Alumnats-Erinnerungen eines alten Lateiners: Zu Franckes Stiftungen (1867–75) [Reprint 2019 ed.] 9783486742367, 9783486742350


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German Pages 86 [88] Year 1913

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Table of contents :
Alumnatserinnerungen. Von einem alten Lateiner
I. Noviz
II. Pudel
IV. Senior
V. Vivat mulus
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Alumnats-Erinnerungen eines alten Lateiners: Zu Franckes Stiftungen (1867–75) [Reprint 2019 ed.]
 9783486742367, 9783486742350

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Zu franckes Stiftungen (($¿7-75)

Alumnats - Erinnerungen eines alten Lateiners

Berlin - München Druck und Verlag Don ß. Oldenbourg

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Sonderdruck aus der Zeitschrift: Das Alumnat, 1912.

Alumnatserinnerungen. Von einem alten Lateiner.

Das Leben gleicht einer Bergfahrt: die Aussichten, die es bietet, liegen immer hinter einem. J e weiter man kommt und je älter man wird, desto häufiger schaut man zurück, um sich zu erholen, um sein Leben zu verstehen, um sich Mut einzusprechen: »Na, noch ein Stückchen!« Und hat man das Reiseziel erreicht und das Ergebnis seines Lebens vor Augen und in Händen, so schweifen die Gedanken und machen Rast bei der Frage: von wo bist du ausgegangen? Die Wanderfahrt begann, als der Knabe das elterliche Haus verließ. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, und wer ihrer gedenkt, der wird's nicht immer mit Freuden tun, sondern oft mit Seufzen, besonders wenn sie gleichsam darauf angelegt gewesen waren, schon vom Knaben Anerkennung, wenn auch nicht Verständnis des »'0 v rivfroomtov, dt ro noveiv ad'Xiftnarov. TO eatovtos tflv rfiiaxov elvai o'iovxai, navrcov jojv ayad~oiv rayy nr ior\lt ra ö urr o L SrjXoi eOfiev. ov yc)n e-naoxeT ayad'ovs avSoas yeread'at' ovx eivat hvväfievoi (iiniontr, ¿av firj aei TOVTOV ¿TiifieXivfied'a, dXXa waneQ xai al aXXat T£%vai afieXov/ievai tpd'ivovatv, ovzco xai f j avSqeia / i f j aaxovfievt] eis SeiXiav rpanofievti Xavd'aveu



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in den wenigen Stunden a n k o m m e n ? D a ß wir ein korrektes Deutsch schreiben und sprechen lernten. In Q u a r t a begannen die Disponier- und Aufsatzübungen. Die Echtermeyersche G e d i c h t s a m m l u n g gab die Stoffe dazu her, daneben mochte wohl auch eine Übersetzung aus dem Nepos als Klassenarbeit gelten. Die vorzüglichsten Balladen von Goethe, Schiller, Bürger, Uhland, auch Geibels Tod des Tiberius wurden auswendig gelernt und — deklamiert. Da war denn die Geibelsche D i c h t u n g ein besonderes B r a v o u r s t ü c k , das der Dr. Goldmann mit Feuer und Leidenschaft in unübertrefflicher Weise vorzutragen wußte. In Obertertia gelangten wir zur Lektüre Schillerscher D r a m e n , die mit verteilten Rollen gelesen wurden ( J u n g f r a u von Orleans, Wilhelm Teil). Und hier gab den Unterricht sogar der Historiker Ewald, soweit ich mich erinnere, gar nicht übel. Die Schillerlektüre wurde in U n t e r s e k u n d a fortgesetzt. Da t h r o n t e auf dem K a t h e d e r in akademischer E r h a b e n h e i t der P r i v a t dozent und spätere Philologieprofessor Hense und interpretierte im reinsten Universitätsstil Schillersche Gedichte, ohne uns irgendwie durch Fragen teilnahmsvoll zu machen. Er a c h t e t e so wenig auf sein gelangweiltes Auditorium, d a ß mancher es ohne Gefährde vorziehen durfte, die Vorlesung zu schwänzen. In Obersekunda b e h a u p t e t e nun unser guter August F r a h n e r t , der Ordinarius von Obertertia, seinen Platz als Lehrer des Deutschen. Er n a h m ' s in seiner etwas pedantischen Art genau, und m a n k o n n t e immerhin etwas bei ihm profitieren. Seine Aufgabe war, uns mit dem „ T a m t a m " der Lautverschiebung b e k a n n t zu machen und der nibelunge not mit uns zu übersetzen. Weit kamen wir freilich nicht darin, da wöchentlich nur eine S t u n d e hierfür zur Verfügung s t a n d ; die andere war f ü r A u f s a t z k o r r e k t u r , f ü r freie Vorträge, mittelhochdeutsche G r a m m a t i k und L i t t e r a t u r b e s t i m m t . In dieser Klasse sowohl als auch in U n t e r p r i m a fielen poetische Versuche unter die allmonatlich zu liefernden deutschen Arbeiten. W a r e n es in Obersekunda freiere T h e m a t a in vorgeschriebenem Versmaö (entweder Distichen oder Nibelungenstrophe), so in Unterprima Nachbildungen Horazischer Oden. Einmal h a t t e n wir bei F r a h n e r t das T h e m a : Regulus in Nibelungenstrophe zu behandeln. Ich erlaubte mir, daraus ein tragikomisches Epos, beinahe eine Blumauersche Travestie, zu bauen, und es war bezeichnend f ü r den pedantischen Ernst des Mannes, daß er dfen Witz völlig ignorierte und die Arbeit mit gleicher Sorgfalt u n t e r Ankreidung auffälliger Anachronismen und unpoetischer W e n d u n g e n durchsprach. In U n t e r p r i m a h a t t e Alexander Weiske den deutschen U n t e r r i c h t . Seine T h e a m t a e n t n a h m er meistens aus Homer und ging so H a n d in H a n d mit Muff, der die Ilias fast auswendig w u ß t e und am liebsten von uns das gleiche verlangt h ä t t e . Die Litteraturgeschichte von Luther bis Klopstock t r u g uns Weiske ziemlich breit und eingehend vor, nicht in schwungvoller Schönrednerei, sondern nüchtern kritisch in einfachem Argumentiertone. Er liebte ü b e r h a u p t volkstümliche Rede und flocht nicht selten in seinen Unterricht allgemeine Betrachtungen über die Welt der Dinge und Menschen ein, die f ü r uns recht



