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German Pages 384 Year 2013
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Band 219
Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungsund Umweltrechts 2012 Vorträge auf den Vierzehnten Speyerer Planungsrechtstagen und dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag vom 7. bis 9. März 2012 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von
Jan Ziekow
Duncker & Humblot · Berlin
JAN ZIEKOW (Hrsg.)
Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungsund Umweltrechts 2012
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 219
Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungsund Umweltrechts 2012 Vorträge auf den Vierzehnten Speyerer Planungsrechtstagen und dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag vom 7. bis 9. März 2012 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von Jan Ziekow
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-14163-0 (Print) ISBN 978-3-428-54163-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84163-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende Band fasst die Vorträge zusammen, die auf dem Speyerer Luftverkehrsrechtstag am 7. März 2012 und den Vierzehnten Speyerer Planungsrechtstagen vom 7. bis 9. März 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer gehalten wurden. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltungen waren Vertreterinnen und Vertreter aller Ebenen der Verwaltung, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Rechtsanwaltschaft, von Vorhabensträgern, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Meiner Sekretärin, Frau Ruth Nothnagel, danke ich für die sachkundige Formatierung auch dieses Tagungsbandes. Darüber hinaus gebührt meinem Assistenten, Herrn Dr. Alfred Debus, Dank für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagungen. Speyer, im März 2013
Jan Ziekow
Inhaltsverzeichnis Prognose, Festlegung und Bedeutung von Flugrouten – Auf dem Weg zu einem neuen Konzept? Von Martin Schröder, München ........................................................................... 9 Windenergieanlagen und Luftverkehr Von Norbert Kämper, Düsseldorf ........................................................................... 27 Der Verordnungsvorschlag über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen – Ein neuer Ansatz zur Reduzierung des Fluglärms? Von Christian Giesecke, Köln ............................................................................
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Kohlekraftwerke und slowakische Braunbären – Wie geht es weiter mit der (deutschen) Umweltverbandsklage? Von Jörg Berkemann, Hamburg ....................................................................... .
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Gebiets- und Artenschutz – Die Rechtsprechung von EuGH und BVerwG Von Bernhard Stüer, Münster ......................................................................... ... 127 Aktuelle Fragen zum Schienenverkehrslärmschutz – Technische und rechtliche Entwicklungen Von Frank Berka, Hannover ............................................................. ................. 163 Verkehrsgutachten: Methodik, Aussagekraft und Grenzen Von Volker Blees, Darmstadt ...................................................................... ....... 179 Die Bewältigung von Anwohnerkonflikten an Bahnbaustellen Von Till Bannasch, Freiburg ............................................................................ .. 193 Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte bei abweichender Bauausführung Von Bertram Walter, Halle/Erfurt ...................................................................... 245
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Inhaltsverzeichnis
Der Erlass von Auskunftsbescheiden im Rahmen der Aufsicht Von Kirsten Urbisch, Bonn ....................................................................... ......... 251 Die Prüfung von Trassenvarianten auf der Ebene von Raumordnung und Landesplanung Von Dirk Herrmann, Karlsruhe ............................................................ ............. 257 Folgen reduzierten Rechtsschutzes bei der Planfeststellung von Infrastrukturvorhaben Von Wolfgang Baumann, Würzburg .................................................................. 273 Der Ausbau der Höchstspannungsnetze – Überblick über die neuen Aufgaben der Bundesnetzagentur Von Daniel Matz, Bonn .............................................................. ....................... 297 Die Neuregelung der Planung der Energieversorgungsnetze – ein verallgemeinerbares Vorbild? Bewertung aus Unternehmenssicht Von Winfried Porsch, Stuttgart ......................................................................... . 305 Frühzeitige Bürgerbeteiligung – das Konzept des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren Von Hans-Jörg Birk, Stuttgart ......................................................................... .. 327 Frühzeitige Bürgerbeteiligung – Hintergründe und Optionen der praktischen Realisierung Von Christoph Ewen, Darmstadt ........................................................................ 335 Die Öffentlichkeitsbeteiligung zum Bundesverkehrswegeplan nach § 19b UVPG Von Reinhard Wulfhorst, Schwerin .................................................................... 349 Die Berücksichtigung der Ergebnisse von Mediationsverfahren in der Planfeststellung Von Thorsten Siegel, Speyer .................................................................... .......... 367 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 383
Prognose, Festlegung und Bedeutung von Flugrouten – Auf dem Weg zu einem neuen Konzept? Von Martin Schröder1
I. Die „Flugrouten“ im System der Flugbetriebsregulierung Luftfahrzeuge müssen grundsätzlich von genehmigten Flugplätzen starten und auf genehmigten Flugplätzen landen (Flugplatzzwang, § 25 Abs. 1 Satz 1 LuftVG). Flugplätze sind die Ausgangs- und Endpunkte eines jeden Fluges2. Der Luftraum in der Umgebung eines Flugplatzes wird von den startenden und landenden Luftfahrzeugen in der Vertikalen durchquert. Die Sicherheitsmindesthöhe wird dort unvermeidbar unterschritten3. Die Umgebung von Flugplätzen wird also tief überflogen (je näher desto tiefer) und ist den von tiefen Überflügen ausgehenden Schadwirkungen – insbesondere dem Fluglärm, aber auch den von den überfliegenden Flugzeugen ausgehenden Luftschadstoffen, Wirbelschleppen, Wahrnehmungsfaktoren (v.a. visuell ausgelösten Irritationen) usw. – ausgesetzt. Die unmittelbaren Nachbarn eines Flugplatzes werden zudem von Immissionen belastet, die von den Bewegungen der Flugzeuge auf dem Boden und dem sonstigen Flugplatzbetrieb verursacht werden (Schlagwort: Bodenlärm). Die Genehmigung von Flugplätzen enthält daher regelmäßig Auflagen und Nebenbestimmungen, die den Flugplatzbetrieb insbesondere zur Einschränkung von Lärmauswirkungen reglementieren (§ 42 Abs. 1 Satz 4 LuftVZO). Ist ein Flugplatz planfeststellungsbedürftig, können die betrieblichen Regelungen Gegenstand der Planfeststellung sein (§ 8 Abs. 4 Satz 1 LuftVG). Das Betriebskonzept gehört in diesem Fall zu dem festgestellten Plan und unterscheidet sich ___________ 1
