm dargestelltes Anderes, dementiert der notwendige Selbstverweis des Bildes, und dieser wird hier als Artikulation der ästhetischen Grenze bestimmt, jene Außenreferenz.“ (Ebd., S. 56) Gleichzeitig kann „die Bildwelt als Verlängerung des Betrachterraums, aber auch als Ausblick oder Übergang in ein ideales Anderes“ (ebd., S. 55) erfahrbar werden. Prange spricht in diesem Zusammenhang von einer metaphysischen Sinnerwartung, weil das Bild auf diese Weise „Ferne und Nähe, Idealität und Empirie, Begriff und Anschauung in seinem Raumganzen“ (ebd.) eint. Der filmologische Begriff des filmischen Realitätseindrucks sowie Cohen-Séats Begriff des Kinos als universelle Institution sind mit dieser Beschreibung des Bildraums m.E. insofern verwandt, als der Film stets als eine Zusammenkunft gegensätzlicher Kategorien – wie Irrealität und Realität, Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit etc. – in der Einheit des „filmischen Universums“ (Souriau 1997; vgl. I.2) gedacht wird. Insofern dieses in den filmologischen Zugängen stets – auf die eine oder andere Weise – mit dem Fortschrittsversprechen der Moderne verbunden wird, zeigt sich hier auch eine von Prange sogenannte metaphysische Sinnerwartung einer zukünftig zu realisierenden Idee einer versöhnten Einheit der Menschheit. Nicht zuletzt angesichts des erst kurz zuvor niedergeschlagenen Nationalsozialismus verortet Cohen-Séat die Menschheit an einer historischen Schwelle mit der Frage: Ob und wie kann das grenzüberschreitende Potential des Kinos in den Dienst von Humanismus und Fortschritt treten?

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Und als eine Schwelle kann auch die ästhetische Grenze selbst beschrieben werden. Der Bildraum des konventionellen Spielfilms wie der traditionelle der Malerei sind Prange zufolge daraufhin angelegt, „den physischen Schnitt zwischen Kunst- und Realraum als Schwelle zu fingieren, um sich als geschlossen und offen zugleich darzubieten“ (Prange 2010b, S. 56). In beiden Fällen beruht die ästhetische Illusion auf einem „organischen quasi natürlichen Wahrnehmungserleben“ (ebd.), auch wenn der fiktive Charakter des imaginären Raums der Kunst nicht in Zweifel steht. Wichtig ist nun aber: Auch wenn einzelne Elemente des Bildes den Bildcharakter thematisieren und so auf die ästhetische Grenze verweisen, folgt die Gestaltung des traditionellen Bildraums, den der Spielfilm beerbt, der „Konvention des Verbergens der ästhetischen Grenze“ (ebd.). Im konventionellen Spielfilm gilt der Kodex, den Schnitt unsichtbar zu halten oder der, den Blick in die Kamera im Gegenschuss vom Publikum abzulenken (nicht diesem, sondern dem Gegenüber im filmischen Raum gilt der Blick, dieser bleibt somit im frame). Insofern kann hier von einer tendenziellen „Unterdrückung des Realraums“ (ebd.) gesprochen werden. Auf diesen Realraum nehmen Sierras Aktionen in drastischer Weise Bezug. Doch bedeutet dies keineswegs ein Verschwinden der ästhetischen Grenze, sondern ist m.E. umgekehrt mit einer Hervorhebung derselben verbunden. Und dieses Explizit-Machen verändert die Bedeutung der ästhetischen Grenze innerhalb des sogenannten Problemfeldes zwischen Real- und Kunstraum. Wir können festhalten, dass die ästhetische Grenze von Sierra und den Filmologen in gewisser Weise je anders ausgelegt wird. Und zwar insofern die Filmologie die Konvention einer verdeckten ästhetischen Grenze zugrunde legen, Sierra hingegen eine gerade dagegen rebellierende Hervorkehrung derselben betreibt. Im Folgenden soll diese Differenz in einem Vergleich zwischen Musattis Konzeption und Sierras Vorgehensweise genauer untersucht werden. Musatti wertet die Funktion der Wahrnehmung einer Grenze zwischen filmischer und sonstiger Realität für das Erleben des Publikums als Distanzierung von den von der filmischen Darstellung in Gang gesetzten Emotionen. Stets unterstreicht dieser: Trotz allem Mehr an Tatsächlichkeitswert (welches das Kino etwa im Unterschied zum Thema evoziert), gibt es kein Zuviel – das Publikum im Allgemeinen weiß: Der Film ist nur ein Film. Wie ich nun zeigen möchte, kann die Differenz der jeweiligen Auslegung der ästhetischen Grenze als Streichung des nur durch Sierra interpretiert werden. Diese Deutung beziehe ich dann im nächsten Schritt auf Pfallers Unterscheidung von negativen und positiven Spielen – das heißt: Es wird zu sehen sein, inwiefern der Unterschied der Auslegungen der ästhetischen Grenze mit verschiedenen Bezugnahmen auf das Spiel korrespondiert.

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4. Im Vergleich: Die Funktion der ästhetischen Grenze bei Musatti und bei Sierra Musatti sieht im Pendeln zwischen realen und irrealen Aspekten die „emotive Wirkungskraft der Kunst“ (Musatti 2004a, S. 129) begründet (vgl. I.3). Er spricht von einem „bestimmten Grad von ‚Realität‘“, der Empfindungen wecken kann, die „denen entsprechen, mit denen wir auf die tatsächliche Realität reagieren“ (ebd.). ‚Wir‘ (das von mir sogenannte Publikum im Allgemeinen) könnten uns wie ein kindlicher Theaterbesucher in das Geschehen der ästhetischen Realität versenken – derart, dass die Personen und Situationen (ganz gleich, ob im Kino oder im Theater) als real empfunden werden. Jedoch – hier macht Musatti seine entscheidende Einschränkung – im Unterschied zu diesem unterscheide das erwachsene Publikum zugleich „die Ebenen der künstlerischen Realität von der Ebene des Lebens“ (ebd.). In diesem Punkt sieht Musatti die filmische nicht von sonstiger ästhetischer Erfahrung unterschieden. Wohl aber attestiert Musatti dem Film ein Maximum an evasiver Wirkkraft – womit für ihn verbunden ist, dass das Kino gegenüber den anderen Künsten einen gesteigerten Grad (ein Mehr) an Tatsächlichkeitswert der Darstellung aufweist bei gleichzeitigem Charakter einer von mir sogenannten gerahmten Erfahrung (in der Regel nicht Zuviel, d.h. Darstellung und dargestellte Realität fallen in der Wahrnehmung nicht in eins). Das Rätsel, vor das Musatti und andere Filmologen sich gestellt sehen, ist der (grundlegend von Michotte) als paradox beschriebene filmische Realitätseindruck eines gesteigerten Grades an Tatsächlichkeitswert bei gleichzeitiger Wahrnehmung: Es ist ja nur ein Film. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen, dass Musatti die distanzierende Funktion der Vergegenwärtigung der ästhetischen Grenze unterstreicht. Im Unterschied zum kindlichen Rezipienten wird ihm zufolge beim Erwachsenen qua Aufrufung der Vorstellung der ästhetischen Grenze eine Art Verteidigungslinie gegenüber den von der Darstellung in Gang gesetzten Gefühlsbewegungen gezogen. Sich der Irrealität oder Fiktionalität der ästhetischen Darstellung zu vergewissern, wird von Musatti als die Möglichkeit einer Distanznahme beschrieben, welche sich die Abwehr (etwa im Kino) gegen die (von der filmischen Szene in Gang gesetzten) unbewussten Phantasien zunutze machen kann. Man könnte das von Musatti beschriebene Pendeln auch als ein Spiel auf dem Konfliktfeld beschreiben, als welches die ästhetische Grenze bestimmt ist: ein in sich abgeschlossener Raum, in den man zugleich eintreten kann – oder auch nicht. Musatti stellt eine Pendelbewegung zwischen rein und raus dar, die sich über der Schwelle zwischen ästhetischer und sonstiger Realität hin und her bewegt. Wie ich gezeigt habe, wird die Publikumserfahrung als eine Form der Grenzüberschreitung bei gleichzeitiger Wahrung und Gewahr-Werden der Grenze zwischen Film und Realität beschrieben. Dieserart Pendeln besteht demnach in einer Art Überschwingen einer Schwelle, an der man sich – wird das Schwingen zu heftig und vielleicht zu gefährlich – zugleich festhalten kann.

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Wie lassen sich im Unterschied dazu Sierras Grenzüberschreitungen beschreiben? Zunächst: Es handelt sich hier lediglich um eine andere Form der Grenzüberschreitung, m.E. also nicht – wie suggeriert und in Rezensionen häufig behauptet wird (s.o.) – um eine Aufhebung von Grenzen per se. Wie sich nun zeigen wird: Eher umgekehrt lassen sich die Inszenierungen als eine Hervorkehrung der ästhetischen Grenze beschreiben, welche in gewisser Weise die Überschreitung als Herüberschwingen suspendiert. Es handelt sich also bei den von Musatti beschriebenen und von Sierra betriebenen Grenzüberschreitungen um zwei verschiedene Formen derselben – für Musatti hat die Wahrnehmung der Grenze schützende im Sinne von distanzierende Funktion gegenüber möglichen Ausuferungen und Überschüssen, Sierras überschreitendes Verfahren belegt die Grenze selbst mit gefährlichen (ganz konkret: einschneidenden, drückenden, belastenden) Aspekten. Von den künstlerischen Avantgarden aller Provenienzen ist das den Konventionen traditioneller Bildgestaltung entsprechende Verbergen der ästhetischen Grenze ungefähr seit Beginn des 20. Jahrhunderts grundsätzlich in Frage gestellt worden. Gorsen etwa sieht die Kunst des gesamten 20. Jahrhunderts von der Tendenz durchzogen, „den ästhetischen Werk- und Scheincharakter in einem Kunst und Wirklichkeit umspannenden Lebenszusammenhang aufzulösen“ (Gorsen 1981, S. 8). Die „Grenzüberschreitungen des Traditionell-Ästhetischen“ folgen ihm zufolge dem Wunsch, „die Abspaltung der (bürgerlichen) Kunst von der Lebenswelt zu überwinden“ (ebd.; vgl. I.1). Indem qua Überschreitung die Grenze ins Blickfeld gerückt wird, übernimmt die Bildgestaltung die Vergegenwärtigung der ästhetischen Grenze durch das Publikum, wie sie Musatti als wichtiges Element ästhetischer und filmischer Erfahrung beschreibt. Wie ich gezeigt habe, markiert auch die Herausgerissene Mauer einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden in spezifischer Weise die Grenze zwischen Kunst- und Realraum. Die Einbeziehung eines Teils der Galeriewand habe ich als Akt der Entneutralisierung der Galeriewand interpretiert – diese Art der Markierung der Wand durch deren Beschädigung kann hier auch als eine Wendung gegen die Konvention verstanden werden, in der die Bildung eines geschlossenen Kunstraums von dem tendenziellen Nicht-Thematisieren der ästhetischen Grenze abhängt. Es handelt sich hier demzufolge um eine Wendung mit der Kunst gegen die Kunst. Sierra schließt an eine Tendenz in der zeitgenössischen Kunst an, deren Beginn von O’Doherty in den 1960er Jahren datiert wird: Die Wand der Galerie wurde „zur Membrane, durch die hindurch ästhetische und ökonomische Werte sich im Osmose-Verfahren austauschen“ (O’Doherty 1996, S. 88). Diese Einbeziehung der Galeriewand ist m.E. nicht miss zu verstehen als eine Einziehung, also Auflösung oder Verschwinden-Machen der Grenze. Im Gegenteil, wie mit Prange zu unterstreichen ist: Die Wendungen gegen den schönen Schein gehen mit verstärkten Markierungen der ästhetischen Grenze einher. „Diese Dekonstruktion des Kunstwerks ließ sich freilich nicht, wie manche Entgrenzungsfanta-

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sien bis heute glaubhaft zu machen versuchen, durch die Auflösung der Kunst bewerkstelligen, sondern nur dadurch, dass diese ihre Grenze umso stärker markierte. Zugespitzt gesagt hat die moderne Kunst allein in der Materialisierung und Reflexion der ästhetischen Grenze noch einen angemessenen Gegenstand gefunden.“ (Prange 2010b, S. 56f.) Die herausgerissene Mauer markiert und unterläuft die Grenze zwischen Real- und Kunstraum und schafft demgemäß eine „Kontaktstelle“ (ebd., S. 57) zwischen beiden Räumen. Die ästhetische Grenze wird auf diese Weise im Rahmen der Inszenierungen materiell präsent – hier auf schmerzhafte Weise. Als offengelegte Kontaktstelle hat die ästhetische Grenze in Sierras Aktionen eine andere Funktion als die von Musatti dargestellte. Hält die Vergegenwärtigung der ästhetischen Grenze durch das Publikum diesem zufolge die filmische Erfahrung in Balance, so hat demgegenüber bei Sierra die Präsentation der ästhetischen Grenze keine stabilisierende oder distanzierende Wirkung. Sie ist in einer Art Übergewicht materialisiert und drückt als Zuviel an Gewicht auf die Rücken der Arbeiter. Es lässt sich angesichts dieser Aktion (auch bezüglich der fotografischen Dokumentation) schwerlich sagen: Es ist ja nur ein Schauspiel, es ist ja nur eine Performance oder ähnliches – der von den Rücken und Händen der Arbeiter gestützte Teil der Wand ist ein Dementi des Als-ob. Dass es sich hierbei gleichwohl nicht um einen gewöhnlichen Arbeitsprozess handelt, ist nicht nur durch die Ausstellungssituation, sondern auch immanent in dieser Arbeit mitthematisiert. Die ästhetische Grenze als physischer Schnitt zwischen Real- und Kunstraum steht im Zentrum der Inszenierung: materialisiert in der losgebrochenen Wand. Im Unterschied zum erwachsenen Publikum in Musattis Konzeption können sich die RezipientInnen hier nicht auf die sichernde und verteidigende Funktion der ästhetischen Grenze zurückziehen. Angesichts deren Materialisierung in Gestalt des Gewichts des Mauerstücks scheint diese Vergegenwärtigung in gewisser Weise gegenstands- und folgenlos gegenüber dem Eindruck Es handelt sich hier um eine ästhetische Darstellung zu bleiben. Man kann festalten: Das für Musattis Theorie zentrale nur wird von Sierra gestrichen. Die Durchbrechung der Abgrenzung des künstlerischen Raumes demonstriert demgegenüber: Die stützende Funktion ist erkauft und erbaut auf einer weiteren Stütze, nämlich dem Rücken der Arbeiter. Kreiert wird eine Situation, in der der Gedanke, es ist ja nur als ob keinen Sinn ergibt. Es fehlen in diesen Aktionen gewissermaßen Anhaltspunkte dafür, den Einsatz von Gewalt in diesen Inszenierungen als ein bloßes Spiel betrachten zu können.8 Es kann also im Vergleich zu Musattis – mit der traditionellen Bildraumkonzeption verbundenen – Darstellung der ästhetischen Grenze festgehalten werden: Die 8 | Damit befinden sich die RezipientInnen von Sierras Aktionen in einer ähnlichen Situation wie der kindliche Zuschauer in Musattis Beispiel eines Zuschauers, der im Theater das in seinem Raum inszenierte Geschehe als tatsächliches wahrnimmt (vgl. I.3).

Drastisches Spiel – Vom humoristischen Moment kulturindustrieller Grenzüberschreitungen

Artikulation der ästhetischen Grenze in Form der selbstbezüglichen Referenz auf sich als Kunstwerk (und auf den Rahmen der Kunstinstitution) dementiert hier gerade nicht die Außenreferenz. Im Gegenteil: Sie tritt in den Dienst der von Prange sogenannten „Repräsentationsbehauptung“ (ebd., S. 56; s.o.), welche das ästhetische Gebilde als Verlängerung des Realraumes ausweist. Die mit der drastischen Darstellungsweise zusammenhängende Vereidigung darauf, scheinbar ungeschönt die Realität, wie sie angeblich ist, darzustellen, basiert auf dieser spezifischen Stellung der ästhetischen Grenze. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Sierras Inszenierung und Musattis theoretischer Darstellung bestünde bezüglich der ästhetischen Grenze somit darin: Einmal dient sie der Vereidigung auf die in den Darstellungen enthaltene Referenz auf den Realraum (Sierra) und das andere Mal fungiert die ästhetische Grenze dieser gegenüber als Verteidigung und als Abschirmung (Musatti). Ausgehend hiervon kann nun eine Verbindung zu einem ersten Unterscheidungskriterium zwischen positiven und negativen Spielen gezogen werden, die ich in Bezug setzen werde zu Freuds Auffassung des Zustandekommens humoristischer Lust. Anhand dieser Verbindung zeigt sich: Musattis Betonung der Distanz zwischen dem filmischen und dem realen Raum korrespondiert mit einer für positive Spiele charakteristischen Alterität des Ichs zur wahrgenommenen Realität. Freud zufolge wird die humoristische Lust aus einer Alterität des Ichs geschöpft, wodurch die Last der Realität auf dem Ich gemindert wird. Sierras Arbeiten erscheinen in dieser Hinsicht als humorlose Gegenspieler zu Musattis humorvoller Filmtheorie.

5.  Positive und negative Spiele – auch eine Frage des Humors Ein erstes Kriterium seiner Unterscheidung zwischen positiven und negativen Spielen führt Pfaller mit einem plastischen Beispiel ein. Seiner Beobachtung nach gibt es einen auffallenden Unterschied im Umgang mit dem Karneval zwischen größeren und kleinen Städten in Österreich. In Städten wie Wien werde weitgehend Abstinenz gegenüber den Karnevalsriten geübt, in kleineren Städten hingegen werden Taxis „von einer Wikingerin oder einem Außerirdischen gelenkt“ (Pfaller 2008, S. 39), die „Kellnerin im Café erscheint als Bauchtänzerin, der Elektrofachhändler ist ein Seeräuber“ (ebd., S. 40). Die Karnevalsabstinenz werde unter Berufung auf ein besseres Wissen begründet: „‚Wir sind ja nicht blöd, dass wir uns Pappnasen aufsetzen und uns darüber amüsieren‘“ (ebd., S. 39). Doch besteht Pfaller zufolge in diesem Wissen gerade nicht der Unterschied zwischen KarnevalsteilnehmerInnen und -abstinenzlerInnen. Ersteren fehle keineswegs dieses Wissen, sondern diese praktizierten trotz dieses Wissens den Karneval. „Es ist also ein und dasselbe Wissen, das im einen Fall zur stolzen Abstinenz, im anderen Fall zum lustvollen Engagement führt“ (ebd., S. 40). In ähnlicher Weise wie Pfaller die begeisterte Teilnahme am Karneval, beschreibt auch Musatti mit dem Pendeln ein Ergriffensein trotz besseren Wissens.

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So führt diesem zufolge das Wissen Es ist nur ein Film in Ernstfällen zur Bändigung eines Zuviels an emotiver Wirkkraft der ästhetischen Darstellung. Wie auch die KarnevalsteilnehmerInnen beziehen diese Zuschauenden in gewisser Weise ihr Vergnügen aus etwas, von dem sie wissen, „dass das Blödsinn“ ist (ebd.). Die dem Karneval Abstinenten hingegen bleiben – vergleichbar der Rezeptionssituation von Sierras Aktionen – in gewisser Weise dem Ernst einer Lage verpflichtet. Wie bei den feierabendlichen Evasionen der in Musattis Text geschilderten ‚ehrenwerten‘ Herren wird hier mit Begeisterung etwas getan, was nicht dem ‚eigentlichen‘ Selbstbild und dem sonstigen Auftreten der KarnevalsteilnehmerInnen entspricht. „Sie mögen sich in ihrem Selbstbild als vernünftig, respektabel und anständig erscheinen, doch spielen sie etwas Blödes, Verächtliches und verkleiden sich als Räuber.“ (Ebd.) Der Karneval ist für Pfaller ein Beispiel für kulturelle Institutionen und Praxen, die die Funktion haben, „die individuell nicht annehmbaren Regungen in die Sphäre eines öffentlich Heiligen“ (ebd., S. 20) zu transferieren und genießbar zu machen, was „die Individuen nicht mit ihrem Ich in Einklang bringen können“ (ebd.).Wozu Humor gehört, „nämlich die Fähigkeit, das eigene Ich aus einer gewissen Distanz zu betrachten, es nicht ganz so ernst zu nehmen“ (ebd., S. 40). In „Der Humor“ (1927d) schreibt Freud, dieser „ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag“ (ebd., S. 385). Das Über-Ich spiele im Humor eine für dieses ungewöhnliche Rolle. Kennt man das Über-Ich „sonst als einen gestrengen Herrn“ (ebd., S. 388), so tritt dieses hier Freud zufolge in den Dienst des Lustgewinns des Ichs, indem es „die Realität abweist und einer Illusion dient“ (ebd., S. 389). Im Humor wende sich das Über-Ich an das Ich, um zu sagen: „Sieh’ her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Ein Kinderspiel, gerade gut, einen Scherz darüber zu machen!“ (Ebd.) Von dieser Auffassung des Humors aus betrachtet, können Sierras Aktionen auch als eine Wendung gegen diesen gelesen werden – letztlich als humorlose Wendung gegen einen humoristischen Aspekt von künstlerischer oder kultureller Darstellung überhaupt (insofern diese als Darstellung den Aspekt des bloßen im Unterschied zum Ernst des Tatsächlichen aufweist). Erscheint aus humoristischer Sicht die Welt so, als ob es sich bei dieser nur um ein Kinderspiel handle, setzt demgegenüber die für Sierras Arbeiten charakteristische Positionierung der ästhetischen Grenze (die das nur streicht) eine humorvolle Begegnung mit diesen zumindest unter sehr erschwerte Bedingungen. Die losgerissene Wand, wie sie auf den Rücken der Arbeiter drückt, scheint etwa vielmehr zu demonstrieren: Sieh’ her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht. Kein Kinderspiel, gar nicht geeignet, hierüber einen Scherz zu machen. Oder, wie Pfaller die Ansprache negativer Spiele in der aktuellen Kunst formuliert: „Wer wird hier so niederträchtig sein, sich nicht auch über die gezeigten Verhältnisse zu entsetzen?“ (Pfaller 2008, S. 58) Dieserart Kunstwerke können Pfaller zufolge das Publikum zu einem Spiel

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anregen, in dem es nicht (wie im Karneval) darum geht, einem als Spiel durchschauten Spiel zu folgen, sondern um dessen Verweigerung: „Aber selbst wenn sie sich gänzlich zu spielen weigern, dann scheint es nur so, als ob sie gar nicht spielen würden. Denn auch die Spielverweigerer spielen etwas: Sie spielen eben Vernunft, Anstand und Würde. […] Wir könnten also verallgemeinernd sagen: Spielen heißt etwas Blödes spielen; das negative Spiel hingegen besteht darin, Vernunft zu spielen.“ (Ebd., S. 40f.) Eben als gespielte sei diese Vernunft von wirklicher Vernunft zu unterscheiden – diese „besteht in etwas anderem: nämlich darin, nur dort vernünftig sein zu wollen, wo die Vernunft auch tatsächlich etwas verloren hat“ (ebd., S. 60) und verloren hat diese Pfaller zufolge nichts im Bereich des Spiels. Die in der Spielverweigerung gespielte Vernunft und der damit verbundene Verzicht auf eine mit einem humoristischen Moment ausgestattete Haltung gehen insofern einher mit dem Beharren „auf unserem kostbaren Ich gegenüber der Alterität des Spiels“ (ebd., S. 41), welches nach Pfaller sich derzeit verstärkt in der gegenwärtigen Kunst und Kultur geltend macht. Die Wendung gegen die Alterität des Spiels kann m.E. in Verbindung gebracht werden mit der Wendung gegen die von Freud formulierte Möglichkeit, in einer humoristischen Situation aus der Alterität des Ichs (Ich und Über-Ich) selbst Lust zu schöpfen. Über das Ich schreibt dieser: „Dieses Ich ist nichts Einfaches, sondern beherbergt als seinen Kern eine besondere Instanz, das Über-Ich, mit dem es manchmal zusammenfließt, so daß wir die beiden nicht zu unterscheiden vermögen, während es sich in anderen Verhältnissen scharf von ihm sondert.“ (Freud 1927d, S. 386f.) Das Auseinandertreten von Ich und Über-Ich macht sich der Humor Freud zufolge in besonderer Art zunutze. Die humoristische Einstellung entstehe durch die Verschiebung von Besetzungsmengen vom Ich auf das Über-Ich. Diesem „so geschwellten Über-Ich“ erscheint das Ich „winzig klein“ (ebd., S. 387). Während meist eine Wendung des Über-Ichs gegen das Ich zu vermerken sei, sieht Freud im Humor hingegen die Bedingung gegeben, Reaktionsweisen des Ichs in eine andere Richtung zu lenken. Diese Umlenkung bewirkt, dass dem Ich „die Traumen der Außenwelt nicht nahe gehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind“ (ebd., S. 385). Ohne Zweifel bestehe das Wesen des Humors darin, „daß man sich die Affekte erspart, zu denen eine Situation Anlaß gäbe, und sich mit einem Scherz über die Möglichkeit solcher Gefühlsäußerungen hinaussetzt“ (ebd., S. 384). Die von Musatti beschriebene Möglichkeit der Distanzierung in Form der Vergewisserung es ist ja nur ein Traum, es ist ja nur ein Film, es ist ja nur ein Spiel ist in diesem Punkte m.E. dem Humor verwandt, wenn eben das Über-Ich zum Ich spricht: Schau an, es handelt sich hier nur um ein Kinderspiel. In diesem Zusammenhang vergleicht Freud die Beziehung von Über-Ich und Ich mit der zwischen Kind und Erwachsenem. Aus dem Vergleich der „Ungunst der realen Verhältnisse“ (ebd., S. 385; s.o.) mit einem Kinderspiel entspringe die humoristische Lust. Er wirft die Überlegung auf, im Humor behandele jemand „sich selbst wie ein Kind und spiele gleichzeitig gegen dies Kind die Rolle des

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überlegenen Erwachsenen“ (ebd., S. 386). Freud entwirft hier das Bild vom Ich als Kind, welches vom Über-Ich, das den Erwachsenen vertritt, in gewisser Weise beruhigt wird: Es ist ja nur… „[W]enn das Über-Ich durch den Humor das Ich zu trösten und vor Leiden zu bewahren strebt, hat es damit seiner Abkunft von der Elterninstanz nicht widersprochen“ (ebd., S. 389). Gerade im Kontrast, so kann man sagen, zur sonst oft Bange machenden Realität, erscheint in humorvollen Situationen diese Realität wie ein Spiel. In vergleichbarer Weise beschreibt auch Musatti die Haltung des erwachsenen Publikums gegenüber der filmischen Realität. Entsteht eine Situation des Zuviel, in der der Zuschauende von der filmischen Realität, in der die Dinge schlecht laufen (vgl. Musatti 2004a, S. 133; vgl. I.3), affektiv überwältigt ist, kann sich der Erwachsene (hier also: das Über-Ich dem Ich) angesichts dieser Realität sagen: Ach, es ist doch nur ein Film. Was unerträglich wird, wird abgemildert in Form der Betonung der Rahmung: Es ist bloß Darstellung. Für Musatti stellt dies auch eine Bedingung dafür dar, den Film in seiner evasiven Funktion zu genießen. Dieses Moment der Beschreibung Musattis ist insofern m.E. mit der von Freud beschriebenen Lustquelle des Humor vergleichbar: Unter dieser Voraussetzung kann der erwachsene Zuschauer in Musattis Konzeption am Film leidenschaftlich teilnehmen, als ob er selbst ein kindlicher Theaterbesucher wäre. Er behandelt sich selbst wie ein Kind – wie Freud auch bezüglich des Humors schreibt. Eben jene Form der Ausnutzung der Alterität des Ichs scheint, wie ich dargestellt habe, in Sierras Inszenierung keine Rolle zu spielen. Eben hierin liegt Pfaller zufolge ein wesentlicher Unterschied zwischen positiven und negativen Spielen und Musatti und Sierra können vor diesem Hintergrund als Gegenspieler konfrontiert werden. Es gibt aber außerdem auch innerhalb von Musattis und Sierras Darstellungen je Figuren, gegen die eine Abgrenzung stattfindet. In Musattis Theorie ist, wie ich im Vorhergehenden ausführlich gezeigt habe, der kindliche Rezipient die Figur, an der der Autor seine Konzeption des filmischen Realitätseindrucks als ein zentrales Charakteristikum der Filmerfahrung des Publikums im Allgemeinen entfaltet. Musattis Darstellung weist dem erwachsenen Publikum kindliche Momente zu – ganz wichtig ist aber zugleich die Abgrenzung zu einem kindlichen (wie auch zum halluzinatorischen) Erleben. Stets bringt Musatti gegen die Vorstellung, es handele sich bei der Filmerfahrung um ein totales Aufgehen in der filmischen Realität, seine Annahme in Anschlag, für das erwachsene Publikum sei (im Unterschied zum Kind) eine Doppelung der Realitätsebenen charakteristisch. Sucht man nun in Sierras Inszenierungen nach Gegenspielern, so wird man schnell auf die Bezugnahme seiner Arbeiten auf die Minimal Art gestoßen. Ebenso wie sich auch in Musattis Konzeption die kindliche Wahrnehmung als Teil der erwachsenen Filmerfahrung darstellt und diese aber zugleich stets in Abgrenzung zu jener entwickelt wird, lässt sich auch das Verhältnis von Sierras Arbeiten zur Minimal Art als eines der Aufnahme und gleichzeitigen Abgrenzung beschreiben.

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In Anknüpfung an meine Ausführungen zum Humor lässt sich damit ein zweites entscheidendes Kriterium der Differenz von positiven und negativen Spielen im Vergleich von Musattis und Sierras Darstellungen hervorheben: Während Musattis Darstellung die erwachsene von der kindlichen Erfahrung (hinsichtlich des von ihm angenommenen Mangels einer Grenze zwischen ästhetischer und alltäglicher Realität in der Wahrnehmungswelt der Kinder) abhebt, kreieren Sierras Arbeiten umgekehrt einen Abstand zu der Vorgehensweise der Minimal Art, insofern diese noch zuviel Abstand zur außerästhetischen Welt einnehmen würde. Deren spezifische Bezugnahme auf die ästhetische Grenze wird also seitens Sierra kritisiert als eine, die zu wenig drastisch die – von ihm als tatsächlich präsentierte – Überschneidung von künstlerischer und realer Wirklichkeit thematisiere. Die jeweiligen anderen sind somit fundamental verschieden: In Musattis Theorie handelt es sich um das Kind, welches im Unterschied zu ‚uns‘ nicht zwischen ästhetischer und sonstiger Realität zu unterscheiden vermag – in Sierras Arbeiten um die Minimal Art, deren Werke als zuviel von der alltäglichen Realität abgehoben interpretiert und in gewisser Weise von Sierras Aktionen scheinbar auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht werden. Diese in Musattis und Sierras Konzeptionen verankerten Gegenfiguren spielen für den Lustgewinn in positiven und negativen Spielen eine entscheidende Rolle – wie dann im Weiteren zu sehen sein wird.

6.  Feindliche Übernahme der Minimal Art Sierra gibt bezüglich seiner Beziehung zur Minimal Art9 folgende Auskunft: Er mache „keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die Heroen der Minimalart und […] auch keinen Hehl über seinen Unmut über sie. ‚Im Innersten meines Herzens bin ich ein Minimalist mit einem Schuldkomplex. […] Ihre Maxime, dass weniger mehr ist, kann ich nur unterschreiben, und ihre konstruktiven Strategien sind meinen immer sehr verwandt gewesen. Für mich sind sie aber nur Instrumentarium – ich spreche von etwas anderem. […] Für mich ist es noch immer eine gute Schule, wenn auch eine Schule mit Meistern, die bis zur Arroganz blind sind.‘“ (Schneider 2004, S. 33f.) Sierras Arbeiten geben sich als Intervention zu verstehen, die in übertragenem Sinne den Rezipierenden gegenüber der kapitalistischen Wirklichkeit die Augen öffnen sollen – und im gleichen Zuge auch eine Art Aufklärung der Minimal Art leisten sollen. Eine Aufklärung, die 9 | Minimal-Art ist ein von der Kunstkritik verwendeter Begriff, der zunächst Arbeiten von US-amerikanischen Künstlern der 1960er Jahre subsummiert, die sich auszeichneten durch „industrielle Materialien und Fertigungsweisen, elementare Formen und serielle Anordnung sowie eine gewisse Sperrigkeit, durch welche die Kunst auf ihre direkte Korrelation zum architektonischen ‚Container‘ des Ausstellungsraumes verwies“ (Stemmrich 1995, S. 14). Neben Donald Judd sind weitere prominente Vertreter der Minimal Art u.a. Carl Andre, Dan Flavin, Sol LeWitt und Robert Morris.

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sich in feindlicher Übernahme minimalistischer Techniken bedient, um diese zu entlarven. So habe ich an anderer Stelle Sierras Inszenierungen als eine kriminalistische Beweisführung interpretiert, in der gezeigt wird, was in den minimalistischen Arbeiten ‚eigentlich‘ steckt, diese aber verbergen: Der Warencharakter der Kunst (vgl. Witte 2011). Wie ich hier nun zeigen möchte, handelt es sich um eine Beweisführung, die auch den Charakter einer Spielverderberei hat. Die Inszenierungen führen, so gesehen, den RezipientInnen vor Augen, dass die Minimal Art – angesichts der von Sierra gezeigten scheinbar tatsächlichen Realität – über die „Ungunst der realen Verhältnisse“ (Freud 1927d, S. 385; s.o.) hinwegtäuscht. Vor dem Hintergrund des Vorangegangen zeichnet sich Sierras Perspektive auch in dieser Hinsicht durch eine gewisse Humorlosigkeit aus. Inszeniert wird in den Performances die Verwandlung eines bloßen Spiels in Ernst. Ich werde nun anhand von Arbeiten Donald Judds als prominentem Vertreter der Minimal Art diese Interpretation ausführen. In seinem Aufsatz „Spezifische Objekte“ (Judd 1965) spricht Judd von einer bestimmten konzeptionellen Neuerung in der US-amerikanischen Kunst, die sich etwa Mitte der 1940er Jahre ankündigte. Der Topos der ästhetischen Grenze ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung – in der Minimal Art verschiebt sich, so könnte man sagen, die ästhetische Grenze als Problemfeld, in welchem das Verhältnis von Real- und Bildraum verhandelt wird, in Richtung des Rahmens. Anders gesagt: Kann man für die traditionelle Bildgestaltung festhalten, die ästhetische Grenze repräsentiere im Rahmen das Verhältnis von Realund Bildraum, so verhandelt die Minimal Art die Frage der ästhetischen Grenze (auch) am Rahmen. Für die Malerei vor 1946 gilt Judd zufolge, dass die Komposition auf die Bildränder hin ausgerichtet sein muss, die „eine Grenze, das Ende des Bildes“ (ebd., S. 61) bilden, ohne aber, „daß dabei die Form des Rechtecks betont würde“ (ebd.). Thematisiert ist damit von Judd die Konvention des tendenziellen Verschwindens der ästhetischen Grenze, die das von der ästhetischen Darstellung aufgeworfene Problem der Beziehung von Selbst- und Außenreferenz bezeichnet. An ihr hängt der Charakter von gleichzeitiger Durchlässigkeit und Geschlossenheit des illusionären Bildraums (s.o.). Die von Judd erwähnten neuen Arbeiten unterscheiden sich zuallererst durch das Explizitmachen der Frage der ästhetischen Grenze, in dem jegliche Elemente des Bildes auf den Rahmen bezogen werden. U.a. die Arbeiten von Mark Rothko, Cady Noland oder Barnett Newman verbindet Judd zufolge das Kriterium: „Als Formen und Oberfläche kann nur das gelten, was plausiblerweise in und auf einer rechteckigen Fläche in Erscheinung treten kann“ (ebd.). Und damit ist der rechteckige Rahmen des Bildes „nicht länger eine verhältnismäßig neutrale Begrenzung“ (ebd., S. 62). Wesentlich an diesem neuen Verständnis, so Gathmann, „ist die Zurückweisung des Bildes als Illusionsraum, die Idiosynkrasie gegen Bildtiefe und deskriptive Momente, welcher mit Betonung von Oberfläche, Material und damit realer Räumlichkeit des Malgrundes begegnet wird. Resultat ist damit ein ‚spezifisches Verhältnis‘ zwischen Fläche und Wand, das selber Teil der Form wird“ (Gathmann 2012, S. 34). Auch Judds

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eigene Arbeiten sind diesem Prinzip der Unterwerfung der Teile unter das Ganze verpflichtet, u.a. ein Grund, weswegen dieser für Krauss als maßgeblicher „Fürsprecher von Kunstwerken, die als höchstes Ziel ihre totale Identität als Objekte anstreben“ (Krauss 1966, S. 228), gilt. Diese Abgeschlossenheit der Objekte in ihrer (zumindest auf den ersten Blick) kausal-schlüssige Konstruktion verbindet sich hier mit einer Öffnung auf den Raum hin – mehr noch: es geht Judd um eine Erschließung des Realraums durch die Objekte. So propagiert Judd eine Absage an die illusionäre Qualität des traditionellen Bildraumes: „Was vor allem an der Malerei nicht stimmt, ist die Tatsache, daß es eine rechteckige Fläche ist, die flach auf die Wand gesetzt wird“ (Judd 1965, S. 61). Man kann an einer frühen Arbeit von Judd verdeutlichen, inwiefern die neue Bezugnahme auf das Rechteck der Bildgrenze zugleich auch einen Abschied an die bloß illusionäre Tiefe der Fläche bedeutet. Fläche verbindet sich in dieser Arbeit mit räumlicher Tiefe. Zwei Dinge sind zu sehen: eine mit schwarzer Farbe bemalte Fläche, auf der in der Mitte eine metallen schimmernde Backform angebracht ist. Es handelt sich hier um ein Bild, aber nicht um ein Bild von, sondern mit einer Backform. Die reflektierende Oberfläche der metallenen Form hebt sich scharf von der lichtabsorbierenden, rauen, strukturierten Bildfläche ab und betont so die reale Tiefe des dreidimensionalen Objekts. Während das Schwarz der Fläche das Licht absorbiert, wird dieses in der Tiefe des Objekts reflektiert. Der Bildrahmen ist in diesem Fall nicht Umrahmung eines virtuellen Raumes. Und somit ist die Funktion des Bildraums negiert, wie sie etwa Michotte in Bezug auf den Film stark macht: als Raum einer Realität, in der unsere Welt nochmal erscheint (vgl. I.2 und I.3). Judds Objekt bringt die Backform in einen Rahmen, der die Backform aus ihrem für gewöhnlich vorgesehenen Verwendungszusammenhang in einen anderen versetzt. Auch über den möglichen fiktionalen Charakter der Darstellung hinaus (etwa wenn die Backform in eine Küchenszenerie eingebunden wäre), geht es hier um eine formale Verschiebung von Zwei- in Dreidimensionalität. Kann etwa in der abstrakten Malerei mittels Farbe und Form optische Tiefe auf einer zweidimensionalen Fläche erreicht werden, konkretisiert Judds Backform im Unterschied dazu reale Tiefe im Bild. Sie konfrontiert die Zweidimensionalität des Bildes mit Dreidimensionalität – anstatt auf einer zweidimensionalen Fläche Dreidimensionales darzustellen. Nach diesem Bildobjekt radikalisiert Judd die Idee weiter. Er verlässt die Leinwand und konstruiert dreidimensionale, von ihm sogenannte spezifische Objekte. „Spezifische Objekte“, wie Gathmann schreibt, „transformieren die traditionelle Malerei und Skulptur, die nur ‚Behälter‘ gewesen sei, und ihre ‚treibende Kraft‘ ist dabei, ‚von diesen Formen wegzukommen‘“ (Gathmann 2012, S. 35). Für Judds Kollegen Robert Morris, den Gathmann an dieser Stelle zitiert, geht es „um die Befreiung der Skulptur von der Darstellung: ‚Skulptur verlangt … buchstäblichen Raum‘“ (ebd.). Antriebsmoment ist auch hier das Unbehagen am Charakter der Darstellung als bloßer Darstellung. Es geht um ein Durchbrechen der Konventionen der Malerei der Moderne, deren Leinwand alles „bestimmt und be-

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grenzt […], was auf oder in ihm angeordnet ist“ (Judd zit. n. Foster 1986, S. 599f.). Kein Schaffen von Objekten auf der Leinwand, sondern von Objekten im Raum. „Denn was, so fragt er [Judd], kann objektiver, spezifischer sein als ein Objekt im wirklichen Raum?“ (Foster 1986, S. 600) In Untitled 1961 ist der Übergang zu den nachfolgend von Judd konstruierten, sogenannten spezifischen Objekten bereits angelegt. Judd verlässt in seinen späteren Arbeiten die Leinwand – die Objekte treten in den Raum. Untitled 1962 ist Judds zweites freistehendes Objekt, bestehend aus zwei rötlich gestrichenen, rechtwinklig zueinander ausgerichteten Holzflächen mit Löchern, in die ein schwarzes, um 90 Grad gebogenes Rohr eingelassen ist (s. Abbildung 2). Das Objekt verhandelt Offen- und Geschlossenheit von Raum. Die zwei Holzflächen zum rechten Winkel angeordnet ergeben keine klare Definition von Innen und Außen.

Abbildung 2: Untitled 1962 (1962, Donald Judd)

Der Übergang zwischen dem Innenraum und dem Außenraum des rechten Winkels ist fließend. Das schwarze Rohr verfügt von der einen Seite her gesehen hingegen über einen klar zum Außen abgegrenzten Innenraum. Von der anderen Seite zeigt sich das Rohr jedoch als offen – es ist nicht auf dem Holz angebracht, sondern in dieses eingelassen. In der Verbindung von Löchern und Rohr wird ein Zusammenhang geschaffen zwischen der Rück- und Vorderseite des rechten

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Winkels und dadurch offener und geschlossener Raum zwischen dreidimensionalem Raum und zweidimensionaler Fläche konstituiert. Damit wird ein räumlicher Gegensatz und zugleich eine Beziehung von Offenheit und Geschlossenheit konkretisiert. Es ist, als expliziere dieses Objekt die Beschreibung der ästhetischen Grenze als eine Schwelle, als Kontaktstelle zwischen Kunst- und Realraum (s.o.). Wichtig ist hierfür, dass diese Objekte – im Unterschied zu klassischen Skulpturen – nicht auf Sockeln erhoben sind. Insofern teilen diese übergangslos ihren Raum mit dem der BetrachterInnen.10 Andererseits stehen Judds Objekte für sich, insofern, wie Krauss schreibt, jeder „Verweis auf Erfahrungen und Ideen außerhalb der schieren materiellen Gegenwart des Werkes“ ausgeschlossen wird (Krauss 1966, S. 228).11 Dies ist konzeptionell verankert. Der Gebrauch dreier Dimensionen bedient sich hier nicht gegebener Formen, so Judd, im Bereich der Objekte kann jede Form, jedes Material, jedes Verfahren frei verwendet werden (vgl. Foster 1986, S. 600f.), um neuen Raum zu kreieren. „Tatsächlicher Raum ist aus sich selbst heraus viel kraftvoller und spezifischer als Farbe auf einer ebenen Oberfläche. Ganz offensichtlich kann alles Dreidimensionale jede Form annehmen, regelmäßig oder unregelmäßig, und es kann zur Wand, zum Boden, zur Decke und zum Raum, zu Innen- oder Außenräumen oder zu nichts von alledem in jeder nur denkbaren Beziehung stehen. Jedes Material kann verwendet werden, so wie es ist oder bemalt.“ (Judd 1965, S. 68f.) Jedes Material kann verwendet werden … Nicht zuletzt an dieses minimalistische Credo knüpft Sierra in gewisser Weise an, aber mit dem Einwand: nicht unter Verzicht auf eine explizite, in gewissem Sinne inhaltliche Referenz auf den Realraum. So verwendet Sierra u.a. Haut, wie in der Arbeit 160 cm lange Linie auf vier Personen tätowiert (2000, Santiago Sierra), in der Sexarbeit Thema ist (s. Abbildung 3 und 4).12

10 | So sagt etwa George Segal, der ebenso wie Judd an dem Wandel des Bild- in Realraum interessiert war, über die Bedeutung des Sockels: „Die meisten Figuren stehen auf Sockeln, und deshalb in psychologisch anderem Raum. Ich war fest entschlossen, Kunst vom Sockel herunterzuholen und sie im gewöhnlichen Raum (… aufzustellen), damit ich mich zwischen den Objekten umherbewegen kann.“ (Segal zit. n. Finkeldey 1990, S. 104) 11 | Eine Position, die z.B. Raskin (2010) nicht teilt. 12 | Der englische Originaltitel lautet: „160 CM LINE TAT TOOED ON 4 PEOPLE El Gallo Contemporáneo. Salamaca, Spain. December 2000“ (http://www.santiago-sierra. com/2000_1024.php; zuletzt gesehen 24.8.2014).

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Abbildungen 3-4: 160 cm lange Linie auf vier Personen tätowiert (2000, Santiago Sierra)

Die dazugehörige schriftliche Erläuterung lautet: „Four prostitutes addicted to heroin were hired for the price of a shot of heroin to give their consent to be tattooed. Normally they charge 2,000 or 3,000 pesetas, between 15 and $17, for fellatio, while the price of a shot of heroin is around 12,000 pesetas, about $67.“13 An dieser Arbeit zeigt sich deutlich, wie Sierra die minimalistische Wendung gegen den illusionären Bildraum der traditionellen Malerei aufnimmt, auch um die Weltfremdheit der minimalistischen Arbeiten herauszustellen. So ergibt sich eine Perspektive auf die Minimal Art, die besagt: Diese spielen bloß mit ästhetischen Formen. Das Tätowieren der Rücken der vier Frauen ist in einem Zuge zugleich ein Akt der Entweihung der Malerei. Beim Malen trägt üblicherweise ein Pinsel Farbe auf einer Oberfläche auf. In dieser Arbeit treten anstelle etwa von Leinwänden Rücken bzw. Haut. Anstelle des Streichens oder Tupfens eines Pinsels auf Stoff oder Holz wird hier mit Einstichen in die Haut gemalt, oder vielmehr Farbe eingeritzt. Jedoch sind nicht Bildmotive oder Schriftzüge das Ergebnis, wie häufig üblich, sondern ein krummer Strich, der sich über eine Reihe von Rücken erstreckt. Im Deutschen lässt sich zuspitzen: ein Strich für diejenigen, 13 | http://www.santiago-sierra.com/200014_1024.php; zuletzt gesehen 24.8.2014.

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die ansonsten auf den Strich gehen. Mit 160 cm tätowiertem Strich werden vier Frauen verbunden und ihre Gemeinsamkeit wird ausgewiesen, mit Sexarbeit ihr Geld zu verdienen und dieses u.a. für Heroin zu verausgaben. Versteht man diese Aktion als eine Aufklärung spezifischer Objekte, so kann dies als eine Inszenierung gesehen werden, die zeigt, was hinter der Oberfläche der scheinbar von der Außenwelt abgekehrten Objekte Judds steckt. Die Absage an jegliche Referenzen der spezifischen Objekte im Sinne des von Judd unterstrichenen Spielraums der Gestaltung dreidimensionaler Objekte (s.o.) wird häufig als eine Demonstration ‚reiner‘ Oberfläche interpretiert, als eine demonstrative Leere. So heißt es etwa bei Hubermann: „Angesichts dieser Objekte wird es nichts zu glauben oder zu imaginieren geben, da sie nicht lügen, nichts verbergen, nicht einmal die Tatsache, dass sie leer sein können. […] Nichts wird hier ‚ausgedrückt‘, folglich geht nichts aus etwas hervor, da es ja keinen Ort, keine Verborgenheit gibt, wo sich etwas verbergen könnte, um daraus wieder hervorzukommen, um irgendwann wiederaufzutauchen.“ (Hubermann 1999, S. 43f.) Sierra teilt diesen Eindruck von einer Leere, wenn er – wie Schneider zitiert – zur Auskunft gibt: „Nicht leere Gefäße zu entdecken ist das Interessante, sondern sie zu verwenden […] und damit befinde ich mich in derselben Situation wie viele andere, die den Minimalismus als ein Arsenal von Instrumenten sehen, deren sie sich bedienen können, aber seine inhaltliche Leere nicht ertragen.“ (Sierra zit. n. Schneider 2004, S. 39) Und zugleich kehren seine Aktionen heraus, was in den minimalistischen Werken scheinbar ‚eigentlich‘ steckt. So gesehen, nehmen Sierras Inszenierungen Judds reduzierte Formensprache wie eine Schablone auf. Doch wird diese gänzlich anders gefüllt: Statt ein Spiel mit Form wird – so wir zumindest demonstriert – Realität aufgetischt. Ostentativ wird präsentiert, was die spezifischen Objekte hinter ihrer leeren Fassade zu verbergen hätten: Ausbeutung qua Tausch Arbeitskraft gegen Geld. Sierras Aktionen führen vor: Die minimalistischen Werke tun nur so als ob sie bloße Objekte seien – aufgedeckt wird damit: Die minimalistischen Objekte verschleiern die Gewalt, die in der zu ihrer Herstellung aufgewendeten Lohnarbeit steckt.14 Inszeniert wird somit eine Gleichrangigkeit von Kunst und Wirklichkeit in Form eines Einwands gegen die Minimal Art. So knüpft auch Sierra an die minimalistische Wendung gegen den Charakter bloßer Darstellung traditioneller Ästhetik an, ersetzt aber dabei die scheinbar fehlende Bezugnahme auf die Außenwelt der Minimal Art durch die Auffüllung mit Bezügen zu nicht-künstlerischen Bereichen, anhand 14 | Blum und Hartle ordnen Sierras Arbeiten dem Modernisme noir zu, einer Tendenz der Gegenwartskunst, die – so die Autoren unter Bezugnahme auf Habermas – mit „katastrophischen Effekten“ (Blum/Hartle 2010, S. 225) (auch für die Filmologie) zentrale Kategorien der Moderne – wie Universalismus, Fortschritt, Utopie – in folgender Weise konfrontiert: „Die Wiederkehr gesellschaftlicher Gehalte […] ist ein Aufbrechen jener modernistisch geschlossenen (zellförmigen) Logik institutioneller Ausstellungspraxen und ‚gegenstandsloser‘ Ausdrucksformen.“ (Ebd., S. 232)

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derer Ausbeutung von ihm thematisiert wird. Dieserart unterstellte ideologische Verblendung der Minimal Art als Gegenspieler und Objekt von Sierras Aufklärung korrespondiert insofern mit der von Pfaller dargestellten Humorlosigkeit der negativen Spiele. Doch die von Sierras Performances aufgemachte Gegenposition geht nicht ganz auf. Auch Judds spezifische Objekte bestehen häufig aus Material, welches einem Warenherstellungsprozess entnommen ist. Verwendet wird industriell gefertigtes Baumaterial – wie oben eben das Rohr und die Holzplatten. Es sind in gewisser Weise Übergangsmaterialien, die für gewöhnlich zur Weiterverarbeitung in anderem Kontext bestimmt waren.15 Von Judd werden sie für die Fertigung von spezifischen Objekten verwandt, welche selbst maschinell hergestellt werden. Doch bleiben die Materialien Bestandteile der Objekte – im Unterschied zu Sierras Material. Die Prostituierten werden aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Strich zurückkehren – nun aber gezeichnet mit einem Strich, der wahrscheinlich für immer davon zeugen wird, dass die Frauen Elemente einer Aktion von Sierra waren und daran verdient haben. Der Verweis auf den Realraum ihrer sonstigen Tätigkeit scheint u.a. zu besagen: Diese Elemente der Aktion sind Opfer – Opfer ihrer Umstände wie der Aktion selbst (nicht zuletzt, insofern deren niedrige Entlohnung als Unverhältnismäßigkeit erscheint). Das manifestiert sich in dem gegen Geld getauschten Strich. Es mag der Eindruck entstehen, die Frauen hätten Zuviel abbekommen. Musatti vergleicht die Wahrnehmung der Differenz zwischen filmischer und sonstiger Realität mit der erleichterten Feststellung beim Erwachen aus einem bösen Traum: Es war nur ein Traum. Und wie ich gezeigt habe, ist die Darstellung selbst in dem von mir herausgearbeiteten Umschwung im Textverlauf diesem dargestellten Erwachen nachgebildet. Hier scheint es aus den Aktionen kein vergleichbares Erwachen zu geben – auf jeden Fall ist mit der Tätowierung verewigt, dass der Handel Geld gegen Strich tatsächlich stattgefunden hat.16 Vor diesem Hintergrund lässt sich die mit der Bezugnahme auf 15 | Damit wenden sich die spezifischen Objekte gegen ein weiteres Ideal traditioneller Kunst. Bis ins 19. Jahrhundert wurde weithin das Material als Medium des künstlerischen Schaffensprozesses aufgefasst. Das Material sollte durch die Bearbeitung möglichst im Ergebnis verschwinden. Es wurde als Werkzeug aufgefasst, dessen Beteiligung am Herstellungsprozess dem Resultat nicht anzusehen sein sollte. Die minimalistischen Objekte hingegen betonen vielmehr die spezifischen Eigenarten des Materials. 16 | In dieser Hinsicht ist hier das Verhältnis von Erwachen und Traum im Unterschied zu Musattis Vergleich des filmischen Realitätseindrucks mit der Doppelung der Realitätsebenen im Traum vertauscht. Zur Erinnerung: Musatti spricht von einer paradoxen Situation in Träumen, in denen man weiß, dass man träumt – die Dinge laufen schlecht und daher entscheide sich der Träumer aufzuwachen und sich zu vergewissern, „dass es sich tatsächlich nur um einen Traum gehandelt hat“ (Musatti 2004a, S. 134; vgl. I.3). Sierras Aktionen können eher als Wecker beschrieben werden, mit dessen Schrillen die Realität in Gestalt

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die Minimal Art verbundene Ansprache an die Rezipierenden folgendermaßen formulieren: Seht her, das bloße Spiel mit Form, Raum und Material ist kein Spiel, sondern derart verschleiert Kunst als bloßes Spiel die Gewalt, die in ökonomischen Produktionsprozessen (auch im Bereich der Kunst) wirksam ist. Oder anders: Ihr mögt denken, das Spiel ist nur ein Spiel, aber ich zeige Euch: Es ist mehr als das. Wie sieht es nun mit dem Gegenpart des kindlichen Publikums in Musattis Texten aus, wie er in den von mir herausgearbeiteten Schlenkern und Bögen figuriert? Wie gezeigt, bildet das Publikum im Allgemeinen eine Gemeinschaft mit dem Autor und der als ‚wir‘ angesprochenen Leserschaft – im Unterschied zu den anderen, dem speziellen, dem kindlichen Publikum. Ebenso wie in Sierras Arbeiten erscheinen diese anderen als solche, die Zuviel glauben. Doch ist in Sierras Performances das Zuviel der Minimal Art verbunden mit einem Zuviel an Glauben an eine Grenze zwischen künstlerischer und nicht-künstlerischer Realität, in Musattis Texten hingegen ist der Gegenpart zum Publikum im Allgemeinen durch einen Mangel an Vergegenwärtigung dieser Grenze charakterisiert. Diese differenten Figuren des anderen können nun auf das angekündigte zweite Kriterium der Unterscheidung von positiven und negativen Spielen bezogen werden: das Vorhandensein eines imaginären, naiven Beobachters, der Pfaller zufolge für den Lustgewinn am Spiel entscheidend ist. Die Instanz eines naiven Beobachters nun wird entscheidend zur Beantwortung der Frage beitragen, welcher Lustgewinn mit der theoretischen Formulierung des Mehr als nur, aber nicht Zuviel einhergeht. Zunächst aber eine kurze Rekapitulation. Das erste Kriterium der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Spielen besagt: Positive Spiele werden mit großem Vergnügen gespielt, obwohl man weiß, dass es sich nur um ein Spiel handelt – negative Spiele hingegen sind an einer Spielverweigerung zu erkennen (die als das Spiel, Vernunft zu spielen, gefasst sind). In einem Vergleich zwischen Musattis und Sierras Darstellungen habe ich dieses erste Unterscheidungskriterium mit einer Differenz der jeweiligen Funktion und Stellung der ästhetischen Grenze zusammengebracht. Musattis Darstellung des filmischen Realitätseindrucks korrespondiert mit der (in der traditionellen Bildgestaltung üblichen) Verortung der ästhetischen einer Unausweichlichkeit die Bühne betritt – nicht ein Erwachen aus einem bösen Traum, sondern ein böses Erwachen aus einem guten Traum der minimalistischen Werke ist hier inszeniert. Aus Sierras mit Geld, Ausbeutung und Schmerz erkauftem Kunstwerk scheint der Realraum keinen Rückzugsraum zu bieten, insofern die Werke demonstrieren: Aus dieser Realität, aus der das Kunstwerk besteht, gibt es kein Erwachen. Demgegenüber erscheinen die minimalistischen Objekte in der Tat als harmloser Traum. Wie eine Bestätigung von Poppers Überzeugung, „der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle“ (Popper 1992, S. 277) erweist sich hier: Der Versuch, Kunst irdisch zu machen, zeigt die Realität als Hölle.

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Grenze als Schwelle zwischen Real- und Kunstraum, die den Bildraum als einen zum Publikum hin geöffneten und zugleich autonomen Bereich präsentiert. Die Grenze hier ist konventionell – zugunsten der Bildillusion – verschwindend. Musatti beschreibt die Wirkung von deren Vergegenwärtigung durch das Publikum als Distanzierung von einem Zuviel an affektiver Wirkung des illusionären Eindrucks. In Sierras Inszenierung wird im Unterschied dazu – in Tradition avantgardistischer Interventionen gegen das Verschwindenlassen der Grenze – die ästhetische Grenze im Rahmen der ästhetischen Inszenierungen zur expliziten. Vor allem, da sich diese als Kernstück der Darstellung in der physischen Schädigung der beteiligten Personen materialisiert, hat deren Vergegenwärtigung hier im Unterschied zu Musattis Beschreibung keine distanzierende Funktion in der Rezeption. Ist Musattis Annahme einer distanzierenden Funktion in der Formulierung kondensiert Es ist ja nur ein Film – so ist demgegenüber in Sierras Inszenierung das nur, wie ich oben formuliert habe, gestrichen. In dieser Hinsicht erweisen sich Sierras Arbeiten als Wendung gegen den Humor, wie er in Freuds Text „Der Humor“ bestimmt ist (das Über-Ich spricht: Die Welt ist nur ein Kinderspiel!). Zuletzt habe ich gezeigt, dass hiermit jeweils unterschiedliche Figuren eines anderen des ‚eigentlich‘ Dargestellten verbunden sind: Musattis Beschreibung des speziellen Publikums (im Unterschied zum Publikum im Allgemeinen), Sierras Demaskierung der Abtrennung zwischen Kunst und sonstiger Realität, wie sie die Inszenierungen minimalistischer Werke implizieren (und zu der seine eigenen Aktionen als Gegenentwurf auftreten).

7.  Die anderen im Spiel Um nun ausgehend von der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenfiguren – Minimal Art und das spezielle Publikum – der die Frage nach dem mit Musattis Theoretisierung verbundenem Lustgewinn nachzugehen, greife ich zunächst auf das bereits bekannte Beispiel des nicht-gespielten Niesens auf der Theaterbühne zurück (vgl. I.2). Zur Erinnerung: Metz zeigt an diesem Beispiel, inwiefern sich im Vergleich zum Theater die Realität des Films in ihrer Abgeschlossenheit gegenüber der sonstigen Realität als stabiler erweist: Die (Spiel-)Filmwelt ist von einem zufälligen Nieser, als unpassendem Einbruch der nicht-fiktionalen Welt, abgeschirmt. Es ist ursprünglich Octave Mannoni (1969; vgl. auch 1964), der mit dem Niesen einen zentralen Aspekt der fetischistischen Ordnung der sogenannten theatralischen Illusion illustriert, welcher in engster Verbindung mit dem Komischen steht. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung: Wenn ein Theater-Schauspieler, der einen Toten spielt, plötzlich niesen muss, hat dies zumeist eine komische Wirkung. Wie daran anschließend Zupančič (2009) unterstreicht, reicht es nicht aus zu wissen, dass die Person nicht wirklich tot ist, um das Niesen komisch zu finden. Komisch ist das Niesen erst in Verbindung mit der Vorstellung von einem

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anderen, der tatsächlich glaubt, der Mann sei tot. „Mit anderen Worten, es ist, als durchliefe ich das folgende Gedankenexperiment: ‚Stell dir nur vor, jemand wüsste nicht, dass er ein Theaterstück sieht und glaubt, die Leiche sei wirklich tot. Das Niesen würde ihn zu Tode erschrecken!‘“ (Ebd., S. 59)17 Dies ist natürlich ein sehr spezieller Fall – aber einer, an dem sich ein ganz allgemeiner unbewusster Aspekt der Konstituierung der Beziehung zu einer inszenierten Realität in ihrem Verhältnis zum Komischen erhellen lässt. Laut Mannoni erfolgt ganz generell das Sich-Einlassen auf die Illusion auf dem Weg eines unterstellten anderen, der (der Phantasie des Ersteren zufolge) in vollem Umfang das Geschehen für real nimmt. „Mit anderen Worten: Obwohl wir wissen, dass die Dinge, die wir sehen, nicht wirklich sind (oder wirklich passieren), können wir auf dem Umweg der Hypothese des Anderen, für den die Szene aufgeführt wird, oder aber indem wir andere voraussetzen, die der Darstellung Glauben schenken, dennoch selbst ebenfalls glauben, sie sei real.“ (Ebd., S. 60)18 Metz nun unterstreicht, dass es sich bei dem an andere delegierten Glauben um die Wiederkehr eines kindlichen Glaubens handelt. „Octave Mannoni vergleicht diesen Glaubenswandel mit jenem, den der Ethnologe bei gewissen Völkern beobachten kann. Die Informanten erklären, daß sie ‚früher an die Masken glaubten‘ (diese Masken sollen die Kinder täuschen, wie bei uns der Weihnachtsmann, und der Jugendliche erfährt während der Initiationszeremonie, daß die ‚Masken‘ im Grunde verkleidete Erwachsene waren). Kurz, diese Gesellschaften ‚glauben‘ zu allen Zeiten an die Masken, doch jedesmal glauben sie ‚früher‘: Sie glauben immer, doch immer in der Vergangenheit (wie wir alle). Dieses früher ist die Kindheit, in der man sich wirklich von den Masken täuschen ließ.“ (Metz 2000, S. 67) Musattis Beschreibung des erwachsenen Publikums entspricht in zentralen Grundzügen eben dem von Mannoni dargestellten Glaubenswandel. Die im Kino wirksamen unbewussten Prozesse korrespondieren seiner Ansicht nach insofern mit dem kindlichen Erleben des Films, als dass die Film-Vorstellung als Realität wahrgenommen wird – es handelt sich demnach um einen vom Publikum im Allgemeinen überwundenen Glauben. Musattis gesamte Konzepti17 | Wie Zupančič hinweist, ist dies nicht mit Spott zu verwechseln. Es geht hier vielmehr darum, dass der gläubige andere gebraucht wird, „um zum unheimlichen Objekt eine Beziehung zu haben statt von ihm überwältigt zu sein“ (Zupančič 2009, S. 59). Siehe zum Unheimlichen II.4. 18 | Während Metz der Auffassung ist, diese Art des fetischistischen Glaubens begleite allein die in den Schauspielen im Kino und im Theater dargestellten Fiktionen (und nicht etwa die des Romans; vgl. Metz 2000, S. 66), verhandelt etwa Pfaller Mannonis Theaterillusion als anwendbar auf den gesamten Bereich künstlerischer Fiktion (vgl. Pfaller 2008). Zupančič wirft hingegen die Frage auf, ob mit Mannonis Theorem nicht vielmehr „Fälle tagtäglicher Interaktion“ verstehbar seien und jenes gerade nicht gelte „für die theatralische Illusion […] (oder, allgemeiner gesprochen, für Formen artistischer Fiktion)“ (Zupančič 2009, S. 60).

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on der für den filmischen Realitätseindruck typischen Dopplung der Realitätsebenen beschreibt eine Wiederkehr des kindlichen Für-wahr-Nehmens, welche von dem bewussten Urteil nicht-wahr begleitet ist. Die Logik des Unbewussten ist für Musatti in der Hinsicht mit dieser kindlichen Wahrnehmungsweise identisch, als sich die Ebene der Phantasie, der Vorstellungen und Einbildungen nicht von der Ebene der „tatsächlichen, sinnlichen und wahrnehmbaren Realität“ (Musatti 2004a, S. 134; vgl. I.3) unterscheidet. Insofern ist für Musatti die im Rahmen der Evasion stattfindende filmische Erfahrung auch als Wiederkehr der verdrängten, kindlich-ungeteilten Welt des Spielens aufzufassen, an welche jedoch das erwachsene Publikum selbst nicht mehr glaubt. Dieser – auch von Musatti vertretenen – Auffassung, der Glaubenswandel selbst sei zentrales Moment, wenn nicht die Bedingung ästhetischer Erfahrung, widerspricht Pfaller in einem bestimmten Punkt: Vielmehr sei die Vorstellung von diesem Glaubenswandel eine kulturelle Erfahrung begleitende Imagination, die für den mit dieser verbundenen Lustgewinn konstitutiv ist. In seiner Studie „Die Illusionen der anderen“ (Pfaller 2002) greift dieser Mannonis Begriff der theatralischen Illusion auf. Während mit Musatti die Illusion als ein aus der Kindheit wiederkehrendes Verdrängtes zu denken wäre, stellt Pfaller die Frage: „Aber könnte es nicht sein, daß es Einbildungen gibt, die immer die der anderen sind, ohne jemals die eigenen Einbildungen von irgend jemandem zu sein?“ (Ebd., S. 11). Seine Antwort ist: Ja – und er bezeichnet diese daher als „Illusionen ohne Subjekt“, als „Einbildungen der anderen“ (ebd.); man könnte auch sagen: als eingebildete Einbildungen. Die Einbildung der anderen bestimmt Pfaller als das grundlgende Prinzip kultureller Formen der Lustgewinnung überhaupt. Man könnte diese Annahme als eine mit Musattis Theorie konkurrierende verstehen – oder aber auch auf Musattis Beschreibung selbst anwenden. In Anwendung lässt sich die Figur des speziellen Publikums als eine Einbildung der anderen interpretieren. Die Figur des speziellen Publikums kann in diesem Sinne verstanden werden als eine Einbildung der anderen, die Pfaller zufolge für den kulturellen Lustgewinn selbst von entscheidender Bedeutung ist. So gesehen handelt es sich bei Musattis Figur des speziellen Publikums um einen „häufig wiederkehrenden Mythos vom naiven Zuschauer, der einmal tatsächlich das Bühnengeschehen für die Realität gehalten“ (ebd., S. 51; Herv. S. W.) hat. Pfallers Zugang erlaubt also m.E., die für Musattis Konzeption zentrale Gegenüberstellung des erwachsenen Publikums (für die trotz allem der Film nur ein Film ist) und dem speziellen Publikum (welches das Geschehen für wirklich hält) auf eine andere Ebene als die des verhandelten Gegenstands (der filmischen Wirkung auf das Publikum) hin zu betrachten: Die spezifische Figuration theoretischer Gedanken lässt sich lesen als Symptom einer unbewussten Dynamik, die in der Beziehung zum Erkenntnisgegenstand wirksam ist. Die Figur des speziellen Publikums, mit der Musatti eine filmtheoretische Erklärung einer Form des kulturellen Lustgewinns liefert, folgt demnach in der Art und Weise ihrer Erklärung selbst einem allgemeinen Prinzip kultureller Lustgewinnung. Die theoretische Figur

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eines kindlichen Publikums (die in Musattis Theorie selbst der Erklärung einer der Struktur nach fetischistischen Wahrnehmung des erwachsenen Publikums dient) verstehe ich somit als einen Fetischismus zweiter Ordnung (in theoretisch verarbeiteter Form), der mit einem von Pfaller festgestellten unbewussten Prinzip kultureller Erfahrung operiert, nämlich: „daß anderen Glauben unterstellt wird“ (ebd., S. 49), als „eine komplexe Veranstaltung, die an einen abwesenden Gläubigen gerichtet ist“ (ebd.). Eben das Vorhandensein einer Einbildung der anderen stellt ein weiteres Kennzeichen für positive Spiele dar. Im Unterschied zu negativen Spielen bereiten diese ein gegenüber dem Bereich des Profanen gesteigertes Vergnügen: ein Mehr an Vergnügen, welches im Überschreiten des besseren Wissens gewonnen wird. Dieses bessere Wissen besagt: Nicht Zuviel, es ist nur ein Spiel – welches den TrägerInnen der Einbildung der anderen eben abgesprochen wird. Auf diesem besseren Wissen basieren offenkundig im Unterschied dazu die negativen Spielen nicht – für Sierras Arbeiten, so habe ich herausgearbeitet, ist demgegenüber gerade die Streichung des nur zentral. Mit dem von Johan Huizinga übernommenen Begriff des heiligen Ernsts liefert Pfaller eine Erklärung des im Spiel seines Erachtens entstehenden Mehr an Vergnügen, mit der ich nun die Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel in Musattis Texten als Symptom einer Ambivalenz gegenüber dem spielerischen Moment kultureller Erfahrung interpretieren werde.

8.  Heiliger Ernst – Mehr Lust im Spiel Unter Rückgriff auf Huizingas Schrift „Homo ludens“ (1958)19 entwickelt Pfaller eine Erklärung dafür, warum positive Spiele mitunter die Spielenden in auffälliger Intensität ergreifen können – es geht also um eine Genese „der Freude an solchen suspendierten Illusionen“ (Pfaller 2002, S. 92). Der heilige Ernst bezeichnet die „gesteigerte affektive Intensität, die das Spiel erzeugt“ (ebd., S. 95). In diesem sieht Pfaller das Symptom für den suspendierten Glauben: „Der heilige Ernst ist ein Anzeichen dafür, daß eine Einbildung der anderen vorliegt. Er ist ihr Symp-

19 | Es geht in Huizingas Schrift „Homo ludens“ um das Spiel als „einen Faktor in allem, was es auf der Welt gibt“ (Huizinga 1958, S. 7). Wie in der Einleitung von ihm unterstrichen wird, begreift er das Spiel nicht als Element in der Kultur, sondern untersucht wird das „Spielelement der Kultur“ (ebd.). Bezüglich einer von ihm gehaltenen Rede mit eben dem Titel „Das Spielelement der Kultur“ heißt es: Man wollte dort, „wo ich sie hielt, ‚in der Kultur‘ […] daraus machen, und beide Male strich ich die Präposition wieder aus und stellte den Genitiv wieder her. Es handelte sich für mich nicht darum, welchen Platz das Spielen mitten unter den übrigen Kulturerscheinungen einnimmt, sondern inwieweit die Kultur selbst Spielcharakter hat. Es war mir darum zu tun […] den Begriff Spiel […] in den Begriff Kultur einzugliedern“ (ebd.). Für Huizinga, so Pfaller, ist das Spiel „eher ein psychischer Zustand […] als ein Set von angebbaren Formen oder Regeln“ (Pfaller 2002, S. 102).

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tom.“ (Ebd., S. 123) In diesem Zusammenhang erweist sich die von mir in Musattis Texten in den Blick genommene Figur des Mehr als nur als zentral. Pfallers Zusammenschluss von Mannonis und Huizingas Theorien ergibt: Der Nicht-Glaube an die Realität der Illusion entspricht dem Wissen, dass es sich bei dem Spiel nur um ein Spiel handelt. Das bedeutet weiterhin, dass der auf den anderen projizierte Glauben an die Realität des Dargestellten mit der (den anderen zugeschriebenen) Illusion korrespondiert, dass das Spiel mehr als ein Spiel ist: „Wenn das Wissen zum Inhalt hat, daß das Spiel eben ‚nur ein Spiel‘ ist, so muß das Spiel zugleich eine gegenteilige Illusion beinhalten – nämlich die, ‚mehr als nur ein Spiel‘ zu sein. […] Überall, wo heiliger Ernst herrscht, muß eine verleugnete, in Schwebe gehaltene Illusion bestehen.“ (Ebd., S. 122f.) Wie auch Musatti vertritt Pfaller somit: Das Wissen Es ist nur ein Spiel bewirkt Distanz zum Spiel – anders als Musatti aber fügt Pfaller die Annahme an: „Gerade unsere intellektuelle Distanzierung vom Spiel stößt uns in die affektive Verhaftetheit durch das Spiel.“ (Ebd., S. 115) Wie oben am Beispiel des Karnevals beschrieben, verdanke sich der Lustgewinn positiver Spiele gerade dem Wissen Es handelt sich nur um ein Spiel, gerade weil dieses gebunden sei an die Einbildung der anderen als die „Illusion […], von der niemand getäuscht wird“ (ders. 2008, S. 62). Die Vorstellung, es gäbe jemanden, der das Spiel nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden vermag, erweist sich demzufolge als Bedingung, selbst leidenschaftlich am Spiel teilzunehmen: „Die Illusion, daß es mehr als ein Spiel wäre, muß seitens der Spieler durch das Wissen aufgehoben sein, daß es doch nur ein Spiel ist, damit die Faszination des Spiels und die gesteigerte Anteilnahme, der ‚heilige Ernst‘, entstehen kann.“ (Ders. 2002, S. 113) Aus diesem Grund können „die stärksten affektiven Bindungen an eine Sache gerade dort entstehen […], wo diese Sache von einem – wirklichen oder vermeintlichen – besseren Wissen zu einem ‚dummen‘ Spaß oder einem ‚bloßen‘ Spiel erklärt wird“ (ebd., S. 116). In der durch das bessere Wissen erzeugten Distanz zeigt sich somit die Abwehr eines Überschusses an, welcher eben in dieser spezifischen Form der Abwehr genießbar ist: In der Vorstellung, die durch das Spiel evozierte Erregung, nehme nicht einen selbst, wohl aber andere völlig gefangen. Vertritt Pfaller die Annahme, dass „[n]ur der Umgang mit einer in der Schwebe gehaltenen Illusion, nur die Verleugnung bzw. das Spiel solche exzessive Anteilnahme“ (ebd., S. 122) erzeugt, so führt er diese auf einen dem Spiel gegenüber wirksamen Ambivalenzkonflikt zurück. Der Kerngedanke lautet: Die Macht, mit der das Spiel die Spielenden zu ergreifen vermag, kann nicht anders erklärt werden als mit einer Legierung zweier gegeneinander gerichteter Affekte. „Gerade weil das Spiel in ihren Augen ‚Unsinn‘, ein bloßes Spiel ist, und weil sie das Spiel eben dafür verachten und hassen (während sie es zugleich – sei es für die dargestellte, aufgehobene Illusion, sei es für deren Auf hebung) – lieben, geraten sie in seinen Bann.“ (Ebd., S. 128) Pfaller greift damit einen Gedanken Freuds in „Totem und Tabu“ (1912/1913a) auf, demzufolge sich im Fall eines unbewussten Ambivalenzkonflikts feindselige und zärtliche Regung nicht subtrahieren. Ist die feindselige Regung

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verdrängt, bewirkt diese (im Unterschied zu einer bewussten Feindseligkeit) nicht etwa eine Minderung der zärtlichen Regung gegenüber dem Objekt. Das bessere Wissen Es ist nur ein Spiel wertet Pfaller demnach als Zeichen der Geringschätzung, als Zeichen einer feindseligen Regung gegenüber der mit dem Spiel einhergehenden Illusion, die die an dieser zugleich gewonnenen Begeisterung steigert. „Die durch das ‚Wissen‘ bedingte Verachtung gegen die Illusion addiert sich zu der ihr entgegengebrachten Liebe“ (Pfaller 2002, S. 128) und bewirkt die für das Spiel typische (im Vergleich zum profanen Bereich) gesteigerte Affektivität, die die Teilnahme (auch die des Publikums) an Spielen bewirken kann. „Die Geste der ‚intellektuellen Distanzierung‘ bildet darum die Bedingung für die enorme affektive Anhänglichkeit an die in der Schwebe gehaltenen Illusion.“ (Ebd., S. 129; vgl. auch S. 54) Der Begriff der Ambivalenz „macht jene paradoxe ‚Logik‘ der suspendierten Illusionen verständlich […] – nämlich der [sic] Umstand, daß eine durchschaute Illusion gerade für diejenigen, die sie durchschauen, zwingender wird als für alle anderen: Weil das ‚bessere Wissen‘, das diese Illusionen suspendiert, in affektiver Hinsicht Verachtung ist, steigert es die affektive Bindung an die Illusion“ (ebd., S. 144). Aufgrund dieser Ambivalenz vermag Pfaller zufolge das Spiel die Spielenden in Besitz zu nehmen, sie in seinen Bann zu ziehen. „Das Wissen, das für den spezifischen Affekt des Spiels notwendig ist, ist somit keineswegs nur ein kognitives Element. Vielmehr ist es auch selbst ein Affekt: Das Wissen ist Verachtung. Gerade diese Verachtung macht das Spiel zu einer zweischneidigen Sache. Sie lädt das Spiel mit Ambivalenz auf“ (ders. 2008, S. 45). Demnach würde das Wissen Es ist nur ein Film gerade nicht zu einem Mehr an Kontrolle über die filmische Wirkung führen, wie sie Musatti dem erwachsenen im Unterschied zum kindlichen Publikum zuspricht. In Musattis Differenzierung zwischen erwachsenem und kindlichem Publikum zeigt sich damit ein Prinzip kulturellen Lustgewinns. Und in diesem Punkt berühren sich Theorie und Erkenntnisgegenstand: In der von der Theorie formulierten Gewissheit, ‚unser‘ Wissen (also des Publikums im Allgemeinen) unterscheide uns vom speziellen Publikum (die imaginierten Träger der Einbildung der anderen), bleibt dessen konstitutive Funktion für den Lustgewinn unangetastet. Und insofern berühren sich diese Theorie und deren Gegenstand: Als Spiel betrachtet erweist sich auch die für die kulturelle Erfahrung mitunter begleitende (von den Filmologen speziell für den Kinobesuch konstatierte) affektive Teilnahme das Festhalten am besseren Wissen als konstitutiv. Dieses Wissen begründet in diesem Fall die Lust am Spiel. So hatte ich die filmologische Annahme einer den grenzüberschreitenden Aspekten vorausgesetzten Grenze zwischen filmischer und sonstiger Realität als eine Voraus-Setzung der filmologischen Theorie selbst bezeichnet (vgl. I.1). Es zeigt sich nun: Diese Voraussetzung hängt mit dem Lustgewinn im Bereich kultureller Erfahrung zusammen. Musattis theoretische Figur Mehr als nur, aber nicht Zuviel kann somit als Symptom verstanden werden: Die Kinoerfahrung wird (nicht nur von Musatti; vgl. I.2) in der Kategorie des Spiels gefasst. In der weitergehenden

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Differenzierung aber zeigt sich eine Ambivalenz gegenüber dieser begrifflichen Identifizierung: Zwei Vorstellungen kämpfen miteinander – der Theoretiker und ‚wir‘, das Publikum im Allgemeinen, sollen wissen, dass der Film nur und zugleich aber, dass das Kino Mehr ist. Eine Mäßigung des Mehr zeigt sich im theoretischen Einfangen des Zuviel (welches im speziellen Publikum lokalisiert wird). Insofern stellt diese Figur ein Symptom des – für kulturellen Lustgewinn konstitutiven – Ambivalenzkonflikts dar. Wie Pfaller unterstreicht, unterscheidet sich Huizingas Konzeption von vielen anderen Spieltheorien in der Annahme, die von Spielen ausgelöste Faszination, Erregung und Begeisterung übersteige die Intensität von Affekten im übrigen Leben. Basale Bedingungen für diese Steigerung werden demzufolge von der kulturellen Grenzziehung zwischen profanem und nicht-profanem Bereich erzeugt. „Der ‚heilige Ernst‘ korrespondiert einer für das Spiel grundlegenden Operation der Grenzziehung in Raum und Zeit – zwischen dem Spielfeld und seiner Umgebung, zwischen der Spieldauer und der übrigen Zeit. Diese Grenzziehung schafft die besondere, feierliche Atmosphäre und die gesteigerte Anteilnahme der Beteiligten wie der Zuschauer […].“ (Ders. 2002, S. 95f.; Herv. S. W.) Und das heißt auch: Nur wenn „die Spieler wissen (oder wenigstens zu wissen glauben), daß es nicht Ernst, sondern nur ein Spiel ist, verfallen sie in den heiligen Ernst“ (ebd., S. 116f.). Insofern Musattis Konzeption eben diese Bedingung erfüllt, kann Sierra als dessen Gegenspieler aufgefasst werden: Wie gezeigt, scheint dieser Ernst zu machen – und zwar profanen und nicht heiligen. Seine Aktionen demonstrieren: Dies ist nicht nur ein Spiel – das Nur wird insofern als gestrichen inszeniert (s.o.). Damit scheint sich Pfallers (ebenfalls in Anlehnung an Huizinga gewonnene) Prognose zu bestätigen, dass aufgrund der im Spiel wirksamen Ambivalenz sich dieses gegen sich selbst wenden kann. Im vermehrten Aufkommen negativer Spiele zeige sich dieses an: Es ist „in unserer Kultur zu einer umfassenden Profanisierung, das heißt: zu einer Tilgung heiliger Orte, gekommen“ (ders. 2008, S. 25). An die Stelle des heiligen tritt demnach der profane Ernst. Pfaller macht die Beobachtung, dass sich in westlichen Gesellschaften derzeit ein zunehmend lustfeindliches, auf (z.B. politische oder moralische) Sauberkeit bedachtes und insofern humorloses Klima verbreitet.20 Dafür, dass Sierras Aktionen durchaus dieser Tendenz zugeordnet werden können, spricht z.B. auch ein gewisser Moralismus, der sich durch die Rezeption zieht – häufig lässt sich ein gewisser Stolz heraushören, sich mit den von Sierra präsentierten Unannehmlichkeiten konfrontiert zu haben und so eine politisch korrekte Rezeptionshaltung unter Beweis gestellt zu 20 | „Nicht nur, dass sie [die Menschen in der Postmoderne; S. W.] an keine ‚großen Erzählungen‘ mehr glauben wie ihre offenbar von Naivität geschlagenen Vorfahren; sie haben sich auch alle unvernünftigen, ungesunden und politisch fragwürdigen Laster schlagartig abgewöhnt – oder finden zumindest, dass sie dies tun sollten. Sie rauchen nicht mehr, trinken weniger als früher, haben nicht nur weniger Sex, sondern versagen sich auch zunehmend jeden Flirt und jede charmante Geste.“ (Pfaller 2013, S. 123)

Drastisches Spiel – Vom humoristischen Moment kulturindustrieller Grenzüberschreitungen

haben.21 Anstelle der spielerischen Lust im heiligen Ernst positiver Spiele würde dann hier die moralische Befriedigung darüber treten, politisch integre Kunst zu rezipieren, die das Publikum gerade nicht über das Elend der Realität hinweg erhebt. Dieses negative Spiel wendet sich in der Streichung des Nur gegen den in positiven Spielen wirksamen Überschuss des (als Einbildung der anderen an das spezielle Publikum ausgelagerte) Mehr, welches – gemäß dem Prinzip der positiven Spiele – in Musattis Theorie in Abgrenzung zum Zuviel der filmischen Wirkung auf das spezielle Publikum artikuliert wird. Sierras Aktionen präsentieren: Spiel und Realität befinden sich auf einer Ebene. Insofern im Unterschied zu Sierras Aktionen Musattis Theorie in dieser Hinsicht einen Aspekt humoristischen Lustgewinns aufweist, hatte ich Sierra und Musatti bisher als Gegenspieler situiert. Nun aber wird sich herausstellen: Auch Sierras Aktionen partizipieren am Humor – ein Humor aber, dessen Lustgewinn auf anderem Wege erzielt wird als der, der in Musattis Theorie wirksam ist. Ausgehend vom humoristischen Moment als Gemeinsamkeit zwischen dem für Musattis Konzeption relevanten Nur ein Spiel und Sierras Streichung erweist sich der für das Spiel konstitutive Ambivalenzkonflikt als eine in dem Spannungsfeld von Grenzziehung und Grenzüberschreitung kulturindustrieller Erfahrung wirksame Dynamik.

9.  Spiel und Wirklichkeit: Im Ernst nicht unterschieden Beim humoristischen Moment von Sierras Arbeiten handelt es sich um eines, welches auch meiner eigenen Deutung inhärent ist.22 Dieses hängt damit zusammen, dass ich in einer bestimmten Hinsicht Spiel und Theorie auf einer Ebene verhandele – wenn ich nämlich nach einer Musattis Theoriebildung inhärenten spielerischen Lust frage. Es geht freilich wiederum ein Lustgewinn damit einher, Musattis Theorie auf eben diese Weise als Spiel zu untersuchen – d.h. es wird davon ausgegangen, dass sich die Sphären von ‚ernster‘ Theorie und Spiel überschneiden können. Insofern ich in diesem Zusammenhang die von Musatti unterstrichene und auf verschiedene Weise hervorgehobene Differenz zwischen kindlicher und erwachsener Publikumserfahrung als eine Einbildung der ande21 | „Santiago Sierra führt mich mit seinen ausweglosen Performances der Subalternität an die Grenzen konventioneller Ästhetik und macht mir meine eigene Position im Bezugssystem der Kunst als massives ethisches Problem klar. Ich erfahre hier die Konsequenzen einer Ästhetik, welche die Anderen grundsätzlich zu Objekten meiner Wahrnehmung macht, auf radikale Weise: In der Rolle des zu passiver Kontemplation Gezwungenen werde ich als Ausbeuter und Unterdrücker mitschuldig und habe in der Erfahrung der Situation keine Möglichkeit, mich dieser Schuldfrage zu entziehen. So werde ich aus dem Erfahrungsraum der Kunst herausgedrängt und kann mit mir selbst nur außerhalb der Grenzen des Werks ins Reine kommen.“ (Huber 2013, S. 321) 22 | Siehe dazu die Anmerkungen zu den Verwicklungen mit dem Objekt in der Einführung.