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belehrend waren. Von Temperament war er vielleicht Choleriker, entsprechend seiner untersetzten, etwas beleibten Statur mit dem runden kurzgeschorenen und glattrasierten Haupte. Wehe dem armen Sünder, der ihn gereizt hatte! Er mußte die Schalen des unbarmherzigsten Sarkasmus und schneidenster Ironie über sich ausgießen lassen. Wobei Alexander aber immer sachlich blieb, zwar Urteilslosigkeit und Willensschwäche geißelte, das Empfindungsleben jedoch unangetastet ließ. Kostbar waren bisweilen seine Kritiken der freien litteraturgeschichtlichen Vorträge, die wir über selbstgewählte Themata zu halten hatten. Da legte sich einmal einer ins Geschirr für den großen Poeten Peter Uz und erhob seine Dichtkunst in den siebenten Himmel. Aber gar schmählich war die Niederlage, die ihm Alexander bereitete, und der entnüchterte Panegyrist hatte Ursache im Stillen mit seinem Helden Uz zu sägen: „Doch mein Gesang wagt allzuviel. 0 Muse, fleuch zu diesen Zeiten Alkäens krieg'risch Saitenspiel, Das die Tyrannen schalt, und scherz auf sanftem Saiten!" Anderer Art war die Fortsetzung des litteraturgeschichtlichen Unterrichte bei Muff in Oberprima. Ihm war aufgetragen, uns mit dem Leben und den Schriften der Klassiker Lessing, Schiller und Goethe bekannt zu machen. Das geschah denn mit echt Muffscher Begeisterung; denn hier war alles gut und schön und keinerlei Kritik am Platze. In seiner Überschätzung Lessings aber verweilte er zu lange bei ihm, so daß wir in Beziehung auf Goethe schließlich etwas zu kurz kamen und gar nicht an den Faust gelangten. Gut war Muffs Interpretation des Lessingschen Laokoon. Bei dieser Gelegenheit dämmerte uns zuerst etwas von Kunstverständnis. Im deutschen Aufsatz ließ er uns immer die Wahl zwischen einem litterarischen und einem freien Thema. Dieses war das bequemere (denn es erforderte bloß Nachdenken und keine besonderen Studien), seine Bearbeitung wohl auch für Muff die erwünschtere, weil die Korrektur leichter war und keine sachlichen Auseinandersetzungen nötig. Ich glaube indes, daß, wenn man uns Gelegenheit geboten hätte zu selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten, wir mit Leichtigkeit ähnliche Sachen prästiert hätten, wie sie das Frankfurter Goethegymnasium auf der Brüsseler Weltausstellung ausgelegt hatte. Man gewinnt aus dem Gesagten vielleicht den Eindruck, als ob es mit dem deutschen Unterrichte auf der Latina nicht besonders gut bestellt gewesen sei. Darum sei noch hinzugefügt, daß dem deutschen Aufsatz doch noch größere Wichtigkeit beigemessen wurde als dem lateinischen. Ein „Ungenügend" schloß hier unbedingt von der Versetzung aus und hatte beim Abiturientenexamen unter Umständen Zurückweisung zur Folge. Ich habe auch schon früher hervorgehoben, daß der lateinische Aufsatz auch dem Deutschen zugute kam; wir lernten sehr genau zwischen lateinischem und deutschem Stil unter-

— 74 — scheiden und gewöhnten uns hier wie dort, den Ausdruck abzuwägen, bei der W a h l der W o r t e und Bilder gegenständlich zu denken. Demnach glaube ich sagen zu dürfen, d a ß wir im schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache wohlgeübt waren. 1 ) Viktor Blüthgen mag das bestätigen. Man wird stutzen, wenn ich sage, d a ß auch der M a t h e m a t i k u n t e r r i c h t in der Latina der deutschen Sprache zugute k a m . Ich habe schon erzählt, daß es mit dieser Disziplin in Q u a r t a und Tertia schlecht bestellt war. Zur Zeit des „ M a t h e s " Weber herrschte wohl die Anschauung, d a ß die Mathematik besondere Veranlagung des Geistes voraussetze. So lief dies Fach vorschriftsmäßig neben den anderen her, und Weber förderte die „Vera n l a g t e n " sogar bis in die analytische Geometrie, die übrigen logen sich so durch. Das ä n d e r t e sich, als nach des „ M a t h e s " Tode im J a h r e 1871 H a h n e m a n n die Leitung des m a t h e m a t i s c h e n Unterrichts ü b e r n a h m . Er stand damals im Alter von 36 J a h r e n und wäre wohl berufen gewesen, noch j a h r z e h n t e lang sein ganz ungewöhnliches ausgezeichnetes Lehrtalent der Latina zu widmen, wenn ihn nicht körperliche Schwäche schon im 43. Lebensjahr zur Aufgebung des Amtes gezwungen h ä t t e . H a h n e m a n n b e w ä h r t e sich als R e f o r m a t o r des m a t h e m a t i s c h e n Unterrichts an der Latina, er vindizierte ihm eine ganz bes t i m m t e und notwendige Stellung innerhalb der Gymnasialbildung, so d a ß die M a t h e m a t i k nicht m e h r als etwas Fremdartiges, sondern als ein organisch d a m i t Verbundenes b e t r a c h t e t wurde. Indem er den Zweck des m a t h e m a t i schen Unterrichts genau im Auge behielt, b e s t i m m t e er auch das Ziel und den U m f a n g des Pensums auf ein f ü r alle erreichbares Maß und widerlegte die Beh a u p t u n g von angeborener Unfähigkeit m a t h e m a t i s c h e n Begriffsvermögens im W o r t und in der T a t . Er h a t gleich nach dem A n t r i t t seines L e h r a m t s eine vorzügliche A b h a n d l u n g über den m a t h e m a t i s c h e n , namentlich geometrischen Unterricht auf Gymnasien im P r o g r a m m der Lat. H a u p t s c h u l e von 1872 geschrieben, die es noch immer verdient, von jungen M a t h e m a t i k l e h r e r n und Lehrbücherautoren, so in den Pfaden der „ I m u k " wandeln und im F u n k t i o n s begriff ein H e p h a t a entdeckt haben, studiert zu werden. In der Beschränkung zeigte sich hier der Meister. Intensität, nicht E x t e n s i t ä t des M a t h e m a t i k u n t e r richts hielt H a h n e m a n n f ü r die Aufgabe der Gymnasien. N u r das sei dem l ) Heute ist mit den sog. kleinen Ausarbeitungen das Deutsche in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt, der lateinische Aufsatz gefallen; ob nun noch dasselbe oder gar Besseres geleistet wird als früher? Ich sah zufälligerweise neulich zwei deutsche Klassenarbeiten von Berliner Oberprimanern, die demnächst die Abgangsprüfung machen wollen. In vier Stunden hatten die Jünglinge etwa vier halbe Bogenseiten weitläufig beschrieben im leichten erzählenden Stil über einen Stoff, der keinerlei Kopfzerbrechen machte, sondern aus dem Unterrichte entnommen war. Die Leistung war in beiden Fällen ziemlich kläglich. Die Disposition unlogisch, Satzverbindungen und Übergänge zum Teil hilflos kindlich, der Ausdruck ungelenk. Das war keine Oberprimanerleistung der alten Zeit. — Heute wird auch deutsche Grammatik gepaukt, mit der lateinischen Terminologie sogar in den Mädchenschulen: soll dadurch Deutsch gelernt werden — oder ist die deutsche Stunde gut genug, um auf den fremdsprachlichen Unterricht vorzubereiten?