Der Autor ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Messerschmidt, Dr. Niedermeier und Partner in München. 2 Starts und Landungen außerhalb genehmigter Flugplätze, sog. Außenstarts und Außenlandungen, bedürfen der besonderen Erlaubnis der Luftfahrtbehörde und der Zustimmung des Grundstücksberechtigten, § 25 Abs. 1 Satz 1 LuftVG. In der dichtbesiedelten Bundesrepublik sind sie die Ausnahme und kommen für größere Flugzeuge schon aus technischen Gründen nicht in Betracht. 3 Vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 LuftVO: „Die Sicherheitsmindesthöhe darf nur unterschritten werden, soweit es bei Start und Landung notwendig ist.“
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in seiner verfahrensrechtlichen Behandlung grundsätzlich nicht von den baulichen Anlagen, die ebenfalls planfestgestellt werden4. Zuständig für die Genehmigung und Planfeststellung von Flugplätzen einschließlich der Anordnung von Betriebsregelungen sind die Länder, die nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 LuftVG i.V.m. §§ 39 Abs. 1, 50 S. 1, 55 S. 1 LuftVZO, § 10 Abs. 1 Satz 1 LuftVG im Auftrag des Bundes die Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren durchführen. Mit den genannten Vorschriften hat der Bund den Ländern die Befugnis eingeräumt, über die für den Luftverkehr notwendige Bodeninfrastruktur einschließlich ihrer Benutzung durch Verwaltungsakt (Planfeststellungsbeschluss, Plangenehmigung, Genehmigung) zu entscheiden. Im Gegensatz dazu dürfen die Landesbehörden Vorschriften oder Anordnungen über das Verhalten der Flugzeuge in der Luft nicht erlassen. Die Zuständigkeit dafür hat der Bund den Ländern nicht übertragen5. Der Bund hat vielmehr das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF), eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung6, ermächtigt, die Flugverfahren für Flüge innerhalb von Kontrollzonen, bei An- und Abflügen zu und von Flugplätzen mit Flugverkehrskontrollstelle und bei Flügen nach Instrumentenflugregeln einschließlich der Flugwege, Flughöhen und Meldepunkte durch Rechtsverordnung festzulegen (§ 27a Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 LuftVO). Für die durch Rechtsverordnung vorgeschriebenen Flugverfahren hat sich der Begriff „Flugrouten“ eingebürgert. Dieser Begriff wird nachfolgend – wie auch schon im Titel des Beitrags – als Kurzformel für alle festgelegten Flugverfahren, Flughöhen und Meldepunkte verwendet, obwohl er kein Rechtsbegriff im technischen Sinn ist7. ___________ 4
BVerwG, Urt. vom 4.4.2012, 4 C 8.09 u.a., Rn. 28, 31 des Urteilsabdrucks. Vgl. OVG Münster, Urt. vom 4.3.2002, 20 D 120/97.AK, juris, S. 3: Der Bund hat von der verfassungsrechtlichen Kompetenz aus Art. 87d Abs. 2 GG, einzelne Aufgaben der bundeseigenen Luftverkehrsverwaltung auf die Länder zu übertragen, nur hinsichtlich der Regelung der Bodennutzung der Flugplätze Gebrauch gemacht, nicht jedoch hinsichtlich der mit der Flugverfahrensplanung verbundenen Luftraumnutzung. 6 § 1 Abs. 2 Satz 1 BAFG. Das Gesetz über die Errichtung des Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung (BAFG) wurde als Art. 1 des Artikelgesetzes zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung und zur Änderung und Anpassung weiterer Vorschriften vom 29.7.2009, BGBl. I S. 2424, erlassen. Durch Art. 11 Nr. 15 des genannten Artikelgesetzes vom 29.7.2009 wurde Art. 27a LuftVO geändert und die Kompetenz zum Erlass von Flugroutenverordnungen von dem vorher dafür zuständigen Luftfahrt-Bundesamt (LBA) auf das BAF übertragen. 7 Ebenso Pache, Rechtsgutachten im Auftrag des Umweltbundesamtes: Prüfung von formell- und materiellrechtlichen Aspekten bei der Benehmensregelung zur Festlegung von Flugrouten nach § 32 LuftVG zwischen UBA und BAF, 2011, S. 5. Auch das BVerwG (4. Senat) verwendet o.w. den Begriff der Flugrouten, vgl. nur BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 23, 26, 30, 33 et pass., Beschl. vom 7.4.2006, 4 B 5
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Die Flugroutenverordnung bestimmt wesentlich den Weg der Flugzeuge im Nahverkehrsbereich eines Flughafens. Sie entscheidet maßgeblich darüber, ob ein Grundstück von Überflugimmissionen betroffen ist oder nicht8.
II. Entwicklung und Stand der Rechtsprechung zu den Flugrouten Die rechtliche Beurteilung der Flugroutenverordnungen bereitete zunächst erhebliche Schwierigkeiten. Zu wesentlichen Fragen hat die Rechtsprechung aber mittlerweile eine gefestigte Auffassung erreicht. 1. Verfahrensfragen a) Zuständigkeit und Rolle der DFS Lange Zeit beschränkten sich die bei dem früher zuständigen LBA im Zuge der Festlegung von Flugrouten entstandenen Verwaltungsvorgänge auf den Entwurf der Verordnung und den Entwurf der Fassung der Verordnung für die Veröffentlichung in dem Handbuch für Luftfahrer9. Tatsächlich waren das LBA und auch die weiteren an dem Erlass von Flugroutenverordnungen beteiligten Stellen der Meinung, die Flugrouten würden von der DFS geplant. Diese Auffassung fand ihren Niederschlag in dem Organisationserlass des (damaligen) Bundesministeriums für Verkehr vom 13.11.1992 in der Fassung der Änderung vom 07.07.199310: „Aus arbeitsökonomischen Gründen und um den Sachverstand der die Flugsicherung ausführenden Stelle einzubeziehen, ist eine Arbeitsteilung zwischen LBA (Abteilung V) und der DFS vorzusehen, bei der die DFS den fachlichen Inhalt der Rechtsverordnungen erstellt, während das LBA (Abteilung V) die Rechtsförmlichkeit überprüft, die Rechtsverordnungen erlässt und im Bundesanzeiger und in den Nachrichten für
___________ 69/05, juris, Rn. 4, 5, 8; Urt. vom 13.10.2011, 4 A 4000.10, Urteilsabdruck, Rn. 144 ff.; Urt. vom 4.4.2012, 4 C 8.09 u.a., Urteilsabdruck, Rn. 227 ff. 8 Die Ausrichtung der Runways eines Flugplatzes setzt Zwangspunkte für die Wege der Flugzeuge in der Luft. Der Endanflug muss auf der Anfluggrundlinie, also in der Verlängerung der Mittelachse der Landebahn stattfinden. Die startenden Flugzeuge müssen nach dem Abheben solange geradeaus fliegen, bis sie insbesondere von der Umgebungstopographie abhängige Mindesthöhen erreicht haben, die ein Abdrehen erlauben. 9 Vgl. HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1062/01, juris, Rn. 64; Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 45 sowie eigene Einsichtnahmen des Autors in Flugroutenakten des LBA. 10 Az. Z14/02.04.25/74Vwz93, zitiert nach HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1062/01, juris, Rn. 70; Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 51.