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ren im Sinne Pfallers interpretiere, betrachte ich diese für Musattis Konzeption relevante Unterscheidung in ihrer Funktion für den mit dieser Theoriebildung einhergehenden Lustgewinn. Dies lässt sich beziehen auf eine Art Minimierung generativer Differenz, der Freud in einer weiteren Erklärung für das Zustandekommen des humoristischen Lustgewinn Relevanz zumisst. In „Der Dichter und das Phantasieren“ (Freud 1908e) erklärt dieser, die Vorstellung erwachsenes und kindliches Spiel unterscheiden sich nicht im Ernst sei in diesem Zusammenhang entscheidend. Im Unterschied zu der in „Der Humor“ dargestellten Ansprache des Über-Ichs an das Ich: Das Leben ist doch nur ein Kinderspiel! Kommt damit ein Humor ins Spiel, der mit der Idee arbeitet Im Ernst befinden sich Spiel und Wirklichkeit auf einer Ebene. Und eben dies ist eben meine Perspektive auf Musattis Theoriebildung, wie sie sich in Konstellation mit Sierras Aktionen (die mit der Negation der Differenz von spielerischem und nicht-spielerischem Bereich arbeiten) eingestellt hat. Während in „Der Humor“ das Herabdrücken der Gefahren der Realität zum Kinderspiel als Mittel der humoristischen Lustgewinnung aufgeführt wird, bemerkt Freud hier: Die „schwere Bedrückung durch das Leben“ (ebd., S. 215) werde abgeworfen, in dem – so meine Zuspitzung – spielerische und nicht-spielerische Tätigkeiten in puncto Ernst gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung erfolgt im Zuge einer Herauf hebung des Spiels. Das Spiel, so könnte man auch sagen, erscheint hier nicht nur als ein Spiel – auch hier liegt also eine Streichung (in Form einer Verneinung) des Nur vor, ebenso wie in Sierras Vorgehensweise. Freuds eigentliche Frage in „Der Dichter und das Phantasieren“ ist, „woher diese merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt, […] und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht einmal für fähig gehalten hätten“ (ebd., S. 213)? Beim Kind, so Freud weiter, zeigen „sich die ersten Spuren dichterischer Betätigung“ (ebd., S. 214) im Spiel. Es sind drei Momente, an denen Freud eine Ähnlichkeit zwischen dem kindlichen Spiel und der Tätigkeit des Dichters festmacht. Es sei erstens die Versetzung in eine andere, eigens erdachte Welt. Der Dichter und das Kind teilten, was ‚uns‘ (s.o.) verloren sei: „Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Welt versetzt.“ (Ebd.) Zweitens nennt Freud den Ernst, mit dem diese Welt sowohl vom spielenden Kind als auch vom Dichter genommen werde – was bedeutet: Diese ist affektiv besetzt. Es „wäre dann unrecht zu meinen, es [das Kind] nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt das Spiel sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf.“ (Ebd.) Drittens: Doch so ernst diese Spiel-Welt auch genommen werde, gleichwohl werde diese von der Wirklichkeit gesondert; vom Dichter gar „scharf“ (ebd.). Während Musatti seine gesamte Konzeption auf der Annahme auf baut, das Kind unterscheide nicht zwischen Realität einerseits und Film, Phantasie, Spiel, Traum

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andererseits, vertritt Freud also an dieser Stelle eine andere Ansicht: Das Kind macht sehr wohl einen Unterschied und es differiert das Kinderspiel in dieser Hinsicht nicht von dessen Abkömmlingen im Erwachsenenalter. „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an greif bare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an.“ (Ebd.) Kurz hält Freud in diesem Zusammenhang fest, dass die Unterschiedenheit von Spiel und Wirklichkeit auch für das Publikum von größter Bedeutung ist: „[D]enn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiele der Phantasie, viele an sich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer zur Quelle der Lust werden.“ (Ebd.) Demnach verfügt die Kunst über Techniken der Ablenkung der Zensur, womit ansonsten unzugängliche Lustquellen eröffnet werden. Freud kommt hier auf den Humor als eine solche Technik zu sprechen. Wie in „Der Humor“ stellt Freud auch an dieser Stelle die Verhältnisse des Lustgewinns anhand eines Aufeinandertreffens von Erwachsenem und Kind in einer Person dar (s.o.). Es lohnt sich hier genau darauf zu achten, wie Freud diesen Zusammenhang herstellt – auf besondere Weise nämlich werden der Erwachsene und das Kind zusammengeführt: aus der Sicht des Kindes im Erwachsenen. Es geht um das Kind, welches im Zuge seines Erwachsenwerdens aufhört zu spielen und „sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernst zu erfassen“ (ebd., S. 214f.). Jedoch könne dieses herangewachsene Kind „eines Tages in eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt“ (ebd., S. 215). Welcher Gegensatz von Spiel und Wirklichkeit ist hier gemeint? Es kann nicht der Gegensatz zwischen Spiel und Wirklichkeit an sich gemeint sein, der wieder aufgehoben wird – denn Freud hatte zuvor betont: Auch das Kind unterscheidet seine Spielwelt von der Wirklichkeit. Es handelt sich hier m.E. um einen bestimmten Gegensatz, der sich erst für das herangewachsene Kind, also den Erwachsenen, ergibt: nämlich den, dass der Erwachsene in der Regel die Wirklichkeiten des Lebens im Unterschied zum Spiel ernst nimmt. Für das noch nicht herangewachsene Kind hingegen gilt (s.o.): Es nimmt Spiel und Wirklichkeit – obgleich beide unterschieden werden23 – gleichermaßen ernst. Der komische Lustgewinn, wie er hier von Freud hergeleitet wird, ergibt sich eben aus der Auf hebung dieses Unterschieds zwischen Spiel und Wirklichkeit, wie er für das herangewachsene Kind zumeist geltend ist – so speist sich der Humor dieser Erklärung zufolge daraus, das Spiel wieder ebenso ernst wie das Leben zu nehmen. Die Erinnerung an den Ernst, mit dem dem Spiel in Kindertagen begegnet wurde, lässt dieses nicht minder schwerwiegend dem Ernst des Lebens gegenüber erscheinen. „Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine 23 | In welcher Hinsicht wird hier nicht gesagt.

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Kinderspiele betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des Humors.“ (Ebd.) Dieser vollzieht sich demnach in der inszenierten Berührung von Wirklichkeit und Spiel im Ernst. Der Lustgewinn des Humors ergibt sich in einem Vergleich zwischen Kinderspiel und den Wirklichkeiten des Lebens auf den Ernst hin. Unter dem Einfluss des Humors erscheint der Ernst demnach als das, was das Kinderspiel vom Leben des Erwachsenen nicht unterscheidet. Im Humor tritt also der Ernst als nicht-entscheidendes Kriterium der Unterscheidung zwischen Spiel und Wirklichkeit auf – der Lustgewinn ergibt sich demzufolge aus einem sinnlosen Vergleich. Folgendermaßen lässt sich der Vorgang paraphrasieren: Sind das Spiel und die sonstige Wirklichkeit anhand des Ernsts zu unterscheiden? Antwort: Nein, im Ernst sind diese nicht unterschieden. Sinnlos ist der Vergleich, denn er ergibt = nichts – lustvoll ist der Vergleich, denn die Ersparnis an der erwarteten Sinnbildung verschwendet sich als humoristische Lust an der Nicht-Sinnhaftigkeit des Vergleichs. Hatte sich bisher – vor dem Hintergrund von Pfallers Unterscheidung von positiven und negativen Spielen sowie Freuds Bestimmungen in „Der Humor“ – Sierra als humorloser Gegenspieler von Musattis humorvoller Theorie dargestellt, lässt sich nun feststellen: Auch Sierras Aktionen enthalten ein humoristisches Element, welches aber ein anderes ist als in Musattis Konzeption. Dieses zeigt sich hier in der Präsentation einer ästhetischen Realität, in der künstlerisches Spiel und die Last der sonstigen Realität nicht im Ernst (z.B. dem physischen Schmerz) zu unterscheiden sind. Eben dieses humoristische Moment ist aber in Form der herausgestellten Gegenfigur in Musattis Theorie auch für diese selbst wesentlich: Die von Musatti selbst nicht angenommene Annahme anderer, der filmische Realitätseindruck sei durch die kindliche Nicht-Unterschiedenheit von filmischer und sonstiger Realität charakterisiert. Ebenso wie für Sierras Aktionen die von ihm angegriffene Position zentral ist, welche als Annahme einer Differenz zwischen künstlerischer und sonstiger Realität vorgestellt ist (die Musatti als seine Annahme vertritt). In beiden Fällen hängen diese Konstellationen je mit einem humoristischen Moment zusammen, der konstitutiv für den Lustgewinn ist. In dieser Form enthalten positive und negative Spiele je ihr Gegenspiel in sich. Jeweils ist ein anderes humoristisches Moment enthalten – das eine zusammenhängend mit dem Herunterspielen des Spiels (nur ein Spiel), das andere mit einer Heraufhebung des Spiels (auf eine Ebene mit der sonstigen Realität). Sierra und Musatti sind nicht insofern Gegenspieler, als dass die eine Darstellung ein humoristisches Element enthält und die andere nicht. Sie sind Gegenspieler, insofern die Vorstellungen von Heraufhebung oder Herunterspielen unterschiedlich besetzt sind – eine tatsächliche Differenz zwischen spielerischer und sonstiger Realität wird (im wahrsten Sinne des Wortes) angenommen und expliziert (Musatti) oder anderen als deren Ideologie zugespielt (Sierra); andersherum: die Gleichstellung von Spiel und Realität wird angenommen und präsentiert (Sierra) oder ande-

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ren unterstellt (Musatti). Das heißt: Beide Konzeptionen weisen ein immanentes Spannungsverhältnis von Grenzüberschreitung und Grenzziehung auf. Beide Artikulationen versuchen dieses auf ihre Weise zu lösen – die je mit einem Moment humoristischen Lustgewinns verbunden ist, der (auf je unterschiedlichem Wege) eine „Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“ (ebd., S. 216) darstellt. Dass sich die Sierras negativem Spiel verbundene „ernste Selbstachtung“ (Pfaller 2008, S. 59; s.o.) nicht durch völlige Humorlosigkeit vom positiven Spiel Musattis unterscheidet, wirft die Frage auf, ob der heilige Ernst positiver Spiele wirklich das einzige Symptom des spielerischen Moments kulturellen Lustgewinns ist. Es handelt sich um eine Annahme, die Pfallers von Huizinga bezogener These des Verschwindens des Spiels in der gegenwärtigen Kultur zugrunde liegt. Gerade vor dem Hintergrund der Pfaller zufolge in der Kultur wirksamen Ambivalenz gegenüber dem Spiel stellt sich also die Frage: Zeigen negative Spiele als Angriffe auf den heiligen Ernst positiver Spiele tatsächlich ein Verschwinden des Spiels in der zeitgenössischen Kultur an, oder lässt sich nicht vielmehr das Verhältnis positiver und negativer Spiele zueinander als symptomatische Form der Realisierung kulturellen Lustgewinns verstehen? Nicht als Zeichen eines Verschwindens des Spiels per se also, sondern als eine Form, in der sich das Verhältnis von Grenzüberschreitung und Grenzziehung im Spannungsfeld von Spiel und sonstiger Realität in der Kulturindustrie artikuliert (vgl. I.1)? Bevor ich abschließend zu diesem Punkt komme, soll zunächst ein Rückblick den bisherigen Verlauf der Darstellung bündeln.

10. Zusammenfassung Ausgehend von der Feststellung, dass Musattis Konzeption filmischer Wirkung und Sierras Arbeiten je unterschiedliche Pole des im spielerischen Moment Adorno zufolge wirkenden Spannungsfelds von Grenzüberschreitung und Grenzziehung besetzen (vgl. I.1), habe ich Sierras Inszenierungen in Konstellation mit meiner Analyse von Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel interpretiert. Zunächst (1.) habe ich gezeigt, inwiefern Sierras als drastisch zu verstehende Vorgehensweise in der Rezeption verbunden wird mit Figuren des Mehr als nur ein Spiel und Zuviel. Auffällig ist in Bezugnahmen auf die Arbeiten ein Changieren zwischen der Aussage Sierra stellt Realität her und der (als zunächst gegenläufig erscheinenden) Betonung des ästhetischen Charakters der Inszenierungen. Dieses Changieren kann in Bezug gesetzt werden zu einer grundlegenden Charakteristik von Sierras Inszenierungen: Diese befinden sich am Schnittpunkt, an dem sich (scheinbar tatsächliche) Fortsetzung von und (scheinbar gegen die tatsächliche Realität gerichtete) Kritik an gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen treffen. Eine ähnliche den Werken inhärente Gegenläufigkeit zeigt sich auch in deren Bezugnahme auf die Kunstwelt – wie ich anhand der Arbeit Herausgerissene Mau-

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er einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden gezeigt habe (2.). Es wird hier in einer bestimmten Weise eine Wendung von Kunst gegen Kunst vollzogen – im Rahmen eines Kunstwerks wird dessen Grenze zur alltäglichen Welt im buchstäblichen Sinne angegriffen. Die Inszenierungen haben insofern den Charakter eines Ernstfalls, als eine Grenzüberschreitung zwischen bloßer Darstellung und Realität inszeniert wird. Dieser grenzüberschreitende Charakter ergibt sich (scheinbar paradox) durch ein Hervorheben, ein Explizit-Machen der ästhetischen Grenze (3.). Diese bezeichnet im Allgemeinen das Verhältnis von Bild- und Realraum im Bereich (im Rahmen) des Bildes. Sierras Vorgehen richtet sich gegen Konventionen traditioneller Bildgestaltung. Gemäß diesen präsentiert sich das Werk als abgeschlossene Einheit, welche dem Publikum zugleich ein „begehbares Innen“ (Prange 2010a, S. 160; s.o.) offeriert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die ästhetische Grenze in der traditionellen Bildgestaltung verdeckt auftritt. Den in Abschnitten I.2 und I. 3 verhandelten filmologischen Theorien liegt diese konventionelle Auffassung zugrunde. Im nächsten Schritt habe ich untersucht, wie in Musattis Theorie und in Sierras Inszenierungen jeweils die ästhetische Grenze positioniert ist (4.). Das von Musatti beschriebene Pendeln ästhetischer Erfahrung bezeichnet ein Spiel mit der ästhetischen Grenze im Sinne der traditionellen Bildgestaltung, welches in einem Überschreiten einer verdeckten Schwelle besteht. Demgegenüber ließen sich Sierras Inszenierungen als eine Hervorkehrung dieser Schwelle im Angriff auf diese beschreiben. Diese hat hier den Charakter einer offengelegten Kontaktstelle zwischen Real- und Kunstraum – einer Schnittstelle, die sich im Rahmen der Performance z.B. in den im Verlauf der Aktionen verursachten physischen Schmerzen materialisiert. An dieser repräsentiert sich also die ästhetische Grenze als ein Konfliktfeld zwischen Real- und Kunstraum im Rahmen der Performances. Es liegt in Sierras Arbeiten demnach eine grundsätzlich andere Anordnung als in Musattis Konzeption vor. Bezieht man beide aufeinander, lässt sich pointieren: Sierra streicht das nur in dem Satz Es handelt sich hier nur um eine Darstellung, welcher für Musattis Beschreibung der Filmwirkung zentral ist. Sierra vollzieht in dieser Hinsicht den Ernstfall, der Musatti zufolge zu vermeiden wäre (vor allem eben wegen der Gefahr einer Ansteckung des Publikums durch zu konkrete Gewaltdarstellungen; vgl. I.3). Die Stellung der ästhetischen Grenze ist demnach je eine andere – in Musattis Konzeption dient sie als Verteidigungslinie im Dienste der Distanzierung von überwältigenden Effekten der Referenzen auf den Realraum, in Sierras Inszenierungen der drastischen Explizitmachung derselben. Diese verschiedenen Stellungen der ästhetischen Grenze habe ich auf Pfallers Unterscheidung zwischen positiven und negativen Spielen und auf eine Bestimmung des Humors von Freud bezogen (5.). Dabei bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass Musattis Konzeption mit dem positiven Spiel verwandt ist, welches ein spezifisches humoristisches Moment impliziert, wie es Freud in „Der

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Humor“ fasst. Dieses besteht in einer Art Distanznahme von Lasten der Realität, die Freud mit einer freundlichen Ansprache des Über-Ichs gegenüber dem Ich zusammenbringt: Sieh her, die Welt ist nur ein Kinderspiel. Sierras Betonung des Ernsts der dargestellten Realität korrespondiert demgegenüber mit einer Humorlosigkeit der negativen Spiele: Sieh her, so gefährlich ist die Welt. Dieses negative Spiel präsentiert meiner Deutung zufolge den TeilnehmerInnen positiver Spiele eine andere Welt – mit einem gegen positive Spiele gerichteten Gestus scheinen Sierras Aktionen zu sagen: Und dies ist die Welt, wie sie tatsächlich ist – gerade kein bloßes Kinderspiel. Nach dieser Positionierung von Sierras Inszenierungen als humorlose Gegenspieler von Musattis Theorien habe ich die Ebene gewechselt. Nun wurden die innerhalb der Konzeptionen situierten Gegenspieler in den Blick genommen – in Musattis Theorie das Publikum im Allgemeinen versus das spezielle Publikum, in Sierras Werk präsentieren sich die Aktionen als Gegenentwürfe zur Minimal Art (6.). In beiden Fällen geht es nicht um eine schlichte Gegenüberstellung – Engführungen verbinden sich mit Abgrenzungsbestrebungen. Für Musatti besitzt die filmische Wirkung auf das erwachsene Publikum ein kindliches Moment, Sierra bedient sich selbst minimalistischer Techniken – gerade im Zuge von Engführungen, so kann man sagen, wird in beiden Fällen die Abgrenzung gesucht. Sierras Abgrenzung von der Minimal Art wurde exemplarisch anhand von Arbeiten Donald Judds untersucht, um einen wesentlichen Unterschied zwischen Musattis und Sierras Konzeptionen herauszustellen. Musattis Betonung der Differenz zwischen erwachsener und kindlicher Beziehung zum Film basiert auf der Annahme, die Wahrnehmungswelt der Kinder sei durch den Mangel der Grenze zwischen ästhetischer und alltäglicher Realität charakterisiert (welcher hier das Zuviel des kindlichen Filmerlebens betrifft). Sierras Arbeiten lassen sich als eine Herausstellung eines Zuviel in anderer Hinsicht lesen: Zuviel setzen Minimal Art-Werke auf eine Grenze zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Welt. In den ersten Schritten habe ich also das ästhetische und das theoretische Material als Gegenspieler verhandelt, indem ich Sierras Aktionen negativen und Musattis Theorie positiven Spielen zugewiesen habe. Darauffolgend habe ich die innerhalb der Konzeptionen auftauchenden Gegenspieler untersucht. Hiervon ausgehend konnte dann ausgewiesen werden, inwiefern Musattis Gegenspieler-Figur des speziellen Publikums für den spielerischen Lustgewinn von entscheidender Bedeutung ist (7.). Ausgehend von diesem Vergleich der Konzeptionen von Sierra und Musatti bin ich übergegangen zu der Frage, inwiefern sich an dieser spezifischen Formulierung des Spiels verschwiegene Bedingungen des mit dem spielerischen Moment kultureller Erfahrung verbundenen Lustgewinns erkennen lassen. Mit dem Ergebnis: Die in die Konstellation von dem Publikum im Allgemeinen und speziellem Publikum eingebettete Figur des Mehr als nur, aber nicht Zuviel konnte als Symptom eines laut Pfaller für den kulturellen Lustgewinn entscheidenden Ambivalenzkonflikts gegenüber dem Spiel ausgewiesen werden.

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Hierfür habe ich ein zweites Kriterium der Unterscheidung von positiven und negativen Spielen miteinbezogen: Die Instanz eines imaginären, naiven Beobachters, der sich in Musattis Figur des speziellen Publikums konkretisiert. So konnte Musattis Formulierung Mehr als nur und die hiermit verbundenen Figuren des Publikums im Allgemeinen und des speziellen Publikums aufgeschlüsselt werden. Nach Pfaller ist die – mit kulturell-spielerischer Erfahrung einhergehende – Vorstellung Es ist nur ein Spiel stets begleitet von der gegenläufigen Das Spiel ist mehr als nur ein Spiel. Letztere werde an einen anderen delegiert in der Vorstellung, es gäbe jemanden, der das Spiel nicht von der Realität unterscheiden könne. Diese sogenannte Einbildung der anderen ist nach Pfaller die Bedingung dafür, leidenschaftlich am Spiel teilzunehmen – sich diesem hinzugeben, obwohl man weiß, dass es sich nur um ein Spiel handelt. Hierin sieht Pfaller eine für die unbewusste Dynamik des Spiels grundlegende Ambivalenz: Die Herabminderung des Spiels zu einem bloßen Spiel zeugt von einer aggressiven Wendung gegen das Spiel, welche in Legierung mit gleichzeitig bestehender libidinöser Besetzung das hohe Maß an Affektivität bewirkt, die das Spiel evozieren kann. Dem Spiel gegenüber feindselige (es ist nur – eine Herabwürdigung der spielerischen Tätigkeit) und libidinöse (trotzdem ist das Spiel großartig) Regungen potenzieren sich demnach wechselseitig. Diese Dynamik begreift Pfaller als ausschlaggebend für die gesteigerte Begeisterung, die positive Spiele hervorrufen können, welche er mit Huizinga als heiligen Ernst bezeichnet (8.). Wird in diesem Zusammenhang ein tendenzielles Schwinden des heiligen Ernsts in der gegenwärtigen Kultur konstatiert (vgl. I.1), so ließen sich Sierras Inszenierungen als Teil dieser Tendenz interpretieren. Mit dem letzten Abschnitt nahm meine Darstellung eine entscheidende Wendung: Unter Rückgriff auf eine weitere Bestimmung des Humors von Freud in dem Text „Der Dichter und das Phantasieren“ konnte gezeigt werden, dass auch Sierras Arbeiten ein humoristisches Moment aufweisen (9.). In beiden Fällen handelt es sich um Gewinn, der „hintenherum“ (Adorno 1958/59, S. 73; vgl. I.1; Einführung) erzielt wird.24 Ist dieser im Falle von Musattis Grenzziehungen an die Absetzung des Spiels von der sonstigen Realität gebunden, so ist es in jenen gerade die mit der Verpflichtung auf den Ernst des Lebens demonstrierte Gleichstellung von Spiel/Kunst und sonstiger Realität, die spielerischen Lustge24 | Adorno bezieht sich hier in den Vorlesungen zur Ästhetik auf den Verzicht auf die Verfolgung von Zwecken der nicht-spielerischen Realität – die z.B. ökonomische Vorteile wären. Spiele, so heißt es an dieser Stelle, zeichnen sich zunächst einmal dadurch aus, dass sie „nicht Bestandteile der unmittelbaren empirischen Realität sind, daß sie in gewissem Sinne zweckfrei sind und daß man nicht unmittelbar Vorteile mit ihnen verfolgt, sondern wenn das geschieht, dann geschieht es eben nur hintenherum“ (Adorno 1958/59, S. 73; vgl. I.1). Jetzt wird eine weitere Dimension dieser Formulierung deutlich: Durch diesen Verzicht wird ein anderer, libido-ökonomischer Vorteil gewonnen – ein Lustgewinn, erzielt auf Umwegen.

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winn stiftet. Freud zufolge werden auf diese Weise gerade unter Ausnutzung der Hemmung, Spiel und Realität in gleicher Weise ernst zu nehmen (d.h. affektiv zu besetzen), im Bereich des Ästhetischen verdrängte Phantasien genießbar. (Darauf beruht auch der provokatorische Charakter von Sierras Aktionen.) Das humoristische Moment dient demnach in Sierras Inszenierungen als Hintertür, durch die verdrängte Wünsche in den ästhetischen Lustgewinn eingehen. In solch einer Situation sind Spiel und Realität auf einer Ebene situiert hinsichtlich ihrer Ernstnahme (wobei sie gleichwohl als unterschieden wahrgenommen werden). Hierin liegt Freud zufolge eine wesentliche Leistung eines in künstlerischen Darstellungen wirksamen humoristischen Moments. Dies bedeutet bezogen auf Sierras Inszenierungen paradoxerweise: Die Erhebung des Spiels (die Streichung des nur) auf eine Ebene mit dem scheinbar Faktischen, dem bitteren Ernst des Lebens, kann – in der psychischen Realität – für eine Absetzung von diesem sorgen. Gerade in der Verpflichtung des künstlerischen Spiels auf die „allzu schwere Bedrückung durch das Leben“ (Freud 1908e, S. 215) wird diese auch abgeworfen und der „hohe Lustgewinn“ (ebd.) des Humors gewonnen. Was wiederum auch Empörung provozieren oder dem mit politisch korrekter Selbstachtung begegnet werden kann.

11. Ausgespielt Sind negative Spiele, wie Pfaller feststellt, gegen die in den positiven Spielen genossene Ambivalenz gerichtet, so tendieren sie zu einer narzisstischen Abdichtung (z.B. in Form einer moralischen Integrität) und erzeugen diesem zufolge kaum Lust. Stattdessen werde das Publikum in die Haltung ernster und politisch korrekter Selbstachtung versetzt (s.o.), in der eine narzisstische Tendenz „zur Vertilgung alles dessen, was dem Ich fremd ist“ (Pfaller 2008, S. 56) zu erkennen sei. Dass auch in Sierras – von mir als negative Spiele interpretierten – Aktionen ein humoristisches Moment steckt, dementiert m.E. diese Diagnose nicht. Benannt ist damit aber ergänzend, inwiefern auch dieses negative Spiel ein Spiel ist (vgl. ebd., S. 57; s.o.) und inwiefern die damit verbundene Wendung gegen positive Spiele hier einen Einspruch gegen die in positiven Spielen wirksame Ambivalenz darstellt – die selbst von einem spielerischen Lustgewinn begleitet ist. Wenn die Wendung gegen positive Spiele mit einem Moment humoristischen Lustgewinns operiert, so zeigt sich auch hier (obgleich der Lustgewinn im Vergleich zu positiven Spielen geringer ausfallen mag) eine Ambivalenz – und damit: dass sich hier ein widerstreitendes Moment in der Tendenz der Vertilgung alles Ich-Fremden (s.o.) in Form der Wendung gegen positive Spielen geltend macht. Wohl aber ist die – von Pfaller auf das von ihm beobachtete Zunehmen negative Spiele bezogene – These vom gegenwärtigen Verschwinden des Spiels25 (vgl. I.1; 25 | Auch Ritsert z.B. scheint davon auszugehen, dass die Aufhebung der Differenz von Ernst und Spiel, auf die Kunstwerke zielen können, in jedem Fall als ein Verlust des Spiels

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Einführung) in Frage gestellt, bzw. wird deutlich, inwiefern diese These einen blinden Fleck hinsichtlich der wechselseitigen Verwiesenheit negativer und positiver Spiele aufeinander aufweist. Die Wendung gegen positive Spiele, die Pfaller in Anschluss an Huizinga als Verschwinden des Spiels aus der zeitgenössischen Kultur beschreibt, erweist sich vielmehr als eingebunden in ein Ausspielen positiver und negativer Spiele (immanent wie im Bezug aufeinander). So konnte gezeigt werden: Es macht auch deshalb Sinn, negative Spiele als Spiele (die in gewisser Weise ein Verschwinden des Spiels inszenieren) zu betrachten, da sich in diesen ein spezifisch spielerisches Moment auffinden lässt, welches sich gewissermaßen gegen die Basis positiver Spiele richtet. In negativen Spielen macht sich hier eine Ambivalenz in der Abwehr der Ambivalenz positiver Spiele geltend, so mein Ergebnis. Sierras und Musattis Darstellungen weisen ein immanentes Gegeneinander-Ausspielen auf – bezogen auf das jeweilige Moment humoristischen Lustgewinns sind die Haltungen dem Spiel gegenüber konträr: ein Herunterspielen (nur ein Spiel – Musatti) auf der einen und ein Heraufspielen (nicht nur ein Spiel – Sierra) auf der anderen Seite. Das Spannungsverhältnis von Grenzüberschreitung und Grenzziehung ist in beiden Fällen nicht aufgelöst – in beiden Übersetzungen des vom spielerischen Moment in der Kultur aufgeworfenen Rätsels Wo verläuft die Grenze? ist in jeweiliger Wendung gegen das Festhalten bzw. den Angriff eine unbewusste Dynamik wirksam, aus der ein spielerischer Lustgewinn gewonnen werden kann. Das Ausspielen von Grenzüberschreitung und Grenzziehung kann als Symptom für die Verwicklung der Subjekte in die einleitend skizzierte Gleichzeitigkeit von Absetzung und Verlängerung in der Kulturindustrie verstanden werden – es interferiert somit mit dem Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Spätkapitalismus (vgl. I.1). Damit komme ich zu der Ausgangsüberlegung dieses Kapitels zurück, dass das Motiv der Grenzüberschreitung ein Austragungsort für eine Krise des Spielcharakters ist, in der Affirmation und emanzipatorisches Potential miteinander verschränkt sind.

zu werten ist: „[J]e ernster es Kunstwerke mit ihrem Widerspruch gegen den Ernst der entfremdeten Gesellschaft, dem ‚Ernst des Daseins‘ nehmen, desto mehr ähneln sie sich eben diesem Ernst an, von dem sie sich doch als Negativität distanzieren wollen. D.h.: Sie verlieren das Spielerische“ (Ritsert 2014, S. 10f.) Gerade aber die Erhebung des Spiels auf eine Ebene mit dem Ernst, mit dem sonst der tatsächlichen Welt begegnet wird, ist aber, wie unter Rückgriff auf Freuds zweite Humortheorie gezeigt werden konnte, eine mögliche Strategie humoristischen Lustgewinns.

I.5 Schluss: Es ist ein Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Spiel

Es zeigte sich, dass sich der aus dem spielerischen Moment geschöpfte Lustgewinn in einem wechselseitigen Ausspielen von positiven und negativen Spielen vollziehen kann. Diese weisen dabei je eine andere Verwandtschaft mit dem Humor auf, anhand der gezeigt werden konnte, dass es sich um zwei verschiedene Wege zum nämlichen Ziel handelt: In beiden Fällen erzeugt das spielerische Moment einen Lustgewinn aus der „Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“ (Freud 1908e, S. 216; s.o. in I.4). Abschließend soll nun unter Bezugnahme auf Adorno und in einem collageartigen Rückbezug auf das Vorhergehende skizziert werden, dass ein Einsatz in diesem Spiel ein mit jener Korrektur verbundenen Versprechen von Glück darstellt, welches im Übergang von Spiel und Arbeit gewonnen werden könnte. Es handelt sich um einen Einsatz, der in diesem Ausspielen, als solches ich die Beziehung von Sierras und Musattis Inszenierungen gefasst habe, zugleich verspielt wird. In beiden Spielformen beruht der hier erzielte Lustgewinn unweigerlich auf einem gleichzeitigen Verzicht darauf, ein vom Spiel versprochenes Glück in Anspruch zu nehmen (vgl. I.1). Dies eröffnet eine andere Perspektive auf die gesellschaftliche Bedeutung des spielerischen Moments als kulturtheoretische Ansätze, die von einem gegenwärtigen Niedergang des Spiels ausgehen oder solche Positionen, die in einer zunehmenden Verallgemeinerung des Spiels eine Vergrößerung des politischen Handlungsspektrums sehen (vgl. I.1). Ausgegangen ist dieser Teil meiner Arbeit von der Auffassung Adornos, dass für das Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Spätkapitalismus eine Gleichzeitigkeit von Abgrenzung und Grenzüberschreitung wesentlich ist – bei gleichzeitiger Trennung verlängern sich diesem zufolge Charakterzüge der Sphäre der Arbeit in das Amusement hinein. Immanent, so eine meiner Ausgangsthesen (vgl. I.1), bildet sich im und in Spielen dieses Spannungsfeld in einem Zusammenwirken von Grenzüberschreitung und Grenzziehung ab, das ich anhand der spielerischen Momente von Musattis Theorie und Sierras Inszenierungen in diesem Kapitel untersucht habe. Die humoristischen Momente zeugen auch stets von einem Konflikt, der der – im Zuge des Erwachsenwerdens – im Seelenleben etablierten Grenzziehung zwischen den Sphären von Arbeit und Freizeit zugrunde liegt. Aus diesem

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Konflikt schöpft sich der humoristische Lustgewinn. Gehört zu den Zumutungen der Realität, über die der Humor erhebt, auch die gesellschaftliche Trennung der Sphären von Arbeit und Freizeit selbst, so entzündet sich an dieser der spielerische Lustgewinn – z.B. in wechselseitigem Ausspielen von positiven und negativen Spielen. An der Konstellation von Sierras Aktionen und Musattis Theorie hat sich in Bezug auf das spielerische Moment kulturellen Erlebens gezeigt: Im Für und Wider gegenüber den Grenzziehungen zwischen der Sphäre von Spiel und Nicht-Spiel wird hier spielerische Lust gewonnen – im Festhalten wie im Angriff. Cohen-Séats Vision vom Kino als universelle Institution nimmt Partei für die hier gebotene Möglichkeit der Realitätsflucht – in der filmischen Wirkung auf das Publikum erblickt er ein fortschrittliches Potential. Er hält in diesem Zusammenhang das „Recht des Besens, der Arbeit zu entfliehen und wieder zum Reitstecken zu werden“ (Cohen-Séat 1962, S. 110; vgl. Kap. I.2), hoch. Im Mehr an Tatsächlichkeitswert des filmischen Realitätseindrucks gegenüber anderen künstlerischen Darstellungsformen verortet Cohen-Séat ein Potential, das die Filmerfahrung darüber hinaustreiben könnte, ein bloßes Spiel zu sein. Insbesondere anhand von Musattis Konzeption ist deutlich geworden, dass in diesem Zusammenhang von den Filmologen zugleich eine Einschränkung aufgemacht wird: Voraussetzung für das Potential des Mehr sei, dass das Spiel nicht über seine Grenzen gehe – nicht Zuviel. Hält Cohen-Séat fest, die Wirkung entfalte sich grundsätzlich „in der Muße und durch die Freizeit, niemals aber in der Arbeitszeit und durch die Arbeit auf Individuen“ (Cohen-Séat/Fougeyrollas 1966, S. 40; vgl. Kap. I.2)1, so beschreibt auch Musatti in Abgrenzung zu gefährlichen Ernstfällen der filmischen Suggestion auf Jugendliche die evasiven Vergnügen von ‚ehrenwerten‘ Herren als eine sonntägliche Angelegenheit (vgl. Kap. I.3). Des Sonntags wird Mu1 | Auch Huizinga zufolge gilt als eine der ersten und grundlegenden Charakteristiken des Spiels: Es „ist überflüssig. Nur insoweit wird das Bedürfnis nach ihm dringend, als es aus dem Vergnügen an ihm entspringt. […] Es wird in der ‚Freizeit‘ gespielt“ (Huizinga 1958, S. 15). Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass das Spiel „der Kultur dienstbar wird, ja besser noch, daß es selbst Kultur wird“, „denn die Ziele, denen es dient, liegen selber außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses oder der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten“ (ebd., S. 16) – woraus Huizinga das Kennzeichen der „Abgeschlossenheit und Begrenztheit“ (ebd., S. 17) ableitet. Das Spiel wird bestimmt als „eine freie Handlung […], die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird“ (ebd., S. 20). Huizingas These von der mit der Selbstzweckhaftigkeit des Spiels verbundenen Absetzung von unmittelbaren Zwecken außerhalb des Spiels unterstützend, kritisiert Adorno zugleich dessen Verabsolutierung der Abgeschlossenheit der Spielsphäre: „Hinfällig dagegen ist Huizingas Interpretation von der ‚Hermetik des Spiels‘, die zudem mit seiner eigenen dialektischen Definition des Spiels als Einheit des ‚Glaubens und Nicht-Glaubens‘ kollidiert.“ (Adorno 1970, S. 472) Huizinga übersähe eben jene sich in Absetzung vollziehende Fortsetzung im Spiel, d.h., wie sich der außer-spielerische Bereich im Spiel niederschlägt.

Schluss

satti zufolge die beruflichen Belastung durch evasive Entlastung entlohnt: ein Mehr an Vergnügen gegenüber der Arbeit. Der filmologische Einsatz, das Kino als Freizeitvergnügen in seiner gesellschaftlichen Funktion und in seinem historischen Potential ernst zu nehmen und zu verteidigen, beruht grundlegend – und in verschiedener Hinsicht – auf einer Eingrenzung des Spiels. In dieser Eingrenzung (und damit verbundenen Abgrenzung gegenüber dem Ernstfall) liegt im Wesentlichen, wie ich gezeigt habe, das Musattis Theorie immanente spielerische Moment. Dieses impliziert ein humoristisches Element, durch den sich Freud zufolge das Ich von den „Traumen der Außenwelt“ absetzt im Triumph „gegen die Ungunst der realen Verhältnisse“ (Freud 1927d, S. 385). Nicht zuletzt korrespondiert die Abgesetztheit des Ernsts des Lebens vom heiligen Ernst des Spiels mit der Teilung der gesellschaftlichen Sphären von Freizeit und Arbeit. Diese ist Freud zufolge Ergebnis jahrzehntelangen Erringens (vgl. II.4), Adorno wiederum spricht von puritanischem Eifer (vgl. Adorno 1969a, S. 647), mit welcher die Freizeit von der Arbeit getrennt gehalten werde. Die strikte Grenzziehung zwischen beiden Sphären entspräche einer „heute vielleicht schon überholten Ideologie“ (ebd., S. 649), die den (einem „Verhaltensschema des bürgerlichen Charakters“ (ebd., S. 647) entsprechenden) Auftrag erteile, „bei der Arbeit konzentriert [zu] sein, nicht sich [zu] zerstreuen, keine Allotria [zu] betreiben“ (ebd.), während die Freizeit einen „in nichts an die Arbeit erinnern“ (ebd.) solle: „Work while you work, play while you play“ (Adorno 1951a, S. 146). In dieser „repressiven Selbstdisziplin“ (ebd.) würden die Subjekte auf eine Trennung von Arbeit und Vergnügen verpflichtet, während angesichts der fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte im Spätkapitalismus aber Bedingungen gegeben seien, unter denen „der Zwang zur Arbeit“ (ders. 1969a, S. 650) sich lockern könnte und gemessen an den Bedürfnissen nicht länger eine Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer „rigorosen Arbeitsteilung“ (ebd.) bestehe. Der Kapitalismus verhalte die Menschen zu ihrer Arbeit als Selbstzweck, „nachdem es dieser weitgehend bereits nicht mehr bedürfte“ (ebd., S. 651). Dies korrespondiere mit dem „Willen einer Gesellschaft, in der das Ideal von Vollbeschäftigung das der Abschaffung von Arbeit substituiert“ (ders. 1970, S. 473). Die „starre Grenze zwischen Arbeit und Freizeit“ (ders. 1969a, S. 647) vereidige somit die Einzelnen auf deren überflüssige Aufrechterhaltung. „Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge sein müßte“ (ders. 1961, S. 236). Huizinga zufolge ist die Absetzung von der nicht-spielerischen Sphäre konstitutiv für die Entstehung des heiligen Ernsts im Bereich des Spiels – er hinterfragt aber nicht die gesellschaftliche Notwendigkeit der Trennung selbst. Aus der Perspektive von Adornos Position enthält demnach die in Huizingas Konzeption grundlegende Grenzziehung zwischen Spiel und Nicht-Spiel, zwischen Freizeit und Arbeit einen blinden Fleck, der in einem überschüssigen Moment besteht: Es wird Mehr an Grenzziehung verlangt als gesellschaftlich notwendig wäre. Adorno zufolge bedingt der unnötige Aspekt des Festhaltens an der Abgrenzung, dass die Freizeit – ihrem Gehalt nach – „nicht nur im Gegensatz zur Arbeit“ (ders. 1969a,

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Grenzüberschreitende Spiele

S. 652) steht. In Zeiten „steigender Produktivität der Arbeit, aber unter fortdauernden Bedingungen von Unfreiheit“ tendiere die Freizeit „zum Gegenteil ihres eigenen Begriffs, werde zu dessen Parodie“ (ebd., S. 646). Die Aufrechterhaltung der ökonomischen Maßgabe der Produktion um der Produktion willen2 affiziert den Charakter der Freizeitaktivitäten.3 Sind diese als Gegensatz zur Arbeit als selbstzweckhafte Tätigkeit bestimmt, wird auf diese Weise diese Grenzziehung zugleich unterlaufen. Wird Arbeit zum Selbstzweck, so sind in diesem Charakterzug die Freizeitaktivitäten zugleich gar nicht so sehr von der Arbeit unterschieden – wenn auch „eben nur hintenherum“ (Adorno 1958/59, S. 73; vgl. I.1). Sierra hingegen inszeniert einen unmittelbaren Zusammenfall von Arbeit und künstlerischem Spiel. Vom Standpunkt des positiven Spiels aus gesehen, handelt es sich hierbei um eine Vertreibung des Spielerischen aus der Kunst. In der Tat wird hier auch ein Angriff auf die Absetzung von Faktischem erprobt, die Adorno zufolge Bedingung für Kunst wie für kritisches Denken ist. Aber zugleich ist auch in der von Sierra betriebenen Gleichsetzung von (künstlerischem) Spiel und Wirklichkeit ein spielerisches Moment enthalten: Wird hier im Ernst eine Berührung von Spiel und Nicht-Spiel inszeniert, so besteht Freud nach genau hierin ein humoristische Element der Kunst. Dieses fungiert ihm zufolge als Trick, durch den sich in den „rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn“ (Freud 1908e, S. 223) die verlorene kindliche Qualität der Spiellust, bei der zwischen dem Ernst des Spiels und der Wirklichkeit Übergänge bestehen, mitmischt. Wird im negativen Spiel ein humoristischer Lustgewinn aus der momenthaften Aufhebung des Gegensatzes zwischen Spiel und Wirklichkeit erzielt, so bedeutet dies in Freuds Sinne auch eine Suspension von der Aufgabe, „die Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen“ (ebd., S. 215; s.o.). Ist für das Kind die Grenze zwischen Wirklichkeit und Spiel noch nicht mit der Anerkennung der Realität als Ernst des Lebens verbunden, so bedeutet das auch: Der Ernst als Ernst des Lebens in Abgrenzung zum Vergnügen des Spiels wird vom heranwachsenden Kind erst errungen (vgl. ebd.). Aus dieser Ungleichzeitigkeit zwischen ontogene2 | „In der Tat verwirklicht sich heute eine Art Wohlfahrtsstaat auf höherer Stufenleiter. Um die eigene Position zu behaupten, hält man die Wirtschaft in Gang, in der auf Grund der äußerst gesteigerten Technik die Massen des eigenen Landes dem Prinzip nach als Produzenten schon überflüssig sind. Die Arbeiter, die eigentlichen Ernährer, werden, so will es der ideologische Schein, von den Wirtschaftsführern, den Ernährten, ernährt.“ (Adorno 1947a, S. 173) 3 | Ausgeführt wird dieser Gedanke z.B. am Beispiel des Hobbys als Modell der Freizeitgestaltung: „Unterstellt man einmal den Gedanken von Marx, in der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeitskraft zur Ware geworden und deshalb Arbeit verdinglicht, so läuft der Ausdruck hobby auf das Paradoxon hinaus, daß jener Zustand, der sich als das Gegenteil von Verdinglichung, als Reservat unmittelbaren Lebens in einem gänzlich vermittelten Gesamtsystem versteht, seinerseits verdinglicht ward gleich der starren Grenze zwischen Arbeit und Freizeit.“ (Adorno 1969a, S. 647)

Schluss

tischer und phylogenetischer Errungenschaft schöpft demnach der Humor. Das humoristische Moment im Spiel kann auch als Zeichen dafür aufgefasst werden, dass die Etablierung der Trennung von Arbeit und Freizeit nicht reibungslos vonstattengeht, sondern mit Konflikten erkauft wurde. „Die Ungleichzeitigkeit von Geschichte und Lebensgeschichte, von gesellschaftlicher Objektivität und individueller Subjektivität ist die Quelle der Widersprüche einer Realität, die noch nicht vollends vom Identitätsprinzip beherrscht wird.“ (Claussen 1988, S. 25) Das in Sierras spielfeindlichen Aktionen enthaltene spielerische Element verweist damit auch auf die eingangs aufgeworfene Überlegung, dass die Entkunstung als Moment in die Kunst selbst eingegangen ist (vgl. Gorsen 1981; s. I.1). An der Spannung von spielfreundlichen und spielfeindlichen Zügen in der Kunst zeichnet sich Gorsen zufolge ein Konflikt gegenüber der warenproduzierenden Gesellschaft ab in Form einer „zwangsläufig scheiternde[n] und selber ästhetisierte[n] Hoffnung“ (ebd., S. 18; s. I.1), qua Grenzüberschreitung des traditionellen Bereichs des Ästhetischen das Glücksversprechen des Kunstwerks zu realisieren. Während Musattis Konzeption die traditionelle Grenze wahrt, auf der die Bedingung des Mehr an Lustgewinn des heiligen Ernsts beruht, überschreiten Sierras Aktionen diese. Doch im ästhetischen Rest von Sierras Inszenierungen steckt zugleich ein spielerisches Moment, d.h. ein potentiell lustvolles Moment, welches der Absetzung vom Faktischen entspringt. Das Glücksversprechen liegt in beiden Spielformen in der momenthaften Absetzung von einem „dem Individuum gesellschaftlich zugemutete[n] Triebverzicht“, der sich „weder objektiv in seiner Wahrheit und Notwendigkeit legitimiert noch dem Subjekt das vertagte Triebziel später verschafft“ (Adorno 1955, S. 68). Das in beiden Spielformen liegende Versprechen wird zugleich hinsichtlich einer Möglichkeit gebrochen und in jeweils unterschiedliche Richtungen abgeknickt: Ist in Musattis Konzeption das Fundament des Lustgewinns das Festhalten an der Grenze und zwar auch letztlich der zwischen Arbeit und Freizeit, so inszeniert Sierra eine Überschreitung, welche in nur einer von zwei möglichen Richtungen die Grenze überquert: Spiel ist hier Arbeit, nicht umgekehrt Arbeit auch Spiel. Was in beiden Fällen mitspielt und zugleich ausgespielt wird, ist auch ein Versprechen von Glück, welches – in einer von der Setzung von wertschaffender Arbeit als Selbstzweck befreiten Gesellschaft – im Übergang von Spiel und Arbeit liegen könnte. Es findet sich dafür in der „Minima Moralia“ das Bild des Kindes, welches aus den Ferien zurückkommt und seine Wohnung „neu, frisch, festlich“ (ders. 1951a, S. 125) vorfindet. Alles ist wie zuvor, „[n]ur daß die Pflicht vergessen ward, an die jedes Möbel, jedes Fenster, jede Lampe sonst mahnt, stellt ihren sabbatischen Frieden wieder her, und für Minuten ist man im Einmaleins von Zimmern, Kammern und Korridor zu Hause, wie es ein ganzes Leben lang nur die Lüge behauptet. Nicht anders wird einmal die Welt, unverändert fast, im stetigen Licht ihres Feiertags erscheinen, wenn sie nicht mehr unterm Gesetz der Arbeit steht, und dem Heimkehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in den Ferien war.“ (Ebd.)

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Teil II

U nheimliche b rüche

II.1 Einleitung: Bruch und Unheimliches, Apparatusdebatte und Amélies fabelhafte Welt Das Motiv des Bruchs steht im Zentrum des folgenden zweiten Teils, von dem ausgehend die Wirkungsweise des Unheimlichen in der Kulturindustrie untersucht wird. Der Bruch ist in verschiedener Hinsicht für die filmtheoretischen Diskussionen im Kontext der sogenannten Apparatusdebatte zentral. Anhand einer Auswahl von Texten aus deren frühen Phase (zwischen 1968 und 1972) werde ich zunächst zeigen, wie dieses Motiv hier kursiert (vgl. II.2). Dann wird dessen Figuration in dem Aufsatz „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“ (Baudry 2003b) von Jean-Louis Baudry untersucht mit besonderer Aufmerksamkeit auf (von mir sogenannten) Quasi-Formulierungen (vgl. II.3). In Konstellation mit verschiedenem ästhetischem Material werde ich diese im darauffolgenden Schritt als Symptom für ein unheimliches Moment kulturindustrieller Erfahrung deuten (vgl. II.4; vgl. dazu auch Witte 2017b). Als ästhetisches Material werden vorrangig experimentelle Foto-Filme von Mitgliedern der Gruppe „Die Tödliche Doris“ und der Erfolgsfilm Die fabelhafte Welt der Amélie (F/D 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet) verwendet. Während die experimentellen Filme eine brüchige Abfolge von Fotos präsentieren, scheinen diese von Die fabelhafte Welt der Amélie verschlungen und verschmolzen worden zu sein zu einem harmonischen Glückskeks, als solcher dieser Film rezipiert wird (vgl. II.4). Eben das Motiv einer bruchlosen Einheit ist ein zentraler Gegenstand der Diskussionen im Rahmen der Apparatusdebatte. Baudry führt in diesem Kontext den filmischen Realitätseindruck aus psychoanalytischer Sicht auf eine Regression in ein frühes Stadium des Seelenlebens zurück, wodurch das Publikum und der filmische Apparat symbiotisch verschmelzen. Die Zuschauenden im Kino sind Baudrys Darstellung zufolge bruchlos in den Kino-Apparatus integriert. Damit vertritt Baudry eine Auffassung, die sich eklatant von den filmologischen Positionen unterscheidet. Während in der Filmologie die Kinoerfahrung als das Erleben einer Realität auf einer von unserer Welt unterschiedenen Ebene bestimmt wird, beschreibt Baudry eine Wahrnehmung, in der die Grenze zwi-

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Unheimliche Brüche

schen filmischer und nicht-filmischer Realität ausgelöscht ist. Das Verwischen von Grenzziehungen gilt als ein wesentliches Charakteristikum des Unheimlichen (vgl. Gast 2011b; vgl. II.4). In aktuellen medientheoretischen Diskussionen wird ein solcher Wahrnehmungsmodus auch unter dem Stichwort Immersion verhandelt (vgl. u.a. Neitzel/ Nohr (Hrsg.) 2006).1 Mit dem Begriff der Immersion werden dabei gemeinhin Formen der Absorption in mediale Welten erfasst, die mit einer Distanzminderung verbunden sind (vgl. z.B. Murray 1999; Ryan 2001). Häufig werden die Phänomene in diesem Kontext in Metaphern des Ein- oder Untertauchens2 der Subjekte beschrieben (vgl. Curtis 2008, S. 89)3 – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen: Während etwa Bolter und Grusin von einem unmittelbaren Erleben medialer Welten sprechen (vgl. Bolter/Grusin 1999, S. 272f.), so beschreibt Bieger ein Oszillieren zwischen Ein- und Abtauchen (vgl. Bieger 2007, S. 227; vgl. auch Wolff 1999) und ein „kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz“ (Bieger 2007, S. 9). Immersive Techniken werden mithin auf einem breiten Feld verortet (vgl. Hochscherf/Kjär/Rupert-Kruse 2011). Keineswegs beschränkt auf virtuelle Realitäten der Computerspiele, wird eine umfassende Bandbreite – vom Kino oder Architektur (vgl. z.B. Bieger 2007, 2013) über die „Attraktionen der Themenparks“ (Huhtamo 2008, S. 48) bis hin zu antiken Raum- und Bildstrategien (Grau 2003, S. 25ff.) – gehandelt. Dabei überlappen sich Bedeutungen der Immersion mit angrenzenden Begriffen wie z.B. dem der (ästhetischen) Illusion oder des filmischen Realitätseindrucks. So wird etwa die für Baudrys Begriff des filmischen Realitätseindrucks zentrale Abschottung des Kinoraums in Bezug auf immersive Phänomene als Ausblendung der Außenwelt diskutiert (vgl. z.B. Murray 1999, S. 97ff.). Zentrale Kategorien in Analysen von Immersion sind des Weiteren die des unmittelbaren Erlebens (vgl. z.B. Bolter/Grusin 1999; Biocca 1999) bzw. der Präsenz 4, welche mit Baudrys Bestimmung eines halluzinatorischen Erlebens im Kino korrespondieren. Die von Baudry beschriebenen verschiedentlichen Aufhebungen von Grenzen im Kino (z.B. in räumlicher und zeitlicher Hinsicht oder zwischen psychischem und filmischem Apparat) bilden eine Art Fluchtpunkt für 1 | So weist z.B. Voss darauf hin, dass der von Guattari beschriebene kinematographische Effekt „einer Art Auflösung in die Maschine hinein […] heutzutage unter dem Begriff der ‚Immersion‘ oder ‚Absorption‘ diskutiert“ wird (Voss 2013, S. 279). 2 | Vgl. zur Virulenz der Vorstellung ‚flüssiger‘ Räume in der Geschichte visueller Kunst und Medien Dogramaci/Liptay 2016. 3 | So baut Huhtamo zufolge das gegenwärtige Mainstream-Kino seine technischen Möglichkeiten aus, „dem Publikum das Gefühl [zu] geben, direkt durch die Oberfläche der Leinwand in die diegetische Welt des Films einzudringen“ (Huhtamo 2008, S. 42). 4 | Lombard und Ditton definieren Präsenz als „a mediated experience that seems very much like it is not mediated“ (Lombard/Ditton 1997, o. S.).

Einleitung – Bruch und Unheimliches

Diskussionen um immersive Phänomene – prominent ist Bioccas Feststellung: „Total immersion is the goal“ (Biocca 1999, S. 118). Bei der totalen Immersion handelt sich um einen umstrittenen Fluchtpunkt. Stimmt Baudrys Konzeption durchaus mit der Vorstellung totaler Immersion überein, so kritisiert z.B. Neitzel einen „Denkfehler“ solcherart Immersionskonzepte: „Wenn wir tatsächlich länger im Wasser ‚untertauchen‘, ertrinken wir.“ (Neitzel 2008, S. 147) Wird Immersion, insbesondere bezogen auf das Kino, häufig mit „viszeralen und lebensbejahenden Effekte[n]“ (Curtis 2008, S. 101) assoziiert,5 so klingt hier hingegen eine bedrohliche, letztlich tödliche Dimension an, auf die Immersionsphänomene auch verweisen können.6 Neitzel sieht in wissenschaftlichen und kulturellen Konzeptionen totaler Immersion einen Mythos. Es handele sich um „ein[en] mythische[n], unerreichbare[n] Endpunkt der Mediengeschichte, der in Visionen vom totalen Realitätsverlust zutage tritt“ (ebd. Bezug nehmend auf Schweinitz 2006). Auch Grau bezeichnet in Hinblick auf die europäische Kunst- und Mediengeschichte die Auffassung, das Subjekt könne tatsächlich „bildmediale Unmittelbarkeit“ finden, als „Illusion“ (Grau 2006, S. 17). Er selbst definiert Immersion in Hinblick auf ein Gleiten zwischen den Polen kritischer Distanz und Suggestion: „In most cases immersion is mentally absorbing and a process, a change, a passage from one mental state to another. It is characterized by diminishing critical distance to what is shown and increasing emotional involvement in what is happening“ (ders. 2003, S. 13). Grau bedient sich in diesem Zusammenhang der Metapher einer Schere, die sich im Verlauf der (Medien-)Geschichte öffnet und schließt. Zum Zeitpunkt der „Einführung eines neuen Illusionsmediums“ öffne sich die Schere für einen „gewissen Zeitraum“, in dem das neue Suggestionspotential der Immersionstechniken in Korrelation mit dem „bedrängte[n] innere[n] Distanzierungsvermögen“ der Subjekte dazu führen könne, „bewusst erfahrene Illusion in unbewusste wandeln und dem Schein die Wirkung des Realen verleihen“ (ders. 2006, S. 6). Diese Schere werde „nach stetem, bald überlegtem Umgang wieder verengt“: „Gewöhnung schleift die Illusion ab, diese besitzt bald nicht mehr die Kraft, das Bewusstsein zu bestechen.“ (Ebd.) Graus Metapher basiert somit auf der gängigen Entgegensetzung von Distanzverlust, Eingesogen-Sein, Abtauchen in mediale Welten einerseits und Reflexion, Distanznahme, Unterscheidungsvermögen andererseits. In diesem Teil II werden theoretische und ästhetische Figuren im Zentrum stehen, welche genau solche Grenzziehungen im Bereich von ästhetischen und theoretischen Darstellungen von Subjekt-Medien-Beziehungen unterlaufen. Dieses Unterlaufen wird in Beziehung gesetzt werden zu unbewussten Dynami5 | In der Medizin bezeichnet Immersion übrigens auch „eine Vollbad-Anwendung zu Heilzwecken“ (Neitzel 2008, S. 146; vgl. Murray 1999). 6 | So fragt Griffith: „Could it be that being somewhere or someone without actually occupying the space or assuming that subject’s position gives us a chance to try on death without cost?“ (Griffiths 2008, S. 286)

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ken in der Kulturindustrie im Bereich des Unheimlichen. Liegt Huhtamo zufolge eine Gemeinsamkeit aller Immersionstechniken darin, dass „das Konzept der ‚Kopplung von Körpern und Maschinen‘“ und der Einkapselung in Maschinen (Huhtamo 2008, S. 49) evoziert wird, so sind in diesem Teil insbesondere hiermit verknüpfte theoretische und ästhetische Inszenierungen von Passivität, Verschlungen-Werden und Totalität von Interesse. Auch Adornos Theorie der Kulturindustrie tangiert die Frage einer Unterwerfung der Subjekte unter einen allmächtigen Apparat. Eine von Adorno am Beispiel von Huxleys „Brave New World“ (Huxley 1993 [1932]) vorgenommene Deutung dieser theoretischen Denkfigur wird nun im Folgenden einleitend auf die Spur des Unheimlichen in diesem Bereich führen. Ebenso wenig wie das Spiel ist das Unheimliche ein zentraler oder systematisch verwendeter Begriff in Adornos Schriften (vgl. Einführung). Herding weist aber darauf hin, dass die Relevanz von Freuds Auffassung des Unheimlichen für die „Dialektik der Aufklärung“ häufig unterschätzt wird. Er stellt fest, „Freuds These, das Unheimliche sei die Wiederkehr des verdrängten Vertrauten, […] bildet auch das Fundament für Horkheimers und Adornos Theorie von der Wiederkehr des von der Ratio verdrängten Mythischen, das […] im Nationalsozialismus und […] in der […] Kulturindustrie […] zurückschlage“ (Herding 2006b, S. 7). Ich werde in diesem Teil implizite Verbindungen von Adornos Bestimmungen der Kulturindustrie zur freudschen Auffassung des Unheimlichen (und daran anknüpfenden Ansätzen) nutzbar machen. Das Feld und die Fragestellung dieser Untersuchung werde ich nun ausgehend von dem Text „Aldous Huxley und die Utopie“ (Adorno 1951b) genauer skizzieren. Eröffnet wird damit eine Perspektive auf die Frage nach der „Totalität der Kulturindustrie“ (Adorno 1947a, S. 158), die quer zu einer gängigen Rezeption von Adornos und Horkheimers Kulturindustrie-Thesen als einer Theorie reibungsloser Anpassung liegt (vgl. Einführung). Gerade der Kulturindustrie-Abschnitt in der „Dialektik der Aufklärung“ wird häufig als Beleg für einen „unerbittlichen Pessimismus“ (Gilloch 2006, S. 302) der Kritischen Theorie genommen. So hält etwa Schwering fest, im Entwurf der Kulturindustrie habe sich „all das Misstrauen, das den damals neuen Medien von Anfang an entgegenschlägt“, verdichtet „zu einem Bild, das an Düsternis seines Gleichen sucht“ (Schwering 2006, S. 362).7 Kulturindustrie wird in diesem Kon7 | Die Charakterisierung der Kritischen Theorie als einer ‚düsteren‘ Theorie geht häufig einher mit der Betonung, diese sei ihrer Zeit geschuldet. Häufig spricht aus solcherart Diagnosen m.E. auch das Bedürfnis, die Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtung und Verfolgung heutzutage zu den Akten legen zu können – es wäre sicher lohnenswert, dieserart Rezeption in Beziehung zu setzen zu den wiederkehrenden Forderungen nach einem Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit. So betont z.B. auch Hepp, dass Adorno und Horkheimer insgesamt „ein düsteres Bild der Kulturindustrie und ihrer Massenkultur“ (Hepp 2011, S. 9) zeichneten, „das wir aus heutiger Perspektive vermutlich so nicht teilen

Einleitung – Bruch und Unheimliches

text mitunter verstanden als ein „Motor der Entsubjektivierung“ (Ritsert 2014, S. 2; vgl. Einführung). Diese Lesarten sind laut Ritsert „gleichsam wie Spielmarken […] beim akademischen Geschäft in Umlauf“ (ebd., S. 1). Wobei sich diesem, wie Ritsert unterstreicht, auf bestimmte Formulierungen Adornos stützen, welche „den berechtigten Eindruck erwecken, er beschreibe die moderne kapitalistische Gesellschaft als ein in der Entfremdung geschlossenes System, dessen geistiger Überbau letztendlich den Effekt habe, jenen universalen Verblendungszusammenhang zu zementieren und die Erfahrungswelt der Individuen auf die von Lurchen herunterzuschrauben“ (ebd.; vgl. Adorno 1947c, S. 53). Ritsert weist auf einen Gerinnungsfaktor dieserart Rezeptionen hin, die Adornos Kritik insgesamt ticketförmig auf solcherart Statements reduzierten (vgl. Ritsert 2014; vgl. Einführung).8 Es wird hier m.E. das für die Kritische Theorie grundlegende Spannungsverhältnis eingezogen zwischen dem „Gedanken der Totalität“ (Djassemy 2002, S. 42; vgl. Einführung) und der Ausrichtung der Deutung auf Erkenntnis, die als Scharnier das Denken auf Widersprüchliches hin öffnet (vgl. Einführung). Lesarten der Kulturindustrie-Thesen, die diese als eine Theorie gelungener Anpassung der Subjekte verstehen, fixieren m.E. das Scharnier. Diese Fixierung findet, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, Ankerpunkte in Formulierungen wie etwa: „Je dichter und lückenloser ihre [der Kulturindustrie] Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt“ (Adorno 1947a, S. 147; Herv. S. W.). Die RezipientInnen sind in diesem Zusammenhang als „bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen“ (ebd., S. 178; Herv. S. W.) charakterisiert. Kulturpessimistische Auslegungen (wie z.B. von Kellner 1982; Renner 1988, S. 164ff.; Bubner 1989; Prokop 2003, 2005; würden und das uns zumindest in einigen Aspekten im Rückblick als Zeugnis der Erfahrung von Faschismus und Flucht in die USA erscheint“ (ebd., S. 9). Jacke fordert dementsprechend eine ‚Entdramatisierung‘ der Kritischen Theorie und hält fest: Um die Ansätze der Frankfurter Schule heutzutage sinnvoll nutzen zu können, solle man sich deren historischer Kontexte (als Beispiel wird u.a. die Erfahrung der NS-Propaganda genannt) bewusst sein, sie „aber für die eigene Fortschreibung dieser Ansätze nur mitlaufen lassen“ (Jacke .2015, S. 31). M.E. handelt es sich hierbei um eine Variante der Erinnerungsabwehr, wie sie Adorno bereits in den 1950er Jahren kritisierte (vgl. dazu Schneider 2011). Das Wissen um die Geschichte, wie Jacke vorschlägt, „nur mitlaufen“ lassen zu wollen und damit Geschichte nicht als – bewusste wie unbewusste – Bedingung des eigenen Denkens anzuerkennen (was eben letztlich mit der Forderung nach einem Schlussstrich unter das ‚düstere Kapitel‘ der deutschen Geschichte korrespondiert), ist wohl ein gutes Beispiel dafür, was Adorno als Erinnerungsverweigerung bezeichnet hat (vgl. dazu auch Leineweber/Schneider/Stillke 2000). 8 | Neben der Entsubjektivierung nennt Ritsert außerdem u.a. die Entgegensetzung von autonomer Kunst und gesellschaftlichem Verblendungszusammenhang, die Überbetonung der Passivität der KonsumentInnen, eine vereinfachende Lesart von Manipulation als Indoktrinierung.

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Negus 2006 – die sich in diesem Punkt zumeist kritisch von Adorno abgrenzen)9 verstehen hieran anschließend Kulturindustrie als ein bruchloses System, dem sich die Subjekte unterwerfen. Solche Diagnose unterscheidet sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, nicht wesentlich von Baudrys Bestimmungen des totalen Charakters des filmischen Realitätseindrucks. Ich werde im Folgenden eine andere Lesart vorschlagen, welche ausgehend vom (Verhältnis des Unheimlichen zum) „Nichtintegrierten“ (Adorno1959, S. 103) die Konflikthaftigkeit der Verwicklungen der Subjekte in ihre kulturindustriellen Apparate in den Bick nimmt. Die Differenz dieser beiden möglichen theoretischen Perspektiven lässt sich an der Metapher des Verkehrsknotenpunkts verdeutlichen. Es kann ein „bloßer Verkehrsknotenpunkt“ (ders. 1947a, S. 178; s.o.) als Durchlaufstation interpretiert werden, durch die der Verkehrsstrom wie durch ein Nadelöhr hindurchgleitet wird (kulturpessimistische Lesart). Man kann aber auch einbeziehen, dass ein Verkehrsknotenpunkt einen Umsteigeort bezeichnet (meine Lesart). An einem solchen steigen die Reisenden vom Zug in den Bus oder vom Flugzeug in die Straßenbahn um. Der Verkehrsstrom ist dabei nicht am Tempo der Einzelnen ausgerichtet – was offenkundig wird, wenn man selbst verspätet ist oder wenn, wie Adorno sich 1962 in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung äußerte, der Verkehrsstrom zur Gefahr für PassantInnen wird. Erfolglos forderte Adorno in seinem Brief verkehrstechnische und polizeiliche Maßnahmen zum Schutz der FußgängerInnen ein. Auf dem Weg zur Universität Frankfurt sei beim Überqueren der Senckenberganlage eine der Sekretärinnen des Instituts überfahren und verletzt worden, nachdem bereits ein anderer Passant dort kurze Zeit vorher tödlich verunglückt sei. „Auf dem Weg in die Universität muss man in unwürdiger Weise über die Straße rennen, als wenn man um sein Leben liefe. Sollte nun ein Student, oder ein Professor, in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes.“ (Adorno zit. n. Loer 2014, S. 118f., Fn. 3). Insbesondere an Verkehrsknotenpunkten, wie man hieran anschließend sagen kann, zeigen sich z.B. im Bereich des Tempos Ungleichheiten, Inkompatibilitäten zwischen

9 | Die Charakterisierung der Kritischen Theorie als einer kulturpessimistischen „Krisendiagnostik“ (von Wussow 2007, S. 42) ist m.E. nicht deswegen problematisch, weil diese zu wenig die optimistischen Aspekte in Adornos Denken einbeziehen würde, sondern nicht zuletzt weil dieser „Standardvorbehalt“ (Ritsert 2014, S. 1) häufig das Ticket einer bestimmten Alternative mit sich führt: Ist von einer bruchlosen Ordnung auszugehen oder sind in der gegenwärtigen Kultur Brüche aufzuweisen, die ein subversives Potential haben (vgl. beispielhaft Jacke 2015)? Diese Frage verpasst m.E. einen wesentlichen Clou: Dass der vermeintliche Gegensatz von bruchloser Geschlossenheit und widerständigem Aufbruch selbst ein wesentliches Prinzip der unbewussten Verwicklung und Anhänglichkeit der Subjekte an die Kulturwaren ist, welches in dieser Auslegung in symptomatischer Weise wiederkehrt.

Einleitung – Bruch und Unheimliches

Verkehr und VerkehrsteilnehmerInnen – die unter Umständen Lebensgefahr bedeuten können. Die Drohung des Todes ist in Adorno Denken insgesamt ein Fluchtpunkt. Es ist für ihn der von dem (den gesellschaftlichen Zusammenhang konstituierenden) kapitalistischen Tauschprinzip ausgehende Zwang zur Identität (vgl. Einführung), von dem er diese Drohung ausgehen sieht. Dessen Telos sei der Tod, insofern das Tauschprinzip das Leben der Einzelnen unter den „objektiven Druck der Lebensnot“ (Adorno 1966a, S. 390) setze. Adorno kritisiert aber z.B. an Heidegger, dass dieser den „Tod zum Wesen von Dasein“ (ebd., S. 276) erkläre und damit „am Knoten des Subjekts“ (ebd.) vorbeidenke. Die Formulierung Verkehrsknotenpunkt meint demnach nicht eine unmittelbare Eliminierung von Subjektivität. „Die Person ist der geschichtlich geknüpfte Knoten, der aus Freiheit zu lösen, nicht zu verewigen wäre; der alte Bann des Allgemeinen, im Besonderen verschanzt.“ (Ebd., S. 273) Der entscheidende Punkt ist: Auch wenn das Prinzip des Ganzen einer auf den Tod ausgerichteten Logizität folgt, so erhält sich dieses, wie Adorno mitunter unterstreicht, nicht bruchlos. „Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben sondern durch ihn; Profitinteresse, und damit das Klassenverhältnis sind objektiv der Motor des Produktionsvorgangs, an dem das Leben aller hängt und dessen Primat seinen Fluchtpunkt hat im Tod aller.“ (Ebd., S. 314) Wird das Leben der Einzelnen unter die Prämisse des Kapitals (vgl. Einführung) – dessen Telos in der Verwertung (d.h. Ausschöpfung) der Subjekte liegt – gesetzt, so dürfen hierfür die Subjekte eben nicht ganz tot sein. Dass die Kulturindustrie dem Prinzip der „Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten“ (ders. 1959, S. 103) folge, kann als eine Art Übersetzung des ökonomischen Prinzips (welches selbst in sich nicht linear oder widerspruchsfrei ist) in den Bereich kultureller Produktion und Konsumtion gedacht werden. Inwiefern stellt in dieserart Übersetzung (die ebenfalls eine Art Umstieg impliziert) Nicht-Integriertes – welches, von der Psychoanalyse her gedacht, das Unbewusste par excellence ist – ein konstitutives Antriebsmoment dar (vgl. Einführung)? Inwiefern kann dabei von Nicht-Integriertem, also von Übersetzungsresten eine unheimlich-verführerische Anziehungskraft ausgehen (vgl. Einführung)? Bestimmt Freud das Unheimliche als „die Wiederkehr des fremdgewordenen Heimischen, Vertrauten“ (Gast 2011b, S. 351), so ist dieses demnach der Ort eines Ineinanders, an dem Nicht-Integrierbares in spezifischer Weise präsent wird. Wie Gast vorschlägt, ereignet sich das Unheimliche „in der ambivalenten Grenzüberschreitung, die eine epistemologische Unsicherheit erzeugt, durch die das Subjekt in einem Sowohl-als-auch und einem Weder-noch festgehalten wird“ (ebd.; vgl. II.4). Das Unheimliche kann ihr zufolge als „eine spezifische Wirkung gefasst werden, in die hinein die ubiquitäre Ambivalenz des Seelenlebens diffundiert“ (ebd.). So gesehen, kann auch das spielerische Moment (in der Kulturindustrie), in welchem sich ein unbewusster Ambivalenzkonflikt ausgestaltet (vgl. I), ins Unheimliche auslaufen.

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Huxleys „Brave New World“ gleicht nun kulturpessimistischen Lesarten der Kulturindustrie-Theorie insofern, als Huxleys Welt von einer instrumentell-technischen Rationalität geprägt ist, die eine völlige „Entsubjektivierung“ (ders. 1951b, S. 104; s.o.) der Einzelnen zur Konsequenz hat. Gegenläufig zu der gängigen Rezeption von der „Dialektik der Aufklärung“ als „Theorie einer endgültig verfinsterten Moderne, aus deren Teufelskreis [...] es keinen Ausweg mehr zu geben“ (Wellmer 1993, S. 227) scheint, charakterisiert Adorno an dieser Stelle Huxleys Weltentwurf als eine Verabsolutierung, d.h. als Ausblendung ambivalenter Aspekte. Dieserart Verabsolutierung einer bruchlosen Integration der Einzelnen ins gesellschaftliche System begreift Adorno als Produkt einer Panik, die geweckt werde durch eine Kultur, in der alles mit Ähnlichkeit geschlagen sei (vgl. Adorno 1947a, S. 141; vgl. Einführung). In Huxleys Entwurf einer zukünftigen Welt verlängere sich ungebrochen die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung: „Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit Grund schaudert.“ (Ders. 1951b, S. 118) Im „Alptraum endlosen Doppelgängertums“ (ebd.) werde in dem Roman die Welt „durch Linienverlängerung“ (ebd., S. 99) zur Hölle – „Beobachtungen am gegenwärtigen Zustand der Zivilisation sind aus ihrer eigenen Teleologie vorgetrieben bis zur unmittelbaren Evidenz ihres Unwesens“ (ebd., S. 99f.). So gesehen, ließe sich Huxleys Welt-Konstruktion als eine Übertreibung beschreiben, insofern nämlich demnach eine mögliche Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft von der literarischen Darstellung weitergetrieben wird und als der letztliche Ausgang der Menschheitsgeschichte präsentiert wird. Gerade an dieserart geradlinigem Verlauf, wie er aus Sicht von Huxleys zukünftiger Welt erscheint, tritt zugleich Zwiegespaltenes, also Ambivalentes, von Übertreibungen selbst zutage. Hängt nämlich für Adorno Wahrheit an einem „Element der Übertreibung“ (ders. 1951a, S. 142) – welches Denken notwendig zukomme und worin dieses dem Spiel verwandt sei (vgl. I.1) –, so ist es an dieser Stelle ein Moment der Übertreibung, welches gewissermaßen die ‚Unwahrheit des Ganzen‘ (vgl. ebd., S. 55) fortführt. In Huxleys Übertreibung, der die Welt als ein restlos integrierendes System vorstellt, schießen Wahrheit und Unwahrheit zusammen – vorab kurz gefasst bedeutet das: Wie auch Huxley registriert Adorno eine gegenwärtige Drohung dieses möglichen zukünftigen Ausgangs einer Identität von Allgemeinem und Subjekt; Unwahrheit liegt aber diesem zufolge darin, diesen Ausgang zum gegenwärtig einzig möglichen zu erklären, wiederum in der Möglichkeit einer zukünftig anderen Gesellschaft Wahrheit. Charakterisiert Adorno Huxleys Übertreibung als eine panische Reaktion, so bezieht er diese in der Einleitung zu „Aldous Huxley und die Utopie“ (ders. 1951b) auf die Situation emigrierter Intellektueller in den Staaten. Auf diese Weise wird die Interpretation von Huxleys Welt eröffnet in Form deren Überblendung mit der Perspektive des Kritischen Theoretikers. Adorno schildert hier folgendermaßen die historische Situation derjenigen (zu denen er bekanntlich auch gehörte), die sich vor den Nazis in die USA flüchten konnten. Grundlegend habe sich im

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Vergleich zum 19. Jahrhundert die Situation verändert. Habe früher das Versprechen unbegrenzter Möglichkeiten Intellektuelle in die USA gelockt, so ginge es nun einzig ums Überleben. Dies habe grundlegend die Bedingungen für Neuankömmlinge transformiert. Im Zeichen der Rettung des blanken Lebens sei der „Renitente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sich gleichschaltet, […] preisgegeben den Schocks, welche die zu Riesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, was nicht sich selber zum Ding macht“ (ebd., S. 98). Wer nicht selbst in Schockstarre, quasi-dinglich, verfalle, den könne Panik ergreifen als „die Verhaltensweise […], mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses“ (ebd.) reagiere. Die vor der deutschen Vernichtungspolitik Geflohenen seien in den Staaten auf eine „Zivilisation“ getroffen, „die als System das ganze Leben einfängt, ohne dem unreglementierten Bewußtsein auch nur jene Schlupflöcher zu lassen, welche die europäische Schlamperei bis ins Zeitalter der großen Konzerne hin offenhielt“ (ebd.). Diese Einleitung gibt Notiz von Adornos biographischer Erfahrung seiner Emigration in die USA und sie stellt den LeserInnen im gleichen Zuge seine Beziehungsaufnahme zu Huxleys Text dar. Wenn es weiter heißt, Huxleys Roman sei „Niederschlag, oder vielmehr […] Rationalisierung“ (ebd.) dieser Panik, so bedeutet das nicht zuletzt, dass Adorno seinen eigenen Eindruck von der kapitalistischen Welt in Huxleys „Ausgangsmotiv“ wiederfindet – nämlich in der „Wahrnehmung der universalen Ähnlichkeit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Menschen“ (ebd.).10 Es handelt sich dabei um einen aus Panik heraus entstehenden – und von Huxley und Adorno diesem zufolge geteilten – Wahrnehmungseindruck, der in diesem Text Gegenstand der Deutung Adornos ist. Den – insbesondere seit den 1950er Jahren einsetzenden – Erfolg von Huxleys 1932 erstmals erschienenem Roman führt Saage auf die gelungene literarische Verarbeitung eben dieser Wahrnehmung zurück (vgl. Saage 2004, S. 123). Huxley habe es verstanden, das im „Alltagsbewußtsein der Massengesellschaft“ wirksame „Krisenbewußtseins“ zu verdichten (ebd.). „Er ‚bündelt‘ gleichsam die kollektiven Ängste, wenn vor ‚künstlichen Menschen‘, ‚Genmanipulation‘ oder ‚Retortenbabys‘ gewarnt wird“ (ebd.). Die Perspektive auf die Welt, die der Roman eröffnet, ist demnach die der Angst; Adorno spricht, wie erwähnt, von einer panischen Reaktion. In diesem Zusammenhang ist relevant, dass Herrschaft in der Huxleyschen Welt – im Unterschied etwa zu der in George Orwells „1984“ (2008 [1949]) beschriebenen – keine des äußeren Zwangs ist. Das System wird in die Subjekte implementiert. So führen etwa bereits im embryonalen Stadium angewendete Konditionierungstechniken zur Anpassung ans gesellschaftliche System, welches, so Adorno, anstelle „der drei Parolen der Französischen Revolution […]: Community, Identity und Stability “ (Adorno 1951b, S. 100) gesetzt hat. Die 10 | Hier zeigt sich, inwiefern in Adornos Kulturkritik auch deren „Verstrickung […] in ihr eigenes Objekt“ (Djassemy 2002, S. 39) Gegenstand ist (vgl. Einführung).

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Stillstellung gesellschaftlicher Dynamik wird in der „Brave New World“ u.a. instruiert durch permanente Bedürfnisbefriedigung nach dem Modell intrauteriner Versorgung des Embryos durch die Mutter: „Unterdrückte Triebe fließen über, werden zu Gefühlen, zu Leidenschaften, je nach der Gewalt des Stroms, der Höhe und Stärke der Dämme. Der ungehemmte Strom ergießt sich sanft in sein vorgezeichnetes Bett, mündet in stilles Behagen. (Der Embryo hat Hunger; tagaus, tagein, ohne Unterlaß, macht die Blutsurrogatpumpe ihre achthundert Umdrehungen in der Minute. Das entkorkte11 Kind schreit; sogleich erscheint die Pflegerin mit einem Fläschchen Außensekret.) Gefühl lauert in der winzigen Zeitspanne zwischen Begehr und Gewähr. Kürzt diese Spanne, und ihr reißt alle jene unnötigen Schranken von einst nieder!“ (Huxley 1993, S. 51f.) Im Unterschied zu anderen Fortschritts-Utopien fungiert also Technik in „Brave New World“ nicht als Hilfsmittel des Menschen. Diese Sichtweise ist – wie zu sehen sein wird (II.2) – der maßgebliche Ausgangspunkt der Apparatusdebatte. Wie Saage unterstreicht, verabschiedet Huxley jene Auffassungen, die in der Technik primär Mittel zur Arbeitsentlastung sehen, mit denen sich der Mensch Freiraum für Muße schafft. Technik ist in Huxleys Kosmos gerade kein Mittel für die Menschen, sondern diese sind Produkte der Technik. „Vielmehr können jederzeit ‚normierte‘ Menschen je nach den Erfordernissen des Produktionsprozesses ‚hergestellt‘ und angefordert werden, die sich zur Erfüllung bestimmter Funktionen in den technologischen Herstellungsverfahren optimal eignen“ (Saage 2014, S. 132). Genau an dieser Stelle setzt Adornos Kritik an Huxley an. Der Roman erkläre die Technik selbst zum Ursprung dessen, was erst Produkt „der Verfilzung“ der Technik „mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion“ (Adorno 1951b, S. 117) sei. Entwerfe „Brave New World“ einen gesellschaftlichen Zusammenhang als „widerspruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio, und demgemäß eine simple Totalentwicklung“ (ebd., S. 118f.; vgl. Einführung), so verfehle Huxley darin „die Symptome der Unifizierung selber, deren eindrücklichste Physiognomik er liefert, als Äußerungen des antagonistischen Wesens zu entziffern, des Drucks der Herrschaft, der Totalität teleologisch ist“ (ebd., S. 119; Herv. S. W.). Die Wahrheit von Huxleys Übertreibung, so lässt sich dieser Passage entnehmen, liegt eingekapselt in Form von Symptomen der Unifizierung vor – zu deren Artikulation es der Zuhilfenahme eines physiognomischen Blicks bedarf (vgl. ders. 1969c, S. 315; vgl. Einführung). Wird Huxleys Welt von einer objekti-

11 | In „Brave New World“ werden die Menschen künstlich gezeugt und wachsen in Flaschen heran, die in Brutöfen gelagert werden. Produziert werden auf diese Weise Angehörige von fünf Kasten. Die Reifezeit der den unteren Kasten zugewiesenen Embryos ist kürzer, die Entwicklung der Eier wird unterbrochen und durch ein spezielles Verfahren eine Teilung eingeleitet, so dass eine Vielzahl identischer Menschen entsteht. Dieses Verfahren ist ein wesentliches Instrument, die Stabilität der hierarchischen Gesellschaftsordnung zu gewährleisten.

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ven gesellschaftlichen Tendenz der Unifizierung regiert,12 so blendet demnach diese literarische Darstellung gewissermaßen die für jene Tendenz konstitutiven Antagonismen ab, welche Adorno in der Deutung anstrebt ‚aufzudröseln‘ (vgl. Einführung). Denn es ist hier genau auf den Wortlaut zu achten: Die Rede ist von Symptomen der Unifizierung – und nicht von Symptomen von Unifizierung. So gesehen, liefert Huxleys Text in Form der Verabsolutierung Adornos Interpretation zufolge Symptome ohne Deutung. Huxleys Darstellung einer „simple[n] Totalentwicklung“ (ders. 1951b, S. 119) setze deren unmittelbare Evidenz „[a]nstelle der Einsicht“ in die „Verstricktheit“ der Individuen „in den Schuldzusammenhang“ (ebd.). Adornos Deutung zielt somit nicht zuletzt darauf, Huxleys Darstellung als Symptom dieser – immer auch unbewusst-konflikthaften – Verwicklung zu reflektieren. In diesem Sinne kann die Einleitung des Huxleys-Texts auch auf eine Reflexion von Adornos Bestimmungen des totalen Charakters der Kulturindustrie verweisen – diese wirft u.a. die Frage auf: Welcher symptomatische Gehalt steckt in Denkfiguren, die gesellschaftliche Tendenzen der Unifizierung gleichsam nachzeichnen? Welchen Überschuss enthalten dieserart Darstellungen der Welt? Wie ich im Folgenden auch anhand von „Komposition für den Film“ (ders. 1969b) zeigen werde, impliziert Adornos Kritik der Kulturindustrie auch eine Deutung der – insbesondere an der Hollywood-Industrie gewonnenen – Wahrnehmung einer Tendenz zur Schließung, zur Integration (vgl. I.4). Von dieser Wahrnehmung ist gleich zu Beginn des Abschnitts „Kulturindustrie“ die Rede: „Die augenfällige Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos demonstriert den Menschen das Modell ihrer Kultur: die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem“ (ders. 1947a, S. 141). Vor dem Hintergrund von Adornos Huxley-Interpretation kann eben eine solch augenfällige Einheit als Symptom der Kulturindustrie verstanden werden – und damit als etwas zu Deutendes. Insofern impliziert Deutung hier auch ein ‚Aufdröseln‘ der Vorstellung oder Wahrnehmung einer bruchlosen Oberfläche (die selbst Ergebnis einer Deutung ist, die aber erneuter Deutung unterzogen werden kann). Kritik bzw. Deutung stellt so gesehen auch einen Aufbruch symptomatischer Geschlossenheit – im Sinne einer Abdichtung des Denkens gegenüber konflikthafter Dimensionen des Gegenstands – dar. Als Art Hebelpunkte dienen Adorno hierfür ‚brüchige‘ Stelle in Huxleys Welt-Konstruktion. Eine dieser Stellen betrifft Huxleys Gegenüberstellung von ‚rein Menschlichem‘ und ‚rein Technischem‘. Im Zuge dieser Polarisierung eliminiere Huxleys Dystopie „einzelmenschliche Spontaneität“ (ders. 1951b, S. 119) aus dem Gang der menschlichen Geschichte und spalte den „Begriff des Individuums von der Geschichte“ (ebd.) ab. Die Figur des vom System noch nicht erfassten, ursprünglichen ‚Wilden‘ verkörpere dabei den ‚menschlichen‘ Gegenentwurf 12 | Hier zeigt sich auch, inwiefern – wie ich in meiner Einführung skizziert habe – Adornos Deutung von kulturellen Produktionen (wie eben z.B. Huxleys populärer Roman) über eine „immanente Kritik der Kultur“ (Adorno 1951c, S. 23; vgl. Einführung) hinausgeht.

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zur technischen Ratio. Insgesamt rückten, so Adorno, bei Huxley „Äußerlichkeit und Innerlichkeit in primitive Antithese: den Menschen wird das Übel, von der künstlichen Zeugung bis zur galoppierenden Vergreisung, bloß angetan, die Kategorie des Einzelnen aber erscheint in unbefragter Würde“ (ebd.). Die Deutung öffnet somit das Ausgangsmotiv, d.h. die Wahrnehmung „des zum Supertrust zusammengeschlossenen Lebens“ (ebd., S. 98) und fokussiert – mit physiognomischem Blick – eine Bruchstelle (die Antinomie Mensch versus Technik). Die potentiell selbst Schrecken erregende Vorstellung einer reibungslosen Einspeisung des Menschen in eine übermächtige Maschine (in diesem Fall: in ein technokratisches System) spart, so gesehen, in Form der Opposition den Bereich eines möglichen ungewissen Ineinanders (von Mensch und Technik) aus, der einen andere Art Schrecken erregen kann. Denn diese Ausblendung betrifft, der obigen Definition zufolge, das Unheimliche als Bereich eines Weder-noch, welches die Opposition von ‚entweder Mensch oder Maschine‘ durchquert. Die panische Deutung Huxleys überspringt diesen Bereich mittels der Übertreibung. Auf diese Weise entsteht Adorno zufolge zwischen den Antipoden ‚Innerlichkeit‘ versus Äußerlichkeit‘, ‚Menschliches‘ versus ‚Technische‘ ein blinder Fleck, der Adornos Deutung provoziert und die diesem zufolge ein mögliches ‚Ineinander‘ von Mensch und Maschine betrifft. Es sind solcherart zwischen und neben begrifflichen Grenzziehungen entstehende ‚nebulöse‘ Zonen, die mich an Baudrys Text „Das Dispositiv“ (Baudry 2003b) interessieren (vgl. I.3), der – wie Huxley – ein bruchloses Ineinander-Aufgehen von Subjekt und Apparat beschreibt. Es lässt sich demgegenüber aus Adornos Huxley-Interpretation die Annahme gewinnen, dass sich in der Kulturindustrie die Tendenz zur bruchlosen Schließung nicht nur vermittels der „Integration des weiterhin Nichtintegrierten“ (Adorno 1959, S. 103; s.o.) durchsetzt, sondern dass aus diesem Prozess wiederum auch Brüche resultieren, die auf die Wiederkehr des Nicht-Integrierten verweisen. Es ist – so die These – diese Dynamik, in der sich ein unheimliches Moment der Kulturindustrie geltend macht. Um dem unheimlichen Moment in der Kulturindustrie nachzugehen, wird im folgenden Teil zunächst das Motiv des Bruchs in der Apparatusdebatte zwischen 1969 und 1972 herausgearbeitet (vgl. II.2). In dieser Diskussion wird um und mit dem Bruch gerungen, wenn zentral zur Verhandlung steht: Zeichnet sich die filmische Wirkung (und auch der Film selbst) durch Bruchlosigkeit oder durch Brüchigkeit aus? Die an der Debatte beteiligten Kontrahenten13 diskutieren, von verschiedenen marxistischen Standpunkten ausgehend, inwiefern der filmische Apparat – und speziell die filmische Technik – als maßgebliche Stütze kapitalistischer Gesellschaft fungiert. Es geht hier also zentral um jene von Adorno als „Verfilzung“ (ders. 1951c, S. 19) charakterisierte Beziehung zwischen kapitalistischer 13 | In den ersten Jahren der Debatte wurde diese in Frankreich m.W. von Männern bestritten, daher das Maskulinum.