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Pensum einzuverleiben, woraus für die geistige Bildung der Schülermasse möglichst viel Vorteil ersprieße. Er beschränkte sich also auf Planimetrie und Stereometrie, auf Arithmetik und Algebra bis zu den Gleichungen zweiten Grades mit mehreren Unbekannten und Trigonometrie, auf eine eindringliche Behandlung dieses — wie er mit Recht annahm — allen zugänglichen Stoffes. Hahnemann beantwortete sich aber auch die Frage nach dem pädagogischen Wert der Schulmathematik und erkannte den in doppelter Hinsicht: erstens in der Bildung des Verstandes, des logischen Schlußvermögens — die Lösung geometrischer Aufgaben hielt er geradezu für einen praktischen Kursus der Logik — und zweitens in der Bildung des wissenschaftlichen Sinnes. Ist dieser überhaupt eines der Hauptziele des Gymnasiums, so folgt daraus die Aufnahme der Mathematik unter seine Disziplinen. Denn der Form nach ist die Mathematik die vollendetste Wissenschaft und Vorbild der übrigen. Der Schüler lernt hier System, er umfaßt eine in bestimmter gesetzmäßiger Folge zusammenhangende und in sich begründete Reihe von Wahrheiten; er gewinnt ein Bild vom Aufbau der Wissenschaft. Man denke z. B. an die Trigonometrie, die auf dem einzigen Satze beruht von der Ersetzbarkeit der Dreieckswinkel durch das Verhältnis der Dreiecksseiten. Die Anschauung eines solchen geschlossenen Systems regt aber auch an und befriedigt den ästhetischen Sinn, und die intellektuelle Durchdringung und Beherrschung desselben gibt die Gewißheit des Könnens, stärkt den Willen und regt zu eigenem Schaffen an. Und was das andere anlangt: die Bildung des Verstandes, so stellte Hahnemann die Mathematik auf eine Stufe mit der Grammatik, alle logischen Operationen werden in ihr geübt. Darum hielt er auch auf eine präzise Ausdrucksweise, das Wort mußte die Sache treffen. Man errichtet im Punkte A1 auf der Linie AB nicht e i n Lot, sondern d a s Lot; man zieht zu einer Geraden in einem gegebenen Abstände nicht d i e Parallele, sondern e i n e (weil eben zwei möglich sind); man schlägt nicht mit der gegebenen Strecke a einen Kreis um 0, sondern mit einem Radius = a usw. Unsere mathematischen Schulbücher wimmeln leider von Fehlern der Art. Sie sind darauf angelegt, mathematisches Wissen zu vermitteln, und lassen außer acht, daß der Zweck der Schulmathematik wesentlich die formale Geistesbildung ist. Ich hatte früher erzählt, daß wir in Quarta die Mathematik mit der Arithmetik begonnen und nichts kapiert hatten. Hahnemann schuf darin Wandel: er ließ mit der Planimetrie anfangen ihrer Anschaulichkeit wegen und weil am geeignetsten zur Ausbildung des Kombinations- und Schlußvermögens. Als wir nach Untersekunda in seine Hände gekommen waren, ergab sich für ihn die Nötigung, mit uns zunächst noch einmal einen vollständigen Kursus der Arithmetik durchzumachen. Vom Karnbly sah er dabei, wie überhaupt in seinem ganzen Unterricht, vollständig ab. Er trug den Stoff systematisch vor als einen wohlgegliederten Bau, dessen Teile ineinander verankert waren; denn er war kein Freund der genetischen Entwickelung, wo mit vielem

— 76 — Brimborium auf die Sache los und um sie herum geredet wird, im Geiste des Schülers aber mehr ein Chaos mathematischer Wahrheiten als ein System erzeugt wird. Diesen seinen Wandtafelvortrag schrieben wir nach und arbeiteten ihn zu Hause durch. Ich besitze diese Hefte noch und habe sie später selbst im Unterricht benutzt. So sah es also mit dem mathematischen Unterricht unter Hahnemann aus: durch intensive Behandlung eines beschränkten Stoffes erreichte er es, daß alle folgen konnten und daß die Mathematik ihre Stellung als integrierender Bestandteil der gymnasialen Bildung behauptete. So setzte er sie auch in das richtige Verhältnis zur klassischen Bildung, die historisch die wesentliche Grundlage der Gymnasialbildung war und — darf man das heute noch sagen? — bleiben wird. Hahnemann stammte aus Thüringen und sprach ein wenig in der Klangfarbe seiner Heimat. Er war wie Muff eine lange magere Gestalt, aber von ruhigen, abgemessenen Bewegungen, nicht wie jener lebhaft gestikulierend und im Sturmschritt ausschreitend. Muff, der Poet und Rhetor, Sophokles und Cicero, Hähnemann der reine Verstandesmensch, Pythagoräer und Stoiker — Gegensätze, die einander aufs glücklichste ergänzten, befreundet beide und beide die Säulen der Latina zu unsrer Zeit. Den Schülern gegenüber war Hahnemann von freundlich-ernstem Wesen, unerbittlich in seinen maßvollen Forderungen, aber gerecht und gütig, von Drückebergern wohl gefürchtet, aber von allen hochverehrt, von vielen geliebt. Gegen Täuschungsversuche reagierte er allerdings scharf: „Betrügereien fasse ich als persönliche Beleidigung auf; denn wer mich betrügen will, der hält mich für d u m m . " Muff war temperamentvoll und darum oft — ungerecht; er ging ins Extrem mit Haß und Liebe, in seinem Wesen steckte ein weiblicher Zug, und er konnte trotz seines hohen idealistischen Schwunges bisweilen kleinlich und gehässig handeln. Aber das war in seinen jungen J a h r e n : er gab sich ganz, wie er war, Lehrer mit Feuer und Flamme. Hätte er anders sein k ö n n e n , so wäre er anders g e w e s e n . Und wir nahmen ihn, wie er war, und verstanden sein Wesen aus uns selbst heraus und gingen mit ihm durch Feuer und Flamme. Hahnemann erteilte auch zeitweilig den Physikunterricht. Daß der gut war, brauche ich nicht zu versichern. Leider zwang ihn sein Gesundheitszustand zur Einschränkung seiner Lehrtätigkeit, und so übernahm denn der gute Finsch die Physik. Dem merkte man es wohl an, daß er theoretisch und auch historisch in der Physik zu Hause war, aber experimentieren konnte er nicht, und so lief denn sein Unterricht auf eine Paraphrase des Koppeschen Lehrbuches hinaus bei Vorzeigung der etwa vorhandenen physikalischen Apparate. Von seiner Gelehrsamkeit hat er eine Probe gegeben in der Programmabhandlung über die Geschichte der Magnetnadel 1879. Finsch erteilte auch n a t u r k u n d l i c h e n U n t e r r i c h t . Von diesem kann ich nur sagen, daß er zu damaliger Zeit der reine Spott war, weil es an einer brauchbaren Methode fehlte. Die landläufigen Schulbücher waren die von Leunis und Schil-