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Luftfahrer bekannt macht. Für den fachlichen Inhalt der Rechtsverordnungen trägt allein die DFS die Verantwortung.“
Dieser Auffassung ist das Bundesverwaltungsgericht schon in seinen Entscheidungen vom 28.06.2000 entgegengetreten11. Danach ist zwar nichts dagegen einzuwenden, dass das LBA „die Abwägungsentscheidung im Wesentlichen der Deutschen Flugsicherung GmbH überlässt“. Das LBA muss aber für die Entscheidung verantwortlich bleiben, für die Einhaltung des Abwägungsgebots Sorge tragen und die Nachprüfbarkeit seiner Einhaltung sicherstellen. Präzisierend wies der HessVGH 200312 darauf hin, dass § 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO das LBA (heute: BAF) dazu bestimmt, die Flugrouten festzusetzen. Durch diese Zuständigkeitsregel werde das LBA ermächtigt, aber auch verpflichtet, die mit der Festsetzung verbundene Abwägung selbst vorzunehmen. Entsprechend der aus dem Planfeststellungsrecht geläufigen Rollenverteilung zwischen Vorhabensträger und Planfeststellungsbehörde erscheint die DFS in dem Planungsprozess für die Flugrouten als Planungsträger und das BAF als Planungsbehörde, die nachvollziehend abwägt. b) Verfahrensbeteiligung Betroffener Die Festlegung von Flugrouten entscheidet in weitem Umfang darüber, ob ein Grundstück und seine Bewohner von Fluglärm und anderen Überflugimmissionen betroffen sind. Dieser Befund ist der tatsächliche Ausgangspunkt der Überlegung, ob im Verfahren der Flugroutenfestlegung die davon Betroffenen (Grundstückseigentümer, Gemeinden) angehört werden müssen. Der VGH Mannheim vertrat in seinem Urteil vom 22.03.200213 die Auffassung, die klagenden Gemeinden, die von der angegriffenen Flugroutenfestlegung in rechtlich erheblicher Weise betroffen waren, hätten vor Erlass der Verordnungen von den beabsichtigten Flugroutenfestlegungen unterrichtet werden müssen und es hätte ihnen Gelegenheit gegeben werden müssen, sich zu den mit den geplanten Flugrouten verbundenen Folgen unter dem Gesichtspunkt ihrer Entwicklungsinteressen und ihrer sonstigen gemeindlichen Belange zu äußern. Denn aus der Flugroutenfestlegung könnten sich Beschränkungen ihrer durch Artikel 28 Abs. 2 GG geschützten Planungshoheit ergeben. Das OVG Münster14 und der HessVGH15 waren anderer Meinung. Eine Verpflichtung zur
___________ 11
BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 44. HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1062, juris, Rn. 71; Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569, juris, Rn. 52. 13 VGH Mannheim, Urt. vom 22.3.2002, 8 S 1271/01, juris, Rn. 63 ff. 14 OVG Münster, Urt. vom 4.3.2002, 20 D 120/97.AK, juris, S. 3. 12
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Beteiligung der jeweils klagenden Gemeinden oder Bürger bestehe nicht. Ein Beteiligungsrecht lasse sich weder für die Gemeinden aus Art. 28 Abs. 2 GG noch für Einzelne aus den Grundrechten ableiten. Das Bundesverwaltungsgericht hat schließlich in seinem Revisionsurteil vom 26.11.200316 über das zitierte Urteil des VGH Mannheim vom 22.03.2003 entschieden, ein formelles Anhörungsrecht der Gemeinden bei der Festlegung von Flugverfahren bestehe nicht. Weder das Luftverkehrsgesetz noch die Luftverkehrsordnung schrieben eine Verfahrensbeteiligung lärmbetroffener Gemeinden vor dem Erlass dieser Verordnungen vor. § 32b LuftVG, der die Einrichtung von Fluglärmkommissionen unter Beteiligung von Vertretern der vom Fluglärm in der Umgebung eines Flugplatzes betroffenen Gemeinden vorsehe, sei zu entnehmen, dass der Gesetzgeber eine förmliche Beteiligung der Gemeinden bei der Festlegung von Flugverfahren nicht lediglich versehentlich unterlassen habe, sondern weitergehende Anhörungsrechte der Gemeinden aus Lärmschutzgründen weder für geboten noch für sachgerecht gehalten habe. Auch ein Anhörungsrecht unmittelbar aus Artikel 28 Abs. 2 GG stehe den Gemeinden vor Erlass einer Flugroutenverordnung nicht zu. Bei dieser Sachlage hätten die Gerichte das Schweigen des Gesetzgebers zur Frage eines förmlichen Anhörungsrechts der Gemeinden zu respektieren. 2. Materielle Fragen a) Planung oder nur planerischer Einschlag? Der 11. und spätere 9. Senat des BVerwG zählte die Flugrouten ohne weiteres zu den Planungsentscheidungen. Die Festlegung von Flugrouten war für ihn die „Verwirklichung einer staatlichen Planungsaufgabe, bei der die in der räumlichen Umgebung des Flughafens auftretenden Probleme und Interessenkonflikte bewältigt werden müssen.“17 Der seit 2004 für die Anlegung und den Betrieb von Flugplätzen zuständige 4. Senat BVerwG nahm schon in seiner ersten und grundlegenden Entscheidung zu Flugroutenfestlegungen vom 24.06.200418 eine bedeutsame Akzentverschiebung vor. Der systematische Zusammenhang, in den § 27a LuftVO vor ___________ 15 HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1062/01, juris, Rn. 43 ausdrücklich in Antithese zu dem Urt. des VGH Mannheim v. 22.3.2002, sowie Urt. v. 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 33. 16 BVerwG, Urt. vom 26.11.2003, 9 C 6/02, NVwZ 2004, Seite 473, 475 f. 17 BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 36; in der Sache ebenso: Urt. vom 26.11.2003, 9 C 6/02, NVwZ 2004, S. 473, 476. 18 BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 26; ebenso Beschl. vom 4.5.2005, 4 C 6/04, juris, Rn. 25, 31.