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Organisation der Produktion, ästhetischer Darstellung und Technik (hier speziell der filmischen Technik). In Huxleys „Brave New World“ ist, wie gesehen, Technik nicht Mittel im Dienst des Menschen, sondern Instrument der Zurichtung der Subjekte. Ein durchaus verwandter Gedanke ist der Ausgangspunkt der Debatte: Technik gilt hier als Herrschaftsinstrument. Kritisiert werden vorhergehende (film-)theoretische Ansätze, welche demnach Technik als ein bloßes, neutrales Mittel der Darstellung verhandelten. Z.B. filmologischen Positionen wird eine theoretische Verunschuldung der Technik vorgeworfen. Ein neuer Anspruch an Filmtheorien wird somit formuliert: Untersucht werden solle, inwiefern gesellschaftliche Strukturen und Prinzipien in der filmischen Technik sedimentiert sind und inwiefern der Anschein einer neutralen Widerspiegelungstechnik der äußeren Welt gerade Teil der ideologischen Wirkungsweise des Kinos ist. Der Begriff des Realitätseindrucks bzw. der Realitätsillusion ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Das Gefühl der Realität des filmischen Geschehens, welches der Film erweckt, wird im Kontext der Apparatusdebatte zum Inbegriff der ideologischen Funktion des Kinos. Als primäres Ziel filmtheoretischer Kritik als auch kritischer Filmpraxis wird der Bruch mit dem (z.B. von der Filmologie ja durchaus positiv bewerteten; vgl. I.2) filmischen Realitätseindruck anvisiert. Wie genau aber dieser Bruch mit dessen ideologischer Wirkung genau zu vollziehen sei, ist ein wesentlicher Streitpunkt zwischen den Kontrahenten (vgl. II.2). Baudry positioniert sich in diesem Streit mit einer psychoanalytischen Konzeption des filmischen Realitätseindrucks, die von mir in einem nächsten Schritt einer genaueren Lektüre unterzogen wird (vgl. II.3). Vergleichbar mit Huxleys Vision einer Verkürzung der Spanne zwischen „Begehr und Gewähr“ (Huxley 1993, S. 52; s.o.) geht Baudry von einer Interferenz von psychischem und kinematographischem Apparat aus, welche einen halluizantorischen Wahrnehmungsmodus evoziert, in welchem der Zeitraum zwischen Bedürfnis und Befriedigung eliminiert ist. Dementsprechend beschreibt er das Kino als eine „Welt, ‚die keine Zeit kennt‘“ (Baudry 2003b, S. 48). Der Kino-Apparat zielt Baudry zufolge auf eine totale Befriedigung des Subjekts, indem Bilder nicht als Bilder, sondern unmittelbar als Realität dargeboten werden.14 In Analogie zu Platons Höhle wird u.a. die Fixierung der Zuschauenden in der Kino-Höhle hervorgehoben. In vergleichbarer Weise wie Huxley führt auch Baudry Macht „auf Mechanismen der Einschreibung und Feststellung“ zurück, wie Stauff unterstreicht, und „entsprechend wird sie semantisch mit Starrheit, Stabilität, Konstanz etc. assoziiert“ (Stauff 2004, S. 161). Letztlich wird der filmische Realitätseindruck als ein vom Apparat her14 | Brauerhoch fasst diesen zentralen Gedanken wie folgt zusammen: „Der Wunsch nach Kino entspricht demnach dem Wunsch, Bilder nicht als das sehen zu müssen, was sie sind, nämlich vom Betrachter unabhängige Repräsentationen, sondern den störenden Faktor ihrer Konstruiertheit zugunsten eines Glaubens an ihre Realität und eine damit verbundene Wunschbefriedigung vergessen zu können.“ (Brauerhoch 1996, S. 99)

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gestellter Totaleffekt gefasst, in den die Subjekte bruchlos eingeschlossen sind. Meine Lektüre richtet das Augenmerk auf Aspekte des Texts, welche dieser Konzeption eines reibungslosen Zusammenschlusses von Apparat und Subjekt zuwiderlaufen. Ich werde dementsprechend Ambiguitäten dieser Darstellung eines Ineinandergreifens von psychischem und filmischem Apparat fokussieren. Aufgezeigt werden wird, inwiefern die Argumentation von Formulierungen durchzogen ist, die der vom Autor intendierten Theoretisierung eines absoluten Einschlusses des Publikums in den kinematografischen Apparat gegenläufig sind. Baudrys Konzeption einer bruchlosen Symbiose von Zuschauenden und Film erweist sich aus dieser Perspektive selbst als brüchig und gerät ins Schwimmen. An diesen Textstellen verwandelt sich die von Baudry konstatierte Bruchlosigkeit des Realitätseindrucks unter der Hand in eine Quasi-Bruchlosigkeit, die ich als Text-Symptom in meiner Lektüre näher einkreisen werde.15 Was quasi ist, ist nicht ganz wie etwas – was quasi-ungebrochen ist, ist dementsprechend nicht ganz bruchlos. An solcherart Textstellen, an denen – neben Feststellungen absoluter ‚Einspeisung‘ des Subjekts in den Kino-Apparat – ein nebulöser Bereich eines Weder-noch auftritt, inszeniert sich, so die These, Unheimliches. Zur Deutung dieser brüchigen Stellen in Baudrys Konzeption wird im darauffolgenden Abschnitt verschiedenes ästhetisches Material hinzugezogen (vgl. II.4). Im Zentrum stehen zwei frühe Filmarbeiten von Mitgliedern der KünstlerInnengruppe „Die Tödliche Doris“: Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten (BRD 1979-81; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 25 Min.; gekürzte Fassung 9 Min.) und Der Fotomatonreparateur (BRD 1982; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 2 Min.). Diese Filme sind in besonderer Weise geeignet, der Frage nach dem Verhältnis von Integration und Nicht-Integriertem und dessen Beziehung zum Unheimlichen nachzugehen. Wie auch die Kritik der Apparatusdebatte sind diese Filme darauf aus, ein als unifizierend wahrgenommenes System (hier: den sogenannten Mainstream; in der Apparatustheorie: die ideologische Wirkung des Kino-Apparats) aufzubrechen. Dieser Akt des Auf bruchs ist hier in spezieller Hinsicht mit einer unheimlichen Wiederkehr verbunden. Jahre nach Entstehung der Fotofilme kommt der Film Die fabelhafte Welt der Amélie (F/D 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet) in die Kinos, in dessen Erzählung die Idee eingespeist worden zu sein scheint, auf denen die experimentellen Filme beruhen (vgl. Einführung). Um defekte Passbilder herum, welche als Idee den experimentellen Foto-Filmen scheinbar entnommen wurden, ordnet sich die Geschichte von Die fabelhafte Welt der Amélie an. Die fabelhafte Welt der Amélie kann dabei als eine der erfolgreichsten ‚Schönmalereien‘ der Welt gelten. Unter dem Titel „Montmartre 15 | Die Quasi-Formulierungen in Baudrys Text haben demnach denselben Stellenwert in meiner Untersuchung wie Musattis Formulierung Mehr als nur, aber nicht Zuviel – das Motiv Bruch wiederum rangiert auf der denselben Ebene wie das der Grenzüberschreitung im ersten Teil meiner Arbeit.

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mit Zuckerguss“ berichtet Die Zeit am 16.8.2001 von mehr als sechs Millionen KinozuschauerInnen in drei Monaten und von TouristInnen, die seit Anlaufen des Films in Massen zu ihrem „Ort der Gefühle“ (ebd.) strömten. Doch, wie ich in meiner Interpretation aufzeige, gibt es – um im Bild zu bleiben – brüchige Stellen im Zuckerguss. Die Passbilder z.B. erscheinen als Quasi-Objekte, welche auf eine unheimliche Dimension ihrer Einspeisung verweisen. Unter Bezugnahme auf „Komposition für den Film“ (Adorno1969b) arbeite ich in diesem Zusammenhang eine – auch die baudrysche Argumentationsweise betreffende – Figur heraus: Die Tendenz zur Schließung evoziert eine Brüchigkeit, die mit Unheimlichem in Beziehung steht. Im Anschluss an den vorhergehenden wird in diesem Teil in Bezug auf das Unheimliche gezeigt werden: Es verwischen sich hier (für den spielerischen Lustgewinn konstitutive; vgl. I) Grenzziehungen, die auf Nichtrepräsentierbares verweisen. Vorstellungen totaler Integration (wie sie sich z.B. in Huxleys Welt, Die fabelhafte Welt der Amélie oder auch kulturpessimistischen Lesarten von Adornos Kulturindustrie-Thesen manifestieren) erweisen sich dabei letztlich als Szenarien, die vom unheimlichen Moment der Kulturindustrie angestiftet werden und zugleich dessen Bewältigung dienen.

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II.2 Apparatusdebatte: Bruch als Motiv in Auseinandersetzungen über den ideologischen Kino-Apparatus Gegenstand dieses Abschnitts ist das Motiv des Bruchs in den Anfangsjahren der Apparatusdebatte zwischen 1968 und 1972. Diese Debatte stieß eine ideologiekritische Neuausrichtung an, Kirsten spricht von einem filmtheoretischen Paradigmenwechsel (vgl. Kirsten 2006). Im Unterschied zum Motiv der Grenzüberschreitung handelt es sich beim Bruch auch um einen theoretischen Begriff im engeren Sinne, der v.a. Schriften Louis Althussers entnommen ist. Im Folgenden steht aber keine eingehendere Auseinandersetzung mit Althussers Begriff des Bruchs und dessen kontroverser Rezeption in der Debatte statt. Mir geht es vielmehr darum, Umrisse des Motivs des Bruchs zu umreißen, wie dieser auf ganz unterschiedlichen Ebenen kursierte (etwa in Form politischer Auf bruchsstimmung, in der der politischen Zielsetzung eines Umbruchs der kapitalistischen Gesellschaft oder des Zerbrechens von vormaligen Koalitionen). Wie auch in Bezug auf die Grenzüberschreitung (vgl. I.2) geht es also im Folgenden zunächst darum, herauszuarbeiten, wie sich der Bruch als Motiv auf der Oberfläche des filmtheoretischen Diskurses ausgestaltet (vgl. Einführung). Die Eckdaten der Apparatusdebatte ergeben in verschiedener Hinsicht ein minder klares Bild im Vergleich zu denen der Filmologie. Deren Geschichte ist mit dem „Institut de filmologie“ und der Zeitschrift Revue internationale de filmologie institutionell gerahmt und die theoretische Ausgangslage ist in dem „Essai“ von Gilbert Cohen-Séat in programmatischer Weise formuliert (vgl. I.2). In der Sekundärliteratur wird das Anfangsjahr der Apparatusdebatte zumeist auf 1969 datiert, bezüglich des Endes der Debatte wird von Ausläufern der Debatte bis zur Mitte oder gar Ende der 1980er Jahre gesprochen.1 Die Austragungsorte der Apparatusdebatte 1 | Eine präzise Rekonstruktion der Debatte zwischen 1969 und 1972 leistet Kirsten in seiner leider unveröffentlichten Arbeit „Das Dispositivparadigma – Zur Genese der Theorie des kinematographischen Apparates“ (2006), auf die ich mich im Folgenden u.a. stütze. Zu der Debatte s. u.a. den Sammelband von Riesinger (Hrsg.) 2003 und De Lauretis/Heath

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sind verstreut – die Texte erscheinen in verschiedenen Zeitschriften, auch andere Schauplätze (wie Kinos, Diskussionsveranstaltungen oder Versammlungen) sind für den anfänglichen Debattenverlauf nicht minder relevant (vgl. Kirsten 2006). Von Frankreich ausgehend wird die Debatte bereits ab Anfang der 1970er Jahre auch in anderen Ländern aufgenommen und zu einem bestimmenden filmtheoretischen Diskurs vor allem in westlichen Ländern. Das weite thematische und theoretische Spektrum sowie die rasch erfolgte Durchsetzung von zentralen Begriffen erschwert es, im Generellen von der Apparatusdebatte zu sprechen, worauf auch Winkler hinweist: „Die Differenzen in der Zielrichtung und der inhaltlichen Orientierung der einzelnen Beiträge sind extrem groß, ebenso groß sind die Unterschiede im Konkretionsgrad, der von hochabstrakten Überlegungen auf dem Feld der Psychoanalyse bis zu konkreten Untersuchungen am Beispiel einzelner Filme reicht“ (Winkler 1992, S. 39). Das Feld reicht von der Beschäftigung „mit technischen Fragen, mit der Geschichte der optischen Maschinerie und Wahrnehmung, sowie mit der Frage, welche inhaltlichen Dimensionen den untersuchten Wahrnehmungsmustern jeweils zuzuordnen sind“ (ebd.) bis hin zu Analysen der filmischen Narration und psychoanalytisch-subjekttheoretischen Überlegungen zum Publikum. Der Begriff Apparatus umfasst ein nicht minder heterogenes Spektrums: Als Konglomerat gedacht, bezeichnet dieser etwa die räumliche Anordnung des Kinosaals, einzelne technische Elemente wie die Kamera oder die Tiefenschärfe, Besonderheiten des Bewegungsbilds, das Verhältnis von Aufnahme, Schnitt und Montage, die filmische Narration, die Zuschauerposition etc.2 Und es changieren die begrifflichen Auffassungen, was unter Apparatus zu verstehen ist. Diese Bandbreite und Wandlungen von Thematiken, Theorien, Begriffen und Fragestellungen machen es also nicht einfach, einen Zugang zu finden. Ich werde im Folgenden das Motiv des Bruchs vorrangig an Material aus den ersten drei Entstehungsjahren der Debatte in Frankreich in den Blick nehmen. Denn hier zeigt sich in besonders plastischer Weise das Spannungsfeld, welches ich im folgenden Abschnitt (II.3) als Folie meiner Auseinandersetzung mit Jean-Louis Baudrys Text „Le dispositif: approches métapsychologiques de l‘impression de réalité“ (1975; dt. Übers. ders. 2003b) verwenden werde. Dabei (Hrsg.) 1980; für eine filmtheoriegeschichtliche Einordnung Casetti 1999 sowie u.a. folgende Monographien, die je spezifische Fragen der Apparatusdebatte verhandeln: Winkler 1992 ; Smith 2005; Rodowick 1988; Tinsobin 2008; Kampl 2011. 2 | „The metaphor of cinema as an apparatus arose from the need to account for several aspects of film, ranging from the uniquely powerful impression of reality provided by the cinema and the way the subject is positioned as a spectator, to the desire intrinsic to cinema-going itself. In this metaphor the cinematic apparatus is not merely the technological base (although the popular perception of cinema’s ‚scientific‘ and technological origins are fantasmatically crucial to its reality-effect), but the entire institution of cinema, its means of promoting and distributing itself and its administration of the social spaces in which films are viewed.“ (Penley 1989, S. 60)

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liegt mein Fokus auf folgender, derzeit wichtiger Streitfrage in der Debatte: Ist das ideologische System in sich geschlossen oder in sich brüchig? Baudrys Text stammt nicht aus den drei Anfangsjahren (sondern aus dem Jahre 1975) und ist – aus filmtheoretischer Sicht – auch in anderen Hinsichten (z.B. der verwandten Terminologie und theoretischen Bezüge) im Grunde nicht exemplarisch für die Debatte in diesen ersten Jahren. Doch die von mir im Folgenden in den Blick genommene Kontroverse wird sich für eine Interpretation seiner metapsychologischen Theorie des Zuschauers als aufschlussreicher Ausgangspunkt erweisen: Es wird zu sehen sein, inwiefern Baudrys Text – auf ganz eigene Weise – von dem Problem Geschlossenheit versus Brüchigkeit bewegt ist. Meine jetzt folgende Auseinandersetzung skizziert somit einen theoriegeschichtlichen Vorlauf dieses Textes. Im Wesentlichen kommt es mir dabei darauf an, insbesondere einen Streitpunkt in den Diskussionen zu beleuchten: Inwiefern zielt diese Ideologiekritik auf eine Brechung der Macht des Apparates?

1. Vorweg Der filmische Apparatus wird in der Apparatusdebatte als eine gesellschaftliche Agentur der Ideologieproduktion verhandelt. Dabei spielt die technische Konnotation des Begriffs Apparat eine zentrale Rolle. Was an diesem Apparat in diesem Kontext interessiert, sind jedoch nicht technische Funktionsweisen an sich, sondern deren ideologische Funktionen und Bedeutungen. Die Analyse des Kinos als ideologische Instanz versteht sich auch als Kritik an ideologischen Kinotheorien – u.a. die Filmologie wird als eine solche eingestuft. Die Erzeugung des filmischen Realitätseindrucks durch das Kino erfährt so eine neue Bewertung. Aus Sicht der Apparatustheoretiker und -theoretikerinnen3 vertreten u.a. die Filmologen eine ideologische Auffassung, insofern diese die filmischen Techniken als neutrale Instrumente der Verdopplung ansähen. Die Frage richtet sich nun darauf, welche ideologischen Gehalte diese Vorstellung von Technik als neutraler Vermittlungsinstanz impliziert. Dementsprechend bedeutet Ideologiekritik hier, wie Winkler formuliert, „was die Theorie zurückgewinnt, sobald sie Technik analysiert“ (Winkler 2003, S. 221).4 Der 3 | Ich verwende im Folgenden das Maskulinum, wenn sich meine Aussagen allein auf die ersten Jahre der Debatte in Frankreich, in denen die relevanten Texte von männlichen Autoren verfasst wurden. Es handelt sich aber bei der gesamten Debatte keineswegs um eine Diskussion allein unter Männern. So arbeitet sich die Feministische Filmtheorie Anfang der 1970er Jahre kritisch an den ersten Texten aus Frankreich ab. Positionen Feministischer Filmtheorie, wie sie etwa von Claire Johnston, Laura Mulvey oder Mary Ann Doane vertreten werden, können als Beiträge zu der Debatte verstanden werden, zugleich aber auch als Eröffnung neuer Fragestellungen. 4 | Winkler schreibt dazu: „Insgesamt zielt die Argumentation darauf ab, die Technik ihres ‚neutralen‘ Charakters zu entkleiden […]; es wird deutlich, daß die Technik nicht nur ganz anders aussehen könnte, sondern daß in ihr, determiniert durch die geschichtliche Ent-

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filmische Realitätseindruck gilt damit als das ideologische Produkt des kinematographischen Apparates par excellence. Zur ersten Orientierung skizziere ich nun zunächst, inwiefern die Frage nach der ideologischen Qualität des Mediums auch eine Antwort auf die Filmologie darstellt. Wie im letzten Teil ausgeführt (vgl. II.2), vertritt Cohen-Séat eine humanistische Position, die Einheit (sowohl der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als auch des Kinos als universelle Institution selbst) zum Telos hat. Die Ideologiekritik der Apparatusdebatte hingegen will Einheitsvorstellungen auf brechen, die als imaginär-ideologische Form der Repräsentation von Welt kritisiert werden. So verspricht Cohen-Séats Utopie des Kinos als Mittel des Fortschritts, Unterschiede zwischen den Menschen aufzuheben5 – mit dem Kino sieht dieser die Menschheit historisch an der „Spitze aller Begriffsbestimmungen“ stehen, ein Stadium, in dem es nicht länger möglich sei, „Farbige von Weißen, Städter von Landbewohnern […] Wissende von Naiven, Gläubige von Zweiflern, Reiche von Armen, Greise von Kindern, Snobs von Modischen“ (Cohen-Séat 1962, S. 60; vgl. II.2) zu unterscheiden. Ein wesentlicher Ausgangspunkt der in der Apparatusdebatte formulierten Kritik lautet: Das Kino – in seinem gesamten Arrangement – arbeitet mit eben dieser Vorstellung einer einheitlichen Welt, welche vom Publikum als Spiegel seiner Welt wahrgenommen wird.6 Diese Kritik basiert – besonders in den Entstewicklung, eben nicht beliebige, sondern ganz bestimmte Inhalte niedergelegt sind, daß die Technik in direktem Sinne also ‚Bedeutung‘ hat. […] Die Apparatur ist nicht länger nur die technische ‚Voraussetzung‘ der Kommunikation; das Medium selbst vielmehr wird zu einem Teil der Botschaft“ (Winkler 1992, S. 69). 5 | Nicht ist also die Bezugnahme auf die gesellschaftliche Funktion an sich das Neue der Apparatusdebatte. Wie gesehen, beziehen auch die Filmologen – zentral der Begriff des Kinos als universelle Institution – den Film und auch seine Techniken auf gesellschaftliche Fragen, nicht zuletzt der: Wie kann das Kino zum Instrument des Fortschritts werden (vgl. I.2)? Nur werden diese Fragen in der Apparatusdebatte nun aus marxistischer Perspektive beantwortet. 6 | Mit der Fokussierung auf die Begriffe Einheit und Verdopplung hängt m.E. auch eine tendenzielle Entmischung des filmologischen Realitätseindrucksbegriffs in der Apparatusdebatte zusammen. Wie gesehen, beschreiben die Filmologen stets gemischte Eindrücke: Dem Publikum erscheint etwa die filmische Welt als eine Einheit, die aus realen und irrealen Aspekten zusammengesetzt ist (vgl. II.2). Der Film zeige, so eine filmologische Grundannahme, unsere Welt nochmal, aber auf anderer Ebene. In der Filmologie hat der Rahmen eine doppelte Konnotation von Spiegel (nochmal) und Versetzung (aber eine andere Welt auf anderer Ebene). Auf diese Mischung kommt es den Filmologen an und mit dieser wird nicht zuletzt auch das fortschrittliche Potential des Kinos in Verbindung gebracht. In der Apparatusdebatte ist der Fokus auf das in dieser Figur enthaltene nochmal gelegt – tendenziell weniger auf das aber. So verschwindet in den Bezugnahmen auf die Filmologie häufig deren Betonung des gemischten Eindrucks, den das filmische Bild evoziert.

Apparatusdebatte: Bruch als Motiv

hungsjahren der Debatte – auf marxistisch-leninistischer Theorie (vgl. dazu u.a. Kleinhans 1998): In der vorgestellten Einheit ist demnach auch die für die kapitalistische Gesellschaft konstitutive Teilung der Menschheit in Ausbeuter und Ausgebeutete nivelliert. Vor diesem Hintergrund verknüpft die Kritik den filmischen Realitätseindruck mit der Gefahr einer ideologischen Abblendung der Verhältnisse und einer Einschließung des Publikums. So lässt sich die Dringlichkeit verstehen, mit der die Frage gestellt wurde: Wie weit reicht die Macht des Apparates, das Publikum in die ideologische Repräsentation von Einheit einzubinden? Grundsätzlich besteht die Grundannahme der Apparatustheorie darin, dass nicht erst über den Inhalt des filmisch Dargestellten Ideologie transportiert wird, sondern dass das apparative Gesamtarrangement als eine ideologische Formation zu verstehen ist. Doch es besteht in einigen wesentlichen Punkten Uneinigkeit, wie ich im Folgenden im Wesentlichen an der Auseinandersetzung zwischen Vertretern der beiden Filmzeitschriften Cinéthique und Cahiers du Cinéma zeigen werde. Ein wesentlicher Streitpunkt zwischen diesen besteht in der bereits erwähnten Frage: Ist das ideologische System in sich geschlossen oder in sich brüchig? Wie zu sehen sein wird, hängt die Antwort auf diese Frage auch mit der Verortung des Publikums und des Theoretikers selbst gegenüber dem Apparatus zusammen. Gestritten wird in diesem Zusammenhang auch darüber, ob die Filmtheorie qua eines Zugriffs von außen oder von innen Aufschluss über die ideologische Funktionsweise des Films geben könne.7 An exemplarischen Beispielen skizziere ich im Folgenden ein Spannungsfeld dieser Streitpunkte zwischen gegnerischen Positionen. Im nächsten Abschnitt werde ich dann auf der Folie dieses Spannungsfelds untersuchen, wie sich Figurationen des Bruchs innerhalb von Baudrys Text ausgestalten. In meiner Lektüre von Baudrys Text wird dessen Darstellung eines eingeschlossenen Publikums im Zentrum stehen und ich werde herausarbeiten, inwiefern sich in diesem Zusammenhang Brüche im Text auftun. Doch nun zunächst zu den Anfängen der Debatte. Die Apparatusdebatte als entscheidende Wende in der Filmtheorie nahm ihre ersten Anläufe in Zeiten des politischen Umbruchs um das Jahr 1968.

2. Vorlauf Die politischen Ereignisse in Frankreich im Frühjahr 1968 gaben der Apparatusdebatte entscheidenden Anstoß.8 Die Politisierung der französischen Filmszene deutete sich bereits Mitte der 1960er Jahre an, u.a. abzulesen an einem perso7 | Dies berührt die in meiner Einführung erwähnte wichtige Streitfrage des Verhältnisses von immanenter und transzendenter Kritik in linken Debatten, zu der Adornos Kulturkritik querliegt (vgl. Djassemy 2002, S. 43f.; vgl. Einführung). 8 | Auf die Bedeutung der politischen Ereignisse im Jahr 1968 für die filmtheoretische Entwicklung weist z.B. auch Rodowick hin: „The political shock of May ’68 and the wide-

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nellen Wechsel in der Redaktion der zu dem Zeitpunkt bedeutendsten französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma.9 Die neuen Chefredakteure Jean-Louis Comolli und Jean Narboni10 drängten auf eine neue Ausrichtung der Zeitschrift. Im Editorial der Märzausgabe 1966 wendet sich Comolli gegen den bisherigen auteurtheoretischen11 Schwerpunkt der Zeitschrift, den er als unpolitisch bewertet. In der Novemberausgabe 1967 spricht dieser dann in seinem Artikel „Warum? Wohin? Wie? Wann?“ noch deutlichere Worte, die einen Vorgeschmack auf die kämpferische Stimmung der nächsten Jahre geben: „Kritiker müssten ‚in die Arena steigen‘ und sollten mit dem, was sie schreiben, ‚bis zum Hals in der gegenwärtig stattfindenden Arbeit stecken‘. Es sei nicht ihre Aufgabe, ‚die Toten sprechen zu lassen‘ oder ‚Leichenfledderei‘ zu betreiben, sondern ‚den Sterbenden [die Vertreter der politique des auteurs; S. W.] auf dem Schlachtfeld den Gnadenschuss zu verpassen‘.“ (Bickerton 2010, S. 72) Der hier proklamierte Bruch mit der bisherigen filmtheoretischen Tradition wurde auch im Nachhinein als Startschuss für einen Neubeginn wahrgenommen, wie Smith unterstreicht: „May ’68 was read unambiguously as a beginning and not as an end. From the chaotic expression of ideas, from the creative surges it had conjured up, it was assumed that new forms of everything would spring“ (Smith 2005, S. 2). Das Motiv des Auf bruchs und des Neubeginns findet sich nicht nur in Bezug auf die rückblickende Wahrnehmung speziell des Jahres 1968. Wie im Folgenden deutlich werden wird, ist dieses auch ein Element der filmtheoretischen Entwürfe selbst. Comollis Forderung eines Beginns politischer Filmpraxis und -theorie stand ganz im Zeichen der wachsenden antikapitalistischen Stimmung Ende der 1960er Jahre. Während die ökonomische Prosperität in Frankreich einen Höhespread reevaluation of cultural life it initiated cannot be overestimated as a historical reference point for contemporary film theory.“ (Rodowick 1988, S. 68) 9 | Im Folgenden abgekürzt Cahiers. 10 | Jean-Louis Comolli, geboren 1941 in Philippeville, arbeitete von 1962 bis 1978 aktiv bei den Cahiers du Cinéma, zwischen 1968 und 1971 als Chefredakteur sowie außerdem als Regisseur und Drehbuchautor. Jean Narboni, geboren 1937 in Orléansville, war gemeinsam mit Comolli Chefredakteur. Er beendete seine Arbeit bei den Cahiers du Cinéma 1963 und war bis 2003 an der Universität Paris-Diderot tätig. 11 | Die Generation Truffauts prägte die Ausrichtung der Cahiers du Cinéma als Organ der sogenannten Auteurtheorie. Ein Zugang, der den Film in seinem Werkcharakter in den Blick nimmt und insofern den Regisseur als Künstler ins Zentrum stellt. Weniger handelte es sich hier um eine Theorie im strengen Sinne, als vielmehr um ein Selbstverständnis der Filmkritik (vgl. Staples 1966/1967). Auch die Filmzeitschrift Cinéthique verband im Übrigen die politische Wende mit einer Abwendung von der Auteurtheorie. So äußert etwa der Cinéthique-Redakteur Leblanc: „If the author can be induced to speak about his ‚creation‘ the part he will talk about is this ‚mysterious‘ element, which the grateful spectator – provided he liked the film – will put down to ‚talent‘ or ‚genius‘. A triumph of irrationality which sends capitalism laughing all the way to the bank.“ (Leblanc 1971, S. 122)

Apparatusdebatte: Bruch als Motiv

punkt erreichte12, setzte sich in Teilen der Bevölkerung eine skeptische Haltung gegenüber Moderne und Fortschritt zunehmend durch. Die Gegnerschaft zur Regierung de Gaulles wuchs insgesamt, in der Linken wurde unter dem Eindruck des Vietnamkriegs die USA als verantwortliche und treibende Kraft von Imperialismus und Kapitalismus ausgemacht, Sympathien für die nationalen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas, die politischen Programme der Sowjet-Union und der kommunistischen Volksrepublik China stiegen. Im Kontext der Proteste von 1968, in deren Zuge die Einflussnahme staatlicher Institutionen im Kultursektor zunehmend Kritik auf sich zog, trafen sich die spezifischen Anliegen von ProtagonistInnen der Filmszene und die politischer AktivistInnen, wobei sich dann rasch Teile der Filmszene dem allgemeinen Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Revolution anschlossen.

3. 1968 Drei Ereignisse in der ersten Hälfte des Jahres 1968 waren Kirsten zufolge für die Politisierung der französischen Filmszene einschneidend: Die sogenannte Langlois-Affäre, die Stürmung und der nachfolgende Abbruch des Filmfestivals in Cannes sowie die Gründung der „États Généraux du Cinéma Français“, an der die Cahiers du Cinéma maßgeblich beteiligt waren (vgl. Kirsten 2006, S. 21ff.). Der Politisierungsschub hatte seinen ersten Höhepunkt im Februar 1968, als konservative Kräfte versuchten, die Verlängerung des ausgelaufenen Vertrages des bisherigen künstlerischen Leiters der „Cinémathèque Francaise“ Henri Langlois13 qua Streichung der staatlichen Subventionen zu verhindern. Die im Geheimen vorbereitete, als Putschversuch gegen Langlois wahrgenommene Abstimmungspolitik,14 dessen Erfolg dem staatlichen Kulturministerium einen verstärkten Einfluss auf Filmproduktion und -vertrieb gesichert hätte, erntete

12 | Es ist nicht unwesentlich im Zusammenhang mit der Fokussierung auf den technischen Apparat in der filmtheoretischen Debatte, dass die kritische Wende gegen dessen Wirkung im Zuge des ökonomischen Wachstums in Frankreich stattfand (vgl. Bickerton 2010, S. 70). 13 | Henri Langlois gründete Mitte der 1930er Jahre die „Cinémathèque Francaise“, ein Institut zur Restaurierung und Archivierung von Filmen und Filmmaterialien. Die staatlich subventionierte Sammlung hatte starken Einfluss auf die französische Filmkultur. 14 | Überraschend wurde dem zuständigen Gremium vom Präsidenten eine Neubesetzung von Langlois’ Amt (statt einer Verlängerung seines Vertrages) vorgeschlagen und eine sofortige Abstimmung darüber forciert. Unter anderem Truffaut verlangte eine Vertagung der Entscheidung, die jedoch abgelehnt wurde. Ein Drittel der Teilnehmenden verweigerte aus Protest die Abstimmung. Die Neubesetzung wurde offiziell beschlossen (vgl. Kirsten 2006, S. 21ff.).

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Protest.15 Ein solidarisches Umfeld wurde mobilisiert und namhafte französische Regisseure drohten dem Kulturministerium, die Aufführung ihrer Filme an der „Cinémathèque“ zu unterbinden. Kundgebungen und Pressekonferenzen folgten. Eine erstmals einberufene Vollversammlung der Mitarbeiter der „Cinémathèque“ bestätigte im April Langlois wieder als künstlerischen Leiter im Amt und fällte einen Beschluss über die Unabhängigkeit der „Cinémathèque“ von staatlichen Institutionen (vgl. ebd.). Der Protest wurde hauptsächlich von den Büroräumen der Cahiers aus organisiert und wirkte auf die Stimmung in der Redaktion zurück. Das Selbstverständnis als Organ des politischen Kampfes wurde gestärkt. Im Mai weiteten sich die Proteste der ArbeiterInnen und StudentInnen aus und erreichten am 13. Mai auch das Filmfestival in Cannes. Das Gelände wurde gestürmt und zum Versammlungsort erklärt, von dem aus die Solidarität mit den Protesten in Paris ausgerufen wurde. Während François Truffaut, Jean-Luc Godard und weitere die Intervention auf dem Festivalgelände begrüßten und unterstützten, zogen andere Regisseure (u.a. Alain Resnais) ihre Filme zurück, Mitglieder der Jury (u.a. Roman Polanski) legten ihren Posten nieder. Das Festival wurde ohne Preisverleihung abgebrochen (vgl. dazu u.a. Smith 2005, S. 5ff.). Am 17.5.1968 gründeten sich die „États Généraux du Cinéma Français“. Zur Gründungssitzung versammelten sich (laut verschiedener Angaben) zwischen 1500 (vgl. ebd., S. 23) und 5000 (vgl. Bickerton 2010, S. 79) Studierende und Fachleute, um über eine Neuorientierung der nationalen Organisation des Vertriebs, der Regulation und Finanzierung des französischen Films zu debattieren und schließlich für eine Abschaffung des „Centre National de la Cinématographie“16 zu plädieren. Kirsten sieht die Gründung der „États Généraux du Cinéma Français“, die Störung von Cannes und den Protest gegen den Putschversuch gegen Langlois durch übereinstimmende politische Forderungen verbunden: den Filmschaffenden eine autonome Position gegenüber staatlichen Interessen zu sichern, institutionelle Rahmenbedingungen für eine von der Filmindustrie unabhängige Filmproduktion und -distribution zu schaffen und das Kino zu einer Stätte des – wenn zu diesem Zeitpunkt in seinen Zielen auch noch recht unbestimmten – politischen Kampfes zu machen. Die Politik der „États Généraux du Cinéma Français“ sollte hierfür auf politischer und institutioneller Ebene die Grundlagen schaffen und die Möglichkeit des Zugriffs auf ökonomische Mittel der Filmproduktion jenseits staatlicher und ökonomischer Direktiven sichern. Es ging um einen Ausbruch aus und Auf bruch von Strukturen und Institutionen, die als verkrustet und repressiv wahrgenommen wurden.

15 | „The importance French film critics and directors attach to the Cinematheque can perhaps best be gauged by their reaction to Langlois’ dismissal in 1968; all factions were united for the first time in their lives.“ (Johnston 1971, S. 40) 16 | Die Abteilung des Kulturministeriums für Subvention, Vertrieb und Reglementierung des französischen Films.

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Zu einer Konkretisierung und Umsetzung dieser Ziele kam es – Kirsten zufolge aufgrund der Heterogenität der politischen Positionen der Mitglieder (vgl. Kirsten 2006, S. 24) – schließlich nicht. Nichtsdestotrotz war die Wirkung der Geschehnisse im Jahre 1968 für die Filmtheorie – wie auch für viele gesellschaftliche Bereiche – nachhaltig. Auch Bickerton schätzt ein, der politische Auf bruch habe unmittelbar zwar zu keinerlei konkreten Umstrukturierungen geführt, unterstreicht aber die gleichwohl einschneidende Wirkung unter Verweis auf den Cahiers-Redakteur Serge Daney: „Die gesellschaftlichen und politischen Aufstände waren erfolglos geblieben, aber ‚nach 1968‘, so sollte sich Serge Daney später erinnern, ‚konnte niemand mehr wie vorher einen Film machen oder darüber schreiben‘.“ (Bickerton 2010, S. 80).

4.  In Folge: Verknüpfung von Politik und Filmtheorie Nicht nur die realpolitischen Forderungen der sich formierenden Bewegung, auch die theoretischen Positionierungen der Cahiers du Cinéma waren im Frühjahr 1968 noch wenig konsistent. Die Redaktion beschränkte sich zunächst auf den Abdruck von Berichterstattungen über die Geschehnisse. Doch bereits in der Augustausgabe 1968 kündigte sich eine erste Verknüpfung der Reflexion der politischen Geschehnisse mit filmtheoretischen Annahmen an. Und im Herbst 1969 präsentierten die Cahiers mit dem zweiteiligen Artikel „Cinéma/Idéologie/ Critique“ (Comolli/Narboni 1969; engl. Übers. dies. 1971) der Herausgeber die erste programmatische Formulierung einer marxistischen Ideologiekritik des Kinos (vgl. Rodowick 1988, S. 70). Die politische Radikalität, mit der sich die Herausgeber der Cahiers auf Seiten des Proletariats im Klassenkampf positionierten, provozierte einen zeitungsinternen Konflikt. Der Verleger und (seit 1964) Zeitschrift-Eigner Daniel Filipacchi zeigte sich brüskiert über die anti-bourgeoise Stimmung und entschied sich zum Verkauf. Die Zeitschrift ging in den Besitz eines neu gegründeten Kollektivs aus freien Autoren, Mitgliedern und Assoziierten der Redaktion über.17 In ihren Artikeln reagierten Narboni und Comolli auf die Position einer kurz zuvor gegründeten Zeitschrift: der Cinéthique. Angestoßen wurde die Gründung der Cinéthique 1968 maßgeblich durch Gérard Leblanc und Marcel Hanoun. Die erste Ausgabe erschien am 20. Januar 1969. Die Cinéthique verstand sich selbst als die rechtmäßige Vertretung einer marxistisch-leninistischen Filmkritik, die sich von der als zu moderat, also als zu bourgeois beurteilten Position der Cahiers abgrenzte. Die Cahiers wiederum ziehen die Cinéthique allzu grobschlächtiger Begrifflichkeiten. Der zweite Teil von „Cinéma/Idéologie/Critique“ (Comolli/Narboni 1969) ist eines der ersten plastischen Zeugnisse dieses innermarxistischen Richtungs17 | Unter ihnen waren auch Mitglieder der älteren Generation der mit den Cahiers Assoziierten, wie z.B. Truffaut.

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streits, der die Debatte in den nächsten Jahren prägte. Comolli und Narboni kritisieren in ihrem Text u.a. den Artikel „La parenthèse et le detour. Essai de définition théorique du rapport cinéma – politique“ (Fargier 1969; engl. Übers. ders. 1971) von Jean-Paul Fargier, einem Redakteur der Cinéthique. Fargier benennt hier als Eigenschaft des sogenannten materialistischen Films, die theoretische Reflexion auf die ideologische Funktion des Kinos. Fargiers Text formuliert eine orthodox-marxistische Position, von der ausgehend eine Unterscheidung zwischen bourgeoisem und revolutionärem Kino getroffen wird. In folgender Hinsicht ist hiermit ein Bruch mit dem filmischen Realitätseindruck anvisiert: Fargier zufolge zeigt das materialistische Kino „seine eigene Materialität, seine ideologische, politische, ökonomische Funktion und in diesem Akt der Aufdeckung erreicht es ein theoretisches Niveau indem es mit der ‚impression de réalité‘ bricht“ (Kirsten 2006, S. 45). An der Frage des Bruchs scheiden sich innerhalb der Debatte zentral die Geister. So werfen Narboni und Comolli Fargier ein simplifizierendes Verständnis von Althussers Bestimmung des epistemologischen Bruchs in diesem Zusammenhang vor (vgl. ebd., S. 51f.). Durch die umstandslose Übertragung des (auf das Feld der Wissenschaft bezogenen) Begriffs des epistemologischen Bruchs auf das Kino würde die Cinéthique in unzulässiger Weise die Möglichkeiten einer Aufhebung der ideologischen Wirkung des filmischen Apparates durch den materialistischen Film unterstellen. Nichtsdestotrotz beschäftigen sich auch Comolli und Narboni mit der Frage, welche (ästhetischen) Kriterien einen Film zu einem materialistischen Film machen. Ich komme darauf im Weiteren genauer zu sprechen (s. Abschnitte 6-9). Die Apparatusdebatte nahm ihren Anfang im Schlagabtausch zwischen diesen beiden Filmzeitschriften. Aber auch andere Zeitschriften (wie Tel Quel18, Positif 19 oder Communication) beteiligten sich an der sich rasant erhitzenden Diskussion. Casetti betont die Relevanz, die die Zeitschriften als Austragungsort für die Debatte hatten: „In these years journals played a major role in the development of the debate: they introduced passwords, they promoted mutual comparisons that were often ferocious, they searched for internal clarity, and they published manifesto-like essays. These procedures corresponded very well to the spirit of the time. In these same years, those who were occupied with politics typically worried about the ‚correct line‘ (paying attention also to nuances), belonged to a (small but

18 | Tel Quel, 1960 u.a. von Philippe Sollers gegründet, war in den 1960er und 1970er Jahren die bedeutendste Literaturzeitschrift Frankreichs und in den Folgejahren von 1968 ebenfalls marxistisch positioniert. Mit der Veröffentlichung von Beiträgen u.a. von Julia Kristeva, Jacques Derrida, Michel Foucault und Roland Barthes gilt die Zeitschrift als eine wichtige Wegbereiterin poststrukturalistischen Denkens. 19 | Positif – eine 1952, somit zeitnah zu den Cahiers, gegründete Filmzeitschrift – vertrat in diesen Jahren eine gemäßigte, marxistisch beeinflusste linksdemokratische Position.

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pure) group, and tended to privilege open conflicts (without mediations).“ (Casetti 1999, S. 203) Ein entscheidender Markstein für die ersten Formulierungen der Problemstellung stellte – wie bereits erwähnt – ein von den Redakteuren der Zeitschrift Tel Quel20 Jean Thibaudeau und Marcelin Pleynet gegebenes Interview (Pleynet/ Thibaudeau 1969) dar.21 Dieses von dem Cinéthique-Redakteur Leblanc geführte Interview erschien Anfang 1969 in der dritten Ausgabe der Cinéthique unter dem Titel „Economique, idéologique, formel“ und gilt gemeinhin als der ‚eigentliche Urtext‘, der den neuen Fokus auf die ideologische Funktion des Kinos eröffnet (vgl. u.a. Casetti 1999, S. 186). Die drei Titelstichwörter des Interviews – Ökonomie, Ideologie, Form(ales) – bilden in den kommenden Jahren die zentralen Eckpfeiler der Debatte,22 für die Althussers strukturalistische Marx-Lektüre als gemeinsamer Bezugspunkt zentral ist. In den Grundannahmen sind sich die Autoren von Cinéthique und Cahiers weitgehend einig. Aber die Möglichkeiten und die genauere Definition des Bruchs mit der ideologischen Wirkung des Kinos werden je anders gefasst. Diese Differenz wertet Kirsten als eine der „Radikalität der Bewertung derselben auf der ästhetischen Ebene“ (Kirsten 2006, S. 48) – doch muss m.E. dabei unterstrichen werden: Auf Grundlage der ideologiekritischen Annahmen gibt es dem Verständnis der Debattenteilnehmer nach gar keine ‚rein ästhetischen‘ Problemstellungen. Dies liegt bereits in den grundlegenden Auffassungen der ideologischen Funktion des Kinos begründet. Ästhetische Fragen werden als untrennbar von Fragen der gesellschaftlichen Revolution gesehen – der Bruch zielt damit von sich aus über den ästhetischen Bereich hinaus. In diesem Zusammenhang wird auch Denken, wie im Folgenden gezeigt werden wird, als eine bewegende, als eine praktische Kraft vorgestellt. Die Texte bestimmen nicht selten die theoretische Reflexion als Bruch, der – so die Formulierungen – die Augen öffnet. Kritik hat so den Beiklang von Sehen machen, was in gewisser Weise als Voraussetzung der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse angesehen wird. Im Interview mit Pleynet und Thibaudeau erweist sich der Bruch 20 | Wird in meinen folgenden Ausführungen auch die Tel Quel eine nicht so wichtige Rolle spielen, war diese für die Debatte von nicht zu unterschätzender Bedeutung, worauf u.a. Rodowick hinweist: „[U]nder the influence of Tel Quel notions of modernism and the avantgade, the idea of the epistemological break was transformed into an aesthetic and formal concept. […] Tel Quel’s influence on the debates regulating Althusser’s assimilation by French and Anglo-American film theory is clearly articulated in an interview with Tel Quel editors Jean Thibaudeau and Marcelin Pleynet in issue No. 3 of Cinéthique.“ (Rodowick 1988, S. 71) 21 | Im Folgenden zitiere ich aus der deutschen Übersetzung in Riesinger (Hrsg.) 2003. 22 | Die Stichwörter des Titels erscheinen also rückblickend als gut platziert, wie Rodowick unterstreicht: „The very title of this interview, ‚Economique-Idéologique-Formel‘ places the question of cinema at the intersection of aesthetic practice with other social practices such as the economic and the ideological.“ (Rodowick 1988, S. 71)

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als Erhellung des – im bürgerlichen Kino dunkel bleibenden – Apparatus, die das Publikum sowie auch die Filmtheoretiker selbst ‚sehen lässt‘.

5.  Das Grundgerüst: „Economique, idéologique, formel“ Der Cinéthique-Redakteur Leblanc 23 eröffnet das Interview mit folgender Frage an die beiden Tel-Quel-Redakteure Thibaudeau und Pleynet 24: „Welche Filme, die Sie gesehen haben, sind ihrer Ansicht nach ‚politisch‘?“ (Pleynet/ Thibaudeau 2003, S. 11) Diese Frage wird von Pleynet zurückgewiesen: „Wie ließe sich denn von einem Film behaupten, daß er nicht politisch ist?“ (Ebd.) Aus dieser Frage wäre, so Pleynet und Thibaudeau, die Perspektive auf die ideologische Dimension des Films von vornherein ausgeschlossen. Das kommerzielle, nicht politisch intendierte Kino habe vielmehr in seiner ideologischen Wirkung eine politische Bedeutung – das zeitgenössische politische Kino sei wiederum ebenso wenig frei von bürgerlicher Ideologie. Pleynet kritisiert damit gleich zu Beginn die gängige Gleichung: politisch = ideologiekritisch, unpolitisch = ideologisch. Ausgeblieben sei bisher weitgehend eine Umsetzung dessen, was Pleynet in Anschluss an Althusser als theoretische Arbeit bezeichnet, eine „Dekonstruktion des Apparates der Ideologieproduktion“ (ebd., S. 15), die nicht auf der inhaltlichen, sondern – so die Terminologie hier – auf der formalen Ebene ansetzt. Pleynet und Thibaudeau eröffnen von hier ausgehend in dem Interview eine völlig neue filmtheoretische Perspektive auf das Verhältnis der drei im Titel benannten Ebenen „Ökonomie, Ideologie, Form(ales)“ (ebd.). Pleynets und Thibaudeaus Gesprächspartner Leblanc kommt immer wieder darauf zu sprechen, inwiefern nicht der eigentlich wichtige Unterschied zwischen einem politischen Kino und dem Mainstreamkino in der Höhe des Budgets, der Unabhängigkeit der Filmschaffenden, dem verwendete Filmmaterial oder dem politischen Interesse der Filmschaffenden bestehe. Pleynet plädiert dafür, „die ökonomische Realität eines Produktionssystems nicht als eine Sache für sich hinzustellen, als eine Art sperriges Monument, was man nur umstürzen muß … […]. Die ökonomische Realität, die Sie betonen, ist die Realität des Kinos, sie deckt sich ebenso mit dem, was man Kommerzkino nennt, wie mit dem ‚nichtkommerziellen‘ Kino, dem professionellen wie dem Amateurkino – sie nicht wahrhaben zu wollen hieße, von einem idealistischen Standpunkt auszugehen.“ (Ebd., S. 14) Die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des kommerziellen und des nicht-kom23 | Gérard Leblanc, geboren 1942, ist als Filmhistoriker an der Sorbonne und als Regisseur tätig. 24 | Jean Thibaudeau, geboren 1935 in La Roche-sur-Yon und 2013 in Paris verstorben, war Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Marcelin Pleynet, geboren 1933 in Lyon, gilt als Kunstkritiker und Essayist. Zwischen 1962 und 1982 war er bei der Tel Quel redaktionell tätig. Von 1987 bis1998 hielt er eine Professur für Ästhetik an der „École nationale supérieure des Beaux-Arts“ (Paris) inne.

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merziellen Kinos aber seien nicht zu verwechseln mit der ideologischen Dimension – so lautet der wesentliche Punkt, den Pleynet in die Debatte einbringt. Für die ideologische Dimension des Films sei die ökonomische Ausstattung einer Filmproduktion ebenso wenig entscheidend wie das politische Interesse des Filmemachers, einen bestimmten Inhalt zu transportieren. Ob es sich bei Filmen etwa um High- oder Low-Budget-Produktionen handelt, diese von einem proletarischen Kollektiv gedreht werden oder nicht, ob bestimmte Inhalte vermittelt werden sollen oder nicht: Das alles seien Faktoren, die sich zunächst einmal nicht mit der grundsätzlichen ideologischen Qualität des filmischen Apparatus auf einer Ebene befänden. „In his comments, Pleynet criticizes Cinéthique for an unreflected economism that supposes that marginal films, produced and distributed outside of the mainstream of capitalistic economy and sympathetic to proletarian struggle, automatically communicate revolutionary values.“ (Rodowick 1988, S. 71f.). Das Kino ist den beiden Tel Quel-Redakteuren zufolge vielmehr auf ganz grundsätzliche Weise ideologisch strukturiert.25 So unterstreicht Pleynet: In die filmische Technik sind ideologische Implikationen eingeschrieben. Die von den Tel Quel-Redakteuren anvisierte Ebene der Ideologie wird so in einer Dimension eines konstitutiven Vorabs verortet: „Der kinematographische Apparat ist ein ideologischer im ureigensten Sinne, ein Apparat, der bürgerliche Ideologie verbreitet, bevor er was auch immer verbreitet.“ (Pleynet/Thibaudeau 2003, S. 18) Die ideologische Qualität liege demnach primär in der Struktur des Wie (und nicht des Was) der Darstellung. Pleynets Beispiel ist die Kamera, von der er sagt: „Bevor sie einen Film produziert, produziert die technische Konstruktion der Kamera bürgerliche Ideologie.“ (Ebd., S. S. 18) Insbesondere Pleynet ist in dem Interview bemüht, dem Cinéthique-Redakteur die von ihm gemeinte Differenz zwischen ökonomischer und ideologischer Ebene verständlich zu machen und den Fokus auf die Frage zu richten: In welcher Weise wird im Kino repräsentiert? Auf welchem Wege und mit welchem Geltungsanspruch also treten filmische Bilder auf? Wie Winkler hinweist, ist der hiermit verbundene „Wechsel der Blickrichtung von den Inhalten hin zur Technik des Films […] umso bemerkenswerter, als er […] im Kontext einer leninistisch 25 | Winkler weist darauf hin, dass Adornos Blick auf die Technik mit dem der frühen Apparatustheoretiker vergleichbar ist (vgl. Winkler 1992, S. 224). Es ist in der Tat eine der zentralen Thesen in der „Dialektik der Aufklärung“, dass gesellschaftliche Herrschaft und technischer Fortschritt untrennbar miteinander verbunden sind. Man kann sagen: Dass demnach die Mittel der Herrschaft (über Natur und die von Menschen über Menschen) nicht neutral sind, sondern diese auch in technische Mittel eingegangen ist – von nichts anderem geht auch die Apparatusdebatte aus. Winkler sieht einen weiteren wesentlichen Schnittpunkt zwischen Adorno und der Apparatusdebatte in der Verknüpfung von Ideologie und Unbewusstem (vgl. Winkler 1992, S. 224). Dieser weist aber auch darauf hin, dass es sich in beiden Fällen zwar um eine „politisch gewendete Psychoanalyse“ handelt, aber um eine jeweils „sehr unterschiedlich gewendete Psychoanalyse“ (ebd.).

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orientierten Argumentation auftritt. Man wird daran erinnern müssen, daß dieser Zweig der Linken, zumindest bis zum Beginn der ökologischen Bewegung Mitte der 70er Jahre, die Technik und Maschinerie als weitgehend neutral ansah. Technik und Maschinerie wurden als gesellschaftlicher Reichtum und als ein Teil jener Produktivkräfte betrachtet, die die Herrschaft des Bürgertums zwar hervorgebracht hatte, deren Entwicklung aber gleichzeitig die objektive Basis für eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur darstellte. Pleynets Frage nach der in der Technik vergegenständlichten Ideologie also stand quer zu einem ganzen Diskurs.“ (Winkler 1992, S. 20) So kontert etwa Jean-Patrick Lebel (der sich ab dem Jahr 1969 mit in der Zeitschrift La Nouvelle Critique erschienen Beiträgen in die Debatte einbrachte) die Position Pleynets ganz im Geiste der klassisch marxistisch-leninistischen Tradition: „Die Kamera […] ist kein von sich aus ideologischer Apparat. Sie produziert keineswegs eine spezifische Ideologie, und genauso verdammt sie ihre Struktur nicht dazu, die herrschende Ideologie unabwendbar widerzuspiegeln. Sie ist ein ideologisch neutrales Instrument, exakt in dem Maße wie sie ein Instrument, ein Apparat, eine Maschine ist. Sie basiert auf einer wissenschaftlichen Grundlage und ist konstruiert nicht gemäß einer Ideologie der Repräsentation (im theoretischen Sinn des Begriffs), sondern auf dieser wissenschaftlichen Basis.“ (Lebel übers. v. und zit. n. Winkler 1992, S. 28, Fn. 25; vgl. Lebel 1971) Wie ungewohnt die u.a. von Pleynet angestoßene Verschiebung des orthodoxen Ideologiebegriffs für viele gewesen sein muss, mag auch an Leblancs Interviewführung sichtbar werden, der das Gesprächs immer wieder auf Fragen der Aneignung der Filmproduktion durch das Proletariat und den Gegensatz von kommerziellem und nicht-kommerziellem Kino zu bringen versucht. Gegen Ende des Interviews zeigt sich in Pleynets Aussagen Ungeduld: „Ich wiederhole mich, aber sehen Sie, mir scheint, daß wir unaufhörlich das Problem umkreisen, ohne daß es uns gelingt, es wirklich anzugehen. Ich verstehe sehr gut, daß Ihre unmittelbarsten Interessen Sie zunächst dahin bringen, den ökonomischen Kreislauf in Betracht zu ziehen … Dennoch sollten Sie in dem Moment nicht blind sein, wo Sie glauben, daß Sie auf der Basis nur dieser Interessen die Probleme aufwerfen können, die sich heute dem französischen Kino stellen. Sie kommen da nicht heraus, solange Sie nicht das Spezifische des kinematographischen Feldes bestimmt haben. Solange Sie auf die Frage, ob das Kino zuerst Ökonomie oder zuerst Ideologie produziert, keine Antwort gefunden haben.“ (Pleynet/Thibaudeau 2003, S. 22) An dieser Stelle zeigt sich eine Verbindung des Gedankens eines Vorabs der ideologischen Strukturiertheit des Apparates mit der Vorstellung eines Sichtbarwerdens. Sie sollten nicht blind sein – wendet sich Pleynet an Leblanc, der scheinbar schwer zur Einsicht in die Relevanz des ideologischen Vorab zu bewegen ist. Leblanc hängt an den harten Fakten der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Möglichkeit, das Kino zur Vermittlung von expliziten politischen Botschaften zu verwenden. Pleynets Formulierung zufolge kommt Leblanc aus

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etwas nicht heraus, findet keine Lösung, bleibt gefangen und damit blind gegenüber dem „Spezifischen des kinematographischen Feldes“ (Ebd.), von dessen theoretischer Durchdringung so vieles abzuhängen scheint. Als Beispiel für dieses Spezifische nennt Pleynet nun die Untersuchung der ideologischen Bedeutung der Zentralperspektive26, welche die Autorität der Kamera betrifft, den von ihr aufgenommenen Bilder den Anschein einer quasinatürlichen Abbildung zu verleihen. Die Kamera ist „minutiös konstruiert […], um jegliche perspektivische Anomalie zu ‚begradigen‘, um unter ihrer Autorität den Code des Spiegelbildes zu reproduzieren, wie es der wiedererwachte Humanismus definiert … […] Meiner Meinung nach kann nur dann, wenn ein Phänomen wie dieses reflektiert wird, wenn die Bestimmungen des Apparates (der Kamera), der die Realität seiner Einschreibung strukturiert, reflektiert werden, das Kino sein Verhältnis zur Ideologie objektiv betrachten.“ (Ebd., S. 18) Der Anschein spiegelbildlicher Abbildung sei nicht als Resultat der durch die technische und gewissermaßen wissenschaftlich fundierte Aufnahme der äußeren Welt durch die Kamera (welche ‚sich nichts ausmalt‘, sondern aufzeichnet) an sich zu betrachten, sondern hinsichtlich den der Kameratechnik anhänglichen Codes ‚realistischer Abbildbarkeit‘ ideologiekritisch zu untersuchen. Das Kino ist für Pleynet insofern ein Paradebeispiel ideologischer Systeme, als die suggerierte nicht-verfälschende Aufnahme der außerfilmischen Wirklichkeit die technische Vermittlungsarbeit dementiere. Dieser Auffassung nach nimmt das Publikum mit dem Bild gewissermaßen auch den Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse an: „Da sitzt jemand im Dunkeln, schaut sich ein Bild an und wird, indem er sich damit identifiziert, gezwungen, das zu akzeptieren, was ihm die bürgerliche Gesellschaft immer schon vorlegt, nämlich niemals zu handeln, außer unter Vollmacht.“ (Ebd., S. 19) Pleynet situiert hier das Publikum in der Dunkelheit. Wie auch in der obigen Entgegnung auf Leblanc, tritt das Bild einer geschwächten Sehkraft in Verbindung mit einer Gefangennahme. Blindheit wird verbunden mit Handlungsunfähigkeit – im Dunkeln gehalten, ist demnach das Publikum vom Handeln, von der Praxis abgeschnitten. Treten filmische Bilder, so die Annahme, als spiegelbildliche Doppelungen auf, so zielt diese Ideologiekritik auf eine Brechung, die darin besteht, diese Doppelung nicht als Tatsache anzunehmen (in doppeltem Sinne: denkend und han26 | Die Zentralperspektive ist in diesem Zusammenhang für zwei miteinander zusammenhängende Aspekte relevant: Erstens imitiert die Anordnung des Bildraums in perspektivischer Hinsicht den natürlichen Raum. Zweitens ist in dieser perspektivischen Anordnung der Standort des Betrachtenden in bestimmter Weise anvisiert – so ist „der gesamte Bildraum für die Betrachtung und auf den Betrachter hin konstruiert“ (Winkler 1992, S. 10). Weiter heißt es bei Winkler: „Beim perspektivischen Bild ist ein Teil des Appells, des kommunikativen Gestus in die formale Grundkonstruktion selbst eingegangen, und wo ein Moderator sein ‚hochverehrtes Publikum‘ explizit als solches ansprechen muß, sagt das perspektivische Bild vor jeder inhaltlichen Aussage: ‚Siehe! Hier. Eine Welt FÜR DICH.‘“ (ebd.)

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delnd), sondern auf ihre Implikationen hin zu prüfen und sich dadurch von dem durch die Apparatur nahegelegten Eindruck zu distanzieren. Pleynet führt ein plastisches Beispiel auf: „Sie schreiben eine Parole auf die Mauer, filmen sie ab, doch indem Sie filmen, gerät die Parole in einen bestimmten Apparat, der zu bestimmten Zwecken konstruiert ist und […] eine bestimmte mentale Ideologie hat (um es kurz zu machen, jene der monokularen, wissenschaftlichen Perspektive), und schon ab jetzt ist es nicht mehr Ihre Parole, die spricht, sondern der Apparat, der sich Ihrer Parole bedient, der etwas von einem Double, einem Spiegelbild, produziert.“ (Ebd., S. 19) Um in dem obigen Bild zu bleiben: Hält man auch die Kamera in den eigenen Händen, übernimmt der filmische Apparat die Stimme – der Apparat setzt sich an die Stelle des Subjekts, spricht an dessen Stelle, indem er vorgibt, die Parole bloß wiederzugeben. Die ideologische Funktion der Verdopplungstechnik besteht diesem Bild nach darin, die Enteignung der Stimme unsichtbar zu machen. Die Idee der Einverleibung des Subjekts ist für viele Texte der Debatte implizit oder explizit von zentraler Bedeutung und wird nicht selten als Betäubung von Sinnen (wie hier: blind machen) oder als Übernahme von leiblichen Funktionen (wie hier: der Stimme) beschrieben. Die Vorstellung von Technik als Organersatz zieht sich in dieser Weise auch durch Baudrys Text „Le dispositif“ (1975), in dem insbesondere die Beschreibung einer motorischen Lähmung eine wichtige Rolle spielt. Pleynet und Thibaudeau plädieren vor diesem Hintergrund für einen Film, der auf sich referiert und so die ansonsten stillschweigende Enteignung artikuliert – hierauf bezieht sich der Terminus Form(ales).27 Knapp gesagt, fordern die beiden eine Ästhetik, die sich vorrangig darauf richtet, die zur Produktion des Films geleistete Arbeit, die Prozesse der filmischen Technik (hier haben sie vor allem die Kamera im Sinn) zu zeigen – im Unterschied zu Filmen, die eine unmittelbare spiegelbildliche Abbildung der außerfilmischen Welt suggerieren. Pleynets und Thibaudeaus Auffassung von einem revolutionären Kino beinhaltet im Wesentlichen die Ablehnung von jeglichem Illusionismus einer bloßen Darstellung von Realität, indem die theoretische Reflexion auf die technischen Vorgänge zur Erzeugung der filmischen Bilder zum Gegenstand der Darstellung wird (vgl. Kirsten 2006, S. 37). Revolutionäres Kino zeigt in diesem Sinne nicht scheinbar die Welt, sondern zeigt, wie der filmische Apparat die Welt zeigt. Auch die Tel Quel verortet sich also marxistisch-leninistisch und es steht für Autoren wie Pleynet außer Frage, dass für die Revolution die Aneignung der Produktivkräfte durch die arbeitende Klasse notwendig ist. Ihr Einwand, mit der Instrumentalisierung des Kinos für den Klassenkampf wäre die ideologische Wirkung 27 | Rodowick merkt dazu an: „He [Pleynet] emphasizes that the revolutionary potential of marginal cinema devolves less from an economic definition (alternative or oppositional mode of production) than from its potential for ‚formal research‘ on the material specificity of the cinematic signifier“ (Rodowick 1988, S. 71f.).

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des filmischen Mediums nicht gebrochen, sondern stattdessen ein bourgeoises Erbe unversehens mitgeschleppt, stellt nicht zuletzt auch einen gewichtigen strategischen Einwand gegen die politischen Zielsetzungen dar, wie sie etwa auf der Gründungssitzung des „États Généraux du Cinéma Français“ formuliert wurden. Mit einer Revolutionierung der politischen und ökonomischen Strukturen von Filmproduktion und -distribution sei in Bezug auf den angestrebten Bruch mit der ideologischen Wirkungsweise des Kinos im Wesentlichen nichts gewonnen. Kritisiert wird somit von einer marxistisch-leninistischen Position aus die für den orthodoxen Marxismus bisher zentrale Annahme, entscheidend sei allein, in welchen Händen sich die für die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion notwendigen Mittel befinden. Man kann sagen: Gefordert wird, den Klassenkampf nicht den Händen zu überlassen, sondern auch den Kopf mit einzubeziehen – eine Reflexion darauf, was man mit der Aneignung des Kinos in den Händen hätte: Nämlich einen Apparat, der als ein Verdopplungsinstrument der außerfilmischen Realität auftritt. Das Interview lässt sich im Nachhinein wie ein erster Entwurf einer Landkarte dieser Debatte lesen. Die verschiedenen thematischen Felder auf der Karte und die diese durchziehenden Begriffe werden in den folgenden Jahren von den Teilnehmenden ausgearbeitet und erweitert. Für die erste Zeit der Ausarbeitung ist ohne Zweifel die Auseinandersetzung zwischen Cinéthique und Cahiers du Cinéma der wesentliche Spot. Pleynets Forderung, den Film primär in seiner ideologischen Funktion zu analysieren, stellt die gemeinsame Basis dar. Der Film wird somit als eine spezifische Ware in den Blick genommen28 – als deren vorrangige ideologische Funktion zunächst die Herstellung des filmischen Realitätseindrucks (im Sinne hier einer spiegelbildlichen Abbildung) gesehen wird (vgl. Rodowick 1988, S. 71). Auch die Cinéthique-Autoren folgen der von Narboni und Comolli formulierten Anforderungen an den Film: Ein Angriff auf die Ideologie „only becomes politically effective if it is linked with a breaking down of the traditional way of depicting reality“ (Comolli/Narboni 1971, S. 32). Diese Idee des ‚breaking down‘ knüpft direkt an Althussers Konzeption von Ideologiekritik als epistemologischem Bruch an, welche nun als gemeinsamer Bezugspunkt der Debatte im Folgenden grob skizziert werden soll.

6.  Bruch bei Althusser Sehr schnell setzte sich in der filmtheoretischen Diskussion nach Erscheinen des Interviews diese maßgeblich von Pleynet eingebrachte Verknüpfung von filmtheoretischen Überlegungen mit Althusserscher Ideologiekritik durch. „Cinéthique, like Cahiers du cinéma, reproduces a definition of ideology directly from Althusser: ‚An ideology is a system (possessing its own logic and rigour) of representa28 | In dieser Hinsicht berühren sich die hier in der Apparatusdebatte vertretene Grundauffassung von Ideologiekritik und Adornos Position (vgl. Einführung).

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tions (images, myths, ideas or concepts as the case may be) existing and having a role within a given society.‘ (Louis Althusser: ‚Marxism and Humanism‘ in For Marx)“ (Rodowick 1988, S. 85). Ideologie wird von Althusser als ein System von Vorstellungen und Praktiken aufgefasst. Diese Vorstellungen haben dabei, so vertritt dieser, „in den meisten Fällen nichts mit dem ‚Bewußtsein‘ zu tun: sie sind meistens Bilder, bisweilen Begriffe, aber den meisten Menschen drängen sie sich vor allem als Strukturen auf, ohne durch ihr ‚Bewußtsein‘ hindurchzugehen. Sie sind wahrgenommene-angenommene-ertragene kulturelle Objekte und wirken funktional auf die Menschen ein durch einen Vorgang, der ihnen entgeht.“ (Althusser 1974, S. 183) Solcherart Vorgang einzuholen, etabliert sich auch als politisches Ziel von Filmpraxis und -theorie. Althussers Bestimmung von Ideologiekritik als Bruch nimmt Bezug auf den Bachelardschen Begriff des wissenschaftstheoretischen (oder epistemologischen) Einschnitts (vgl. ebd., S. 32) – welcher, bildlich gesprochen, eine bestimmte geschlossene Formation aufreißt, um an ihre Stelle neue Erkenntnis zu setzen. In seinen frühen Schriften versteht Althusser dies als „Verwandlung einer zeitgenössischen theoretischen Problematik“ (ebd.) in eine wissenschaftliche Disziplin, wie sie etwa Marx in seiner Kritik an Hegel letztlich vorgenommen habe. Schmidts Althusser kritisierende Lesart zufolge bedeutet dies: „Der Bruch mit der ideologischen Problematik bedeutet nicht, daß sie mit angemesseneren Mitteln fortgesetzt wird; vielmehr kommt eine neue Ebene des Diskurses zustande, welche die frühere nicht im Hegelschen Sinne ‚aufhebt‘, sondern restlos ersetzt.“ (Schmidt 1971, S. 119) Bruch führt somit hier auch die Bedeutung von Abbrechen mit sich, insofern es auch um die Ersetzung von (statt auch um eine kritische Anknüpfung an) Denktraditionen geht.29 Weiterhin geht es hier um den Aspekt des Auf brechens. Die ideologische Problematik (welche Althusser mit der Lacanschen Kategorie des Imaginären verbindet) zeichnet sich diesem Verständnis nach durch Geschlossenheit aus, welche die Wissenschaft (d.h. marxistische Philosophie) aufsprengen soll: „Sciences and ideologies are distinguished by the modes in which they develop and pose problems. The imaginary effects closure. Science, which comes into existence through the epistemological break, breaks the space of recognition.“ (Hirst 1979, S. 37) Der Marxismus, so Althusser, sei die einzige Wissenschaft, die in der Lage ist, sich „über die Natur der theoretischen Formationen und über ihre Geschichte Rechenschaft abzulegen, die also fähig ist, sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen, indem sie sich selbst zum Gegenstand nimmt“ (Althusser 1974, S. 40). Die Nähe von Pleynets Forderung, der Film solle sich selbst – und nicht scheinbar unmittelbar die Welt – zum Gegenstand haben, zu diesem Gedanken ist plastisch. Von äußerster Wichtigkeit in diesem Zusammenhang ist, dass Althussers Ideologiebegriff auf einer Revision der im orthodoxen Marxismus etablierten 29 | Wie ich oben angemerkt habe, korrespondiert diese Figur des Aufbruchs als Neubeginn mit der Deutung des Jahres 1968 selbst.

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Auffassung von Ideologie als Bewusstsein von einer (gesellschaftlich bestimmten) Praxis auf baut. Althusser wirft bisherige Auffassungen des Verhältnisses von Praxis und Theorie überhaupt um. Für Eagleton besteht einer der „großen Durchbrüche“, die Althussers Ideologiekritik bewirkt habe, darin, dass Ideologie nicht länger verstanden wurde als „Verzerrung oder falsche Widerspiegelung, nicht mehr bloß ein Schirm, der sich zwischen uns und die Wirklichkeit schiebt oder eine automatische Folge der Warenproduktion“ (Eagleton 2000, S. 174). Ideologie ist nun vielmehr bestimmt als „ein unabdingbares Medium der Hervorbringung menschlicher Subjekte“ (ebd.) und damit verortet „in unserem affektiven, unbewußten Weltbezug, in Formen noch nicht reflektierter Bindung an die gesellschaftliche Wirklichkeit“ (ebd., S. 27). Diese Bindung ist Althusser zufolge gerade nicht bloß theoretischer Natur, sie wird ihm zufolge praktiziert und ist in verschiedener Weise materialisiert. Vor diesem Hintergrund ist deutlich, warum Althusser den Bereich der Ideologie nicht auf Bewusstseinsinhalte einschränkt. Demgemäß fungiert Ideologie als eine Praxis, die sich als Praxis nicht weiß (nicht als eine Theorie über eine Praxis), womit dieser an Marx anschließt (vgl. Einführung). Althusser fasst unter Ideologie somit auch gelebte Praxis, die eingebettet ist in bestimmte (historisch sich entwickelnde) Institutionen, welche immer auch eine materielle Dimension haben, wie sie etwa in Form filmischer Techniken und des kinematographischen Apparats im Ganzen bestehen – woran ApparatustheoretikerInnen anknüpfen können: „As Louis Althusser formulates it, men express in their ideologies not their actual relation to the condition of their existence, but their reactions to it. The filmmaker’s primary task is, therefore, to expose the cinema’s alleged ‚depiction of reality‘. If the filmmaker can do this, there is some chance that we will be able to disrupt and sever the connection between cinema and its ideological function.“ (Mast/Cohen/Braudy 1992, S. 660) In Bezug auf den filmischen Realitätseindruck wird dabei unter Ideologiekritik zu Beginn der Debatte Folgendes verstanden: Diese bricht mit einem durch den Apparat konstituierten Verhältnis zur Realität, welches bestimmte Paramater der Konstituierung dieses Verhältnisses bisher nicht einbezogen hat. Der Bruch vollzieht sich diesem Verständnis zufolge durch die Hervorkehrung dieser Parameter – also eben das, was Pleynet unter revolutionärer Filmpraxis versteht. Diese Hervorkehrung soll die verschwiegenen Voraussetzungen der Wirkungsweise des Apparates transparent machen: Nämlich dass der vom Apparat erzeugte Realitätseindruck das Subjekt in ein bestimmtes Verhältnis zur Realität setzt. Ob dies aber einen Bruch mit der ideologischen Problematik als solcher im Althusserschen Sinne bedeute, dies ist unter den Kontrahenten der Debatte strittig (s. u.). In Übertragung des Althusserschen Ideologiebegriffs auf das Kino lautet in jedem Fall aber ab jetzt ein wesentlicher filmtheoretischer Grundgedanke: Dem Publikum erscheinen die Bilder als unverändert durch den Apparat geschleuste Abbilder der Objekte der Welt – evoziert werde eine imaginäre Kontinuität von Darstellung und Dargestelltem. Althusser schreibt in allgemeinerem Zusammenhang: „Die Menschen ‚leben‘ ihre Ideologie wie der Kartesianer den Mond

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auf zweihundert Schritte ‚sah‘ […]: keineswegs als eine Bewußtseinsform, sondern als ein Objekt ihrer ‚Welt‘ – als ihre ‚Welt‘ selbst.“ (Althusser 1974, S. 183f.) Ideologie setze gewissermaßen das Subjekt als selbst-verständliches Zentrum der Welt, wie auch Eagleton diesen Gedanken Althussers fasst: „Ideologie ist subjektzentriert und ‚anthropomorph‘: Sie führt dazu, daß wir die Welt als irgendwie auf uns hingerichtet wahrnehmen, als dem Subjekt spontan ‚gegeben‘. Umgekehrt fühlt sich das Subjekt als natürlicher Teil dieser Wirklichkeit, die es beansprucht und nach ihm verlangt.“ (Eagleton 2000, S. 167) In der Apparatusdebatte wird der Realitätseindruck als eine hierfür paradigmatische Konstellation aufgefasst: Die Objekte auf der Leinwand werden wahrgenommen als von der Kamera widergespiegelte, als Bilder an sich seiender Objekte der Welt – und somit letztlich die Geschehnisse auf der Leinwand als Spiegelung der Welt des Publikums. Im Kontext der Debatte ist mit der Ideologie des Apparates also auch der Platz gemeint, dem dieser dem Subjekt zuweist, also die Position, von dem aus die Zuschauenden meinen, die Welt zu sehen und die eben diese Sichtweise hervorbringt. Wobei wichtig ist, dass mit dieser Platz-Zuweisung auch das Subjekt zuallererst überhaupt konstituiert wird. Diese Theorie besagt: Der Apparat entwirft das Subjekt auf ein Bild hin, und zwar auf eine Weise, in der die Verkennung in Form der Evokation imaginärer Kohärenz systematisch angelegt ist. Die ideologische Funktion des filmischen Apparates besteht demzufolge darin, Subjektivität selbst als Kohärenz in einer bestimmten Anordnung herzustellen. Die ideologische Qualität des Realitätseindrucks besteht dieser Auffassung zufolge demnach nicht darin, die Welt verfälscht darzustellen. Sondern darin, in welchem spezifischen, konstitutiven Verhältnis das Subjekt zur Welt verortet wird. Oder wie Althusser formuliert: Nicht „ihre wirklichen Lebensbedingungen, nicht die wirkliche Welt, ‚stellen sich‘ die ‚Menschen‘ in der Ideologie ‚dar‘, sondern es ist vor allem ihr Verhältnis zu diesen Lebensbedingungen, welches ihnen in der Ideologie dargestellt ist“ (Althusser 1973, S. 149). An der genaueren Auslegung dessen entzündeten sich Differenzen, welche nun exemplarisch an den Hauptkontrahenten von Cinéthique und Cahiers du Cinéma dargestellt werden.

7.  Streit um den Bruch zwischen Cinéthique und Cahiers du Cinéma Die Differenzen zwischen Cinéthique und Cahiers du Cinéma in Bezug auf die Althusser-Rezeption berühren in fundamentaler Weise das Selbstverständnis der jeweiligen Zugänge – es geht um die Bestimmung dessen, wo die Kritik anzusetzen habe und letztlich auch um die Frage der Möglichkeit von Filmtheorie und deren Grenzen, den ideologischen Apparat aufzubrechen. Ein Streitpunkt besteht in der Gewichtung von klassischen Fragen des Klassenkampfes. In den ersten Ausgaben der Cinéthique steht vor dem Hintergrund der ideologischen Funktion des Kinos stärker als in den Cahiers die konkrete Frage im Mittelpunkt, wie der Film im Klassenkampf eingesetzt werden könne. Zentral ist in diesem Zusammenhang die – z.B. von Fargier (s.o.) aufgemachte – Unterschei-

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dung zwischen idealistisch-bourgeoisem und materialistischem Kino. Filme des Letzteren legen der Cinéthique-Position zufolge ihre Produktionsweise offen, bewirken einen Bruch mit der ideologischen Funktion des Kinos und stehen daher im Dienste des revolutionären Kampfes. Filme des bourgeoisen Kinos hingegen würden den Beitrag der Technik kaschieren. So erschiene die filmische Welt als eine unvermittelte Verdopplung der Welt – diese scheinbare Unvermitteltheit, durch die sich der filmische Realitätseindruck dieser Auffassung nach auszeichnet, wird als ideologischer Effekt par excellence bestimmt. Die Autoren der Cahiers kritisieren diese Einteilung, der zufolge ein Film entweder in der ideologischen Struktur aufgeht oder diese bricht. Die prominent in den Cahiers vertretene Auffassung geht von einer allgemeinen Geltung der ideologischen Strukturiertheit des filmischen Mediums aus. Claire Johnston, eine britische feministische Filmtheoretikerin der ersten Stunde fasst einen wesentlichen Unterschied der Positionen so: „Cinéthique claims it is possible or indeed necessary to make films outside the capitalist position, and any film made within that system is, by definition, bad. Cahiers’ position is that it is impossible to operate outside the capitalist system in the West. In a bourgeois culture, they claim, the bourgeois ideology is all-inclusive; there is no room for the ‚other‘; every social class has to be assimilated.“ (Johnston 1971, S. 41) Jedoch ist die Annahme einer Allgemeingültigkeit hier nicht gleichbedeutend mit der einer absoluten Geschlossenheit: Vielmehr gehen Autoren der Cahiers von einer konstitutiven Brüchigkeit der ideologischen Strukturiertheit selbst aus, die in ideologiekritischer Rekonstruktion herausgearbeitet werden kann. Von Seiten der Cinéthique wird revolutionäre Filmtheorie und -praxis als Aufbruch eher im Sinne eines äußeren Zugriffs auf das idealistische Kino gedacht, von Seiten der Cahiers eher als ein Aufhebeln von innen, welches an von der ideologischen Tendenz (nie ganz) kaschierten Brüchen ansetzt. So formuliert etwa Casetti: „Cinéthique believed that cinema could break its ties with the dominant ideology only by situating itself elsewhere in a completely new field. Cahiers believed instead that the rupture could take place along internal lines, through the reformulation of the initial design.“ (Casetti 1999, S. 192) Der Bruch ist (auch wenn sie sich gleichermaßen auf Althusser beziehen) in der Cinéthique stärker mit der traditionellen Vorstellung verknüpft, einen Vorhang zu zerreißen, der das Subjekt von der Einsicht auf die realen Bedingungen abschirmt, wie Casetti weiter schreibt: „[W]hat matters is escaping the traps of specular vision: it is necessary, therefore, to break the illusion of reality and to display what is really at stake, in terms of work and materials“ (ebd.). Für die Cahiers sind, so Casetti, die Zuschauenden weniger „foolish servants“, „the ideological slant given to films also depends on the way in which they take charge of the representation that circulate in a given society“ (ebd.). In der Cinéthique wird somit ein deutlicherer Akzent auf eine Betäubung des Publikums gelegt, bei den Cahiers wird das Publikum tendenziell als nicht absolut eingenommen konzipiert. Hiermit hängt auch eine unterschiedliche Akzentuie-

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rung der Metaphorik des Schweigens und Sprechens zusammen, auf die ich schon bezüglich Pleynets Äußerungen den Akzent gesetzt habe. Im Verständnis der Cinéthique brechen Ideologiekritik und materialistisches Kino das Schweigen des sogenannten idealistischen Kinos (und der dazugehörigen Filmtheorie), indem sie das Verschwiegene aussprechen. Die Cahiers teilen diese Gegenüberstellung nicht. Das Schweigen wird von diesen nicht als absolute Stummheit aufgefasst, sondern auf eine andere Ebene hin befragt: Was teilt sich trotz des Schweigens mit? Es zeigt sich hierin auch, dass der Zugang der Cahiers den psychoanalytischen Elementen der Althusserschen Theorie größeres Gewicht beimisst. Das Schweigen der Filme wird als Symptom gedeutet. Für die Cinéthique hingegen ist das Schweigen im wortwörtlichen Sinne nichts-sagend.

8.  Cinéthique – Schweigen brechen Im September 1969 erschien in der Cinéthique Leblancs Text „diréction“ (Leblanc 1969; engl. Übers. ders. 1971), der dem Film die Funktion eines Narkotikums zuweist – eine Beschreibung, die für die Cinéthique insgesamt durchaus charakteristisch ist. Geschildert wird ein vernebelndes Einhüllen des Publikums: „The cinema is not neutral ground. […] [N]o one draws attention to the fact that the film itself is a drug which affects the perspicacity of the audience, blinding their eyes to the alienation of the cinema under a capitalist system with an illusory picture of liberty.“ (Ders. 1971, S. 122f.) Weniger das Bild einer berauschenden, als vielmehr einer betäubenden Droge wird hier aufgemacht. Als Betäubungsmittel rangiert eine illusionäre Darstellung von Freiheit, welche die Entfremdung überdecke. Diese Droge bewirkt Leblanc zufolge eine Einschränkung der „perspicacity“, was sowohl mit Weitsicht als auch mit Scharfsinn ins Deutsche übersetzt werden kann. Die – nicht nur diesen filmtheoretischen, sondern die abendländische Philosohpie durchziehende – Bedeutungsüberlagerung von Sehen und Erkenntnis zeigt sich auch in der Formulierung ‚blinding their eyes‘. Blindheit steht hier für ein Nicht-Erkennen im doppelten Sinne: Nicht sehen und nicht begreifen der ideologischen Funktionsweise des Films. Diese wird in Bezug auf den Film als Schweigen charakterisiert: „So, films say nothing about their origin, their relation to the economy. They are born by magic on the screen.“ (Ebd., S. 126) Der filmische Realitätseindruck wird in diesem Zusammenhang als eine Art Brücke dargestellt, auf der die Phantasien und Wünsche des Publikums an die filmische Welt auf direktem Wege übergeben werden, um hier imaginäre Erfüllung zu finden. Diese ersetzt Leblanc zufolge Wille und Vermögen, verändernd in die gesellschaftliche Realität einzugreifen. „The audience tacitly delegate their power to change the world to the characters on the screen. The famous ‚window‘ that the bourgeois cinema is supposed to open on the world is never anything other than a method of permitting the audience to live an imaginary life within a non-existent reality.“ (Ebd., S. 124) Der revolutionäre Film hingegen breche mit dem Einschluss des Publikums in das Imaginäre des Realitätseindrucks – und das bedeutet Le-

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blanc zufolge auch: Im Unterschied zum bourgeoisen Kino bietet dieses keine ‚Pseudo-Befriedigung‘. „In short, these films break away from the impression of reality that was so dear to bourgeois cinema. They display the material conditions of their existence and free the spectator from the position to which he is usually confined.“ (Casetti 1999, S. 187) Mit dieser Aufteilung verbindet Leblanc eine straighte Anweisung zur Vorgehensweise kritischer Filmpraxis: „Revolutionary film makers have to find exactly what the idealist cinema does not permit, and just do that.“ (Leblanc 1971, S. 127) Der Auf bruch des filmischen Realitätseindrucks ist hier gleichbedeutend mit Schweigen-Brechen, insofern revolutionäre Filme aussprechen sollen, worüber das idealistische Kino schweigt: „The bourgeois cinema will not be really threatened, and cinema will not be successfully link with the work in progress to change the world, until films are produced which say everything about themselves: their economy and their means of production, starting with the taboos of the idealist cinema.“ (Ebd., S. 127) Es ginge gerade nicht darum, die marxistisch-leninistische Position inhaltlich darzustellen, sondern die marxistisch-leninistische Methode selbst als Methode der filmischen Darstellung anzuwenden – nicht das Elend der Ausbeutung abzubilden, sondern Filme zu machen, die von sich als Produkt (also als kapitalistisch produzierte Waren) sprechen und auf diese Weise das Publikum sehen, d.h. erkennen, machen.30 Der Bruch des Schweigens gibt, so Leblancs Gedanke, dem Publikum mit der Möglichkeit der Erkenntnis auch die Voraussetzung politischer Handlungsmacht zurück. Worauf ich an dieser Stelle aufmerksam machen möchte, sind die Bezüge zwischen optischen und akustischen Aspekten. Gewissermaßen sind Hörbares und Sichtbares an dieser Stelle ineinandergeschoben: Wenn der Film schweigt, sieht das Publikum nichts – wenn der Film spricht, sieht das Publikum. Das Ziel des revolutionären Films ist mit Sehen, nicht mit Hören konnotiert – in der Ausrichtung auf die politische Ermächtigung wird das passiv konnotierte Hören gewissermaßen unterschlagen: Der Bruch mit dem ideologischen Apparat wird nicht (wie die Metapher des stummen bzw. sprechenden Films nahelegen würde) als Befähigung zum Hören, sondern einzig zum Sehen beschrieben. Diese Leerstelle kann mit einer gewichtigen Differenz der Ausrichtungen von Cinéthique und Cahiers du Cinéma in Beziehung gesetzt werden. Es gibt (der Tendenz nach) für die Cinéthique keine Zwischentöne – entweder der Film spricht oder schweigt, verbirgt oder zeigt, das Publikum sieht oder ist blind, ist passiv oder aktiv, es erkennt oder nicht, ist betäubt oder in der Lage zu handeln (d.h., seinen politischen Willen umzusetzen). Dem idealistischen Film ist dieser Konzeption nach das blinde Publikum zugeordnet, dem materialistischen Film das sehende, revolutionäre Publikum. Ideologiekritik verfährt hier als Schlagen ei-

30 | Viele Texte dieser Phase sind weitgehend formelhaft – so lässt auch dieser Text etwa im Dunkeln, wie ein solcher Film konkret aussehen könnte.

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ner Schneise: Ein klarer Bruch verläuft zwischen idealistischem und materialistischem Kino (und dem jeweiligen Publikum). In dieser Konzeption hat Ideologiekritik den Charakter eines äußeren Zugriffs – eine Analyse, die von einem externen Standpunkt aus die Filme und das dazugehörige Publikum sortiert. So kann etwa der Filmtheoretiker per definitionem nicht zum Publikum eines idealistischen Films gehören – er wäre narkotisiert und somit blind gegenüber der ideologischen Strukturierung des Films. Der ideologiekritische Theoretiker hat diesem Publikum gegenüber eine Sonderposition: Er ist als Sehender und Erkennender charakterisiert. Man kann sagen: Er sieht, d.h., er erkennt, dass der Film schweigt. Dieses Schweigen ist der Darstellung Leblancs zufolge ein eindeutiges Zeichen. In der Gleichsetzung von Sehen und Erkennen deutet sich die Vorstellung eines unmittelbaren Zuschnappens an. Hat man das Schweigen erfasst, so auch die Bedeutung: idealistischer Film. Die Bedeutung Schweigen scheint unmittelbar erkennbar zu sein und keiner Deutung zu bedürfen. In diesem Punkt nimmt das Cahiers-Kollektiv eine grundsätzlich andere Position ein.

9.  Cahiers du Cinéma – Dem Schweigen etwas entnehmen „Man muß schon annehmen, daß Zuschauer vollkommene Idioten sind, völlig entfremdete soziale Wesen, um zu glauben, daß sie von Simulakra durchgehend getäuscht und verleitet werden.“ (Comolli 2003, S. 80) Mit dieser Äußerung richtet sich der Cahiers-Redakteur Comolli auch gegen die u.a. von Leblanc vertretene Auffassung, die ideologische Wirkung des filmischen Realitätseindrucks bestehe in einem absoluten Einschluss des Publikums. Entscheidend ist für die Cahiers, wie Schneider-Freyermuth betont, auch bezüglich der Produktionsseite „der Nachweis einer nicht totalen Kontrolle des produzierenden Bewußtseins über sein Werk“ (Schneider-Freyermuth 1978, S. 154). Damit steht auch in Zusammenhang, dass die Cahiers der von der Cinéthique aufgemachten harschen Grenzziehung zwischen idealistischem und materialistischem Kino nicht zustimmen. Dies bezeugt für die Frühphase der Debatte der im Herbst 1969 erschienene, oben bereits erwähnte zweiteilige Essay „Cinéma/Idéologie/Critique“ von Comolli und Narboni (1969). Die beiden Autoren teilen grundsätzlich das Anliegen der Cinéthique, die wichtigste Aufgabe des Films bestehe „in der Problematisierung des eigenen Systems der Repräsentation, um eine Verschiebung gegenüber der ideologischen Funktion herbeizuführen“ (Kirsten 2006, S. 49). Im Unterschied zu den von der Cinéthique festgelegten ‚Großgattungen‘ idealistisches und materialistisches Kino stellen die Cahiers-Redakteure hier eine mehrstufige Einordnung auf, die „von komplett von der Ideologie besetzten Filmen (nach Meinung der Autoren die große Mehrzahl) bis zu Filmen reichen, die die dominante Ideologie in doppelter Hinsicht negierten: auf der Ebene der Bedeutung mit der Behandlung eines explizit politischen Themas und auf der Ebene der filmischen Formen (der Signifikanten), die die kinematographischen Repräsentationen in Frage stellten“

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(ebd.). Zwischen diesen beiden Polen siedeln Comolli und Narboni verschiedene Zwischenstufen an. Eine wichtige, damit zusammenhängende Kritik der beiden Cahiers-Autoren an der Cinéthique im zweiten Teil von „Cinéma/Idéologie/Critique“ lautet: Mögen Filme auch in dieser doppelten Hinsicht die ideologische Strukturiertheit des Apparatus reflektieren, das Kino selbst bewirkt keinen epistemologischen Bruch im Sinne Althussers. Der Cinéthique unterlaufe hier ein Kategorienfehler. Der epistemologische Bruch bezeichne, so pointieren Comolli und Narboni, eine von der Wissenschaft (d.h. in Althussers Sinne: der marxistischen Theorie) bewirkte Verschiebung gegenüber einer vorangegangenen ideologischen Absteckung des Erkenntnisbereichs. Unzulässigerweise würde die Cinéthique dieses Vermögen dem Kino zuschreiben und damit einem per se ideologischen Repräsentationssystem (hier können sie sich auch auf Pleynet berufen). Comolli und Narboni halten, so Kirsten, hingegen fest: „Kino sei immer ein ideologisches Produkt und vom Feld der Wissenschaft schon per Definition ausgeschlossen.“ (Ebd., S. 51) Die Cinéthique, so lautet also die Kritik, übergehe die Differenz zwischen Ideologie und Wissenschaft und unterstelle so dem materialistischen Kino das allein der materialistischen Wissenschaft zukommende Vermögen, einen epistemologischen Bruch zu erwirken. Ohne hier jetzt näher auf die Ausführungen von Comolli und Narboni einzugehen, ist festzuhalten: Das gemeinsame Anliegen der Autoren beider Zeitschriften ist eine Ideologiekritik des kinematographischen Apparates – doch zeigen sich bereits im ersten Jahr der Debatte fundamentale Differenzen in der Auslegung zentraler Begriffe. Die marxistische Film-Debatte ist in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite diejenigen, die – wie der orthodoxe Marxist Lebel (s.o.) – die ideologische Wirkung des Kinos nicht im kinematographischen Apparat verankert sehen – und die an Althusser geschulten Apparatustheoretiker, die wie die Cinéthique und die Cahiers von einer grundsätzlichen ideologischen Strukturierung ausgehen. Die innerhalb dieses Lagers umstrittenen Fragen sind, worin genau kritische Filmtheorie und -praxis besteht und ob mit ihr tatsächlich ein Bruch im Althusserschen Sinne verbunden sein kann. So werden folgende Grundzüge von Leblancs Positionen von den meisten Cahiers-Autoren nicht geteilt: Es wird nicht davon ausgegangen, das Publikum sei entweder völlig blind oder sehend, der Film entweder stumm oder sprechend, der Filmtheoretiker sei entweder ideologisch oder erfasse die Differenz zwischen ideologischen und materialistischen Filmen (auf einen Blick). In den Cahiers wird unter Ideologiekritik ein Prozess der Rekonstruktion verstanden. So kann man über das jeweilige Objekt der Kritik sagen: Cinéthique-Positionen scheinen als ihr Objekt ein Bild vor sich zu haben, welches im Akt des Erfassens zerbrochen werden soll – die Cahiers hingegen einen Text, welcher gleichsam abgebrochene Stellen aufweist, an denen die Ideologiekritik den Film weiterschreibt und dadurch verändert. Ideologiekritik wird als eine aktive Lektüre bezeichnet.