— 77 — ling, sie fanden sich vereinzelt in den Händen der Schüler. Demgemäß beschränkte sich der Unterricht auf die Beschreibung einzelner Pflanzen, Tiere und Mineralien, wofür nicht einmal zulängliche Sammlungen vorhanden waren. In Sexta und Quinta gab der Turnlehrer Höpfner diese zwei Wochenstunden. Dann setzte der Unterricht ein ganzes J a h r lang für Quarta aus, um in Untertertia bei Finsch von neuem zu den Anfängen zurückzukehren. Es waren das also rein verlorene Stunden, und unbegreiflich bleibt mir, aus welchem Grunde Wiese den Gymnasiallehrplan damit hat belasten können. Hätte es eine Methode gegeben, wären Umfang und Ziel dieses naturkundlichen Unterrichts bestimmt gewesen, so hätte sich wenigstens in der Botanik bei uns etwas daraus machen lassen, da die Franckeschen Stiftungen in ihren großen Gärten Anschauungsmaterial die Hülle und Fülle besaßen und die Zöglinge auch wohl zu eigener gärtnerischer Beschäftigung hätten angeleitet werden können. So aber gingen wir stumpfsinnig jahrelang durch den blühenden und reifenden Waisengarten, ohne Kenntnis zu nehmen von all dem, was da unter der Hand des Gärtners gedieh, von all dem, was Mutter Natur noch sonst an Lebewesen dazwischenstreute. Hätte uns nur jemand die Sinne geöffnet, die Gelegenheit zu biologischen Beobachtungen war vorhanden, und sogar für Planktonforschungen konnte der Teich im Waisengarten, wie ich nicht bezweifle, reiche Beute bieten. Der G e s c h i c h t s u n t e r r i c h t lag vorzüglich in den Händen des Kollaborators Dr. Ewald. Der Herr war zugleich an der Universität Privatdozent für neuere Geschichte, hat es schließlich auch noch bis zum Extraordinarius gebracht. Seiner Lehrweise kann ich freilich das Prädikat vorzüglich nicht zuerteilen. Möglich, daß er, wenn er bei Laune war, gut vortrug, das Geschehende, nicht das Geschehene sehen ließ und den Sinn der Tatsachen in origineller Weise aufzeigte. Denn er war weder ein Schüler Rankes, noch von Rotteckschem Pragmatismus angekränkelt, sondern als Mann der grünen Farbe gewohnt, mit eigenen Augen zu sehen. Aber Ewald war leider so launenhaft, daß er höchst selten bei Laune war. Ob er unter seinen Kollegen Freunde gehabt hat, ist mir zweifelhaft; er schien als ein Fremdling durch die Räume der Latina zu gehen und keinen Anteil zu nehmen am Leben der Schule. Exzentrischen und zugleich heftigen Charakters, wie er war, leistete er sich unglaubliche Dinge; man wußte nie, wie man mit ihm daran war. Wenn ich sage, daß er fluchte wie ein Holzknecht, daß er uns bisweilen mit aphoristischen Reminiszenzen aus seiner früheren Oberförsterlaufbahn und Reimen aus dem Jagdkalender belästigte oder die damals aufkommende Wagnersche Musik parodierte, so ist das noch das Gelindeste gegenüber anderen Stücken, die er verübte. Wenn die Geschichte zu den ethisch bildenden Fächern des Gymnasiums gehören soll, so ist so viel sicher, daß diese ethische Wirkung sehr beeinträchtigt wurde durch die Persönlichkeit des Dr. Ewald. Da er aber das Pensum verlangte und unheimliche Repetitionen abhielt, so lief denn doch



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sein gelehrter Vortrag wirkungslos neben der ödesten Datenlernerei aus dem Pütz her, von welcher Büffelei sich nur der aus angeborener Bequemlichkeit dispensieren konnte, der den Geist des Ewaldschen Vortrags geschichtsphilosophisch wiederzugeben versuchte und historischen Sinn zu verraten schien. Für Synchronistik, für ein Erfassen historischer Zusammenhänge fiel aber für die allermeisten wenig ab, wenigstens nicht in der mittleren und neueren Geschichte. Die alte Geschichte allerdings überschauten wir wohl, weil einfacher und mit Quellenlektüre verbunden. So blieb denn das Geschichtewissen im wesentlichen Schulwissen, d. h. Gedächtniskram, der in den Studentenjahren geschwind verduftete, wie mancher zu seiner Betrübnis im Staatsexamen erfahren mußte, als noch die sog. allgemeine Bildung geprüft wurde. G e o g r a p h i e war Appendix der Geschichte. Sie wurde nach dem kleinen und mittleren Daniel gelehrt und gelernt. Es wurden auch fleißig Karten gezeichnet aus freien Stücken zur Einprägung des Lernstoffs. Wer also die Klassen der Latina von unten an durchgemacht hatte, war auf der Erdoberfläche, soweit sie damals bekannt war, recht gut orientiert. Schüler freilich, die erst in die Mittelklassen eintraten und etwa vom Vater-Pastor bloß in den Hauptfächern, d. h. Lateinisch, Griechisch und Deutsch vorbereitet waren, behielten ihr Manko bis zum Schluß. Und ich erinnere mich eines Mitschülers, der noch in Oberprima nicht die Hauptstadt Bayerns nennen konnte. Was nun die t e c h n i s c h e n F ä c h e r anlangt, so erfreuten sich Turnen und Singen besonderer Pflege. Den Turnunterricht erteilte H ö p f n e r , der ursprünglich Seminarlehrer gewesen und die Zentralturnanstalt in Berlin besucht hatte, eine feine, geschmeidige Turnergestalt, frisch, fromm, fröhlich, frei, ein Jugendführer vor dem Herrn. Mit Scherz und Ernst regierte er seine 30 Turnriegen ohne alle Schwierigkeit, und sein feines pädagogisches Taktgefühl verschaffte ihm, der doch hauptsächlich nur Turnlehrer war und bloß auf der Unterstufe noch im Schreiben, Rechnen und in der Naturkunde unterrichtete, eine ganz einzige, angesehene Stellung bei den Schülern. Er brachte denn auch das Turnen in den Franckeschen Stiftungen zu hohem Ruhme. Es wurde freiwillig geübt, nicht bloß in den obligaten Turnstunden. An Sommerabenden warteten die Jungen mit Ungeduld im Feldgarten auf das Erscheinen des ersten Vorturners, der die Geräte aus der Halle herausgeben sollte. Da traten denn oft die besten an und gaben geradezu Vorstellungen. Altersgenossen werden sich aus dem Jahre 1869 z. B. der Leistungen eines Braasch und Rodenb a c h und Demuth erinnern, wie sie den Längssprung über zwei Pferde machten — und zugleich noch über einen kleinen Schüler, den sie oben in der Mitte aufhocken ließen. Des G e s a n g e s unter dem alten Greger habe ich schon früher gedacht. Sein Nachfolger war der Chordirektor der Marktkirche, Haßler, ein vorzüglicher Gesangspädagoge trotz seiner krächzenden Stimme. Er spielte im Musik-