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dem Hintergrund des § 32 LuftVG hineingestellt sei, lasse erkennen, dass es sich bei der Festlegung von Flugverfahren nach der gesetzlichen Konzeption in erster Linie um ein sicherheitsrechtliches Instrument handle, das der Verhaltenssteuerung insbesondere bei An- und Abflügen zu und von näher bezeichneten Flugplätzen diene. Damit ist aber auch nach Auffassung des 4. Senats der Charakter der Flugroutenverordnung nicht vollständig beschrieben, denn er fügt hinzu19: „Jedenfalls bei der Festlegung von Flugverfahren lässt sich nicht in Abrede stellen, dass das Luftfahrt-Bundesamt eine Regelung trifft, die mindestens eine gewisse Nähe zu Planungsentscheidungen aufweist. Soweit Flugwege, Flughöhen und Meldepunkte festgelegt werden, wird ein räumlicher Bezug hergestellt. … Einen planerischen Einschlag hat die Flugroutenbestimmung auch insofern, als in der Umgebung eines Flughafens Lärmkonflikte bewältigt werden müssen.“ Soweit ersichtlich, ist der 4. Senat von der Einordnung der Flugroutenverordnungen als „sicherheitsrechtliches Instrument mit planerischem Einschlag“ bisher nicht abgewichen. b) Flugroutenfestlegung als Abwägungsentscheidung mit stark reduzierten Anforderungen Alle bisher damit befassten Senate des BVerwG waren einig, dass die zuständige Behörde bei der Festlegung von Flugrouten eine Abwägungsentscheidung zu treffen hat, die sich allerdings von den aus dem Fachplanungsrecht bekannten Abwägungen signifikant unterscheidet20. Mangels ausdrücklicher Normierung der Abwägungspflicht im LuftVG oder in der LuftVO obliege sie dem BAF, so der 9. Senat21, nur im Umfang des rechtsstaatlich für jede Abwägung unabdingbar Gebotenen. Der 4. Senat ergänzt22, eine dem § 8 Abs. 1 S. 1 LuftVG entsprechende Vorschrift, wonach die öffentlichen und privaten Belange untereinander und gegeneinander abzuwägen seien, fehle. Dieses gesetzgeberische Schweigen verbiete es, auf die in der Rechtsprechung zum fachplanerischen Abwägungsgebot entwickelten Grundsätze zurückzugreifen. Für die Festlegung von Flugrouten gelten andere Maßstäbe: •
Eine Flugroute, durch die abwägungsrelevanter Fluglärm unterhalb der Zumutbarkeitsschwelle hervorgerufen wird, ist bereits zulässig, wenn sich für sie sachlich einleuchtende Gründe anführen lassen. Muss die ___________ 19
BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 32. BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 35; Urt. vom 26.11.2003, 9 C 6/02, NVwZ 2004, S. 473, 476; Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 23; Beschl. vom 4.5.2005, 4 C 6/04, juris, Rn. 31. 21 BVerwG, Urt. vom 26.11.2003, 9 C 6/02, NVwZ 2004, S. 473, 476. 22 BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 33. 20
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Entscheidung für eine bestimmte Flugroute nicht mit unzumutbaren Lärmbelastungen erkauft werden, so genügt es, wenn sie sich mit vertretbaren Argumenten untermauern lässt23. § 29b Abs. 2 LuftVG, der von dem BAF bei der Festlegung von Flugrouten zu beachten ist, hält die Luftfahrtbehörden lediglich dazu an, auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm „hinzuwirken“. Mit dieser Regelung billigt der Gesetzgeber nach Auffassung des BVerwG, dass unter bestimmten Umständen selbst unzumutbarer Fluglärm ohne Ausgleich hinzunehmen ist. Allerdings entnimmt das BVerwG dem § 29b Abs. 2 LuftVG eine „Regelverpflichtung“, sich nur dann für eine Flugroute, die unzumutbaren Fluglärm verursacht, zu entscheiden, wenn sich hierfür zwingende Gründe ins Feld führen lassen. Entscheidet sich das BAF für eine solche Flugroute, untersteht es einem besonderen Rechtfertigungszwang. Den Nachweis, dass schonendere Mittel nicht in Betracht kommen, kann es nur führen, wenn ihm überwiegende Gründe der sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs zur Seite stehen24. Bei den Sachverhaltsfeststellungen kann das BAF sich darauf beschränken, anhand von aktuellem Kartenmaterial, das zuverlässig Aufschluss über die Siedlungsstruktur bietet, näher aufzuklären, wie groß der Kreis potenzieller Lärmbetroffener ist. Konkreter Ermittlungen vor Ort bedarf es i.d.R. nicht. Eine generalisierende Betrachtungsweise ist ausreichend25. Weitere Ermittlungen sind nur anzustellen, wenn die konkreten Umstände hierzu Anlass geben. Die gebotene Untersuchungstiefe richtet sich v.a. nach dem Ausmaß der Lärmbelastung. Ist als wahrscheinlich oder als gewiss davon auszugehen, dass die festgelegte Route unzumutbaren Fluglärm hervorruft, so hat das BAF umso intensiver zu prüfen, ob sich schonendere Alternativen bieten, je deutlicher die Zumutbarkeitsschwelle voraussichtlich überschritten wird26.
•
•
___________ 23
BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Ls. 5, Rn. 33. BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Ls. 4, Rn. 30, 31. – Das BVerwG verlangt in dieser Entscheidung einmal (a.a.O., Rn. 30) „zwingende Gründe“, das andere Mal (a.a.O., Ls. 4, Rn 31) lässt es „überwiegende Gründe der sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs“ ausreichen, um die Festlegung einer Flugroute, die unzumutbaren Fluglärm verursacht, zu rechtfertigen. Die beiden Formulierungen sind nicht äquivalent. 25 Diese Grundsätze finden sich schon in BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 44. In seiner Entscheidung vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 40, wiederholt der 4. Senat des BVerwG diese Grundsätze, fügt aber die im Text sogleich nachfolgende „je-desto-Regel“ hinzu. 26 BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 40. 24
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c) Rechtswirkung der Flugroutenverordnungen gegenüber Anrainern Obwohl die Festlegung der Flugrouten tatsächlich maßgeblich darüber entscheidet, ob die Anrainer eines Flugplatzes tiefen Überflügen und ihren Schadwirkungen ausgesetzt werden, behauptete der BayVGH in einem Gerichtsbescheid aus dem Jahr 199327, die Flugrouten hätten keine rechtliche Wirkung auf die Sphäre der Betroffenen: „Denn den Klägern gegenüber werden durch die 114. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrs-Ordnung weder Rechte noch Pflichten begründet. … Was die Kläger trifft, ist lediglich ein Reflex des materiellen Regelungsgehalts der Verordnung; sie vermögen aus dieser aber keine Rechtsposition herzuleiten. Die Kläger würden die Feststellung bloßer Tatsachen begehren, …“
Diese verwegene These, die die faktische Verursachung erheblicher Immissionslasten auf dem Boden zu einem rechtlichen Nullum herabstufte, wurde von den Verwaltungsgerichten ohne weiteres beerdigt, nachdem ihnen die erste Kammer des Ersten Senats des BVerfG28 in einem wegweisenden Nichtannahmebeschluss ins Stammbuch geschrieben hatte, dass der Anspruch, von dem durch eine Flugroutenfestlegung verursachten Fluglärm verschont zu bleiben, vor den Verwaltungsgerichten in zulässiger Weise geltend gemacht werden kann. Der HessVGH29 formuliert 2003 genau das Gegenteil: „Die Kläger können sich darauf berufen, durch die Norm selbst (sc. durch die Flugroutenverordnung), d.h. ohne weitere hoheitliche Umsetzungsakte, in ihren Rechten verletzt zu sein.“
d) Bindung der Fluglotsen an die Flugroutenverordnungen bei Erlass von Flugverkehrskontrollfreigaben Nach der gefestigten Rechtsprechung des HessVGH gelten die Flugroutenverordnungen nicht nur für die Luftfahrzeugführer, sondern auch für das Flugsicherungsunternehmen und dessen Lotsen30. Es ist allerdings eine häufig geübte Praxis der Flugsicherung, die Flugzeuge nicht auf die in den Flugroutenverordnungen bestimmten Routen zu führen, sondern ihnen im Wege der Flugver___________ 27 BayVGH, Gerichtsbescheid vom 30.11.1993, 20 A 93.40022 u.a., NVwZ-RR 1995, 114, 116. 28 BVerfG, Kammerbeschl. vom 2.4.1997, 1 BvR 446/96, juris, Rn. 12. 29 HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 25. Der HessVGH stützte sich dabei auf das Urt. des BVerwG v. 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 33, das zu dem hier interessierenden Punkt lediglich erklärt, es treffe nicht zu, dass die Flugroutenfestlegung die Kläger nur in tatsächlicher Hinsicht betreffe. 30 HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1062/01, juris, Rn. 44, 51; Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 31; Urt. vom 24.10.2006, 12 A 2216/05, juris, Rn. 57.