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Eine solche Lektüre legte das Kollektiv der Cahiers du Cinéma im Sommer 1970 mit ihrer vielbeachteten Interpretation von Young Mr. Lincoln (USA 1939; Regie: John Ford) vor (vgl. Cahiers du Cinéma 1978; franz. Original Cahiers du Cinéma 1970). In der übernächsten Ausgabe (Nr. 225) folgt dann eine Analyse von Morocco (USA 1930; Regie: Josef von Sternburg). Mit der Interpretation von Young Mr. Lincoln wurden erstmals und in gemeinschaftlicher Arbeit die jüngst entwickelten theoretischen Überlegungen an einem Material erprobt, welches paradigmatisch für die ideologische Funktion des Kinos steht: einem Hollywood-Film. Diese Wahl ist signifikant für die Cahiers-Position dieser Zeit, worauf Casetti hinweist: „In particular, the analyses of Ford’s Young Mr. Lincoln and Sternberg’s Morocco constituted a kind of challenge, because they studied two films belonging to the group that is both the hardest to defend and the closest to Cahiers’ heart: films that remain within bourgeois ideology, but clearly show all its sides.“ (Casetti 1999, S. 191) Fluck verortet diesen Text an einem Schnittpunkt zweier Phasen: Als Endpunkt des sogenannten soziologischen Lesens von Filmen wolle sich dieser Text „nicht damit begnügen […], die kulturelle Bedeutung einer Fiktion an ihren manifesten Inhalten abzulesen“ (Fluck 1978, S. X) und stehe so an einem Anfang, „über den in den Inkonsistenzen des Aufsatzes selbst klar wird, wie unbestimmt und sich seiner ungewiß er noch anzusetzen ist“ (ebd.). Diese von Fluck thematisierten Inkonsistenzen korrespondieren mit einer wesentlichen Annahme bezüglich des Erkenntnisgegenstandes: Der Film selbst ist dem Verständnis des Kollektivs zufolge nicht eindeutig verfasst, sondern sollte als ein Knäuel von „Determinanten bzw. Codes“ (ebd.) unterschiedlichster (historischer, ästhetischer, psychischer etc.) Art betrachtet werden. Der Interpretation des Films schickt das Kollektiv eine Erklärung zu ihrer Vorgehensweise vorweg, die sich in Frontstellung zur Cinéthique-Position begibt. So wenden sich die Autoren explizit gegen Cinéthique-Autoren als „diejenigen, die […] die Entlarvung der Voraussetzungen und der ideologischen Produktion, deren Kennzeichnung als Falschheit und Irrtum, betrieben haben, dadurch niemals das Wahre ausreichend zum Vorschein haben bringen können. Mehr noch, es ist ihnen nicht gelungen das Wahre zum Vorschein zu bringen gerade wogegen sie sich erhoben“ (Cahiers du Cinéma 1978, S. 4). Mit anderen Worten: Das Cahiers-Kollektiv wirft der Cinéthique vor, ideologisch befangen zu sein – der Vorwurf lautet, die Cinéthique verabsolutierten die wesentlichen ideologischen Mechanismen der filmischen Repräsentation (im Wesentlichen: Die Transparenz, wenn das Bild als eine unmittelbare Verdopplung der außerfilmischen Welt auftritt) und der Narration (im Wesentlichen: Die Präsenz, wenn linear ein in sich geschlossenes Geschehen erzählt wird). Zwar stimmen die Cahiers-Autoren grundsätzlich der Annahme zu, dass die ideologische Funktion des klassischen Hollywood-Filmtexts auf der „analogischen Repräsentation und der linearen Erzählweise beruht (‚Transparenz‘ und ‚Präsenz‘)“ (ebd., S. 3). Ihr Einwand lautet aber erstens, dass der Text nicht voll-

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ständig darin aufgeht und zweitens, dass sich Ideologiekritik demnach nicht im Konstatieren des ideologischen Systems (und somit den Film-Text mit der ideologische Tendenz zu identifizieren) erschöpfen kann. Im Unterschied zur Feststellung eines bruchlosen Funktionierens, setzen die Cahiers der eigenen Beschreibung zufolge an brüchigen Stellen an, um den Film-Text über die ideologische Tendenz der Schließung hinauszutreiben.31 Ihre Kritik stellt damit in folgender Weise einen Bruch mit der Auffassung der Cinéthique dar: Entgegen der Annahme eines geschlossenen Systems und damit eines bruchlosen Funktionierens wird die Auffassung eines in sich brüchigen Systems vertreten. Während die Cinéthique dazu tendiert, die sogenannten idealistischen Filme mit den ideologischen Mechanismen zu identifizieren und äußerlich mit materialistischer Filmtheorie und -praxis als deren Gegenentwurf zu konfrontieren, greifen die Autoren der Cahiers an inneren Konfliktlinien an. Und das Kollektiv betont auch, „daß ein Kunstprodukt nicht gemäß einer linearen, ausdrücklichen und direkten Kausalität mit dem sozio-historischen Kontext verknüpft werden kann“ (ebd., S. 4). Doch wird zugleich auch die grundsätzliche Übereinkunft zwischen den beiden Zeitschriften betont, wenn kurz darauf unterstrichen wird: „Damit man uns nicht Verrat vorwirft, präzisieren wir, daß die Punkte […] die überspanntesten Positionen innerhalb der Cinéthique betreffen.“ (Ebd., S. 5) Diese Positionierung der Cahiers hat eher den Charakter einer Kurskorrektur als einer gegnerischen Position, auch wenn die angestrebte Kursänderung grundlegend ist – ein Versuch rettender Kritik, wie sie auch für den Cahiers-Zugang zum Film selbst charakteristisch ist.32 31 | Hier zeigt sich eine Nähe zu Adornos Auffassung von Deutung (vgl. Einführung). 32 | Walter Benjamin, auf den sich die Cahiers in diesem Text explizit beziehen, fasst Geschichtsschreibung, die auf die Konstruktion eines linearen, kontinuierlichen Verlaufs zielt, als Bremse gegenüber dem revolutionären Eingriff in die Geschichte auf, auf den rettende Kritik gerade zielt (vgl. Einführung). Materialismus im Sinne Benjamins setzt an Abbrüchen des bisherigen Kontinuums an, um der Geschichte zukünftig eine andere Wendung geben zu können. Dieses Verfahren entspricht in dieser Hinsicht einigen Aspekten der Selbstdarstellung der Vorgehensweise der Cahiers – während die Hypostasierung des bruchlosen Funktionierens seitens der Cinéthique den Apologeten der bisherigen Geschichte gleicht, über die Benjamin im Konvolut N des Passagenwerks schreibt: „Die Würdigung oder Apologie ist bestrebt, die revolutionären Momente des Geschichtsverlaufes zu überdecken. Ihr liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen. Sie legt nur auf diejenigen Elemente des Werkes wert, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Ihr entgehen die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht und damit ihre Schroffen und Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will.“ (Benjamin 1983, S. 592) Während die Cinéthique in ihrer – von mir als äußerlich zugreifend charakterisierten – Herangehensweise über das Werk hinweggehen, sind die Cahiers dem Benjaminschen Verständnis rettender Kritik auch insofern näher, als diese von innen her vorgehen. Rettende Kritik bedeutet Benjamin zufol-

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Während die Cinéthique – wie an Leblancs Formulierungen gezeigt – auf eine Aufteilung zwischen sprechenden und schweigenden Filmen aus ist, richtet sich das Vorgehen der Cahiers auf Nicht-Gesagtes im Gesagten. „Was hier versucht werden wird ist, durch die Wiedererstellung dieser Filme in einem aktiven Lektüreprozeß das herauszubringen, was gesagt wird in dem, was nicht gesagt wird, ihre konstitutiven Fehlteile zu enthüllen, die weder Fehler des Werkes […], noch Hinterlist des Autors […] waren, sondern strukturierender Fehlteil, immer am falschen Platz, Überdetermination, von der aus diese Diskurse allein möglich und verwirklicht worden waren, Nicht-Gesagtes im Gesagten und zu dessen Auf bau notwendig“ (ebd., S. 5). Die Althusser-Rezeption der Cahiers weist ein wesentlich avancierteres Verständnis der psychoanalytischen Bezüge auf. Die angestrebte Enthüllung der Fehlteile des filmischen Texts versteht sich als Deutung von Verdrängtem (vgl. ebd.). „Ihrem eigenen Textbegriff nach ist der filmische Text nicht mit dem in eins zu setzen, was er an ideologischen Vorhaben und Mustern an seiner Textoberfläche erkennen läßt“ (Fluck 1978, S. II). Zugleich aber geht es auch nicht, so betont das Kollektiv, um das Auffinden eines unter der Oberfläche verborgenen Sinns in der Tiefe (vgl. Cahiers du Cinéma 1978, S. 5). Nicht solle zum Zwecke der Vervollständigung dem Text etwas aus ihm Ausgeschlossenes, Verdrängtes hinzugefügt werden. Unter Berufung u.a. auf Roland Barthes und Jacques-Alain Miller unterstreichen die Autoren: Anvisiert ist „kein Vervollständigen, keine teleologische Lektüre“ (Cahiers du Cinéma 1978, S. 5). Aufgedeckt werden sollen hingegen die Prinzipien, die Verdrängungsprozesse, welche die Narration strukturieren. Eine Art stille Grundlage, welche sich nur vermittelt – in ihren Effekten, den Symptomen – an der Textoberfläche zeige: „The ‚reading‘ attempted by the journal uncovers the principles that rule the film, which should work silently, and yet are revealed through their effects.“ (Casetti 1999, S. 191) Mit diesen Prinzipien ist also ein Verdrängungsprozess bezeichnet – Verdrängtes, so das Kollektiv, „was nicht ein für allemal angegeben werden kann und dabei bleibts“, sondern Szenen – allemal sexuelle – die im fortwährenden Verdrängungsprozess stetig neu „eingeschrieben werden“ (Cahiers du Cinéma 1978, S. 5). ge nicht nur ein Eingreifen, welches das Kontinuum zerreißt – „Zur Rettung gehört der feste, scheinbar brutale Zugriff“ (ebd.) –, sondern zugleich auch eines, welches in versöhnender Absicht im Werk findet, was es zu bergen und einzulösen gilt. Dafür braucht es auch eine Einlassung des Interpretierenden nicht nur auf, sondern gewissermaßen in das Werk: „Für alle Kunstbetrachtung gilt die Maxime, daß eine Analyse, die nicht auf verborgene Beziehungen im Werke selbst stößt, mithin die nicht im Werke selbst genauer sehen lehrt und nicht nur an ihm – an ihrem eigentlichen Gegenstand vorbeigeht. Im Werke sehen lernen, das bedeutet genauer Rechenschaft sich abzulegen, wie sich im Werke Sachgehalt und Wahrheitsgehalt durchdringen. Es kann auf alle Fälle eine Kritik nicht anerkannt werden, die sich an keinem Punkte mit der Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, solidarisch macht, um sich nur an das Äußerliche zu halten.“ (Ders. 1991, S. 178)

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Unbewusste Szenen, die den Text strukturieren und die es für die Cahiers qua Lektüre zu rekonstruieren gilt. Die Methode der Cahiers versteht sich also als eine Art Freilegung der dem Text eingeschriebenen unbewussten Szenen und Dynamiken, die sich fundamental von dem Anliegen der Cinéthique unterscheidet, den bourgeoisen durch den materialistischen Film zu ersetzen.33 Damit hängen auch gewichtige Unterschiede der jeweiligen Verortung des Theoretikers gegenüber seinem Gegenstand zusammen. In Abgrenzung zur Cinéthique beschreibt das Kollektiv sein Vorgehen als ein Eintauchen im Unterschied zu einer Analyse, die sich gewissermaßen raushält und sich damit, so heißt es in der deutschen Übersetzung, schadlos halte. Was auch bedeuten mag: Mit dem Gegenstand nicht in Kontakt zu kommen, sich selbst als Subjekt der Lektüre nicht mitzudenken. So heißt es in diesem Zusammenhang: Das Cahiers-Kollektiv wolle nicht die Aussagen des Films „im Namen einer so mechanistisch angewandten materialistischen Wissenschaft […] kritisieren, um ihn zusammenstürzen zu sehen und sich daran schadlos zu halten nichts mehr sagen zu müssen, was darauf hinausläuft, das Kind mit dem Bade auszuschütten, ohne sich naß zu machen, d.h. klarer ausgedrückt: sich moralisierend aus der Affäre zu ziehen, mit einer Geste das ‚Gute‘ vom ‚Schlechten‘ scheidend, und jeder effektiven Lektüre auszuweichen“ (ebd., S. 4). Ebenso wie in Leblancs (oder Pleynets) Formulierungen spielt auch hier die Vorstellung einer erhellenden Erkenntnis ‚innerer Finsternis‘ hinein. Gemeint sind damit, so Schneider-Freyermuth, die „Leerstellen eines theoretischen Systems, das durch diese Brüchigkeit auf das Fehlen einer zu stellenden Frage deutet“ (Schneider-Freyermuth 1978, S. 122f.). Die Fehlstellen bezeichnen also verdunkelte Stellen eines Diskurses (oder Textes), welche auf aus diesem Ausgeschlossenes verweisen. Auch die Cinéthique will auf eine Erhellung von Ausgeschlossenem hinaus, sieht dabei jedoch, um im Bild zu bleiben, im Unterschied zu den Cahiers im Inneren (des idealistischen Films) keine dunklen Stellen. Innen und Außen sind hier der Tendenz nach einander äußerlich. Den Cahiers hingegen geht 33 | In der Interpretation von Young M r . L incoln (USA 1939; Regie: John Ford) wird beispielsweise das Thema des Films zunächst historisch und politisch an die Geschichte der USA und die Bedingungen der Filmproduktion in Hollywood Ende der 1930er Jahre rückgebunden. Dann folgt die Analyse von mehreren Schlüsselsequenzen, mit Fokus darauf, wie der Film die Figur des jungen Lincoln aufbaut und wie dabei die filmische Erzählung zwei Felder ausspart, nämlich Politik und Erotik. Der Interpretation des Kollektivs zufolge basiert die Narration auf diesen Leerstellen. Zielt der Film auf die Darstellung von Lincolns über allen anderen Absichten erhabenen Moralität, so geht der Cahiers-Interpretation zufolge die Verknüpfung von Moral und Politik nicht bruchlos auf. Casetti fast diesen Punkt so: „By trying to embody a certain view of the world , the mise-en-scène gives it away. By entering the film, the ideological project shows its true nature. Because of its own wish to translate the ideological project into images and sounds, translation leads to betrayal.“ (Casetti 1999, S. 192)

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es um die Erhellung der Beziehung zwischen Innen und Außen, Gesagtem und Nicht-Gesagtem, Sichtbaren und Unsichtbaren, wie sie sich diskursimmanent abzeichnet. So bildet für die Cahiers das Ausgeschlossene nicht ein räumliches Außen-Herum eines Inneren. Der Ausgangsgedanke für ihren Zugang zum Film ist vielmehr ein immanentes Verwiesen-Sein zweier Räume aufeinander. Der innere Raum definiert sich nicht nur über das, was er offensichtlich enthält, sondern notwendig auch über das, was er ausschließt.34 Fehlstellen im Gegebenen (dem manifesten Text, der Oberfläche, dem Sichtbaren) sind somit zu interpretierende Anzeichen für diese Beziehung zwischen positiver Aussage und Negiertem. Diese Fehlstellen sind als Symptome im psychoanalytischen Sinne zu verstehen und die effektive Lektüre als deren Deutung, welche eine Beziehung zwischen Ausgesagtem und Nicht-Gesagtem herstellt.35 Die effektive Lektüre wird in dieser Weise auch als eine Erhellung im Sinne einer Entzifferung oder Dechiffrierung der Verdunkelungen im Inneren beschrieben. Auch die Cahiers verwenden in diesem Zusammenhang die Metaphorik den Film zum Sprechen bringen. Auch hier geht es darum, zur Sprache zu bringen, was ein Film nicht sagen will – wie in ähnlicher Weise auch Leblanc fordert (s.o.). Aber mit dem gewichtigen Unterschied, dass sich die Cahiers selbst als Lesende gegenüber einem Film-Text verorten, die aus diesem herauslesen, was dieser verweigert zu artikulieren. Dem Schweigen des Films wird, so lässt sich die Beschreibung interpretieren, etwas entnommen, um dieses zu artikulieren. Der Zugang der Cahiers richtet sich auf die Aussagekraft von Stillem, Schweigendem. „Bei den Filmen, die wir behandeln, gibt es […] keine Befragung der äußeren Finsternis […], es handelt sich vielmehr darum, ihre Aussage auf das hin, was sie produziert, zu durchdringen, ihre Schrift (écriture) durch eine Lektüre zu verdoppeln, um das erscheinen zu lassen, was schon da war, aber schwieg […], sie nicht nur sagen zu lassen, ‚was dies aussagt, sondern was dies nicht aussagt, weil es dies nicht aussagen will‘ (J. A. Miller, und wir fügen hinzu: das, wovon nicht gesprochen wird, muß dennoch darüber sprechen).“ (Cahiers du Cinéma 1978, S. 5) Man kann die Differenz zwischen der Cinéthique und den Cahiers so zusammenfassen: Wollen erstere statt zu schweigen sprechen, so letztere Verschwiegenes zur Sprache bringen.

34 | Diesem Gedanken zufolge besteht somit das Innere aus Gegebenem und Nicht-Gegebenem, das Gegebene verweist von sich aus auf das, was es nicht ist – das Ausgeschlossene kann demnach nicht hinzugefügt werden, aber anhand von Anzeichen, Fehlstellen, als Entzogenes rekonstruiert werden. 35 | Nahe liegt hier auch ein Vergleich mit Freuds Auffassung der Fehlleistungen, den die Cahiers aber an dieser Stelle nicht ziehen.

Apparatusdebatte: Bruch als Motiv

10.  Vom Insistieren der Manipulationsthese Zwischen Mai 1971 und September 1972 publizierte Comolli in rascher Aufeinanderfolge eine sechsteilige Aufsatzreihe unter dem Titel „Technique et idéologie“ (Comolli 1971-1972).36 In dieser wendet er sich u.a. kritisch gegen die Gleichsetzung von Sehen und Erkennen, wie sie – das habe ich oben gezeigt – auch in der Metaphorik von Leblanc anklingt. So warnt Comolli im ersten Teil der Reihe davor, in der Theorie eine vom Kino selbst nahegelegte Gleichsetzung zwischen dem Sichtbaren und dem Realen zu reproduzieren. Die Gleichsetzung von ich sehe mit ich verstehe stimme, so fasst Winkler Comollis Argumentation zusammen, unversehens mit dem Postulat des Kinos überein, „daß auf dem Weg vom Realen zum Visuellen und vom Visuellen zu seiner Reproduktion im Film dieselbe Wahrheit ohne Verlust oder Bruch erhalten bleibt“ (Winkler 1992, S. 29f.). Comolli wendet sich damit zugleich auch gegen Pleynet, welcher allein an einem sichtbaren Teil der filmischen Technik – der Kamera – die ideologische Funktionsweise festmache. Comolli hingegen kommt es darauf an, „die Technik insgesamt als eine verdrängte Voraussetzung des filmischen Erlebnisses zu thematisieren“ (ebd., S. 30). Indem auch die Theorie dem Sichtbaren Vorrang einräume, verdoppelten sich die für die Konstituierung des filmischen Realitätseindrucks ebenso zentralen unsichtbaren Prozeduren, wie sie etwa die Tonspur betreffen (vgl. Comolli 2003, S. 68). Comollis Text rückt das Unsichtbare in eine metaphorische Nähe zum Unbewussten, wie sie auch vom Text des Cahiers-Kollektivs nahegelegt wird. Baudry geht in diesem Punkt noch einen Schritt weiter, wie ich im Folgenden zeigen werde (vgl. II.3). Psychischer und filmischer Apparat fallen in gewisser Weise in Baudrys Konzeption des filmischen Realitätseindrucks ineinander – die Wirkung, auf die der filmische Apparat seiner ideologischen Tendenz nach ziele, ist für ihn eines mit dem Telos des unbewussten Wunsches (der halluzinatorischen Wunscherfüllung). Comolli verknüpft demgegenüber psychoanalytische und filmtheoretische Termini loser und assoziativer. In Hinblick auf die baudrysche Argumentation ist an Comollis Text insbesondere von Belang, dass sich dessen Argumentation gegen eine Tendenz in der Debatte richtet, den Apparat (oder einzelne Elemente desselben) an sich als Ursache der ideologischen Wirkung aufzufassen. Demgegenüber entfaltet Comolli die ideologische Wirkung als Effekt eines Gesamtensembles, in dem ökonomische, historische, technische, psychische und soziale Zusammenhänge vermittelt ineinandergreifen. Wie Casetti zusammenfasst: „In short, the birth of cinema 36 | Eine englische Kurzfassung erscheint unter dem Titel „Machines of the Visible“ (Comolli 1980) in dem von Teresa de Lauretis und Stephen Heath 1980 herausgegebenen Sammelband „The Cinematic Apparatus“ (De Lauretis/Heath 1980; dt. Fassung in Riesinger (Hrsg.) 2003). In dieser Kurzfassung jedoch sind u.a. die Bezugnahmen auf Pleynet zu Beginn der Reihe „Technique et idéologie“ nicht enthalten (vgl. dazu Geser 2003, S. 196).

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should be viewed neither as the mere perfecting of the ‚camera obscura‘ nor as a series of personal inventions. The forces behind its growth are, on the one hand, economic demand (the will to profit from a growing commodity sector, namely the ‚spectacle‘); and, on the other hand, social demand (the ever-stronger need to ‚see the world as it is‘ to develop our eyes in order to make them the instrument of knowledge).“ (Casetti 1999, S. 195) Laut Kirsten bewirkte der Text von Comolli eine Verschiebung des Begriffs des filmischen Realitätseindrucks in der Debatte: „Dieser bezeichnet jetzt nicht mehr vorrangig die Eigenschaft eines spezifischen Apparates (des Kinos), sondern ein ideologisches Ziel/Bedürfnis, das relativ zu einer bestimmten Gesellschaftsform entsteht und als solches die Ausformung der kinematographischen Formen und der Technik gleichermaßen beeinflusst.“ (Kirsten 2006, S. 86) Zwar nimmt, wie häufig angemerkt, Baudrys Text gerade nicht jene von Comolli stark gemachte historische Perspektive ein. Für die Konzeptionen beider Autoren aber ist die Frage nach dem ideologischen Bedürfnis (oder, was bei Baudry in freudscher Terminologie gleichlautend ist: dem unbewussten Wunsch) von Belang. In diesem Punkt treffen sich Baudrys metapsychologische Theorie des Zuschauers und Comollis neue Akzentsetzung, der zufolge die Kamera nicht automatisch, von sich aus den filmischen Realitätseindruck erzeugt, sondern selbst eine Erfindung ist, die aus dem ideologischen Bedürfnis nach einem realitäts-imitierenden Apparat heraus gespeist ist. „The impression of reality is thus defined as an ideological effect – the apparently spontaneous creation of a believable, fictional world as an imaginary relation produced by a historically specific industrial und technological practice.“ (Rodowick 1988, S. 77 in anderem Zusammenhang) In einer anderen Hinsicht weicht Baudrys Bestimmung der Interferenz von Unbewusstem und filmischem Realitätseindruck entscheidend von Comollis Auffassung ab. Während Baudry von einem Totaleffekt spricht, unterstreicht Comolli, dass das Publikum nicht vollständig den Bildern im Sinne eines So ist das! Glauben schenken muss (s.o.). Damit nimmt Comolli auch die für die Filmologie zentrale Charakterisierung der Film- als einer Als-ob-Erfahrung auf. „Es gibt keinen Zuschauer, der sich des Spektakels nicht bewußt ist, selbst wenn er/sie sich (provisorisch) von der Fiktionsmaschine vereinnahmen, vom Spektakel täuschen läßt“ (Comolli 2003, S. 79).37 Es sind hier deutlich andere ZuschauerInnen gezeichnet als in Leblancs Darstellung eines narkotisierten Publikums. Auch wenn Comolli ebenfalls von Gefangenen, Täuschung und Lüge in diesem Zusammen-

37 | Bonitzer skizziert in seinem viel rezipierten Artikel „Hors Champ“ (Bonitzer 1971/72) eine ähnliche Figur, die auch an Octave Mannonis Theorie der fetischistischen Verleugnung anschließt (vgl. I.4). Bonitzer knüpft auch an Comollis Auffassung an „die Realitätseffekte nicht mehr als automatische Wirkung der kinematographischen Apparate zu betrachten, sondern als immanentes Ziel eines bestimmten (dominanten) Systems der Nutzung derselben, die auf ihre Konstitution allerdings zurückwirkt“ (Kirsten 2006, S. 89).

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hang spricht (vgl. ebd.), so erscheint das Publikum weniger als Opfer (welches in Baudrys Text ebenfalls eine zentrale Metapher ist; vgl. II.3). Comolli beschreibt auf den ersten Blick weniger eine glatte Einbindung als eine konflikthafte Verstrickung, wenn er vom Publikum als „einem Komplizen, der bereit ist ‚mitzugehen‘“ (ebd.), spricht. Der filmische Realitätseindruck, so Comolli, bedürfe für seine Tragfähigkeit des „Willen[s] des Zuschauers zu glauben“ (ebd.). Ähnlich wie Musatti (vgl. I.3) beschreibt Comolli eine Pendelbewegung: „Wir wollen das eine und das andere, getäuscht und nicht getäuscht werden, schwanken, vom Wissen zum Glauben pendeln, von Distanz zur Anhängerschaft, von Kritik zu Faszination.“ (Ebd., S. 79) Im Unterschied aber zu Musatti, der das Pendeln in einem sich öffnenden Spielraum ästhetischer Erfahrung situiert, ist für Comolli das Vergnügen am Hin und Her ein ideologischer Köder. „Deshalb sind realistische Repräsentationen erfolgreich: sie erlauben diese Hin- und Herbewegung, die unaufhörlich die Intensität der Verleugnung wachhält, ermöglicht das Vergnügen des Zuschauers, Gefangener in einer Konfliktsituation zu sein (Ich glaube / glaube nicht) […] und alle filmischen Fiktionen werden mehr oder weniger intensiv von diesem Knoten der Verleugnung zusammengehalten, der pausenlos, immer von neuem mit dieser petitio principii des ‚Realitätseindrucks‘ einsetzt.“ (Ebd.) Wenn Comolli hier auch den psychoanalytischen Terminus der Verleugnung anbringt, verwendet er diesen nicht in psychoanalytischem Sinne. Eben jenes für das spielerische Moment zentrale fetischistische Verhältnis zur filmischen Illusion (vgl. I.4), wird hier als ein Widerspruch zwischen zwei bewussten Vorstellungen gehandelt. Obgleich Comolli sich explizit gegen die von der Cinéthique vertretene Auffassung von der Täuschung des Publikums wendet, so impliziert seine Konzeption eines ‚Glaubenskonflikts‘ ein „virtuelle[s] Verschwinden des Begriffs des Unbewußten“ (Rose 1996, S. 206) und schlägt, wie Rose hinweist, im Grunde keine Alternative zur Manipulations-These vor: „Disavowal is thus imperceptibly turned into a matter of intelligence or manipulation“ (dies. 1980, S. 176). Comollis Plädoyer für eine „Desillusionsarbeit, die gebraucht wird, wenn filmische Repräsentation etwas anderes tun soll als Sichtbares auf Sichtbares zu stapeln“ (Comolli 2003, S. 81), flieht in dieser Hinsicht vor der zugleich von ihm selbst eingeforderten Reflexion auf das Unbewusste des Apparats. Wenn nun Baudry das Unbewusste zentral in den Blick nimmt, so ist der Realitätseindruck auch in dessen Konzeption nicht als konflikthaft bestimmt. Mehr noch: Baudrys Theorie zufolge erliegt das Publikum einem in sich homogenen, bruchlosen Eindruck. Gleichwohl demgegenüber Comolli mit dem Pendeln gerade einen nicht-bruchlosen Eindruck verbunden sieht, ragen auch in seine Konzeption – trotz Abgrenzung gegenüber den Manipulations-Thesen der Cinéthique – Vorstellungen eines getäuschten Publikums hinein. Dass über solcherart Differenzen hinweg, die Vertreter der Cahiers und der Cinéthique ein gemeinsames Anliegen verband, zeigte sich besonders plastisch Ende des Jahres 1970, als jene wie auch Autoren der Tel Quel seitens der Zeitschrift Positif scharf kritisiert wurden. Cahiers, Cinéthique und Tel Quel reagierten

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zunächst geschlossen auf den Angriff, doch bereits ein Jahr später zerbrach diese Koalition. Auf dieses Zerbrechen als einer weiteren Erscheinungsweise des Motivs des Bruchs möchte ich nun abschließend eingehen.

11.  Konfrontation mit Positif und maoistische Wende Im Winter 1970 erschienen in der Filmzeitschrift Positif Texte von Michel Ciment und Louis Seguin (1970) sowie Robert Benayoun (1970), welche sich gegen die jüngste inhaltliche Entwicklung der Cahiers du Cinéma richten. Der Vorwurf lautet im Wesentlichen: Die Cahiers hätten mit einer pseudo-materialistischen, elitären Argumentation einer Entpolitisierung des Kinos Vorschub geleistet. Es hätte, so die Positif-Autoren, ein bourgeoiser Ästhetizismus in marxistische Debatten Einzug gehalten, welcher auf einen Ausschluss der vorgeblich Adressierten (Proletarier und Bauern) hinauslaufe (vgl. Kirsten 2006, S. 58ff.). „Nach einer Vielzahl von theoretischen Metamorphosen, Widersprüchen, Unsicherheiten und Mätzchen entpuppe sich als einzige Konstante der Cahiers die Verachtung für das explizit politische Kino.“ (Ebd., S. 59) Auch Tel Quel und Cinéthique geraten in die Schusslinie, denn ganz grundsätzlich stellen die Autoren der Positif den politischen Wert der ideologiekritischen Befragung des filmischen Apparatus für revolutionäre Belange in Frage (vgl. auch Browne 1990, S. 3). So wendet Benayoun (vgl. 1970) – unter Berufung auf Lebel – ein, die drei Zeitschriften sprächen der Bourgeoisie völlige ideologische Macht und Kontrolle zu.38 Demgegenüber wird in der Positif vertreten, dass im Gebrauch des Apparates ein größerer Handlungsspielraum (des Proletariats) bestehe, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu denunzieren.39 Die Cahiers reagierten Seite an Seite mit Tel Quel und Cinéthique. In einem „Akt gegenseitiger Solidaritätsbekundung“ (Kirsten 2006, S. 60) wurde ein gemeinsames Protestschreiben von Vertretern der Redaktionen aufgesetzt40 und in allen drei Zeitschriften abgedruckt. Der Vorwurf des Opportunismus wird in 38 | Ein Vorwurf, der nur bedingt trifft – gerade die Reichweite der ideologischen Macht des Apparatus war ja ein wesentlicher Streitpunkt zwischen Autoren der Cinéthique und den Cahiers. 39 | Kirsten fasst diesen Kritikpunkt der Positif-Autoren folgendermaßen zusammen: „Für den ideologischen Makel des Kinos seien keine Beweise erbracht und Brechts Theorie sei einer solchen Annahme sogar diametral entgegengesetzt. Dieser habe gezeigt, dass die Bourgeoisie nicht in dem Maße die Ideologie kontrollieren könne wie dies bei den Produktionsmitteln der Fall sei. Auch noch in billigen Kriminalromanen ließen sich Stellen finden, die (ungewollt) das Elend der sozialen Massen denunzierten. Das Ähnliches auch für das Kino gelte, werde von der Cahiers, Cinéthique und Tel Quel übersehen, deren radikale Ablehnung jegliche emanzipatorischen Filmprojekte verhindere.“ (Kirsten 2006, S. 60) 40 | Für Cahiers unterzeichneten Comolli und Narboni, für Cinéthique Fargier und Leblanc, für Tel Quel Pleynet und Philippe Sollers (vgl. Kirsten 2006, S. 60).

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diesem Text an die Positif-Autoren zurückgegeben. Diese würden eine Simplifizierung des Marxismus-Leninismus betreiben, somit die Fortentwicklung des Marxismus blockieren und „die Schwierigkeiten und Verspätungen des Marxismus auf dem Feld der signifikanten/ideologischen Praktiken“ (ebd.) ausnutzen. Gleichwohl es, so unterstreichen die Autoren, gewichtige Differenzen zwischen Cahiers, Tel Quel und Cinéthique gäbe, verstünden sie sich als gemeinsame Bannmeile zum Schutz vor Relativierungen des „Marxismus-Leninismus auf dem Feld der Kulturtheorie“ (ebd.; vgl. auch Bickerton 2010, S. 96). So bekräftigen die drei Zeitungen das gemeinsame Anliegen und die von ihnen gesehene Notwendigkeit einer Ideologiekritik des Apparatus. Doch bereits Ende des Jahres 1971 kündigte sich ein Zerbrechen dieser Übereinkunft von Cinéthique und Cahiers an. Die ideologiekritische Position trat in beiden Redaktionen zugunsten sich verstärkender maoistischer Tendenzen zurück. Im Zuge einer Distanzierung vom vormaligen Verbündeten Tel Quel wurde von der Bearbeitung ästhetischer Fragen weitgehend Abstand genommen, da diese – so nun auch in diesen Reihen die Überzeugung – vom Wesentlichen, dem Klassenkampf, ablenken würden. Der „Texte Collectif“ (Cinéthique 1971; dt. Übersetzung Cinéthique 1973) markierte „einen Neubeginn“ der Cinéthique, in dem die „Abkehr von Tel Quel und eine politische Wende der Arbeit“ (Gansera 1973, S. 14) angekündigt wird. Der Bruch mit Tel Quel war bei der Cinéthique verbunden mit einer expliziten Revision ihres vorherigen Standpunktes. Zwar wird im „Texte Collectif“ (Cinéthique 1971) daran festgehalten, dass der filmische Apparatus ideologisch strukturiert sei. Die Autoren distanzieren sich hier jedoch von vorangegangenen Überlegungen, in denen der Apparatus als Ursprungsort seiner ideologischen Wirkung gedacht wird. So heißt es jetzt: Der filmische Realitätseindruck sei von ihnen vormals fälschlicherweise als natürliche Eigenschaft des Codes der Kamera identifiziert worden. So seien sie damals zu dem ideologischen Schluss gekommen, auf ästhetischem Wege die bourgeoise Ideologie auf brechen zu können. Das Bild einer erhellenden Erkenntnis (vgl. o.) verstärkt sich in diesem Text zu dem eines Brandsatzes: „Vom Standpunkt des Proletariats ist es unzureichend, die Ideologie der Bourgeoisie sichtbar zu machen, sie muß zerstört werden: man muß sie auf den Seziertisch legen und auseinandernehmen. Die sogenannten entmystifizierenden Filme sind nur Mystifikationen, wenn sie keinen inneren Kampf der proletarischen Ideologie gegen die bürgerliche Ideologie im Gefolge haben […]. Denn die proletarische Ideologie ist nicht allein eine Lampe, die den Baum beleuchtet (entlarvt), der den Wald (das Volk) verbirgt, sie ist das Feuer, das ihn zerstört.“ (Cinéthique 1973, S. 58) Es ist, als richteten die Cinéthique einen Punkt der seitens Positif-Autoren gegen sie gerichteten Kritik gegen sich selbst. Denn die Überlegungen, wie das Kino zum Schauplatz des Klassenkampfes gemacht werden könne, werden nun auch von der Cinéthique selbst als Zeichen eines bourgeoisen Elitarismus bewertet – zu wenig sei von ihnen in diesem Zusammenhang beachtet worden, dass

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die hauptsächliche Funktion der Ideologie die Reproduktion der Produktionsbedingungen sei. Im Unterschied zu der Annahme, die ideologische Funktion bestehe in der Errichtung epistemologischer Begrenzungen, die qua Ideologiekritik durchbrochen würden (vgl. Kirsten 2006, S. 78; vgl. o.), unterstreichen sie (jetzt unter Berufung auf spätere Schriften Althussers): „In der Regel ist der Ort dieses Kampfes […] nicht irgendein ‚Himmel‘ der Ideen oder Repräsentationen; dieser Kampf kann nur auf einer bestimmten Grundlage (Basis) stattfinden, innerhalb einer bestimmten materiellen Apparatur: ein (durch den Klassenkampf) geregeltes Spiel von Praxis und Institutionen, die ideologischer Staatsapparat genannt […] werden und von denen man weiß, welche notwendigen Beziehungen sie mit dem repressiven Staatsapparat unterhalten.“ (Cinéthique 1973, S. S. 59) Und auch in der Redaktion der Cahiers zeichnete sich ab Ende des Jahres 1971 eine deutliche Bewegung hin zum Maoismus ab – mit dem Bekenntnis zur maoistischen Kulturrevolution war auch ein offizieller Bruch mit der als zu moderat bewerteten Kommunistischen Partei Frankreichs PCF verbunden (vgl. Kirsten 2006, S. 93).41 Öffentlich räumte das Cahiers-Kollektiv im Jahr 1972 ein, ästhetischen Fragestellungen in der Vergangenheit zu viel Gewicht beigemessen zu haben. Dieser Wende skeptisch gegenüberstehende Redakteure verließen (teils gezwungenermaßen) die Redaktion, neue, maoistisch ausgerichtete Mitglieder wurden aufgenommen. „An die Stelle der Dekonstruktionsversuche der kinematographischen Technik treten nun neben Überlegungen zum ideologischen Kampf auch platte Parolen wie: ‚Vive le cinéma, arme de propagande!‘“ (Ebd., S. 91) Ein neuer Schwerpunkt der Cahiers lag jetzt auf der Sichtung und Besprechung sogenannter militanter Filme.42 Mit dem Jahr 1972 war die Apparatusdebatte jedoch keineswegs beendet. Sollten die folgenden zwei Jahre von pragmatischen Fragen der Kulturrevolution bestimmt sein, wurden ab 1974 bestimmte Fäden der Debatte wiederaufgenommen 41 | So lautet Anfang des Jahres 1972 die Bekanntgabe in einem Editorial: „On the general political level, as on the level of our own practice, our attitude towards revisionsm was itself revisionist (the politics of the PCF were seen as reformable).“ (Cahiers du Cinéma 1990, S. 336) 42 | 1973 verließen bisher zentrale Personen (wie Jacques Doniol-Valcroze, Pierre Kast und Jacques Rivette) die Redaktion und die Zeitschrift veränderte sich auch im Layout. „1973 war die Zeitschrift kaum wiederzuerkennen: Sie präsentierte sich nun als ein strenges, dickes Heft ohne Fotos. Der Bezug zum Kino war eher lose, stattdessen wurden die notwendigen Strategien entworfen, die an der kulturellen Front zum Einsatz kommen sollten. Die Ausgabe von Ende 1973 trug noch nicht einmal ein Datum. Diese Phantom-Ausgabe verkörperte sowohl eine Wiedergeburt als auch den absoluten Tiefpunkt […].“ (Bickerton 2010, S. 91) Die radikale Veränderung des Designs war laut Bickerton nicht zuletzt dem Einbruch der Verkaufszahlen geschuldet – zwischen 1969 bis 1973 sank ihr zufolge die Zahl der verkauften Zeitschriften von 14 000 auf 3000 (vgl. ebd., S. 99). 1974 zogen sich schließlich auch Comolli und Narboni aus der Redaktionsarbeit zurück.

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und weiterentwickelt. Außerdem hatte derweil in Großbritannien die Filmzeitschrift Screen begonnen, englische Übersetzungen der Beiträge aus den Cahiers (u.a. von Narboni und Comolli) und der Cinéthique (u.a. von Fargier und Leblanc) zu publizieren (vgl. Paech/Borchers/Donnerberg u.a. (Hrsg.) 1985).43 Und auch in anderen westlichen Ländern wurde die Fragestellung aufgegriffen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erscheint die Situation in Frankreich zwischen 1972 und 1974 rückblickend als eine zwischenzeitliche Implosion des skizzierten Spannungsfelds, in dem sich die Auseinandersetzung um die Möglichkeiten des Bruchs bewegte. Bevor ich im folgenden Abschnitt die spezifische Ausgestaltung von dem Motiv des Bruchs in Baudrys Text „Le dispositif“ (1975) untersuche, soll ein kurzer Überblick die vorangegangene Darstellung bündeln.

12.  Rückschau und Übergang Auf bruch, Durchbruch, Abbruch – Brüche verschiedenster Couleur und auf unterschiedlichen Ebenen waren das Thema. Es zeigte sich, in welch unterschiedliche Vorstellungen, Auffassungen, Argumentationen und Allianzen das Motiv des Bruchs in den Anfangsjahren der Apparatusdebatte kursierte. 43 | Weit weniger rasant als in Frankreich gestaltete sich der Auftakt der Debatte in Großbritannien. Bereits im Jahr 1969 betonte die Redaktion von Screen nach einer Umstrukturierung der Redaktion, dass keine Dogmatisierung der politischen Ausrichtung angestrebt sei. So heißt es im entsprechenden Editorial: „The Editors intend Screen to provide a forum in which controversial areas relevant to the study of film and television can be examined and argued. It is by no means clear what the nature of Film Study should be. Film is used in different ways by different people and at different levels.“ (Screen 1969, S. 3) Eine definitivere Zuspitzung auf marxistische Ideologiekritik verband sich im Jahr 1971 mit dem Antritt von Sam Rhodie als neuem Herausgeber (vgl. Ellis 1977, S. V), der aber auch betont, dass diese Neuausrichtung keineswegs einen scharfen Bruch mit der vorangegangenen Arbeit von Screen bedeute: „The policy of Screen — set out in this editorial and initiated in practice by this issue – is less a sharp break with the past than a reconsideration of the methods and assumptions which informed that past.“ (Screen 1971, S. 4) Wurde die Übersetzung des Young Mr. Lincoln-Texts schließlich zu einem zentralen Bezugspunkt in der britischen Diskussion (vgl. Ellis 1977, S. X; Borchers 1985, S. 23), begegnete man dem Import der Psychoanalyse zunächst durchaus zurückhaltend. Befürchtet wurde eine ‚Verwässerung‘ marxistischer Positionen (vgl. Borchers 1985, S. 25; zu den besonderen Reibungspunkten in den USA vgl. Kaplan 1990). Die britische Filmtheoretikerin Claire Johnston rühmt in einem Text aus dem Jahr 1971 die Debatte zwischen der Cinéthique und den Cahiers als theoretische Avantgarde ideologiekritischer Filmtheorie (vgl. Johnston 1971) und entwickelt hiervon ausgehend eine einflussreiche Kritik an vorhergehenden feministischen filmtheoretischen Ansätzen. In – gleichwohl kritischer – Anknüpfung an die Apparatusdebatte stießen Johnstons Veröffentlichungen maßgeblich eine Wende in der Feministischen Filmtheorie an, die den filmwissenschaftlichen Diskurs nachhaltig prägte (vgl. McCabe 2004, S. 15).

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Der Ausgangspunkt der Debatte ist eine Kritik an vorhergehenden Auffassungen des filmischen Realitätseindrucks, die sich u.a. gegen filmologische Positionen wendet (1.). Zentrale filmologische Annahmen werden nun als ideologisch kritisiert: Die filmologische Auffassung vom Kinos als potentiellem Mittel des Fortschritts, die Ausrichtung auf den Telos der Einheit (des Kinos als die Menschheit vereinigende, universelle Institution) und insbesondere die Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks als eine Wirklichkeit, die – wenngleich „nur repräsentativ“ – doch „unmittelbar wirklich“ sei (Cohen-Séat 1962, S. 95; vgl. II.2). Aus Sicht der Apparatustheorie spiegeln diese Annahmen ungebrochen den ideologischen Effekt des filmischen Mediums selbst. Die Forderung nach einer Politisierung der Filmtheorie entstand im anwachsenden antikapitalistischen Klima Ende der 1960er Jahre (2.). Die politischen Proteste im Jahr 1968 waren in Frankreich verzahnt mit Forderungen nach kulturpolitischen Veränderungen im Bereich des Films (3.). Die Frage nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen eines politischen Kinos wurde von Filmzeitschriften aufgegriffen. Die Apparatusdebatte beginnt mit einem Streit zwischen Redakteuren der Zeitschriften Cahiers du Cinéma und Cinéthique über die Grundlagen einer marxistischen Ideologiekritik des Kinos, speziell des filmischen Realitätseindrucks (4.). Dieser gilt nun als suspekt und wird auf seine schädigende Wirkung hin überprüft. Schaden bedeutet hier: Erhalt und Fortbestehen der kapitalistischen Ordnung, die durch die ideologische Funktion des Kinos mit gewährleistet werde. Die Kontrahenten teilen grundsätzlich dasselbe Ziel: Umbruch der kapitalistischen Verhältnisse. Das Kino wird zur Arena des Klassenkampfes erklärt. Filmkritik soll dabei die scheinbar unmittelbare, neutrale Verdopplung der außerfilmischen Wirklichkeit im Kino als nicht-neutralen, d.h. ideologischen Effekt des filmischen Apparatus aufdecken. Insbesondere Pleynets Aussagen in einem von dem Cinéthique-Redakteur Leblanc geführten Interview bilden einen zentralen Bezugspunkt in den Anfangsjahren der Debatte (5.). Der Titel enthält die wesentlichen begrifflichen Eckpfeiler der Debatte: Ökonomie, Ideologie und Form(ales). Pleynet fordert, dass sich kritische Filmpraxis nicht darauf beschränken dürfe, politische Inhalte zu präsentieren. Sondern kritisch, so Pleynet, seien Filme, die zeigen, wie Film zeigt. Er fordert eine Desillusions- und Dekonstruktionsarbeit, die den filmischen Realitätseindruck und somit die ideologische Funktion des Kinos offenlegt. Pleynets formuliert hier Grundlagen eines marxistisch-ideologiekritischen Zugangs zum Film, der (in Rekurs auf Althusser) in entscheidenden Hinsichten bis dato durchgesetzte Positionen des orthodoxen Marxismus revidiert. Orthodoxe Positionen gehen von einer grundsätzlichen Neutralität der gesellschaftlichen Produktivkräfte (unter die Filmtechnik subsummiert wird) aus. Demnach steht einer Aneignung der filmischen Technik und ihrem Einsatz im Klassenkampf nichts im Wege, denn die ideologische Funktion des Kinos bestünde demnach allein darin, bourgeoise Inhalte zu übermitteln. Es ist eben diese Auffassung von Ideologie als verzerrender Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bourgeoiser

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Interessen, welche die Apparatustheoretiker kritisieren: Sie sehen die ideologische Funktion vielmehr in der spezifischen Art und Weise der filmischen Repräsentation von Welt. Dieser Ideologiebegriff ist maßgeblich an Althussers Schriften orientiert, der unter Ideologie die Repräsentation der imaginären Beziehung des Subjekts zu den gesellschaftlichen Verhältnissen versteht (6.). Ideologie bezeichnet keine Widerspiegelung der Verhältnisse im Bewusstsein, sondern (materielle) Formen und Handlungen, in denen die Beziehung des Subjekts zur Welt repräsentiert wird. Die Struktur dieser Repräsentation ist demnach subjektkonstitutiv. Die Apparatustheoretiker übertragen diesen Ideologiebegriff auf das Kino: Die ideologische Funktion des Realitätseindrucks bestehe darin, Transparenz und Durchsicht zu suggerieren. Kritik zielt diesem Verständnis nach darauf, jene scheinbar ungebrochen-neutrale Referenz des filmischen Bildes auf die abgebildete Welt als ein vom filmischen Apparat konstituiertes ideologisches Verhältnis der Subjekte zur Wirklichkeit auszuweisen. Doch bezüglich des Transfers des Althusserschen Begriffs des Bruchs auf das Kino gibt es strittige Punkte zwischen den Vertretern der Zeitschriften Cinéthique und Cahiers (7.). So teilen die Vertreter der Cinéthique Filme ein in sogenannte idealistische Filmen, die scheinbar ungebrochen die Welt neutral widerspiegeln, und sogenannte materialistische Filmen, die den Beitrag der filmischen Technik offenlegen und derart einen Bruch mit der Ideologie des filmischen Apparats erwirken. Vertreter der Cahiers kritisieren eben diese Einteilung grundsätzlich: Dieser läge die Auffassung zugrunde, der materialistische Film befände sich im Außerhalb der Ideologie. Die Vorstellung eines solchen Außerhalbs sei jedoch, so die Cahiers-Redaktion, selbst ideologischer Effekt des Kino-Apparatus. Ideologiekritik, so die Cahiers-Position, bedeute gerade nicht, eine Position außerhalb geltend zu machen. Unzulässigerweise würde die Cinéthique materialistischer Filmkritik und -praxis die Potenz zusprechen, einen Bruch mit der ideologischen Funktion des Kinos als solcher zu vollziehen. Das Herzstück der Cahiers-Argumentation besagt: Die Struktur der filmischen Repräsentation ist untrennbar mit dem Apparatus verwoben. Mit diesem Streitpunkt korrespondieren auch unterschiedliche Akzentsetzungen in den Beschreibungen des Publikums. Anhand Leblancs Text „diréction“ (Leblanc 1969) habe ich aufgezeigt, dass der Tendenz nach in der Cinéthique das Publikum des idealistischen Films als betäubt und blind vorgestellt wird (8.). Narkotisiertvon der Droge Film delegieren die Zuschauenden Leblanc zufolge im konventionellen Kino ihre (politische) Handlungsmacht an die Personen auf der Leinwand, während der materialistische Film mit diesem Prinzip breche. Leblanc verbindet diese Gegenüberstellung mit den Metaphern von stummen und sprechenden Filmen: der materialistische Film breche das Schweigen des idealitischen Kinos und bewirke eine politische Aktivierung des Publikums. Der Bruch hat hier den Charakter eines äußeren Zugriffs. Auch der Filmtheoretiker wird dementsprechend in einem Außen positio-

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niert: Nicht im narkotisierenden Rausch gefangen, trifft er die Unterscheidung, welcher Film spricht und welcher schweigt. U.a. dagegen legen die Autoren der Cahiers Einspruch ein (9.). Sie bestimmen Ideologiekritik vielmehr als ein Gegen-den-Strich-Lesen, welches an brüchigen Stellen des als Text verstandenen Films ansetzt. Beschrieben wird eine Verfahrensweise im Sinne psychoanalytischer Deutung, die auf ein ‚zum-Sprechen-Bringen‘ von Verdrängtem zielt. Diesem Verständnis nach konstituiert das Unbewusste den Filmtext und äußert sich in symptomatischer Weise (an Bruchbzw. Fehlstellen) an der Textoberfläche. Tendiere der Text zu einer ideologischen Schließung, so wirke eine ideologiekritische Lektüre dieser entgegen und hebele von innen den Text auf. Wenngleich sowohl die Autoren von Cahiers wie auch von Cinéthique mit Ideologiekritik als eine ‚Erhellung der ideologischen Finsternis‘ beschreiben, so besteht eine wesentliche Differenz darin, ob diese qua rekonstruktiver Lektüre (Cahiers) eine Öffnung des Textes von innen her bewirken oder qua auf brechendem Akt (Cinéthique) von außen vollzogen werden soll. In der Cinéthique verbindet sich, wie gezeigt, mit dieser Auffassung die Vorstellung eines betäubten Publikums, was u.a. Comolli in seiner Textreihe „Technique et idéologie“ (Comolli 1971-1972) kritisiert (10.). Hier beschreibt er den filmischen Realitätseindruck als einen ideologischer Köder, der seinen Erfolg einem Pendeln verdanke. Das Publikum sei gegenüber der filmischen Realität gefangen zwischen Glauben und Nicht-Glauben. Comolli plädiert dafür, den ideologischen Effekt nicht als eine genuine Eigenschaft der filmischen Technik (bzw. dessen isolierter Bestandteile wie etwa der Kamera) zu betrachten, sondern die Wirksamkeit eines ideologischen Bedürfnisses nach dem filmischen Realitätseindruck miteinzubeziehen, welches auch als Motor der technischen Entwicklung des Kinos wirke. Comolli argumentiert hier gegen die von Seiten der Cinéthique vertretene Beschreibung des Publikums als Opfer der Täuschung durch den filmischen Realitätseindruck, jedoch bleibt auch seine Konzeption letztlich der Vorstellung vom ideologischen Effekt als Manipulation verhaftet. Es zeichnet sich hier ein Ringen ab um die von den Cahiers angenommenen Bruchstellen, demgegenüber die Cinéthique von einer absoluten Geschlossenheit des idealistischen Kinos ausgehen. Wird diese Differenz zwischen Cinéthique und Cahiers für kurze Zeit zugunsten der Einigung auf praktische Belange der angestrebten Kulturrevolution kurz darauf ad acta gelegt, so lässt sich dies auch als eine Implosion des Spannungsfelds zwischen Annahmen bruchloser Geschlossenheit und Brüchigkeit verstehen (11.). In meiner nun folgenden Lektüre von Baudrys Text „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“ (Baudry 2003b) wird sichtbar werden, inwiefern sich dieses Spannungsfeld textimmanent geltend macht, und zwar insbesondere in Bezug auf den – sowohl in den Texten der Cahiers als auch der Cinéthique virulenten – Topos des betäubten und getäuschten Publikums. Im

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Fokus wird dabei stehen, inwiefern sich hier jenes Spannungsfeld zwischen Annahmen von Brüchigkeit in sich versus totaler Geschlossenheit in sich en detail in Form in sich gegenläufiger Tendenzen dieses Textes ausgestaltet. Ich hatte z.B. im Vorhergehenden darauf hingewiesen, dass in Leblancs Text „diréction“ (1969) Hörbares einsteht für Sichtbares (8.). Während Ton und Bild von Leblanc ganz beiläufig ineinandergeschoben werden, wird der Zusammenschluss von Ton und Bild in Baudrys Text explizit verhandelt und dient gewissermaßen als Medium der Theoretisierung eines total eingeschlossenen Publikums. Hieran und an verschiedenen anderen Sequenzen dieses Textes werde ich aufzeigen, dass Baudrys Darstellung eines absoluten Einschlusses des Subjekts in den filmischen Realitätseindruck von Brüchen durchzogen ist (vgl. Einführung; II.1). Es sind im Textverlauf auftauchende Formulierungen eines Quasi-Charakters des dargestellten bruchlosen Realitätseindrucks, welche den hier entfalteten Begriff eines homogenen Realitätseindrucks rissig erscheinen lassen. Die Quasi-Formulierungen betrachte ich als symptomatische Figuration einer gebrochenen Bruchlosigkeit innerhalb eines gedanklichen Bezugssystems, in dem um die Vorstellung totaler Integration gerungen wird (vgl. II.1). Sind es gerade Verwischungen im Verhältnis von Mensch und Maschine, die als prädestinierter Erscheinungsort des Unheimlichen gelten (vgl. II.1), werden die Quasi-Formulierungen letztlich Aufschluss geben über das unheimliche Moment in seiner Beziehung zum Unbewussten der Kulturindustrie (vgl. II.4).

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II.3 Inszenierungen von Brüchen: Eine Lektüre von Jean-Louis Baudrys Formulierung Quasi Im letzten Abschnitt habe ich das Motiv des Bruchs herausgearbeitet, wie es zu Beginn der Apparatusdebatte kursierte (vgl. I.2). Einigkeit herrscht im Rahmen dieser Diskussion bezüglich der Auffassung, das „Kino simuliere, ein Fenster zur Welt zu sein“ (Elsaesser 2005, S. 416) – strittig ist, um im Bild zu bleiben, ob das Fenster gesprungene Stellen aufweise oder nicht. Die Debatte bewegt sich, wie gesehen, in einem Spannungsfeld zwischen der Annahme, Kritik habe die immanente Brüchigkeit mit zu bedenken und der, Kritik habe von einer totalen Geschlossenheit des ideologischen Diskurses auszugehen. War dies ein Streitpunkt zwischen verschiedenen Positionen, so werde ich im Folgenden anhand einer Position zeigen, inwiefern sich auch hier immanent ein Spannungsfeld zwischen Brüchigkeit und Geschlossenheit geltend macht: An Jean-Louis Baudrys1 Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks. Es sind insbesondere zwei Texte von Baudry, die in filmtheoretischen Auseinandersetzungen von zentraler Bedeutung waren und sind: Der 1970 in der Cinéthique publizierte Text „Cinéma: efféts idéologiques produits par l’appareil de base“ (Baudry 1970; dt. Übers. ders. 2003a) und der 1975 erstmals in der Zeitschrift Communications erschienene Aufsatz „Le dispositif: approches métapsychologiques de l‘impression de réalité“ (ders. 1975) – ich fokussiere mich auf die deutsche Übersetzung von Letzterem (ders. 2003b). Baudry verfolgt in diesem Text das Ziel, die Geschlossenheit des filmischen Realitätseindrucks unter Rückgriff auf Platons Höhlengleichnis und auf freudsche Bestimmungen des Traums zu begründen. Doch in verschiedener Hinsicht arbeitet der Text zugleich dieser theoretischen Konstruktion entgegen – Zurücknahmen, Einschränkungen, Vagheiten treten in Kontrast zu der Annahme, das Publikum sei absolut vom Re1 | Jean-Louis Baudry, geboren 1930 in Paris, veröffentlichte neben einigen film- und literaturtheoretischen Aufsätzen vorrangig Romane. Zwischen 1963 und 1974 wirkte er redaktionell bei der Zeitschrift Tel Quel mit. Ab 1974 veröffentlichte er Texte u.a. in den Zeitschriften Cinéthique und Communications.

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alitätseindruck gefangengenommen. Bestimmt Baudry den filmischen Realitätseindruck als eine bruchlose, so lassen zugleich bestimmte Formulierungen diese Darstellung selbst brüchig werden. Brüchigkeit oder Geschlossenheit? – diese Streitfrage schlägt sich meiner Lesart zufolge in Form einer der Darstellung impliziten Ambiguität nieder. Diese Ambiguität in den Blick zu nehmen, ist ein durchaus ungewöhnlicher Zugang zu diesem Text, bisherige Interpretationen richten das Augenmerk eher auf den Aspekt der Geschlossenheit. Der Begriff der Ambiguität wird häufig synonym mit dem der Ambivalenz zur Bezeichnung von Zwei- oder Mehrdeutigkeiten verwendet (vgl. Lüscher 2011, S. 325). Ich verwende Ambiguität hier in einem allgemeinen Sinne zur Bezeichnung von Doppeldeutigkeiten von Formulierungen – wobei weniger Doppeldeutigkeiten eines Wortes (z.B. Ich gebe dir einen Korb) im Fokus stehen, als vielmehr Formulierungen, die die Darstellung des geschlossenen Eindrucks in einer Weise entzweien, die Zweifel an der dargestellten Absolutheit der Geschlossenheit wecken oder Wendungen, die z.B. – im Kontrast zum totalen Charakter des dargestellten Eindrucks – von einer gewissen Unentschieden- und Unentschlossenheit getragen sind.2 Diese verdichten sich in der Formulierung Quasi, die an einigen Stellen der deutschen Übersetzung von „Le dispositif“ auftaucht. Das Ziel dieses Abschnitts ist zunächst die Herausarbeitung von Quasi-Formulierungen, die ich als brüchige Momente in Baudrys Darstellung der Geschlossenheit des Realitätseindrucks werte. Im Lateinischen bedeutet qua wie und si wenn. In seiner Verwendung im Deutschen schwingt in quasi häufig eine stärkere Ambiguität mit als in der Formulierung wie wenn: Quasi kann eine Übereinstimmung von zwei Phänomenen oder Aspekten einer Sache bezeichnen und zugleich bringt quasi eine gewisse Vagheit und Ungenauigkeit dieser Übereinstimmung zum Ausdruck.3 In meiner Lektü2 | Im vorhergehenden Teil habe ich Motive von Grenzziehungen und -überschreitungen einer Lektüre unterzogen und bestimmte Figuren ihrer Darstellung als Symptome eines mit dem spielerischen Moment in der Kulturindustrie verbundenen Ambivalenzkonflikts gedeutet. Die von mir im Folgenden untersuchte Ambiguität des baudryschen Texts liegt demnach auf einer anderen Ebene als die der Ambivalenz – mit Ambiguität bezeichne ich die für Baudry spezifische Formulierung des Motivs des Bruchs (sie liegt demnach auf einer Ebene mit der im Vorhergehenden untersuchten Formulierung Musattis Mehr als nur, aber nicht Zuviel). 3 | So legt z.B. der Satz Das ist ja, wie wenn Weihnachten ist einen loseren Vergleich nahe als der Satz Das ist quasi wie Weihnachten, mit dem eher eine Gleichsetzung von Weihnachten und der verglichenen Situation vollzogen wird. Stärker als mit den verwandten Adverbien wie sozusagen oder in gewisser Weise kann quasi die Gewissheit unterstreichen, dass es sich hier der Sache nach um tatsächlich Gleiches handelt. Doch signalisiert quasi zugleich auch eine gewisse Vagheit und kann Zweifel anregen, ob die Übereinstimmung tatsächlich mit Gewissheit behauptet werden kann. Insofern schillert quasi in zwei Richtungen.

Baudrys Formulierung Quasi

re der deutschen Übersetzung von „Le dispositif: approches métapsychologiques de l‘impression de réalité“4 werde ich zunächst eine gleichzeitige Vagheit und Gewissheit im Gestus des Textes in den Blick nehmen. Es wird zu sehen sein, inwiefern Ambiguitäten auch auf inhaltlicher Ebene relevant sind. Ist es Baudrys Ziel, den Realitätseindruck – in Analogien des Kinos zu Platons Höhlengleichnis (Platon 2004, S. 420ff.) und dem Traum (bzw. dem psychischen Apparat) – als einen Totaleffekt zu bestimmen, so wird stellenweise diese Bestimmung zugleich relativiert. Trotz dieser Relativierungen wird an der Annahme von der Absolutheit des Realitätseindrucks festgehalten. Dargestellt wird so letztlich ein Quasi-Totaleffekt – ein Eindruck, der als quasi-geschlossen im Sinne von wirklich so wie präsentiert wird und zugleich als quasi-geschlossen im Sinne von fast wie.5 Quasi-Formulierungen können als gleichzeitige Bekräftigung und als Zurücknahme der Behauptung des Totaleffekts gelesen werden, die in dieser Ambiguität auch einen Zweifel an der dargestellten totalen Geschlossenheit wecken können – ein Zweifel an der dargestellten Totalität (und an der Abgeschlossenheit der theoretischen Darstellung selbst), von welchem auch meine Lektüre angesteckt wurde. Die Relativierungen des Totaleffekts bilden selbst uneingebundene, nicht-integrierte Bruchstücke von dessen Begriff. Sie werden von Baudry nicht weiter verfolgt, sondern werden zur Seite geschoben. Dieses Zur-Seite-Schieben, welches auf den Abhub zurückverweist (vgl. Einführung; vgl. Härtel 2006; 2014c), ist innerhalb der baudryschen Konzeption theoretisch folgerichtig. Im darauffolgenden Abschnitt (II.4) wird es um die Frage gehen, welcher Überschuss in diesem Zur-Seite-Schieben steckt. Deutet sich hier auch eine Deutungsverweigerung in Form einer panischen Reaktion angesichts eines Verschwimmens von Grenzziehungen an (vgl. I.1)?

1.  Verknüpfungen: Gelähmtes Publikum und erhellende Kritik Zunächst möchte ich den Gegenstandsbereich sowie einige grundlegende Annahmen und Charakteristiken des Texts skizzieren. „Le dispositif“ ist in verschiedener Hinsicht nicht unbedingt exemplarisch für die Apparatusdebatte, im Unterschied zu Baudrys früherer Publikation „Cinéma: efféts idéologiques produits par l’appareil de base“ (1970)6, in dem unter Bezugnahme auf Althusser und Lacan untersucht wird, wie Prozesse der Filmproduktion und -projektion eine ideolo4 | Im Folgenden kurz: „Le dispositif“. 5 | Es wird zu zeigen sein, inwiefern also einerseits der Verve der Darstellung darauf gerichtet ist, den filmischen Realitätseindruck als eine geschlossene Einheit auszuweisen – quasi hier im Sinne von: eine starke Form des Vergleichs im Sinne von es ist quasi, es ist wirklich wie… und andererseits, dass sich hier im quasi zugleich eine Zurückhaltung gegenüber der Betonung anzeigt (es ist wie wenn, nur fast so). 6 | Im Folgenden kurz: „Cinéma: efféts idéologiques“.

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gische Einbindung des Zuschauers in den filmischen Apparat bewirken. In „Le dispositif“ sind hingegen die Bezüge auf die Diskussionen um die Auslegung marxistischer Ideologiekritik weniger offenkundig.7 Nicht unbedingt typisch für die Debatte bis Mitte der 1970er Jahre ist außerdem der Vergleich von Kino und Traum. In den beiden Texten wird je ein anderer Gegenstandsbereich verhandelt. Während sich Baudry in „Le dispositif“ allein mit der Projektionssituation beschäftigt, so in „Cinéma: efféts idéologiques“ mit dem, was in einer Fußnote als Basisapparat bezeichnet wird. Dieser wird definiert als „die Gesamtheit der für die Produktion und die Projektion eines Films notwendigen Apparatur und Operationen“ und umfasst demnach „sowohl das Filmnegativ, die Kamera, die Entwicklung, die Montage in ihrem technischen Aspekt usw. als auch das Dispositiv der Projektion“ (ders. 2003b, S. 45, Fn. 3). Der Titel „Le dispositif“ bezeichnet also einen Ausschnitt des in „Cinéma: efféts idéologiques“ untersuchten Gesamtzusammenhangs. Neben diesen offensichtlichen Unterschieden zwischen beiden Texten knüpft „Le dispositif“ an bestimmte Topoi und Annahmen des debatten-typischeren Vorgängertexts an. Der sogenannte Basisapparat wird in „Cinéma: efféts idéologiques“ u.a. daraufhin befragt, inwiefern es der Effekt des Zusammenspiels dieser Elemente ist, „den Zuschauer illusionär als ein machtvolles, wissendes, ‚transzendentales‘ Subjekt zu konstituieren“ (Brauerhoch 1996, S. 32). In „Le dispositif“ arbeitet Baudry heraus, inwiefern diese Art der Identifizierung des Subjekts mit dem Apparat durch einen „noch älteren Modus“ (Baudry 2003b, S. 58) Verstärkung findet.8 Es geht hier um einen bestimmten Modus der Wunscherfüllung – den Baudry in Anschluss an Freud als eine Form der Befriedigung des unbewussten Wunsches bestimmt,9 die als phantasmatische Rückkehr in eine

7 | Ein Umstand, der es leicht macht, die Bedeutung des marxistischen Fundamentes, auf dem dieser Text gleichwohl gebaut ist, zu übersehen – wie in der nachfolgenden, insbesondere in der US-amerikanischen Rezeption geschehen. „Marxism in general has never had the dominance in the United States that it has had at periods in various European intellectual movements. Thus the original French thinkers, for whom some kind of Marxism-Socialism was often a given […] were further re-interpreted in the U.S. in line with America’s governing apolitical intellectual modes. Baudry’s apolitical theory of ‚the apparatus‘, inspired by Plato’s cave allegory […] dominated much USA work in film until Frederic Jameson’s crucial intervention in the early 80s […].“ (Kaplan 1990, S. 9) 8 | Laut Winkler geht es hier um ein Subjekt, „das sich mit der Kinoapparatur eine Maschine geschaffen hat, die es ihm erlaubt die ödipale Spaltung, ja sogar die subjektkonstituierende Spaltung vor dem Spiegel zumindest temporär zu überwinden“ (Winkler 1992, S. 38). 9 | Im Unterschied zu konkreten Inhalten unbewusster Wunschphantasien ist unter dem unbewussten Wunsch hier das zu verstehen, was diese Phantasien allererst antreibt. Der

Baudrys Formulierung Quasi

Zeit dargestellt wird, in der es – so kann man zunächst sagen – zu wünschen keinen Anlass gab. Diese Zustand restloser Befriedigung ist für Baudry Vorbild der Projektionssituation im Kinosaal: Hier sei „das Subjekt, an das die Projektion sich richtet, eingeschlossen“ (ebd., S. 45, Fn. 3) – ein Eingeschlossensein, welches Baudry mit dem Wunsch nach Rückkehr in den Mutterleib verbindet. In diesem Text steht damit die Annahme einer durch den Apparat inszenierten Rückkehr in eine UrZeit des Subjekts im Zentrum, die als eine Zeit halluzinatorischer Befriedigung charakterisiert ist (vgl. ebd., S. 53). Brauerhoch, die in „Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodram und Horror“ (1996) Baudrys Darstellung von weiblichen, d.h. hier: mütterlichen Elementen10 untersucht, hebt hervor, dieser Text weiche „von anderen Texten der Apparatustheoretiker insofern ab, als er erstmals das Weibliche in Form mütterlicher Momente im Kino in die Debatte einführt“ (ebd., S. 11). Diese Neuerung in die bis dato „von vaterzentrierten Konstrukten“ beherrschten Apparatusdebatte bedeute auch eine Einbeziehung sinnlicher Momente der Kinoerfahrung, insofern hier die Schaulust „explizit an psychische Vorgänge und Dynamiken“ angebunden werde, „die einem Bereich entstammen, in dem die Mutter herrscht“ (ebd., S. 19). In „Cinéma: efféts idéologiques“ geht es demgegenüber nicht um diese UrZeit der Ungetrenntheit, sondern um die Erfahrung imaginärer Ganzheit des Ichs, die Baudry unter Rückgriff Lacans Text „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“ (1986) mit der ideologischen Funktion des Kinos zusammenbringt. In „Le dispositif“ fasst Baudry die Projektionssituation als eine das Subjekt umhüllende Situation in sich geschlossener Ganzheit. In dieser vollzieht sich ihm zufolge eine regressive Verschmelzung des Ichs mit der einhüllenden Projektionssituation (vgl. II.1). In beiden Texten aber ist die Unbeweglichkeit des Zuschauenden im dunklen Kinosaal von größter Bedeutung, dem die theoretische Erkenntnis als Erhellung eines dunklen Orts gegenübergestellt ist – eine Konstellation, die für viele Beiträge zur Apparatusdebatte typisch ist (vgl. II.2). Gleich dem Kind vor dem Spiegel, so Baudry in „Cinéma: efféts idéologiques“, spekularisiere der Kinozuschauer vor der Leinwand „die Einheit seines Körpers“ (Baudry 2003a, S. 37). Im Spiegel überschlage der Blick des Kindes gewissermaßen die eigene Unfertigkeit – Baudry spricht in Anlehnung an Lacan davon, dass „die unreife Motorik und die frühzeitige Reifung seiner visuellen Organisation“ (ebd.) zusammenträfen. Eine Situation, die sich seines Erachtens in der Situation im Kinosaals wiederholt: Diese sei durch „Aufhebung der Motorik und Prädominanz der visuellen Funktion“ (ebd.) charakterisiert. Die unreife Motorik des Kinunbewusste Wunsch wird hier, unter Berufung auf Freuds „Traumdeutung“ (1900a), als das das Psychische überhaupt Konstituierende aufgefasst. 10 | Brauerhoch kritisiert, dass Baudry in diesem Text Weiblichkeit auf die mütterlichen Momente reduziere (vgl. Brauerhoch 1996, S. S. 11).

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des wird hier verglichen mit einer Suspendierung der Motorik des erwachsenen Publikums im Kinosessel. Diese Analogie wird auch im Weiteren Thema sein. In „Cinéma: efféts idéologiques“ leitet sich u.a. aus dieser die Schlussfolgerung ab, das Kino sei „eine Art psychischer Substitutionsapparat“ (ebd., S. 39). Die Vorstellungen von Lähmung und Nicht-Erkennen sind (wie auch in anderen Texten der Debatte) mit Metaphern von durch den Apparat ersetzten und in Regie genommenen Organen verbunden (vgl. II.2). So heißt es: „Alles geschieht, als ob das Subjekt nicht in der Lage wäre – und das aus gutem Grund – für seinen Platz einzustehen, und es somit notwendig wäre, bei ihm sekundäre Organe auszuwechseln und einzupflanzen, seine eigenen defekten Organe mit Instrumenten oder ideologischen Formierungen zu ersetzen, die zur Ausfüllung seiner Funktion [als Subjekt] tauglich sind. Eigentlich ist diese Substitution nur unter der Bedingung möglich, daß die Apparatur selbst verborgen, unterdrückt bleibt.“ (Ebd.) Debattentypisch (vgl. z.B. Comollis Position; II.2) vertritt Baudry die Auffassung von Ideologiekritik als Sichtbarmachung unsichtbarer Mechanismen, die er hier analogisiert mit einer Aufdeckung von Unbewusstem: „Analog könnte man sagen, daß das ‚Unbewußte‘ darin [im Substitutionsapparat] nicht erkannt wird […]. An das Unbewußte bindet sich der Produktionsmodus der Filme wieder an, d.h., das Evidentmachen des in seinen vielfachen Bestimmungen ins Auge gefaßten Arbeitsprozesses […]. Deshalb sollte sich eine Reflexion über den Basisapparat in eine generelle Theorie der Ideologie des Kinos integrieren können.“ (Ebd.) Winkler spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Ideologiekritik des Apparates auch darauf zielt, durch die Theoretisierung der kinematographischen Technik etwas zurückzugewinnen, was die technischen Prozesse ansonsten verbergen bzw. was dem Publikum systematisch entzogen ist (vgl. Winkler 2003, S. 221; vgl. II.2). Insofern soll die Theorie auch dem Publikum etwas Entzogenes zurückerstatten – nicht zuletzt ist m.E. diese Art des Bewusst-Machens auch mit einer handlungsmächtigeren Position gegenüber dem ideologischen Apparat assoziiert. Die Ideologiekritik erhellt demzufolge den grundsätzlichen Mechanismus des Apparatus im Verborgenen zu arbeiten und so eine Situation notwendiger Verkennung zu schaffen (hier ist ein impliziter Anschluss an Althusser zu erkennen; vgl. II.2). So entziehe sich dem Subjekt die Gesamtanordnung, von dem es Teil sei. Diese Anordnung wird als die konstitutive Bedingung der Wahrnehmung des Subjekts (innerhalb) des Apparats angesehen. „Le dispositif“ knüpft an diese Annahmen an. Baudry führt hier aus, inwiefern diese Anordnung auf eine halluzinatorische Wunscherfüllung zugeschnitten ist, d.h. auf das Telos des unbewussten Wunsches überhaupt (dazu unten mehr). Insofern ist auch verständlich, warum in beiden Texten die Situation des Publikums als eine ‚eigentliche‘ Lähmung ausgewiesen wird. So zielt Ideologiekritik auch in „Le dispositif“ darauf, einen normalerweise verborgenen, dahinterliegenden Ort des Geschehens zugänglich zu machen: Das Kino, die Höhle Platons und der Mutterleib werden als dunkle und

Baudrys Formulierung Quasi

das Subjekt einschließende Orte beschrieben – ein theoretischer Einblick in diese Orte ist gleichbedeutend mit einem Auf bruch ihrer sonstigen Abgedichtetheit. Der Vergleich von Kino, Höhle, Mutterleib und dem psychischen Apparat ist der wesentliche Clou von Baudrys Argumentation. Baudry selbst wirft die Frage auf, ob man diese Analogie ziehen dürfte und bejaht diese mit der Begründung: ,,Denn es handelt sich ja um ein Dispositiv“ (Dammann 2002/2003, S. 5). Was ist hier unter Dispositiv zu verstehen? Baudrys Aufsatz hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Terminus Dispositiv in den film- und medienwissenschaftlichen Diskurs auch in Deutschland einging. Doch führt die deutsche Übersetzung von le dispositif in das Dispositiv zu bestimmten Schwierigkeiten im Verständnis dieses Terminus. So bezeichnet Dammann das deutsche Wort als einen „Fall einer Nicht-Übersetzung“ (ebd., S. 5) und führt dies an Max Loosers Übersetzung „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“ (Baudry 2003b11) aus. Das französische Wort dispositif ist, so Dammann, seit der Neuzeit im Umlauf und dem allgemeinen französischen Wortschatz zuzurechnen. Es hat hier ein breites Bedeutungsspektrum – u.a. kann es übersetzt werden mit „‚Vorrichtung‘, ‚Apparat‘, ‚Mechanismus‘, ‚Anordnung‘, ‚Aufstellung‘ und ‚Vorkehrung‘“ (Dammann 2002/2003, S. 6). Die LeserInnen des französischen Texts könnten in der Frage nach dem gemeinten Sinn auf diese breite Skala der Bedeutungen von le dispositif zurückgreifen. Der große Duden verzeichne das deutsche Wort Dispositiv hingegen erst seit Mitte der 1990er Jahre (vgl. ebd., S. 4). Dammann wirft die Frage auf, welche Konsequenz die Nicht-Übersetzung des französischen le dispositif in der Umwandlung in den Neologismus das Dispositiv haben kann. In Baudrys Text erhalte der Terminus ein Gewicht, den dieser im Französischen nicht habe – hätte man ihn übersetzen wollen, hätte sich, ganz schnöde, Vorrichtung angeboten. Stattdessen suggeriere Dispositiv, mit dem Begriff selbst sei bereits Grundlegendes über den Gegenstand ausgesagt.12 Die LeserInnen des deutschen Texts stünden jedoch zugleich vor einem „Lexem als Tabula rasa“ (ebd., S. 6) und könnten „die Erschließung des Sinns allein vom Kontext der Verwendung her in Angriff nehmen“ (ebd.). Wobei sich aufgrund der bisherigen lexikalischen Leerstelle eben keine möglichen sinnerschließenden Reibungspunkte zwischen der tradierten Verwendung und dem neuen Verwendungszusammenhangs ergeben könnten.13 Dammann hält 11 | 1994 erstmals erschienen in Psyche– Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen (48. Jg., Heft 11, S. 1047-1074); im Folgenden kurz: „Das Dispositiv“. 12 | Als Beispiel bringt Dammann (2002/2003) etwa Paechs Rede davon, Baudry habe einen neuen Begriff in die Debatte eingeführt (vgl. Paech 1997). 13 | So wird es Foucault-informierten LeserInnen etwa naheliegen, dessen Bestimmungen des Dispositivs mit Baudrys Terminus abzugleichen (also sich den Sinn des Terminus Dispositiv über diesen Kontext seiner Verwendung zu erschließen). Doch in Foucaults Schriften wird der Begriff ebenfalls erst ab 1976 mit dem Erscheinen von „Histoire de la sexualité – La volonté de savoir“ (Foucault 1976) zentral. Man kann demnach nicht unbedingt

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fest: Der Terminus das Dispositiv ist so mit „enormer Aura belegt und zugleich völlig leer, unbeschrieben, beschreibbar aber nun doch, Beschreibbarkeit geradezu anbietend“ (ebd., S. 6). So beklagt Dammann, dass die „deutsche Karriere“ des Terminus „unter einer Heuristik“ stehe, „die auf das freie Etymologisieren setzt“ (ebd.). Diese von Dammann in Bezug auf den Terminus Dispositiv festgestellte Gleichzeitigkeit einer Aura von Gewichtigem und gleichzeitiger Leere betrifft meiner Auffassung nach nicht allein den Terminus Dispositiv, sondern den gesamten Text – sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch in der Darstellungsweise. Diese Gleichzeitigkeit ist in Verbindung zu bringen mit der von mir eingangs skizzierten Ambiguität der Quasi-Formulierungen. Diese ist also, wie ich im Folgenden zeigen werde, ein wesentlicher Zug des gesamten Texts14 – und zwar nicht allein der deutschen Übersetzung, sondern auch der französischen und englischen Fassungen. Aber in der deutschen Fassung ist die Ambiguität sehr wohl potenziert – ein Grund für mich, eben diese zu meinem Untersuchungsgegenstand zu nehmen. Reizt diese Gleichzeitigkeit Dammann zufolge ‚freies Etymologisieren‘ (s.o.) an, so lässt sich dies auch als ein Anreiz zum Übersetzen (vgl. Einführung) verstehen. Die Frage, die in diesem Abschnitt noch im Hintergrund steht, aber im nächsten zentral sein wird, ist: Inwiefern stellt gerade Nebulöses von Baudrys Text einen Köder dar und inwiefern setzt sich in dessen Konzeption darin auch die Wirkungsweise eines unheimlichen Moments in der Kulturindustrie fort? Eben jene Gleichzeitigkeit von Fülle (vielleicht auch: Überfülle) und Leere betrifft, das ist die These, einen Umschlagspunkt in der Beziehung von Subjekten zu kulturindustriellen Produkten. An diesem Umschlagspunkt erweisen verschmelzende Umhüllungen in bedrohlicher Weise ihre Kehrseite. Das Unheimliche erweist sich als ein spezifischer Ausläufer (vgl. Gast 2009; 2011b) von Ambivalenzen, die für das spielerische Moment kulturellen Erlebens konstitutiv sind (vgl. I.4). davon ausgehen, dass Baudry sich an Foucault orientierte – wenngleich Ähnlichkeiten der theoretischen Konzeptionen damit gleichwohl nicht ausgeschlossen sind. In den Medienwissenschaften hat der Begriff seither deutliche Verschiebungen erfahren – auch in Abgrenzung zur Apparatustheorie wird heute davon gesprochen, dass aktuelle Fassungen des Terminus „dem Zuschauer eine sehr viel höhere Autonomie in der Rezeption der medialen Produkte“ (Kirsten 2006, S. 8) zugestehen. 14 | Ein Charakteristikum, was selten angesprochen wird – wenn überhaupt, dann in Form des Hinweises, der Text sei schwer verständlich. Ich denke, dies hängt eben damit zusammen, dass auf große Zusammenhänge hingewiesen wird und diese zugleich im Dunkeln gelassen werden. Was dem Text im Ganzen eine gewisse mystische Aura verleiht (s.o.). Zusammenfassungen in der Sekundärliteratur haben häufig die Tendenz, dem Text eine größere Klarheit in seinen Aussagen zuzuschreiben als sie im Text vorhanden ist. Verlangt dieser Text in besonderem Maße eine Deutung von seinen LeserInnen, so ist doch auffällig, wie wenig Ausdeutung sein nebulöser Charakter selbst bisher erfahren hat.

Baudrys Formulierung Quasi

Freud verbindet das Unheimliche auch mit der „Wiederholung des Gleichartigen“ (Freud 1919h, S. 249) – es wird zu sehen sein: Im Sinne einer Rückkehr zu einer vorherigen Befriedigung beschreibt auch Baudry die Kinosituation als eine der Wiederholung. Doch glatt verläuft diese Darstellung nicht.

2.  In Überlagerung: Vagheit und Gewissheit Nicht allein der Terminus Dispositiv als ein Fall von Nicht-Übersetzung, sondern auch bestimmte andere Phrasen und Wendungen erzeugen in der deutschen Übersetzung eben jenen Eindruck, dass hier Bedeutsames von großem Gewicht angesprochen ist, die Bedeutung aber letztlich im Dunkeln bleibt – was die LeserInnen eben zur Sinnzuschreibung im Sinne Dammanns herausfordern mag. So ist der Text durchzogen von einem Gestus, in dem sich Vagheit und Gewissheit mischen, mit dem Baudry die Höhle, das Kino und den Mutterleib in Verbindung mit dem Unbewussten bringt. Zu Beginn setzt Baudry Platons Höhlengleichnis (Platon 2004, S. 420ff.) mit Freuds Auffassung des psychischen Apparates in Beziehung. Er wirft die Frage auf: „Läßt sich aber die Höhle des Philosophen nicht jener anderen Szene überlagern, nämlich der des Unbewußten?“ (Baudry 2003b, S. 42; Herv. S. W.). Die Antwort lautet: „Gewiß doch.“ (Ebd.) Die anschließende Begründung hat im Gegenzug einen weniger klaren Charakter: „Denn es handelt sich ja um ein Dispositiv, um eine metaphorische Beziehung zwischen Orten, oder um eine Beziehung zwischen metaphorischen Örtern, um eine Topik, deren Kenntnis sowohl für den Philosophen als auch für den Analytiker einen Bezug zur Wahrheit oder zum Trug festlegt, oder auch zur Illusion, mithin auch notwendigerweise um die Berufung auf eine Ethik.“ (Ebd.) Es ist eine Begründung mit Kategorien von schwerem Gewicht – mit diesem Vergleich scheint Großes aufgemacht und wichtige Beziehungen aufgetan zu sein. Das Nebeneinander von festen Aussagen (Gewiss doch – der Vergleich lässt sich anstellen) und einer gewissen Unbestimmtheit der Verknüpfungen und Vergleiche ist insgesamt charakteristisch für diesen Text. Werden hier die sogenannte Szene des Unbewussten und die der Platonschen Höhle als Metaphern gehandelt, so verweisen sie als solche auf anderes. Bringt man, so Baudry, beide Metaphern zusammen (überlagert man sie), so werde ein Bezug zur Wahrheit, zum Trug, zur Illusion gestiftet. Eine Ethik soll auch noch mit im Spiel sein. Es bleibt doch unklar, auf welcher Ebene sich diese Bezüge befinden. In diesem im Vagen bleibenden Bezugssystem werden der Philosoph und der Analytiker platziert. Die Bezüge, die an dieser Stelle vom Text angedeutet werden, werden nicht weiter ausgeführt, sondern als evident gesetzt. Den LeserInnen mag undeutlich bleiben, worin diese Zusammenhänge genau bestehen. Deren Sinn wird ihnen folglich offen bleiben. In Kontrast zu dieser Nicht-Geschlossenheit tritt der Gestus der Sicherheit, mit der der Text präsentiert, dass hier ein großer Sinnzusammenhang besteht. Der Vergleich von Höhle und der Szene

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des Unbewussten zum Auftakt hat, wie vieles im weiteren Textverlauf, einen nebulösen Charakter und vermittelt zugleich, dass sich dahinter Großes verberge. Ein Beispiel – Brauerhoch schreibt: „Baudry liest Platons Höhlengleichnis mit Freuds Traumdeutung und seiner Beschreibung des Unbewußten als einer quasi-räumlichen Anordnung“ (Brauerhoch 1996, S. 34; Herv. S. W.). Hier findet sich also in der Sekundärliteratur das Wörtchen quasi zusammengesetzt mit räumlich. Legt die Formulierung quasi-räumlich von Brauerhoch den Gedanken nahe, es handele sich beim Unbewussten um eine Anordnung, die räumlich vorgestellt werden kann, aber kein tatsächlicher Raum ist, so korrespondiert dies mit dem Offenhalten in Baudrys Text, auf welcher Ebene sich die konstatierten Verbindungen befinden: Überlagern sich hier Metaphern für Orte oder metaphorische Orte (s.o.)? So ungewiss der Text die Ebene hält, so gewiss macht er: Dass wir es mit sich überlagernden Räumlichkeiten zu tun haben. Die Konstellation von Vagheit und Gewissheit kann so als Köder für die LeserInnen dienen, insofern mit dieser auch ein Versprechen verbunden ist: Vielleicht wird sich die Gewichtigkeit der im Vagen gelassenen Bezüge im weiteren Verlauf des Texts noch offenbaren.