— 79 — leben der Stadt Halle mit seinem Haßlerschen Chor eine bedeutende Rolle und veranstaltete in seiner Kirche berühmte geistliche Konzerte: Palestrina, Orlando Lasso, Bach und Händel verstand er zu interpretieren wie wenige. Zu diesen Aufführungen zog er auch die besten seiner Sänger aus der ersten Singabteilung (gemischter Chor) der Latina heran. Nebenbei bemerkt war er ein Cellovirtuos, und bevorzugte Schüler ließ er bisweilen in seinem Heim an der alten Promenade seine Kunst genießen. Der Gesangunterricht an der Schule gipfelte natürlich in den Leistungen der ersten Singabteilung, in die Stimmbegabte gelangten, nachdem sie sich einige Fertigkeit im Vomblattsingen erworben hatten. Die Hauptaufgabe bestand hier in der Vorbereitung der sonntäglichen Motetten, des Salvum fac regem, des Ecce quomodo moritur justus; hin und wieder gelang uns auch eine größere öffentliche Aufführung mit Instrumentalbegleitung. Es war viel bei Haßler zu lernen, und mein bißchen musikalische Bildung verdanke ich einzig ihm. Weniger erfolgreich war der Unterricht im Z e i c h n e n , der nur für die Unterklassen obligatorisch war. Ihn erteilte ein eisgrauer alter Herr, der Kupferstecher Voigt, im Schülerjargon »der Kupferstietz« geheißen. Methodische Anleitung fand nicht statt. Jeder suchte sich aus den ausgelegten Blättern eine beliebige Vorlage aus und versuchte sie nachzuzeichnen. Der Kupferstietz ging dann von Schemel zu Schemel, sah zu, was die einzelnen trieben, und lehrte sie den Bleistift führen und die Perspektive beobachten. Natürlich war die Unruhe während dieser individuellen Zeichnerei groß, Schemel verloren ihre Beine, hin und her liefen die Jungen und trieben allerhand Allotria. Und so war denn die gewöhnliche Zensur, die Herr Voigt erteilte, in Betragen, Fleiß und Leistungen: 4, 4, 4. Das wurde mit Humor hingenommen und — von Adler auch ignoriert. Einzelne besonders talentierte Schüler setzten das Zeichnen bis in die Oberklassen hinein fort und wurden dann vom Kupferstietz ganz hübsch gefördert. Es bleibt mir nun noch übrig, vom R e l i g i o n s u n t e r r i c h t zu reden. Daß ihm in den Stiftungen A. H. Franckes besonderer Wert beigemessen wurde, versteht sich. Er galt sozusagen als sakrosankt und, wenn auch nicht formell, so doch dem Geiste nach als Gottesdienst. Adler glaubte an das Heil in Christo und wünschte es der Jugend nahe zu bringen, aber ohne Aufdringlichkeit, nur durch eigenes freudiges Bekennen und durch den Ernst, mit welchem er die Bedeutung der Religion ermaß. Laienhänden sozusagen wurde der Unterricht nicht anvertraut. In den Unterklassen erteilten ihn junge Theologen, die auf ein Pfarramt aspirierten und vorübergehend als Erzieher in der Waisenanstalt wirkten. Sie verabschiedeten sich in der Regel mit einer Predigt im Anstaltsgottesdienste auf dem großen Betsaal. In den Mittel- und Oberklassen gab Adler selbst im Verein mit unserem Anstaltsgeistlichen, dem Waisenhausinspektor Pfaffe, den Religionsunterricht. Nur wenn die Zöten geteilt waren, traten noch andere Lehrer ein, die facultas in



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Religion hatten, so der Inspektor adj. am Pädagogium, Oberlehrer Schulz. Religionsunterricht als Schulfach geht natürlicherweise auf die Erwerbung positiver Kenntnisse aus. Also hatten wir zu lernen die biblischen Geschichten A. und N. T., den Lutherschen Katechismus mit vielen Bibelsprüchen, eine große Anzahl von Kirchenliedern und Bibelkunde. Den elementaren Religionsunterricht schloß in Tertia die Erklärung der Hauptstücke und die Lektüre des Lukas-Evangeliums ab. Von Sekunda ab wurde er wissenschaftlicher. Die alttestamentliche Prophetie, das Leben Jesu beschäftigten uns. In Obersekunda begann mit der Lektüre der Apostelgeschichte die eigentliche Kirchengeschichte, die Pfaffe nicht uninteressant vortrug, er bot weit mehr, als in dem dürftigen Leitfaden von Hollenberg stand, und wir hätten gern mehr darüber nachgelesen. In Unterprima trat dazu die Lektüre des JohannisEvangeliums im Urtext, und den Abschluß gab Adler selbst mit der Erklärung des Römerbriefs und der Darstellung der ganzen Paulinischen Glaubenslehre. Das war denn allerdings schon die reine Theologie, und vieles blieb uns unverständlich, weil wir aller philosophischen Begriffe bar waren und des spekulativen Sinnes noch ermangelten. Rühmend hervorheben darf ich, daß unser gewiß streng konfessioneller Unterricht sich freihielt von aller Polemik gegen Andersgläubige; er würde sich an sich selbst versündigt haben, wenn er Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit geliebt und geübt hätte. Man kann nun wohl sagen, daß es in der Tat im Unterricht der Latina mehr auf Religions k e n n t n i s als auf Religion ankam. Aber kann eine öffentliche Schule mehr leisten? Die Ergänzung dazu bietet eben und bot uns die Erziehung im Alumnat. Diese war religiös, und so bemächtigten wir uns neben der Kenntnis der Religion auch der Religion selbst, zunächst unbewußterweise durch Gewöhnung. Denn Lebenserfahrung zeitigt erst das Bewußtsein der Religion, und dann ist sie mehr als Schleiermachersches Gefühl, dann ist sie Wille und der Glaube Willensakt.

V. V i v a t

mulus.