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kehrskontrollfreigabe nach § 26 LuftVO andere Flugwege zuzuweisen, sog. „Directs“. Obwohl die „Directs“ nicht Gegenstand des Verfahrens waren, meldete der HessVGH in seinem Urteil vom 11.2.200331 gegen diese Praxis durchgreifende rechtliche Bedenken an: „Diese (sc. die rechtlichen Bedenken) resultieren in formeller Hinsicht daraus, dass die Fluglotsen bei der Vergabe der einzelnen Flugverkehrskontrollfreigaben an die gesetzlichen Bestimmungen, also auch an die durch Rechtsverordnung festgesetzten Flugverfahren gebunden sind. Der Senat verkennt nicht, dass die Ausweisung von Flugrouten als ein standardisiertes Verfahren an übliche Bedingungen anknüpft, so dass die Fluglotsen bei besonderen – z.B. meteorologischen – Situationen oder gar bei Gefahren für die Sicherheit des Luftverkehrs in der Lage sein müssen, individuelle Flugwege zu bestimmen. Eine davon unabhängige generelle Ermächtigung, von zugelassenen Flugverfahren abzuweichen, lässt sich auch nicht aus der Erwägung herleiten, dass der gesamte Luftraum grundsätzlich allen Luftfahrzeugen offen steht.“
Der Meinung des HessVGH ist auch das BVerwG beigetreten32: „Als effektiver erweist sich die Feststellungsklage insbesondere dann, wenn sich durch sie eine Vielzahl potentieller Anfechtungsprozesse vermeiden lässt. Dies trifft für das Verhältnis der Flugroutenfestlegung zu den auf ihrer Grundlage erteilten Einzelflugfreigaben zu. Der von der Beigeladenen aufgezeigte Weg, eine einzelne Freigabeentscheidung anzufechten und im Rahmen dieses Rechtsstreits die Frage nach der Gültigkeit des angewandten Flugverfahrens klären zu lassen, nötigt nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Die Klägerinnen ziehen die normativen Vorgaben im Zweifel, die der Entscheidungsebene der Kontrollfreigabe vorgelagert sind.“
Dieser Auffassung ist beizupflichten. Sie entspricht der Rechtsquellenlehre, wonach Rechtsverordnungen zwar in der Rangfolge der Rechtsquellen unter dem Gesetz stehen, aber ebenso wie ein förmliches Gesetz allgemein verbindliches Recht erzeugen33. Die Flugverkehrskontrolle (§ 27c Abs. 2 S. 1 Nr. 1 lit. a LuftVG, §§ 4 ff. FSDurchführungsV34) wird insbesondere durch das Erlassen von Verfügungen und das Erteilen von Flugverkehrskontrollfreigaben (§ 8 Abs. 1 Nr. 2 FS DurchführungsV) und damit hoheitlich durchgeführt35. Bei der Durchführung der Flugverkehrskontrolle gehören das Flugsicherungsunternehmen und seine Bediensteten zur vollziehenden Gewalt, die nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist. Nach herrschender und richtiger Mei-
___________ 31
HessVGH, Urt. vom 11.2.2003, 2 A 1569/01, juris, Rn. 86, 87. BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 19. 33 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band III, 1996, § 64 Rn. 1. 34 FSDurchführungsV – Verordnung über die Durchführung der Flugsicherung vom 17.12.1992, BGBl. I S. 2068, zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 24. August 2009, BGBl. I S. 2942. 35 Risch, in: Grabherr/Reidt/Wysk, LuftVG, Loseblatt, Stand Juli 2012, § 27c, Rn. 34. 32
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nung ist die Bindung an Gesetz und Recht als Bindung auch an Rechtsverordnungen zu verstehen36. Trotz der eindeutigen und zutreffenden Auffassung in der Rechtsprechung ist das BAF der Meinung, die Flugsicherung sei an die aus festgelegten Flugverfahren resultierenden Verhaltensgebote nicht gebunden. Zur Begründung stützt sich das BAF i.d.R. auf den Wortlaut des § 27a Abs. 1 LuftVO, wonach die Verhaltensgebote aus den Flugverfahren ausdrücklich nur vorbehaltlich der Nichterteilung anders lautender Flugverkehrskontrollfreigaben gelten. Die Vorschrift des § 27a Abs. 1 LuftVO anerkenne damit die jederzeit bestehende Möglichkeit der Flugsicherungsstellen, das Verkehrsgeschehen abweichend von festgelegten Flugverfahren zu regeln. Der Wortlaut des § 27a Abs. 1 LuftVO trägt diese Auslegung nicht. § 27a Abs. 1 LuftVO regelt allein die Frage, welche Anordnungen der Luftfahrzeugführer zu befolgen hat, und ordnet den Vorrang der Flugverkehrskontrollfreigabe nach § 26 LuftVO vor den Verhaltensregeln der Flugroutenverordnung an. Die Frage, welchen rechtlichen Bindungen die Flugverkehrskontrollstelle ihrerseits bei der Erteilung von Flugverkehrskontrollfreigaben unterliegt, wird in § 27a Abs. 1 LuftVO weder nach dem Wortlaut noch nach Sinn und Zweck der Vorschrift geregelt. Befugnisse der Flugsicherungsorganisation sind erst Gegenstand der Regelungen von Art. 27a Abs. 2 S. 2-5 LuftVO. Dort wird im Einzelnen geregelt, in welchen Fällen und in welcher Rechtsform die Flugsicherungsorganisation von den durch Rechtsverordnung festgelegten Flugverfahren abweichen darf. 3. Verwaltungsprozessuale Fragen a) Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten In dem bereits zitierten Gerichtsbescheid vom 30.11.199337 war der BayVGH der Meinung, der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten sei für Klagen gegen die Festlegung von Flugrouten nicht gegeben: „Da Bundesrechtsverordnungen grundsätzlich nicht der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 VwGO unterliegen, stellt sich ein (wenngleich als Feststellungsklage betriebenes) Verfahren zur Entscheidung über die Rechtswirksamkeit einer derartigen Norm als Verfassungsgerichtsbarkeit dar. In diesem Rahmen Entscheidungen zu treffen, ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht berufen.“
___________ 36
Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 107; Grzeszick, in: MaunzDürig, GG, Loseblatt, Stand April 2012, Art. 20, VI, Rn. 61, 62 – jew. m.w.N. auch zur Gegenmeinung; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20, Rn. 38. 37 BayVGH, Gerichtsbescheid vom 30.11.1993, 20 A 93.40022 u.a., NVwZ-RR 1995, Seite 114, 116.