3. Abbrüche An einer kurz darauf folgenden Textstelle lässt sich eine weitere Funktion des Nebeneinanders von Vagheit und Gewissheit gut aufzeigen. Baudry knüpft hier an Freuds Verwendung von optischen Metaphern in „Die Traumdeutung“ (Freud 1900a) an und zitiert eine längere Passage, in der Freud zur Beschreibung des psychischen Apparats u.a. ein Mikroskop, ein Fernrohr und einen Fotoapparat zum Vergleich heranzieht.15 Dieses Zitat wird von Baudry in den Dienst genom15 | Das vollständige Zitat lautet: „Die Idee, die uns so zur Verfügung gestellt wird, ist die einer psychischen Lokalität. Wir wollen ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl. Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines Apparats, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist. Für die Unvollkommenheiten dieser und aller ähnlichen Bilder Entschuldigung zu erbitten, halte ich für überflüssig.“ (Freud 1900a, S. 541; Herv. S. W.) In „Das Dispositiv“ ist das Zitat falsch wiedergegeben – es heißt hier: „Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb des Apparats“ (Baudry 2003b, S. 42; Herv. S. W.). Die Ersetzung des unbestimmten Artikels markiert den Apparat hier als einen bestimmten Apparat – unterstrichen wird dadurch mehr als in der freudschen Formulierung die Vergleichbarkeit von optischen Apparaten und dem psychischen Apparat (s. u.). In der Traumdeutung heißt

Baudrys Formulierung Quasi

men, um die erkenntnisfördernde Qualität der aufgemachten Reihung Kino – Höhle – Unbewusstes zu unterstreichen. Baudry zitiert eine Passage bis zu einem Satz, in dem Freud eine Entschuldigung für die „Unvollkommenheit dieser und aller ähnlichen Bilder“ (ebd., S. 541) für überflüssig erklärt. Es folgt darauf ein Kommentar Baudrys, mit dem eine Brücke zu einem weiteren Zitat Freuds geschlagen wird. Diese Anordnung der durch den Kommentar verbundenen Zitate erfüllt im baudryschen Text eine bestimmte Funktion, die mit der Gleichzeitigkeit von Vagheit und Gewissheit korrespondiert. Die Textstelle liest sich ab dem zuletzt zitierten Satz aus der Traumdeutung folgendermaßen: „‚Für die Unvollkommenheit dieser und aller ähnlichen Bilder Entschuldigung zu erbitten, halte ich für überflüssig.‘ (Freud, 1900a, S. 541) So unzulänglich dieser Vergleich auch sein mag, Freud greift ihn vierzig Jahre später am Anfang des Abrisses der Psychoanalyse wieder auf: ‚Wir nehmen an, daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl.‘ (Freud, 1940a, S. 67).“ (Baudry 2003b, S. 43)

Das erste lange Zitat aus der Traumdeutung belegt zunächst, dass Freud selbst qua eines Vergleichs des psychischen Apparats mit einer „optischen Metapher“ (ebd.) seine Erkenntnisse über das Unbewusste darstellt. Mit dem zweiten Zitat aus dem „Abriß der Psychoanalyse“ (Freud 1940a) untermauert Baudry die Legitimität des Vergleichs. Der eingeschobene Kommentar legt nahe: Die Tatsache, dass die Metaphern sich in einem vierzig Jahre älteren Text wiederholen, bürgt für deren Brauchbarkeit. So wird auch Baudrys vorhergehende Annahme untermauert, dass „[g]ewiß doch“ (Baudry 2003b, S. 42, s.o.) zwischen der Örtlichkeit des Unbewussten und optischen Apparaten eine gewichtige Beziehung bestehe. In der wortwörtlichen Wiederholung von Freuds Vergleichen wird Baudrys eigene Analogie von optischem und psychischem Apparat mit der Autorität der freudschen Texte fundiert. In Baudrys Kommentar wird Freuds Formulierung Unvollkommenheit in Unzulänglichkeit umformuliert. Mit dieser Umwandlung ist auch die Frage implizit eingeführt: Sind die Übereinstimmungen möglicherweise zu vage, um aus ihnen Erkenntnis zu gewinnen? Die Abfolge der Freud-Zitate und dem Kommentar legen folgende Antwort nahe: Nicht nur eine Entschuldigung für diese Unzulänglichkeit, sondern auch der Hinweis auf diese selbst erscheint überflüssig (im Sinne es auf der nächsten Seite: „Streng genommen brauchen wir die Annahme einer wirklichen räumlichen Anordnung der psychischen Systeme nicht zu machen.“ (Freud 1900a, S. 542) Die Tragfähigkeit des Vergleichs, um die es Baudry an dieser Stelle geht, wird im freudschen Text im Vergleich zu Baudrys Darstellung ungleich offener gehalten.

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von nicht weiter beachtenswert). Denn, so Baudrys Kommentar, Freud greift diesen Vergleich Jahre später auf. Die baudrysche Argumentation verwendet also das Zurückkommen auf diesen Vergleich als Stütze der Annahme von dessen Tragfähigkeit. Berichtet der baudrysche Text von dieser Wiederholung im freudschen Werk, dann vollzieht er damit selbst eine Wiederholung der Wiederholung: Zitiert wird der Vergleich und dessen Wiederkehr. Der Akt der Wiederholung in Baudrys Text lässt die Wiederholung des Vergleichs in Freuds Schriften als Zeugnis der Aussagekraft erscheinen: Der Vergleich zwischen einem optischen und dem psychischen Apparat macht Sinn – Unzulänglichkeiten, d.h. Abweichungen tun dem keinen Abbruch. So lenkt Baudrys Text den Fokus auf die Stellen, an denen die Bilder passen – und markiert diejenigen, an denen sich Unpassendes, Bruchstellen zeigen könnten, als nicht weiter bemerkenswert. Das heißt aber: Die Behauptung der Tragfähigkeit des Vergleichs kommt nicht als prompte Behauptung daher. Baudry hätte den letzten Satz des Zitats aus der Traumdeutung ja auch weglassen können – er wird aber einbezogen. Thematisiert wird auf diesem Wege die Möglichkeit von unpassenden Aspekten in dem vorgenommenen Vergleich. Dass der Vergleich gleichwohl von Freud wieder aufgenommen wird, wirkt hier als Stütze der Tragfähigkeit des Vergleichs. Doch sind damit weder dieser noch die für den Text außerdem relevanten Vergleiche im weiteren Verlauf des Textes absolut abgesichert. Wie nun zu sehen sein wird, werden auch weitere Überlagerungen nur unter Vorbehalt konstatiert.

4. Bewegungslos An späterer Stelle im Text kommt Baudry auf die thematisierte Unzulänglichkeit des Vergleichs zurück und bekräftigt erneut, dass sich vorrangig aus den sich überlagernden Aspekten Erkenntnis gewinnen lasse: „Wie wir gesagt haben, entspricht die platonische Topik nicht in allen Einzelheiten der Freudschen Topik und kann ihr auch nicht genau entsprechen, und wenn es auch ohne Zweifel interessant sein kann, die Verschiebungen der einen Topik gegenüber der anderen aufzuzeigen [...], so ist es doch noch viel wichtiger zu erfassen, was die Aussage des idealistischen Philosophen gegen seinen Willen quält; die Wahrheit, die er ankündigt und die zwar ganz anders ist als die, die er auszusprechen glaubt, die ihr aber innewohnt.“ (Ebd., S. 45) Im Höhlengleichnis also soll mehr stecken, als Platon selbst mit diesem aussagen wollte – eine Wahrheit über das Kino, gewonnen aus einer Analogie von Kino und Höhle. An dieser Stelle zeigt sich erneut ein Zusammentreffen von Vagheit und Gewissheit. Zunächst wird die Frage aufgeworfen, ob es „nicht merkwürdig“ sei, dass Platon sich in seinem Höhlengleichnis „ein Dispositiv vorstellt oder zu Hilfe nimmt, welches im Prinzip das Dispositiv des Kinos und die Situation des Zuschauers nicht nur evoziert, sondern überaus genau beschreibt“ (ebd.; Herv. S. W.). Die Formulierung Im Prinzip […] überaus genau ist in diesem Satz doppeldeutig. Geht

Baudrys Formulierung Quasi

es darum, dass überaus genau mit dem Prinzip der Höhle auch das des Kinos beschrieben wäre? Oder ist gemeint, dass Platons Höhle im Prinzip das Kino überaus genau beschreibt? Im ersten Fall wäre eine präzise Beschreibung eines Prinzips gemeint – im anderen Fall würde die Formulierung im Prinzip dem Satz die Note einer gewissen Vagheit bezüglich der Genauigkeit der Entsprechung von Höhle und Kino verleihen.16 Die Überlagerung von Kino und Höhle wird nun erweitert um die Figur der Mutter. Auf diese Weise wird jene erneut mit einer Wiederholungsfigur auf inhaltlicher Ebene grundiert: In all diesen Situationen wiederhole sich ein Wunsch nach Wiederholung der Situation zu Beginn des Lebens. Ich betrachte Baudrys Vorgehen in diesem Zusammenhang nun näher. Die Höhle ist unterirdisch und finster, es gibt einen Zugang nach draußen, durch den kaum Licht hereinkommt. Baudry nimmt zunächst Platons Beschreibung der Ankunft des von draußen kommenden Philosophen in der Höhle auf. Der Philosoph stolpert „[w]ie blind, ‚mit verdorbenen Augen‘“ (ebd.) und bringt den Höhleninsassen die Botschaft, dass es ein Draußen gibt. Die „Gefangenen-Zuschauer“ (ebd.) verlachen ihn und schenken ihm keinen Glauben. Sie selbst sind „zur Unbeweglichkeit verurteilt“ (ebd.) und kennen die Welt außerhalb der Höhle nicht. Auch wenn man ihre Fesseln lösen würde, so Baudry, würden sie sich weigern, die Höhle zu verlassen und gegenüber dem Philosophen „einen solchen Widerstand auf bringen, daß sie ihn schließlich umbringen würden“ (ebd., S. 46). Die zentrale Frage für Baudry ist hier: Hindert sie „Zwang oder Lähmung“ (ebd., S. 45) daran, die Höhle zu verlassen? Baudry entnimmt Platon: Eine zunächst durch äußeren Zwang erwirkte „motorische Hemmung“ (ebd., S. 46) setzt sich fort oder es schreibe sich „zumindest die Tendenz zur Wiederholung, zur Rückkehr in den alten Zustand“ (ebd.) fest. Um das Kino zu verstehen, sei dieser Aspekt „vielleicht nicht nutzlos“ (ebd.). In dieser Formulierung unter Vorbehalt wird den LeserInnen eine Fährte gelegt: Der Text steuert auf die Annahme zu, dass dieser bewegungslose Zustand in der Höhle von den Insassen gewünscht wird, dass also die physische Fixierung durch die Fesseln nicht der entscheidende Punkt sei. Diese Annahme wird zunächst in Form einer vagen Vermutung eingebracht, an deren Stelle sogleich eine starke Behauptung tritt: Die Situation in der Höhle entspräche der des Neugeborenen. „Zweifellos“ (ebd.) sei die erzwungene Bewegungslosigkeit ein zentrales Element in Platons Gleichnis, welches auf den Zustand der Unbeweglichkeit des Neugeborenen bezogen werden könne. Diese „erste Unbeweglichkeit“ (ebd.) gehe Platons Konstruktion der Höhle vorweg, dieser habe diese Situation „nicht erfunden“ (ebd.). Als Wiederholungssituation könne die Bewegungslosigkeit „vielmehr […] die erzwungene Unbeweglichkeit des Neugeborenen bezeichnen, dem die motorischen Hilfsmittel fehlen, sowie

16 | Wenn zum Beispiel versichert wird: Im Prinzip habe ich das schon erledigt – bedeutet dies, dass die Sache eben nur fast erledigt ist.

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die ebenfalls erzwungene Unbeweglichkeit des Schlafenden, der bekanntlich den nachgeburtlichen Zustand oder gar das intrauterine Leben wiederholt, aber es ist auch die Unbeweglichkeit, die der Besucher des dunklen Saals wiederfindet, der sich in seinen Sessel vergraben hat“ (ebd.). Über die Bewegungslosigkeit wird eine Kette aufgemacht: von der Höhle zum Säugling zum Schlafenden zum Kinopublikum. Vor dem Hintergrund der vorherigen These, die Situation in der Höhle zeuge von einem Wunsch nach Rückkehr in einen bewegungslosen Zustand, ergibt sich nun: Die früheste Situation gibt den Ausschlag – hier entspringt Baudry zufolge der Wunsch nach einer Rückkehr zu dieser, von dem auch die Höhle und das Kino zeugen. Die Fesselung in der Höhle entspricht demnach einer „tatsächlichen Realität in der Entwicklung des Individuums“ (ebd.). Hieran schließt sich eine weitere Frage an: Inwiefern hängt die Bewegungslosigkeit mit der Spezifik der Wahrnehmungssituation zusammen? Ist die Bewegungslosigkeit „einer der Gründe für den Verwirrtheitszustand, in den sie gestürzt wurden und der sie Bilder und Schatten für real halten läßt“ (ebd.)? Wieder übt der Text zunächst Zurückhaltung: „Wir wollen aus Platon nicht zuviel ableiten, auch wenn wir ihn etwas mehr darüber sagen lassen wollen. Dennoch: […]“ (ebd.). Es folgt ein Zitat von Platon, indem es heißt, die Gefangenen seien von Kindheit an gefesselt und zwar derart, dass auch ihr Blickfeld eingeschränkt werde. Den Blick nach vorn auf die Höhlenwand gerichtet, können die Gefangen sich nicht zur Lichtquelle in ihrem Rücken umdrehen. Folgendes leitet Baudry aus dieser Beschreibung ab: „Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten“ (ebd.). Das Also verleiht dem Satz den Charakter einer Schlussfolgerung. Unter dem Vorbehalt, sich nicht allzu sehr auf Platon stützen zu wollen, wird abschließend an dessen Höhlen-Beschreibung festgehalten, was auf das Kino übertragbar scheint: „Sie sind an die Projektionsfläche gebunden, gefesselt, angekettet – eine Beziehung, eine Verlängerung zwischen ihr und ihnen, die mit ihrer Unfähigkeit zusammenhängt, sich von ihr fortzubewegen. Sie ist der letzte Anblick, bevor sie einschlafen.“ (Ebd. S. 47) Der Schlaf, die Höhle, das Kino, die eingeschränkte Motilität zu Beginn des Lebens – all diese Situationen sind nun einander überlagert und ineinandergeschoben. Begründet wird die vom Text hergestellte Verbindung zwischen diesen Orten oder Situationen damit, dass sich hier eine „Tendenz zur Wiederholung, zur Rückkehr in den alten Zustand“ (ebd., S. 46; s.o.) zeige. In dieser erweise sich die Bewegungslosigkeit als eine Bedingung für die Verschlingung des unbewussten Wunsches mit einer projizierten Realität, die für real genommen werde. Die vom Text vorgenommenen Überlagerungen werden unter Vorbehalt präsentiert – vielleicht nicht nutzlos, nicht zuviel aus ihnen ableiten. Man kann auch sagen: In Differenz zu dem, was für die Höhle und das Kino gelten soll, offeriert der Text seine dargelegten Einsichten nicht als unverrückbare Eindrücke. Während der Beschreibung nach die Gefangenen vor der Projektionsfläche „gebunden,

Baudrys Formulierung Quasi

gefesselt, angekettet“ (ebd., S. 47; s.o.) sind, präsentiert der Text die in Platons Höhlenkonstruktion liegende „Wahrheit“ (ebd., S. 45; s.o.) als eine, die möglicherweise auf wackeligen Füßen steht. Die Gefangenen in der Höhle verweigern sich, so unterstreicht Baudry in seinem Rekurs auf das Höhlengleichnis, gerade dieserart Erkenntnis. Geschildert wird ihr Widerstand gegen die Botschaft des Philosophen, es handele sich bei den Schatten um Abbilder und nicht um die realen Objekte. Hiervon ausgehend analysiert Baudry die an die Höhlenwand geworfenen Schatten – diese arbeiteten ihrerseits der Fesselung der Gefangenen an ihren Irrglauben zu, insofern sie aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit einen homogenen Eindruck erwirkten. Der ambigue Gestus des Texts im Zugleich von Vagheit und Gewissheit steht demnach in Kontrast zu der zweifelsfreien Gewissheit, die den Gefangenen in der Höhle zugeschrieben wird. Die vom Höhlenapparat produzierte homogene Illusion schützt Baudry zufolge das Dispositiv selbst vor dem möglichen Aufkommen von Zweifel, der die Gefangenen dahin bringen könnte, den Mechanismus zu erkennen. An dem Verhältnis von Ton und Bild in der Höhle entwickelt Baudry im Wesentlichen den bruchlosen Charakter des Bilds selbst. Der von diesem erzeugte „Totaleffekt“ (ebd., S. 48) ist ihm wesentliches Charakteristikum der Kinoerfahrung.

5.  Der Totaleffekt: Verschmelzung von Schatten und Stimmen Auch bezüglich der Bildgenerierung wird also die Höhle als Vorbild für das Kino genommen. Platon spiele, indem er eine in verschiedener Hinsicht künstliche Anordnung konstruiere, „auf den Projektionsapparat an“ (Baudry 2003b, S. 47). Diese Anordnung sieht vor: Im Ausgang der Höhle brennt ein Feuer, weiter ein Stück in die Höhle hinein befindet sich eine Mauer. Hinter dieser versteckt veranstalten einige Personen mit Puppen und Gegenständen ein Schauspiel, deren Schatten die Höhleninsassen auf der Wand sehen. Es geht Baudry um eben diesen Auf bau: die Lichtquelle ist nicht das natürliche Licht, die Mauer verdeckt die „Kameraleute“ und „Bühnenarbeiter“ (ebd.), die Gefangenen sehen Schatten von Puppen, also Nachbildungen. Wichtig ist für Baudry, dass dieser Auf bau in sich geschlossene Bilder produziert, insofern diese ihre Herkunft verbergen. Durch die Platzierung des Feuers weit entfernt am Höhleneingang werden nicht die Schatten der Gefangenen selbst, sondern allein die der Puppen und Gegenstände auf die Wand geworfen. Die Kameraleute und Bühnenarbeiter sind demnach von der Mauer verborgen. Wenn auf der Höhlenleinwand Puppen und die Marionettenspieler oder auch die Gefangen selbst erscheinen würden, würde das Bild als Schattenbild kenntlich werden – und das hieße, so Baudry: Es würde kein homogenes Bild entstehen. Wenn sich die Spieler „nämlich mit den Objekten verbinden würden, die sie vor dem Feuer vorüberziehen lassen, würden sie ein heterogenes Bild projizieren, das sehr wohl den Realitätseffekt zunichtemachen könnte, den sie hervorbringen wollen: Sie würden den Verdacht der Gefangenen

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erwecken und diese aufwecken“ (ebd.). Das im „Projektionsapparat“ (ebd.) Höhle produzierte Bild gibt demnach den Zuschauern keinen Anlass zum Zweifel an dessen Realitätsstatus. Alle Elemente im Bild, welches auf der Höhlenleinwand erscheint, befinden sich Baudrys Auffassung nach auf ein- und derselben Realitätsebene. So sei eben das „Seltsamste“ (ebd.) an Platons Konstruktion, dass den Gefangenen keine „direkten Schatten der Realität“ präsentiert werden, „sondern bereits ein Abbild von ihr“ (ebd.). Dieser weitere Grad der Verkünstlichung ist für Baudry absolut zentral. Platons Auf bau der Höhle siedele die projizierten Dinge noch einen Schritt weiter weg von einer einfachen Verdopplung an: Präsentiert werden keine Schatten von realen Objekten, sondern Schatten von Bildern und Artefakten (z.B. Puppen). Operiert werde bei dem Schauspiel mit Puppen, Gefäßen, Bildsäulen und Bildern, „die an Scheinobjekte der Filmstudios denken lassen, an die Dekoration aus Pappmaché, wenn es nicht in erster Linie um ihren Eindruck ginge, der vor dem Feuer wie ein Film abläuft“ (ebd.). Dem Ton wird demgegenüber eine gewisse Sperrigkeit attestiert, dennoch sei auch dieser in den bruchlosen visuellen Eindruck integriert. Der Ton erfüllt Baudry zufolge die Funktion, den Realitätseindruck zu komplettieren. Stehe dieser auch grundsätzlich in anderem Verhältnis zum Realen als die Bilder, würden im höhlenspezifischen Realitätseindruck beide auf der gleichen Realitätsebene verortet. Das bedeutet, der Ton fügt sich Baudry zufolge in den bruchlosen visuellen Eindruck ein – Ton und Bild sind ineinandergeschoben.17 Die dieser Argumentation vorausgesetzte Annahme ist: Die Geschlossenheit des Eindrucks sei nur dann gewährleistet, wenn der Ton auf derselben Realitätsebene wie die Bilder angesiedelt ist. Ton und Bild müssen einander zugewiesen werden, d.h. es muss demnach der Anschein entstehen, die Tonquelle befände sich im Bild. So stellt Baudry zunächst fest: „Was fehlt ist nur noch der Ton, der schwieriger wiederzugeben ist. Nicht nur das: schwieriger nachzuahmen, ihn funktionieren zu lassen wie ein Bild, wenn es um das Sichtbare geht“ (ebd.). Den „reale[n] Stimmen“ (ebd., S. 48) – etwa von an der Höhle Vorübergehenden oder von den Bühnenarbeitern – fehle im Vergleich zu den Schattenbildern (die als Verdopplungen von Verdopplungen bestimmt sind) „ein Zwischenglied im Realitätsbezug“ (ebd.). Während der Schatten Abbild eines Abbilds von realen Objekten ist, gibt es, wie Baudry unterstreicht, vom Ton kein Bild. Der Ton bleibe insofern stets an seine Quelle gebunden. Auch wenn man ihn aufnähme und wiedergäbe, höre man im Kino „genau wie bei allen anderen sprechenden Maschinen nicht ein Bild der Töne […], sondern die Töne selbst“ (ebd.). Mit anderen Worten: Eine Nachbildung, ein Bild von Tönen lässt sich, so Baudry, nicht erzeugen. „Die Verfahren der Aufzeichnung und der Wiedergabe können die Töne zwar verzerren, doch diese werden reproduziert, wiedergegeben, und nicht nachgeahmt.“ (Ebd.) Ton 17 | Wie ich im vorhergehenden Kapitelabschnitt gezeigt habe, ist auch in Leblancs Text „diréction“ (1969) das Motiv des Ineinander-Schiebens von Ton und Bild mit der Beschreibung eines narkotisierten, gelähmten Publikums verbunden (vgl. II.2).

Baudrys Formulierung Quasi

und Bild stehen demnach in der Höhle in differentem Bezug zur Realität: Bilder ahmen nach, Töne nicht. Die Stimme verfalle von sich aus – im Unterschied zum Bild – nicht „dem Spiel der Illusion, der Verwirrung zwischen dem Realen und seiner Darstellung – weil sie sich nicht darstellen lässt“ (ebd.). Doch führt dies laut Baudry in der Höhle keineswegs zu Unstimmigkeiten zwischen Ton- und Bildebene. Vielmehr würden die Töne als Teile des Dispositivs eingespannt in die Illusion: „Wenn im Realitätsbezug ein Zwischenglied fehlt, so wird dies durch das Dispositiv dadurch korrigiert, daß es sich des Echos bemächtigt und sich die nur zu realen Stimmen einverleibt.“ (Ebd.) Die Stimme (und Töne überhaupt) seien „in eben dem Maße integriert […], wie es [das Dispositiv] einen Totaleffekt beansprucht“ (ebd.). Auf diese Weise entstehe kein Bruch des geschlossenen Bildes, der Ton erscheint in dem vom Apparat erzeugten Eindruck als dem Bild zweifellos zugehörig: Es scheint, als sprächen die Schatten. Im Eindruck der Gefangenen verschmelze der Widerhall der Töne von draußen mit den Schatten der Simulakren im Innersten der Höhle. Laut Baudry ist somit auch der Ton bruchlos integrierbar: In der Ungeschiedenheit des Realitätseindrucks verschlingen sich zwei verschiedene Formen der Täuschung. Die Illusion bezüglich des Bildes und des Tons finde je in Bezug auf anderes statt: Während der artifizielle Charakter der (bildlichen) Schatten vollends verkannt werde, bestehe die Täuschung hinsichtlich des Tons darin, dass die Töne zwar realitätsgerecht als reale Töne wahrgenommen würden, nur würde ihre reale Quelle fälschlicherweise im Bild gesehen. Die Illusion beziehe sich „nur auf die Quelle ihrer Herkunft […], nicht auf ihre eigene Realität“ (ebd.). Baudrys Annahme einer für den Totaleffekt wesentlichen Verschmelzung von Ton und Bild auf ein und derselben Realitätsebene führt nun zu seinem wesentlichen Argument, welches bereits aus der Apparatusdebatte bekannt ist (vgl. II.2): Der Realitätseindruck verdankt sich nicht einer realitätsgetreuen Darstellung, sondern der Eindruck des realen Charakters des Wahrgenommenen wird durch den vom Apparatus vermittelten homogenen Anschein produziert. Das „Höhlengleichnis“ trage zum Verständnis bei, denn Platon insistiere „nachdrücklich auf dem artifiziellen Aspekt der reproduzierten Realität. Es ist gerade das Dispositiv, das die Illusion erzeugt, und nicht die mehr oder weniger genaue Nachahmung des Realen: Die Gefangenen sind von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, und somit ist es nicht diese oder jene reproduzierte Einzelheit der Realität, zu der sie keinen Zugang haben, die sie dazu veranlaßt, die Illusion – deren Ziel sie sind – für realer zu halten [...].“ (Ebd.; s.o.) Da den Gefangenen die Außenwelt unbekannt sei, könne die Überzeugungskraft des Realitätseindrucks kaum auf die getreuen Übereinstimmungen zwischen realen Objekten und deren Nachbildungen zurückzuführen sein. Baudry bestimmt somit den Realitätseindruck an dieser Stelle als eine durch den und in dem Apparat gestiftete Beziehung von Tönen und Bildern, die für das Publikum in ein und demselben Existenzmodus verschmelzen. Es handelt sich demnach um eine durch den Apparat erzeugte Homogenität, d.h. um eine

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durch das Dispositiv erzeugte Gleichrangigkeit und Verschmelzung heterogener Elemente, die wesentlich auf einem Entzogensein der Szene hinter der Szene beruht – im Kino wie in der Höhle. Um nun einen theoretischen Einblick in diese dahinterliegende Szene zu bekommen, schlägt Baudry vor, Platons Konstruktion eine weitere zu unterlegen: „Aber wäre es nicht zunächst notwendig, eine andere weltabgeschiedene, unterirdische Szene aufzubauen, sie kurz gesagt so zu konstruieren, als ob sie existierte oder als ob diese Konstruktion auch dem Wunsch entspräche, eine ähnliche Szene zu vergegenständlichen – ein Dispositiv, das eben in der Lage wäre, einen Realitätseindruck herzustellen?“ (Ebd.) Wie so häufig in diesem Text ist diese Frage keine wirkliche Frage, sondern eine in Frageform eingeführte These: „Welcher Wunsch sollte im Spiel sein“ (ebd., S. 49)? Platons Höhlenkonstruktion zeuge von der Interferenz von unbewusstem Wunsch und filmischem Realitätseindruck. Die Annahme der Existenz dieses Wunsches wird hier als eine notwendige Konstruktion eingeführt. Eine Konstruktion kann ein Hilfsmittel sein – z.B. in Form einer Planung, deren Güte sich im Nachhinein an ihrer Umsetzbarkeit messen lässt oder auch ein Gedankenexperiment, mit dem mögliche Verbindungen auf Probe durchgespielt werden. Ein Gedankenexperiment muss nicht zwingend zutreffend in seinen Aussagen sein. Der Text präsentiert den LeserInnen eine Quasi-Argumentation in eben diesem doppelten Sinne. Was nun folgt, wird als eine Konstruktion im Als-Ob-Modus angekündigt – diese tritt als nicht unbedingt belastbar und zugleich als notwendig auf. Diese Annahme besagt, dass Platons Konzeption der Höhle und deren technisch-optimierter Nachfolger das Kino Manifestationen des unbewussten Wunsches sind, der in dem von diesen Apparaten erzeugten Realitätseindruck seine Erfüllung findet. Der von der Höhle oder vom Kino offerierte Realitätseindruck wäre in diesem Sinne, so greift Baudry den Gedanken erneut auf, „Ersatz für die Sehnsucht nach einem verlorenen Eindruck“, nach einer „Welt, ‚die keine Zeit kennt‘“ (ebd.). Es ist wieder der Mutterleib, auf den Baudry hier zu sprechen kommt.

6.  Es ist ganz anders in unterirdischen Lokalitäten Es sei nun „zweifellos zutreffend“ (Baudry 2003b, S. 50), dass die unterirdische Lokalität der Höhle „eine Darstellung des Mutterleibs […], der Gebärmutter“ (ebd.) sei. Sein eigenes Erkenntnisinteresse aber ziele über diese Deutung18 des symbolischen Gehalts noch hinaus. Es gehe ihm um das „Dispositiv des Ganzen“ (ebd.), d.h. um die Frage, inwiefern dieses auf die „Wiederholung eines bestimmten Zustandes“ (ebd.) ziele und inwiefern hiermit die „Vorstellung eines bestimmten Ortes, von dem dieser Zustand abhängt“ (ebd.) verbunden sei. Die These ist also: Der unbewusste Wunsch nach Rückkehr zu einem vorhergehenden Zustand

18 | Baudry macht nicht kenntlich, auf wen er sich in diesem Zusammenhang bezieht.

Baudrys Formulierung Quasi

stellt sich in der Konstruktion der Höhle dar und in ihrer Assoziation mit dem Mutterleib. Insofern also unterlegt Baudry der Konstruktion Platons eine weitere (s.o.): Die unterirdische Lokalität der Höhle stelle in der Gesamtheit ihrer Anordnung „Mechanismen des Unbewußten“ (ebd., S. 51) dar. Baudry beruft sich hier auf einen Hinweis in der „Traumdeutung“, dass das Unbewusste im Traum häufig durch unterirdische Lokalitäten dargestellt werde, die wiederum auch mal den Frauen- oder Mutterleib bedeutet hätten (vgl. Freud 1900a, S. 414). Mit diesem Zitat stützt Baudry die Unterlegung der von ihm gespannten Kette von Lokalitäten mit dem Unbewussten: Höhle – Kino – Mutterleib Unbewusstes.

Wiederum in Frageform und damit wie unter der Hand wird die Annahme bekräftigt: „[W]enn man die philosophische Konstruktion als eine Rationalisierung des Drucks des Unbewußten, als Gewahren und Ablehnen von dessen Existenz betrachten kann, dann läßt sich fragen, ob es nicht das Unbewußte sei oder vielmehr bestimmte Mechanismen des Unbewußten, die dargestellt oder im Dispositiv der Höhle vorgestellt werden“ (Baudry 2003b, S. 51). Es lässt sich fragen, ob es nicht das Unbewusste sei. Die Zurückhaltung, mit der diese für den Text zentrale Annahme im Konjunktiv vorgebracht wird, wird auch im nächsten Satz fortgeführt. Der Charakter einer Konstruktion probehalber wird erneut betont: „In jedem Fall könnte man mit einer Paraphrase Fechners behaupten, die Szene der Höhle (des Kinos) sei vielleicht ganz anders als die des Vorstellungslebens im Wachzustand. Um über diese Szene etwas mehr zu erfahren, ist es vielleicht nicht ganz nutzlos, etwas länger bei der Traumszene zu verweilen.“ (Ebd.; Herv. S. W.) Die LeserInnen könnten In jedem Fall zunächst als Auftakt zu einer definitiven Aussage verstehen – z.B. der: In jedem Fall ist es das Unbewusste, welches sich in Platons Konstruktion darstellt. Aber der weitere Verlauf des Satzes im Konjunktiv gibt der Formulierung eine vage Note: In jedem Fall entlastet vielmehr die vorhergehende Überlegung. In jedem Fall lässt sich eher lesen als: So oder so, mag dem tatsächlich so sein oder auch nicht… Im Zuge dieser Zurücknahme der Gewichtigkeit der Annahme, dass es sich bei der Höhle um eine Darstellung des Unbewussten handelt, wird scheinbar eine bescheidenere Annahme präsentiert – die wiederum mit einem Fragezeichen versehen wird: Man könnte mit Fechner behaupten, „die Szene der Höhle (des Kinos) sei vielleicht ganz anders als die des Vorstellungslebens im Wachzustand“ (ebd.; Herv. S. W.; s.o.). Inhaltlich ist diese Spekulation jedoch keineswegs zurückgenommen, sondern für die Argumentation weitreichend und grundlegend. Zum einen überlagert Baudry im Zuge seiner Paraphrase kurzerhand Höhle und Kino mit dem Traum und erweitert damit entscheidend den Gegenstandsbereich, auf den sich Fechners Aussage bezieht. Der andere, noch entscheidendere Punkt ist folgender: Meiner Vermutung nach bezieht sich Baudry hier nicht nur auf Gustav Theodor Fechner, sondern

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er paraphrasiert auch eine Bezugnahme Freuds auf diesen in der „Traumdeutung“. Unmittelbar vor der vorherig zitierten Passage, in welcher der seelische Apparat mit Hilfe optischer Metaphern als eine psychische Lokalität beschrieben wird (vgl. Freud 1900a, S. 541f.), spricht Freud vom „große[n] G. Th. Fechner“ (ebd.) und beruft sich auf dessen Annahme, „daß der Schauplatz der Träume ein anderer sei als der des wachen Vorstellungslebens“ (ebd., S. 541). Im darauffolgenden Absatz folgt die von Baudry zitierte Passage. Kann man daher ein Nachklingen auch dieses Satzes in Baudrys Text annehmen, so fällt auf, dass hier über eine Erweiterung der Schauplätze hinaus eine weitere Ergänzung vorgenommen wurde: ein anderer Schauplatz wird zu einem vielleicht ganz anderem.19 Ähnlich wie in den Zusammentreffen von Vagheit und Gewissheit oben findet sich in dieser Formulierung eine gleichzeitige Verabsolutierung und Relativierung. Baudry tritt im Folgenden an, jenes im Höhlenapparat hergestellte homogene Bild (in das der Ton integriert sei; vgl. o.) als Befriedigungsform (vgl. Baudry 2003b, S. 51) des unbewussten Wunsches auszuweisen. Diese Befriedigungsform vergleicht Baudry mit der Wahrnehmung im Traum, in beiden Fällen handele es sich um homogene Zustände. Dieserart Traumerleben gestalte sich ganz anders als das Vorstellungsleben im Wachzustand. Wird Baudrys Text auf eben diese Argumentation eines geschlossenen Systems hin gelesen und dafür inbesondere von feministischer Seite kritisiert 20, so möchte ich hier ergänzend den Fokus darauf legen, inwiefern im Text zugleich unterlaufen wird, was die Analogie von Traum und Kino leistet: Eine metapsychologische Begründung des filmischen Realitätseindrucks als in sich homogenem Totaleffekt. 19 | Wie Riepe herausarbeitet, besteht hierin interessanterweise auch eine wesentliche Differenz zwischen der freudschen Psychoanalyse und der fechnerschen Psychophysik: „Freud kann, anders als Fechner, das Bewußte als Teilmenge des Unbewußten verstehen und somit – auch im Gegensatz zu Breuer – eine Kontinuität zwischen bewußten und unbewußten Zuständen denken, die der Fechnerschen Psychophysik mit ihrem Konzept des ‚physiologischen Unbewußten‘ verschlossen bleibt.“ (Riepe 2002, S. 756) Es scheint mir insgesamt wert, den baudryschen Text daraufhin zu untersuchen, inwiefern hier fechnersche Annahmen eingeflossen sein könnten. M.E. biegt Baudry die freudsche Konzeption des unbewussten Wunsches in Richtung einer fechnerschen Psychophysik um. Was auch zu Unstimmigkeiten in Baudrys Text selbst führt (s. u.). Fechner unterstellt einen Drang nach Einheit, wie auch Baudry eine im Dispositiv wirksame Funktion der Herstellung eines homogenen Realitätseindrucks annimmt. Sieht Baudry hierin eine Konvergenz von Realitätseindruck und halluzinatorischer Wunscherfüllung, so folgt er im Grunde Fechners grundsätzlicher Auffassung, dass Widerspruchslosigkeit und Einstimmigkeit Lust, fehlende Einheit hingegen Unlust erzeugt. Diese Annahme kollidiert mit Freuds Triebkonzeptionen, denen zufolge Spannungslosigkeit keineswegs automatisch und in jedem Fall Lust erzeugt (vgl. ebd.). 20 | Vgl. z.B. Cowie 1997; Gledhill 1978; Doane 1990; Penley 1989; Brauerhoch 1996; Copjec 2004.

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7.  Der totale Traum Zur Verdeutlichung von Baudrys Auffassung des Realitätseindrucks als einem in sich homogenen Totaleffekt ist ein vergleichender Rückgriff auf Musatti hilfreich. Ist für die Dopplung der Realitätsebenen im filmischen Realitätseindruck zentral (vgl. I.3), so vertritt Baudry in dieser Hinsicht Gegenteiliges. Wie gesehen, zieht Musatti zum Vergleich Träume heran, in denen man träumt zu träumen. Laut Baudry hingegen zeichnet sich das Kino gerade durch einen in dieser Hinsicht homogenen Realitätseindruck aus. Was den Traum im Traum angeht, kommt Baudry so zu einer anderen Schlussfolgerung als Musatti. Sieht dieser gerade in der gleichzeitigen Distanz und Involviertheit der Zuschauerhaltung eine mögliche Korrespondenz zwischen Film- und dieser Art Traumerleben, so nimmt Baudry an, ein Traum im Traum (ob auf der Leinwand oder im buchstäblichen Traum) würde „mit Sicherheit den Realitätseindruck […] zerstören“ (Baudry 2003b, S. 52, Fn. 5). Die „Entrückung des Traums“ (ebd.), die „den Zuschauer auf sein Bewußtsein als Zuschauer“ (ebd.) verweise und „eine Distanz“ (ebd.) zum Wahrgenommenen herstelle, ist ihm zufolge unvereinbar mit dem Realitätseindruck, wie er für das Film- und Traumerleben charakteristisch sei. Für Musatti besteht das Gemeinsame des Realitätseindrucks im Traum und im Kino in der möglichen Doppelung der Ebenen der wahrgenommenen Realität und er grenzt diesen von halluzinatorischen Eindrücken ab. Mit dieser Theoretisierung ist, wie ich im letzten Teil entwickelt habe, ein spielerischer Lustgewinn verbunden. Dementgegen nimmt Baudry an, das Gemeinsame des Realitätseindrucks im Traum und im Kino bestehe in dessen halluzinatorischem Charakter. Aus der Feststellung, Traum und Kino verbinde eine Strukturgleichheit des Wahrnehmungseindrucks, zieht Baudry den Schluss, auch der psychische Weg des Zustandekommens müsse im Wesentlichen derselbe sein. So fragt Baudry nach den „notwendigerweise metapsychologischen Bestimmungen, d.h. jene[n], die den Auf bau und die Funktion des psychischen Apparats ausmachen und bewirken, daß der Traum sich den Träumenden als Realität darbietet“ (ebd.). Mit Baudrys Bezugnahme auf Freuds „Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre“ (1916/1917f) wird an dieser Stelle rückwirkend klarer, warum er zuvor die Platzierung der von ihm sogenannten Gefangenen in Platons Höhle mit der „Unbeweglichkeit des Schlafenden“ (Baudry 2003b, S. 46) vergleicht. Er schreibt in diesem Zusammenhang auch: „Platons Gefangener ist das Opfer einer Realitäts-Illusion, d.h. genau dessen, was man im Wachzustand als Halluzination und im Schlaf als Traum bezeichnet; er ist das Opfer des Eindrucks, eines Realitätseindrucks.“ (Ebd., S. 45) Wie aus dem Vorhergehenden bekannt, impliziert Baudry zufolge die Gleichheit dieser Realitätseindrücke (genau dessen), dass sich dieser Zustand „vielleicht ganz anders“ (ebd., S. 51, Herv. S. W.; s.o.) verhält als das Vorstellungsleben im Wachzustand. Baudry führt aus, dass dies maßgeblich mit den Besonderheiten des Schlafzustands zu tun habe. Dieser gestatte, so fasst Baudry Freud an dieser Stelle zu-

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sammen, eine zeitliche und eine topische Regression. Erstere bezeichnet Freud zufolge eine „Regression der Ich-Entwicklung bis zur Herstellung des primitiven Narzißmus“ (ebd., S. 52f.). Die topische Regression erfolgt demnach, wenn der Schlaf den „Systemen Bw, Vbw und Ubw gleichermaßen die Besetzung entzieht“ (ebd., S. 53), wodurch der Übergang zwischen den Systemen erleichtert wird. Baudry betont: So schlagen die besetzten Vorstellungen einen – im Vergleich zum Wachzustand – anderen Weg ein. Freud hält fest: „Der im Vbw angesponnene und durch das Ubw verstärkte Vorgang nimmt einen rückläufigen Weg durch das Ubw zu der dem Bewußtsein sich aufdrängenden Wahrnehmung“ (Freud 1916/1917f, S. 418) ein. Der Traumwunsch wird demzufolge aus im Vbw befindlichen Tagesresten gebildet, die durch ubw Regungen verstärkt werden. Wortvorstellungen werden in Sachvorstellungen umgearbeitet und präsentieren sich letztlich dem Bw als sinnliche Wahrnehmung. Baudry unterstreicht: „Topische Regression und zeitliche Regression fallen zusammen, um an der Grenze des Traums zu enden“ (Baudry 2003b, S. 53), was Freud zufolge bedeutet: „Die Rückwendung des Ablaufs der Erregung vom Vbw durch das Ubw zur Wahrnehmung ist gleichzeitig die Rückkehr zu der frühen Stufe der halluzinatorischen Wunscherfüllung.“ (Freud 1916/1917f, S. 418) Wie die Schatten den Höhleninsassen und die Filmbilder ihrem jeweiligen Publikum bietet sich, so Baudry, der Traum „dem Träumenden als Realität“ (Baudry 2003b, S. 52) dar: „Der Traum ist eine ‚halluzinatorische Wunschpsychose‘ – d.h. ein Zustand, in welchem die mentalen Vorstellungen für Realitätswahrnehmungen gehalten werden.“ (Ebd., S. 53)21 In die deutsche Übersetzung des Textes hat sich an dieser Stelle ein Fehler eingeschlichen, der bislang, soweit ich das sehe, in der Sekundärliteratur keine Erwähnung findet: Traum und Schlaf werden an dieser Stelle vertauscht. Dass dies LeserInnen der deutschen Übersetzung bislang nicht aufgefallen sein mag oder vielleicht auch unwichtig erscheint, könnte durchaus auch daran liegen, dass in „Le dispositif“ Traum und Schlaf – eine für den freudschen Text durchaus wichtigen Unterscheidung – in einer bestimmten Hinsicht insgesamt einander angenähert werden. Ich will also sagen: Die durch eine fehlerhafte Übersetzung entstandene Begriffsverwirrung zwischen Traum und Schlaf korrespondiert insofern mit dem Text, als hier in Baudrys Darstellung an einem spezifischen Punkt Traum und Schlaf ineinander übergehen. Der betreffende Satz in der deutschen Übersetzung lautet:

21 | Die in Bezug auf die Höhle hergestellten Beziehungen scheinen hier durch Freuds Annahmen bezüglich der Traumbildung bestätigt zu werden: Die Bewegungslosigkeit (in der Höhle, im Schlaf), die bestimmte intrauterine Bedingungen wiederkehren zu lassen scheint, wird als Ursache des Wahrnehmungsmodus dargestellt, in dem eine Rückwendung (die Schatten, der Ablauf der Erregung) zu einer Regression auf eine frühere Stufe führe, die einer „tatsächlichen Realität in der Entwicklung des Individuums“ (Baudry 2003b, S. 46; s.o.) entspräche.

Baudrys Formulierung Quasi „Welches sind die notwendigerweise metapsychologischen Bestimmungen, d.h. jene, die den Aufbau und die Funktion des psychischen Apparats ausmachen und die bewirken, daß der Traum sich dem Träumenden als Realität darbietet? Der Traum, sagt Freud, ist somatisch eine Reaktivierung des Aufenthaltes im Mutterleibe mit der Erfüllung der Bedingungen von Ruhelage, Wärme und Reizabhaltung‘ […].“ (Baudry 2003b, S. 52; Herv. kursiv J.-L. Baudry, Herv. fett und unterstrichen S. W.)

In „Die Traumdeutung“ selbst wie auch im französischen Original und in verschiedenen englischen Fassungen des baudryschen Textes ist diese Bestimmung auf den Schlaf bezogen. Zudem fehlt in der deutschen Fassung ein dazwischenliegender Satz. So heißt es z.B. in einer der englischen Fassungen: „What are the determining factors of a necessarily metapsychological order, i.e., involving the construction and operation of the psychical apparatus, which makes it possible for dream to pass itself off for reality to the dreamer. Freud begins with sleep: dream is the psychical activity of the dreamer. Sleep, he tells us, ‚from a somatic viewpoint, is a revivescence of one’s stay in the body of the mother, certain conditions of which it recreates: the rest position, warmth, and isolation which protects him from excitement‘ […].“ (Ders. 1986, S. 308; Herv. fett und unterstrichen S. W.)

Im Unterschied zur deutschen Fassung sind hier Traum und Schlaf gegenübergestellt: Der Traum wird als eine psychische Aktivität bestimmt – der Schlaf zeichne sich in somatischer Hinsicht durch Ruhe, Wärme, Reizabhaltung aus. Insofern fällt hier die psychische Aktivität des Traums nicht ineins mit den somatischen Bedingungen im Mutterleib, der Wunsch dahin zurückzukehren beträfe die psychische Realität. Ich werde nun zeigen, inwiefern auch Baudry von einer solchen Unterscheidung ausgeht, letztlich aber den halluzinatorischen Eindruck als Auf hebung der einander gegenläufigen Ausrichtung von Schlaf- und Traumwunsch fasst. Auf diese Weise ist dann inhaltlich mit der fälschlichen Übersetzung Korrespondierendes nahegelegt. Unter Berufung auf Freud unterstreicht Baudry, dass „die halluzinatorische Befriedigung eine Befriedigungsform ist, die wir am Anfang des Seelenlebens antreffen, wenn Wahrnehmung und Vorstellung noch nicht unterschieden werden können“ (ders. 2003b, S. 53). So vollzieht sich ihm zufolge eine Rückkehr zu einer Befriedigungsform zu Beginn des Seelenlebens.22 Die Charakterisierung 22 | Es ist wichtig zu beachten, worauf sich diese Argumentation bezieht: Im Unterschied zu Musatti, der den Realitätseindruck als Wirkung der filmischen Bilder untersucht (wodurch diese in eine Austauschbeziehung mit Unbewusstem treten; vgl. I.3), fasst Baudry den Realitätseindruck als Wirkung des Wunsches nach halluzinatorischen Bildern. Während sich Musattis Vergleich zwischen Traum und Film auf die jeweilige Wirkung von in unterschiedlichen Apparaten produzierten Bildern bezieht, geht es Baudry auch um einen

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des Realitätseindrucks in der Höhle als Wahrnehmung einer in sich ungebrochenen und homogenen Realität führt Baudry hier zusammen mit der Bestimmung der Halluzination als einem Zustand der Ungeschiedenheit von Vorstellung und Wahrnehmung. Halluzinatorische Wunscherfüllung wird hier auch in zeitlicher Hinsicht als ein Zustand vor der Erfahrung von Mangel gefasst: „Wenn das Objekt des Wunsches (das Objekt des Bedürfnisses) fehlt, kann es zu dieser Zeit halluziniert werden. Und gerade das wiederholte Scheitern dieser Form der Befriedigung hat die Differenzierung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung durch die Einrichtung der Realitätsprüfung zur Folge.“ (ebd.) Dieser Sachverhalt berührt grundsätzliche Fragen der Subjektkonstitution. Wie Kirchhoff zeigt, ist in Freuds Schriften selbst die Problematik angelegt, dass er mitunter „den Versuch der halluzinatorischen Erfüllung des Wunsches als identische Wiederholung denkt, was nicht nur logisch widersprüchlich ist, sondern auch unter der Hand eine erste Verschiebung der Erfüllung, den ersten Schritt auf dem Umweg des menschlichen Lebens, verschwinden lässt und damit – folgenschwer für die Konzeption – den ersten Kompromiss als Erfüllung des unbewussten Wunsches missversteht und somit den grundlegenden Mangel nicht nur der Realität, sondern auch des Subjekts zu unterschlagen beginnt“ (Kirchhoff 2009, S. 60f.). Baudry betont durchaus, dass es sich bei der ersten Befriedigungssituation um eine auf immer verlorene handelt und das Scheitern ihrer Wiederholung die Wunschtätigkeit in Gang setzt. Aber dieses Scheitern und dieser subjektkonstitutive Mangel erscheinen in seiner Konzeption als durch den filmischen Realitätseindrucks ausgeglichen. Gast hingegen unterstreicht: „Der Wunsch nach Wahrnehmungsidentität erfüllt sich allenfalls ungefähr.“ (Gast 2004, S. 23) Ich komme darauf in II.4 zurück. Dass Baudry mit dem Realitätseindruck die Auf hebung von Konflikthaftem verbindet zeigt sich auch in der Art und Weise, wie er in diesem Zusammenhang den Begriff der Traumleinwand von Bertram D. Lewin (1946) aufgreift (vgl. dazu u.a. Bellour 2006; Koch 2002; Zeul 2007). Die Traumleinwand bildet Lewin zufolge so etwas wie die – meist nicht in Erscheinung tretende – imaginierte Fläche, auf die die Bilder des Traums projiziert werden. Diese Fläche bestimmt Lewin als visuelle Erinnerungsspur der mütterlichen Brust, die sich gewissermaßen in den Schlafwunsch fortsetzt. Der Schlafwunsch, so Lewins Annahme, zielt auf die Wiederholung der Entspannung nach der Sättigung an der mütterlichen Brust. Dieser hat also diese Befriedigungssituation zum Objekt. Lewin spricht von einem traumlosen Schlaf, in den der Säugling nach der Sättigung fällt (vgl. Lewin 1950, S. 179). Demnach ist, so nun Baudry, „die Traumleinwand die halluzinatorische, durch den Traum vermittelte Vorstellung der mütterlichen Brust, an welcher der Säugling nach dem Stillen einschlief“ (Baudry 2003b, S. 55). Entspricht diese dem Schlafwunsch, so der Traum dem Wunsch geweckt zu werden vergleichbaren Produktionsvorgang. Es geht ihm um das „Entstehungsdispositiv“, welches für ihn zugleich auch die „‚Urszene‘ des Traums“ ist (Baudry 2003b, S. 56).

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– und das heißt, wie Baudry betont: wahrzunehmen, die Augen zu öffnen, zu sehen. Schlaf und Traum weisen demnach in unterschiedliche Richtung – der Schlafwunsch ist zunächst einmal dem Traumwunsch entgegengerichtet: Letzterer ist Baudry zufolge ein „Wunsch nach Wahrnehmung, nach einem Kontakt mit dem Realen“ (ebd., S. 56), ersterer einer nach Rückzug, der mit einer Aufhebung von Bedürftigkeit verbunden ist. Diesen Widerspruch sieht Baudry nun durch den halluzinatorischen Charakter des Realitätseindrucks im Traum gelöst – Baudry interpretiert die Auf hebung der Differenz zwischen Wahrnehmung äußerer Realität und der Wahrnehmung einer Vorstellung als Auf hebung eines Konflikts zwischen Traum- und Schlafwunsch. „Der halluzinatorische Charakter, die fehlende Unterscheidung zwischen Vorstellung und Wahrnehmung – die als Wahrnehmung vermittelte Vorstellung, die den Glauben an die Realität des Traums bedingt, entspricht der fehlenden Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv, zwischen Handeln und Erleiden, zwischen Körpergrenzen (Körper/ Brust), zwischen Essen und Gegessenwerden“ (ebd.). Im Traum, so formuliert Baudry, zeichne sich „etwas von einem Wunsch“ ab, „welcher Wahrnehmung und Vorstellung vereint“ (ebd.) – und das meint hier: Der Traum vereint die Entgegensetzung von Traumwunsch (als Wunsch nach Wahrnehmung) und Schlafwunsch (als Wunsch nach der als Brust-Leinwand vorgestellten Zustand wunschloser Befriedigung).23 Zielt der Realitätseindruck Baudry zufolge auf die Herstellung des für den Traum, die Höhle und das Kino typischen Wahrnehmung, welcher die „Form der archaischen, vom Subjekt erlebten Befriedigung nachahmt und deren Szene reproduziert“ (ebd.), so werden demnach Schlaf- und Traumwunsch in Form des halluzinatorischen Eindrucks erfüllt. Wird diese archaische Befriedigungsform zuvor als eine der vollen Befriedigung, Ruhe und Spannungslosigkeit charakterisiert, so tritt hier der halluzinatorische Eindruck als Konfliktlöser zwischen Schlaf- und Traumwunsch auf in seiner Fähigkeit, einen homogenen Zustand zu erwirken. Bestimmt Baudry den für den Traum typischen halluzinatorischen Realitätseindruck als einen kollisionsfreien Wahrnehmungszustand, so besteht demnach eben hierin die mit dem Schlafwunsch verbundene Situation völliger Entspannung nach dem Stillen – die wiederum verweist auf die Ruhe, Wärme und Reizabhaltung im Mutterleib. Wenn der Begriff des Realitätseindrucks somit die Aufhebung der entgegengesetzten Richtungen von Traum- und Schlafwunsch bestimmt, dann bezeichnet er einen unscharfen Bereich, in dem Traumund Schlafwunsch ineinander übergehen. Es sind, wie auch Pontalis schreibt, der „Wunsch zu schlafen und der Wunsch zu träumen […] durchlässig füreinander“ (Pontalis 2003, S. 45).

23 | Was natürlich die Frage aufwirft: Worin besteht dann überhaupt die Notwendigkeit der Darstellung des unbewussten Wunsches (vgl. II.4)? „Wäre der Traum tatsächlich eine Wunscherfüllung […], so wäre überhaupt kein Traum.“ (Schneider 1995, S. 65)

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Tendiert Baudrys Darstellung der Traumleinwand dazu, diese Durchlässigkeit dahin zu treiben, dass Schlaf- und Traumwunsch ineinander fallen, so versteht Pontalis Lewins Auffassung des Verhältnisses von Schlaf und Traum anders. Während Baudry in diesem Zusammenhang von der fehlenden Unterscheidung etwa zwischen Essen und Gegessenwerden spricht, betont Pontalis die „Ambiguität der Befriedigungssituation als solcher“ (ebd., S. 43), d.h. „gleichzeitig ein orales Gesättigtsein, die Stillung eines Hungers, eines Dursts, aber auch ein Dürsten“ (ebd.). So heißt es bei Pontalis in Bezug auf die Traumleinwand: „Ziel des Traums wäre demnach die Beständigkeit, das In-der-Schwebe-Bleiben des Wunsches und nicht die erfüllte Befriedigung; das Objekt des Wunsches wäre hierbei der Wunsch selbst, während das Objekt des Wunsches zu schlafen das Absolute, der Nullpunkt der Sättigung ist. Die Traumleinwand wäre folglich nicht nur als Projektionsfläche [surface de projection] zu verstehen; sie ist zudem eine Schutzschicht [surface de protection], sie stellt eine Abschirmung dar.“ (Ebd., S. 43f.) Die Traumleinwand habe dabei nicht die Funktion des Reizschutzes vor Störungen des Schlafs von außen, sondern des Schutzes vor dem „Drinnen“ (ebd., S. 44), d.h. vor dem Todestrieb (der auf den „Nullpunkt“ (ebd.) zielt) und vor bestimmten Aspekten der Verschmelzung mit der Mutter. Die Traumleinwand ist laut der Lektüre von Pontalis auch zu verstehen als „Barriere vor dem mit der Mutter vollzogenen Inzest, einem Inzest, der Genuß und Schrecken, Eindringen und Verschlingen, den gebärenden Körper und den versteinerten Körper vereint“ (ebd.).24 Dass Baudrys Lesart keine gleichzeitige Barriere gegenüber der Mutter eindenkt, kritisiert Brauerhoch. Insofern Baudrys Text die Phantasie der Ungetrenntheit vom mütterlichen Körper ins Zentrum stelle, ähnele dessen Konzeption selbst dem Verhalten eines kleinen Kindes an des Mutters Brust. „Wie das Kleinkind selbst schafft der Theoretiker ein Übergangsobjekt, kreiert eine Form des Fort-Da-Spiels: fort ist das Verhältnis zur Mutter, da das Kino.“ (Brauerhoch 1996, S. 42) Gebärmutter und Brust, also „zwei Körperteile stehen ein für das Phantasma einer Ganzheitlichkeit: dem Subjekt soll die Mutter, einst Teil des Selbst erlebt, wiedergewonnen werden“ (ebd.). Brauerhoch kritisiert an dieser Stelle ferner Baudrys Annahme von der im Kino herrschenden „Symbiose und Ununterschiedenheit“ (ebd., S. 43). Diese schließe die Möglichkeit aus, dass es im Kino um „das Erkennen von Differenz: zwischen den inneren und den äußeren Bildern, zwischen Wunsch und Realität“ (ebd.) gehen könnte.25 24 | Der Traum als Wunscherfüllung hat Pontalis zufolge „Zwiespältige[s]“ (Pontalis 2003, S. 43) an sich, es geht hier weniger darum, „den Zustand der Stillung des Bedürfnisses als vielmehr den Gesamtvorgang wiederzufinden. Diesen Vorgang, der durchgehend Angst und Erregung mit sich bringt, sucht der Träumer, während der Schlaf in der Auflösung der Spannung Befriedigung findet“ (ebd.). 25 | An Brauerhochs Kritik zeigt sich m.E. exemplarisch, dass Baudrys Darstellung der Fülle die Vorstellung von Mangel evoziert – in diesem Falle die mangelnder Differenz. Brauerhoch knüpft damit an verschiedene Kritiken gerade von feministischer Seite (vgl. z.B. Pen-

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Im Folgenden wird es nun darum gehen, inwiefern gewisse Quasi-Formulierungen Baudrys Darstellung des Totaleffekts entgegenlaufen, ohne dass diese als Einbrüche in das Konzept theoretisiert werden. Die Darstellung von Geschlossenheit erweist sich demnach als brüchig.

8.  Quasi-Unmöglichkeit der Loslösung Die Nicht-Anwendbarkeit der Realitätsprüfung ist, wie bereits erwähnt, für Baudry ein wesentliches Charakteristikum der in Traum, Höhle und Kino reproduzierten Ur-Situation. So heißt es in Bezug auf die Gefangenen in der Höhle: „Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten“ (Baudry 2003b, S. 46; s.o.). Auch in Bezug auf den Traum heißt es: Die Bilder seien „wegen der Unmöglichkeit des Subjekts, die Realitätsprüfung anzuwenden, mit dem Zeichen der Wahrnehmung versehen und erscheinen als Realität“ (ebd., S. 54; Herv. S. W.). Im darauffolgenden Abschnitt fügt Baudry nun hinzu, dass es sich beim filmischen Realitätseindruck „um ein Mehr-als-Reales [plus-que-réel], etwas Realeres-als-real handelt, um es von dem Realitätsgefühl zu unterscheiden, das die Realität in der Normalsituation des Wachzustandes vermittelt“ (ebd.). Mit dieser Hinzufügung wechselt unter der Hand die Perspektive auf den Realitätseindruck. Denn für wen handelt es sich um ein „Mehr-als-Reales“ im Unterschied zur „Realität in der Normalsituation“ (ebd.)? Dieser Unterschied kann sich eigentlich nicht für den im halluzinatorischen Eindruck Gefangenen ergeben, der ja Baudrys Bestimmungen zufolge in eine in sich geschlossene und ungebrochene Realität eingehüllt ist. Die vorhergehenden Bestimmungen müssten eigentlich ergeben: Unterschieden werden kann der Realitätseindruck in der Höhle, im Traum, im Kino von dem normalen im Wachzustand einzig und allein von einem Standpunkt außerhalb – also von dort, von wo aus der Philosoph kommt, um die Höhle zu erkunden. Ich betone: Eigentlich. Bekräftigt der nächste Satz, dass beide Realitätsbezüge gänzlich unvereinbar miteinander seien, so relativiert ein Quasi zugleich diese Aussage. Es heißt: „Um ein Mehr-als-Reales, das den Zusammenhang des Subjekts mit seinen wahrgenommenen Vorstellungen ausdrückt, das Eintauchen des Subjekts in seine Vorstellungen, die von ihm empfundene Quasi-Unmöglichkeit, sich von ihnen zu lösen, die unvergleichbar, wenn nicht gar unverträglich ist mit dem Eindruck, der aus dem Realitätsbezug hervorgeht.“ (Ebd.; Herv. S. W.) Die – bereits in sich zurückgenommene (wenn nicht gar…) – Aussage bezüglich der Absolutheit des ley 1989; Rose 1996) an, die u.a. Baudrys Bestimmung des Totaleffekts als fetischistische Verleugnung sexueller Differenz dechiffrieren und damit als eine theoretische Verdopplung eines Mechanismus ausweisen, der für das patriarchale Kino selbst charakteristisch sei.

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Unterschieds zwischen dem Totaleffekt und dem ‚normalen‘ Realitätsbezug erfährt hier durch das Quasi nochmals eine Relativierung. In der Formulierung Quasi-Unmöglichkeit wird das Kino vom Traum abgegrenzt. Ist das Kino doch näher am ‚Normalen‘ gelegen als gedacht? Und das Publikum damit nicht ganz so unterschieden vom Philosophen? Rückwirkend kann die Quasi-Formulierung Zweifel auslösen an der Absolutheit aller zuvor getroffenen Bestimmungen des Totaleffekts: Denn Baudrys vorhergehender Darstellung nach ist dieser halluzinatorische Eindruck hinsichtlich der absoluten Geschlossenheit der Realität total. Für das in diesem Eindruck gefangene Subjekt wäre diese Einsicht unmöglich – und nicht, wie es an dieser Stelle nun heißt: quasi-unmöglich. Zum Ende des Text häufen sich derlei Einschränkungen – ohne aber, dass diese als Zurücknahmen der zuvor getroffenen Bestimmungen gewertet werden. Bevor ich abschließend auf diese zu sprechen komme, zunächst eine kurzer Rückblick.

9.  Im Rückblick Wie in Abschnitt II.2 herausgearbeitet wurde, drehte sich die Apparatusdebatte anfänglich zentral um die Streitfrage: Wenn die ideologische Funktion des Kinos im Kern darin besteht, dem Publikum die Welt als Einheit zu präsentieren, besteht dann deren Effekt in der Konstitution einer völlig bruchlosen Geschlossenheit? Baudrys Antwort lautet: Ja – doch Ambiguitäten unterlaufen diese Antwort zugleich. Einführend habe ich in einem Vergleich mit dem früheren Text Baudrys zum Kino – „Cinéma: efféts idéologiques“ – einige Charakteristika von „Le dispositif“ herausgestellt (1.): Gegenstandsbereich ist hier allein die Projektionssituation, in der sich – so Baudrys Hauptthese – eine halluzinatorische Wunscherfüllung realisiert, die mit der Phantasie einer Rückkehr in den Mutterleib verbunden ist. Diese Assoziation ist in der Apparatusdebatte jener Zeit durchaus ungewöhnlich. Sie steht auch in Verbindung mit einer entscheidenden Fokusverschiebung gegenüber „Cinéma: efféts idéologiques“. Im Zentrum steht hier die Bestätigung imaginärer Ganzheit des Ichs im Kino, in „Le dispositif“ geht es gerade um die phantasmatische Auflösung des Ichs und der Körpergrenzen im Kino-Mutterleib. Doch in beiden Fällen wird eine Überblendung des Mangels und eine ‚eigentliche‘ Lähmung des Publikums beschrieben – Aktivierung erscheint vor diesem Hintergrund als Ziel der ideologiekritischen Erhellung. In „Le dispositif“ steht die Analogie dunkler Orte im Zentrum: Platons Höhle, Mutterleib, Kino – alle diese Orte, so Baudrys These, seien zu verstehen als Anordnungen der Realisierung halluzinatorischer Wunscherfüllung. In Anknüpfung an Dammanns Kritik an dem deutschen Wort Dispositiv als Fall einer Nicht-Übersetzung des französischen dispositif, habe ich auf eine für den Text insgesamt charakteristischen Gleichzeitigkeit von Fülle und Leere hingewiesen, die mit einem Nebeneinander von Vagheit und Gewissheit in den Formulierungen in Verbindung gebracht wer-

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den kann. Dieses Nebeneinander habe ich anhand verschiedener Passagen herausgearbeitet. Zunächst habe ich bezüglich Baudrys Einführung des Vergleichs von Platons Höhlengleichnis und Unbewusstem herausgearbeitet, dass hier mit Gewissheit auf große Zusammenhänge verwiesen wird, die selbst vage und unausgeführt bleiben (2.). Dies habe ich vorgeschlagen auch als potentiellen Köder für LeserInnen zu verstehen, den hier im Dunkeln gelassenen gewichtigen Bezügen auf die Spur kommen zu wollen. Anhand einer Textstelle, an der Baudry mit zwei Freudzitaten die erkenntnisgenerierende Funktion eines solchen Bezugs (nämlich desjenigen zwischen psychischen und optischen Apparaten) untermauert, habe ich eine weitere Funktion des Nebeneinanders von Vagheit und Gewissheit aufgezeigt: In der spezifischen Konstellation der Zitate und Baudrys Einlassungen dient die Thematisierung von möglicherweise unpassenden Aspekten eines Vergleichs dazu, dessen erkenntnisstiftende Bedeutung gerade zu unterstreichen (3.). Baudry bedient sich im Zuge dieser Befestigung der Wiederholung – welche auch auf inhaltlicher Ebene eine Rolle spielt (4.): In der Szene der Höhle und im Kino wiederhole sich, so Baudrys Argument, die Ur-Zeit des Subjekts im Mutterleib. Das zentrale Moment, mit dem Baudry seine Überlagerung von Höhle, Kino und Mutterleib begründet, ist hier die wiederkehrende Lähmung, die Bewegungslosigkeit – die er auch verbindet mit der eingeschränkten Motilität des Neugeborenen. In der Bewegungslosigkeit der Höhleninsassen und des Kinopublikums erkennt Baudry einen Wunsch zur Rückkehr, zur Wiederholung einer Situation zu Beginn des Seelenlebens. Es ist eine für den Text zweifellos zentrale These, die zugleich im Vagen gehalten und unter Vorbehalt formuliert wird. Worauf zielt der Wunsch in der Wiederholung der Frühphase des Lebens? Baudrys Darstellung zufolge auf ein homogenes Bild, wie ich an dem beschriebenen Verhältnis von Schatten und Stimmen in der Höhle gezeigt habe (5.). In einer Mischung aus Ent- und Belastung seiner eigenen Aussagen bestätigt dann Baudry seine Annahme, dieser homogene Eindruck sei auch für den Traum charakteristisch – darin unterscheide sich dieser fundamental von dem Vorstellungsleben im Wachleben (6.). Die Formulierungen sind auch in diesem Zusammenhang von äußerster Zurückhaltung geprägt. Doch im gleichen Zuge werden tragende Annahmen untergeschoben – z.B. die, in der Höhle werde der auswärtige Ton zum Anhängsel der Bilder (wodurch eine Integration zu einem Gesamteindruck stattfinde). Hier schließen sich dann Ausführungen der Gemeinsamkeit von Traum, Höhle und Kino an, mit denen Baudry besagt, im filmischen Realitätseindruck seien alle Elemente auf einer Realitätsebene angesiedelt (7.). Einen gravierenden Unterschied zu Musattis Konzeption habe ich an dieser Stelle herausgestellt. Baudry bezieht sich hier auf Freuds Darstellung der regressiven Prozesse im Rahmen der Traumbildung. Ein Fehler der deutschen Übersetzung wurde in diesem Zusammenhang von mir in den Blick genommen. In der deutschen Übersetzung

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werden durch eine Auslassung Schlaf und Traum verwechselt – eine Verwechslung, die aber in bestimmter inhaltlicher Hinsicht mit Baudrys Konzeption korrespondiert: Der totale Eindruck kulminiert in einem gemeinsamen Fluchtpunkt von Traum und Schlaf. Der halluzinatorische Eindruck wird als Aufhebung des Konflikts von Traum- und Schlafwunsch gedacht. Diese Charakterisierung, so habe ich in diesem Zusammenhang angemerkt, lässt sich beziehen auf Pontalis Charakterisierung des Ziel des Todestriebs. Vor dem Hintergrund von Pontalis Auffassung habe ich damit deutlich gemacht, inwiefern Baudrys Darstellung – konsequent zu Ende gedacht – auf die Annahme einer Arretierung des unbewussten Wunsches hinausläuft und damit auf einen Nullpunkt des Subjekts (ich komme darauf in II.4 zurück). Auch wenn, wie etwa Brauerhoch (1996) feststellt, diese Darstellung eines Phantasmas der Ganzheitlichkeit selbst einem solchen zu folgen scheint, macht sich zugleich eine gegenläufige Tendenz geltend. Dies habe ich exemplarisch an der Formulierung gezeigt, die Loslösung vom filmischen Realitätseindruck sei dem Subjekt quasi unmöglich (8.). Hebt Baudry zum Ende des Texts das Spezifische des Kinos gegenüber dem Traum mehr hervor, bekommt das Phantasma der bruchlosen Ganzheit des Totaleffekts weitere Brüche. Zugleich aber hält der Text an dieser Konzeption fest, wie jetzt abschließend gezeigt werden soll. Im Grunde behauptet Baudry hier auf der Grundlage seiner vorhergehenden Bestimmungen miteinander Unvereinbares: eine totale und in ihrer Totalität zugleich eingeschränkte Illusion.

10.  Quasi-Halluzination Die Formulierung Quasi-Unmöglichkeit habe ich im Vorangegangenen als eine brüchige Stelle in der Darstellung des Totaleffekts interpretiert. Wenn der filmische Realitätseindruck mit einer Quasi-Unmöglichkeit für das Subjekt einhergeht, sich aus diesem zu lösen, so müsste auch die Geschlossenheit selbst eine Quasi-Geschlossenheit sein. Im Gegenteil aber wird letztlich die Geschlossenheit bestätigt. Hervorheben möchte ich nun in diesem Zusammenhang das Schicksal von Baudrys Bemerkung an dieser Stelle, das Subjekt befände sich im Kino in einem „künstlichen Regressionszustand“ (Baudry 2003b, S. 58). Während er an der Artifizialität zunächst eine Unterscheidung zwischen der quasi-halluzinatorischen Situation im Kino und dem – so scheint es zunächst: ‚echten‘, tatsächlichen – halluzinatorischen Erleben im Traum aufzumachen scheint, so läuft seine Argumentation letztlich auf anderes hinaus: Baudrys Argumentation unterläuft gerade die traditionelle Grenzlinie zwischen Künstlichem und Echten. Baudry kündigt an dieser Stelle an, abschließend „nur einige Hypothesen vortragen“ (ebd.) zu wollen, wie die „spezifische Wirkung des Kinos“ (ebd.) anhand der psychoanalytischen Erkenntnis über das „Subjekt des Unbewußten“ (ebd., S. 57) erfasst werden könnte. Der Begriff des Künstlichen bezeichnet an dieser

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Stelle zunächst eine Besonderheit des kinematographischen gegenüber dem psychischen Apparat. Im ersten Schritt wird eben dieser künstliche Zustand erneut enggeführt mit dem Traum – in beiden Fällen, so bekräftig Baudry, gehe es darum „ein frühes Entwicklungsstadium mit seinen eigenen Befriedigungsformen wiederzufinden“ (ebd., S. 58). Aufmerksamen LeserInnen aber mag nicht entgehen, dass in diesem Zusammenhang von einem „relativen Narzißmus“ (ebd.) die Rede ist – was die Annahme nahelegt, der Modus im Kino sei im Unterschied zum Traum ein eingeschränkter „primitive[r] Narzißmus“26 (ebd., S. 53; s.o.). Ohne diese Einschränkung begrifflich auszuführen und damit der Frage zu folgen, in welchem Verhältnis die Eingeschränktheit des Narzissmus zu der Absolutheit des Realitätseindrucks steht, wiederholt Baudry an dieser Stelle die vorherigen Bestimmungen des primitiven Narzissmus.27 Auf dieses erste Relativ – den ‚relativen Narzissmus‘ – folgen ein zweites und ein drittes Relativ. Die Argumentation rudert weiter zurück und relativiert werden vorherige Feststellungen von Analogien von Traum und Kino, wie sie ausgehend von Platons Höhlengleichnis entwickelt wurden. Es heißt: „Um den besonderen Status der Wahrnehmung im Kino zu erfassen, muß eine relative Aufhebung der Realitätsprüfung betont werden. Wenn man die Bedingungen der kinematographischen Projektion mit dem Traum und der Halluzination vergleicht, scheint die Realitätsprüfung erhalten zu bleiben.“ (Ebd., S. 59)28 Darauf folgt implizit eine Abweisung der möglichen und durchaus naheliegenden Schlussfolgerung, der Realitätseindruck im Traum und im Kino teilten somit nicht den halluzinatorischen Charakter. Dass eben dieser Effekt sehr wohl erzielt werde, wird wie folgt begründet: Das Subjekt könne im Kino die Augen zwar schließen oder weggehen und sich so aus dem Geschehen heraushalten. Aber – so lautet die Einschränkung der Einschränkung und damit die Bestätigung des Totaleffekts – „genauso wenig wie im Traum verfügt es [das Subjekt] über die Mittel, auf den Gegenstand seiner Wahrnehmung handelnd einzuwirken“ (ebd.). Die Bilder würden diesem wie „Halluzinationen auferlegt“ (ebd.). Wie auch im ersten Fall wird dieses Rela26 | Was Baudry hier als ‚primitiven Narzissmus‘ bezeichnet, wird mitunter auch als primärer gefasst: „Der primäre Narzißmus bezeichnet einen frühen Zustand, in dem das Kind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt. Der sekundäre Narzißmus bezeichnet eine Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogenen Libido.“ (Laplanche/Pontalis 1972, S. 320f.) Der primäre Narzissmus ist, wie Knellessen, Passett und Schneider hinweisen, „nicht anders zu verstehen als der Wunsch nach einer absoluten Autarkie, die nie bestanden hat“ (Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 21). 27 | So heißt es weiter: „Rückkehr zum ursprünglichen Narzißmus durch Regression der Libido, sagt Freud, als er feststellte, daß der Träumende das gesamte Feld der Traumszene erfüllt“ (Baudry 2003b, S. 58). 28 | Zur Erinnerung: Der filmische Realitätseindruck wurde zuvor als „unvergleichbar, wenn nicht gar unverträglich“ (Baudry 2003, S. 54) mit der dem Realitätsprinzip unterworfenen Wahrnehmung bezeichnet.

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tiv nicht weiter erläutert. Im Gegenteil bekräftigt der Satz in Gänze die vorangegangene Annahme, dass trotz der nur relativen Aufhebung der Realitätsprüfung gleichwohl ein halluzinatorischer Eindruck entstehe. Erneut wird an dieser Stelle der künstliche, der Simulationscharakter der kinematographischen Situation erwähnt. „Durch die relative Hemmung der Motilität wird es [das Subjekt] dem Schlafzustand angeglichen, genau so wie der besondere Status der Realität, die es wahrnimmt […], die Simulation der regressiven Position fördert und im Subjekt-Effekt des Realitätseindrucks, jenes Mehr-als-Realen des Realitätseindrucks, bestimmend wirkt, von dem wir gesehen haben, daß es zwar nicht für das Verhältnis des Subjekts zur Realität, wohl aber für den Traum und die Halluzination charakteristisch ist.“ (ebd.; Herv. S. W.) Und so heißt es schlussfolgernd: Das Kino bietet „eine künstliche Psychose, mit dem Vorteil einer aktiven Kontrollmöglichkeit, den der Schlafende nicht bekommt“ (ebd., S. 60), der „Simulationsapparat besteht also darin, eine Wahrnehmung in eine Quasi-Halluzination zu verwandeln, die mit einer Wirkung des Realen versehen ist, welche sich nicht mit der von der einfachen Wahrnehmung dargebotenen vergleichen läßt“ (ebd., Herv. S. W.). Das Subjekt befinde sich demzufolge in einem Zustand, in dem das „Wahrgenommene sich nicht von den Vorstellungen unterscheidet“ (ebd.). Der Theoretiker trifft am Ende genau diese Unterscheidung, um den Unterschied des Realitätseindrucks im Kino zu dem im Traum zu spezifizieren: Der artifizielle Charakter des „Kino-Subjekts“ (ebd., S. 61) unterscheide dieses vom Träumenden. Es geht Baudry um den spezifischen Modus der Wahrnehmung, die er in beiden Fällen für vergleichbar hält. Davon aber unberührt sei, so hier das die Annahme des Totaleffekts bekräftigende Argument, dass es im Kino „reale Wahrnehmung, wenn nicht gar eine gewöhnliche Wahrnehmung der Realität“ (ebd.) gäbe, im Unterschied zur Halluzinationen, in denen „Vorstellungen als wahrgenommene Realität auftreten“ (ebd.). Erscheint das Künstliche zunächst als eine mögliche Demarkationslinie, um Traum- und Kinowahrnehmung zu unterscheiden, so erhält diese definierende Grenzziehung dann selbst einen Quasi-Charakter. Gerade an ihr scheint eine Unschärfe auf, denn der artifizielle Charakter hat in Baudrys Argumentation letztlich gerade nicht den Stellenwert einer einschneidenden Bedeutung in der Bestimmung des Spezifischen des filmischen Wahrnehmungseindrucks. Mehr noch: Das Künstliche wird als Kriterium für eine Erkenntnis des Spezifischen des Kinos explizit zurückgenommen. (Was Baudrys Argumentation z.B. von Huxleys abstrakter Gegenüberstellung von Technik und Mensch unterscheidet.) Heißt es einerseits, es sei der artifizielle Charakter, der das Kino-Subjekt von der Halluzination und dem Traum unterscheide, so gleich darauf: „[W]obei allerdings hinzuzufügen ist, daß der Traum und die Halluzination bereits Simulationszustände sind (eine Sache, die sich den Status einer anderen gibt; Vorstellung als Wahrnehmung).“ (Ebd.) Sieht Dammann den Terminus Dispositiv in der deutschen Nicht-Übersetzung mit „enormer Aura belegt und zugleich völlig leer“

Baudrys Formulierung Quasi

(Dammann 2002/2003, S. 6; s.o.), so lässt sich ähnliches hier auch über den Terminus Künstlichkeit sagen. Hebt dieser einerseits das Spezifische des Kinos vom Traum ab, scheint sich dieses im nächsten Moment wieder zu verwischen. Das Versprechen des Textes, in Differenz zum Traum Aufschlussreiches zu eröffnen, scheint sich in dieser Hinsicht „versprochen“ zu haben (Knellessen 2011, S. 331 Bezug nehmend auf Härtel/Heinz 2010). Das Zurückrudern übermittelt den LeserInnen: Diese Differenz zumindest – zwischen ‚Künstlichem‘ und ‚Echtem‘ – war ein falsches Versprechen, sie ist es (doch) nicht, die die apparativ vermittelte Wahrnehmung im Kino spezifisch auszeichnet. So vollzieht Baudrys Argument statt identifizierbarer Grenzziehungen in dieser Frage lediglich eine leichte Verschiebung (vgl. Baudry 2003b, S. 61) im Zuge der Verwischung der Demarkation von artifiziell und nicht-artifiziell. Sein wesentliches Argument ist auf diese Aufhebung einer klaren Grenzziehung zwischen Artifiziellem und Natürlichem angewiesen: Das Kino betreibe „die Simulation eines Subjektzustands“ (ebd.), dieser Subjektzustand ist der des Traums, der selbst ein Simulationszustand sei.29 Baudry beschreibt – ganz im Einklang mit dem grundsätzlichen Ausgangspunkt der Apparatusdebatte (vgl. II.2) – die Simulation einer Simulation, nicht die Simulation einer vorhergehenden (nicht-simulierten) Realität. Worin sich das Artifizielle des Kinos von der Simulation des Traums unterscheidet? Im Traum treten Vorstellungen als Wahrnehmungen auf, im Kino Wahrnehmungen als Vorstellungen – beides aber erzeugt: den Realitätseindruck als halluzinatorischen Totaleffekt trotz Einschränkungen, Quasi-Charakter und Relativierungen. Mit dem Festhalten an der Annahme des Totaleffekts wird letztlich ausgesagt, dass diese bezüglich des Realitätseindrucks keinen entscheidenden Unterschied machen. In ganz ähnlicher Weise wie an den Textstellen zuvor verläuft der Weg einer theoretischen Fundierung des homogenen Eindrucks also über die Thematisierung möglicher Nicht-Übereinstimmungen. Artifiziell soll den Umstand bezeichnen, dass im Kino Wahrnehmungen und nicht Vorstellungen wahrgenommen werden. Scheint damit zunächst eine spezifische Differenz des filmischen Realitätseindrucks gegenüber dem Traum benannt zu sein, rückt der Text diese dann in einen Bereich der Unschärfe, der auch die Trennung zwischen Mensch und Maschine betrifft. Dies ist der Kern von Baudrys Auffassung des Realitätseindrucks: Dieser wird gefasst als eine Verschmelzung von Subjekt und Apparat und auch auf der Ebene von Baudrys Darstellung wird die konventionelle theoretische Unterscheidung von Mensch und Maschine unterlaufen. Von der Wirkung, dem Realitätseindruck her betrachtet, macht es demnach (innerhalb der baudryschen Konzeption folgerichtig) keinen gravierenden Unterschied, ob vom Kino oder vom Traum gesprochen wird. 29 | Und damit ist auch gesagt: Es macht keinen Unterschied, ob es sich um vom menschlichen Subjekt oder von Apparaten produzierte Vorstellungen handelt. Diese Darstellung des Ineinanderwirkens von technischem Apparat und menschlichem Zuschauendem evoziert auch eine Verwischung der Grenze von Mensch und Maschine (s. u. und weiter in I.4).

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An diesem Punkt zeigt sich die Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks immun gegen dessen Einschränkungen – diese tun der Behauptung der Totalität dieses Effekts keinen Abbruch, die Relativierungen werden nicht ausgedeutet, sondern zur Seite gelegt. Die Einschränkungen haben somit auch den Charakter von Abgebrochenem. Der angenommene Totaleffekt hingegen wird in den zum Ende aufgestellten Hypothesen nochmals bestätigt. Einführend hatte ich darauf hingewiesen, dass Adorno in Bezug auf den Rätselcharakter von Kunstwerken vom „Abgebrochensein“ (Adorno 1970, S. 191; vgl. Einführung) der Kunstwerke spricht. Diese, so Adorno, urteilen im Unterschied zu diskursivem Denken nicht und sind auch nicht begrifflich verfasst, neigen sich diesem aber aufgrund ihrer ‚immanenten Logizität‘ (vgl. ebd., S. 205; vgl. Einführung), ohne sich gänzlich aufschlüsseln zu lassen. Es lässt sich dies auch als Köder zum Übersetzen verstehen. Die Philosophie, so hatte ich es skizziert, kommt demzufolge von anderer Seite her – sie versuche Befremdendes auf den Begriff zu bringen und „durch bereits Vertrautes auszudrücken“ (ebd., S. 101; vgl. Einführung). Diese Erwartung enttäuschen die Quasi-Formulierungen in Baudrys Text in gewisser Weise: Ist mit diesen zunächst das Versprechen verbunden, einen Unterschied zwischen Film- und Traumwahrnehmung festzustellen und damit verbunden auch eine Grenze zwischen Künstlichem und Nicht-Künstlichem zu ziehen, wird dieses im weiteren Verlauf der Passage unterlaufen, wenn es am Ende im Zuge der Bestätigung der Absolutheit des Eindrucks heißt: Diesen Aufschluss gibt der Quasi-Charakter der Halluzination im Kino nicht. Vielmehr erweist sich eine Nicht-Unterscheidung von Quasihaftem und Nicht-Quasihaftem für den Begriff des filmischen Realitätseindrucks als bedeutsam – und damit auch eine Zone des Unbestimmten, des Weder-noch. In eben dieser Zone taucht bevorzugt Unheimliches auf (vgl. II.1), auf dessen Spur ich mich im Weiteren begebe.

II.4 Brüchige Bilder – Vom Unheimlichen kulturindustrieller Übersetzungen

Bei der Premiere von Peter Kubelkas Flickerfilm Arnulf Rainer im Jahr 1960 soll die Mutter des Künstlers die Vorführung dieser „siebenminütigen, streng komponierten Abfolge von schwarzen und weißen Bildkadern […] folgendermaßen kommentiert haben: ‚So etwas kann auch nur meinem Buben passieren! Jetzt ist der Projektor kaputt.‘“ (Hediger 2006b, S. 205) Kubelkas Experimentalfilm besteht aus vier Elementen: helle und schwarze Kader, Ton (weißes Rauschen) und Nicht-Ton, die sich kontrapunktisch abwechseln. Dem mit dem Bildwechsel einhergehenden stroboskopischen Flackern verdanken solcherart Filme ihre Bezeichnung Flicker. Flickerfilme experimentieren mit Bedingungen und Mechanismen der Wahrnehmung von Bewegungsillusion im Kino. Werden Einzelbilder in genügend hoher Frequenz (in der Regel 24 pro Sekunde) eingeblendet, so entsteht die Illusion von kontinuierlicher Bewegung. Bei geringerer Frequenz erzeugen die Lücken zwischen den projizierten Einzelbildern Flimmern – dieses vom konventionellen Kino vermiedene Phänomen ist der Stoff des Flickerfilms, der in spezifischen Kompositionen beim Publikum halluzinatorische Effekte bewirken kann. „Farben und andere Nebeneffekte existieren dabei nicht auf der Leinwand, sondern entstehen erst in der Übertragung und der Wahrnehmung des Publikums in einem Dazwischen“ (Holl 2008, S. 116). Dementsprechend bezeichnet Tony Conrad seinen Film The Flicker (USA 1966) als einen halluzinatorischen Trip durch eine unerforschte Höhle (vgl. ebd., S. 112). In der Filmtheorie werden Flickerfilme mitunter mit Baudrys Konzeption des filmischen Realitätseindrucks in Beziehung gesetzt. In Bezug auf The Flicker hält etwa Holl fest, dieser erzeuge in Form des „stroboskopischen Sehens“ (ebd., S. 117) eine halluzinatorische Wahrnehmung in Reinform.1 Auf diese Weise 1 | Als stroboskopisches Sehen bezeichnet Holl ein „apparativ induziertes Bewegungssehen“, „dem kein bewegtes Objekt entspricht“ – also eine Wahrnehmung „jenseits jeder Objektbewegung“ (Holl 2008, S. 111). Das Grundmaterial von Conrads Film stellen „weiß-überbelichtete oder durch Abdeckung nicht-belichtete Filmkader“ (ebd.) dar, die in Schichtung verschiedener Frequenzen angeordnet wurden. Diese Anordnung überlagert

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führe der Film vor, was Baudry als verdeckten Grundmechanismus einer jeden Wahrnehmung im Kino theoretisch beschrieben habe: die „Illusion eines Realitätseindrucks, der mit dem Eingang in die Höhle den Eingang in eine wahrnehmungspsychologische Unmündigkeit markiert“ (ebd., S. 112). Holl wertet dies als einen aufklärerischen Akt der Reflexion des Kinos auf sich selbst: „So verweist The Flicker als Kinoerfahrung gleichzeitig darauf, wie Halluzinationen aus intermittierendem Licht entstehen, und wäre also auch als Ausgang aus der Höhle der Illusionen zu bezeichnen, als Emanzipation und Entfesselung.“ (Ebd.) So demonstriere The Flicker, „dass es im Kino, anders als bei anderen Halluzinogenen, eine Erfahrung und sogar ein Wissen davon geben kann, wie sich die Welt unter Kinobedingungen konstituiert“ (ebd.). Kann man es sich so vorstellen, dass The Flicker die Blickrichtung von Baudrys Höhlenbewohner umwendet, als diese den Kopf wenden lässt weg von der Wand hin zu dem von der Höhlenöffnung her eindringenden Licht (vgl. II.3)? Eine Umwendung, die Baudry zufolge den Widerstand der Höhleninsassen provozieren würde? Holls weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass The Flicker seit seiner Premiere 1966 auf dem New York Film Festival „als Angriff auf die Unversehrtheit der ZuschauerInnen in der visuellen Wahrnehmung“ (ebd., S. 111) verstanden worden sei. Sind es im Fall von The Flicker Licht-Blitze, die anscheinend fundamental verstörend auf das Publikum wirken, so tritt in Baudrys Text die Figur des Philosophen dem Publikum als Störfaktor entgegen (vgl. II.3). Unter Bezugnahme auf Platon hält Baudry fest, dass dessen Aufklärung Aufruhr in der Höhle stiftet. Demnach würden die Höhleninsassen auf einen solchen Versuch der Aufklärung durch den Philosophen mit heftiger Gegenwehr – nämlich mit dem Versuch, diesen zu ermorden – reagieren. Indem The Flicker diesen Mechanismus der Wahrnehmung offenlege, werde der Erfahrung zugleich ein Einwand gegen Baudrys Theorie offeriert. Der Film ziehe „auf durchaus gewalttätige und das Subjekt versehrende Weise“ (ebd., S. 117) ein „optisch Unbewusstes“ (ebd.) an die Oberfläche (im Sinne einer physisch spürbaren Wirkung), welches der Bewegungsillusion des konventionellen Kino-Sehens zugrunde liegt. Die von Baudry beschriebene absolute Einhüllung werde somit als erfahrbare zugleich gebrochen: „Einerseits führt der Film in visuelle Grotten künstlicher Farb- und Raumeffekte, und andererseits greift er die Halluzination als unmittelbare Affizierung der Nerven in Form von diskreten Reizen, als Unterbrechungsvorrichtung an, eben als ‚sensory disruption‘.“ (Ebd.,

verschiedene Frequenzen, wobei im Verlauf von The F licker „allmählich die Schwelle des Kontinuitätseindrucks“ unterschritten wird, „wenn er von 24 Bildwechseln auf vier pro Sekunde reduziert und dann wieder in erhöhter Frequenz aus dem Flackerbereich herausführt“ (ebd., S. 114). Die Interferenzen der Frequenzen des Bildwechsels von The F licker evozieren in der Wahrnehmung des Publikums „Rhythmus-, Raum- und Farbeffekte“ (ebd.), d.h. die Wahrnehmung von Farbe ist ein Effekt der Licht-Signale.