Ich komme zum letzten Abschnitt meiner Alumnatserinnerungen und kehre noch einmal zur Bude zurück. Als Subsenior bewohnte ich wieder die Stube Nr. 1 im III. Eingang; als Senior die Nr. 8 im IV., die zwar auch nach Norden gelegen war, aber wenigstens Aussicht über das Latrinengebäude hinweg auf die Promenade gewährte. Man hatte mich erst als Primaner zum Stubensenior gemacht, während andere schon als Obersekundaner zu dieser Würde gelangten. Den Grund dieser scheinbaren Zurücksetzung, die ich trotz meiner guten Klassenleistungen erfuhr, sagte mir eine Bemerkung auf einer Zensur aus Sekunda, daß ich mir ungebührliche Härte gegen jüngere Mitschüler hätte zuschulden kommen lassen. Das mag wohl der Fall gewesen sein in den sog. „Dozierstunden". Nachdem ich dann aber Senior geworden war, habe ich mit



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Eifersucht darüber gewacht, daß meinen Untergebenen von anderer Seite keine Unbill widerfuhr, und es wurde mir schließlich im Reifezeugnis attestiert, daß ich mich um die Leitung jüngerer Mitschüler besonders verdient gemacht hätte. Indessen habe ich kein Recht, mich dieses Lobes zu berühmen. Jene „Leitung" bezog sich doch bloß auf das Lernen, das ja freilich die Hauptangelegenheit unseres Daseins ausmachte. Da nahm ich mich denn wohl der jüngeren Schüler an und half ihnen, wenn's nicht ging, auf die Sprünge. Ich wechselte deshalb sogar Briefe mit den Eltern und besitze deren noch einige, z. B. von einem höheren Beamten der Aachen-Luxemburger Eisenbahn, namens Trommer, dessen Sohn verschiedene Schulen nacheinander hatte besuchen müssen und darum sehr zurückgeblieben war. Indessen hätte ich doch wohl durch Freundlichkeit und echte Kameradschaftlichkeit ihnen mehr sein und durch gute Lebensart ihnen vorbildlich werden können, wenn ich nur selbst in meinen Pudeljahren so etwas erfahren hätte! Wir waren eben hart gehalten worden und selbst hart geworden. Mein Regiment war autokratisch und drückte selbst den Subsenior, der mir wohl gerade darum, weil er ein wenig durchgängerisch war, auf die Stube gelegt worden war. Indessen kamen wir miteinander aus und erfreuen uns heute noch eines commercium amicale. Unterstützung erfuhr ich auch von Seiten des Inspektionslehrers Dr. Becker, der ein frischer junger Mann war, nur wenige Jahre älter als ich; er steht jetzt, wenn ich nicht irre, als Gymnasialdirektor in Neustrelitz. Im letzten halben Jahre war ich erster Senior der Pensionsanstalt. Das war keine besondere Würde, die besondere Pflichten und Rechte in sich geschlossen hätte. Nur für den höchst seltenen Fall, der alle Jubeljahre einmal eintrat, daß eine Seniorenkonferenz einberufen wurde, hatte der erste Senior die Leitung. Es geschah einmal zu meiner Zeit, daß wir zusammentraten und eine Vorstellung an Adler beschlossen wegen des Essens. Wiederholt waren Reisbrei und Hirsebrei angebrannt gewesen, und die Kartoffeln so schlecht, daß, wie schon erzählt, die Wände des Vorderhofes damit bombardiert worden waren. Endlich trug mir Adler auch noch auf, eine Zusammenstellung zu machen derjenigen Dienstleistungen, die den Pudeln nach Herkommen oblagen. Ich ließ darin schon manchen Unsinn und Mißbrauch aus, aber die Liste wurde von Adler und der Lehrerkonferenz noch sehr zusammengestrichen, und gerade als ich die Abiturientenprüfung bestanden hatte, kam sie mit wenigen Paragraphen gedruckt heraus und wurde auf jeder Stube an der Tür angeschlagen. Wie ich später erfuhr, ist sie nicht lange hangen geblieben. Das letzte Schuljahr ist f ü r mich das bequemste gewesen. Zwar erforderten die obligaten monatlichen Hausarbeiten im Deutschen, Lateinischen und in der Mathematik ihr gewöhnliches Maß, aber im ganzen hatten wir das Schulwissen jetzt doch inne und sahen dem Ende vertrauensvoll entgegen. Ich bin auch der Meinung, daß ein Schüler, der bis zur Oberprima gelangt ist, die Reife 6

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hat, wenn anders die Lehrer ihre Schuldigkeit getan und gerecht versetzt haben. Ob dann überhaupt ein Examen rigorosum noch nötig sei, wird von vielen Leuten bezweifelt; vielleicht kehrt man einmal wieder zu denValediktionsreden der Klopstockschen Zeit zurück oder führt ein Examen publicum ein, welches nichts weiter zu bedeuten hat, als der Schülergemeinde über Wissen und Können der Abgehenden eine Art Rechenschaft abzulegen. Das sog. schriftliche Examen wurde zu unserer Zeit in einem besonderen Saale des Pädagogiums erledigt. In diesem Saale waren in angemessener Entfernung voneinander kleine Tische aufgestellt, an denen die einzelnen Prüflinge ihre Aufgaben zu lösen hatten. Mit dem Saale stand in unmittelbarer Verbindung ein Geheimkabinet, damit keine Nötigung entstünde, die strenge Klausur zu brechen. Für die großen Arbeiten, nämlich für den lateinischen und deutschen Aufsatz und für die mathematische, war je ein Vormittag von 4 bis 5 Stunden bestimmt. Das lateinische und griechische Skriptum wurde an einem Tage in je zwei Vormittagsund Nachmittagsstunden erledigt. Das französische Skriptum sowie die hebräische Übersetzung und grammatische Exegese eines Psalmens beschlossen den Reigen. So ging die schriftliche Prüfung in fünf Tagen vor sich. Die Aufsicht führten jedesmal die betreffenden Fachlehrer, eine Ablösung fand nicht statt. Auf diese Weise schien jede Unredlichkeit unmöglich gemacht zu sein. Und doch passierte etwas, das uns beinahe sämtlich um den Preis der Mühe gebracht hätte. Als wir zur letzten Klausur f ü r das französische Skriptum antraten, fanden wir sämtliche Tischchen im Saale verstellt und zu je zweien möglichst nahe zusammengerückt. Der gute Oberlehrer Dr. Voß stutzte, machte ein etwas verlegenes Gesicht, sagte aber nichts. Wir übrigen Nichteingeweihten gaben unsere Überraschung in einem Heiterkeitsausbruch kund. Was war geschehen? Einer von uns, dessen schwache Seite das Französische war, hatte die Verwegenheit gehabt, auf irgendeine Weise in den Saal einzudringen und die Tische so zu stellen, daß er bei seinem Nachbar Anleihen machen konnte. Nun war aber dieser Nachbar ein Elsässer, der ein nicht ganz dialektfreies Französisch schrieb. So kam's denn, wie es kommen mußte. Die dumme Abschreiberei des einen konnte nicht verborgen bleiben, und Dr. Voß, der ansonsten wohl in seiner Güte das Tischrücken unbeachtet gelassen hätte, mußte den Fall melden. Es erging daher die Sentenz, daß jene beiden Sünder, der aktive und der passive, zurückgewiesen wurden, wir übrigen aber noch eine zweite französische Probearbeit zu schreiben hatten. Diesmal hatte nun Adler selbst die Stellung der Tische mit Kreidestrichen auf dem Fußboden fixiert. Jener Streich war purer Übermut gewesen; denn der Verbrecher — er ist später als erster Staatsanwalt zum Hüter der Gesetze bestellt worden — hätte wohl auch mit einem Ungenügend im Französischen bestanden. Die mündliche Prüfung wurde in einem Klassenzimmer der Latina, also im Vordergebäude der Franckeschen Stiftungen, abgehalten. Wir erschienen dazu im Frack und Zylinder, beides Dinge, die uns unser bisheriger