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Zusätzlich vertrat der BayVGH in dieser Entscheidung die Auffassung, ausreichender Rechtsschutz im Sinn von Art. 19 Abs. 4 GG gegen die sich selbst vollziehende und damit einer Inzidentkontrolle nicht zugängliche Flugroutenverordnung werde den Klägern durch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und b GG gewährt. Danach wäre das Bundesverfassungsgericht als Tatsachengericht erster und letzter Instanz für Klagen gegen die Festlegung von Flugrouten zuständig gewesen. Dieser Zumutung ist das Bundesverfassungsgericht entgegengetreten38. Der Anspruch, vor dem durch die Flugroutenverordnung verursachten Fluglärm bewahrt zu werden, so das BVerfG, könne von einem Flughafenanrainer in zulässiger Weise vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden. Auch wenn der Anspruch aus Grundrechten hergeleitet werde, handele es sich dabei nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit, für die der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO nicht offen stünde. b) Statthafte Klageart Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof war außerdem der Meinung, die VwGO stelle für einen Angriff auf die als Bundesrechtsverordnung erlassenen Flugverfahren keine statthafte Klageart zur Verfügung39. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit dem bereits mehrfach zitierten Kammerbeschluss vom 2.4.199740 die Verwaltungsgerichtsbarkeit gezwungen hatte, sich der Klagen gegen Flugroutenfestlegungen anzunehmen, entschied das Bundesverwaltungsgericht sich für die allgemeine Feststellungsklage als statthafter Rechtsschutzform41. c) Drittschutz durch § 29b Abs. 2 LuftVG42 Hatte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 28.06.200043 noch ausdrücklich offen gelassen, ob § 29b Abs. 2 LuftVG eine Schutznorm zu Gunsten des klagenden Flughafenanrainers darstellt, entschied sich das Gericht knapp vier Jahre später44 dafür, Drittschutz aus § 29b Abs. 2 ___________ 38
BVerfG, 1. Senat, 1. Kammer, Beschl. vom 2.4.1997, 1 BvR 445/96, juris, Rn. 12. BayVGH, Gerichtsbescheid vom 30.11.1993, 20 A 93.40022 u.a., NVwZ-RR 1995, Seite 114, 116. 40 BVerfG, 1. Senat, 1. Kammer, Beschl. vom 2.4.1997, 1 BvR 446/96, juris, Rn. 12. 41 BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 30. 42 § 29b Abs. 2 LuftVG lautet: „Die Luftfahrtbehörden und die Flugsicherungsorganisation haben auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm hinzuwirken.“ 43 BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 34. 44 BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 15/03, juris, Rn. 32. 39
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LuftVG zu gewähren. Es entspreche ständiger Rechtsprechung, dass die Vorschriften, die der Abwehr erheblicher Belästigungen im Sinne der Definition des § 3 Abs. 1 BImSchG dienten, Drittschutz vermittelten. Nichts anders gelte für den durch § 29b Abs. 2 LuftVG begründeten Schutz der Bevölkerung.
III. Resümee de lege lata Auf der Grundlage und im Rahmen des geltenden Rechts hat sich die juristische Behandlung der Flugroutenverordnungen in der Zeit bis 2004 dynamisch entwickelt. Waren die Flugroutenverordnungen zunächst reine Expertendomäne und praktisch nicht justitiabel, haben die Gerichte wesentliche Schritte getan, um die Flugroutenverordnungen formal in das rechtsstaatliche Gefüge zu integrieren. Noch immer aber sträuben sich die Gerichte gegen eine effektive materielle Kontrolle der Flugroutenverordnungen. 1. Formale Integration der Flugrouten in das rechtsstaatliche Gefüge Die Ausführungen des BVerwG zur Arbeitsteilung zwischen der DFS und der die Rechtsverordnung erlassenden Behörde haben zu einer wesentlichen Veränderung der Verwaltungspraxis geführt45. Die Feststellung der Gerichte, dass eine Anhörung von Gemeinden oder anderen Personen, die von der Festlegung einer Flugroute betroffen sind, im geschriebenen Recht nicht vorgeschrieben ist, lässt sich nicht bestreiten. Der Hinweis von Wysk46, wonach die umfassende Information und Beteiligung aller, die es angeht, gleichwohl rechtlich zulässig sei und im Einzelfall einem Gebot praktischer Vernunft entsprechen könne, blieb ohne Widerhall. Die Beteiligung Betroffener ist ein Desiderat. Zu begrüßen ist dagegen, dass sich das BVerwG dazu durchgerungen hat, der intensiven tatsächlichen Wirkung der Flugroutenfestlegung gegenüber Anrainern auch Rechtswirkung beizumessen und Drittschutz aus § 29b Abs. 2 LuftVG anzuerkennen. ___________ 45 Abwägungsvermerke des BAF wie etwa den über die Festlegung von Flugverfahren für den Verkehrsflughafen Berlin-Brandenburg (BER) vom 26.1.2012 http://www.baf.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen_BAF/BAF_Abwaeg ungsvermerk_BER.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt aufgerufen am 21.12.2012, gab es früher nicht. 46 ZLW 1998, S. 285, 289.
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Für Klagen gegen die Festlegung von Flugrouten ist nunmehr unbestritten der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 Abs. 1 VwGO) frei, die Feststellungsklage (§ 43 VwGO) als Rechtsschutzform ist akzeptiert und die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) wird bejaht, wenn der Kläger geltend macht, durch die Flugroutenfestlegung abwägungserheblichem Fluglärm ausgesetzt zu sein. 2. Defizitäre materielle Kontrolle Die Gerichte haben als Kontrollnorm für die Flugrouten aber ein außerordentlich schwaches, praktisch unwirksames Abwägungsgebot sui generis konstruiert, das der „besonderen sachlichen Eigenart“ der Flugroutenfestlegung geschuldet sein soll. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Festlegung von Flugrouten für die Verursachung überflugbedingter Immissionen und damit für die Beeinträchtigung der Anrainer hat, wirft der von den Verwaltungsgerichten bei der Flugroutenkontrolle geübte judicial self restraint verfassungsrechtliche Bedenken auf. Dies gilt umso mehr, als die dafür angeführten sachlichen Gründe nicht überzeugen. a) Vorgabe des Lärmpotenzials, „Bewirtschaftung“ des Fluglärms Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts fehlt der Festlegung von Flugverfahren ein der Planung immanentes Element insofern, als das BAF keinen Einfluss auf den Umfang des Flugbetriebs habe. Die Quelle des Fluglärms sei seiner Einwirkung entzogen. Die maßgeblichen Sätze, mit denen der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts diese Besonderheit beschreibt, haben den folgenden Wortlaut47: „Die Quelle des Fluglärms ist seiner (sc. des LBA) Einwirkung entzogen. Insoweit bestimmt die luftseitige Verkehrskapazität des jeweiligen Flughafens (Start- und Landebahnen, Rollwege, Vorfeldflächen) nach Maßgabe der luftrechtlichen Zulassungsentscheidung das Lärmpotential. Das Luftfahrt-Bundesamt ist darauf beschränkt, den vorhandenen Lärm gleichsam zu ‚bewirtschaften‘. Einen umfassenden Interessenausgleich, wie ihn das Planungsrecht fordert, kann das LuftfahrtBundesamt nicht gewährleisten.“ Von dieser These ist das Bundesverwaltungsgericht fest überzeugt. In der Rechtsprechung des Senats sei, so liest man in dem Beschluss vom 7.4.200648 sei geklärt, dass das LBA bei seiner Abwägung die von der zuständigen Landesluftfahrtbehörde in der Planfeststellung und der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung des Flughafens getroffenen Entscheidungen zu beachten habe. De___________ 47 48
BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 26. BVerwG, Beschl. vom 7.4.2006, 4 D 69/05, juris, Rn. 4.