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S. 112)2 Auf diese Weise sei es „gerade die physisch spürbare Einwirkung puren Lichts, die die Evozierung der Vorstellung im Kino deutlich als eine von außen induzierte markiert“ (ebd.). Dies widerlege in gewisser Weise Baudrys Annahme, im Kino sei eine „realitätsprüfende Unterscheidung“ (ebd.) unmöglich. Diese Interpretation von Holl überspringt die von mir im Vorhergehenden herausgestellten Quasi-Aspekte bezüglich der Absolutheit des halluzinatorischen Charakters von Baudrys Text. Wie ich herausgearbeitet habe, schwankt die Argumentation insbesondere gegen Ende des Texts in der Frage, ob die Anwendung der Realitätsprüfung unmöglich oder quasi-unmöglich bzw. ob der Eindruck halluzinatorisch oder quasi-halluzinatorisch sei. Letztlich aber trägt über diese Vagheit Baudrys Annahme hinweg, der totale Charakter des filmischen Realitätseindrucks werde von dieser Frage nicht berührt. So heißt es an der betreffenden Stelle im Text: Auch wenn im Kino – im Unterschied zum Traum – das Wahrgenommene realitätsgerecht als Phänomen der äußeren Realität aufgefasst wird, ist der Modus halluzinatorisch (vgl. Baudry 2003b, S. 48; vgl. II.3). Und obwohl die KinozuschauerInnen im Unterschied zum Schlafenden aufstehen und das Kino verlassen könnten, unterscheide sich ihre Wahrnehmung nicht prinzipiell von der des Träumenden. Holls Interpretation, The Flicker liefere einen ästhetisch erfahrbaren Einwand gegen Baudrys Konzeption des totalen Eindrucks, nimmt dessen Bestimmung des totalen Charakters auf, nicht aber die Quasi-Momente seiner Argumentation. Was zur Konsequenz hat, dass als Einwand gegen Baudrys Auffassung geltend gemacht wird, was in Baudrys Sinne kein Einwand wäre: Seines Erachtens besteht ja im Kino eine realitätsgerechte Wahrnehmung, die ihm zufolge gleichwohl halluzinatorischen (bzw. eben quasi-halluzinatorischen) Charakters ist.3 Dieses Argument wird von Baudry im Zuge eines Beiseite-Legens der Quasi-Aspekte (bzw. genauer: der Bedeutsamkeit einer Unterscheidung 2 | The F licker hält Holl zufolge, „wenn er das Intermittierende am Grund jeder Filmprojektion selbst zeigt, die Kluft zwischen imaginärer Kontinuität und technisch realer Diskontinuität der Bilder offen“ (Holl 2008, S. 112). 3 | Baudry unterstreicht auch, es handele sich im Kino um eine „relative Aufhebung der Realitätsprüfung“ (Baudry 2003b, S. 59; vgl. II.3). Dieses Relative aber tut Baudrys Konzeption zufolge dem halluzinatorischen Charakter des filmischen Realitätseindrucks keinen Abbruch, wie ich gezeigt habe. Sowohl im Traum (bei dem die Aufhebung der Realitätsprüfung uneingeschränkt gelte) als auch im Kino (wo dies nicht uneingeschränkt gelte) sei der spezifische Modus der halluzinatorischen Wunscherfüllung als psychische Realität geltend. Ganz realitätsgerecht präsentieren sich jedoch, wie Baudry anmerkt, im Kino Wahrnehmungen als Wahrnehmungen äußerer Realität. Entscheidend ist für Baudry, dass diese in der psychischen Realität sich auf demselben Rang wie Vorstellungen befinden – d.h., ob (wie im Traum) Vorstellungen als Wahrnehmungen oder ob (wie im Kino) Wahrnehmungen als Vorstellungen auftreten. Diese Ranggleichheit ist demnach für ihn entscheidend – und gerade nicht, was Holl geltend macht, die Wahrnehmung, dass das Wahrgenommene von außen stammt.

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von Quasi und Nicht-Quasi) gewonnen, welche auch in der nachfolgenden Rezeption des Texts weitgehend unbeachtet bleiben. In diesem Fall wird in Holls Kritik an Baudry dieses Zur-Seite-Schieben der Quasi-Aspekte im Überspringen fortgeschrieben. In Baudrys Darstellung der Realitätsillusion, so hat meine Lektüre ergeben, haben die Quasi-Aspekte den Charakter von Abgebrochenem, welches nun einer Re-Lektüre unterzogen werden soll. Aufgesucht wird damit eine im baudryschen Text aufscheinende „Grenze der Interpretation“ (Germer 2006, S. 191) als ein Bereich, an dem häufig Unheimliches auftaucht (vgl. II.1). Den Ausgangspunkt meiner Überlegung hatte ich einleitend anhand von Adornos Interpretation von Huxleys „Brave New World“ (1993) skizziert (vgl. II.1). Dieser versteht Huxleys Welt-Entwurf als einen verabsolutierenden Vorgriff auf das Telos einer gesellschaftlichen Tendenz zu einer totalen Integration, die Adorno als panische Reaktion deutet. In diesem panischen Denken werden Momente der Phänomene übersprungen (d.h. nicht zum Gegenstand der Deutung gemacht), die sich dieser Tendenz nicht fügen. Ich habe in Anschluss daran vorgeschlagen, die für Baudrys Konzeption des filmischen Realitätseindrucks zentrale Vorstellung einer totalen Integration der Subjekte in diesem Sinne als eine panische Reaktion auf eine Ohnmachtserfahrung anzusehen und daher in meiner Lektüre die Aufmerksamkeit auf eben jenes Überspringen der Quasi-Aspekte in Baudrys Text gerichtet. Entlang verschiedener Stationen, werde ich im Folgenden in Konstellation von unterschiedlichem ästhetischen Materials mit Quasi-Aspekten, wie sie aus der Lektüre von Baudrys Text gewonnen werden konnten, die Beziehung von Unheimlichem und Kulturindustrie untersuchen. Ausgehend von einem Schnittpunkt von Baudrys Konzeption mit experimentellen Flickerfilmen werde ich zunächst – gestützt auf verschiedene AutorInnen – bestimmte Aspekte der freudschen Auffassung des Unheimlichen herausarbeiten. Womit zunächst überhaupt gezeigt werden soll, inwiefern Baudrys Konzeption mit einem unheimlichen Moment ringt und was unter diesem im psychoanalytischen Sinne zu verstehen ist. Von hier ausgehend gehe ich auf Baudrys Auffassung der halluzinatorischen Wunscherfüllung ein, die das Herzstück seiner gesamten Konzeption bildet (vgl. II.3). Konfrontiere ich diese mit anderen möglichen Lesarten, so kann dann im Folgenden genauer ausgeleuchtet werden, inwiefern der Fluchtpunkt von Baudrys Annahme einer im Kino stattfindenden zeitlichen Regression in ein urzeitliches Stadium des Subjekts in paradoxer Weise zugleich das Ende des Subjekts bedeutet: Als impliziter Telos seiner Konzeption erweist sich der Todestrieb. Vor diesem Hintergrund lässt sich Baudrys Theorie selbst auch als ein Mythos verstehen, in dem sich ein Traum von einem Störungs- und Ambivalenz-freien Zustand darstellt, der in einigen Aspekten an Huxleys Weltmodell erinnert. Kern dieser bösen Träume ist die Vorstellung eines reibungslosen Ineinander-Aufgehens von Mensch und (technischem wie gesellschaftlichem) Apparat; ein zentrales

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phantasmatisches Motiv stellt in diesem Zusammenhang das Verschluckt- und Vernichtet-Werden von einem verselbständigten Mechanismus dar. Es zeigt sich auch der Wunsch, diesen aufzubrechen bzw. diesen Mechanismus durch erhellende Erkenntnis zu unterbrechen. Ich werde die Beziehung dieses bösen Traums zum unheimlichen Moment des Konsums in der Massenkultur aufweisen ausgehend von Filmprojekten von Mitgliedern der KünstlerInnengruppe „Die Tödliche Doris“ mit den Titeln Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten (BRD 1979-81; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 25 Min.; gekürzte Fassung 9 Min.) und Der Fotomatonreparateur (BRD 1982; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 2 Min.). Diese nehmen in spezifischer Weise das Stroboskop-Licht der Flickerfilme in sich auf. Und wiederum Jahre später wird die Idee, auf der die Filme von Müller und Utermöhlen basieren, in den Erfolgsfilm Die fabelhafte Welt der Amélie (F/D 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet) eingespeist. Unter besonderer Berücksichtigung des – auch für Baudrys Text zentralen – Verhältnisses von Ton und Bild werde ich anhand dieses Materials und unter Rekurs auf Adorno zeigen, inwiefern das in kulturindustriellen Übersetzungsprozessen auftauchende Unheimliche als ein Erleben von Entfremdung aufgefasst werden kann, in der die Beziehung von Unbewusstem und Gesellschaft in spezifischer Weise hervortritt.

1.  Unheimliches Flackern Während in der Regel im Kino bewegte Objekte auf der Leinwand zu sehen sind, spricht The Flicker Blümlinger zufolge „das ‚innere Auge‘“ an (Blümlinger 2006, S. 138), d.h. „die zentrale Wahrnehmungsfunktion ‚als elektro-chemisches Funktionieren eines Nervensystems‘ (Sharits)“ (ebd.), und operiert mit menschlicher Wahrnehmung als einer „apparative[n] und perzeptuelle[n] Variable“ (ebd.). Im „Raum der Frequenzen“ sei die gewohnte „Unterscheidung von deception und perception“ unmöglich (Holl 2008, S. 110). Verschränkungen von Menschlichem und Maschinellem sind ein prominenter Topos unheimlichen Erlebens. Wenn, wie Holl zeigt, das von The Flicker bewirkte stroboskopische Sehen die ansonsten im konventionellen Kino-Erlebnis nicht wahrnehmbaren Interaktionen zwischen Kino-Apparat und menschlicher Wahrnehmung offenlegt, so spricht diese Interpretation einen typischen Fall des Unheimlichen an, wie ihn Freud aus der 1906 erschienenen Arbeit „Zur Psychologie des Unheimlichen“ von Ernst Jentsch (2014) aufgreift: Häufig tritt demnach ein unheimliches Gefühl auf, wenn „in dem Zuschauer Ahnungen von automatischen – mechanischen – Prozessen geweckt werden, die hinter dem gewohnten Bilde der Beseelung verborgen sein mögen“ (Freud 1919h, S. 237). In The Flicker wird das Publikum bereits durch den Vorspann auf eine Einschaltung des technischen Apparats in den Wahrnehmungsprozess vorbereitet. Eine Texttafel übermittelt hier die Empfehlung, ein Arzt solle bei der Filmvorführung anwesend sein, da der Film zu Schocks oder gar zu epileptischen An-

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fällen führen könne. Ist eine Wortbedeutung von Epilepsie Überfall, so wird hier auch eine potentiell schädigende Attacke auf das Publikum angekündigt. Wie Strick hinweist, steht der epileptische Anfall4 paradigmatisch für eine unheimliche Untrennbarkeit von Mensch und maschinellem Mechanismus, wenn sich nämlich Menschen „am Rande des Maschinösen“ (Strick 2014, S. 118) bewegen. Stilistisch erinnert die Texttafel an Vorspann und Zwischentitel aus Stummfilmen. Und auch das Flackern selbst kann als eine Reminiszenz an ein Phänomen aus frühen Zeiten des Kinos verstanden werden. So weist Holl darauf hin, dass damals die mit Handkurbeln in Gang gesetzte Projektion eine maximale Anzahl von 18 Bildern pro Sekunde erreichte und so ein Flimmern die Vorstellungen begleitete, wozu auch die Unregelmäßigkeit der Impulse beitrug (vgl. Holl 2008, S. 115). Das für das Stummfilmkino charakteristische Flackern, so Holl, „provozierte das Unbehagen der Zuschauer und das Interesse der Psychologen“ (ebd.), deren Experimente auch die technische Entwicklung des Kinos begleiteten. Durch die Erfindung von Blenden konnte die Frequenz der Bilder in entscheidendem Maße erhöht und das Flimmern zugunsten des Eindrucks kontinuierlicher Bewegung reduziert werden (vgl. ebd.). Lässt sich nun der Flickerfilm als eine kritische Wendung gegen die konventionelle filmische Illusionswirkung verstehen, so handelt die anfänglich erwähnte Anekdote von Kubelkas Mutter, die die ästhetische Intervention ihres Sohnes als eine technische Störung wahrnimmt, auch vom Scheitern solcherart Demystifizierungsversuche. Hediger zufolge erzählt diese auch von der „Vergeblichkeit des Versuchs, dem Medium Film die Illusionswirkung auszutreiben“ (Hediger 2006b, S. 205). Ihm nach provozierte die unerschütterliche Anhänglichkeit des Publikums an die filmische Illusion stets auch ein Unbehagen in der Filmtheorie und -praxis und weckte den Wunsch nach Desillusionierung. Hierin liege eine Gemeinsamkeit von Flickerfilmen und Baudrys Theorie: In beiden Fällen handele es sich um Maßnahmen gegen die Illusionswirkung des konventionellen Kinos5, die auch „von einer Beunruhigung, die seit je von der filmischen 4 | Jentsch sieht in der Bezeichnung Morbus sacer für epileptische Anfälle auch einen Hinweis auf einen der Gründe, warum diese als unheimlich wahrgenommen werden: Wahrgenommen werde eine gegenüber der Psyche verselbständigte Physis. So vermutet Jentsch, dass der hysterische Anfall weniger großes Befremden als der epileptische hervorrufe, weil nämlich die HysterikerInnen für gewöhnlich „das Bewusstsein behalten“ (Jentsch 2014, S. 184). Der hysterische Anfall berge ein minder großes Verletzungsrisiko, so Jentsch, und die Art der Bewegung erinnere „wieder an verborgene psychische Vorgänge […], insofern hier die Muskelunruhe einem gewissen höheren Ordnungsprinzip folgt, was mit der Abhängigkeit des Grundleidens von Vorstellungs- (also wieder psychischen) Vorgängen in Verbindung steht“ (ebd.). 5 | Blümlinger spricht ebenso wie Holl davon, dass Flickerfilme „der Transparenz der realistischen Darstellung und der Illusion der unmittelbaren Abbildung im Erzählkino“ (Blümlinger 2006, S. 121) entgegentreten.

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Illusion auszugehen scheint“ (ebd., S. 206), zeugen. Wenn Baudrys Theorie und die Flickerfilme versuchten, der Illusionswirkung mit der Rückführung „auf die Bedingung ihres Eintretens“ (ebd., S. 209) Herr zu werden,6 so belegen Hediger zufolge dieserart Demystifizierungsversuche von Illudierungserfahrungen (vgl. Koch/Voss (Hrsg.) 2006) auch die „tief sitzende Angst“ davor, „das Medium nicht als Medium zu erkennen […] oder sich im Medium zu verlieren“ (Hediger 2006b, S. 230). So gesehen, ist die theoretische Konzeption des filmischen Realitätseindrucks als Totaleffekt auch der Versuch, einen mit der Vorstellung einer Verschmelzung von Subjekt und Apparat verbundenen Schrecken zu bewältigen. Freud fasst das Unheimliche als einen Spezialfall des Ängstlichen und Schreckhaften auf (vgl. Freud 1919h). Im freudschen Kontext handelt es sich beim Unheimlichen um eine „psychoanalytische Erfahrungskategorie“ (Bernard 2006, S. 61), wobei dieses von Freud, wie Cixous zeigt, in „einer elastischen Definition zugleich als ‚Gebiet‘ und als ‚Konzept‘“ (Cixous 2006, S. 40) bestimmt wird. Eine gewisse Vagheit ist dem Unheimlichen laut Cixous eigen, dessen Gebiet „bleibt unbestimmbar“ und „das Konzept ist ohne Kern: das Unheimliche präsentiert sich zunächst am Rande von etwas anderem“ (ebd.). Laut Freud liegt es im Bereich des Schreckens, der Angst, des Grauens, zugleich aber bildet es einen eigenen Bereich und scheint nicht zu deren „Familie zu gehören“ (ebd.). Dieser psychoanalytische Begriff des Unheimlichen hat mit dem des filmischen Realitätseindrucks gemein, dass in beiden Fällen auch ein emotionaler Effekt (vgl. Bernard 2006, S. 60) bezeichnet wird. Und als solcher, so Bernard, liegt das Ungreif bare des Unheimlichen auch darin begründet, dass es nicht „konkret und nachweisbar irgendwo in einem Kunstwerk oder Text“ (ebd.) existiert. Das Unheimliche bezeichnet eine „überschüssige Qualität“, so Germer, „die sich nicht in Darstellung einfrieden lässt“ (Germer 2006, S. 160), sondern im Zwischenraum von Darstellung und Rezipierendem anzusiedeln ist. Nichts ist an sich unheimlich, sondern unheimlich ist etwas nur für jemanden. Was freilich nicht bedeutet, dass sich daher keine allgemeinen Charakteristiken angeben ließen – dass das Auftreten des Unheimlichen subjektiven Bedingungen unterliegt, wäre ja selbst eine seiner verallgemeinerbaren Bestimmungen. Auch wenn sich die Bedingungen für das unheimliche Erleben somit nicht primär aus Stofflichem und Materiellem ableiten lassen (vgl. auch Lindner 2006, S. 17), so gehört das

6 | Wenngleich die filmologischen Theorien illusionsfreundlich auftreten, wenn „die Illusion als produktive Dimension“ angesehen ist, so zeigt sich hier (vgl. I.2 und I.3) auf anderem Wege als im Falle der baudryschen Konzeption gleichwohl ein Bedürfnis danach, bestimmte Aspekte der filmischen Wirkung unter Kontrolle zu bringen. Denn es ging, wie auch Hediger betont, letztlich den Filmologen darum, das Medium „zu regulieren, also in ein[] wissenschaftlich fundiertes Kontrollsystem zu überführen […], um zu verhindern, dass der Film noch einmal zu einer zivilisatorischen Katastrophe von den Ausmaßen des eben abgeschlossenen Krieges beitrug“ (Hediger 2006b, S. 206).

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Hervortreten7, das Sichtbarwerden des Unheimlichen gleichwohl zu „seinen Wesenszügen“ (Germer 2006, S. 159). Das Unheimliche – ebenso wie der Realitätseindruck – liegt demzufolge selbst nicht handfest vor, aber tritt an materiellen Phänomenen für Subjekte in Erscheinung. Wobei das Aufkommen von Unheimlichem, wie Germer aufmerksam macht, nicht als ein einfacher Wechsel vom Feld des Verborgenen in das Feld des Sichtbaren zu verstehen ist, sondern als ein auftauchendes „Verweisungsverhältnis“ (ebd., S. 160), welches auf ein Jenseits der Bilder (vgl. ebd.) hindeutet, auf ein Jenseits des Darstellbaren. Unheimliches stößt uns damit auch auf eine „Grenze der Interpretation“ (ebd., S. 191; vgl. II.1). Der Begriff – und auch Phänomene – des Unheimlichen sind in mäandernden Zwischenbereichen situiert. Es ist, wie Gast schreibt, durch „die subversive Aufhebung eindeutiger Definiertheiten bestimmt; es ereignet sich in der ambivalenten Grenzüberschreitung“ (Gast 2011b, S. 351). Auch Freuds Text „Das Unheimliche“ (Freud 1919h) selbst zeugt von der Schwierigkeit, das Unheimliche begrifflich zu fassen, welche z.B. Lindner festmacht an der an der Unverbundenheit der Teile dieses Textes untereinander, einer irritierenden Überfülle von Beispielen, die „wiederum durch massive definitorische Grenzziehungen gebändigt werden, die aber selbst wieder zu zahlreich sind, um klärend zu wirken“ (Lindner 2006, S. 32). In Freuds umfangreichem „Um-schreiben“ des Unheimlichen sieht Cixous „ein System von Beunruhigungen festgeschrieben“: „Nichts ist für den Leser weniger beruhigend als diese pedantische, vorsichtige – doch durchtriebene und endlose – Nachstellung“ (Cixous 2006, S. 37). Immer wieder werde der Boden von Freuds Beweisführung „brüchig“ (ebd.), als entzöge sich dieser ihr Gegenstand, das Unheimliche. Die Auseinandersetzung mit der Frage des Bruchs in der Apparatusdebatte kann in Anschluss an Hediger als ein Versuch der Schreckensbewältigung ins Auge gefasst werden, der in Cixous Sinne Brüche hervorbringt. Ein Gegenstandsbereich der Apparatus-Diskussionen ist die konstitutive Verschränkung von Subjekt und filmischem Apparat (vgl. II.2), von der auch etwas Unheimliches ausgehen kann. Unheimliches, so lässt sich festhalten, scheint dann aufzutauchen, wenn Schreckenerregendes nicht gebunden werden kann, wenn dieses sich als unverortbar erweist und Brüche, Grenzverwischungen zum Vorschein kommen. Die dafür privilegierten Zonen in Baudrys Text wurden von mir im Vorhergehenden ausgeleuchtet. An den Rändern seines Begriffs des filmischen Realitätseindrucks zeichneten sich die mit Gewissheit getroffenen Definitionen durch eine gewisse Überschüssigkeit aus, die ich in meiner Lektüre an der Evokation von Zweifel an der Tragfähigkeit der baudryschen Argumentation, einer gewissen Überfrachtetheit des Textes mit sinn-versprechenden Bezügen, dem mäandernden Verlauf von Begriffsbestimmung und nicht zuletzt dem Verpuffen der 7 | Freud zitiert hier Schelling: „Unh. nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (Freud 1919h, S. 235).

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Quasi-Aspekte festgemacht habe. Diese Textpassagen weisen Charakteristiken eben jenes Randbereichs auf, an dem Unheimliches bevorzugt vorkommt und der auch die begrifflichen Bestimmungen des Unheimlichen selbst betrifft: In Bestimmung eines quasi-halluzinatorischen Eindrucks (im Kino), der sich nicht gravierend von einem tatsächlichen halluzinatorischen Eindruck (im Traum) unterscheidet, unterläuft die Darstellung Baudrys gewohnte und vertraute Grenzziehungen (letztlich die der Unterscheidung zwischen menschlichem Subjekt und technischem Apparat). Diesem Begriff des Realitätseindrucks haftet damit etwas Unfassbares und Unbestimmtes an. Dies allein ist aber kein hinreichendes Kriterium, um gemäß der freudschen Auffassung hier von einem Unheimlichen zu sprechen. Zu dem Aspekt des „Nichtvertrauten“ muss diesem zufolge „erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht“ (Freud 1919h, S. 231): eine Wiederkehr des Verdrängten.

2.  Unheimlich entfremdet Freud richtet sich mit seiner Annahme, das Unheimliche sei nicht auf das Nicht-Vertraute an sich, sondern auf dessen Legierung mit der Wiederkehr des Verdrängten zurückzuführen, kritisch gegen die Psychologie des Unheimlichen von Jentsch (vgl. dazu De Rentiis 2016), an dessen Analyse von E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ (2003)8 Freuds Abhandlung „Das Unheimliche“ anknüpft. Jentsch sieht in dem Wort unheimlich eine „eine ziemlich glückliche Bildung“ (Jentsch 2014, S. 179), denn diese drücke „zweifellos“ aus, dass unheimlich sei, wenn man in einer „Angelegenheit nicht recht ‚zu Hause‘, nicht ‚heimisch‘ ist“ (ebd.). Es ist Jentschs zentrale Annahme, „dass mit dem Eindruck der Unheimlichkeit eines Dinges oder Vorkommnisses ein Mangel an Orientirung [sic] verknüpft ist“ (ebd.) und dieser letztlich auf eine intellektuelle Unsicherheit zurückzuführen sei.9 Unheimlich wirke, wenn man sich nicht zu Hause fühle, etwas nicht bekannt, nicht-identifizierbar sei. Auch Freud setzt bei der Wortbedeutung von unheimlich an. In Jentschs „Gleichung unheimlich = nicht vertraut“ (Freud 1919h, S. 231) sieht Freud einen von der Verwendung des Wortes nahegelegten Fehlschluss über den Charakter des Unheimlichen: Da das „deutsche Wort ‚unheimlich‘ [...] offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut“ (ebd.) ist, sei die Schlussfolgerung nahegelegt, etwas sei Schrecken erregend, weil es unbekannt sei. Eben hier setzt Freuds Kritik an. In der Tat löse vieles, aber längst

8 | Vgl. zu Hoffmanns Erzählung Hertz 1983. 9 | Freud stellt zusammenfassend fest, Jentsch sei „im ganzen bei dieser Beziehung des Unheimlichen zum Neuartigen, Nichtvertrauten, stehen geblieben. Er findet die wesentliche Bedingung für das Zustandekommen des unheimlichen Gefühls in der intellektuellen Unsicherheit. Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt.“ (Freud 1919h, S. 231)

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nicht alles Unbekannte Schrecken aus. Was also, so lautet Freuds Frage, muss hinzukommen, um jenem einen unheimlichen Charakter zu verleihen? Freud wendet sich in „Das Unheimliche“ zu Beginn bekanntlich einem Wörterbucheintrag zum Gegensatzwort heimlich zu. Das „Wörtchen heimlich“ zeige „unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine […], in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“ (ebd., S. 235). Der eindeutigen Auffassung des Wortes unheimlich kommt somit Entscheidendes hinzu: „Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ (Ebd., S. 237) Demnach bedeutet das Unheimliche also Quasi-heimlich. Mit solcherart Zusammenfallen beschäftigt sich Freud auch in dem einige Jahre zuvor erschienenen Aufsatz „Über den Gegensinn der Urworte“ (ders. 1910e) anhand einer Untersuchung von Frühformen der ägyptischen Sprache des Sprachforschers Karl Abel. Dieser war darauf gestoßen, dass eine beträchtliche Anzahl von Wörtern gegensätzliche Bedeutungen vereinten. Abel erklärt sich diesen Sachverhalt so: „Der Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe nicht anders erringen können als im Gegensatze zu ihrem Gegensatz und erst allmählich die beiden Seiten der Antithese sondern und die eine ohne bewußte Messung an der andern denken gelernt.“ (Abel zit. n. ebd., S. 218; Herv. S. W.) Die spätere Sonderung, so schreibt Bischoff, stellt die „Überlagerung eines prinzipiell undarstellbaren Bruchs [dar], der in der Ambivalenz des Urworts noch geborgen war“ (Bischoff 2002, S. 51). Ebenso wie in Bezug auf das Unheimliche verwendet Freud hier die Etymologie hinsichtlich der in ihr angelegten Ambivalenzen von Bedeutungen als Lehrstück für seine Untersuchung unbewusster Prozesse (vgl. dazu auch Maciejewski 1994). Durch Abels Fund sei er, so schreibt Freud, erst zum „Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traumarbeit“ gelangt, „von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungsmittel Gegensätzliches zum Ausdruck zu bringen“ (Freud 1910e, S. 215). Und diese Neigung erwies sich Gast zufolge wiederum in der Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie noch grundsätzlicher als Symptom „für etwas, das dem Subjekt und seiner innersten Architektur selbst eignet“ (Gast 2011b, S. 350) und auf welches auch das Unheimliche verweist: Das Unbewusste „markiert eine Fehlstelle, ja eine Kluft, ein Auseinanderklaffen, das die binäre Eindeutigkeit von Grenzziehungen verwischt, ihr buchstäblich den Boden, den Grund entzieht“ (ebd., S. 352 Bezug nehmend auf Lacan 1964, S. 32). Das Unheimliche deutet demnach auf die Möglichkeit einer Außerkraftsetzung der Bedingungen von Grenzziehungen hin, wie sie Abel zufolge im weiteren Verlauf der Geschichte die Urworte in Sinn und Gegensinn splitteten. In Bezug auf das Unheimliche spricht Freud von dessen „geheime[r] Natur“ (Freud 1919h, S. 254), in der begründet läge, warum im Sprachgebrauch das Heimliche mitunter in seinen Gegensatz übergehen kann. An dieser Stelle vertritt Freud die Annahme, dass sich mit der Verdrängung eine Verwandlung jeden

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Affekts in Angst vollziehe und dass das unheimliche Erleben die Wirkung der mit der Wiederkehr des Verdrängten entbundenen Angst sei (vgl. ebd.).10 So ließe sich verstehen, dass das Unheimliche „wirklich nichts Neues oder Fremdes [ist], sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist“ (ebd.). Während Freud sich auf die „Schellingsche Definition“ stützt, „das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist“ (ebd.) und damit als ein Hervortreten eines sonst Verborgenen charakterisiert, führt Jentsch die unheimliche Wirkung auf ein Verborgen-Bleiben zurück. Dies wird deutlich an einem Beispiel, welches Jentsch aus seiner Lektüre von „Der Sandmann“ gewinnt: Eine „kräftige und sehr allgemeine“ unheimliche Wirkung rühre aus dem „Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei, und zwar auch dann, wenn dieser Zweifel sich nur undeutlich im Bewusstsein bemerklich macht“ (Jentsch 2014, S. 181). In dieser „rationalistische[n] Erklärung“ (Lindner 2006, S. 20) wird das unheimliche Erleben also daraus abgeleitet, dass für den Intellekt im Dunklen bleibt, ob es sich bei einem Wesen um einen Menschen oder um eine Maschine handelt. 11 Für Jentsch bedeutet die Vorsilbe Un- „zweifellos“ (Jentsch 2014, S. S. 179; s.o.) nicht: Wenn zum Beispiel nicht klar ist, in welche Richtung Anzeichen weisen, d.h. wenn unklar ist, wie diese zu deuten sind.

10 | Freud spricht hier von der Verwandlung eines Affekts durch den Akt der Verdrängung, Lacan hebt hervor, dass ‚unverwandelte‘ Affekte nicht zu haben sind: Der „Affekt ist nicht das in seiner Unmittelbarkeit gegebene Sein und auch nicht das Subjekt in einer rohen Form […]. Umgekehrt habe ich über den Affekt gesagt, dass er nicht verdrängt ist. Dies sagt Freud genauso wie ich. Er ist aus seinen Vertäuungen gerissen [désarrismé], er driftet ab. Man findet ihn verschoben, verrückt, verkehrt und verwandelt wieder, nur verdrängt ist er nicht. Verdrängt sind die Signifikanten, die ihn vertäuen.“ (Lacan 2010, S. 25) In diesem Sinne, wie Binotto anschließend an Lacan formuliert, gibt es keine ‚ursprüngliche‘ Verbundenheit von Vorstellung und Affekt, die gestört werden könnte – Affekte sind „immer gestört“ (Binotto 2015, S. 85). Binotto verweist in diesem Zusammenhang auch auf Freuds Text „Die Verdrängung“ (Freud 1915d), in dem der Affekt als „andauernde Verlagerung“ (Binotto 2015, S. 84) charakterisiert ist. 11 | Diese Annahme wischt Freud rigide zur Seite und ersetzt diese durch eine andere Erklärung dessen, wodurch Hoffmanns Erzählung eine unheimliche Wirkung erziele. Dabei lenkt Freud die Aufmerksamkeit auf ein anderes Motiv: Es ist ihm zufolge die Wiederkehr kindlicher Kastrationsangst, die durch die literarische Darstellung des ‚Augenklaus‘ angeregt wird (Freud 1919h, S. 238ff.). Ich gehe hier nicht näher darauf ein, was bereits von unterschiedlicher Seite festgehalten wurde, nämlich dass Freuds Deutung von einem, wie Lindner schreibt, „außerordentliche[n] Interesse“ angetrieben scheint, „das Unheimliche auf die Figur des ‚infantilen Neurotikers‘ zu fixieren“ und mit dieser Fixierung „die unheimlichen Effekte“ (Lindner 2006, S. 22) von Hoffmans Erzählung bannt.

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Gegenüber Jentsch wendet Freud gewissermaßen ein: Das Un- des Unheimlichen bedeutet nicht nicht – es lässt sich nicht auf das Nicht-Bekannte zurückführen, es sei also nicht das Nicht-Heimische, nicht das Nicht-Vertraute an sich, was das Unheimliche evoziert. Freud fasst die Vorsilbe Un- als „die Marke der Verdrängung“ (Freud 1919h, S. 259) auf. Als eine der „besonderen Eigenschaften“ des System Ubw hält Freud fest, dass es in diesem „keine Negation“ (ders. 1915e, S. 285) gibt. Die „Semantik der Vorsilbe ‚Un-‘“ ist laut Gast als „Platzhalterin des Fehlens“ zu verstehen, als eine „Signatur der Kluft“ (Gast 2011b, S. 352). Dieser ist ihr zufolge – und diese Annahme ist entscheidend – „das Nichtrepräsentierte und vor allem das Nichtrepräsentierbare eingeschrieben“ (ebd.). Während für Jentsch Unheimliches also aufkommt, wenn z.B. die Frage unentschieden bleibt, handelt es sich entweder um einen Menschen oder um eine Maschine, ist das Objekt entweder belebt oder unbelebt, lässt sich ausgehend von Freud der Bereich des Unheimlichen als ein „intermediäre[r] Raum zwischen Sowohl-als-auch und Weder-noch“ (ebd., S. 351) verstehen, als eine Zone also, in der das Einbrechen von Grund und Boden definitorischer Grenzziehungen droht. So gesehen kann das Unbestimmte des Unheimlichen „als eine spezifische Form oder als eine spezifische Wirkung gefasst werden, in die hinein die ubiquitäre Ambivalenz des Seelenlebens diffundiert, in die hinein sie sich verlieren kann“ (ebd.). Es ist, so die These Gasts, „diese unabschließbare, infinite Uneindeutigkeit der Ambivalenz, die die Logik des Unheimlichen determiniert und dessen ästhetisches Prinzip formiert, strukturiert und inszeniert“ (ebd.). Freuds Formulierung, das Unheimliche sei, was durch den „Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist“ (Freud 1919h, S. 254; s.o.) lässt sich aus dieser Perspektive nicht als Verfremdung eines ursprünglich Unverfremdeten verstehen. Was im Unheimlichen demnach aufscheint, ist Entfremdung als Ursprung des Subjekts: „Wir sind Subjekte, weil wir uns selbst unverfügbar sind, weil wir uns selbst niemals ganz inne werden, weil wir niemals ganz, sondern auf immer uneins, uns fremd, entfremdet und zerrissen sind – das ist der Preis unserer Subjektwerdung“ (Gast 2011b, S. 355f.).12 Freud sieht im Unterschied zu Jentsch das „Motiv der belebt scheinenden Puppe Olimpia“ (Freud 1919h, S. 238) nicht als maßgebliches für die unheimliche Wirkung von Hofmanns Erzählung, denn der Zweifel über die Belebtheit oder Unbelebtheit könne prinzipiell von der Realitätsprüfung entschieden werden. Speist sich das Unheimliche aus der Wiederkehr des Verdrängten, so komme die „Frage der materiellen Realität gar nicht in Betracht, die psychische Realität tritt an deren Stelle“ (ebd., S. 263). Singt Freud in diesem Zusammenhang „das hohe Lied auf die Realitätsprüfung“ (Gast 2011b, S. 354), die das potentiell Unheimliche 12 | Von eben jener Entfremdung zeugt demnach auch die Jentsche Gleichung unheimlich = unbekannt selbst, der das Geheimnis des Übergangs zwischen dem Seelenleben Vertrautem und Fremdem fremd ist. Eben jener Übergang ist das von dieser Gleichung Ausgeschlossene.

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der Vorstellung belebter Maschinen in der Beurteilung als bloße Phantasie entscheidend abschwächen könne, so zeigt Gast, inwiefern sich gerade an der Frage Mensch oder Maschine eben jene Kluft der Unentscheidbarkeit eröffnen kann, die in höchst bedrohlicher Weise aufscheinen lässt, dass im „Hintergrund der Realitätsprüfung“ sich immer etwas befindet, was „unerkannt, verleugnet, ausgeklammert, ausgeschlossen bleibt“ (ebd.).

3.  Halluzinatorische Wunscherfüllung als Grenzphänomen Um diese Kluft zu umreißen greift Gast auf das bekannte Phänomen des „Uncanny Valley“ zurück, auf welches der Roboterforscher Masahiro Mori Anfang der 1970er Jahre gestoßen ist. Experimente mit einem menschenähnlichen Roboter zeigten, dass die Versuchspersonen bei wachsend wahrgenommener Ähnlichkeit mit größerer Zuneigung auf diesen reagierten, jedoch an einem bestimmten Punkt die positiven Gefühle in Angst und Verstörung kippten. Laut Gast „steht zu vermuten, dass diese Reaktionen auf ein Unscharfwerden, ja auf eine Auflösung der Kategorien im Sinn einer entgrenzenden Ambivalenz zurückgehen: Die Frage ‚Mensch oder Maschine‘, ‚belebt oder unbelebt‘, ‚beseelt oder seelenlos‘ ist nicht nur nicht eindeutig entscheidbar; sie läuft vielmehr ins Leere […], sodass sich das Gefühl der Vertrautheit, die Befriedigung des Wiedererkennens in bedrohlich Fremdes umkehrt“ (Gast 2011b, S. 353f.). Wenn die Literatur des Unheimlichen, so Zupančič, Drohungen eines derartigen „Zusammenbruchs“ bei den LeserInnen wachruft, so bedeutet das ihr zufolge auch, dass im Bereich des Ästhetischen „mit der fundamentalen Ambiguität und Ambivalenz des Seelenlebens“ gespielt wird (Zupančič 2009, S. 71). Wie ich im ersten Teil meiner Arbeit gezeigt habe, ist Ambivalenz für das spielerische Moment kulturindustriellen Erlebens der An-Trieb (vgl. I.4). Der Raum des Spiels ist bestimmt durch potentielle Grenzüberschreitungen und der damit verbundenen Möglichkeit, Realitäten zu entwerfen, in denen sich die Ambivalenz ausgestaltet und als Quelle des kulturellen Lustgewinns fungiert. Das Spiel kann mit Gast als „die lebenszugewandte, die libidinöse Seite der Ambivalenz“ aufgefasst werden, deren „gegenläufige Seite“ (Gast 2011b, S. 355) im Unheimlichen hervortritt. Unheimliches kommt ihr zufolge auf, wenn „das Konflikthafte und damit das potenziell Produktive der Ambivalenz“ zurücktritt und eine Leerstelle wirksam wird, in der jegliche Unterschiede eingesogen scheinen und die „nichts mehr außerhalb ihrer selbst bestehen lässt“ (ebd.). Diese Leerstelle, die im Unheimlichen hervortritt, weist eine Ähnlichkeit mit dem Fluchtpunkt von Baudrys Vergleich von Kino- und Traumwunsch auf. Beschrieben wird letztlich die Aufhebung von Ambivalenz im Zustande einer totalen Befriedigungssituation, die durch die fehlende Unterscheidung zwischen „Aktiv und Passiv, zwischen Handeln und Erleiden, zwischen Körpergrenzen (Körper/Brust), zwischen Essen und Gegessenwerden“ (Baudry 2003b, S. 56; vgl. II.3) charakterisiert ist. Verschlingen und Verschlungen-Werden ist demzufolge

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eins – ich komme unten auf dieses Zusammentreffen zurück. Auf dieser Annahme baut Baudrys Auffassung vom homogenen Charakter des filmischen Realitätseindrucks auf, der plastisch wird in der von ihm beschriebenen Situierung der Quelle des Tons auf der Realitätsebene des Bildes (vgl. II.3). Dieser Konzeption nach werden die Opfer des Realitätseindrucks in Missachtung der verstörenden Botschaft des Philosophen von der Kino-Höhle verschlungen, in der sich der Wunsch nach Wiederholung der Situation zu Beginn des Seelenlebens erfüllt. Das heißt Baudry zufolge: Auf diese Weise produziert der Apparat eine Wahrnehmung, die der der halluzinatorischen Wunscherfüllung entspricht – die Konstruktion der Höhle bewirkt demnach die Abblendung des Nicht-Entsprechenden, der darauf basierende Realitätseindruck wird als ein bruchloser Einschluss charakterisiert. Baudrys Diagnose erweist sich vor dem Hintergrund der Apparatusdebatte (vgl. II.2) als Kritik der ideologischen Wirkungsweise des Kinos. Die von Baudry beschriebene Sistierung des Publikums in einem Zustand der Reglosigkeit verweist auch auf eine politische Handlungsunfähigkeit, zu der der Kino-Apparat die Subjekte verhalte. Baudry verhandelt, wenngleich wenig explizit, diesen in der Apparatusdebatte umstrittenen ideologiekritischen Topos und interpretiert die ideologische Wirkung als Sistierung des Subjekts in einem primären Zustand völliger Befriedigung, die in dem spezifischen Wahrnehmungsmodus des Apparats selbst erreicht werde. Es ist im Grunde ein Zustand des Subjekts ohne Subjekt, der hier gezeichnet wird. Die Theorie handelt von einer Befriedigungssituation ohne Subjekt der Befriedigung, von einer Rückkehr in einen absoluten Zustand, der die Merkmale des Unheimlichen trägt: Eingesogen sind jegliche Differenzen, Ambivalenzen, Konflikte. Baudry kann sich auf Freuds „Die Traumdeutung“ berufen, wenn er den filmischen Realitätseindruck als eine zeitliche Rückkehr in ein Stadium der Urzeit des Subjekts bestimmt. An der betreffenden Stelle in „Die Traumdeutung“ heißt es: „Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparats anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen also in ein Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist.“ (Freud 1900a, S. 571) Es ist eine hypothetische Vorzeit eines zunächst rein physiologischen Bedürfnisses, von der ausgehend Freud den Ursprung des Psychischen entwickelt (vgl. Löchel/Menzner 2011, S. 1181): Wenn der Hunger einmal gestillt wurde, besetzt das Neugeborene demnach Erinnerungsspuren der Wahrnehmung der Stillung. Wunscherfüllung bezeichnet das Wiedererscheinen dieser Wahrnehmung auf kürzestem Wege. Evoziert wird so eine „nicht von der Realität gedeckte Wahrnehmung, die sich real aufdrängt, das heißt eine Halluzination“ (ebd., S. 1182), die nicht Sättigung, aber Lust hervorruft. Die Fortdauer einer solchen Art der Befriedigung hätte den baldigen Tod des Neugeborenen zur Folge. Denn ein ungestörtes Halluzinieren von Sättigung verunmöglichte, dass

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das Kind zum Trinken verführt werden könnte. „[D]ie totale halluzinatorische Wunscherfüllung [kann] nur als Grenzphänomen in der Nähe des Todes und als unweigerlich zum Tode führend begriffen werden.“ (Knellessen/Passett/ Schneider 2003, S. 20) Ohne jetzt an dieser Stelle auf diese grundlegende Problematik der Subjektkonstitution in Freuds Theorie weiter einzugehen (vgl. hierzu Kirchhoff 2009, S. 21ff.), ist festzuhalten: Drängt der unbewusste Wunsch Freud zufolge auf die Wiederholung der mit der Bedürfnisbefriedigung verbundenen Wahrnehmung, so ist die Wunscherfüllung bestimmt als Wiederholung, aber nicht als eine der physischen Sättigung oder „der Sache selbst“, sondern als Wiederkehr „des Bildes, der Zeichen, der Repräsentation“ (Löchel/Menzner 2011, S. 1183). Es wäre, wie Löchel und Menzner hervorheben, ein Missverständnis, „die Bewegung hin zur Wahrnehmungsidentität als eine ‚zurück zum Ursprung‘ zu sehen, von einer Identität oder Einheit des anfänglichen Befriedigungserlebnisses auszugehen, zu der sich gleichsam ins verlorene Paradies zurückgewünscht werden könnte“ (ebd., S. 1184). Der Wunsch ist konstitutiv einer auf Abwegen, denn „gerade die Herstellung von Wahrnehmungsidentität wiederholt den Verlust des Objekts“ (ebd., S. 1185). Der unbewusste Wunsch ist charakterisiert durch eine nicht endende Rastlosigkeit, denn „alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten ‚ungebändigt immer vorwärts dringt‘ (Mephisto im ‚Faust‘, I, Studierzimmer)“ (Freud 1920g, S. 44f.). Auf die Frage, wie anfänglich der „in sich geschlossene Mechanismus der halluzinatorischen Wunscherfüllung geöffnet werden kann“ (Löchel/Menzner 2011, S. 1192), gibt es verschiedene Antworten. Löchel und Menzner z.B. schlagen vor, dass der Trieb der halluzinatorischen Wunscherfüllung dazwischenkommt. Drängt der Trieb auf Befriedigungslust, so hemmt dieser das Wünschen, „man könnte auch sagen, dass das Drängen des Triebs die Not des Lebens mit Hilfe des Lustprinzips zur Geltung bringt“ (ebd., S. 1188). Erst diese Hemmung, als Unterbrechung der Wunscherfüllungsdynamik, ermögliche „einen Raum für Verbindungen, in denen Subjekte und Objekte sich in ihrem Verhältnis zueinander herausbilden und Objekte von einem Subjekt gefunden, wiedergefunden werden können“ (ebd.).13 Trieb und Wunsch stehen demnach in einem Spannungsverhältnis zueinander, kommen sich „in die Quere“ (ebd., S. 1181). In dieser Konflikthaftigkeit konstituiert sich demnach psychische Realität. Beschreibt Baudry die Kino-Situation im Grunde als einen Rückfall im Sinne einer zeitlichen Regression, so ist hiermit letztlich ein Zurück vor eine subjekt13 | Dies verweist auch zurück auf die Einführung, in der ich darauf verwiesen habe, dass der unbewusste Wunsch Denken antreibt, aber dieses auch der Hemmung des Wunsches bedarf (vgl. Schneider 1995, S. 17)

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konstitutive Konflikthaftigkeit beschrieben. Basiert diese Bestimmung des filmischen Realitätseindrucks ganz wesentlich auf der Auffassung von Regression als Rückkehr auf ein früheres Entwicklungsstadium, überblendet dieser Regressionsbegriff, wie Löchel (vgl. 2007 in anderem Zusammenhang) zeigt, andere (auch freudsche) Ansätze, die nicht zuletzt die die Wiederholungsbewegung begründende Unmöglichkeit identischer Rückkehr prinzipieller mitdenken.14 Worauf es mir hier an dieser Stelle ankommt, ist aber nicht die Frage, inwiefern Baudry die freudschen Konzeptionen von halluzinatorischer Wunscherfüllung und Regression sinnvoll interpretiert oder eben gerade nicht. Zunächst sollte an dieser Stelle lediglich deutlich gemacht werden, dass Baudry unter Rückgriff auf Freud den ‚Reinzustand‘ einer hypothetischen Vorgeschichte des Subjekts zur Grundlage seiner Konzeption des Realitätseindrucks macht und dass dies keineswegs die einzige Möglichkeit der Auslegung ist. Deren Kern besteht also in Baudrys Annahme eines sich im Kino vollziehenden Rückfalls hinter eine Konflikthaftigkeit, die überhaupt erst die psychische Realität konstituiert; d.h. eine totale halluzinatorische Befriedigungssituation, in der der unbewusste Wunsch letztlich aufgezehrt wäre und was, wie nun gezeigt werden soll, letztlich den Tod des Subjekts betrifft.

4.  Höhle der Untoten Ich hatte bereits im Vorhergehenden angerissen, dass Baudrys Annahme einer im Kino herrschenden ungestörten „Ununterschiedenheit“ (Brauerhoch 1996, S. 43; vgl. II.3) der halluzinatorischen Wunscherfüllung auch an den Nullpunkt denken lässt, auf den der Todestrieb zielt (vgl. Pontalis 2003, S. 44; vgl. II.3). Betonen Löchel und Menzner die Gegenläufigkeit, die für das Zusammenwirken von Trieb und Wunsch bei der Subjektkonstitution grundlegend ist, fragt Kirchhoff nach einer Verbindung zwischen der freudschen Konzeption des unbewussten Wunschs und der (wesentlich später eingeführten) des Todestriebs. Beide sind, wie sie zeigt, bestimmt als Drang „in Richtung eines Zustandes jenseits jeglicher Differenz, Einschränkung und Entbehrung“ (Kirchhoff 2009, S. 83). Die Wunscherfüllung sei, so Kirchhoff, assoziiert mit der „Suche nach angenehmen, lustvollen, erfüllenden Zuständen“ (ebd.), aber eben dieses „Zurückstreben“ könne „eine Wirkung entfalten, [...] die in ihrer Destruktivität ständig bestrebt zu sein scheint, alles einzureißen, was an Bindung geschaffen wurde“ (ebd.). So gesehen verweist m.E. Baudrys Konzeption der totalen Befriedigung auch auf die Kehrseite des Wunsches nach halluzinatorischer Erfüllung als Absolutem: auf den Todestrieb als „Negativ des unbewussten Wunsches“ (ebd.). Hock spricht vom Todestrieb als einer „Reinkultur“, die sich „insbesondere als Traum von einem stö14 | Eine wichtige, hier nicht weiter erwähnte Referenz in der Frage von Nachträglichkeit des Ursprungs ist Derrida (1976), zum Verhältnis von Dekonstruktion, Psychoanalyse und Kritischer Theorie vgl. Pechriggl (2008).

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rungsfreien Leben“ (Hock 2000, S. 18; vgl. Kirchhoff 2009, S. 64ff.) darstelle. Die von Baudry beschriebene Nachahmung der „Form der archaischen, vom Subjekt erlebten Befriedigung“ und „Reproduktion deren Szene“ (Baudry 2003b, S. 56) in der Kino-Höhle lässt sich vor diesem Hintergrund als solcherart Traum fassen. Wenn das, worauf die Wunscherfüllung zielt, stets verloren ist, so ist das herbeigewünschte Objekt (oder die Szene) immer nachträglich Aufgefundenes. „Der unbewusste Wunsch wird nachträglich schon immer ein Objekt gefunden haben und kann wahrgenommen werden, wenn es Sprache gibt, weil der Zustand der Ungetrenntheit, auf den er zielt, sich – wenn er sich nicht als alles mitreißende Destruktivität äußert – nur als Repräsentanz, durch die Differenz hindurch, zeigen kann. […] Dieses Wünschen artikuliert sich z.B. als Fantasie von Ganzheit, dem Schlaraffenland, als regressive Bewegung […] in Utopien“ (Kirchhoff 2009, S. 135) – oder eben in der Bestimmung der ideologischen Funktionsweise des Apparats als Evokation eines totalen Eindrucks, in dem Wunscherfüllung sich letztlich (so impliziert die baudrysche Konzeption) als absolute, restlose Befriedigung darstellt. Der Traum von einem „störungsfreien Leben“ (Hock 2000, S. 18; s.o.) hält einen Übergang bereit zur „Zone des Unheimlichen“, die – wie Gast schreibt – beginnt, wenn „es keine ‚prüf bare‘ Realität gibt“ und sich „durchaus auch verstörende[r] Überfluss, die Vieldeutigkeit und der beunruhigende Überschuss an Bedeutung […] in einen horror vacui verwandeln“ (Gast 2011b, S. 355). Das Schreckenerregende des Unheimlichen lässt sich demnach als „eine Chiffre des Todes“ verstehen – „[m]it anderen Worten: Es ist der Tod, der sich hinter der unheimlichen Ambivalenz verbirgt“ (ebd.), die in Form des Weder-noch figuriert und dergestalt auf das Negativ des unbewussten Wunsches verweist. „Mit Todestrieb und unbewusstem Wunsch steht etwas Bodenloses inmitten des Subjekts […], etwas Unheimliches.“ (Kirchhoff 2009, S. 69) Aus dieser Perspektive lässt sich die von Baudry dargestellte Wiederholung der einstigen Befriedigungssituation selbst als eine – von deren Uneinholbarkeit angetriebene – nachträgliche theoretische Bildung verstehen, in der die Darstellung der Wiederkehr eines Heimelig-Vertrauten (der Rückkehr in den Mutterleib) in etwas Unheimliches übergeht. So erweist sich die von Kirchhoff thematisierte Schnittstelle zwischen Wunsch und Todestrieb als ein insgeheimer, ein impliziter Übergang dieser Konzeption. Assoziativ kehrt damit das baudrysche Zuschauersubjekt auch eine durchaus unheimliche Gestalt hervor: Ist das Opfer des filmischen Realitätseindrucks ein Un-, ein Quasi-Toter? In Weiterverfolgung dieser Frage wechsele ich nun in meiner Interpretation die Ebene: Ging es im Vorhergehenden um die Frage, welchen Traum (denn zentral wird der Realitätseindruck im Kino mit dem im Traum verglichen) Baudry darstellt, so geht es im Folgenden darum, was sich darüber hinaus in diesem (theoretischen) Traum inszeniert.

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5.  Böse Träume Als Traum betrachtet, handelt es sich bei Baudrys Konzeption – ebenso wie bei Huxleys „Brave New World“ (1993) – um einen bösen Traum, insofern in kritischer Sicht eine Realität gezeichnet wird, in der die menschlichen Wesen restlos integriert sind. In vergleichbarer Weise sind in beiden Entwürfen die Menschen automatengleich in diesem – wie Adorno über Huxley schreibt – „mit grimmigem Behagen ausgemalte[n] Zustand vollkommener Immanenz“ (Adorno 1951b, S. 116) eingepasst. Als Theorie vollkommener Immanenz wird auch Adornos Kritik der Kulturindustrie selbst häufig rezipiert (vgl. II.1). Wie ich aber einleitend gezeigt habe, kritisiert Adorno Huxleys Dystopie einer totalen Integration und damit eine Diagnose, die Adorno selbst einigen Orts erteilt (vgl. Einführung; vgl. II.1). An dieser Stelle interpretiert Adorno Huxleys Weltentwurf hingegen als einen verabsolutierenden Vorgriff auf das Telos, auf welches die kapitalistische Gesellschaft hinzusteuern drohe: „Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit Grund schaudert.“ (Ebd., S. 118; vgl. II.1) In diesem Gedanken sieht Adorno das Zeugnis einer Panik-Reaktion, die eine Welt auslöse, in der die Kulturindustrie alles mit Ähnlichkeit schlägt (vgl. ders. 1947a, S. 141) und in der der Einzelne „als Individuum, […] das absolut Ersetzbare, das reine Nichts“ (ebd., S. 168) ist. Was Adorno mitunter bezüglich der Kulturindustrie geltend macht, kritisiert er also an Huxleys Weltentwurf als Resultat einer unterlassenen Deutung (vgl. II.1). Adorno sieht als einen blinden, ungedeuteten Fleck in Huxleys Welt-Bild den Umstand, dass die Menschen nicht nur Produkte ihrer Technik, sondern die Technik auch Produkt der Menschen ist.15 Huxley überblende gewissermaßen, dass in die Techniken Menschliches eingegangen ist, oder – wie Löchel schreibt – dass Technik immer auch „Externalisierung von Aspekten ihrer [der Menschen] Verfaßtheit ist“ (Löchel 2011, S. 43; vgl. auch Witte 2013). Ist in „Brave New World“ der soziale Zusammenhang als „in sich widerspruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio“ (Adorno 1951b, S. 118f.; vgl. o.; vgl. Einführung) gedacht, dem die menschlichen Subjekte als fungible Teile einverleibt sind, so gestehe Huxley hierin nicht zu, dass die „phantasmagorische Unmenschlichkeit der Brave New World eine ihrer selbst vergessene Beziehung zwischen Menschen, gesellschaftliche Arbeit; daß der total verdinglichte der gegen sich selbst verblendete Mensch ist. Statt dessen hetzt er unanalysierte Fassadenphänomene aufeinander nach Art des ‚Konflikts zwischen Mensch und Maschine‘“ (ebd., S. 117). Huxleys Konstruktion der „Brave New World“ ist demnach an der Frage Mensch oder Maschine ausgerichtet, von der ausgehend die Begriffe Mensch und Technik gegeneinander ausgespielt würden. Entweder oder also und nicht Sowohl-als-auch und Weder-noch (s.o.). Adorno nimmt die Aussparung eines In15 | Vgl. zum Technikbegriff Adornos Vogel 2012.

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einanders von Mensch und Maschine als Grenze der Interpretation von Huxleys Welt-Entwurf in den Blick – eine Grenze, an der, wie gesehen, Unheimliches aufkommen kann, welches „im Andrängen des Verdrängten […] auf eine Leerstelle, auf einen blinden Fleck im Subjekt“ verweist (Gast 2011b, S. 352 Bezug nehmend auf Lacan 1964, S. 32). Versuche, so Adorno, der Roman „die Schocks aus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen“ (Adorno 1951b, S. 98), dann gehe es letztlich darum, in (panischer) Übersteigerung „die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen“ (ebd.). Genuin Menschliches verkörpere bei Huxley der ‚Wilde‘, der von der „absoluten Massenkultur“ (ebd., S. 105) nicht tangiert wurde. Als Gegenfigur also der totalen Integration trete, so unterstreicht Adorno in seiner Interpretation, der ‚Wilde‘ als von der technizistischen Ordnung untangiertes Relikt vergangener Zeiten auf. In Baudrys Text ist die Gegenfigur der Philosoph, der im Besitz erhellender Erkenntnis auch die Position des Autors spiegelt. Diese Position ist notwendig an einem Punkt außerhalb des alles umschließenden Realitätseindrucks situiert, denn um die Illusion als Illusion zu erkennen und deren Herkunft angeben zu können, braucht es einen „aufklärenden Standpunkt, von dem aus sich erkennen lässt, dass und warum die Menschen fälschlicherweise […] eine vermeintliche Realität als Realität ansehen“ (Wiesing 2006, S. 91). Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass Adornos Interpretation von Huxleys Welt-Entwurf nicht bei der Beurteilung von Huxleys Fehlschlüssen – z.B. bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Technik – stehenbleibt, sondern diese als Äußerung einer panischen Reaktion auf die Welt deutet (vgl. II.1), genauer: als Rationalisierung der Panik (vgl. Adorno 1951b, S. 98). Die Konstruktion des Romans stellt demnach – ebenso wie Hediger in Bezug auf die Apparatusdebatte annimmt (s.o.) – einen Versuch der Bewältigung eines Schreckens dar, den die Wahrnehmung der Austauschbarkeit und „der universalen Ähnlichkeit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Menschen“ (ebd.) evoziere. Durch Verlängerung der Linien gegenwärtiger Wahrnehmung wird eine zukünftige „Hölle“ (ebd., S. 99) gezeichnet. Die Ausmalung der Erwartung des Grauenhaften völliger Mechanisierung und Integration der Subjekte dient paradoxerweise der Bewältigung des Schreckens in Form seiner Rationalisierung16. Dies impliziert zugleich auch ein Gegenmodell, durch das ein möglicher Ausbruch aus der Ausweglosigkeit mitgedacht ist: In Huxleys Welt verkörpert dieses der ‚Wilde‘, in Baudrys Modell der Philosoph. Als ein solch doppelbödiges Modell der Schreckensbewältigung kann man, so meine These, auch die Kulturindustrie verstehen. In ihr, so die Annahme, schlägt sich die gesellschaftliche „Entwicklung zur totalen Integration“ (ders. 1947b, S. 10) nieder. In der zusammen mit Eisler verfassten „Komposition für den Film“ (ders. 1969b) steht diese in Verbindung mit der so-

16 | Vgl. zum Begriff der Rationalisierung Einführung.

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genannten Amalgamierungstendenz17, auf die ich nun eingehender zu sprechen komme. Anhand einer Art Bildergeschichte werde ich im Anschluss daran entwickeln, inwiefern sich diese Tendenz jedoch nicht bruchlos vollzieht und gerade dies ihren Antriebsstoff bildet.

6.  Zu Tisch in der Kulturindustrie: Amalgamierungstendenz In „Komposition für den Film“ wird dieser als „das charakteristischste Medium der gegenwärtigen Massenkultur“ (Adorno 1969b, S. 11; vgl. Einführung) eingeführt, denn der Film zeige „als das umfassendste“ aller massenkulturellen Medien „die Amalgamierungstendenz am deutlichsten“ (ebd., S. 12). Der Tonfilm zeichne sich durch eine Zusammenführung „verschiedenster Elemente als solcher, Bild, Wort und Ton, Manuskript, schauspielerische Darstellung und Fotografie“ (ebd.) aus. Die Entwicklung der filmischen Technik wird hier als Miniaturmodell einer Gesamtentwicklung begriffen. Jene sei „gleichsinnig verlaufen mit der Entwicklung gewisser gesellschaftlicher Tendenzen zur Amalgamierung der zu Waren gewordenen traditionellen Kulturgüter“ (ebd.). Die für die Kulturindustrie ihres Erachtens zentrale Austauschbarkeit der fungibel verwandten einzelnen Elemente wird von Eisler und Adorno hier vorrangig am Verhältnis von Musik und Bild festgemacht, deren technische Zusammenführung durch den Tonfilm als ästhetischer Zufall bezeichnet wird. Die Ausschöpfung dieser technischen Möglichkeit habe sich demnach nicht aus dem „geschichtlichen Gehalt“ (ebd., S. 72) der künstlerischen Darstellungsformen ergeben. Bildende Kunst und Musik hätten sich „unabhängig voneinander entwickelt“ und wären dann „durch eine Technik zusammengebracht“ worden, „die nicht aus ihrer eigenen Entwicklung hervorging, sondern aus der ihrer Reproduktion“ (ebd., S. 71). Das heißt, Eisler und Adorno heben hier eine Äußerlichkeit in der Beziehung von Musik und Bild hervor und unterstreichen – wie auch Baudry (vgl. II.3) – eine qualitative Unterschiedenheit von Ton- und Bildcharakter. Im Tonfilm seien „Worte, gegenüber den natürlichen, im Klang weitgehend modifiziert, doch nicht entfernt im gleichen Maße Bilder von Stimmen wie die Fotografien Bilder von Menschen“ (ebd., S. 76). Und ebenfalls ähnlich wie Baudry den Realitätseindruck mit einer Verschmelzung von Ton und Bild (hier: auf der Ebene der Wahrnehmung) verknüpft, beschreiben Adorno und Eisler eine Verschmirgelung von Ton und Bild (hier: auf der Ebene der Darstellung und speziell in Bezug auf die gängigen Konventionen der Filmpraxis).18 Doch trennt 17 | Die Bezeichnung Amalgamierungstendenz taucht im Kulturindustrie-Abschnitt nicht auf, trotz zeitlicher Nähe der Entstehungszeitpunkte der Texte (die erste Fassung für „Komposition für den Film“ entstand 1944). 18 | Die ablehnende Haltung von Adorno und Eisler demgegenüber wird klar: „[S]o entsteht Unfug.“ (Adorno 1969b, S. 70) Gerade „niveaulose Filme“ seien gegenüber solcherart Unfug häufig „stichhaltiger […] als alles, was im Film mit autonomer Kunst liebäugelt“

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eine kleine Nuance, auf die es mir im Folgenden ankommt, die Bedeutungen von Verschmelzen und Schmirgeln: Während durch Verschmelzung Substanzen miteinander verbunden werden können, können durch ein Abschmirgeln zwar raue oder beschädigte Stellen abgetragen und so eine glatte Oberfläche entstehen, tiefere Risse aber treten möglicherweise sogar noch deutlicher hervor. Dies ist es, was einen wesentlichen Unterschied zwischen der Amalgamierungstendenz und Baudrys Bestimmung des ideologischen Effekts ausmacht, die sich auf den ersten Blick jedoch überraschend ähnlich sind. Zunächst klingt auch, was Adorno und Eisler in Bezug auf die soziale Funktion der Filmmusik als Kitt schreiben, nicht so unähnlich dem, was Baudry in Bezug auf den Ton insgesamt schreibt (vgl. II.3). Die Musik, so Adorno und Eisler, halte „das mechanische Produkt und die Zuschauer und auch diese untereinander, wie sie abgesperrt sind im Gefängnis ihrer Sessel“ (ebd., S. 61), zusammen. Es ist auch die Rede von einem „Prozeß des Streamlining der Fassade“ (ebd., S. 55), der letztlich auf eine Neutralisierung des ästhetischen Potentials hinauslaufe (vgl. ebd., S. 83ff.) und die u.a. als Vorverdautheit (vgl. ebd., S. 130) charakterisiert wird. In „Das Schema der Massenkultur“ attestiert Adorno den gegenwärtigen Kulturgütern eine Ausrichtung am Maß ihrer Bekömmlichkeit, vorgesetzt werde den KonsumentInnen „baby food“ (ders. 1942, S. 305). In der betreffenden Passage geht es speziell um die Frage, inwiefern sich mit dem Aufgreifen und dem Umarbeiten von Stoffen ein Prozess der Anpassung verbindet und zwar in Form einer wechselseitigen Ausrichtung von Produkten und KonsumentInnen aneinander.19 Verwendet Adorno in diesem Zusammenhang verschiedene Metaphern von Verspeisen und Verdauen, so ergibt sich assoziativ das Bild, dass sich durch den Verzehr der bekömmlichen Kost eine Zurichtung der KonsumentInnen vollzieht, in der potentiell nicht-angepasste Momente leicht genießbar gemacht werden. So wird das Zitieren und Zurückgreifen „auf schon Vorgeformtes“ (ebd.) im Sinne eines Vorkauens und Vorverdauens beschrieben. Nichts werde den KonsumentInnen zum Verzehr angeboten, was sich nicht bereits als gängiger Geschmack etabliert habe, was andere also nicht schon vorgekostet haben: „Was überhaupt passieren will, muß immer schon angetastet, manipuliert, von Hunderttausenden approbiert sein, damit nur der erste Geschmack daran findet“ (ebd.). Auf die(ebd., S. 74). Im Revuefilm trüge die Musik insofern nicht zum „illusionären Charakter des Ganzen“ (ebd., S. 73) bei, weil Tanz- und Gesangseinlagen den „geschlossenen dramatischen Zusammenhang“ (ebd.) von sich aus unterbrächen. Das Problem seien in diesen Fällen mehr die „aufgeklatschten“ (ebd., S. 74) Geschichten. 19 | Der von Adorno in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Adaptation selbst weist in seiner doppelten Wortbedeutung auf eine solche Verbindung hin: Im soziologischen Sinne bedeutet dieser Anpassung an soziale Gegebenheiten, im literaturwissenschaftlichen Kontext bezeichnet er vorrangig das Aufgreifen und die Umarbeitung literarischer Stoffe durch andere Gattungen oder Medien (z.B. Literaturverfilmungen).

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se Weise vollziehe sich ein wechselseitiger Zuschliff von Angebot und Bedürfnis, von kultureller Produktion und Konsumtion. Abgehalten würden „alle Strahlen […], die nicht im verdinglichten Schema beheimatet sind“ (ebd.) und die als unverdaulich verdächtig sein mögen. So setzt sich, heißt es hier, die „Vorverdautheit […] durch, rechtfertigt sich und stabilisiert sich, indem sie in jedem Augenblick auf jene verweist, die anderes als Vorverdautes nicht verdauen können“ (ebd.). Unerprobtes werde ausgeschieden (ders. 1947a, S. 156), die stete Produktion von Neuem verlaufe im Schema der Wiederholung von Gleichem, die sich auf den „infantilen Wiederholungszwang in den Bedürfnissen“ (ders. 1942, S. 305) stützen könne. Die Beschreibung von Konsumtion als Akt der Einverleibung, d.h. die Assoziation von Konsumieren mit Essen und Trinken aber auch mit Vernichten des konsumierten Objekts, ist – wie Graeber in Bezug auf den englischen und französischen Wortgebrauch hinweist – seit Jahrhunderten gängig (vgl. auch z.B. Schivelbusch 2015). Die Wortbedeutung schon des lateinischen consumere umfasst im weiteren Sinne „eat up, devour, waste, destroy, or spend“ (Graeber 2007, S. 59) und impliziert nicht allein ein In-Sich-Aufnehmen eines Objekts, sondern auch eine damit einhergehende Zerstörung desselben. Seit dem 18. Jahrhundert wird die Konsumtion in Gegensatz zur Produktion aufgefasst – was in der Produktionssphäre hergestellt wird, scheint demnach in der der Konsumtion verzehrt, im Sinne von aufgezehrt, zu werden (ebd., S. 59f.).20 Es ist die paradoxe Verbindung von Verzehren und einer als potentiell schrankenlos wahrgenommenen Produktivität, die als Charakteristikum – nicht zuletzt in der Terminologie der Politischen Ökonomie im ausgehenden 18. Jahrhundert begrifflich – registriert worden ist: 20 | „Weil die Konsumtion des Gebrauchswerts, wie Marx schreibt, aus der politischen Ökonomie herausfällt, erscheint auch die Reproduktionssphäre […] als eine des bloßen Verschwindens.“ (les madeleines 2012, S. 14) So kritisiert Marx etwa auf den ersten Seiten der „Grundrisse“ die Vertreter der politischen Ökonomie dafür, von einer Einheit von Produktion, Distribution und Konsumtion auszugehen, jedoch sei der hier gesehene Zusammenhang „ein sehr flacher“ (Marx 1968 [1857/1858], S. 11). In den Theorien der politischen Ökonomie liege „der schließende Akt der Konsumtion, der nicht nur als Endziel, sondern auch als Endzweck gefaßt wird, […] eigentlich außerhalb der Ökonomie, außer soweit er wieder zurückwirkt auf den Ausgangspunkt“ (ebd.). Marx’ Kritik der politischen Ökonomie hat, auch etwas flach gesagt, zum Ziel, dies „organisch Zusammengehörende“ (ebd.), d.h. den wirklichen Zusammenhang der drei Sphären auszuweisen. Wodurch im Wesentlichen auch kritisiert wird, dass die von der politischen Ökonomie als Zweck der Produktion gesetzte Konsumtion im Kapitalismus gerade nicht der Zweck ist, sondern die Verwertung des Werts – was es praktisch zu ändern gälte. Dass in der politischen Ökonomie die Konsumtion ein ‚verschwindendes Element‘ im ökonomischen Zusammenhang darstellt, ist Marx zufolge keine theoretisch zu korrigierende Auslassung (wie es Graeber m.E. nahelegt aufzufassen), sondern wird von ihm letztlich als Erscheinungsform der widersprüchlichen Logik des Kapitalverhältnisses im Denken der Ökonomen seiner Zeit gefasst.

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„To make way for new products, all that old stuff must somehow be cleared away; destroyed, or at least, cast aside as outmoded or irrelevant.“ (Ebd., S. 60) Graeber kritisiert, diese Implikationen der ökonomischen Begrifflichkeiten von Konsum – welcher sich als im Akt des Aufzehrens gestillte Bedürfnisbefriedigung ausnimmt –überblendeten die Frage nach dem Begehren nach Objekten als „potential fantasy material“ (ebd., S. 75), was auf die zweite Wortbedeutung im Deutschen von Verzehr hinweist: das Sehnen, Wünschen und Verlangen. Die Verallgemeinerung des polit-ökonomischen Modells von Konsumtion impliziere demnach die Negierung der phantasmatischen Dimension der Beziehungen zu (Kultur-)Gütern, die nicht zuletzt auch die in dieser situierten konstitutiven Bedingungen von Subjektivität selbst betreffen. Graebers Kritik lautet demnach, theoretische Bestimmungen des kapitalistischen Konsums, verabsolutierten – meine Worte – dessen totale Immanenz, wenn sie allein im polit-ökonomischen Begriffsfeld (in dem Konsum mit Aufzehren im Gegensatz zur Produktion als Herstellen assoziiert ist) verbleiben und damit die Dimension von Phantasie und Begehren auslassen, die in jener nicht aufgehen.21 „[I]t might be more enlightening to start looking at what we’ve been calling the ‚consumption‘ sphere rather as the sphere of the production of human beings, not just as labor power but as persons, internalized nexus of meaningful social relations“ (ebd., S. 77). Erkennt Graeber in der Charakterisierung des Konsums als Aufzehren eine Grenze der (wissenschaftlichen) Interpretation, so ist diese aber auch selbst virulenter Bestandteil der phantasmatischen Dimension von Massenkultur. Wenn, wie Graeber zeigt, die theoretische Bestimmung von Konsum als Verschlucken und Vernichten einen blinden Fleck erzeugt (insofern s.E. andere Dimensionen des Konsums ausgeschlossen werden), ließen sich nicht gleichwohl die – auch in Baudrys Text – wiederkehrenden Topoi von Verschlucken und Vernichten als Symptom befragen? Es ist wohl zu vermuten, dass an ihnen ein unheimliches Moment hervorkehrt. Die (nicht nur im wissenschaftlichen Kontext) der Massenkultur kursierenden Vorstellungen von Aufnehmen im Sinne von Verschlucken, Verdauen, Vernichten verweisen auf eine Grenze von Bedeutungsproduktion – und damit letztlich auch auf ein dieser konstitutives Misslingen, d.h. den unbewussten Antrieb zum Übersetzen (vgl. Laplanche 2005; Härtel 2009; vgl. Einführung). Als spezifisches Hervortreten dieser Grenze ist, wie gesehen, das Unheimliche psychoanalytisch bestimmt. Inwiefern, so nun also die Frage, zeichnet sich im phantasmatischen Feld der Ambivalenz der Bedeutung von Verzehren auch ein 21 | Graeber bleibt dann am Ende dabei stehen, dass es um ‚den Menschen‘ gehe. Konsum sei vorrangig Produktion von ‚menschlicher Bedeutung‘. Genau die Frage danach, wie Verdinglichung die phantasmatische Sphäre durchwirkt, bleibt ausgespart in seinem Versuch, die Vorstellung eines reibungslosen Ineinander-Aufgehens von Produktion und Konsumtion kritisch zu hinterfragen und die Frage nach nicht-entfremdeten Aktivitäten zu eröffnen.

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Ringen von „Nichtrepräsentierbare[m] um Repräsentanz“ (Gast 2011b, S. 352 Bezug nehmend auf Lacan 1964, S. 32; Herv. S. W.) ab? Und inwiefern trägt die – auch mit den Bildern des Verschlingens und Verschlungen-Werdens verbundene – unheimliche Dimension möglicherweise zum Funktionieren der Kulturindustrie bei? Um die Einbruchstelle der Amalgamierungstendenz (und damit auch den Ort einer Quasi-Figur, wie sie als scheinbar unbedeutender Rest in den begrifflichen Bestimmungen des totalen Realitätseindrucks in Baudrys Text auftaucht) einzukreisen, nähere ich mich zunächst jener Ambivalenz der phantasmatischen Bedeutungen von Konsum als Verschlucken. Ich werde diese herausarbeiten anhand der Aufnahme der zentralen Idee für den experimentellen Fotofilm späterer Gründungsmitglieder von „Die Tödliche Doris“ in Die fabelhafte Welt der Amélie.

7.  Störende Reste Aufnehmen: Der Fotofix-Automat Unheimliches Erleben ist mitunter mit Wahrnehmungen von Störungen verbunden, die in den bisherigen Beispielen unterschiedlichster Art waren: Es wird von Kubelkas Mutter erzählt, die stroboskopischen Blitze hätten bei ihr den Verdacht eines technischen Defekts erregt; Jentschs Rückführung des unheimlichen Erlebens auf einen Mangel an Orientierung beschreibt zumindest eine Verstörung, wenn nicht Störung der intellektuellen Funktion (vgl. Jentsch 2014; s.o.); der Vorspann von The Flicker kündigt einen Überfall an, der in Form einer Störung des Subjekts Unheimliches (in Form eines epileptischen Anfalls) bewirken könne (vgl. Strick 2014; s.o.). Unsere Bildergeschichte beginnt mit Aufnahmen – im doppelten Sinne des Wortes – von Bild-Material, welches zum Teil Resultat technischer Störungen eines Foto-Apparats ist. Ende der 1970er Jahre sammelten Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen um Passbild-Kabinen in Berliner U-Bahnhöfen herumliegende Passfotos, ordneten diese und filmten die Abfolge mit einer Super-8-Kamera ab (vgl. II.1). Müller schreibt in seinem Rückblick auf die „Subkultur Westberlin 1979-1989“ (Müller 2013): „Anfang 1979 begeben sich Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller unter die Erde. Sie streunen in Westberliner U-Bahn-Stationen herum. Dort […] befinden sich Automaten der Firma Fotofix. […] Menschen können hineingehen und sich auf den in der Höhe verstellbaren Hocker setzen. Im Fotofix-Automaten schauen sie auf eine spiegelnde Glasscheibe mit Markierungen, können ihren Kopf für das Foto in eine geeignete, zentrale Position bringen. Hinter der Scheibe befindet sich ein Blitzlichtgerät. Nach erfolgtem Geldeinwurf und anschließendem Knopfdruck werden die Menschen vom Automaten porträtiert. Viermal blitzt ein greller weißer Lichtflash auf, der an einen Stroboskopblitz erinnert.“ (Ebd., S. 51) Die beiden damaligen Kunststudenten sammeln um die Fotofixautomaten herum liegende weggeworfene Passbilder auf. „In unmittelbarer Nähe der Automaten finden sich vollständige, zerrissene, zerknüllte Fotoporträts oder deren Fragmente. Manche werden vermutlich aufgrund technischer

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Mängel der Fotos zerstört, viele andere aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen. Hat dem oder der Porträtierten seine oder ihre eigene Haltung, Position oder der Gesichtsausdruck nicht gefallen?“ (Ebd., S. 51f.)

Abbildung 5: Fotomaterial M aterial für die N achkriegszeit. D okumente aus dem F otomaton -A utomaten (BRD 1979-81; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen)

Es sind insgesamt drei Super-8-Filme aus diesem Bildmaterial entstanden: Zwei Versionen mit dem Titel Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten (BRD 1979-81; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 25 Min.; gekürzte Fassung 9 Min.) und Der Fotomatonreparateur (BRD 1982; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen; Super-8; 2 Min.). Während in den ersten beiden Versionen Bilder von verschiedenen Personen verwendet wurden (s. Abbildung 5), handelt es sich bei den Fotos der letzteren Fassung allein um Testbilder eines Fotoautomaten-Reparateurs.22 22 | In Der Tagesspiegel vom 18.3.2003 wird der Hergang des Fundes dieser Bilder so beschrieben: „Als sie neben einem Passbildautomaten mehrere Bilder fanden, auf denen

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Müller und Utermöhlen ordneten zusammengehörige Bilder gemäß der zeitlichen Abfolge der Aufnahmen. Die Reihenfolge der Bilder orientiert sich demnach an dem vermuteten Bewegungsablauf der abgebildeten Person während ihres Aufenthalts im Automaten. In schwarze Pappe wurden Rechtecke in Größe der Passbilder geschnitten, Bild um Bild darin platziert (s. Abbildungen 6 bis 9) und mit einer Super-8-Kamera abgefilmt. Die durch die Aneinanderreihung der Bilder in zeitlicher Abfolge erfolgte Rekonstruktion der „Bewegungsmuster unbekannter Menschen“ (ebd., S. 52) erweckt in der Projektion mitunter den Eindruck eines Daumenkinos; aber eines, bei dem einige Seiten fehlen. Seltsam starr und abgehackt wirkt der filmische Ablauf der Fotos. Auch die Bilder selbst haben bruchstückhaften Charakter: Manchen Bildern fehlen Ecken, auf anderen ist kaum jemand zu sehen, viele sind verknittert, teils sind Ecken abgerissen, Schlieren, dunkle oder helle Flecken zeugen von technischen Störungen (s. Abbildung 5). Müller kommentiert: „Der abwesende Körper erscheint über fotografische Abbildungen. Er bildet sich aus der Zerstreutheit, Zerrissenheit und aus den Narben – all das verbindet sich gleichzeitig in einem Raum und einer Gestalt. […]. Abstoßend und berührend zugleich ist die Nähe und Intimität der Porträtierten.“ (Ebd., S. 54) In der zweiten Fassung von Material für die Nachkriegszeit blitzt – wie ein Wiedergänger der frontalen Flashs im Fotofix-Automat – zwischen den Bildern im Dreisekundentakt helles Licht auf. Dieses Licht, so Müller, war keinesfalls (wie etwa im Flicker-Film) Teil des Konzepts, sondern ist Resultat eines „Fehler[s], der bei den Einzelbildaufnahmen während der Belichtung entstanden ist“ (ebd., S. 53). Auch auf der Leinwand erscheint ein Auf blitzen, das „Blitzlicht und Stroboskop“ (ebd.) zugleich sei. In der 1983 entstandenen zweiminütigen Variation Der Fotomatonreparateur sieht man vor unterschiedlichen Kabinenrückwänden – mal mit der einen oder anderen, mal ohne Mütze, mal auf einem Schwarz-Weiß-, mal auf einem Farb-Foto – ein und dieselbe Person (s. Abbildungen 6 bis 9). Der Titel verrät: Es handelt sich um Testbilder eines Passbildautomaten-Mechanikers, der von Berufs wegen an der Funktionstüchtigkeit bzw. -untüchtigkeit des Apparats interessiert ist. Informationen hierüber liest er den Passfotos von sich ab. Es ist diese Überlegung, die das gesamte Projekt verbindet: „In jedem Selbstporträt steckt auch der Fotograf selbst. In der Interaktion zwischen Fotograf und Modell entsteht ein Por-

immer derselbe Mann zu sehen war, staunten sie nicht schlecht. Für jedes Foto hatte der Mann einen anderen Hintergrund gewählt und sie dann doch alle weggeworfen. Einmal öffnete er eine Seitenklappe, während es blitzte. Da dämmerte es den beiden Berliner Kunststudenten, dass es sich bei dem geheimnisvollen Besucher, dessen Porträts sie auch neben anderen Passbildautomaten in der Stadt fanden, nur um einen Angestellten der Betreiberfirma handeln konnte.“

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trät. Was ist aber, wenn der Fotograf eine Maschine ist? Steckt in diesen Porträts also auch die Persönlichkeit der Maschine?“ (Ebd., S. 52)

Abbildungen 6-9: Stills aus D er F otomatonreparateur (BRD 1982; Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen)

Auch nach diesen Filmprojekten experimentieren Müller und Utermöhlen an dieser Schnittstelle weiter. Der gezielte Einsatz von Störungen ist die Strategie der Gruppe „Die Tödliche Doris“, welche Müller und Utermöhlen, kurz nachdem sie die Arbeit an diesem Filmprojekt aufgenommen hatten, 1980 mitbegründeten. Flackerlicht bleibt fortan ein zentrales Element, es bildete, so Müller, die Kunstfigur Tödliche Doris: „Der die Augen blendende Blitz des Fotofix-Automaten ähnelt dem Flash eines Stroboskops. Die Tödliche Doris untersucht vor Ort, auf der Bühne, ob es möglich sein könnte, dass […] das Sehen durch den Einsatz bestimmter Störungen überhaupt erst wieder eine Gestalt […] erhält […]. In regelmäßigen zeitlichen Abständen sendet das Stroboskop Lichtblitze in den Raum. […] Es entstehen abgehackt erscheinende Bewegungen, bestehend aus einer Abfolge von Bildern. Durch den Rhythmus des Lichtes verschwindet ein fließender Bewegungsablauf. Die Tödliche Doris ist abwesende Präsenz. Doris erscheint durch die permanente Abwesenheit ihres Körpers.“ (Ebd., S. 59f.) Ein Phantom wurde inszeniert. So wurde betont, dass die Gestalt der Doris auch „den Bandgründern unbekannt“ sei – ebenso wenig wie das Publikum wüssten diese, ob Doris „ein Gespenst, ein

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Geist, ein Vampir, ein Messias, ein Hype, ein Flop, eine Künstlerin oder gar eine begabte Popmusikerin“ (ebd., S. 56) sei.23 Als Band, KünstlerInnen- und Aktionsgruppe trat „Die Tödliche Doris“ bis zu ihrer Auflösung 1987 in „immer wieder neue[n] Erscheinungsbilder[n]“ (Blume 2002, S. 177) auf und bewegte sich dabei zwischen Musik, Malerei, Fotografie, Performances, Video, Film, Installation und Literatur. Laut Blume verführte der Film „als ideale Verbindung von Bild und Ton, von Bild, Wort und Musik“ (ebd.) die Mitglieder von „Die Tödliche Doris“ zu ihren Experimenten. In Müllers Retrospektive „Subkultur Westberlin 1979-1989“ werden als deren historische Entstehungsbedingung die damaligen Produktionsbedingungen von Kunst und Kultur in Westberlin analysiert. Die Umschließung Westberlins mit der Mauer habe „diese Stadthälfte zu einer Insel, mit spezifischen Auswirkungen auf ihre Kultur und deren Produktion“ (Müller 2013, S. 19) gemacht. Im Zuge der damaligen Welle von Kreativität, die vor allem im Kreuzberger Umfeld von HausbesetzerInnen, AnarchistInnen, Ökos, Freaks, Punks, Lesben, Schwulen u.a. (vgl. ebd., S. 28) ins Rollen kam, hätte nur eines nicht funktioniert (wenn man es denn überhaupt gewollt hätte), nämlich „diese Energie irgendwie zu bündeln und zu vermarkten“ (ders. 2002, S. 180). Rund zwanzig Jahre später taucht die Idee des Sammelns weggeworfener Fotofix-Automaten-Bilder wieder auf. Ein mit aufgelesenen Fotos, u.a. eines Reparateurs, bestücktes Album spielt eine tragende Rolle in dem Kassenschlager Die fabelhafte Welt der Amélie. Wer die Filme von Müller und Utermöhlen kennt, wird dieses Motiv also in Die fabelhafte Welt der Amélie wiedererkennen.24 23 | Haben diese Filme keine Tonspur, ist Klang natürlich ein wesentliches Medium, mit dem die Mitglieder von „Die Tödliche Doris“ als Band performten. Wobei der Ton mitunter in einem ungewöhnlichen Zwischenraum entstand. 1984 veröffentlicht „Die Tödliche Doris“ ihre vierte Platte: Unser Debut. „Musikalisches Thema“, so heißt es auf der Website des Projekts, „dieser Produktion war der gerade einsetzende aktuelle Drang vieler Underground und Independantbands zum Durchbruch, kommerziellen Erfolg und zum Hit. Folglich sollte die Musik auf Unser Debut ‚bemüht‘, ‚gewollt‘, ‚angestrengt‘, ‚ambitioniert‘, ‚aufdringlich‘ und zugleich ‚kommerziell‘ klingen“ (http://www.die-toedliche-doris.de/de/lp_sechs.asp; zuletzt gesehen 11.5.2015). 1986 erschien das „Gegenstück“: Die LP 6 – „‚unkommerziell‘, ‚autonom‘, ‚experimentell‘ und ‚unangepasst‘. Hier wird nicht U- sondern E-Musik suggeriert“ (ebd.). Beide Platten aber entstanden zeitgleich und korrespondieren miteinander – sie ergeben „eine Einheit […], wenn man sie gleichzeitig vom ersten Stück an auf zwei Plattenspielern mit den jeweiligen A- oder B-Seiten abspielt“ (ebd.). Im Zusammenspiel der beiden Platten entsteht im Kopf der HörerInnen die unsichtbare 5. LP. Diese immaterielle Platte, die sich in einem Dazwischen abspielt und überhaupt nur bildet, wurde durch eine Plakataktion angekündigt – danach löste sich „Die Tödliche Doris“ auf. 24 | Wie zum Beispiel in der taz vom 20.3.2003 bemerkt wird: „Neben einer Reihe wechselnder, mitunter zerrissener und neu zusammengesetzter Porträts wiederholt sich immer wieder das Bild eines ernst dreinblickenden Mannes; vermutlich zu Testzwecken angefer-

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Die Frage der Urheberschaft dieses Motivs ist nie abschließend geklärt worden und damit bleibt auch die nach dem genauen Hergang seiner Wiederkehr offen. Die Fotofilme wurden 1984 im Pariser „Musée d‘Art Moderne“ gezeigt. Laut Müller haben damals nicht mehr als fünfhundert Personen die Arbeiten gesehen, es sei ihm ein Rätsel, „wie Der Fotomatonreparateur nach so langer Zeit in einem französischen Kinofilm wieder auftauchen konnte“ (Der Tagesspiegel, 18.3.2003). Ist die Ursache der Wiederkehr dieses Einfalls ein ungelöstes Rätsel, so hat diese auch einen unheimlichen Zug – es scheint, als begegnete man in Die fabelhafte Welt der Amélie einem Doppelgänger der ursprünglichen Idee.25 Diese ist hier in eine Geschichte eingestrickt, die laut Kinowerbetext „die Seele umschmeichelt“ (zit. n. Kawan 2008, S. 149, Fn. 48).