— 83 — Mützenlieferant herlieh. Prüfungskommissar war „der alte Keil", d. h. der Professor der klassischen Philologie an der Universität. Ihm erschien die Sache mehr als eine Ehre, denn als strenge Pflicht, und darum machte er's gnädig. Die amtliche Handlung begann nach einem kurzen Gebet mit der Entlassung der „Dispensierten", d. h. derjenigen Prüflinge, die auf Grund des günstigen Ausfalles der schriftlichen Arbeiten und ihrer Klassenleistungen von der mündlichen Prüfung befreit wurden. Das galt dazumal noch als eine Auszeichnung, die nur denen zuteil wurde, die in den Hauptfächern mehr als genügend und in keinem Fache weniger als genügend erreicht hatten. Unten im Vorderhofe wartete inzwischen die Menge der anteilnehmenden Mitschüler. Sie empfing mit lautem Getöse die die Treppe herabspringenden Dispensierten und geleitete sie auf die Bude. Der Vorgang wiederholte sich am Abend nach Beendigung der Prüfung, vorausgesetzt, daß alle bestanden hatten. W a r aber einer durchgefallen, so wurde abgewinkt, und die Menge zerstreute sich unter Schweigen. Von meinem Jahrgange bestanden außer den beiden vorher Zurückgewiesenen alle. E s folgte nun am Abend für jeden der Buden-Abiturienten eine eigentümliche Feier, recht eigentlich ein „Budenzauber". Die Stube des betreffenden Seniors war festlich erleuchtet. Mit Hilfe von Kalchas, unserem dienstfertigen Kaiefaktor, waren an den Wänden herum Latten befestigt, die Reihen von Kerzen trugen. Zwischen den Fenstern prangte ein Transparent mit der Umschrift Vivat mulus! und dem Namen des Glücklichen und — was die Hauptsache war — mit humoristisch-satirischen Darstellungen aus seinem Schülerleben. Darunter der lange Arbeitstisch, auf welchem die Schanze der 20 0 0 0 bis 30 0 0 0 „Fidibi" aufgebaut war, die die Abschiedsgeschenke der Stubenkameraden umgab. Zu diesem Zweck besteuerte sich jeder mit einem Taler. Und was wurde geschenkt? Gewöhnlich eine lange Pfeife und ein Spazierstock, statt dessen wohl auch bei einigen besonders forschen Mulis ein Paar Schläger, dazu ein Bierseidel, ein Kommersbuch, also im ganzen die damals für höchst nötig gehaltenen Ausrüstungsstücke des angehenden Studenten. Indessen wurde auch einem etwa geäußerten Wunsche nach einem Buche Rechnung getragen. W a r die Stunde gekommen, so wälzte sich nun die Schülerschar, ihre Muli geleitend, durch die drei Eingänge von Stube zu Stube mit vielem Gebrüll, um die Bescherung mitanzusehen. Den Mulus empfing seine Stubenmannschaft. Unter dem Transparent stand einer der Pudel in fantastischem Kostüm auf dem Kustostritt und drückte seinem bisherigen Senior den Lorbeerkranz aufs Haupt. Danach erklärte er, mit einem Stöcklein zeigend, die sinnigen Bilder des Transparents; je weniger wohl dabei dem Rezensierten ward, desto lauter äußerte sich das Vergnügen der übrigen Zuhörer. Kurzum, es gab einen gewaltigen Lärm auf der Bude an diesem Abend, der ganz den Budisten gehörte. Kein Inspektionslehrer ließ sich blicken und niemand nahm Notiz von dem Treiben. Der Mulus mußte nun natürlich für die Ehrung etwas austun. Er gab noch am selben Abend Geld her, damit sich die Seinen eine Schokolade 6*

— 84 — brauen und Kuchen kaufen durften. Die Passage in die Stadt war ja bei dem lebhaften Verkehr auch der Stadtschüler ziemlich freigegeben. Es wäre gut gewesen, wenn es damit sein Bewenden gehabt hätte. Leider aber schloß sich damals an das Examen eine Reihe ziemlich wüster Kneipereien. Sie begannen schon mit einem Frühschoppen, zu welchem die Dispensierten, die übrigen Oberprimaner und die vormaligen Abiturienten, soweit sie in Halle studierten, einluden. Ein zweites Symposion fand am Abend statt in der Weinstube von Peter Broich, wobei die Prüflinge unter sich blieben und die Ereignisse des Tages bei einer Flasche billigen St. Juliens durchsprachen. Zwei Tage später folgte der sog. „Budenknipp". 1 ) Die Abiturienten der Bude nämlich vereinigten sich mit ihren Stubengenossen in einer Wirtschaft vor der Stadt (gewöhnlich wurde die „Maille" an der Magdeburger Chaussee dazu ausersehen) zu einem Abschiedsmahl. Natürlich ohne Wissen und Willen des Chefs und der Inspektoren. Aber es war einmal herkömmlich und galt als Gegenleistung für die Fidibus-Arbeit und die Mulus-Geschenke. Das Abschiedsmahl bestand aus Beefsteak mit Kartoffeln und Bier ad libitum. Beefsteak stand auf der Bude ja in besonderem Ansehen, erstens weil es uns niemals vom Speisewirt vorgesetzt wurde, und zweitens weil es dasjenige Gericht war, welches wir uns rasch und leicht selbst herstellen konnten, sei's über der Spiritus- oder der Gasflamme. Auf diesen Schmaus hatten sich die Jungen schon den ganzen Winter durch gefreut, und so kann man sich denken, daß sie über die Stränge schlugen und in angeregtester Stimmung von dem Mittwochnachmittagsausgang zurückkehrten. Meine Knaben lärmten nachher auf der Stube derartig, daß ich sie mit Gewalt in die Kammer und in die Betten drängte und eine heillose Angst ausstand, daß das Geschrei Adler herbeirufen möchte. Und wie groß war erst mein Schreck, als Adler mich am anderen Tage wirklich zu sich bestellte. Ich glaubte nicht anders, als daß die Geschichte zu seiner Kenntnis gelangt wäre. Obwohl nun gleich das Gegenteil offenbar wurde, so war doch meine Verlegenheit und meine innere Beschämung groß, als Adler, was er bis dahin noch nie getan hatte, die Idee einer kleinen Abschiedsfeier, die die Senioren mit ihren Stubengenossen vereinigen sollte, aufgriff, seine Genehmigung dazu geben und mit mir überlegen wollte, wie das am besten zu machen sei. Ich mußte seinen Vorschlag, die Konditorei des Saalschlößchens zu besuchen, stillschweigend hinnehmen und konnte ihm nicht sagen, wie sehr wir uns tags zuvor gegen die Ordnung versündigt hatten. Ich hoffe, daß dieser Unfug in den Franckeschen Stiftungen ausgestorben ist. Das letzte Fest und das Hauptfest bildete nun der sog. Abiturientenkommers, zu welchem auch die Lehrer eingeladen wurden. Auch er fand in der „Maille" statt und verlief unter der Leitung eines der Sache mächtigen !) Im Hallischen Jargon: gelage geben.