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ren Ausnutzung dürfe es nicht vereiteln. Es sei daher gehindert, Regelungen zu treffen, die im Widerspruch zu bereits erlassenen Entscheidungen über den Betrieb des Flughafens stünden49. Obwohl diese These den Gestaltungsspielraum des BAF bei der Flugroutenfestlegung massiv beschränkt und im Ergebnis dazu zwingt, dem BAF auch die Verursachung unzumutbaren Fluglärms zu gestatten, begnügt sich das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung mit dem bloßen Hinweis auf „kompetenzrechtliche Gründe“50 oder „Kompetenzgründe“51. Gegen diese „Bewirtschaftungsthese“ spricht zunächst ein systematisches Argument. In der Tat trennt der Bundesgesetzgeber die Kompetenzräume der Landesbehörden und des BAF sorgfältig voneinander. Er hat den Ländern ausschließlich die Kompetenz übertragen, die Bodennutzung der Flugplätze zu regeln. Die Länder haben jedoch keine Kompetenz, Maßgaben für die Luftraumnutzung zu setzen52. Anders, als das Bundesverwaltungsgericht meint, folgt aus dieser Zuständigkeitsverteilung, dass den Ländern bereits die Kompetenz fehlt, das BAF bei der Flugroutenfestlegung in irgendeiner Weise rechtlich zu binden oder im Rechtssinne zu beachtende Vorgaben zu setzen. Dem entsprechend fehlt auch im LuftVG und LuftVO jeder geschriebene Hinweis darauf, dass das BAF bei der Festlegung von Flugrouten an Vorgaben von Landesbehörden gebunden ist. Zu Ende gedacht, hätte die These des Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf den Flugplatzunternehmer eine bemerkenswerte Folge. Die Planfeststellung oder Genehmigung für einen Flugplatz wird dem Flugplatzunternehmer erteilt. Es handelt sich um einen für ihn begünstigenden Verwaltungsakt, der ihm in seinem Regelungsbereich korrespondierende Ansprüche verleiht. Sollte es dem BAF tatsächlich verboten seien, die Ausnutzung eines Planfeststellungsbeschlusses oder einer Genehmigung zu vereiteln, müsste der Flugplatzunternehmer aus dem gleichen Planfeststellungsbeschluss einen Anspruch darauf ableiten können, dass das BAF eine solche Vereitelung unterlässt. Diese Konsequenz scheint aber auch dem Bundesverwaltungsgericht unheimlich zu sein, denn es weist in seiner Entscheidung vom 4.5.200553 darauf hin, dass der Betreiber eines deutschen Flughafens jedenfalls keinen Anspruch auf Benutzung bestimmter An- oder Abflugrouten während der gesamten Betriebszeit hat. ___________ 49
Ebenso bereits BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 36; Beschl. vom 4.5.2005, 4 C 6/04, juris, Rn. 32. 50 BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 23. 51 BVerwG, Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, jursi, Rn. 36. 52 Vgl. im Einzelnen oben Ziff. I. 53 BVerwG, Beschl. vom 4.5.2005, 4 C 6/04, juris, Rn. 32.
Prognose, Festlegung und Bedeutung von Flugrouten
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Selbst wenn man aber mit dem Bundesverwaltungsgericht eine Bindung des BAF an den von einer Landesbehörde erlassenen Planfeststellungsbeschluss oder die Genehmigung akzeptierte, könnte diese Bindung nur soweit reichen, wie die genannten landesbehördlichen Verwaltungsakte tatsächlich Regelungen enthalten und Geltung beanspruchen. In aller Regel enthalten aber die luftverkehrsrechtlichen Planfeststellungsbeschlüsse oder Genehmigungen keine Regelung zur Verkehrskapazität. Zu Recht stellte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof54 fest, die Planfeststellung bzw. Genehmigung beziehe sich nicht auf die Kapazität als solche, sondern auf die wesentlichen Grundlagen der Kapazität, nämlich insbesondere die Größe und Konfiguration des Bahnsystems. Da die Planfeststellungsbeschlüsse und Genehmigungen nach dem LuftVG grundsätzlich keine Regelungen zur Verkehrskapazität, zum Verkehrspotential oder zum Lärmpotential enthalten, können sie schon aus diesem tatsächlichen Grund insoweit keine von dem BAF zu beachtenden Vorgaben enthalten. Nach hier vertretener Auffassung muss das BAF im Rahmen der Abwägung über die Festlegung von Flugrouten die luftverkehrsrechtliche Planfeststellung oder Genehmigung und die – wesentlich von technischen und organisatorischen Faktoren abhängigen – Betriebsvorstellungen des Flugplatzunternehmers ermitteln und als einfachen Belang berücksichtigen. b) Tatsächliche Schwierigkeiten der Lärmberechnung Das Bundesverwaltungsgericht meint, dass sich der Fluglärm wegen der Streuung der tatsächlichen Flugbewegungen nicht präzise berechnen ließe. Flugstrecken ließen sich nicht so festlegen, dass parzellenscharf festgestellt werden könne, mit welchen Beeinträchtigungen Dritte rechnen müssten. Die Immissionen, die von Luftfahrzeugen ausgingen, hingen von verschiedenen Faktoren, etwa vom Flugzeugtyp, der Triebwerksleistung und meteorologischen Verhältnissen ab. Wegen dieser Imponderabilien sei die Schallausbreitung nicht exakt vorhersehbar. Dies zwinge bei der Ermittlung und Bewertung der Belastungssituation zu Pauschalierungen. Deshalb könne die Sachverhaltsfeststellung sich durchweg darauf beschränken, anhand von aktuellem Kartenmaterial aufzuklären, wie groß der Kreis potenziell Betroffener sei55. Diese Erwägungen erscheinen angesichts der technischen Entwicklung als obsolet. Im Zuge der Umsetzung des novellierten Fluglärmschutzgesetzes56 ___________ 54
Urt. vom 7.1.2003, 20 A 02.40036, 20 A 02.40037, juris, Rn. 9. BVerwG, Urt. vom 24.6.2004, 4 C 11/03, juris, Rn. 40; Urt. vom 28.6.2000, 11 C 13/99, juris, Rn. 44. 56 Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.10.2007, BGBl. I S. 2550. 55
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sind kodifizierte (AzB57, AzD58) und standardisierte (zertifizierte Berechnungsprogramme) Instrumente entstanden, die eine parzellengenaue Berechnung des Fluglärms ohne weiteres ermöglichen. Nach § 3 Abs. 1 FluglärmschutzG, § 4 der 1. FlugLSV59 werden der äquivalente Dauerschallpegel für die Tag-Schutzzonen 1 und 2 sowie der äquivalente Dauerschallpegel und der Maximalpegel für die Nacht-Schutzzone unter Berücksichtigung von Art und Umfang des voraussehbaren Flugbetriebs ermittelt. Diese parzellenscharfe Fluglärmermittlung auf der Grundlage einer Flugbetriebsprognose ist mittlerweile Routine, die auch in den Zulassungsverfahren für die Bodeninfrastruktur des Luftverkehrs angewandt wird.