8.  Überzogen mit Zuckerguss vom Mainstream verschluckt Im Vergleich zu Die fabelhafte Welt der Amélie kann zunächst der reduzierte Charakter der Arbeiten von Müller und Utermöhlen auffallen. Von Jeunets Film aus gesehen, fehlt den Fotofilmfilmen einiges, z.B. eine Erzählung und Ton. Wird in Film-Kritiken zu Jeunets Film häufig hervorgehoben, dass dieser in brillanter Weise auf der Gesamtklaviatur der verfügbaren Techniken gespielt habe, so erinnern Formulierungen in diesem Zusammenhang metaphorisch an den von Adorno und Eisler thematisierten Verschmelzungseffekt, auf den diesen zufolge die Amalgamierungstendenz ausgerichtet ist. Und eines der wiederkehrenden Motive ist die Beschreibung des Films als einer verführerischen Süßspeise. tigte Aufnahmen eines Automatenwarts. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Vermutlich ist Erfolgsregisseur Jean-Pierre Jeunet (‚Die wunderbare Welt der Amélie‘) auch ein alter Fan von Die Tödliche Doris.“ Und in Der Tagesspiegel vom 18.3.2003 wird angemerkt: „Heute kann man diese Geschichte nicht mehr erzählen ohne an ‚Die wunderbare Welt der Amélie‘ zu denken. In Jean-Pierre Jeunets Erfolgsfilm aus dem Jahr 2001 taucht der wundersame Typ wieder auf. Seine zerrissenen Porträts füllen ein ganzes Album und werden für einen jungen Träumer zur Obsession.“ 25 | Die Vorstellung verselbständigter Einfälle verweist auch auf die Nähe von Unheimlichem und Komischem, bei denen es sich, wie Zupančič hervorhebt, um Phänomene handelt, „die an entgegengesetzten Enden unserer emotionalen oder affektiven Reaktionen positioniert sind“, die aber „auf viel intimere Weise miteinander verknüpft sind, als man erwarten würde“ (Zupančič 2009, S. 55): Beide verbinden eine „Materialität des Gespenstischen“ und „die Produktion des ‚unmöglichen‘ (abtrennbaren und wieder anfügbaren) Objekts“ (ebd., S. 58). Im ungelösten Rätsel der Wiederkehr des den Filmen von Müller und Utermöhlen zugrundeliegenden Einfalls liegt auch etwas Komisches, wenn die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass ein ‚sinnreicher Einfall‘ „tatsächlich verloren und ‚davongehen‘ […] und, so stellt man sich vor, anderswo für Unruhe sorgen“ könnte (ebd., S. 57). Auf diese Weise erscheint der Einfall „als abtrennbares, autonomes und selbst-ständiges Objekt“ (ebd.), als etwas, das „alleine herumläuft“ (ebd., S. 58).

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So heißt es etwa in Die Welt vom 15.8.2001: „Wovon erzählt wird, das ist überzogen mit dem rosa Marzipan der Nostalgie – aber wie davon erzählt wird, das ist Stand der Kunst, mit Tricks aus dem Computer, abrupten Schnitten, extremen Großaufnahmen und strategisch verstärkten Geräuschen“. Zu großer Popularität brachte es nicht zuletzt Yann Tiersens Filmmusik, die in der taz als „hochansteckende[s] Amalgam“ (taz, 10.12.2010) unterschiedlicher musikalischer Einflüsse bezeichnet wird. Fast, wie es in Die Zeit heißt, gelinge es dem Film, „durch seine Wucht, durch sein pausenlos hochtourig arbeitendes Fantasie-Füllhorn, durch seine All-you-can-eat-Ästhetik“ jegliche Kritik „verdampfen zu lassen“ (Die Zeit, 16.8.2001). In den medialen Reaktionen ist mehrerer Orts von einem kaum auszuhaltenden Glück die Rede, das der Film dem Publikum beschere und welches häufig an Jeunets Liebe zum Detail und seinem Spürsinn für Besonderheiten, Phantastisches und Schrulligkeiten festgemacht wird. Über die Hauptdarstellerin Audrey Tautou heißt es im Stern: „Ein schüchternes Lächeln auf diesem Gesicht erblühen zu sehen, ist schon mehr, als der Zuschauer verkraften kann“ (Stern, 8.11.2002). Gerade an der plakativen Wohlbekömmlichkeit stoßen sich andere RezensentInnen. Die fabelhafte Welt der Amélie wurde von den einen als Triumph des französischen Kinos über Hollywood gefeiert und von anderen als europäische Variante von Kulturkitsch und Massenkonsum kritisiert – zu Unrecht, wie zum Beispiel in Der Spiegel vertreten wird: „Regisseur Jeunet zeige ein geschöntes Paris fast ohne Ausländer und Autos, meckerte ein Kritiker der ‚Libération‘; sein Montmartre erinnere an Euro-Disney, und überhaupt sei der ganze Film kitschig und reaktionär. Doch offenbar haben die Gartenzwerg- und Erbsenzähler nicht richtig hingeguckt: Das komplette Personal von ‚Amélie‘ besteht aus schwer vermittelbaren Existenzen, die in jedem Hollywood-Film sofort wegen ihrer Schrulligkeit verhaftet würden – und die nur eine Gemeinsamkeit haben: die Suche nach Glück.“ (Der Spiegel, 13.08.2001) Mit diesem Film habe, wie es in (in einem weiteren Artikel in) Der Spiegel heißt, Jeunet einen „gigantische[n] Glückskeks“ (Der Spiegel, 16.8.2001) geschaffen, dem „eine glückhafte Verschmelzung von Widersprüchen“ (Die Welt, 15.8.2001) gelungen sei. Ein Keks, so könnte man sagen, in den die Idee der Verwendung der „zerstückelten, missglückten Fundstücke“ (Der Tagesspiegel, 18.3.2003) eingebacken wurde und der im Verzehr – so verspricht es der Kinowerbetext – „zur unwiderstehlichen Glücksdroge wird“ (zit. n. Kawan 2008, S. 149, Fn. 48). So gesehen transformiert die Weiterverarbeitung des Motivs der weggeschmissenen Automaten-Bilder in Die fabelhafte Welt der Amélie subkulturell Vorgeformtes in leichte Mainstream-Kost 26 – die Lücken zwischen Bildern scheinen ausgemalt und von einem beschwingten Ohr26 | Es geht mir an dieser Stelle freilich nicht darum, generelle Aussagen über das – insbesondere in den Cultural Studies grundlegend bearbeitete (vgl. z.B. Cohen 1972; Hall 1977; Hebdige 1979; Weinzierl 2000) – Verhältnis von Mainstream und Subkultur zu treffen, sondern allein darum, an einem exemplarischen Beispiel das Motiv des Verschluckens

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wurm-Soundtrack untermalt, die nicht-intendierten stroboskop-artigen Blitze sind abgeblendet (s.o.). Dies korrespondiert auch mit Müllers Diagnose, insgesamt seien die auf der „Insel Westberlin“ in den 1980er Jahre gestalteten und entstandenen „Symbole, Stimmungen und Images aus der subkulturellen Asservatenkammer“ (ebd., S. 29) inzwischen vom Mainstream weitgehend verschluckt worden – umgeformt und gefügig gemacht, demonstrierten jene nun rückwirkend „ihre überraschende Kompatibilität wie auch […] eigene Flexibilität“ (ebd.). Bezüglich einer Werbung der „Deutschen Bahn“ für das von einem Punkkoch zubereitete Bordbistro-Menü aus dem Jahr 2010 merkt Müller an: „Vor dreißig Jahren hätten Bahnreisende bei der Vorstellung von ‚Punk‘ in der Kombination mit ‚Essen‘ noch heftig gewürgt. Ein Teller mit pürierten Regenwürmern, Rasierklingen und Sicherheitsnadeln – kaum jedoch die fein abgeschmeckte Brokkolicremesuppe mit Garnitur. Ebenso unvorstellbar war es in den Achtzigern, dass dereinst konservative oder neoliberale Medien und Politiker Ehrenpreise an junge zeitgenössische Künstler verleihen würden, an deren Brust sie zuvor Attribute wie ‚Punk‘, ‚Anarchist‘, ‚Rebell‘ oder ‚Umstürzler‘ geheftet hatten – und zwar gänzlich ironiefrei.“ (Müller 2013, S. 31f.) Im Zuge einer rasanten Zunahme der „Unfreizeit“ (ebd., S. 37) wäre der Begriff Punk ab dem Mauerfall gar „zum Antriebsstoff eines deregulierten Kapitalismus“ (ebd., S. 31) geworden. Nun stehe Punk nicht länger für „Eigensinn, Originalität, Kreativität, Auf bruch, Individualität, Querköpfigkeit“ (ebd.), sondern „wurde zum Synonym für die Erneuerungs- und Innovationskraft eines sich verstärkenden, als alternativlos bezeichneten Turbokapitalismus“ (ebd., S. 32).27 Erzählt und Vernichtens herauszuarbeiten um dessen Bedeutung für das unheimliche Moment in der Kulturindustrie nachzugehen. 27 | Derzeit wird der Berliner Subkultur der 1980er Jahre vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, gezeichnet wird diese mitunter als ein „einzigartiges“ und unwiederbringlich verlorenes „Biotop“, wie es z.B. am 20.5.2015 in Die Zeit in Bezug auf den Essayfilm B-M o vie : L ust & S ound in W est -B erlin 1979–1989 (D 2015; Regie: Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck, Heiko Lange) heißt. Neben B-M ovie erschien 2015 das dazugehörige Buch „B-Book: Lust und Sound in West-Berlin 1979-1989“ (Reeder 2015), außerdem kam Tod den Hippies!! Es lebe der Punk (D 2015; Regie: Oskar Roehler) in die Kinos und eine Ausstellung im „Haus der Kunst“ (München) würdigte unter dem Titel „‚Geniale Dilletanten‘. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland“ neben „Die Tödliche Doris“ verschiedene andere Projekte wie „Einstürzende Neubauten“, „Der Plan“, „Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.)“ oder „Palais Schaumburg“. Der Protagonist in B-M ovie Mark Reeder (Marius Weber) leitet den Film mit den Worten ein: „‚Wer sich an die 80er erinnern kann, hat sie nicht erlebt‘, hat Falco einmal gesagt. Ich war dabei, mittendrin. Und ich kann mich noch gut erinnern. Hoffe ich jedenfalls.“ (Die Zeit, 20.5.2015) Fiktionale Szenen, in denen Reeder durch das Berliner Nachtleben der 1980er Jahre zieht, wechseln sich ab mit dokumentarischen Aufnahmen. Die dokumentarischen Szenen sind relativ kurz, die fiktional-narrativen Sequenzen binden die gestückelten Aufnahmen maroder Straßenzüge, Clubs, Bandauftritte, Ausschreitungen

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wird hier somit von dem Verlust des damaligen kreativen Potentials: „Der Müll der Flohmärkte bot das Material für Kunst und Musik. Ungenutzte, marode Räume, vergessene Ruinen, leer stehende Häuser […], aber auch die Subventionen, die Westberlin vom Bund erhielt. All dies eröffnete zahlreiche Möglichkeiten zur Realisierung künstlerischer, gesellschaftlicher und politischer Ideen und Konzepte jenseits des Mainstreams und jenseits ökonomischen Verwertungsdrucks.“ (Müller 2013, S. 28f.) Das mögliche Herüberwandern von Fragmenten aus dem vermeintlichen Jenseits in das Diesseits der ökonomischen Verwertung, welches sich am Beispiel von Die fabelhafte Welt der Amélie zeigt, kann die Frage aufwerfen: Haftet diesem – gegen die ursprüngliche Intention verlaufenden – Verschluckt-Werden vom Mainstream (als einem Unterlaufen von Grenzziehungen, hier: zwischen Mainstream und Subkultur) nicht auch etwas Unheimliches an? Wie lässt sich aus der im Vorangangenen skizzierten psychoanalytischen Perspektive auf das Unheimliche diese Wiederkehr verstehen?

9.  Todsicheres Happy End Mit einem Album, in welchem der Protagonist Nino Quincampoix (Mathieu Kassovitz) seine gefundenen Fotos sammelt, beginnt in Die fabelhafte Welt der Amélie die Liebesgeschichte zwischen diesem und Amélie Poulain (Audrey Tautou). Anlässlich des Kinostarts ist in Der Spiegel von einem todsicheren Happy End die Rede: „Wenn ‚Die fabelhafte Welt der Amélie‘ ein Roman wäre, dann würde er anfangen mit ‚Es war einmal‘, und der letzte Satz wäre todsicher ‚Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘.“ (Der Spiegel, 13.08.2001). Der Film wird als „ein hinreißendes Großstadtmärchen“ beworben (zit. n. Kawan 2008, S. 149, Fn. 48), doch handelt es sich – wie auch Kawan hinweist – um eines ohne Großstadt. Das Paris der Amélie ist „ein entwirklichtes, in grünes Licht getauchtes Paris, ohne Verkehrsgewühl und Lärm und mit Massenverkehrs-Orten ohne Menschenmassen“, „Montmartre präsentiert sich als ein Dorf, wo jeder jeden kennt und wo man sich noch nach Jahrzehnten an ehemalige Mieter erinnert“ (ebd., S. 150). Der Film erzählt: Hier arbeitet Amélie als Kellnerin im „Café des 2 Moulins“. Ihre Kindheit verbrachte sie in einem Vorörtchen von Paris. Mangels elterlicher Liebe und sozialer Kontakte erschuf sie sich eine Phantasiewelt. Im Film heißt es: „Die Außenwelt erscheint Amélie so tot, dass sie lieber ihr Leben träumt, bis sie alt genug ist auszuziehen.“ (00:08:58-00:09:03 Min.)28 Amélies Phantasie macht die Welt zu einer fabelhaften: Es sind die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens auf Demos oder künstlerische Aktionen zusammen. In ähnlicher Weise verfährt D ie fabe lhafte W elt der A mélie mit den Passfotos. 28 | Diese und folgende Zeitangaben beziehen sich auf: D ie fabelhafte W elt der A mélie (F/D 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet, DVD, 117 Min., Universal Studio & Prokino 2002).

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– z.B. Steinchen über das Wasser springen zu lassen –, die hier ihr Besonderes entfalten. Es ist aber auch eine einsame Welt – bis zu dem Tag, an dem Amélie in ihrer Pariser Wohnung ein verstecktes Schatzkästchen mit Kleinoden eines unbekannten Kindes findet. Amélie beschließt, wenn sie den Besitzer des Kästchens ausfindig machen und ihn damit glücklich machen kann, wird sie andere Menschen an ihrer Welt teilhaben lassen. Amélie kann das Kästchen an seinen Besitzer Dominique Bretodeau übergeben und „[s]eitdem wirbelt sie als Elfe, kleine Fee und Kobold herum und ‚tut alles, um das Kuddelmuddel im Leben der anderen in Ordnung zu bringen‘“ (ebd., S. 151).29 Amélie mischt sich auf beglückende Weise in das Leben anderer.30 Ihr Freund, der alte und kranke Maler Raymond Dufayel, macht darauf aufmerksam, dass ihr zu ihrem eigenen Glück etwas fehlt: „Was ist mit ihr? Was mit dem Kuddelmuddel in ihrem Leben? Wer wird sich darum kümmern?“ (00:47:12-00:47:19 Min.) Dem Betreffenden – Nino Quincampoix – ist sie keine Unbekannte. Auf diesen Gedanken wird Nino durch gefundene Passbilder (s. Abbildung 10) gebracht, die – im Unterschied zu den in Material für die Nachkriegszeit (s. Abbildung 5) der in Der Fotomatonreparateur (s. Abbildungen 6 bis 9) präsentierten Passfotos – sprechen und sich bewegen. 29 | Doch wird, so Kawan, „diese Idylle […] immer wieder durch Einblendung und Anmerkungen aus der Welt der harten Fakten durchbrochen – ob dies nun Physikalisches (z.B. den Luftdruck) betrifft oder aber mit Tod, Sex, Pornographie die menschliche Sphäre“ (Kawan 2008, S. 150). Diese Durchbrüche haben tragisch-komischen Charakter – wie zum Beispiel der Tod von Amélies Mutter. Als die Mutter mit der kleinen Amélie Notre-Dame passiert, wird sie von einer herabstürzenden Selbstmörderin erschlagen. Amélies Goldfisch namens Pottwal wird hingegen nach mehreren Selbstmordversuchen (er springt aus dem Glas) in die Freiheit entlassen. In einem Gefäß wird dann wiederum die tote Mutter aufbewahrt. Mit dem Bau eines Miniatur-Mausoleums für die Urne der Mutter ist der in Trauer versunkene Vater beschäftigt bis zu dem Zeitpunkt, als Amélies Postkarten (die von einer fingierten Reise seines Gartenzwergs berichten) dessen Aufbruch zu einer Weltreise bewirken. Paradigmatisch für die tragisch-komische Note von möglichen und tatsächlichen Katastrophen ist z.B. auch der folgende Dialog zwischen Amélie und ihrem Vater: „‚Geht’s Dir gut mein Kind? – ‚Ziemlich gut. […] Ich hatte zweimal einen Herzinfarkt und musste abtreiben, weil ich in der Schwangerschaft Crack genommen habe. Ansonsten ist alles Bestens.‘ – ‚Umso besser, umso besser.‘“ (zit. n. ebd., S. 151f.) 30 | In dem Motiv des Helfens – in Kombination mit dem am Ende behobenen Mangel an Liebe und Kontaktfähigkeit – sieht Kawan (vgl. Kawan 2008, S. 150) eine wesentliche Konvergenz mit dem traditionellen Zaubermärchen. Amélies Hilfsstrategie besteht in einer Durchmischung des Lebens mit ihrer Phantasie. Während sie so zum Beispiel ihren Vater dazu bringt, seinen Traum vom Reisen in die Tat umzusetzen, ist das Glück ihrer Concierge auf einer von Amélie als real verkauften Fiktion gebaut. Amélie fälscht Liebesbriefe des vor Jahren verschwundenen Geliebten – so erweckt diese Tote zum Leben. Es handelt sich hierbei um ein Motiv, was sich im Folgenden als äußerst relevant erweisen wird.

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Abbildung 10: Sprechende Passilder aus D ie Fabelhafte W elt der A mélie

Amélie beobachtet, wie Nino Fotos an einem Fotofix-Automaten aufliest, aufspringt und einem Mann hinterherjagt. Dabei verliert Nino das Album, in welches er die gefundenen Bilder klebt. Amélie ist verliebt – ebenso wie sie scheint Nino ein Sonderling zu sein, der das Besondere in Dingen sieht, die andere achtlos beiseitelassen. Der Unbekannte, der Nino entwischt, ist jener Typ, der immer wieder auf den Fotos im Album auftaucht (s. Abbildungen 11 und 12).

Abbildungen 11-12: Das Fotoalbum von Nino aus D ie Fabelhafte W elt der A mélie

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Amélie blättert ihren Fund auf den Stufen des Gar du Nord durch und der Erzähler, der durch den gesamten Film geleitet, kommentiert: „Seitenweise misslungene Passfotos, die von ihren enttäuschten Eigentümern zerknüllt, zerrissen und weggeworfen wurden und die ein komischer Kauz mit großer Sorgfalt wieder zusammengesetzt und gesammelt hatte, wie ein Familienalbum.“ (00:39:5500:40:32 Min.) Sie zeigt das Album ihrem Freund Dufayel und sie rätseln gemeinsam über das Motiv des Unbekannten, sich an allen möglichen Ecken der Stadt fotografieren zu lassen und die Fotos hernach wegzuwerfen. Amélie vermutet, es handele sich um einen Toten, der den Lebenden sein Gesicht in Erinnerung rufen möchte. Auch in diesem Fall handelt es sich – wie sich später herausstellt – um einen Mechaniker, der die Automaten kontrolliert und repariert. Die Vermutung Amélies, es handele sich bei dem Reparateur um einen Toten, der Kontakt zu Lebenden sucht, ist für den Status der Bildwelt in Die fabelhafte Welt der Amélie von entscheidender Bedeutung: Die Bilder haben den Charakter von Phantomen, die von Wiesing als „Quasidinge“ (Wiesing 2006, S. 98) bezeichnet werden: „Phantome haben einerseits eine Realität, denn sonst könnte man nicht meinen, man würde sie sehen, und doch sind sie andererseits nicht real, sonst würde man sie eben für normale, wahrnehmbare und anwesende Gegenstände halten.“ (Ebd.). Die Qualität der lebenden Bilder aus dem Fotofix-Automaten lässt sich mit Wiesings Charakterisierung31 des Phantomcharakters als eine phantastische Präsenz von Seiendem plastisch fassen, die – im Unterschied zu Illusionen – „immer etwas Unheimliches“ (ebd., S. 100) hat. In den Passbildern manifestiert sich en miniature das Grundprinzip des gesamten Films: Dieser führt das Wunder einer Existenz von Fabelhaftem vor32 – eines dieser Wunder besteht eben darin, zugleich nicht tot und nicht lebendig zu sein.33 Die Bilder aus dem Album verwendet Amélie auf ihrer Suche nach Nino, der u.a. als Skelett verkleidet in einer Kirmes-Geisterbahn arbeitet. Amélie hängt einen Bogen mit vier Passfotos an den Lenker von Ninos Mofa mit einer Notiz, wo er sie am nächsten Tag treffen kann. In der Nacht wird Nino von den Fotos, die er an seiner Nachttischlampe befestigt hat (s. Abbildung 10), geweckt: Die vier Bilder eines Mannes mit Schnurrbart und Mütze beginnen zu sprechen. Vierstimmig berichten sie, wie sie in Amélies Brusttasche transportiert wurden, zanken sich, 31 | Wiesing nimmt hier eine Bestimmung der ontologischen Zweideutigkeit des Bildes vor, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, dass in Debatten um den Illusionscharakter von Bildern, das Bild allzu häufig letztlich als „defekte, behinderte und letztlich gescheiterte Illusion“ (Wiesing 2006, S. 96) charakterisiert wird. Statt von defekten Illusionen schlägt Wiesing vor, von perfekten Phantomen zu sprechen. 32 | „Das perfekte Phantom ist ein Wesen, zu dem die sichtbare Unwirklichkeit im Moment seiner sichtbaren Gegenwart gehört.“ (Wiesing 2006, S. 99) 33 | Die Narration kreist damit um ein Motiv, welches auch als paradigmatisch für den filmischen Realitätseindruck selbst angesehen wird: eine ‚authentische‘ Wahrnehmung als apparativ erzeugter Effekt; vgl. dazu meine Ausführungen zu Michotte in I.1.

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ob Amélie schön oder eher hübsch sei. Auf Ninos Frage, was die Fremde von ihm wolle, veräppeln ihn die Bilder zunächst: Amélie sei auf einen Finderlohn für das Album aus, Amélie wolle das Bild gegen ein anderes von einem Einäugigen mit Brille tauschen. Dann kommt die entscheidende Botschaft: Sie ist verliebt. Nino ist verblüfft: „Ich kenne sie doch gar nicht.“ „Na klar kennst du sie“, so die Bilder. „Seit wann?“ „Na immer schon. Aus deinen Träumen.“ (01:08:44-01:09:44 Min.) Finden Nino und Amélie letztlich zusammen, so ist das todsichere glückliche Ende auch den sprechenden Bildern zu verdanken. Die Geschichte von Die fabelhafte Welt der Amélie integriert – wie auch immer es dazu gekommen sein mag – das Motiv von Der Fotomatonreparateur und Material für die Nachkriegszeit nicht nur in die Narration des phantastischen Lebens der Amélie Poulain, sondern die Narration belebt in gewisser Weise die Abbildungen selbst. Sie bzw. die auf ihnen abgebildeten Personen treten als sprechende, quasi-lebendige Subjekte in dieser Geschichte auf. Brachte auch der Fotofilm der Mitglieder von „Die Tödliche Doris“ die Bilder in Bewegung, so hat der Eindruck eines Daumenkinos mit unvollständigen Seiten den Charakter einer gestörten Bewegungsillusion. Aus der Perspektive konventioneller Filmerfahrung fehlt der Ton. In den Passfotos in Die fabelhafte Welt der Amélie steckt auch die Geschichte von technischen Errungenschaft des Kinos: Die Erhöhung der Frequenzen, die die wahrnehmbaren Lücken im Ablauf der fotografischen Einzelbilder im Fluss der Bewegungsillusion schloss (s.o.), und die Erfindung des Tonfilms, der die Bilder zum Sprechen und zum Klingen brachte. Adorno und Eisler zufolge erfüllte die Vertonung auf phantasmatischer Ebene für das Publikum zugleich den Dienst einer Besänftigung böser Geister, die aber, wie ich nun ausführen werde, auf anderer Ebene im Tonfilm wiederkehren.

10.  Geisterhafte Erscheinungen und surrende Geräusche Betrachten Adorno und Eisler die Erfindung des Tonfilms als ästhetischen Zufall, den sie als ein offenkundiges Beispiel für die Amalgamierungstendenz verhandeln (s.o.), so heißt es einleitend in „Komposition für den Film“, es sei „nicht die Technik als solche für die Barbarei der Kulturindustrie verantwortlich zu machen“ (Adorno 1969b, S. 12). Statt einer „romantische[n] Glorifizierung der Vergangenheit“, die aus solcher Perspektive als Bereich jenseits von Standardisierung und als verlorene Möglichkeit „individualistische[r] Produktionsweise“ (ebd.) erscheine, seien im Konkreten die Verschränkungen von „ästhetischen Potentialitäten der Massenkunst in einer freien Gesellschaft und ihres ideologischen Charakters in der gegenwärtigen“ (ebd., S. 12f.) zu untersuchen. Damit ist der Zugang von Adorno und Eisler umrissen: Sie grenzen sich von Betrachtungen des Films als „Kunstform eigener Art“ (ebd., S. 11) ab und interpretieren diesen als massenkulturelle Technik, die nach Maßgabe der Amalgamierungstendenz an der Forderung ausgerichtet sei, „die Konsumenten möglichst wirksam zu errei-

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chen“ (ebd., S. 12) – was aber nicht bedeute, dass die filmische Technik nicht auch in anderer Weise verwendet werden könne: „Die Möglichkeiten, welche die technische Apparatur für Kunst in der Zukunft bietet, sind unabsehbar, und noch im verkommensten Film sind Augenblicke, wo diese Möglichkeiten sichtbar auf blitzen. Aber das gleiche Prinzip, das diese Möglichkeiten entfesselt hat, fesselt sie zugleich an den Betrieb des big business“ (ebd.).34 In „Komposition für den Film“ geht es vorrangig um die Frage des ästhetischen Potentials, welches dieses Amalgam verschiedenster Techniken bereithält. Verschenkt werde es, so die grundsätzliche Überzeugung, wenn Ton (insbesondere kommt es den Autoren freilich auf die Musik an, aber nicht nur) und Bild als absolute Äquivalente genommen werden.35 Darunter verstehen Adorno und Eisler das Bemühen, Bild und Ton einander zu addieren (vgl. ebd., S. 67), um einen Gleichklang zu erzielen. Der gängigen Konvention nach soll der Ton ‚abbilden‘, was das Bild ‚sagt‘. „Selbst wenn jene Identität bestünde, und sie besteht nicht, […] bliebe immer noch die Frage, wozu sie gut sei – warum ein Medium nochmals das geben soll, was ein anderes gerade jener Auffassung zufolge ebenso gibt und was durch die identische Wiederholung nichts gewinnt, sondern allenfalls verlieren könnte.“ (Ebd.) Ausgehend von ihrer Annahme einer konventionell eingeschliffenen Zwangsehe von Ton und Bild36 kommen Adorno und Eisler auf die Frage nach deren Wirkung auf das Publikum zu sprechen. Das Entscheidende an dieser Stelle ist, dass – im Unterschied zu Baudrys Darstellung – hier keinesfalls ein reibungsloser Zusammenschluss von Ton und Bild konstatiert wird. Adorno und Eisler zufolge

34 | Es ist demnach nicht die technische Vertonung des Bildes – und auch nicht Standardisierung – als solche, sondern die Art und Weise ihrer Verwendung, auf die sich hier die Kritik richtet. So heißt es an anderer Stelle auch: „In Bereichen wie der Verkehrsregelung ist sie [die Standardisierung] höchst unschuldig. Der Glaube, es läge an der Technik selbst, den allemal der mittlerweile selbst automatisierte Aberglaube an den Menschen kontrapunktiert, gehört demselben Fetischismus an wie der verdinglichte Zustand, über den die Feinde der Technik sich entrüsten.“ (Adorno 1976, S. 375) 35 | Eisler und Adorno beziehen sich hierbei auf Eisenstein (1942). 36 | Diese filmische Konvention gilt insbesondere für die Hollywood-Klassik (üblicherweise datiert im Zeitraum zwischen 1917 und 1960; vgl. Bordwell/Staiger/Thomson (Hrsg.) 1985). Wie Flückiger herausarbeitet, wurde hier das „erzählerische Material […] so organisiert, dass es eindeutig und klar verständlich war. Die Geräusche sollten keine eigene akustische Qualität besitzen, sondern möglichst schnell und problemlos einen bestimmten Vorgang oder eine bestimmte Quelle bezeichnen, um die nahtlose Fiktion zu unterstützen. Die Tonspur wurde unter diesen Prämissen funktionalisiert und dem narrativen und visuellen Fluss angepasst.“ (Flückiger 2001, S. 136) Rothöhler spricht in diesem Zusammenhang von einem „homogenen Erfahrungsraum“ (Rothöhler 2006, S. 144), in der die Geräusche und Töne den Status von akustischen Abbildungen des Leinwandgeschehen hatten (ebd., S. 147).

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führt gerade der Versuch Ton und Bild unmittelbar miteinander zu verschmelzen (vgl. ebd., S. 72) zu einem Auseinanderbrechen von Ton und Bild. Nun waren im Kino, so der Ausgangspunkt dieser Überlegung, Bild und Ton niemals ohne einander.37 Von jeher sei der Stummfilm von Musik begleitet worden, denn das „reine Lichtspiel muß gespenstisch gewirkt haben ähnlich wie das Schattenspiel – Schatten und Gespenst haben von je zusammengehört. Die ‚magische‘ Funktion der Musik [...] muß darin bestanden haben, die bösen Geister in der unbewußten Wahrnehmung zu beschwichtigen. Die Musik wurde gleichsam als Gegengift gegen das Bild eingeführt.“ (Ebd., S. 74) Da das Kino, in Tradition der Jahrmärkte, stets auf das Vergnügen des Publikums ausgerichtet gewesen sei, habe man diesem „das Unangenehme ersparen wollen, daß die Abbilder le37 | Laut Rothöhler sind „die akustisch operierenden ‚Verstrickungstechniken‘“ in die filmische Illusion bisher weit weniger theoretisch bearbeitet worden als die Frage der „Realismus-Debatte nach dem referenziellen Status des Bewegungsbildes (Welthaltigkeit) und der Logik des Realitätseindrucks (Illudierung)“ (Rothöhler 2006, S. 139). Untersuchungen der Frühphase des Kinos hätten jedoch gezeigt, dass auch bereits in Frühzeiten des Kinos der Ton eine entscheidende Rolle gespielt hat (vgl. u.a. Altmann 2001). Wie auch Adorno und Eisler hier hervorheben: Nie war das Stummfilmkino stumm. „In any case, to see early cinema as a ‚silent‘ medium and hence simply as the heir to still photography is a misconception. Music was always a vital accompaniment, even the Lumière’s first showings of the cinematographs in the 1890s. Sound systems were sought from the earliest days and what so-called silent cinema lacked was not sound, but merely synchronized speech.“ (Armes 1988, S. 10) Adornos und Eislers Bemerkungen hier scheinen durchaus anschlussfähig an Ergebnisse zeitgenössische filmwissenschaftliche Forschung, in der davon ausgegangen wird, dass die Ära des Stummfilms von „polymorphen Ton-Bild-Relationen“ (Rothöhler 2006, S. 142) geprägt war, die dann in ein homogenes Raumdispositiv des klassischen Erzählkinos überführt wurden (vgl. Elsaesser 2002). „Die frühen Tonästhetiken begrenzten den visuell induzierten Realitätseffekt, weil sie nicht als Repräsentationen funktionierten. Die konstitutive Distanz von Ton und Bild, die beide unterschiedlichen Räumen – Zuschauerraum und Leinwandraum – zugeordnet waren, zeitigte Effekte der Diskontinuität und behinderte die Überführung beider Räume in den erwähnten homogenen Erfahrungsraum.“ (Rothöhler 2006, S. 144) Interessanterweise betonen aktuelle Forschungsansätze in Bezug auf das gegenwärtige Kino (im Unterschied zum klassischen Erzählkino) die „bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen den Ton-Bild-Konstellationen des frühen bzw. späten Kinos“ (ebd., S. 145). So wird festgestellt: Während im homogenen Raumdispositiv der Ton – wie auch Baudry annimmt – zur Steigerung des Realitätseffekts eingesetzt wurde, öffnet sich in den derzeitigen „Blockbuster-Soundscapes […] eine referenzielle Distanz zwischen Ton und Bild, die im präklassischen Modus einer live im Aufführungsraum performten, simplifizierenden Eins-zu-eins-Substitution (klappernde Kokosnuss-Schalen bei Pferden auf der Leinwand) geschuldet war.“ (Ebd., S. 147) Die Geräusche waren demnach auf das Leinwandgeschehen bezogen, funktionierten aber nicht als akustische Abbildungen (vgl. ebd.). Hiervon gehen auch Adorno und Eisler in Bezug auf den Stummfilm aus.

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bendiger, agierender und gar redender Menschen vorgeführt werden, die doch zugleich stumm sind. Sie leben und leben zugleich nicht, das ist das Geisterhafte“ (ebd.). Der Einsatz von Musik im Stummfilmkino diente demnach auch der Beschwichtigung von Angst, der Absorbation von Schocks (vgl. ebd., S. 74f.). Diese Angst führt Adorno an anderer Stelle zurück auf eine „alte Kinderdrohung von der Fratze, die stehenbleibt, wenn die Uhr schlägt“ (ders. 1942, S. 333f.). Im Kino schwinge diese Drohung des Erstarrens nach, zugleich aber auch die Hoffnung darauf, dass „einmal dieser Bann gebrochen werde“ (ebd., S. 334). Was die Menschen in die Kinos treibe, sei vielleicht „am Ende solche tief verhohlene Erwartung“, im Kinosaal selbst aber „gehorchen sie“ und „assimilieren sich dem Toten“ (ebd.). In einer Fußnote an dieser Stelle rekurrieren Adorno und Eisler auf die Annahme Kurt Londons, auf die Musik sei zunächst aus der simplen Notwendigkeit zurückgegriffen worden, das Geräusch der Projektoren zu neutralisieren, die zu der Zeit noch im Publikumsraum aufgestellt wurden. Auf diese Weise habe die Musik das visuelle Vergnügen vom störenden Rattern abgeschirmt und so abgesichert. „Plausibel genug“ (ders. 1969b, S. 75, Fn. 11) finden Adorno und Eisler diese Annahme, doch stelle sich die Frage, warum überhaupt die Projektoren-Geräusche als unangenehm empfunden worden sein sollten: „Doch wohl kaum wegen seiner Lautheit, sondern weit eher, weil es selber der geisterhaften Sphäre anzugehören schien […]. Die in Rede stehende Erfahrung dürfte […] der Panik verwandt [sein]: das auf blitzende Bewußtsein, als unartikulierte Masse dem Mechanismus gegenüber ohnmächtig ausgeliefert zu sein. […] Im Grunde ist es die [Erfahrung], daß einem etwas passieren kann, auch wenn man ‚viele‘ ist. Genau das heißt das Bewußtsein der eigenen Mechanisierung.“ (Ebd.)38 Diese Gleichzeitigkeit von Belebt-Sein und Unbelebt-Sein, von Reden und Stumm-Sein evoziere demnach das panische Gefühl des Eingebunden-Seins in einen automatischen, unbeeinflussbaren Mechanismus. Hiervon handelt auch Huxleys „Brave New World“. Die Masse, so unterstreicht Adorno an anderer Stelle in Anknüpfung an Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (Freud 1921d), müsse als Resultat eines Konflikts aufgefasst werden (vgl. Adorno 1951d). In der faschistischen Massenbildung lasse sich ein ähnlicher „Erstarrungsprozeß“ (ebd., S. 59) beobachten wie in der Kulturindustrie – um die Masse bei der Stange zu halten, kalkuliere die faschistische Agitation in vergleichbarer Weise mit ihren Reizen auf die AbnehmerInnen wie die kalkulierte Wirkung der Kulturindustrie: „Ihre Effektivität ist […] selbst eine Funktion der Psychologie der Konsumenten.“ (Ebd.; vgl. dazu auch ders. 1993, S. 153ff.) Die Inszenierungen zielten dabei auch auf „ein Gleichgewicht“, ohne welches „die ganze ‚Show‘ zusammenbrechen“ würde und die TeilnehmerInnen der „Panik überlassen“ würde (ders. 1951d, S. 65). Die Panik 38 | Adorno beschreibt einen kollektiven Aspekt der Kino-Erfahrung so: „Indem das Auge mitgeschwemmt wird, gerät es in den Strom all derer hinein, die dem gleichen Appell folgen.“ (Adorno 1977, S. 359)

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tritt Freud zufolge dann auf, wenn die libidinöse Bindung der Einzelnen untereinander nicht länger aufrechterhalten wird und die „Masse zerstiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat“ (Freud 1921c, S. 106). Adorno folgt in diesem Zusammenhang insbesondere Freuds Auffassung, dass die Panik als Folge der „Lockerung in der libidinösen Struktur der Masse aufzufassen“ ist, und „nicht umgekehrt […] die Libidobindungen der Masse an der Angst vor der Gefahr zugrunde“ gehen (ebd., S. 105). Es ist demnach in diesem Fall von Massenpanik gerade nicht die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr, die den „Angstausbruch“ bewirkt, dieser ist „durch den Anlaß nicht gerechtfertigt“ (ebd.). Sondern vielmehr mündet Freud nach die Entfesselung der Libido von der Bindung an Objekte – „das Auflassen von Gefühlsbindungen (Libidobesetzungen)“ (ebd., S. 106) – in Panik. Diese Erklärung bildet den Hintergrund der Annahme Adornos und Eislers, es seien nicht die geisterhaften Gestalten auf der Leinwand oder die störenden Geräusche an sich, die durch die musikalische Begleitung besänftigt wurden. Beschrieben ist vielmehr ein Verweisungsverhältnis (s.o.), in welchem – ähnlich wie eine Bestimmung des Unheimlichen lautet – Entfremdetes hervortritt. Der Grund für die Verstörung lässt sich demnach nicht allein auf die Wahrnehmung eines äußeren Gefahrensignals zurückführen, sondern auf „das uns von innen her ‚heim-suchende‘ Fremde“ (Gast 2011b, S. 351), welches die sprechend-stummen Gestalten unheimlich umgibt und angesichts derer sich ein schockhaftes – auf blitzendes – Gewahrwerden von Ausgeliefert-Sein einstellen kann: „[I]m Angesicht der gestikulierenden Masken wurden die Menschen sich ihrer als eben solcher Wesen inne, als sich selbst Entfremdete. Sie sind nicht mehr fern vom Verstummen“ (Adorno 1969b, S. 75). Es ist der „Schreck des Todes, der einem im Objekt begegnet“ (Knellessen 2011, S. 336). Dieser Schreck, so Knellessen, ist dem vergleichbar, in den sich im „Uncanny Valley“ die positiven Gefühle gegenüber den menschenähnlichen Robotern plötzlich wandelten. Ein Ahnen dessen tauche hier auf, „wie sehr man selbst Roboter ist, wie sehr man selbst auch einer Mechanik unterliegt, einer Wiederholung der Ambivalenz, wie sie sich im Schreck des Zusammenfallens von Anziehung und Abstoßung überwältigend zeigt. Es ist der Schreck des Erkennens, Subjekt dieser Ambivalenz zu sein“ (ebd., S. 337).

11.  Sprechende Bilder Der Tonfilm verleiht den stummen Bildern von redenden Menschen Stimmen. Und so sollte man denken, mit der Aufhebung der unheimlichen Gleichzeitigkeit von Belebtem und Unbelebtem sei die Funktion der Musik als Gegengift nutzlos geworden. Nicht so Adorno und Eisler, die davon ausgehen, dass sich an der besänftigenden Funktion der Musik mit der technischen Realisierung des Tonfilms „weniger geändert [hat], als man denken möchte“ (Adorno 1969b, S. 75). Auch der „Sprechfilm ist stumm“ (ebd., S. 76). Denn es sei „Grund zur Annahme, daß, je enger Wort und Bild verkoppelt werden, ihr Widerspruch und die Stummheit der

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anscheinend Redenden nur um so nachdrücklicher gefühlt wird“ (ebd.). Gerade sprechende Bilder würden davon zeugen, dass die Personen „nicht redende Menschen, sondern redende Bilder, mit allen Kennzeichen des Bildlichen, der fotografischen Zweidimensionalität, der mangelnden Raumtiefe“ seien, deren Worte „in einer Weise aus dem körperlosen Mund“ kommen, „die jeden Unbefangenen beunruhigen muß“ (ebd.). Und auf eben diese Weise sage „die Fremdheit der Medien […] die Wahrheit über eine sich selbst entfremdete Gesellschaft“ (ebd., S. 74). Während also Baudry davon ausgeht, dass die Differenz zwischen Ton und Bild umstandslos im Realitätseindruck geschlossen und überbrückt werde, bewirkt Adorno und Eisler zufolge die Amalgamierungstendenz zugleich ihr Gegenteil. „Die fundamentalen Divergenzen von Wort und Bild werden vom Unbewußten des Betrachters registriert und die aufdringliche Einheit des Tonfilms […] als erschlichen und brüchig wahrgenommen“ (ebd., S. 76). Je „blinder“ versucht werde, Ton und Bild zu verschmirgeln (vgl. II.3), desto „hoffnungsloser“ (ebd., S. 133) klafften diese auseinander. Aus diesem Grund erfülle die Musik nach wie vor eine besänftigende Funktion. Im Zeichen der Amalgamierungstendenz neige diese dazu, „eine menschlich vermittelnde Schicht zwischen die ablaufenden Fotografien und die Betrachter zu setzen“ (ebd., S. 61). So halte sie zusammen, „was sonst beziehungslos sich gegenüberstünde“ (ebd.): Ton und Bild, Film und ZuschauerInnen, die als Publikumsmasse libidinös verschweißt werden. Damit gehe eine Transformation der Gleichzeitigkeit von lebendigen und zugleich nicht-lebendigen, redenden und gleichwohl stummen Figuren einher: Die Bilder von sprechenden und gestikulierenden Menschen sind im Tonfilm nicht länger stumm, aber wenn sie sprechen, haftet ihnen demzufolge nun etwas Quasi-Stummes an. Wodurch – auf anderen Ebenen als im Stummfilm – dieser Doppelcharakter „die bösen Geister in der unbewußten Wahrnehmung“ (ebd., S. 74; s.o.) wachrufen könnte, die auch darauf hinweisen, dass die Zuschauenden nicht restlos eingebunden sind. Oder anders: Versuche den Schrecken in Form einer Verschmirgelung von Ton und Bild zu besänftigen transformiert dessen Anlass und lässt das Unheimliche an anderen Stellen, z.B. unter umgekehrten Vorzeichen (s.o.) einbrechen. Einen möglichen Schrecken mit umgekehrtem Vorzeichen, wie er im Zuge der kulturindustriellen Schreckensbewältigungsversuche (als welche die Amalgamierungstendenz oben von mir eingeführt wurde) wiederkehrt,39 möchte ich nun abschließend anhand einer Sequenz von Die fabelhafte Welt der Amélie 39 | Das Objekt ist, wie Knellessen festhält, „in der Psychoanalyse nämlich immer schon das Verlorene. […] Und sein Verlieren öffnet gleichzeitig den Leerraum, es wieder zu finden und wieder neu zu schaffen. Das Verhältnis zum Objekt ist also, psychoanalytisch gesehen, eines des Hin und Her, des Wechsels von Annäherung und Abwendung.“ (Knellessen 2011, S. 336) In anderem Zusammenhang beschreibt Knellessen hier dieserart Pendeln auch als einen möglichen Versuch, den „Schreck des Todes, der einem im Objekt begegnet, zu bewältigen“ (ebd.).

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konkretisieren. Es soll dabei gezeigt werden, wie die Verführung zu einer „libidinösen Besetzung der Konkretion“ (Adorno 1968a, S. 87) durch die Ausstellung der kleinen Dinge, Schrulligkeiten und Besonderheiten des Lebens zugleich darauf verweist, dass die „Totalität […] nicht unbedingt durch ein solch unmittelbares, uns alle umgreifendes Miteinander“ bedingt ist, „sondern dadurch, daß wir, wie es durch das abstrakte Tauschprinzip geschieht, wesentlich voneinander getrennt sind“ (ebd., S. 77). Diese Erfahrung wird – wie gezeigt (s.o.) – von Adorno und Eisler auch als das „Bewußtsein der eigenen Mechanisierung“ (ders. 1969b, S. 75, Fn. 11; s.o.) beschrieben, welches Panik auslösen könne.

12.  Vom Glück, so besonders zu sein wie alle anderen auch In der betreffenden Sequenz werden StammkundInnen und Angestellte des „Café des 2 Moulins“ vorgestellt, in dem Amélie als Bedienung arbeitet. Diese Vorstellung erfolgt in spezieller Zusammenarbeit von Bild und Ton. Der Sprecher, der den Film über das aktuelle Geschehen kommentiert sowie über Hintergründe von und Geschehnisse in Amélies Welt informiert, geleitet durch die Sequenz. In einer bestimmten Formel informiert dieser das Kinopublikum über die Besonderheiten der betreffenden Personen (und auch einer Katze), die lautet: Das ist X mit Eigenschaft Y. Was er bzw. sie (nicht) mag, ist Z. Während die Person vorgestellt wird, ist diese bei ihrer aktuellen Beschäftigung im Café zu sehen. Kurze Einblendungen in schwarz-weiß bebildern dann die jeweiligen Vorlieben oder Abneigungen, die von entsprechendem Ton begleitet sind. Ein Ausschnitt aus dieser Sequenz [00:09:35-00:10:27 Min.]: {Zu sehen ist Suzanne, wie sie hinter dem Tresen entlanghumpelt und dann die Kasse bedient} Sprecherstimme: Das ist Suzanne, die Chefin. Sie hinkt ein wenig, hat aber noch nie ein Glas umgeworfen. Als sie jung war, war sie Kunstreiterin im Zirkus. Was sie mag: Sportler, die vor Enttäuschung weinen. Was sie nicht mag: Mitansehen, wie sich ein Mann vor den Augen seines Kindes demütigen lässt. [Einblendung: Szene mit Sportler, der getröstet wird; Szene mit zwei Männern und einem Kind im „Café des 2 Moulins“; Ton: leise die dazugehörigen Stimmen] {Zu sehen ist Georgette, wie sie hinter den Tabakverkaufsstand sitzt und Nasentropfen und Asthmaspray nimmt} Sprecherstimme: Am Tabaksstand sitzt Georgette, die eingebildete Kranke. Wenn sie keine Migräne hat, ist ihr Ischiasnerv eingeklemmt. Was sie nicht gern hört? ‚Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes‘. [Einblendung: Medizinische Zeichnungen von Organen und weiblichem Unterleib und Zeichnungen von der Jungfrau Maria im Zeitraffer; Ton: ein Ave Maria]

Brüchige Bilder – Vom Unheimlichen kulturindustrieller Überset zungen {Zu sehen ist Gina, wie sie mit einem Tablett das Café durchquert und Amélie eine Bestellung zuruft} Sprecherstimme: Das ist Gina, Amélies Kollegin. Ihre Großmutter war Heilpraktikerin. Was sie mag? Knochen knacken lassen. [Einblendung: Ginas Hände lassen die Gelenke knacken; Ton: Knacken] {Zu sehen ist Gina, wie sie Hipolito einen Kir serviert, der daraufhin das Glas zum Mund führt} Sprecherstimme: Hier serviert sie Hipolito, dem Schriftsteller, einen Kir. Was er vor allem mag: Wenn er im Fernsehen sieht, wie ein Torero auf die Hörner genommen wird. [Einblendung: Filmaufnahmen eines Stierkampfes; Ton: Zirkusmusik] {Zu sehen ist Joseph, wie er grimmig zur Seite blickt} Sprecherstimme: Der Typ, der Gina so missmutig beobachtet, ist Joseph, ihr ausrangierter Liebhaber. Er versucht rauszufinden, ob er einen Nachfolger hat. Das einzige was er mag, ist die Bläschen von Plastikverpackungen platzen zu lassen. [Die Kamera schwenkt unter den Tisch, wo Joseph hörbar Bläschen von Verpackungs­ material zerdrückt]

Die Vorstellung der Personen findet auf zwei Ebenen statt – in der aktuellen Situation im Café und den (in schwarz-weiß abgesetzten) Einschüben. Diese bebildern und vertonen die Informationen zu den Vorlieben der Person, die der Sprecher der farbigen Szenen mit der Person hinzugefügt hatte. Auf diese Weise wird eingeblendet, was das Bild gegenüber dem Gesprochenen offen gelassen hatte. Kann die Aufnahme der Idee mit den zerstückelten Fundstücken als Einspeisung in die Geschichte von Die fabelhafte Welt der Amélie betrachtet werden, im Zuge derer diese zum Sprechen gebracht werden (s.o.), zeigt sich hier auch eine Bebilderung des Gesprochenen durch eingesprengselte vertonte, d.h. sprechende Bilder. Auf der zweiten Ebene der filmischen Erzählung dieser Sequenz wird im Zusammenspiel von Ton und Bild konkretisiert, was zuvor nicht gedoppelt vorlag. In den Einschüben holen Ton und Bild im Zusammenspiel ein, was die verbal übermittelte Information vorausschickte. Die Vorlieben und Besonderheiten der Figuren werden so schlaglichtartig für die Zuschauenden konkret gemacht. Der Schlaglichtcharakter und die gleichlautende Formel Das ist X mit Eigenschaft Y. Was er bzw. sie (nicht) mag ist Z. stiftet auch eine Gemeinsamkeit: Alle Personen haben individuelle Eigenschaften und Vorlieben. Amélie oder Suzanne oder Hipolito zu sein bedeutet, so einzigartig zu sein wie alle anderen auch. Als bruchstückhafte Einsprengsel haben die individuellen Merkmale partikularen Charakter. Die Individuen werden in Serie als zusammengehörige und durch die Partikularität ihrer Merkmale zugleich als versprengte Einzelne präsentiert, was an Ninos Album wie an die Fotomaton-Filme erinnert. Auch das „Café des 2 Moulins“ ist eine Kuriositätensammlung, die sich beschreiben lässt als ein „Potpourri“ von „verdinglichten Einfälle[n]“ (Adorno 1938, S. 28). Diese werden durch

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die vom Sprecher der Szene im Café hinzugefügten Informationen wie von außen „injiziert“ (ebd.), um sie dann in den konkretisierten Einschüben in den Film hereinzuholen. Der Film protestiert in dieser Ausstellung von Schrulligkeiten gegen die „Beschränkung des Individuellen auf sich selber gegenüber dem Betrieb“ (ebd., S. 30), doch erweist sich auch hier zugleich eine gewisse Abstraktheit im emphatischen Bestehen auf dem ‚ganz und gar Individuellen‘ (vgl. ders. 1962, S. 162f.). Ebenso wie in Horoskopen sind hier die „spezifischen Bestimmungen […] kunstvoll zugleich so allgemein gehalten, daß sie auf einen jeden […] einigermaßen sich beziehen lassen“ (ebd., S. 154). Der Hergang der Geschichte und die Plausibilität der Charaktere wäre zum Beispiel nicht gefährdet, wenn es nicht Gina, sondern Joseph wäre, der gerne die Knochen knacken lässt – eine Vorliebe, die als Aller-Eigenste Ginas eingeschoben wird. En miniature lässt sich hierin auch das Prinzip erkennen, das Adorno zufolge Individuation in kapitalistischer Gesellschaft grundlegend bestimmt. Nicht nur bindet Adorno zufolge der gesellschaftliche Zusammenhang die Einzelnen aneinander, sondern auch der gesellschaftliche Zusammenhang ist durch Individuation in der Form vermittelt, dass „die je einzelnen Menschen ihren je einzelnen Vorteil, den Profit suchen“ müssen (vgl. Einführung) und „gerade durch dieses Beharren auf dem Individuationsprinzip das Ganze überhaupt sich stöhnend, ächzend und unter unaussprechlichen Opfern am Leben erhält und überhaupt reproduziert“ (ders. 1968a, S. 78). Das „Ganze“ ist demnach gerade nicht ein bloßer „funktionaler Zusammenhang zwischen den vergesellschafteten Menschen“, sondern Adornos Auffassung nach grundlegend konstituiert „durch den Tausch“ (ebd., S. 57) zwischen Individuierten. Im und durch den Warentausch sind die Einzelnen als virtuell Gleiche aufeinander bezogen (vgl. ebd., S. 56), d.h. der gesellschaftliche Zusammenhang konstituiert sich, so schließt Adorno an Marx an, wesentlich durch diesen „Abstraktionsmechanismus“ (ebd., S. 77; vgl. Einführung), dem die Einzelnen zu folgen haben, möchten sie sich am Leben erhalten. Als virtuell Gleiche aufeinander bezogen, müssen aber die Einzelnen zugleich „die eigenen, partikularen Interessen – die des Individuums – rücksichtslos verfolgen“ (ders. 1962, S. 162). Im ökonomischen Prinzip des Tauschs liegt demnach die paradoxe Anforderung begründet, dass dieselbe Person „zu gleicher Zeit reibungslos angepaßt und rücksichtslos individualistisch“ (ebd., S. 161) sich zu verhalten hat. Die ineinander verflochtenen „Forderungen der Adaption und der Autonomie“ (ebd.) sind schwerlich umstandslos ineinander zu übersetzen. Und aus dieser Schwierigkeit erklärt Adorno u.a., warum „das Konkrete eine Art von Utopie geworden ist, die es ja übrigens auch wirklich darstellt“ (ders. 1968a, S. 86f.) und warum auf dem Individualismus mit soviel Nachdruck bestanden wird, der – gerade in der Kulturindustrie – zum Trostpflaster wird.40

40 | „Die spezifischen Differenzen der einzelnen sind ebenso Male des gesellschaftlichen Drucks wie Chiffren menschlicher Freiheit.“ (Adorno 1955, S. 50)

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Es ist ganz wesentlich in diesem Zusammenhang, dass die gesellschaftliche Vermittlung nicht nach dem Modell einer unmittelbaren äußeren Formung und Einwirkung auf das Individuum gedacht wird (vgl. Einführung). Es wird, so Adorno, häufig übersehen, „daß nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität ein Produkt der Gesellschaft ist“ (ders. 1952, S. 27). Individualität ist demnach nicht etwas der Gesellschaft Vorgängiges und das Individuum wächst nicht in diese hinein, denn Individuum und Gesellschaft kommen „nie choris vor“ (ders. 1966b, S. 91): „So wenig Psychologie und Gesellschaft derart unmittelbar aufeinander einwirken, […] so wenig verläuft, was nach dem einen Prinzip sich entzweite, tatsächlich nun unabhängig voneinander.“ (Ebd.) Das Individuum ist ein aus diesem doppelten Verhältnis „Entsprungenes“ (ebd.), dessen Mechanismen von „gesellschaftliche[n] Kräfte[n]“ durchwirkt sind (ders. 1952, S. 27). Man kann demnach sagen: Nicht ein Äußeres wirkt auf Inneres, sondern Äußeres im Innern – so verkörpert das vereinzelte Individuum „im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip“ (ders. 1955, S. 55). Diese Formulierung erinnert an die Freuds, dass das Verdrängte für das Ich „inneres Ausland“ sei, so wie die Realität „äußeres Ausland“ (Freud 1933a, S. 62). Was hier auffallen kann, ist, dass die Möglichkeit eines ‚reinen Innen‘ nicht vorkommt. Ich lasse es hier dahin gestellt, ob Freuds Annahme eines allein ‚äußeren Auslands‘ ohne Inneres plausibel ist. Das Unheimliche zumindest ist ein Fall, in dem im Schrecken gewahr wird, „wie sehr sich das Innere auf und in das Äußere überträgt“ (Knellessen 2011, S. 337), wenn im Außen ‚inneres Ausland‘ hervortritt. Nach einer kurzen Rekapitulation komme ich darauf noch einmal abschließend zu sprechen.

13. Zurückverfolgt Der festgestellten Verbindung zwischen Baudrys Ansatz und dem Anliegen der Filme von Müller und Utermöhlen, ein als unifizierend wahrgenommenes System zu unterbrechen (vgl. II.1), wurde einleitend in diesen Abschnitt (II.4) eine in den Filmwissenschaften registrierte Parallele des Einsatzes von stroboskopischem Licht in Flickerfilmen und dem von Baudry beschriebenen halluzinatorischen Eindruck zur Seite gestellt. In dem von Holl (2008) gezogenen Vergleich zeigte sich, dass von dieser Interpretation Baudrys Auffassung der Ungebrochenheit des filmischen Eindrucks aufgenommen wird und – in Übergehung der Brüchigkeit des baudryschen Texts (II.3) – verabsolutiert wird (wiederum in der Intention diesen zu kritisieren und mit diesem – in Rekurs auf die Flickerfilme – zu brechen). In diesem Überspringen der baudryschen Quasi-Formulierungen wird zugleich deren Zur-Seite-Schieben in dessen Argumentation fortgeschrieben. Das Quasi wurde von hier ausgehend – auch anknüpfend an Adornos Huxley-Lektüre (vgl. II.1) – als ein Nicht-Gedeutetes (im Sinne eines Abhubs; vgl. Einführung) zum Gegenstand genommen. Daraus ergab sich die diesen Abschnitt leitende Frage: Inwiefern kehrt hier – wie eben auch bei Baudry – eine Grenze der Interpretation

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(vgl. Germer 2006, S. 191; s.o.; vgl. II.1) hervor – also ein für das Unheimliche prädestinierter Bereich? Zunächst habe ich gezeigt, inwiefern Flickerfilme den Topos des Unheimlichen berühren und dabei auf Hediger (2006b) rekurriert, der in dieserart desillusionierenden Ästhetik eine Verbindung zu Baudrys Theorie sieht: Beide Fälle verweisen demnach auch auf den mit Illudierungserfahrungen (also exemplarisch: dem filmischen Realitätseindruck) einhergehenden Schrecken und die Phantasien von Grenzverwischungen zwischen Mensch und Maschine/Medium (1.). Hiervon ausgehend wurde eine psychoanalytische Perspektive auf das Unheimliche vorgestellt: Für Freud ist das Unheimliche ein besonderer Fall des Schreckenerregenden (vgl. Freud 1919h), an dem Gast (2011b) das Erleben des Verlusts definitorischer Grenzziehung hervorhebt, welches Freud zufolge seinen spezifisch unheimlichen Charakter erhält, wenn sich eine Wiederkehr des Verdrängten vollzieht (2.). Anhand von Freuds Kritik an Jentschs (2014 [1906]) Konzeption, die auf der Gleichung „unheimlich = nicht vertraut“ (Freud 1929h, S. 231) beruht, habe ich – Bezug nehmend auf Gast (2011b) – den Aspekt der Entfremdung in Freuds Theorie des Unheimlichen hervorgehoben: Dem Unheimlichen ist in besonderer Weise das Nichtrepräsentierbare eingeschrieben (vgl. ebd., S. 352), welches sich als ein Raum des „Sowohl-als-auch und Weder-noch“ (ebd., S. 351) ausnimmt. Was hier im Erleben in dieser besonderen Weise figuriert, verweist, um es kurz zu halten, auf Entfremdung als Ursprung des Subjekts. Gasts Beispiel hierfür ist das Phänomen des „Uncanny Valley“, in dem sich diese in Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Maschine (in diesem Fall: von Robotern) geltend macht (3.). Unter Rückbezug auf den Teil I, in dem die Ambivalenz in ihrer konstitutiven Funktion für den spielerischen Lustgewinn Gegenstand war (vgl. I.4), wurde das Unheimliche als dessen gegenläufige Seite bestimmt, in der sich eine Leerstelle geltend macht. Mit Gast lässt sich das Unheimliche als Auftauchen eines horror vacuis beschreiben (vgl. ebd., S. 355), in dem jegliche Grenzziehungen implodieren. Dieses habe ich in Beziehung gesetzt zu Baudrys Konzeption der halluzinatorischen Wunscherfüllung, die seinem Begriff des filmischen Realitätseindrucks zugrundeliegt (vgl. II.3). Baudry beschreibt eine Aufhebung von Aktiv und Passiv und Verschlingen und Verschlungen-Werden. Der von ihm beschriebene Modus lässt sich darüber hinaus auch – ebenso wie das Unheimliche – verbinden mit einer Aufhebung von Ambivalenzen. Charakterisiert Baudry diesen als zeitliche Regression zu einer Ur-Situation des Subjekts und beruft er sich dabei auf Freuds Traumdeutung, so habe ich dieser Lesart Freuds andere (vgl. Kirchhoff 2009; vgl. Löchel/Menzner 2011) gegenübergestellt, die demgegenüber betonen, dass der im Seelenleben wirksame Wunsch nach Wiederholung gerade durch deren Unmöglichkeit konstituiert wird. Ausgehend von Kirchhoff (2009) habe ich dann gezeigt, dass das Zurückstreben des Wunsches (der von Baudrys Text als gelungene Rückkehr nahegelegt ist zu denken) insofern eine Verwandtschaft mit dem Ziel des Todestriebs aufweist,

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als beide auf einen Zustand absoluter Ungeschiedenheit zielen, den wiederum Pontalis als Nullpunkt bezeichnet (vgl. Pontalis 2003 S. 44; vgl. II.3) (4.). Artikulieren kann sich dieser z.B. in Utopien von Vollkommenheit oder in Träumen von absoluter Störungsfreiheit. Als einen solchen habe ich Baudrys Konzeption interpretiert, der – ebenso wie bei Huxleys „Brave New World“ – einem bösen Traum vergleichbar ist (5.). Adorno hebt an Huxleys Dystopie einen nicht ausgedeuteten Aspekt hervor (vgl. II.1): Huxleys Konstruktion einer total verdinglichten Menschheit blende aus, dass diese selbst menschliches Produkt ist (vgl. Einführung).41 Damit weiche Huxley dem Gedanken an ein Ineinander von Mensch und Technik aus. Gewissermaßen zeigt sich hier ein Movens dieserart böser Träume: Adorno zufolge entspringt Huxleys Konstruktion einer panischen Reaktion auf die Entzauberung der Welt (vgl. Adorno 1951b, S. 98), mit der zugleich versucht werde, der von dieser ausgelösten Schrecken Herr zu werden. Die Ausmalung eines Zustands totaler Integration in Form der Linienverlängerung einer gesellschaftlichen Tendenz zur totalen Integration diene demnach – und das scheint zunächst paradox – der Schreckensbewältigung. Diese habe ich im Weiteren in Bezug gesetzt zu der von Eisler und Adorno sogenannten Amalgamierungstendenz (vgl. ders. 1969b). Diese verstehen darunter ein kulturindustrielles Bewegungsgesetzt, welches (zunächst auf technischer Ebene) die Zusammenführung verschiedener Elemente (Ton, Bild, Musik, Schauspiel etc.) bezeichnet (6.). Mit diesem Begriff ist die allgemeine Tendenz gefasst, diese Elemente als verfügbare, einander adäquate zusammenzuschließen – wenn z.B. eine vom ästhetischen Sinn absehende Synchronizität von Ton und Bild angestrebt wird. Es gibt in diesem Zusammenhang Parallelen von Baudrys Konzeption zu der von Eisler und Adorno. So evoziert die von Adorno in diesem Kontext verwendete Metapher der Vorverdautheit von der kulturindustriellen ‚Schonkost‘ auf den ersten Blick, gemeint sei, in dieser Integrationstendenz Nicht-Aufgehendes werde restlos ausgeschieden. Dieser Metapher zunächst nachgehend, habe ich auf Graeber Bezug genommen, der theoretische Gleichsetzungen von Konsum und Einverleibung kritisiert und der darauf hinweist, dass damit auch die Vorstellung der Vernichtung des Objekts im Akt des Aufzehrens mitschwingt. Graeber sieht hierin eine theoretische Verabsolutierung und kritisiert eine hiermit s.E. verbundene Ausblendung der sozialen Dimension sowie der des Begehrens. Graebers Ansatz wirft die Frage auf, inwiefern die – von die41 | In der Einführung habe ich hervorgehoben, dass für Adornos Kritik der Kulturindustrie dessen Verständnis von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie wichtig ist. Unter Berücksichtigung dessen ist Kulturindustrie grundlegend nicht als ein den Menschen von außen aufoktroyiertes System zu verstehen. Sondern die Begriffe von Verdinglichung, Entfremdung, Verselbständigung basieren allesamt auf der marxschen Auffassung, dass – wie Bonefeld treffend schreibt – die „in verdinglichter Form erscheinenden Verhältnisse […] nicht weniger ‚menschlich‘“ (Bonefeld 2004, S. 130; vgl. Einführung) sind, sondern diese sich als Abstraktionen in der menschlichen Praxis konstituieren.

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sem als theoretisch nicht weiter weiterführend ad acta gelegten – in Massenkultur(-theorie) kursierende Bilder von Verschlingen und Verschlungenwerden zu deren Funktionieren beitragen. Von dieser Frage ausgehend habe ich die beiden Filmprojekte von Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten (BRD 1979-81) und Der Fotomatonreparateur (BRD 1982) in den Blick genommen (7.). Diese präsentieren ostentativ brüchige Bilder. Deren Material (weggeworfene Passfotos, die um Fotofix-Automaten herumlagen), das In-Bewegung-Setzen (die Fotos wurden abgefilmt) und auch ein Motiv (der auf einigen Bildern zu sehende Reparateur dieser Automaten) werden von dem Kinofilm Die fabelhafte Welt der Amélie adaptiert. Durch Pressestimmen zieht sich, wie ich anhand einer Auswahl gezeigt habe, das Motiv einer verführerischen Süßspeise durch – die mitunter auch auf Ablehnung ob der allzu großen Bekömmlichkeit stößt (8.). In der Tat ist die Bekömmlichkeit und scheinbar reibungslose Einpassung brüchiger Bilder in ein Mainstreamprodukt eine mögliche Perspektive, unter der man die Adaptation der obigen Filmprojekte in Die fabelhafte Welt der Amélie betrachten kann. Hier führen die kaputten Bilder – bei deren Zerrissenheit die Filme von Müller und Utermöhlen in gewisser Weise stehen blieben – zu einem glücklichen Ende: sie initiieren und helfen Amélie bei ihrer Suche nach ihrer Liebe Nino (9.). Zum Beispiel führen auf Passfotos abgebildete Personen Nino auf die Fährte, indem sie – sich bewegend und sprechend – diesem für ihn wertvolle Hinweise geben. Unter anderem an diesem Motiv habe ich hervorgehoben, dass die Passbilder hier Phantomcharakter und den Status von Quasi-Dingen (vgl. Wiesing 2006) haben. Diese Passbilder, die als quasi-lebendige (und sich bewegende) Subjekte (in) der Geschichte auftreten, enthalten en minature, so meine Interpretation, das Grundprinzip des Films: Die Existenz von Fabelhaftem vorzuführen – z.B. eben, weder tot noch lebendig (sondern quasi beides) zu sein. Diese Gleichzeitigkeit spielt eine wesentliche Rolle in einer Textpassage in „Komposition für den Film“ (Adorno 1969b, S. 74ff.), in der in Bezug auf die dargestellte Amalgamierungstendenz nun ein unheimliches Moment zum Tragen kommt und von dem ausgehend im Weiteren die Lesart der Kulturindustrie als einer reibungslosen Einverleibungsmaschine von mir in Frage gestellt wurde (10.). In diesem Zusammenhang wird ein Unterschied zwischen Baudrys Konzeption des Realitätseindrucks und der der Amalgamierungstendenz von Adorno und Eisler relevant, den ich als Differenz zwischen Verschmelzen und Verschmirgeln beschrieben habe: Während Verschmelzung ein tatsächliches Ineinander-Aufgehen beschreiben kann, so können an einer geschmirgelten Oberfläche Risse im Material nur allzu deutlicher hervortreten (vgl. II. 3). So vermuten Adorno und Eisler, dass im Stummfilmkino die Musik nicht zuletzt der Besänftigung des Schreckens diente, der davon ausgelöst hätte werden können, dass die auf der Leinwand agierenden und sprechenden Menschen zugleich stumm waren. Es ist ein Erleben von Entfremdung, als welche Adorno und Eisler diesen Schre-

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cken charakterisieren: Die Erfahrung, einem Mechanismus gegenüber wehrlos ausgeliefert zu sein. Dessen Minderung durch die Musik habe letztlich möglichen panischen Reaktionen entgegenwirkt. In Rekurs auf Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (Freud 1921c) habe ich aufgezeigt, inwiefern Freud hier den scheinbar äußerem Anlass einer Panik als eine statthabende „Entfesselung“ der libidinösen Besetzung von Objekten auffasst, die sich in der grundlegenden Verstörung äußert. Auch das unheimliche Erleben verweist auf ein „von innen her ‚heimsuchende[s] Fremde[s]“ (Gast 2011b, S. 351). Das von Adorno und Eisler – auch mit der Erfahrung des Verstummens zusammengebrachte – Erleben von Entfremdung im Stummfilm-Kino wurde von mir auf diese Weise auch in die Nähe vom Schrecken des Todes im „Uncanny Valley“ gerückt. Im nächsten Schritt bin ich auf Adornos und Eislers Annahme eingegangen, dass sich mit der Vertonung der Bilder an der besänftigenden Funktion der Musik nichts Grundsätzliches geändert habe (11.). Auch wenn den Personen auf der Leinwand nun Stimmen verliehen seien worden, behielten die Bilder stummen Charakter. Zwangsweise Versuche, Ton und Bild auf eine Ebene zu bringen (‚der Ton spricht das Bild aus‘ – wie Baudry es darstellt), führen Adornos und Eislers Annahme zufolge dazu, dass beide auseinanderbrechen. So stelle sich – wenn auch auf anderer Ebene – eben der Effekt erneut ein, den sie für das Stummfilmkino beschrieben haben: „[B]öse Geister in der unbewußten Wahrnehmung“ (Adorno 1969b, S. 74) können geweckt werden. Dieserart an quasi-haften Geistergestalten hervorkehrende Einbrüche stellen sich somit dar als Effekt der Wiederkehr dessen, was mit der Amalgamierung ausgeschlossen werden sollte. Um dieser Wiederkehr am Material nachzugehen, habe ich zunächst die Beziehung von Bild und Ton in einer Sequenz aus Die fabelhafte Welt der Amelie analysiert, in der verschiedene Person in dem Café, in dem Amélie arbeitet, vorgestellt werden. Gerahmt ist diese Vorstellungsrunde durch den wiederholten Kommentar des Sprechers: Das ist X mit Eigenschaft Y. Was er bzw. sie (nicht) mag ist Z. In schwarz-weiß-Einblendungen wird in auf diese Weise im Bild gleichsam nachgeliefert, was der Kommentar zu jeweiliger Person an Information vorausschickt. Auf diese Weise, so meine Interpretation, werden die individuellen Eigenschaften der Figuren vorgeführt, die zugleich in dieser spezifischen Inszenierung als versprengte, austauschbare Partikularitäten figurieren. Mit Adorno lässt sich hier ein grundlegendes Prinzip von Individuation unter Maßgabe des kapitalistischen Tauschprinzips (vgl. Einführung) erkennen: Dass sich durch das Bestehen auf das ‚ur-eigenste‘ Besondere hinweg das abstrakte Tauschverhältnis durchsetzt (vgl. z.B. Adorno 1968a, S. 78), statt in einfachem Gegensatz zueinander zu stehen. Unpersönliches tritt hier als ‚Persönlichstes‘ auf. Dies verweist auf die Annahme, dass „Psychologie und Gesellschaft“ nicht in unmittelbarem Übersetzungsverhältnis zueinander stehen, sondern als „nicht miteinander zur Deckung zu bringende, aber dennoch unzertrennliche Dualitäten“ (Knellessen/ Passett/Schneider 2003, S. 94; vgl. Einführung) zu verstehen sind. Inwiefern hiermit das bereits in der Einführung thematisierte – mit Übersetzungen not-

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wendig verbundene – Misslingen einer adäquaten Übersetzung verknüpft ist, soll nun abschließend gezeigt werden. Sind dieserart Einbruchstellen – wie sie sich in der Kulturindustrie etwa im Verhältnis von Ton und Bild zeigen – privilegierte Orte, an denen Unheimliches erscheint, so handelt es sich hierbei um ‚erregende Punkte‘, an denen sich Begehren entzündet. Diese sind es, auf die die Bruchstellen böser Träume totaler Integration, wie sie im Vorhergehenden untersucht wurden, m.E. verweisen.

14.  Auf Unübersetzbares beißen Der Schrecken angesichts des Unscharfwerdens der Distinktion von Mensch und Apparat ist, einer Überlegung Passetts zufolge, doppelten Ursprungs. Psychoanalytisch, so Passet, müsste man „vielleicht auch in Betracht ziehen, dass, wenn der Unterschied unscharf wird, das Subjekt ‚scharf‘ wird, das heißt, dass dann im Subjekt ein sexuelles Begehren gegenüber der Maschine erwacht, welches dieses zutiefst beunruhigen muss“ (Passett 2011, S. 420). Mit folgender Anmerkung ergänzt Passett Gasts These von dem Zusammenhang zwischen der Ambivalenz des Seelenlebens, dem Erleben des Unheimlichen und dem Topos des Todes (vgl. Gast 2011b; s.o.): „Es könnte also sein, dass, wiederum ganz im Sinne einer fundamentalen Ambivalenz, es nicht nur der Tod ist, sondern auch das sexuelle Begehren, das hier entfesselt wird, entfesselt von jeder Bindung an so etwas wie Liebe, also Bindung an ein Objekt. Daraus könnte man folgern, dass Tod und sexuelles Begehren in ungebundener Form den gleichen Schrecken mit umgekehrten Vorzeichen (absolute Leere, überwältigende Fülle) auszulösen vermögen.“ (Passett 2011, S. 420) Passett erinnert in dieser Anmerkung zu Gasts Text über das Unheimliche (Gast 2011b) „an die Etymologie des Wortes Panik“, welches den Zustand griechischer Hirten beschrieb, die aus einem erotisch aufgeladenen Mittagsschlaf erwachten und noch halb im Traum befindlich einen Ziegenbock, der hinter einem Gebüsch hervorguckte, für „den geilen Pan“ hielten (Passett 2011, S. 420). Der Panikausbruch geht dieser Erzählung nach mit einer Missdeutung und der Erwartung eines Überfalls seitens des Bocks alias Pans einher. Es ist eine Situation der Ambivalenz, in der sich Erregung, Verführung und Gefahr verbinden und in der sich „das Dämonische, das Verborgene, das Unheimliche, das, was ‚anders‘ ist, was ursprünglich vom Anderen kommt“ (Laplanche 2005, S. 127) zeigt. Diese Geschichte von der vermeintlichen Begegnung mit Pan beschreibt die Szene einer Verführung, die Laplanche zufolge auch der Konstitution des Unbewussten zugrunde liegt (vgl. Einführung). Das Besondere an Laplanches Konzeption ist u.a., dass der Auslöser hierfür „weder in der rohen Materialität noch in der idealen Realität der Phantasie zu finden“ ist, sondern „in der Materialität einer dritten Realität, die quer durch die beiden anderen hindurch verläuft“: „die materielle Realität der enigmatischen Botschaft“ (Zupančič 2009, S. 37) in verbaler Form oder in Gestalt von Gesten, Mimiken, Berührungen etc. Es handelt sich da-

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bei, wie Härtel schreibt, um „durchaus von Erregung beförderten ‚Botschaften‘“, die „das empfangende Kind ‚in Anspruch‘ nehmen, noch bevor es sie verstehen kann“ (Härtel 2009, S. 45 Bezug nehmend auf Laplanche 1988, S. 221f). Es ist Laplanche zufolge eine die psychische Aktivität begründende, dieser vorhergehende Zeit, „die die einer Passivität ist: eben die der Verführung“ (Laplanche 2005, S. 111), welche sich somit in einer grundsätzlich asymmetrischen Konstellation von Erwachsenem und Kind ereignet. Die Verführungsszene ist, so Laplanche und Pontalis, „‚präsexuell sexuell‘“ (Laplanche/Pontalis 1992, S. 20) für das Kind, welches „mit einem Hereinbrechen der Erwachsenensexualität konfrontiert ist“ (Laplanche 2011, S. 138). Diese gibt das Rätsel auf, „jenes, dessen treibende Kraft unbewußt ist“ und „in sich Verführung“ (Laplanche 1988, S. 225). Sexualität dringt demnach vom Gegenüber herkommend ein und wirkt, wie Laplanche es formuliert als „innerer Fremdkörper“ (ebd., S. 168). Wie auch Quindeau hervorhebt, ist mit der Passsivität von Laplanche hier „der Vorrang des Anderen in der infantilen Situation begründet“ (Quindeau 2004, S. 199), von dem die rätselhaften Botschaften ausgehen, die das Kind zu übersetzen genötigt ist. „Diese Triebkraft, die zum Übersetzen treibt, findet ihren Ursprung im Einbruch des Anderen und in der Notwendigkeit, diesen Einbruch zu binden“ (Laplanche 2005, S. 171). Das „ursprünglich ‚zu Übersetzende‘ nennen wir: das Unbewußte“ (ebd., S. 81), welches verstanden wird als das „Ergebnis von Verdrängungen, die sich auf Kommunikationssplitter richten, die sie genau dadurch dem Kontext, dem sie entstammen, entfremden“ (ebd.). Besteht die in der Urverführung (auf das Kind) eintreffenden Botschaften aus Bruchstücken, „die traumatisierend und nicht assimlisierbar sind“ und die die „‚theoretisierende Aktivität‘ des Kindes in Gang setzen“ (Laplanche 2011, S. 160), so ist es der Rest dieser Übersetzung, das fundamental und subjektkonstitutiv Entfremdete, was die Übersetzungsarbeit immer wieder aufs Neue initiiert und unabschließbar sein lässt. So bezeichnet auch hier die Entfremdung nicht die Verfremdung eines ursprünglich Unverfremdeten (s.o.). Denn keineswegs nur für das Kind, sondern auch, wie ich in der Einführung bereits skizziert habe, für den Erwachsenen sind die Botschaften nicht restlos entschlüsselbar, sie sind infiltriert „vom Unbewussten des anderen (was auch heißt, von seiner oder ihrer Sexualität)“ (Zupančič 2009, S. 37). Das Unbewusste als das zu Übersetzende ist „unübersetzbar, aber doch unaufhörlich wiederübersetzt – mehr oder weniger gut, je nachdem –, auf das die Selbst‚theoretisierung‘ jedes Menschen beißt, das sie aber nie unwiderruflich und nur asymptotisch reduzieren kann“ (Laplanche 2005, S. 82). Nun betont Laplanche für den von ihm sogenannten Bereich der „kulturellen Botschaft“ (ebd., S. 186), dass „das Kulturelle die Anrede eines Anderen außer Reichweite charakterisiert“ (ebd., S. 188). Aus Sicht der „kulturelle[n] Produktion“ (und Laplanche hat hier eher im engeren Sinne z.B. die Malerei und die Literatur im Sinn) handelt es sich „um einen rätselhaften Empfänger“, eine „namenlose Menge“ (ebd.). Die kulturellen Podukte gelangen demnach „ohne Stammbaum“ zum Abnehmer des Rätsels, um „von ihm aufgenommen zu werden, ohne aus-

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drücklich an ihn gerichtet zu sein oder ihn anzureden“ (ebd., S. 189). Folglich sei das „Verhältnis des Abnehmers zum Rätsel“ verschieden „im Vergleich zu dem des Autors“ (ebd.). Kulturelle Produktionen können einerseits als Übersetzungshilfen (vgl. Kirchhoff 2009, S. 230) diesem gegenüber dienen, bei denen es sich zugleich ihrerseits bereits um „Weiter-Übersetzungen“ (ebd.) handelt. Das Verhältnis zu diesen erneuere demnach immer wieder aufs Neue „den traumatischen und anregenden Aspekt des infantilen Rätsels“ (Laplanche 2005, S. 189). Das „menschliche Leben“ ist Laplanche zufolge „durch und durch vom Eindringen des Kulturellen überschwemmt, das definitionsgemäß störend, anregend und sexuell ist“ (ebd.). Mit Adorno lässt sich hinzufügen, dass es kein gesellschaftlicher Zufall ist, welche Form die (Weiter-)Übersetzungen in der Kulturindustrie annehmen. Das unheimliche Moment in der Kulturindustrie lässt sich vor dem Hintergrund des Vorangegangenen als ein Bereich verstehen, in dem hervortreten kann, inwiefern „die wichtigsten, nämlich bedrohlichsten und darum verdrängten Momente der sozialen Realität in Psychologie, in das subjektive Unbewußte“ (Adorno 1966b, S. 91) eingehen. Es ist demnach Unübersetzbares, welches das Verhältnis von Außen und Innen konstituiert. Nach der Laplancheschen Psychoanalyse ist, wie gesehen, Nicht-Übersetzbares subjektkonstitutiv und in jeder Übersetzung entfallen Reste, die – im notwendigen Bestreben, diesen Sinn zu entnehmen – zu neuen Übersetzungen anregen. Wenn Unübersetzbares der sozialen Realität als Fremdes, Nicht-Integrierbares zu verstehen ist, so kann es in Bezug auf die Subjekte gedacht werden als etwas Äußeren im Inneren, welches die „eigen[e] zerrissen[e] Verfassung“ (Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 91) als Uneinholbares betrifft. Von sich aus sind Adorno zufolge „die sozialen Zwänge, denen wir unterliegen in einem so weiten Maße uns fremd und auswendig sind, daß wir sie gar nicht unmittelbar mit dem, was in uns und unserem werten Seelenleben vorgeht, identifizieren können“ (Adorno 1968a, S. 195). Womit angesprochen ist, dass letztlich ‚die Gesellschaft‘ nicht zu verinnerlichen ist, dass sich – wie ich einführend angemerkt habe – Gesellschaftliches nicht unmittelbar in der Psychodynamik „bloß abbildet“ (ders. 1955, S. 55), im Sinne der ‚Hereinnahme‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse.42 Die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft beträfe „die innere Komposition des Individuums an sich, nicht bloß dessen gesellschaftliche Rolle wäre daraus abzuleiten“ (ders. 1951a, S. 259). Auf diesen Sachverhalt ließe sich wohl auch folgender Satz Adornos beziehen: „Das Traumatische ist das Abstrakte.“ (Ebd., S. 61) Hierin, so heißt es an dieser Stelle weiter, ähnele „das Unbewußte der Gesellschaft, von der es nichts weiß, und die selber dem abstrakten Gesetz gehorcht“ (ebd.; vgl. Einführung).

42 | Wie es u.a. der sozialpsychologische Ansatz Paul Parins vorschlägt, der die Gesellschaft allein als äußere, repressive Instanz auf die Subjekte treffen sieht, die diese zur Anpassung zwingt (s. dazu die Kritik in Knellessen/Passett/Schneider 2003, S. 85ff.).

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Kehrt dies paradigmatisch im unheimlichen Moment hervor, so hält Adorno zufolge die Kulturindustrie Trostpflaster bereit, die ein damit einhergehendes „Unangenehme[s] ersparen wollen“ (ders. 1969b, S. 74; s.o.) – etwa in der Form, dass die Anrede der AbnehmerInnen auch in der „absurden Parole […]: ‚Especially for You‘“ (ders. 1942, S. 318), der Glückskeks, vorgebracht wird. Eine Parole, die ebenso wie andere Übersetzungen nicht aufgeht und nicht hält, was sie an Lösung verspricht – und somit dem Publikum Rätsel aufgibt, deren Antworten wiederum „Übersetzungsabfälle“ (Hock, 2004, S. 132) entstehen lassen. Eben hierauf verweist m.E. der Quasi-Abfall in Baudrys Konzeption. Was als „Gegengift“ (Adorno 1969b, S. 74) eingesetzt wird, entfaltet so eine durchaus widersprüchliche Wirkung: Es enthält selbst Unverdaubares, welches – verstanden als Übersetzungsabfall – so anziehend wie Schrecken erregend sein kann.

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II.5 Schluss: Das Unheimliche ist eine Hervorkehrung von Entfremdung

Abschließend möchte ich einen Aspekt des unheimlichen Moments in der Kulturindustrie auf die antinomische Stellung beziehen, die Adorno utopischem Denken dem Tod gegenüber zuweist. Verschiedene Momente der vorangegangenen Abschnitte werden dabei, ohne Anspruch einer zusammenführenden Schlussfolgerung, darauf hingelenkt. Die im Vorhergehenden entwickelten Annahmen bezüglich des unheimlichen Moments in der Kulturindustrie gingen von der einleitend zitierten Annahme Adornos aus, dass die Kulturindustrie dem Prinzip der „Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten“ (Adorno 1959, S. 103; vgl. II.1; vgl. Einführung) folge. Unter Rückgriff auf Aspekte der Laplancheschen Verführungstheorie habe ich vorgeschlagen, das Nichtintegrierte als Übersetzungsreste (vgl. Laplanche 2005, S. 171; vgl. II.1; vgl. Einführung) zu interpretieren – und damit als kulturindustriellen Übersetzungsprozessen entsprungene Reste, die deren Resultat und Antrieb zugleich darstellen. Konstitutiv Nichtintegrierbares macht sich dabei im Unheimlichen in besonderer Weise geltend: Der Grund des Scheiterns vollständiger und lückenloser Übersetzung1 tut sich in erschreckender Weise auf. Das Unheimliche ist laut Gast als eine Kluft zu denken, in der in bedrohlicher Weise Grenzziehungen und Demarkationslinien verwischen (vgl. Gast 2011b, S. 352; s.o.). Es sei im Unheimlichen letztlich „der Tod, der plötzlich, gleichsam ‚backstage‘ aus den Kulissen kommend die Szenerie betritt und mit seinem Aufscheinen einen neuen, einen anderen Schauplatz erzeugt“ und damit etwas, was nur „höchst inkonsistent“ von der Realitätsprüfung berücksichtigt werden kann: „Unsere unhintergehbare existenzielle Ausgeliefertheit qua Geburt nämlich, unsere Verwundbarkeit, unsere Sterblichkeit und unsere Endlichkeit“ (ebd., S. 354). Man kann im Anschluss an das Vorhergehende sagen: Diese behalten immer etwas Abstraktes, ‚unverdauliche‘ Reste, auf die die Übersetzungen beißen (vgl. Laplanche 2005, S. 82; vgl. II.4). 1 | Vgl. dazu auch Härtel 2011, S. 50, die das Scheitern hier auf die Frage nach dem Sexuellen in Übersetzungsprozessen bezieht.

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Aus der Sterblichkeit des Menschen als leiblichem Faktum zieht Adorno nicht den Schluss, dass dieses gleichbleibend dasselbe bedeute. Denn „die Gestalt, in der das Bewußtsein mit dem Tod sich abfindet, variiert samt den konkreten Bedingungen, wie einer stirbt, bis in die Physis hinein“ (Adorno 1966, S. 364)2 . Ebenso wenig wie „gesellschaftliche Entfremdung der Vergesellschaftung schlechthin“ (ders. 1967, S. 251) gleichzusetzen sei, so auch nicht die gesellschaftliche Bedingtheit des Todes mit dessen Tatsache schlechthin. Der Kapitalismus setze den Tod und das Sterben unter spezifische Bedingungen. Dies steht in Adornos Texten in Verbindung mit der marxschen Auffassung, dass die Subjekte als Arbeitskräfte dem Kapital gegenüber „Produktionsmittel“ sind und „nicht als lebende Zwecke bestimmt“ sind (ders. 1951a, S. 260; vgl. Einführung). Habe die bisherige historische Produktivkraftentwicklung mehr und mehr ein Leben möglich gemacht, welches über die Notwendigkeit der Selbsterhaltung hinaus Mehr bereithalten könnte (vgl. I.5), so werde diese Möglichkeit durch die gegenwärtige ökonomische Zwecksetzung beschlagnahmt. Unter dieser fungiere „der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes“ (ebd., S. 259), im Interesse der eigenen Selbsterhaltung habe „das Lebendige als Lebendiges“ sich „[u]nterm Apriori der Verkäuflichkeit […] selber zum Ding gemacht“ (ebd., S. 261; vgl. Einführung) – d.h. zum Mittel, statt zum Zweck der Produktion. Unter dieser Voraussetzung verlange das Leben der Einzelnen „den Zusammenschluß von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annulliert Leben an der Subjektivität“ (ebd., S. 260). Diese Paradoxie lässt sich insofern auf das unheimliche Moment beziehen, als sich auch hier – ein Beispiel ist das „Uncanny Valley“ (vgl. Gast 2011b; vgl. II.4) – eine Unschärfe zwischen Leben und Tod auftut. Eine solche ist in Eislers und Adornos Ausführungen in der von mir aufgegriffenen Passage aus „Komposition für den Film“ (Adorno 1969b) zentral und wird hier als ein Gewahr-Werden von Entfremdung charakterisiert. Diese beinhalte potentiell „das auf blitzende Bewußtsein, als unartikulierte Masse dem Mechanismus gegenüber ohnmächtig ausgeliefert zu sein“ (ebd., S. 75, Fn. 11; vgl. II.4). In „Minima Moralia“ weist Adorno darauf hin, dass die gängige Rede von der Mechanisierung des Menschen insofern „trügend“ (ebd.) sei, weil hier der Mensch als Statisches vorausgesetzt werde, welcher durch äußere Beeinflussung und durch „Anpassung an ihm äußerliche Produktionsbedingungen gewissen Deformationen unterliege“ (ders. 1951a, S. 260). Adorno hält dies – wie er in Bezug auf Huxleys „Brave New Word“ anmerkt – für eine „primitive Antithese“ (ders. 1951b, S. 119). Mechanisch-Technisches und Menschliches, Nicht-Lebendiges und Lebendiges seien begrifflich nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in ihrer gegenseitigen Verwicklung zu durchdenken. 2 | Vgl. dazu z.B. Babenhauserheide 2015, S. 186ff.; Braunstein 2011, S. 357ff.; les madeleines 2012.