Knipp =

Kneipe,

einen

Knipp schmeißen =

ein Frei-

— 85 — Studenten in den üblichen Formen und mit dem gewöhnlichen Resultat der Alkoholübersättigung. Von den Lehrern waren nicht allzuviel erschienen; daß Adler teilgenommen hätte, dessen kann ich mich nicht erinnern. Meine heutigen Anschauungen sind derart, daß ich wünschte, die Unsitte verschwände endlich aus dem Leben unserer höheren Schulen. Und dies war denn das letzte. Eine feierliche Entlassung der Abiturienten fand auf der Latina nicht statt. Wir erhielten unsere Zeugnisse, warfen uns noch einmal in Wichs und machten zusammen Abschiedsbesuche. Dann ein letzter Händedruck zwischen den socii laborum multorum annorum — und fortan zog jeder seine Straße ins Leben hinaus. — Ein gemeinsames Gepräge hatte uns das Hallische Waisenhaus, die Bude, die Orphanage mitgegeben, und wo immer im späteren Leben alte Franckianer zusammentrafen, da erkannten sie sich gar rasch an der Art und Weise, wie sie sprachen, wie sie sich gaben, wie sie empfanden und dachten. „Sagen Sie 'mal", redete mich ein älterer Kollege eines Tages an, „es kommt mir so vor, als müßten Sie in Halle gewesen sein." „Das stimmt; aber woraus schließen Sie das?" „Na, wissen Sie, ich bin nämlich auch da gewesen und sah's Ihnen sofort an." Hierzu ist zu bemerken, daß mich der Herr früher nie gesehen h a t t e ; er hatte die Schule bereits verlassen, als ich sie bezog. Der Fall ist charakteristisch und beweist, daß Internate wirkliche B i 1 d u n g s anstalten sind, daß sie also erziehen. Das Ethos, welches sie selbst besitzen, teilt sich den Zöglingen mit. Und warum erziehen unsere öffentlichen höheren L e h r anstalten n i c h t ? Weil sie kein Ethos haben, Ethos im Sinne de Lagardes. Man kann dabei an einen Hausgeist denken, der eingezogen ist in der Person des Stifters, er haftet am Ort und sitzt im Gebälk der alten Gebäude, und er äußert seine Kraft, sobald der Rektor sich zu diesem spiritus rector bekennt, sich auf den Stifter besinnt und in seinen Fußtapfen wandelt. Adler, unser unvergeßlicher Rektor, wandelte in der Nachfolge A. H. Franckes, d. h. zugleich in der Nachfolge Christi. Er würde es wohl als eine Versündigung gegen den Geist der Stiftungen betrachtet haben, wenn er anders hätte verfahren sollen, und wiederum hätte er als ehrlicher Mann das Amt nicht übernommen, wenn er nicht aus innerster Überzeugung in Harmonie gewesen wäre mit den pädagogischen Grundsätzen des Stifters. Christian Muff hat im Jahre 1884 dem verstorbenen Adler einen Nekrolog geschrieben, der wohl eine zutreffende Charakteristik gibt vom Standpunkte des jüngeren Amtsgenossen aus. Vom Standpunkte des Schülers aus wäre nur dies hinzuzufügen, daß Adler die Liebe, die er unzweifelhaft zu der ihm anvertrauten Jugend hegte, etwas zu stark zurücktreten ließ hinter der Strenge, mit welcher er auf den Forderungen der Schule bestand. Mit Lob war er karg; Pflichterfüllung erschien ihm als etwas so Selbstverständliches, daß davon kein Aufhebens zu machen war. Es ist mir später noch ein Mann seiner Art begegnet, des Namens Althoff. Wenn dieser mir die Dienstinstruktion gab: „Bedenken Sie immer, daß die Quantität Ihrer



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Arbeit nicht groß genug und die Qualität nicht gut genug sein kann", so waren das Worte ganz im Sinne unseres Adler. So trat denn Adler den Schülern selten menschlich näher, er war und blieb ihnen immer nur der Chef. Doch will ich hinzufügen, daß ihm die Fülle seiner Amtsgeschäfte wohl kaum Zeit ließ, anders als offiziell mit den Schülern zu verkehren. Selten geschah es, daß er sich an Sommerabenden im Feldgarten unter sie mischte; dann richtete er bisweilen auch an diesen und jenen eine teilnehmende Frage. Und trotzdem ist es ihm niemals begegnet, fragen zu müssen: „Wie heißt du ? " Er kannte sie alle bei Namen, die 600 und mehr. Wie war das möglich? Nun, er behielt jeden im Auge, dessen Namen er in sein dickleibiges Taschenbuch eingeschrieben hatte, von dem Tag an, wo er ihm das Gelübde a b n a h m : mit Gottes Hilfe fromm, fleißig und gehorsam zu sein. Daß einer fromm blieb, konnte er nicht erzwingen, wohl aber erzwang er den Fleiß und den Gehorsam. Muff schreibt von ihm und schildert ihn da im Gegensatz zu sich selbst: „ E s hat beredtere, anregendere Lehrer gegeben, treuere, gewissenhaftere schwerlich", so will ich nur hinzufügen, daß die Wirkung, die von Adler ausgegangen ist, tiefer gewesen ist, es war die Wirkung einer sittlichen Persönlichkeit, die zur Mitgift fürs Leben wurde. R. I. P.