Schluss

Im Umfeld dieser Thematik befindet sich auch eine zentrale Fragestellung der filmtheoretischen Positionen, die in den Anfangsjahren der Apparatusdebatte vertreten wurden. In Wendung gegen vorhergehende Filmtheorien, wie z.B. die Filmologie (vgl. Teil I), wird hier stark gemacht, dass die filmische Technik kein neutrales Mittel sei, sondern eine gesellschaftlich-ideologische Funktion habe. Wenn in der Kritik an dieser Funktion der filmische Apparatus als Ganzes in den Blick genommen werden soll, so gilt als einer dessen Elemente auch das Publikum, bzw. die Art und Weise, wie der Apparat den Zuschauenden positioniert und konstituiert. Die Positionen vom Cahiers du Cinéma und Cinéthique verbindet – trotz aller Differenzen (vgl. II.2) – das Verständnis von Kritik als Offenlegung von verdeckten Parametern, in denen diese jeweils die ideologisch-gesellschaftliche Funktion des Kino-Apparats begründet sehen. Es soll also etwas, das wie das Unheimliche „im Verborgenen hätte bleiben sollen“ (Freud 1919h, S. 245; vgl. II.4) durch Ideologiekritik zum Vorschein gebracht werden. Hediger äußert die Vermutung, dass die in der Apparatusdebatte angestrebte Demystifizierung und Desillusionierung, die zentral auf den filmischen Realitätseindruck gerichtet ist, auch einer Schreckensbewältigung dienen kann: Nämlich der Besänftigung der Angst davor, sich „im Medium zu verlieren“ (Hediger 2006b, S. 230; vgl. II.4). Als Vertreter einer solch gewünschten Abgrenzung und Autonomiebestrebung tritt in Baudrys Text der Philosoph auf, der durchaus auch als Alter Ego des Autors betrachtet werden kann (vgl. II.3). Baudry schildert, wie der Philosoph den Mechanismus des Kino-Höhlenappparats aufgrund der Erhellung, die er außerhalb der Höhle empfangen hat, durchschaut, während das Publikum in der Höhle eingeschlossen und gefangengenommen ist vom Totaleffekt des Realitätseindrucks. Baudrys Theorie eines im Kino wirksamen Totaleffekts korrespondiert insofern mit Huxleys Entwurf der „Brave New World“, als in beiden Fällen ein „Zustand vollkommener Immanenz“ (Adorno 1951b, S. 116; vgl. II.3; vgl. II.1; vgl. Einführung) vorgestellt ist (der ein Außerhalb gegenübergestellt ist).3 Aus den von mir in den Blick genommenen Quasi-Aspekten resultiert in Baudrys Argumentation keine Einschränkung des konstatierten Totaleffekts. Im Gegenteil, wie ich gezeigt habe, tragen diese, indem sie argumentativ (durchaus

3 | In dieser Hinsicht lässt sich Baudrys Darstellung als eine mögliche Antwort auf eine zentrale Frage der Apparatusdebatte dieser Jahre verstehen, die lautet: Besteht die Ideologie in einem bruchlos geschlossenen System (Cinéthique) oder kann die Kritik an immanenten Bruchstellen ansetzen (Cahiers du Cinéma) (vgl. II.2)? Verpufft diese Fragestellung zwischenzeitlich zu Beginn der 1970er Jahre in maoistischem Aktionismus einiger Beteiligter (vgl. II.2), so legt Baudry wenig später (1975) eine psychoanalytische Konzeption des filmischen Realitätseindrucks vor, in der sich – so mein Vorschlag – in spezifischer Weise das Spannungsfeld der Anfangsjahre dieser Debatte (re-)inszeniert: Dargestellt wird hier ein Totaleffekt, der quasi-bruchlos ist.

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Unheimliche Brüche

folgerichtig) zur Seite geschoben werden, zu einer Immunisierung der Darstellung von dessen absoluten Charakter bei (vgl. II.3).4 Huxley beschreibt, wie in der „Brave New World“ den Menschen die Angst vor dem Tod abtrainiert wird; hier resignieren, wie Adorno kommentiert, „die Menschen […] dazu, das zu lieben, was sie tun müssen, ohne auch nur noch zu wissen, daß sie resignieren“ (vgl. ebd., S. 101). Damit korrespondiert m.E. in der theoretischen Konzeption Baudrys dessen Darstellung der Regression in einen Ur-Zustand des Subjekts, die ich mit einer Nähe von unbewusster Wunscherfüllung und dem Telos des Todestriebs assoziiert habe (vgl. Kirchhoff 2009, S. 64ff.). Ebenso wie Huxleys Roman entwirft Baudry hier eine Art bösen Traum von einem störungsfreien Leben (vgl. Hock 2000, S. 18; vgl. II.3; vgl. II.4) Zu Baudrys Darstellung dieses bösen Traums gehört zentral auch die Rolle, die der sogenannten motorischen Lähmung des Publikums zugewiesen wird. Defekte unterschiedlicher Art spielen in allen von mir untersuchten theoretischen und ästhetischen Inszenierungen eine Rolle: In der Apparatusdebatte kursieren Bilder eines blinden und betäubten Publikums, im Vorspann von The Flicker wird eine Warnung vor der Evokation epileptischer Anfälle eingeblendet, die den Fotofilmen von Müller und Utermöhlen zugrundeliegende Idee der Verwendung teils kaputter Fotofix-Bilder kehrt in Die fabelhafte Welt der Amélie wieder. Wurde dieser von einigen Stimmen als Präsentation einer allzu heilen Welt kritisiert, so taucht auch hier das Bild einer Zerstörung auf. Das mit Konsumtion häufig verknüpfte Bild des Verschlingens und Verschlungen-Werdens steht im Zentrum meiner Interpretation (vgl. II.4), in der – unter Rekurs auf eine Passage in „Komposition für den Film“ – die Einspeisung der Idee der Verwendung zerstückelter Fundstücke aus dem Fotofix-Automaten in Die fabelhafte Welt der Amélie auf das Unheimliche bezogen wird: Die von Adorno und Eisler sogenannte Amalgamierungstendenz ist bestimmt als Verschmirgelung heterogener Elemente (Ton, Bild, Musik etc.), die diese gleichrangig behandelt (dies entspricht auch Baudrys Sichtweise auf das Verhältnis von 4 | Dementsprechend wird auch in der Sekundärliteratur – wie ich exemplarisch an einem Text von Holl gezeigt habe (vgl. II.4) – den Quasi-Formulierungen keine Beachtung geschenkt und das Totale des Totaleffekts fokussiert (insofern haben die Quasi-Formulierungen auch den Charakter eines Abhubs; vgl. Einführung; vgl. dazu Härtel 2006, 2014c). Im Überspringen der Quasi-Momente bleibt eine damit verbundene Absicherung der baudryschen Argumentation unberücksichtigt, wenn es darum geht, die Konzeption eines total umhüllenden Eindrucks zu kritisieren und diesen theoretisch aufzubrechen. Auf diese Weise macht sich auch in der Kritik an Baudrys theoretischer Konzeption eben jener Wunsch nach dem Bruch mit einem als das Publikum absolut verschlingend, umhüllend wahrgenommenen (hier: theoretischen) System geltend, der ähnlich auch die TeilnehmerInnen an der Apparatusdebatte (hier: in Bezug auf den filmischen Apparat) bewegte – wie auch die von mir in den Blick genommenen ästhetischen Inszenierungen des Flickerfilms und der Filmprojekte der Mitglieder von „Die Tödliche Doris“ (vgl. II.4).

Schluss

Ton und Bild). Demnach werden z.B. Ton und Bild als Äquivalente aufeinander zugeschnitten und so – der gängigen Konvention nach – in einem „Streamlining“ (Adorno 1969b, S. 55) zu einer – eben: nahezu – bruchlosen Fassade zusammengeschoben werden. Wird dabei der Ton derart eingesetzt, als spräche dieser dieselbe ‚Sprache‘ wie das Bild, so tritt damit Adornos und Eislers Spekulation zufolge gerade die stumme Qualität des Bildes hervor, die (als manifestes Charakteristikum des Stummfilmkinos) mit der Vertonung der Bilder übertönt werden sollte. Die Bilder des Tonfilms werden demnach hier als quasi-stumm charakterisiert, d.h. nahe am Verstummen ist deren – gegenüber dem Ton – differente Ausdrucks-Qualität. Dieser Quasi-Stummheit der sprechenden Bildern wird (wie auch den stummen Bildern des Stummfilmkinos, die zugleich quasi-sprechen) eine potentiell schreckenerregende Qualität attestiert, die durch den Einsatz von Musik besänftigt werde. Betrachtet man nun – anschließend an Hediger (2006b; vgl. II.4) und an Adornos Huxley-Interpretation (vgl. II.1) – auch Baudrys Konzeption eines totalen Eindrucks als eine vergleichbare Form der Schreckensbewältigung, so kann diese in einer bestimmten Hinsicht als Fortsetzung der kulturindustriellen Amalgamierungstendenz im Denken angesehen werden: Die theoretische Konstruktion der Konzeption eines bruchlosen Eindrucks verdankt sich auch einem Zur-Seite-Schieben von Quasi-Aspekten, wodurch das dargestellte Bruchlose selbst quasi-hafte, brüchige Momente erhält. Diese stehen, wie ich gezeigt habe, in Verbindung mit dem Unheimlichen, welches auf Nicht-Integrierbares verweist. Dieses treibt den kulturindustriellen Übersetzungsprozess als deren Abfall und Rest an. Kann der Übersetzungsprozess als ein Versuch der Verdauung dieser Reste verstanden werden, so auch als einer der Schreckemsbewältigung. Diese verweist auf die von Laplanche angenommene ursprüngliche „Notwendigkeit“, den „Einbruch des Anderen“ qua Übersetzung „zu binden“ (Laplanche 2005, S. 171; vgl. II.4) – der nicht nur Schrecken, sondern auch sexuelle Lust entfacht (vgl. Passett 2011). Es ist eine selbst unheimliche Verbindung, die sich ausgehend von den obig skizzierten Annahmen Adornos in diesem Zusammenhang ergibt: Mit dem Tatbestand des Todes als einem Abstrakt-Bleibenden, welcher sich weitgehend der Übersetzung entzieht und diese antreibt, sind jenem zufolge die gesellschaftlichen Verhältnisse im Bunde. Das unheimliche Erleben von Grenzverwischungen zwischen Mensch und Maschine, Lebendem und Nicht-Lebendem lassen sich so als eine Reaktion sehen, welche darauf verweist, dass die „erfaßten und verwalteten Menschen […] nicht ganz erfaßt sind“ und damit auf den „Überschuß des subjektiven Anteils, dessen das System nicht vollends Herr wurde“ (Adorno 1966, S. 99), der z.B. im unheimlichen Moment mit dem Überschuss, der auch den verselbständigten Verhältnissen innewohnt,5 zusammenschießt (s.o.). 5 | Aus Sicht der Kritischen Theorie gibt es so etwas nachzuweisen wie „einen Überschuß des Objekts“ (Adorno 1962/1963, S. 138). Diesen bringt Adorno mit dem an der Gesell-

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Wer Verweisen auf den Tod als „Urbild der Repräsentation des Unrepräsentierbaren“ (Babenhauserheide 2015, S. 196) mit Schrecken begegnet, wünscht dem Leben wohl Mehr abgewinnen zu können, als selbst „bloßer Agent des Wertgesetzes“ (Adorno 1951a, S. 259; s.o.) zu sein. Ich denke, die hier in den Blick genommenen Verabsolutierungen absoluter Immanenz, die quasi den Tod der Subjekte miteingekauft haben, sprechen in Form der Vorausnahme eines totalen Immanenzzusamenhangs zugleich dieses andere mit aus, was über jenen hinausweist. Zu öffnen wären diese auf die Antinomie des Todes hin, die Adorno nach der neuralgische Punkt utopischen Denkens ist. Utopisches Denken besteht diesem zufolge – gerade angesichts „je sinnloser der Tod wird, je abschaff barer und unnötiger Leiden sind“ (Babenhauserheide 2015, S. 196) – weder darin, in rationalistischer Einsicht auf die Grenze des Todes zu pochen, noch darin, „was sich jeder Sinngebung entzieht, einen Sinn zu verleihen“ (ebd.). Das Denken der Möglichkeit einer besseren Gesellschaft bestimmt sich auch hierin nur negativ und betrifft Adorno zufolge, wie Schmid-Noerr betont, eine Antinomie des Todes: Zwingt letztlich nur der eigene Tod, das Glück in realisierbare Reichweite zu bringen, so kann doch „das utopische Denken […] an der Schwelle des Todes nicht haltmachen“ (Schmid-Noerr 1990, S. 264). „Die Frage nach der Abschaffung des Todes“ sei, wie Adorno in einem Gespräch mit Bloch sagte, „in der Tat ja der neuralgische Punkt […]. Darum geht es eigentlich. […] Utopisches Bewußtsein meint ein Bewußtsein, für das also die Möglichkeit, daß die Menschen nicht mehr sterben müssen, nicht etwas Schreckliches hat, sondern im Gegenteil das ist, was man eigentlich will“ (Adorno in Bloch 1994, S. 690).

schaft Nicht-Verstehbaren (vgl. ders. 1969c, S. 295f.; vgl. Einführung) zusammen, d.h. der Verselbständigung kapitalistischer Verhältnisse: „Die Gesellschaft selber ist zwar in ihren Mitteln rational, aber diese Rationalität […] ist […] nur eine Zweck-Mittel-Rationalität, also eine, die zwischen den je gesetzten Zwecken und den dazu verwendeten Mitteln gilt, ohne daß sie sich auf die Zwecke selber, nämlich eben jenen Zweck einer befriedigenden und beglückenden Erhaltung der Gattung insgesamt, überhaupt bezöge.“ (Ders. 1968a, S. 223)

Zum Abschluss Der Frage nach unbewussten Dynamiken in der Kulturindustrie habe ich mich von zwei Seiten her angenähert: von der des Spiels und der des Unheimlichen. Ausgehend von der Vorannahme, dass filmwissenschaftliches Denken auf Symptome des Unbewussten hin betrachtet werden kann, habe ich (psychoanalytische) Filmtheorien in Konstellation mit ästhetischem Material einer Deutung unterzogen. Spielerische und unheimliche Momente wurden dabei als Austragungsorte von in der Kulturindustrie wirksamen unbewussten Dynamiken untersucht. Dabei war das Ziel, zur Erforschung des Unbewussten kultureller Prozesse beizutragen und dabei eine Lesart von Adornos Kritik der Kulturindustrie anzubieten, welche an Schnittpunkten zwischen Kritischer und psychoanalytischer Theorie ansetzt und diese weiterdenkt. In Teil I wurden Konstellationen von theoretischem und ästhetischem Material Einsicht daraufhin untersucht, inwiefern sich spielerischer Lustgewinn kulturellen Erlebens in Form eines Ausspielens von Grenzziehungen und -überschreitungen inszeniert. Markierungen wie Dementierungen von Grenzen zwischen Spiel und Nicht-Spiel greifen dabei ineinander. Es sedimentiert sich in diesem Spannungsfeld ein für das Spiel konstitutiver unbewusster Ambivalenzkonflikt, welcher mit einem für den Spätkapitalismus laut Adorno charakteristischen widersprüchlichen Verhältnis von Arbeit und Freizeit korrespondiert (gleichzeitige Absetzung und Fortsetzung). Angeregt wurde in diesem Zusammenhang der Gedanke, dass das im Spiel involvierte Unbewusst-Konflikthafte nicht zuletzt auch darauf verweist, dass auf gesellschaftlicher Ebene Möglichkeiten glücklicher Übergänge zwischen spielerischen und nicht-spielerischen Bereichen in weiten Teilen verstellt sind. Betrachtet wurde in Teil II das Unheimliche als ein spezifischer Ausläufer des dem Spiel zugrundeliegenden Ambivalenzkonflikts. Nachgegangen wurde entlang des theoretischen und ästhetischen Materials der Frage, inwiefern im Unheimlichen Einbrüche hervortreten, welche Grenzen – mit denen oder um die z.B. im Spiel gerungen wird – erodieren lassen und Zonen der Ununterscheidbarkeit eröffnen. Herausgearbeitet wurde hier eine widersprüchliche Bewegung: Schreckenerregendes, welches im Unheimlichen in Erscheinung tritt, wird im Versuch, dieses zu bewältigen, mit hervorgebracht. Diese Logik verweist auf den

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Laplanchen Begriff der Übersetzung, demzufolge (für das Unbewusste konstitutives) Nichtrepräsentierbares Übersetzungen in Gang bringt, wobei stets Übersetzungsreste entfallen, die die Übersetzungen weiter antreiben. Dieses Laplanche zufolge allgemein geltende Bewegungsgesetz unbewusster Prozesse kann – so das Ergebnis – zugleich als der Motor der von Adorno sogenannten Amalgamierungstendenz der Kulturindustrie betrachtet werden. Entgegen sogenannter kulturpessimistischer Lesarten der Kritischen Theorie, welche Kulturindustrie als System gelungener Integration auffassen, schlage ich damit eine andere Perspektive auf kulturindustrielle Prozesse vor: Nicht-Integrierbares kann als deren Antriebsmoment und zugleich deren Widerpart gelten. Erweist sich das Unheimliche dabei als prädestinierter Ort der Erscheinung des Nicht-Integrierbaren als einem Entfremdeten, so hat dieses gleichfalls einen zweischneidigen Gehalt: Es ist konstitutiver Grund des Begehrens und verweist auf das Telos der Verdinglichung des Menschen als Agent kapitalistischer Mehrwertakkumulation, den Tod.

1.  Paradoxien der Massenkultur Es ist ein ähnlicher Verdacht, der die filmtheoretischen Debatten der Filmologie und der Apparatusdebatte eint. Es handelt sich hierbei um eine Befürchtung, die nicht nur Filmtheorien, sondern allgemein medien- und kulturtheoretische Diskurse umtreibt: Dass Massenmedien „unentwirrbar[e] Durchmischungen realer Realität und fiktionaler Realität“ (Luhmann 2004, S. 148 zit. n. Bublitz 2005, S. 67) bewirken. Wie im Vorhergehenden anhand des untersuchten theoretischen und ästhetischen Materials deutlich wurde, kann sich diese Besorgnis in ganz unterschiedlicher Weise ausgestalten und verschiedene unbewusste Dynamiken, wie sie von dieser Arbeit fokussiert wurden, involvieren. Vorstellungen einer medial bewirkten Verschmelzung realer und fiktionaler Realität sieht Hannelore Bublitz in „In der Zerstreuung organisiert: Phantasmen und Paradoxien der Massenkultur“ (2005) mit einem für die gegenwärtige Massenkultur grundlegenden Paradoxon verbunden. Von diesem ausgehend möchte ich zum Abschluss meine Untersuchung kulturtheoretisch hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Subjekt und Kulturindustrie verorten – und zwar unter besonderer Berücksichtigung von Problemstellungen, die sich aus von mir so genannten kulturpessimistischen Lesarten der Kritischen Theorie Adornos ergeben (vgl. Einführung). Die „Frage nach der Position des Subjekts in einer Massengesellschaft bildet ein Grundthema des 20. Jahrhunderts“ (Schneider 2001a, S. 316 Bezug nehmend auf Sloterdijk 2000) und diese betrifft nicht zuletzt auch das kritische Potential von Kulturtheorien. Die Anknüpfung meiner Untersuchung von spielerischen und unheimlichen Momenten an Denkfiguren Adornos (vgl. Einführung; I.1; II.1; I.5; II.4; II.5) zielte auf eine Öffnung gegenüber kulturpessimistischen Interpretationen der Kulturindustrie-Thesen, für die Bublitz’ Rezeption im Folgenden als Beispiel fungiert. Dabei dient mir ihr Ansatz zum einen als geeignete Folie um zu zeigen, welche

Zum Abschluss

produktiven Anschlussstellen m.E. zwischen aktuellen Kulturtheorien und dem Begriff der Kulturindustrie bestehen. Zum anderen möchte ich dabei nochmals herausstellen, worin dessen Gewinn für kritische Perspektiven auf kulturtheoretische Problemstellungen bestehen kann. Dieser Gewinn bleibt in kulturpessimistischen Lesarten unberücksichtigt. Vermischte Realitäten Dazu gehe ich noch einmal zurück zu dem virulenten Unbehagen gegenüber wahrgenommenen Vermischungen fiktionaler oder virtueller Realitäten und sonstiger Realität, welche häufig als negative Begleiterscheinung der zunehmenden Relevanz von Massenmedien eingeordnet wird. Seit Entstehung der Massenkultur hätten sich „die Probleme eines authentischen Subjekts und Realitätsbezugs verschärft“ (Bublitz 2005, S. 67), vielerorts werde die Zerstörung eines vormals unverstellten Wirklichkeitsbezugs beklagt (vgl. ebd.). Die massenmediale „Kraft der Erzeugung von Wirklichkeiten“ (ebd., S. 68) stellt dabei, wie Bublitz festhält, die „Grenze von Authentizität und Künstlichkeit der Erfahrung“ (ebd., S. 67f.) in Frage. Das Subjekt scheint sich also seiner selbst und seiner Realität im massenmedialen Zeitalter in dieser Hinsicht einerseits nicht (mehr) sicher zu sein. Andererseits aber böten Massenmedien einen evidenten „Bezug auf das Selbst“ (ebd., S. 68) an – in „der Art von ‚So-ist-es‘-Erlebnissen“ erschienen mediale Realitäten häufig als „Wiederholung des Banalen und der Festschreibung dessen was ist“ (ebd.). Knapp gefasst erwecken demnach Massenmedien Bublitz zufolge einen widersprüchlichen Eindruck: Zum einen den „unmittelbarer Teilnahme am Weltgeschehen“ (ebd.) und zum anderen den der Verfälschung eines solch scheinbar möglichen unmittelbaren Zugangs zur Welt. „Massenkultur bewegt sich demnach in einem Dilemma, oszillierend zwischen bloßer Reproduktion der Realität und Realitätsverlust.“ (Ebd.) Dieses Aufeinandertreffen paradoxer Vorstellungen von authentischer Widerspiegelung und Verzerrung bildet sich auch in den von mir untersuchten spielerischen und unheimlichen Momenten der Kulturindustrie ab. Spielerisches und Unheimliches befinden sich, so gesehen, auf dem von Bublitz beschriebenen Spannungsfeld zwischen Verdopplung und Verlust von Realität. In Teil I hatte ich eben dieses Spannungsfeld auf das von Adorno beschriebene Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Spätkapitalismus bezogen, welches als Gleichzeitigkeit von Verlängerung und Absetzung gefasst wurde (vgl. Einführung; I.1). Das Spielerische ruft stets den Verdacht auf, ‚bloßes‘ Spiel zu sein, d.h. ohne – wie beispielsweise die Kunst – produktiv zu gestalten, die Realität lediglich nachzuahmen, zu verdoppeln. Während Erwachsene den Filmologen zufolge das dem Spiel inhärente Prinzip der Verdopplung durchschauen und filmische und sonstige Realität unterscheiden, sind es einer zentralen filmologischen Denkfigur zufolge Kinder und ‚Primitive‘, die nicht zwischen Verdoppeltem und Verdopplung zu unterscheiden vermögen (vgl. I.2; I.3). Diese Form eines Realitätsverlusts

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figuriert im Kontext der Filmologie als bedrohliche Vorstellung einer ‚totalen Grenzüberschreitung‘, mit der der Künstler Santiago Sierra spielt (vgl. I.4). Sind Vermischungen für die Filmologen ein spezifisch kindliches Charakteristikum, so wird der Verdacht eines damit einhergehenden Realitätsverlusts in der Apparatusdebatte auf das gesamte Publikum bezogen (vgl. II.2), z.B. in Baudrys Vergleich der Situation im Kinosaal mit der eines Neugeborenen (vgl. II.3), welche meiner Interpretation zufolge mit Unheimlichem – welches selbst als eine Art ‚Mischphänomen‘ beschrieben werden kann – hadert (vgl. II.4). Das von Bublitz beschriebene Dilemma von Verdopplung und Verlust von Realität findet sich demnach wieder in zentralen filmtheoretischen Annahmen, welche von mir im Vorhergehenden als Elemente von Symptomen für unbewusste Dynamiken in der Kulturindustrie untersucht wurden. Sorgen um das Subjekt Gerade mit zunehmender Erfahrung medialer ‚Konstruiertheit‘ (und dem damit einhergehenden Verdacht der dadurch bewirkten Verzerrung) von Welt haben, wie Bublitz festhält, kulturkritische Diskurse verstärkt „Argumentationsmuster“ bemüht, „die sich auf die Gefährdung des Subjekts und seines Anspruchs auf Unverwechselbarkeit und Authentizität beziehen“ (Bublitz 2005, S. 69 Bezug nehmend auf Schneider 2001a1). Es sind demnach seit den 1950er Jahren insbesondere zwei Topoi, auf die sich diese Befürchtungen einer erodierenden Kraft der Medien beziehen: Wirklichkeit und Individualität (vgl. ebd., S. 67f. Bezug nehmend auf Schneider 2001a). Anrufungen eines von den Massenmedien in seiner ‚authentischen Existenz‘ scheinbar bedrohten Subjekts implizierten häufig die Vorstellung, als Massenindividuum „ein belangloses Glied einer riesigen Produktions- und Konsummaschinerie zu sein“ (ebd., S. 69). Wie „ein roter Faden“ ziehe sich diese „Sorge um das Subjekt […] durch Einschätzungen der Massenkultur“ (ebd.). Diesen roten Faden verfolgt Bublitz in ihrer Interpretation von Massenkultur „als Chiffre der Moderne“ (ebd., S. 151). Massenkultur wird von Bublitz im Wesentlichen bestimmt als „Medium, das sich sowohl der heterogenen Ordnung des Begehrens als auch der integrativen Ordnung des Sozialen verschreibt“ (ebd.). Es sind dabei zwei gegenläufige Bewegungen, welche demnach die grundlegende Dynamik gegenwärtiger Kultur strukturieren: „Entfesselung produktiver Kräfte“ und Bindung an „integrative Ordnungsprinzipien“ (ebd.). Integration und Bindung an die Gesellschaft erfolgt demnach nicht in Form disziplinarischer Unterwerfung, sondern qua Flexibilisierung und Individualisierung der Subjekte.

1 | Schneider hält in diesem Zusammenhang fest: „Das Gütesiegel der Authentizität, das im Laufe des 20. Jahrhunderts ein immer stärkeres Gewicht erhält, und Strategien der Authentifizierung, die entwickelt werden, sind nicht abzulösen von Prozessen der zunehmenden Medialisierung.“ (Schneider 2001a, S. 321)

Zum Abschluss

Die in kulturtheoretischen Diskursen kursierende „Sorge um das Subjekt“ (ebd., S. 69; s.o.) wertet Bublitz als Reaktion auf dieses ‚Kräfteverhältnis‘, welches nicht zuletzt Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen der Moderne sei. Im Zuge von Rationalisierungsprozessen habe sich Gesellschaft als „Funktionszusammenhang“ konstitutiert, in dem die Einzelnen als Vereinzelte „durch einen marktförmigen Mechanismus in Austausch miteinander treten“ (ebd., S. 71) und damit zur Masse der Marktteilnehmenden werden. Korrespondierend damit ergibt sich für die Bestimmung von Massenkultur: Diese hat die Funktion eines gesellschaftskonstituierenden Mediums (vgl. ebd., S. 20), welches „gewissermaßen als Dispositiv, nämlich als strategische Anordnung operiert, die soziale Ordnungsfunktionen übernimmt und Praktiken der individuellen Selbstregulierung sowohl veranlasst als auch begrenzt“ (ebd., S. 23). Bublitz bestimmt Massenkultur „als globalisierte Form des kulturellen und ökonomischen Austauschs“ und als Ort, „an dem Individuen geformt werden und ihre soziale Existenz gesteuert wird“ (ebd.). Wichtig für diese Konzeption ist die angenommene Gleichzeitigkeit der in und durch die Massenkultur sich vollziehenden Integration qua Individualisierung. Die in medien- und kulturkritischen Diskursen virulente Figur der „‚Gefährdung des Subjekts‘“ (ebd., S. 29) interpretiert Bublitz als Effekt der Wirksamkeit der paradoxen Struktur der Massenkultur. Diese verweist somit auf die „historische Emergenz der Figur des individualisierten Subjekts, das sich zunehmender Vergesellschaftung und ‚Vermassung‘ erst verdankt, zugleich aber im Faktum der Vereinzelung begründet ist“, d.h. in Massenkultur als „Realisierung des individualistischen Zeitalters“ (ebd.). Im Unterschied zu Vorstellungen einer der Massenkultur vorgängigen, „einer vorgesellschaftlichen Existenz der Subjekte“ (ebd., S. 102), „repräsentiert“ demzufolge die Masse „im individualistischen Zeitalter nicht das Gegenüber, sondern den konstitutiven Bezugspunkt von Individualisierung. Das Subjekt konstituiert sich als eines, das ‚die Masse‘ im Selbstbezug immer schon implementiert“ (ebd., S. 124). Auf eben diese Doppelläufigkeit des Verhältnisses von Subjekt und Massenkultur ist, wie Bublitz zeigt, die Sorge um das Subjekt bezogen – sie stellt den gemeinsamen Bezugspunkt von verschiedenen, auch konträren kulturtheoretischen Positionen dar;2 während z.B. Massen2 | U.a. illustriert Bublitz dies anhand von Löwenthals (1964) Analyse eines kulturtheoretischen Grundsatzstreits über Wirkungen massenkultureller Zerstreuung (vgl. auch Witte 2013). Löwenthal zeichnet – in einer Zusammenschau von kulturtheoretischen Positionen zur Frage der Zerstreuungsfunktion von Massenkultur – eine Ambivalenz von Ablehnung und Zustimmung nach, welche Bublitz als Ausdruck eines „moralischen Dilemmas“ (Bublitz 2005, S. 69) wertet, welches da lautet: Einerseits werde betont, „dass der Mensch in der angespannten Situation der Moderne ein Recht auf Ablenkung und Zerstreuung habe, um der Zerstörung durch Einsamkeit und Isolierung zu entgehen“, andererseits werde „aus Sorge um die geistige und moralische Verfassung des Menschen auf die Gefahren der Zerstreuung hingewiesen, da sie, als Ausgeburt der Frustration des Menschen“ zum Unheil ei-

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kultur für die einen „den Gegenpart zur Ökonomie“ (ebd., S. 70) bereitstellt, gilt sie anderen als deren Fortsetzung. Gegenläufig ist diese Einschätzungen auch jeweils in Filmologie und Apparatusdebatte, wobei sich auch zeigt, dass gleichwohl in beiden filmtheoretischen Diskursen die Sorge um das Subjekt virulent ist. Die Filmologen betonen stets den für das Filmerleben ihrer Ansicht nach notwendigen Abstand vom sonstigen (Arbeits-)Leben (vgl. I.2; I.3), während die Kontrahenten der Apparatusdebatte darin übereinstimmen, dass im filmischen Realitätseindruck Grundzüge kapitalistischer Subjektivität ihren ästhetischen Ausdruck finden (vgl. II.2). In beiden Varianten aber ist die jeweilige Diagnose auf die von Bublitz beschriebene Sorge um das Subjekt und auf den mit dieser verbundenen Topos der Authentizität (vgl. Schneider 2001a, S. 321) bezogen. Beispielsweise korrespondiert in filmologischen Denkfiguren die Grenzziehung zwischen spielerischer und sonstiger Sphäre mit Differenzierungen zwischen ‚künstlich‘-medialer und ‚echter‘ Realität (vgl. I.2; I.3). Besonders deutlich tritt dies z.B. an der Textstelle zutage, an der Musatti die Frage verhandelt, ob Filme über Psychoanalyse die ‚echte‘ Psychoanalyse tatsächlich (was man verstehen kann als: authentisch) darstellen können (vgl. I.3). Musatti zieht eine Demarkationslinie zwischen filmisch dargestellter und ‚echter‘ Psychoanalyse (vgl. I.3). Gleichwohl verankern die Filmologen gerade im Aspekt des Als-ob (des ‚gleichwie-im-realen-Leben‘) im Wesentlichen das fortschrittliche Potential des Kinos (vgl. I.2). In Gefahr steht demnach das Subjekt, wenn die Unterschiedenheit von filmischer und sonstiger Realität nicht gewahrt wird. Auch in der Apparatusdebatte verbindet sich die Vorstellung einer Gefährdung des Subjekts mit Ideen von Vermischungen von filmischer und sonstiger Realität – allerdings wird hier zentral der Als-ob-Charakter als ideologischer Effekt des Kino-Apparats ausgemacht (vgl. II.2). Während die Filmologen dem Kino welterschließendes Potential zuschreiben, beschreiben Apparatustheoretiker ein Zuschauersubjekt, das in seiner ‚Weltsicht‘ durch den Apparat eingeschränkt ist. In unterschiedlicher Hinsicht werden Beeinträchtigungen des Publikums dargestellt (vgl. II.2) – wie beispielsweise Baudrys Analogie der Haltung des Zuschauers im Kinosessel mit der eingeschränkten Motilität von Neugeborenen oder Schlafenden zeigt (vgl. II.3). Die Idee eines authentischen Subjekts und einer ‚unverfälschten‘ Wirklichkeit scheint hier z.B. an der Figur des Philosophen auf, dem Gegenspieler des fixierten, geblendeten Gefangenen in der Höhle. Der Philosoph, der sich nicht vom Apparat trügen lässt, weiß um den Unterschied zwischen der ‚echten‘ Welt vor der Höhle und deren ‚bloßen‘ Schatten an der Wand. Es sind – z.B. in Form von Leblancs Metapher des Narkotikums (vgl. II.2) ner „völligen Unterwerfung des Menschen unter rest- und rastloses Tätigsein“ führe (ebd., S. 70). Beide der – in Löwenthals Text durch Montaigne und Pascal vertretenen – Positionen handeln somit, wenngleich auf jeweils unterschiedliche Weise, von einem Gefährdet-Sein des Subjekts.

Zum Abschluss

– in der Apparatusdebatte auch darüber hinaus Vorstellungen umläufig, die – mit Bublitz gesprochen – „auf den Surrogatcharakter einer künstlichen Konsum- und Warenwelt“ abheben, „die ‚die Masse‘ durch den schönen Schein, die schillernde Aufmachung der Waren blendet“ (Bublitz 2005, S. 72). Bublitz dechiffriert derlei Sorge um das Subjekt als Ausdruck der oben skizzierten Paradoxien der Massenkultur und kritisiert diese zugleich als verkürzte kulturtheoretische Reflexion. Insbesondere die Kulturindustrie-Thesen von Horkheimer und Adorno gelten ihr in diesem Zusammenhang als prominentes Beispiel für Kulturkritik, aus deren Sicht „das ‚Massen- und Dinghafte‘ der Massenkultur als kulturelle ‚Verfallserscheinung‘ gegenüber einem gewissermaßen ‚ursprünglichen‘ Zustand einer ‚natürlichen‘ Kultur“ (ebd.) firmiere. Diese Lesart betrifft einen wesentlichen Kern kulturpessimistischer Rezeption der Kulturindustrie-Thesen, von denen ich mich im Vorhergehenden abgegrenzt habe (vgl. Einführung; II.1). Ich möchte im Folgenden nochmal einige Punkte benennen, an denen sich m.E. ein zu verknapptes Verständnis der Kritischen Theorie zeigt (vgl. Einführung). Bestehen genau an diesen Punkten aus Perspektive kulturpessimistischer Positionen Differenzen gegenüber der Kritischen Theorie, so halten m.E. diese zugleich – wie ich auf der Folie von Bublitz’ Darstellung zumindest andeuten möchte – auch relevante Übergänge zu Begrifflichkeiten Kritischer Theorie bereit.

2.  Kulturindustrie I: Verschwinden des Subjekts? Für meinen Rekurs auf Adorno war im Vorhergehenden dessen Beschreibung einer Erfahrung (in) der Massenkultur zentral, welche diesem zufolge mit einem „Bewußtsein der eigenen Mechanisierung“ (Adorno 1969b, S. 75, Fn. 11; vgl. II.4) einhergeht. Entworfen wird ein spezifisch kinematographisches Erleben, in „unartikulierte[r] Masse“ selbstläufigen Prozessen ohnmächtig ausgeliefert zu sein (ebd.) – in der besonderen Anordnung des Kinoraums drängt sich dem Einzelnen, so lässt sich an dieser Stelle entnehmen, auf, dass einem „etwas passieren kann, auch wenn man ‚viele‘ ist“ (ebd.). Im Unheimlichen – als Auftauchen dieses ‚etwas‘, eines unbestimmt Bedrohlichen – korrespondiert meiner Interpretation nach der (den Einzelnen gegenüber verselbständigte) Prozess der Kapitalakkumulation mit Unbewussten (vgl. II.4; II.5). Es ist demnach die ‚Einspeisung‘ der Subjekte in den ökonomischen Verwertungsprozess, welche – auf Umwegen der Übersetzung – mit dem Aufscheinen des Unbewussten in unheimlichen Momenten koinzidiert (vgl. II.4). Bublitz weist derlei Anschlüsse an den Begriff der Kulturindustrie, den sie als „Formel für die Verschränkung von kapitalistischer Ökonomie und Kultur“ (Bublitz 2005, S. 72) versteht, als unbrauchbar für eine Analyse von Massenkultur zurück. Die Argumentation von Adorno und Horkheimer in den Kulturindustrie-Thesen lasse sich auf die Frage des Verschwindens des Subjekts „zuspitzen“ (ebd., S. 73). In der Ansicht, es handele sich hierbei um eine Theorie der „Entsub-

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jektivierung“ (Ritsert 2014), folgt Bublitz im Wesentlichen kulturpessimistischen Lesarten der Kritischen Theorie3. Die Abgrenzungen gegenüber der Kritischen Theorie in diesem Kontext dienen dabei auch als Stützen der eigenen Theoriebildung. Was ich im nächsten Schritt exemplarisch anhand von Bublitz’ Konzeption zeigen möchte, ist, inwiefern der unter dem Stichwort „Entsubjektivierung“ zusammengefasste zentrale „Standardvorbehalt“ gegenüber den Kulturindustrie-Thesen (vgl. Ritsert 2014; vgl. Einführung) einige Anknüpfungspunkte verdeckt, wie sie die Kritische Theorie für aktuelle kulturwissenschaftliche Theorieansätze bieten könnte. Entsubjektivierung Es gälte, so Bublitz, „Massenkultur als Medium spezifischer Ökonomien zu rekonstruieren, deren Logik sich nicht auf die ökonomische Verwertungslogik der Warenökonomie reduzieren lässt, wie es die Kulturindustriethese nahelegt“ (Bublitz 2005, S. 19). Massenkultur sei „weder lediglich kulturelles Epiphänomen, abgeleitet aus der Sphäre des Ökonomischen, noch lediglich die Manifestation einer kapitalistischen ‚Kultur-Industrie‘“ (ebd., S. 26 Bezug nehmend auf Adorno 1947a). Dabei stellt Bublitz nicht in Abrede, dass sich Massenkultur an der Marktökonomie orientieren müsse, aber diese müsse sich „immer auch vom Marktprinzip abgrenzen und unterscheiden“ (ebd., S. 87) – auf vergleichbare Beschreibungen einer solchen Gleichzeitigkeit von Adorno stützte sich meine für die Analyse des Spiels grundlegende Annahme einer Gegenläufigkeit von Grenzüberschreitung und -ziehung (vgl. Teil I). Es befindet sich Bublitz’ Konzeption m.E. aber in tatsächlicher „Opposition“ (ebd.) zu Adorno, wenn sie dessen Annahme zurückweist, dass sich kulturelle Phänomene als Sedimente „der einen (Kapitalverwertungs-)logik“ (ebd., S. 86) deuten ließen. Wobei dies – auch respektive der Widersprüchlichkeit der Kapitallogik selbst, wie sie z.B. das Verhältnis von Arbeit und Freizeit prägt – gerade nicht die Unterstellung „eine[r] völlige[n] Vereinnahmung der Konsumenten durch die Kulturindustrie“ (ebd., S. 26) erzwingt, wie ich in Teil I gezeigt habe. Bublitz hebt zudem den in den Kulturindustrie-Thesen i.E. anklingenden elitären Gestus hervor. Die Autoren folgten mit ihrer Manipulationsthese nicht zu3 | Bublitz bezieht sich hier auf Adepten der Kritischen Theorie wie van Reijen (2004), Demuth (2004) oder Behrens (2003) und in diesem Zusammenhang auf verschiedene theoretische Versatzstücke – wie z.B. „Auflösung einer am autonomen Individuum orientierten Kultur“ (Bublitz 2005, S. 72), ‚Herabwürdigung‘ von Kunst zu „bloßen Waren“ (ebd., S. 73), Verschwinden des Subjekts in der „Massenkonformität“ (ebd.), „Bewusstseinsdeformation“ (ebd., S. 74), „Verfall von Kultur“ (ebd.), „Manipulation“ (ebd.). In einer Traditionslinie mit der Kritischen Theorie wird z.B. auch Sloterdijk gestellt, der – wie Bublitz m.E. zu Recht festhält – mit dem „Gestus intellektuellen Ressentiments und im Vertrauen auf einen obsoleten kulturellen Wertekanon […] Massenkultur aus verfallstheoretischer Perspektive als nur mehr defizitär“ beschreibt (ebd., S. 81; vgl. dazu auch Harrasser 2014).

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letzt auch einem Ressentiment gegenüber ‚niederem Vergnügen der Massen‘ als entgegengesetztem Pol zur „Stimme der Vernunft und des Geistes“ (ebd., S. 74). Diesem Raster nach stünde Massenkultur als „Szenario von Unterhaltung und Vergnügen, aber auch hedonistischem Konsum, für die Entfesselung derjenigen Kräfte, die mit ihren ‚unwiderstehlichen Lockungen‘ das Gegenteil von Disziplin und Selbstzwang signalisieren“ (ebd.). Als „Inbegriff bloßer Zerstreuung, die in der Bereitstellung vorsätzlich hergestellten ‚Schunds‘ und in der Vervielfältigung vorfabrizierter Denk- und Gefühlsklischees die ‚zerstreute Masse‘ in einem Zustand tagträumerischer Geistesabwesenheit hält“ stelle die Kulturindustrie also den „den Gegenpol bürgerlicher Hochkultur“ (ebd., S. 75) dar.4 Der Gradmesser, so folgt Bublitz hier einer gängigen Lesart, zur Unterscheidung von Kunstwerken und kulturindustriellen Produkten sei die ‚bloße Warenförmigkeit‘ (vgl. ebd., S. 73) der letzteren – inwiefern es sich hier um ein für das Verständnis der Kulturindustrie-Thesen irreführendes Kriterium handelt, habe ich einleitend dargestellt (vgl. Einführung). In Teil II habe ich – in anschlussfähiger Weise an Bublitz’ Auffassung – ausgehend von Adornos Begriff der Amalgamierungstendenz gezeigt, inwiefern das Unheimliche Schauplatz einer zentralen kulturindustriellen Dynamik ist, welche Erosion von Unterscheidungen – wie z.B. auch der zwischen Hoch- und Massenkultur bzw. Subkultur und Mainstream – zum Fluchtpunkt hat (vgl. Teil II). Bublitz zieht u.a. aus der Annahme, dass sich Adorno zufolge die Kulturindustrie durch den Warencharakter von der Kunst per se unterscheide, den Schluss, dass die Kritische Theorie auf „humanistischen Prämissen“ beruhe, „die das Subjekt zum normativen Angelpunkt der Gesellschaft erheben und es als geschichtsträchtiges Subjekt in ein – teleologisches – Modell von Geschichte und Gesellschaft einsetzen“ (ebd., S. 74). Tatsächlich beruht die Kritische Theorie Adornos auf Annahmen, die in heutigem Vokabular als anthropozentrisch gelten können. Doch ist dessen Forderung nach einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse darauf ausgerichtet, Bedürfnisse der Subjekte zum „Angelpunkt“ (ebd.) zukünftiger Gestaltung der Organisation des Zusammenlebens zu erheben, so steht diese marxistische Auffassung zugleich nicht in der Tradition teleologischer Geschichtsentwürfe wie etwa dem Orthodoxen Marxismus oder auch humanistischen Denkens. Im Gegenteil gründet die Geschichtsphilosophie – insbesondere von Adorno und Benjamin – gerade in der Kritik an teleologischen Annahmen des Historischen Materialismus (vgl. Einführung). 4 | In Anschluss an Hall (1999) wird die mit dem Begriff der Kulturindustrie verbundene Fokussierung auf Strukturmerkmale warenförmiger Gesellschaft in diesem Zusammenhang auch als eine unsachgemäße Reduktion und Hierarchisierung kritisiert, deren Ablehnung gewissermaßen als ‚gerechtere Sichtweise‘ präsentiert wird: So ginge es nicht darum „bestimmte Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation hervorzuheben, ihnen Priorität einzuräumen und andere beiseite zu schieben“ (Bublitz 2005, S. 77).

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Interpretiert aber als teleologisches Geschichtsmodell wird Adornos Sorge um das Subjekt als Zentrum ‚verfallstheoretischer Diagnosen‘ ausgemacht, mit der auch die Annahme einer der Massenkultur vorhergehenden Authentizität als einem a priori der Massenkultur verbunden sei. Bublitz kritisiert in diesem Zusammenhang die in der Rezeption der Kulturindustrie-Thesen häufig angestimmte Rhetorik von Massenkultur als einem „Endstadium“ (ebd., S. 85 Bezug nehmend auf Behrens 2003, S. 173). Bublitz weist zu Recht darauf hin, dass im Kontext der Rede von der Kulturindustrie als einem ‚Endstadium totaler Integration‘ häufig davon ausgegangen wird, dass die Massenkultur die Subjekte verschlucke.5 Von dieser Rhetorik aber grenzt sich Adorno stellenweise selbst ab, an seine Distanzierung habe ich meine Lesart angeschlossen (vgl. Einführung; I.1). In Bublitz’ Lesart hingegen steht im Vordergrund, dass mit der Annahme einer „industrielle[n] Vernichtung ‚des Menschen‘“(vgl. ebd., S. 89) die Kulturindustrie-Thesen auf die Rettung eines der Massenkultur vorgeschalteten ‚authentisches Substrats‘ aus seien. Damit ginge die Unterstellung einher, dass „die stoffliche Materialität der Dinge noch auf ihren unmittelbaren Gebrauchswert und ihre Nützlichkeit verweist und das Individuum sich ihrer jenseits imaginierter Bedeutungen bemächtigt“ (ebd., S. 72). Dies halte ich für ein tatsächliches Missverständnis. Dieses Missverständnis betrifft m.E. einen blinden Fleck von kulturpessimistischen Adorno-Rezeptionen bezüglich des Verhältnisses von Subjekt und Kulturindustrie, der nicht zuletzt die Frage nach dem Unbewussten berührt. Der blinde Fleck betrifft eine wesentliche Differenz zwischen Kritischer Theorie und diskurstheoretischen bzw. dem ‚material turn‘ folgenden aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen bezüglich der Problemstellung des Unverfügbaren, auf die ich nun zu sprechen komme. Unverfügbares der Macht Als eine zentrale Herausforderung aktueller Kulturtheorie versteht Bublitz, „der ‚Materialität von Kultur‘ Rechnung“ zu tragen, ohne dabei einer „verdinglichungstheoretischen Variante der Reduktion des Menschen auf ihm fremd gegenüberstehende Dinge“ zu folgen (Bublitz 2006, S. 1803). Die Frage nach der „Materialität der Kultur“ (ebd., S. 1803-1805), welche Bublitz an dieser Stelle erörtert, kann sich derzeit im Zuge des ausgerufenen ‚material turn‘ der Kulturwissenschaften als zeitgemäß behaupten.6 Bublitz tritt dafür ein, Abstand zu nehmen von dem „kulturkritischen Verdacht der Unverfügbarkeit kultureller Phänomene, der 5 | Eben diesem Motiv des ‚Verschluckt-Werdens‘ bin ich in meiner Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen in Teil II nachgegangen. 6 | „Auf verschiedensten und zunächst scheinbar kaum miteinander zusammenhängenden Ebenen sind die Kulturwissenschaften dabei, Materialitäten zu entdecken und deren notwendige Verquickung und Vernetzung mit jenem Sinnhaften und Symbolischen, das klassischerweise als die Sphäre des Kulturellen wahrgenommen wurde.“ (Reckwitz 2014, S. 13; vgl. dazu auch Kalthoff/Cress/Röhl (Hrsg.) 2016).

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Entfremdung des Menschen und des damit verbundenen zunehmenden Wirklichkeitsverlusts“ (ebd., S. 1803), welcher unweigerlich einen „dem Diskursiven vorgängige[n] Gegenstand“ (ebd., S. 1804) adressiere statt „auf die praktisch wirksame Funktion des Diskursiven“ abzuheben (ebd.). Keineswegs aber verabschiedet Bublitz – und dies ist m.E. auch z.B. ein kritischer Impetus des derzeitigen sogenannten ‚material turns‘ in den Kulturwissenschaften – dabei die Annahme eines Unverfügbaren der Kultur als solche, wie ich nun knapp skizzieren möchte. In Anschluss an Foucault (u.a. 1974; 1993) – sowie an Deleuze/Guattari (1992), Butler (u.a. 1998) und Hardt/Negri (2000) – ordnet Bublitz ihre Herangehensweise als „Analyse der Machtmechanismen“ ein, welche „den Menschen in den Rahmen diskursiver, materieller und technischer Konfigurationen stellt“ (Bublitz 2006, S. 1804). Eine ihrer zentralen Annahmen ist dabei, dass Massenkultur nicht (mehr) einem „Modell der normativen Integration“ im Sinne der von Foucaults beschriebenen Disziplinarmacht (vgl. dazu z.B. Möller 2008) folge, sondern sich Mechanismen produktiver Macht verdanke, wie sie Deleuze der Logik von Kontrollgesellschaften (vgl. Deleuze 1993) zugrunde legt.7 In Abgrenzung zu „krude[n] Versionen eines ökonomischen Determinismus im Sinne eines Basis-Überbau-Schemas“ (Bublitz 2005, S. 77) geht Bublitz dabei von der Auffassung aus, dass es „kein allgemeines Prinzip und kein Zentrum, von dem die Macht ausgeht“, gibt (ebd., S. 153), welche qua Verbot und ‚Unterdrückung‘ wirke.8 Annahmen einer ‚hinter‘ der „technisch induzierte[n], ‚imaginäre[n] Wirklichkeitskonstruktion‘“ (ebd., S. 29) der Massenmedien liegenden authentischen Realität der Subjekte, auf deren Unterdrückung Macht abziele, vernachlässigten – so Bublitz’ Kritik – die integrative Kraft der Massenkultur: „Massenkultur bildet die Performanz einer Macht, die den sozialen Raum in seiner Totalität und das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit vollständig umfasst. Sie operiert in der Immanenz einer globalisierten Macht, die kein Außen kennt.“ (Ebd., S. 152) Die Folgerung daraus hinsichtlich der Konstitution von Subjektivität lautet demgemäß, dass diese nicht „durch ein Außen, das auf ein Inneres wirke“ (ebd.), erfolge. Hierin erweise Horkheimers und Adornos „Manipulationsthese“ ihre Ungültigkeit (ebd., Fn. 1). Es sei im Gegenzug von einer Einbindung der Sub7 | Zur Erläuterung des Begriffs produktiver Macht heißt es: „Das Modell der produktiven Macht ist […] nicht durch Ausschluss und ‚Liquidierung‘, sondern durch doppelte Negation (des Ausschlusses und des Abweichenden), also durch Integration des – zuvor – Ausgeschlossenen und dessen Umformung, kurz, durch transformierende Normalisierung gekennzeichnet.“ (Bublitz 2005, S. 104, Fn. 29) 8 | Hierbei kann sich Bublitz auf folgende Foucaultsche Grundannahme stützen: „Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“ (Foucault 1994, S. 250)

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jekte in ein Machtgefüge ‚ohne Außen‘ auszugehen, gleichwohl erfolge die „Bindung des Individuums an die Gesellschaft […] auch nicht als seine vollständige Integration in eine geschlossene Sozialordnung“ (ebd.). Ohne dass „sie sich als totalitäres Regime beschreiben“ (ebd., S. 153) ließe, ziele Massenkultur auf die „vollständige Einbeziehung des ehemals Individuellen, Organischen und Affektiven in den ökonomischen Wertschöpfungsprozess“ (ebd., S. 154): „Modulation ist ihr Prinzip“ (ebd.) und entsprechend lautet ihr Auftrag an die Subjekte sich „unablässig selbst [zu] modellieren“ (ebd., S. 28).9 Die hierdurch bewirkte „Neukodierung gesellschaftlicher Wirklichkeit durch die Massenkultur“ würde von „ideologiekritische[n] und manipulationstheoretische[n] Ansätze“ außer Acht gelassen, „bei denen die zum Befund erhobene Überwältigung der Konsumenten durch die Produkte der Kulturindustrie bereits im Forschungsansatz angelegt ist“ (ebd., S. 79). Es sind somit zwei aufeinander verweisende Kritikpunkte, die Bublitz gegenüber der mit dem Begriff der Kulturindustrie verbundenen Subjektauffassung der Kritischen Theorie in Anschlag bringt und auf die ihre eigene Konzeption ganz grundlegend in Abgrenzung bezogen ist. Der Begriff der Kulturindustrie impliziere erstens die Annahme einer Entsubjektivierung im Sinne einer totalen Integration der Subjekte10, wodurch die für die Massenkultur grundlegenden Prinzipien von „Freisetzung und Individualisierung des Subjekts“ (ebd., S. 152) unterschlagen würden.11 Diese Auffassung einer totalen Integration unterstelle – so lautet der zweite Kritikpunkt – eben ein vormalig ‚unbeschadetes‘ authentisches Substrat des Subjekts, das im System der Kulturindustrie zu verschwinden

9 | „Durch zunehmende Überführung von Fremdzwang in Mechanismen der Selbstführung werden im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen sukzessive individuelle Dispositionen freigesetzt, die soziale Integration, gebunden an die Disponibilität und allgemeine Zugänglichkeit der Waren, aufgrund flexibler Selbsttechnologien gewährleisten. Zugleich sind diese experimentellen ‚Selbstfindungsprozesse‘ eingebunden in gesellschaftliche Prozesse der Deregulierung und Flexibilisierung, die den Subjekten eine dauerhafte Form der Introspektion abfordern und das lebenspraktisch angestrebte Ideal der Selbstverwirklichung zur individuell geforderten Produktivkraft ummünzen.“ (Bublitz 2005, S. 152f.) 10 | Die Kritik der Annahme totaler Integration stellte auch meinen Ausgangspunkt in Teil II dar. 11 | Weiter heißt es dazu: „Aus dieser Perspektive verkommt auch das Individuum zum Vollzugsorgan einer kapitalistischen Ökonomie, in der es selbst zum Ding ‚mutiert‘. Berechenbar und austauschbar wie eine Ware, verselbständigt sich das Denken zum automatischen Prozess. Zerstreuung, Unterhaltung und Amüsement erweisen sich dann als ‚Stahlbad‘ für den Einzelnen innerhalb seiner produktiven Kapitalisierung und ideologischen Gleichschaltung.“ (Bublitz 2005, S. 73)

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droht. Das Subjekt aber, so hält Bublitz fest,12 „verschwindet nicht in der Gesellschaft, sondern geht aus ihr erst hervor“ (ebd., S. 100). Auf diese Weise beurteilt Bublitz die mit dem Begriff der Kulturindustrie i.E. verbundene Subjektauffassung nicht nur als unzureichendes theoretisches Instrumentarium für eine Analyse heutiger Massenkultur. Mehr noch entschlüsselt sie deren Passgenauigkeit mit den von ihr herausgearbeiteten Machtmechanismen und weist diese damit als deren Effekt aus. In dieser Hinsicht ähnelt Bublitz’ Argumentation an dieser Stelle ihrer Auseinandersetzung mit der medienkritischen Besorgnis über das Verschwimmen von fiktionaler und realer Realität im massenmedialen Zeitalter (s.o.). Auf den Topos der Authentizität (einer Wirklichkeit, eines Subjekts) sind ihr zufolge sowohl die Sorge um das Subjekt in der Kritischen Theorie als auch die medienkritische Befürchtungen von Unschärfen zwischen Realität und Fiktion bezogen. Es lässt sich so verstehen, dass durch diese Bezugnahme den in der Massenkultur wirksamen Machtmechanismen gedanklich Folge geleistet wird – und zwar insofern die mit der Sorge um das Subjekt einhergehende Unterstellung einer verlorenen oder gefährdeten authentischen Substanz der Subjekte zu Versuchen animieren kann, jene zu finden und zu restituieren. Nicht nur mediale Dispositive selbst, sondern auch die Kritische Theorie tragen – so gesehen – als Produzenten der wirkmächtigen Vorstellung einer „Authentizität des Subjekts“ (ebd., S. 82) zum Funktionieren der Massenkultur bei: Indem „das Subjekt einer permanenten Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle“ unterstellt wird, „erzeugen sie [die medialen Dispositive], was sie scheinbar korrumpieren, individualisieren sie, während sie gleichzeitig vervielfältigen“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund erfolgt auch eine spezifische Situierung des Unbewussten in der Massenkultur: Das Unbewusste „bildet somit nicht den Bereich des dem Sozialen vorgängigen ‚Asozialen‘, das sich dem Zugriff der Sozialität entzieht, sondern den Ort, an dem sich das Soziale im Subjekt verankert“ (ebd., S. 17 Bezug nehmend auf Butler 2001). In Abgrenzung zu – nicht weiter benannter (vgl. ebd., S. 101) – psychoanalytischer Theorie und in Anschluss an Butler (2001) hält Bublitz fest: Während ‚die Psychoanalyse‘ vom Psychischen als „als ontologisch gegebene[r] Substanz des Subjekts“ ausgehe, betrachte Butler die Konstituierung der Psyche als ‚Einsetzung‘ sozialer Macht (vgl. Bublitz 2005, S. 101). Diese von Bublitz – als Revision psychoanalytischer Theorie aufgefasste – Versetzung des Unbewussten13 aus dem Bereich des Ontischen in den des Sozialen hat auch Konsequenzen für die Verankerung der Unverfügbarkeit des Unbewussten. Bublitz vertritt hier folgende Auffassung: „Der Bereich des Unbewussten ist dem Subjekt dann gerade aufgrund der sozialen Regeln, nach denen der psychische Apparat

12 | In diesem Zusammenhang bezieht sich Bublitz positiv auf andere Texte Adornos. 13 | Den Begriff des Unbewussten verwendet Bublitz hier synonym mit dem des Psychischen.

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funktioniert, unverfügbar und nicht, weil er sich dem Sozialen entzieht.“ (Ebd.)14 Bublitz bezieht dabei das Unbewusste auf den Begriff des fait social im Sinne Durkheims, welches als unverfügbare „Realität sui generis“ (dies. 2006, S. 1805 Bezug nehmend auf Durkheim 1965 [1895], S. 109) gilt. Diese Realität sozialer Tatsachen liefert Bublitz ein grundlegendes Modell für ihr „Konzept, das Kultur gewissermaßen als umfassende Praxis, als ‚Produktivkraft‘ von Mensch und Gesellschaft und, darüber hinaus, als sozialintegrative Kraft betrachtet“ (ebd.). Wirksam ist in dieser demnach eine – an anderer Stelle der „Materialität der Kultur“ zugeschriebene15 – „un(ge)bändi(gt)e Kraft“ des „Unverfügbar-Ereignishafte[n]“ aber auch des „Verfügbar-Manipulierbare[n], dem individuellen Subjekt dennoch unverfügbare[n] Wirklichkeit“ (ebd.). Die Grundierung mit Durkheims Begriff der sozialen Tatsache korrespondiert nicht zuletzt mit der Feststellung, dass Massenkultur als Machtform selbst etwas Unverfügbares eigne, diese bleibe letztlich „imaginär, nicht greif bar“ (dies. 2005, S. 151). Während Bublitz in diesem Zusammenhang und im Zuge ihrer Abgrenzung gegenüber den Kulturindustrie-Thesen für eine Verschiebung des Unverfügbaren und mithin des Unbewussten aus dem Bereich des Ontischen in den Bereich des Sozialen plädiert, hält m.E. die Kritische Theorie Adornos eine dritte Möglichkeit bereit: Bezogen auf die Kategorie des Nicht-Identischen geht hierbei Unverfügbares weder in sozialen Konstruktionen auf noch entstammt dieses einem vorgesellschaftlichen Bereich des Authentischen, eines So-Seins bzw. eines Vormals-Dagewesenen.

3.  Kulturindustrie II: Nicht Jenseits der Subjekte Das Unheimliche habe ich im Vorhergehenden als mögliche Erscheinungsform der unbewussten Dynamik von kulturindustriellen Übersetzungsprozessen interpretiert (vgl. Teil II), in der der für das Spiel konstitutive unbewusste Ambivalenzkonflikt (vgl. Teil I) Gestalt annehmen kann: als Ungreif bares, als das Bublitz auch die Machtform der Massenkultur charakterisiert. Auch diese interpretiert 14 | Das Unbewusste wird als Grenzfläche beschrieben, auf der sich „verschiedene Ökonomien (der Waren, der Zeichen, des Begehrens)“ (Bublitz 2005, S. 123) miteinander verschränken. 15 | Ausführlich lautet hier Bublitz’ Definition: „Materialität der Kultur ist unter diesem Aspekt die un(ge)bändi(gt)e Kraft, die in ihrer Ereignishaftigkeit weder zur materiellen Ordnung der Körper noch zur Ordnung des Immateriellen, Geistigen gehört, sondern die sich einem ‚Materialismus des Unkörperlichen‘ verschreibend, auf der Ebene der Materialität sozial bindender und verbindlicher Tatsachen, als das Unverfügbar-Ereignishafte, aber auch das Verfügbar-Manipulierbare, dem individuellen Subjekt dennoch unverfügbare Wirklichkeit wirksam ist. Materialität und Kultur/Materialität der Kultur im hier angesprochenen Sinne ereignen sich; sie gründen in nicht-intentionalen, kontingenten Ereignissen.“ (Bublitz 2006, S. 1805)

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Massenkultur als Chiffre eines Konflikts,16 den sie – wie oben skizziert – mit einer für die Kultur der Moderne charakteristischen Gleichzeitigkeit des „Unverfügbar-Ereignishafte[n]“ aber auch des „Verfügbar-Manipulierbare[n]“ (Bublitz 2006, S. 1805; s.o.) in Verbindung bringt. Kann nicht die von Eisler und Adorno beschriebene Panik, welche sich angesichts der stummen Schatten auf der Kinoleinwand potentiell einstellt, als Erfahrung einer solchen Gleichzeitigkeit verstanden werden? Etwa in folgender Hinsicht: Freud zufolge kündet Panik von einem Auflassen der libidinösen Bindung an die Masse (vgl. Freud 1912d; vgl. II.4), welches Adorno und Eisler in Verbindung bringen mit der – zum Versprechen symbiotischer Verschmelzung in der Masse gegenläufigen – Vorstellung, dass einem „etwas passieren kann, auch wenn man ‚viele‘ ist“ (Adorno 1969b, S. 75, Fn. 11; s.o.). Unverfügbares taucht in bedrohlicher Weise auf: als unbestimmtes Gefühl des Ausgeliefert-Seins der Einzelnen in und trotz der Masse, in der die Subjekte zum Publikum ‚zusammengebunden‘ sind. Diese – hier von Adorno und Eisler spezifisch auf das Stummfilmkino bezogene – Erfahrung beinhaltet meiner Interpretation zufolge (vgl. II.4) diejenige eines unheimlichen Auftauchens von Nicht-Integrierbarem im kulturindustriellen Prozess der Amalgamierung, der auch eine Art des Verfügens über heterogene Elemente beschreibt (z.B. der Verschmirgelung von Ton und Bild; vgl. II.4). Gemäß einer Wiederkehr des Verdrängten, welche im Unheimlichen am Werke ist (vgl. Freud 1919h), scheinen demnach in Momenten des Unheimlichen unverfügbare Abfälle, Reste dieses – als Übersetzungsprozess verstandenen – Vorgangs auf. In vergleichbarem Sinne interpretiert nun Adorno auch den Durkheimschen Begriff (auf den Bublitz – wie gesehen – ihr Konzept stützt): Der fait social ist Adorno zufolge theoretischer Niederschlag von Nicht-Integrierbarem, Nicht-Übersetzbarem; dessen, was in Adornos Terminologie als Nicht-Identisches bezeichnet ist (vgl. Einführung). Dieses ist weder charaktertisiert als ‚authentische‘ Substanz noch als alleiniges Resultat sozialer Machtwirkungen – es ist vielmehr situiert im Bereich der Negativität, auf den sich die Kritische Theorie Adornos, wie nun abschließend skizziert werden soll, in spezifischer Weise bezieht. Es ist dieser Bereich, der von kulturpessimistischen Lesarten übersprungen wird und hiermit wird m.E. das kritische Potential weiterführender Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Kulturindustrie verschenkt. Ungreif bare Verhältnisse Durkheims Auffassung, das Wesen des Sozialen bestehe in dessen Undurchdringlichkeit, stellt einen zentralen Ausgangspunkt für Adornos Auseinander16 | „Wenn die Moderne als Krise verstanden werden kann, in deren Zentrum der Konflikt zwischen konstruktiv-schöpferischen Kräften, des ihnen immanenten Begehrens auf der einen und sie übergreifenden Ordnungsmächten auf der anderen Seite steht, kann Massenkultur als Chiffre der Moderne gelesen werden, die in den Kern dieses Konflikts vorstößt“ (Bublitz 2005, S. 151).

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setzung mit dessen Konzeption dar. Situiert Durkheim das Soziale als einen „von der Psychologie [a]bgegrenzten“ (Adorno 1967, S. 258) Bereich, so interessiert Adorno hieran insbesondere die Annahme der Vorgängigkeit gesellschaftlicher Prozesse den Einzelnen gegenüber. Aus Adornos Sicht zeigt sich in diesem, von Durkheims Begriff festgehaltenen, Tatbestand „die Irrationalität der spezifischen faits sociaux, das, was ihre Übersetzung in subjektives Denken, schließlich auch ihre vernunftgemäße Zueignung verwehrt“ (ebd.). Insofern sei Durkheims Konzeption „realitätsgerecht“ (ebd., S. 278). Diese fange den Charakter der Verselbständigung der gesellschaftlichen Prozesse gegenüber den einzelnen Subjekten ein und damit „die Naturwüchsigkeit, die in der Gesellschaft trotz deren ansteigender Rationalität sich erhalten hat“ (ebd.). In dieser Hinsicht gehe „Durkheims Begriff der sozialen Tatsache und ihres dinghaften Charakters […] auf seine eigene Erfahrung von der Gesellschaft zurück“ (ebd., S. 248). Der Begriff treffe insofern die Beschaffenheit kapitalistischer Gesellschaft als Totalität, als sie etwas ‚Faktisches‘ an sich habe (vgl. ebd.). Somit gäbe Durkheims Theorie Einsicht in die Wirkmächtigkeit des „übermächtige[n], jeglicher subjektiv verstehenden Einfühlung entzogene[n] soziale[n] Zwang[s]“ (ebd., S. 250). Hierauf rekurriert auch Bublitz, wenn sie der in und durch Massenkultur wirksamen Macht ‚Ungreif barkeit‘ attestiert (vgl. Bublitz 2005, S. 151; s.o.). Grenzen des Verstehbaren Die von Durkheim auf den Begriff des fait social gebrachte gesellschaftliche Erfahrung der „Verselbständigung des Sozialen“ werde jedoch, so lautet Adornos Kritik, von diesem „in eben der Unmittelbarkeit“ registriert, „in der sie dem deskriptiven Beobachter erscheint“ (Adorno 1967, S. 253). Unhinterfragt und „einseitig“ erkläre Durkheim das objektive „Moment von Unauflöslichkeit […] zum Wesen des Sozialen schlechthin“ (ders. 1969c, S. 292f.), wenn er „die Undurchsichtigkeit und schmerzhafte Fremdheit des Sozialen für den einzelnen, in die methodische Maxime: du sollst nicht verstehen“ (ders. 1965b, S. 240) überführe. Durkheims Bestimmung sozialer Tatsache als etwas, „was vom Individuum schlechterdings nicht absorbiert werden kann, inkommensurabel und undurchdringlich“ (ders. 1967, S. 250), verdoppele den Charakter von „Gesellschaft als Schicksal“ (ders. 1965b, S. 240); kurz: sie erscheint als „fortdauernde[r] Mythos“ (ebd.).17 Gesellschaft ist – wie Adorno in anderem Zusammenhang festhält – beides: „verstehbar und unverstehbar in eins“ (ders. 1969c, S. 295; vgl. Einführung). Was an Unverstehbarem des gesellschaftlichen Prozesses in Gestalt des von Durkheim formulierten Undurchdringlichen, Unverfügbaren durchschimmert, bezeichnet Adorno als „ein wesentlich Negatives, mit seinem eigenen Zweck, der Erhaltung und Befriedigung der Menschheit Unvereinbares“ (ebd., S. 308f.; Herv. S.W.). Das 17 | Da sich Adornos Annahme nach in diesem die Erfahrung der realen Verselbständigung der Verhältnisse sedimentiert, verhandelt er Durkheims Konzeption also nicht als ein Missverständnis. Der Mythos wird vielmehr als Symptom dechiffriert.

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Fehlen diesen Zwecks entleere den Begriff der Gesellschaft, er würde „sinnleer“ (ebd., S. 309). „Der strikt deterministische Charakter der ökonomischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft“, welcher über den Köpfen der Subjekte ablaufe, erhält – wird er theoretisch zur Notwendigkeit erhoben – den Charakter des Zufälligen (ders. 1966a, S. 339f., Fn.). Auf die Kategorie des Zufälligen ist die in neueren kulturtheoretischen Diskussionen betonte „Unverfügbar-Ereignishafte[n]“ des Diskursiven (Bublitz 2006, S. 1805) bezogen. „Kontingenz“, so Adorno, ist „nicht nur die Gestalt des von Kausalität verschandelten Nichtidentischen; sie koinzidiert selber auch mit dem Identitätsprinzip“ (Adorno 1966a, S. 339). Für ein solches „reziproke[s] aufeinander Verwiesensein antagonistischer Momente“ habe Durkheim „das Organ“ gefehlt (ders. 1965b, S. 240). Im Auseinanderklaffen von Verfügbarem und Unverfügbarem, Zwangsläufigkeit und Kontingenz, Subjekt und Objekt – so lässt sich Adornos Kritik an dieser Stelle verstehen – bildet sich in Durkheims Begriff des fait social ab, was von ihm auch als „Vorrang des Objekts“ (ders. 1966a, S. 185ff.) bezeichnet wird. Vorrang des Objekts Der Vorrang des Objekts hat – so lässt sich Adorno verstehen – in Durkheims Kategorien seinen Abdruck hinterlassen, ohne als Spur gedeutet worden zu sein. Während Durkheim gesellschaftliche Totalität mit einem nicht weiter interpretierbaren Faktum identifiziert, besteht Adorno demgegenüber auf einer Lücke, wenn er konstatiert: Die „Interpretation der Fakten geleitet zur Totalität, ohne daß diese selbst Faktum wäre“ (ders. 1969c, S. 292). Die Totalität nicht als unhintergehbar gegeben hinnehmen, das meint der Satz: Totalität „ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie“ (ebd.). In der Lücke zwischen Faktizität und Totalität bewegt sich demzufolge Deutung, mit der – gleich einem Scharnier – „Begrifflichkeiten dem Nicht-Identischen zugekehrt werden können“ (ders. 1966a, S. 24; vgl. Einführung). Deutung bewegt sich hierin gegenläufig zu der gesellschaftlichen Tendenz, Vermittlungskategorien einzuziehen (was ich auch als Charakteristikum der kulturindustriellen Amalgamierungstendenz anhand des Verhältnisses von Ton und Bild skizziert habe; vgl. II.4).18 Die Aufgabe Kritischer Theorie bestehe darin, diesen Vorgang „zurückzuübersetzen“ (Adorno 1966a, S. 22).19 Das Unvermittelte, welches Adorno auf die Vorgängigkeit des Sozialen 18 | „Daß die Gesellschaft dazu tendiert, Vermittlungskategorien zu kassieren und durchs unmittelbare Diktat Identität zu erpressen, entbindet die theoretische Reflexion nicht von der Frage nach der Vermittlung zwischen den Daten und dem Gesetz.“ (Adorno 1965b, S. 240) 19 | Adornos Formulierung des Vorrangs des Objekts betrifft die dabei eingenommene ‚Blickrichtung‘ Kritischer Theorie auf das wechselseitige Verhältnis von Subjekt und Objekt. Wie Berger unterstreicht, wird dieses – in kritischer Wendung u.a. gegen Hegel – „nicht aus der Perspektive der Subjektivität, sondern aus der Perspektive der Objektivität“ (Berger 2013, S. 322) betrachtet. Wobei, wie Berger anmerkt, die primäre Stellung des Ob-

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in Durkheims Konzeption bezieht, wird hier zum „aufzudröselnd[en]“ (Härtel 2014b, S. 10 in anderem Zusammenhang; vgl. Einführung) Gegenstand. Deutung als „Prozeß des Aufdröselns“ (Adorno 1965/66, S. 96) ist dabei situiert in einem Zwischenraum. Angesichts der in Bublitz Kritik‘ an den Kulturindustriethesen enthaltenen Alternative zwischen vorgesellschaftlichem Bereich und der Sphäre des sozial Hervorgebrachten lautet nun die relevante Frage, in welche Richtung diese ‚Zurückübersetzung‘ (Adorno 1966a, S. 22; s.o.) durch die Kritische Theorie erfolgt. Gemäß Bublitz müsste bei der Gesellschaft als einer Objektivität landen, welche – im Sinne totaler Integration (vgl. Einführung; II.1; II.4) – die Subjekte vollständig aufgezehrt hätte; wobei ein gesellschaftlichen Machtmechanismen vorgängiges ‚authentisches Subjekt‘ unterstellt wäre. Dies ist m.E. nicht der Fall. Hiermit hängt auch zusammen, dass sich Adornos Bestimmungen des Unverfügbaren im Verhältnis von Subjekt und Objekt, wie ich sie meiner Lesart der Kulturindustrie zugrunde lege, in einem wesentlichen Aspekt von Bublitz kulturtheoretischer Konzeption unterscheiden. Die Zurückübersetzung setzt hier an der zum Wesen des Sozialen erklärten „Eigenständigkeit gesellschaftlicher Tendenzen“ (ebd. 1967, S. 246) an, welche bei Durkheim den Status eines nicht weiter Ableitbaren, den Subjekten abstrakt Gegenüberstehendes, Unvermitteltes haben. „Unmittelbarkeit“ aber ist, wie Adorno in anderem Zusammenhang festhält, „keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende“ (Adorno 1966a, S. 174). Im Auftritt von Unvermitteltem macht sich am Objekt dem Subjekt Inkommensurablen geltend – worauf im Übrigen auch das Überschüssige des Spiels und das Uneindeutige unheimlicher Phänomene verweisen: „Was am Objekt dessen vom Denken ihm auferlegte Bestimmungen übersteigt, kehrt es dem Subjekt erst einmal als Unmittelbares zu“ (Adorno 1966a, S. 49). Um dies Unmittelbare zurückzuübersetzen bedürfe es einer „Wendung zum Subjekt“ (ders. 1969d, S. 746). Zielt diese Wendung nun, wie kulturpessimistische Lesarten annehmen, auf ein der gesellschaftlichen Vermittlung Vorhergehendes? Hat das Subjekt hier den Rang einer vorgesellschaftlichen, unmittelbar gegebenen Substanz, die von der gesellschaftlichen Vermittlung aufgezehrt zu werden droht? Die auf den Vorrang des Objekts bezogene Deutung weist in eine andere Richtung. Zwar habe Durkheim erkannt, dass das Individuum eine „soziale Kategorie“ – nicht als solches unmittelbar gegeben, sondern „durch Gesellschaft vermitjekts, als eine historisch spezifische aufgefasst wird. Wie sie in diesem Zusammenhang betont, ist dabei „die jeweilige Gewichtung dieses Verhältnisses selbst nicht unabhängig vom geschichtlichen Kontext zu verstehen ist. Die Frage, welches Moment des Wechselverhältnisses von Subjekt und Objekt betont und welchem der Primat zugesprochen wird, sei selbst aus der besonderen gesellschaftlichen Situation heraus zu begreifen“ (Berger 2013, S. 322).

Zum Abschluss

telt“ (ders. 1967, S. 251)20 – ist, jedoch fehle eine entscheidende Rückwendung: „Daß aber diese Vermittlung wiederum auch des Vermittelten bedarf; daß die kollektiven Gebilde ohne individuellen Gegenpol so wenig wären wie dieser ohne gesellschaftlich Allgemeines, verleugnet er [Durkheim] krampfhaft.“ (Ebd.) Mit der Wendung zum Subjekt wäre, wie Berger formuliert, das Objekt „durch die Kritik des Identitätsanspruches des Denkens hindurch kritisch zu denken, also nicht subjektlos, sondern durch das Subjekt hindurch in seiner Eigenständigkeit zu erfassen, so dass zugleich dessen Tendenzen gegen die Identität des Subjekts erscheinen. Objekt ist nach Adorno das Nichtidentische, das durch den Identitätszwang des Subjekts hindurch in seiner Nichtidentität zu erfassen wäre.“ (Berger 2013, S. 323) „Strenggenommen“, so Adorno, „hieße Vorrang des Objekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Gegenüberstehendes nicht gibt, daß es aber als solches notwendig erscheint“ (Ders. 1969d, S. 754) und was es gilt, qua Wendung zum Subjekt zurückzuübersetzen. „Das, was vom Subjekt nicht vorab reflexiv identifiziert werden kann, erweist sich so gerade durch konsequente Reflexion als ein Vorrangiges.“ (Berger 2013, S. 323) Was sich in der Erfahrung des Vorrangs des Objekts als ein der Erfahrung Entzogenes geltend macht ist „Index der Nichtidentität von Individuum und Gesellschaft“, dafür „daß Gesellschaft eine vorausgesetzte Struktur ist“ (Kirchhoff 2004, S. 3). Die Bewegung der Reflexion des Vorrangs des Objekts beschreibt eine – der Idee totaler Integration gegenläufige – Bewegung der Öffnung auf das Nicht-Identische im Verhältnis von Subjekt und Objekt (vgl. Einführung; II.1). Die darin involvierte Wendung zum Subjekt besteht nicht darin, das Subjekt „aus den gesellschaftlichen Prozessen herauszuschneiden, um dann deren formenden Einfluß“ (Adorno 1952, S. 27) als ‚Verformung‘ einer authentischen Substanz zu beschreiben: „Ebensowenig“ es „strenggenommen“ den Vorrang des Objekts gibt, „‚gibt‘ es eigentlich Subjekt“ (ders. 1969d, S. 754). Deutung richtet sich – und hierin besteht m.E. ein blinder Fleck kulturpessimistischer Lesarten – dabei Wesentlich auf ein Noch nicht: Auf das, was sich in der Gegenwart als bisher Uneingelöstes geltend macht. Diese möchte „retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet“ (ders. 1969c, S. 292). Zurückübersetzung führt demnach zu etwas Noch-Nicht-Seiendem im Verhältnis von Objekt und Subjekt: „Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommuni-

20 | So hält Adorno auch im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit VertrerInnen der sogenannten revisionsitischen Psychoanalyse fest, „daß nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität ein Produkt der Gesellschaft ist“ (Adorno 1952, S. 27; vgl. dazu auch Bublitz 2005, S. 97ff.).

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kation des Unterschiedenen. […] Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.“ (ders. 1969d, S. 743) Eine Doppeldeutigkeit des Objekts entnimmt Adorno der Marxschen Kritik: „In Marx bereits spricht die Differenz zwischen dem Vorrang des Objekts als einem kritisch Herzustellenden und seiner Fratze im Bestehenden, seiner Verzerrung durch den Warencharakter sich aus.“ (ders. 1966a, S. 190) Der Vorrang des Objekts bezeichnet einmal die „Vormacht von Ökonomie“ in der gegenwärtigen Gesellschaft (ebd.) und ein zukünftig, durch Veränderung der Verhältnisse zu Verwirklichendes: Ein „bessere[r] Zustand […], in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ (ders. 1951a, S. 114)

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Symptome der Kulturindustrie

Voller, Christian

Vogel, Marc

Voss, Christiane Waldenfels, Bernhard

Wallon, Henri Wallon, Henri

Wallon, Henri

Wallon, Henri

Wallon, Henri

Wallon, Henri

2012 Im Zeitalter der Technik? Technikfetisch und Postfaschismus. In: Elbe, Ingo/Sven Ellmers/Jan Eufinger (Hrsg.): Anonyme Herrschaft – Zur Struktur moderner Machtverhältnisse. Eigentum – Gesellschaftsvertrag – Staat III. Münster 2012, S. 249-279. 2012 Durch Technik gutzumachen, was Technik frevelte – Zur Polyvalenz der „Technik“ bei Theodor W. Adorno. Würzburg. 2013 Der Leihkörper – Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München. 2004 Der verführerische Andere. In: Bayer, Lothar/Ilka Quindeau (Hrsg.): Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches. Gießen 2004, S. 205-224. 1950 Die psychische Entwicklung des Kindes. Berlin. 1984a Psychology and Dialectical Materialism. In: Voyat, Gilbert (Hrsg.): The World of Henri Wallon. New York; London 1984, S. 241-246. 1984b  The Psychological and Sociological Study of the Child. In: Voyat, Gilbert (Hrsg.): The World of Henri Wallon. New York; London 1984, S. 205-223. 1984c The Role of the Other in the Consciousness of the Ego. In: Voyat, Gilbert (Hrsg.): The World of Henri Wallon. New York; London 1984, S. 91-103 2003a Über einige psycho-physiologische Probleme, die das Kino aufwirft [1947]. In: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Nr. 12/1, 2003, S. 94-98. 2003b Das Kind und der Film [1951]. In: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Nr. 12/1, 2003, S. 99-109.

Waniek, Eva/Erik M. Vogt (Hrsg.) 2008 Derrida und Adorno – Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule. Wien. Warsitz, Rolf-Peter 2006 „Ein Zeichen sind wir, deutungslos…“ Die psychoanalytische Erfahrung zwischen den Methodologien der Wissenschaften. In: Löchel, Elfriede/Insa Härtel (Hrsg.): Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft. Göttingen 2006, S. 30-63. Weber, Max 1988 Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1905]. Tübingen, S. 1-206.

Literatur verzeichnis

Weber, Samuel

1981 Das Unheimliche als Struktur – Freud, Hoffmann, Villiers de l’Isle-Adam. In: Kahane, Claire (Hrsg.): Psychoanalyse und das Unheimliche. Essays aus der amerikanischen Literaturkritik. Bonn 1981, S. 122-147. Weber, Samuel 2000 Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse. Wien. Weinzierl, Rupert 2000 Fight the Power! Eine Geheimgeschichte der Popkultur & die Formierung neuer Substreams. Wien. Wellmer, Albrecht 1993 Endspiele: Die unversöhnliche Moderne – Essays und Vorträge. Frankfurt/Main. Whitebook, Joel 2009 Der gefesselte Odysseus – Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse. Frankfurt/Main; New York. Wiesing, Lambert 2006 Von der defekten Illusion zum perfekten Phantom. Über phänomenologische Bildtheorien. In: Koch, Gertrud/Christiane Voss (Hrsg.): ... kraft der Illusion. München 2006, S. 89-101. Wiggershaus, Rolf 1987 Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München. Winkler, Hartmut 1992  Der filmische Raum: ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘. Heidelberg. Winkler, Hartmut 2003 Flogging a dead horse? Zum Begriff der Ideologie in der Apparatusdebatte bei Bolz und bei Kittler. In: Riesinger, Robert F. (Hrsg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster 2003, S. 217-235. Winnicott, 1973 Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart. Donald W. Witte, Sonja 2009 Das unheimlich Verführerische der Kulturindustrie – Von der Wahrheit der Suggestion und dem Glück manipuliert zu sein. In: Projektgruppe Nationalismuskritik (Hrsg.): Irrsinn der Normalität – Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus. Münster 2009, S. 230-250. Witte, Sonja 2011  Geld gegen Strich – Über die Kunst der Ware, scheinbar keine zu sein. In: Decker, Oliver/Christoph Türcke/Tobias Grave (Hrsg.): Geld – Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. Gießen 2011, S. 173-190 Witte, Sonja 2013 Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker im Kino. Eine Interpretation zeitgenössischer Massenkulturtheorie. In: Härtel,

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Symptome der Kulturindustrie

Witte, Sonja

Witte, Sonja

Witte, Sonja

Wittgenstein, Ludwig Wolf, Werner

Wussow, Philipp von Zepf, Siegfried

Zeul, Mechthild

Zupančič, Alenka

Insa/Anna Tuschling/Sonja Witte et al. (Hrsg.): Orte des Denkens – mediale Räume. Psychoanalytische Erkundungen. Göttingen 2013, S. 81-93. 2014 Kiss and stop and kiss and kiss and stop and kiss … Über eine eigentümliche Maßlosigkeit im Denken (anlässlich von Tseng Yu-Chin: „Who’s listening? No. 5“ 2003-2004). In: Härtel, Insa: Kinder der Erregung. „Übergriffe“ und „Objekte“ in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher-Sexualität (unter Mitarbeit von Sonja Witte). Bielefeld, S. 283-308. 2017a  In Liebe gebor(g)en: Heilsversprechen der Resonanz als Symptom für das Unbehagen in der Kultur – Psychoanalytisch-kulturtheoretische Anmerkungen zu Hartmut Rosas Soziologie der Weltbeziehungen. In: Peters, Christian Helge/Peter Schulz (Hrsg.): Resonanzen und Dissonanzen – Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld 2017, S. 291-307. 2017b Zum Unheimlichen von Baudrys Begriff des filmischen Realitätseindrucks. In: ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 17, 2017, S. 31-40. 1977 Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main. 1999  Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischen illusionsstörenden Erzählungen. Tübingen. 2007 Logik der Deutung – Adorno und die Philosophie. Würzburg. 2012 Einige Gedanken über Rationalisierung und Intellektualisierung. In: Forum der Psychoanalyse, 28/1, 2012, S. 51–66. 2007  Einführende Überlegungen zur Erstellung einer psychoanalytischen Filmtheorie. In: Zwiebel, Ralf/ Annegret Mahler-Bungers (Hrsg.): Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films. Göttingen 2007, S. 38-60. 2009  Warum Psychoanalyse? Drei Interventionen. Zürich; Berlin.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Santiago Sierra (2000) Herausgerissene Mauer einer Galerie, gestützt von 5 Personen in einem Neigungswinkel von 60 Grad zum Boden [THE WALL OF A GALLERY PULLED OUT, INCLINED 60 DEGREES FROM THE GROUND AND SUSTAINED BY 5 PEOPLE Acceso A. Mexico City, Mexico. April 2000]; abgebildet in: Eckhardt Schneider (Hrsg.)/Santiago Sierra: 300 tons and previous works [published on the occasion of the Exhibition „Santiago Sierra, 300 Tons“, April 3 to May 23, 2004, Kunsthaus Bregenz]. Köln 2004, S. 113. Abbildung 2 Donald Judd (1962) Untitled 1962 Kadmiuimrote Ölfarbe auf Holz mit Eisenrohr 121,5 x 83,5 x 55,5 DSS 33 Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum; abgebildet in David Raskin: Donald Judd. New Haven/London2010, S. 171. Abbildungen 3-4 Santiago Sierra (2000) 160 cm lange Linie auf vier Personen tätowiert [160 CM LINE TATTOOED ON 4 PEOPLE El Gallo Contemporáneo. Salamaca, Spain. December 2000] (2000, Santiago Sierra); abgebildet in: Eckhardt Schneider (Hrsg.)/Santiago Sierra: 300 tons and previous works. Köln 2004, S. 94. Abbildung 5 Fotomaterial von Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen: Material für die Nachkriegszeit. Dokumente aus dem Fotomaton-Automaten, BRD 1979-81, Super-8, 25 Min., gekürzte Fassung 9 Min.; abgebildet in: Marie Arleth Skov: Fiction and Reality in the Work of the Artists’ Group Die Tödliche Doris. In: Own Reality, Nr. 9, 2015; online: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/ ownreality/9/skov-en; zuletzt gesehen 28.5.2017. Abbildungen 6-9 Screenshots aus Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen: Der Fotomatonreparateur, BRD 1982, Super-8, 2 Min.; gefunden unter: https://www.youtube. com/watch?v=M-6bKjCNlDo; zuletzt gesehen 25.8.2017.

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Symptome der Kulturindustrie

Abbildungen 10-12 Screenshots aus Die Fabelhafte Welt Der Amélie (F/D 2001; DVD, 117 Min., Universal Studio & Prokino 2002).

Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)

Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

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Medienwissenschaft Thilo Hagendorff

Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3

Carolin Wiedemann

Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2

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