IV. Neues Konzept de lege ferenda: Flugroutenfestlegung als ordentliche Fachplanung Jede staatliche Planungsentscheidung, die ursächlich ist für abwägungserhebliche Fluglärmimmissionen, sollte auf einem sorgfältigen Abwägungsprozess beruhen. Das gilt für die Anlage und die wesentliche Änderung von Flugplätzen. Es muss auch gelten für die Festlegung von Flugrouten. Über die erstmalige Festlegung und wesentliche Änderung von Flugrouten sollte deshalb nach den materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln der Fachplanung entschieden werden, wenn Dritte dadurch erstmalig oder stärker als bisher Fluglärm oder anderen überflugbedingten Immissionen ausgesetzt werden. Nach dem heute erreichten technischen Stand steht die Besonderheit des Flugverkehrs, in der Luft keines festen Weges zu bedürfen, dem nicht mehr entgegen. Eine Änderung von LuftVG und LuftVO könnte den folgenden Inhalt haben. Einige der vorgeschlagenen Regelungen dienen nach hier vertretener Auffassung lediglich der Klarstellung des Gewollten. Änderung des LuftVG 1. Nach § 10 LuftVG wird § 10a LuftVG eingefügt:
___________ 57 AzB – Anleitung zur Berechnung von Lärmschutzbereichen vom 19.11.2008, BAnz. Nr. 195a vom 23.12.2008. 58 AzD – Anleitung zur Datenerfassung über den Flugbetrieb vom 19.11.2008, BAnz. Nr. 195a v. 23.12.2008. 59 1. FlugLSV – Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm (Verordnung über die Datenerfassung und das Berechnungsverfahren für die Festsetzung von Lärmschutzbereichen) vom 27. 12.2008, BGBl. I S. 2980.
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§ 10a (Flugverfahren) 1
(1) Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erlässt ohne Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Rechtsverordnungen über die Festlegung von Flugverfahren für Flüge innerhalb von Kontrollzonen, für An- und Abflüge zu und von Flugplätzen mit Flugverkehrskontrollstelle und für Flüge nach Instrumentenflugregeln, einschließlich der Flugwege, Flughöhen und Meldepunkte. 2Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung kann diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates auf das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung übertragen. (2) 1Bei der Festlegung und wesentlichen Änderung von Flugverfahren i.S.v. Abs. 1 Satz 1 sind die von den Flugverfahren berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. 2 Dabei ist auf die Nachtruhe der Bevölkerung in besonderem Maße Rücksicht zu nehmen. 3Soweit zur Vermeidung unzumutbaren Fluglärms erforderlich, kann die Nutzung der Kapazität eines Flugplatzes durch die Festlegung der Flugverfahren beschränkt werden. (3) Vor der Festlegung oder wesentlichen Änderung von Flugverfahren i.S.v. Abs. 1 Satz 1 ist die Stellungnahme des Umweltbundesamtes einzuholen und ein Anhörungsverfahren in entsprechender Anwendung von § 73 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Verbindung mit § 10 Abs. 3 durchzuführen, wenn Dritte durch geplante Flugverfahren erstmalig oder stärker als bisher Fluglärm oder anderen flugbedingten Immissionen ausgesetzt werden. (4) 1Werden Flugverfahren i.S.v. Abs. 1 Satz 1 aus Anlass der Anlage oder der wesentlichen Änderung von Flugplätzen festgelegt oder wesentlich geändert, wird die entsprechende Rechtsverordnung vor der Genehmigung oder dem Planfeststellungsbeschluss für die Anlage oder die wesentliche Änderung des Flugplatzes erlassen. 2Ihr wesentlicher Inhalt liegt der Genehmigung oder dem Planfeststellungsbeschluss für die Anlage oder die wesentliche Änderung des Flugplatzes zugrunde. 3Sie tritt in Kraft mit Inbetriebnahme des angelegten oder wesentlich geänderten Flugplatzes. 2. In § 29b Abs. 2 LuftVG wird das Wort „unzumutbarem“ gestrichen. 3. § 32 Abs. 4 Nr. 8 LuftVG wird gestrichen. 4. In § 32 Abs. 4c Satz 1 LuftVG werden die Worte „bis 8“ gestrichen. 5. § 32 Abs. 4c Satz 2 LuftVG wird gestrichen. Änderung der LuftVO 1. § 26 Abs. 2 LuftVO wird wie folgt gefaßt: (2) 1Mit der Flugverkehrskontrollfreigabe erhält der Luftfahrzeugführer die Erlaubnis, seinen Flug unter bestimmten Bedingungen durchzuführen. 2Flugverkehrs-
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kontrollfreigaben werden von der zuständigen Flugverkehrskontrollstelle nach Maßgabe der Verordnung nach § 27a Abs. 2 Satz 1 erteilt. 3Abweichungen hiervon sind nur aus zwingenden Gründen der Sicherheit zulässig.
V. Prognose von Flugrouten Sie erübrigt sich nach dem vorgestellten Konzept. Da die Flugrouten danach vor der Genehmigung oder Planfeststellung erlassen werden, sind sie keine Prognose mehr, sondern haben rechtliche Existenz. Bürger und Behörden können sich darauf verlassen, es sei denn die Flugroutenverordnung wird in einem förmlichen Verfahren geändert, das jedoch erneut Rechtsschutz gewährt und eröffnet.
Windenergieanlagen und Luftverkehr Von Norbert Kämper
I. Problemaufriss Windenergieanlagen und Luftfahrzeuge nutzen dasselbe Medium, nämlich den Luftraum. Mit dem zunehmenden Ausbau der Windenergieanlagen zur Stromproduktion mehren sich die Nutzungskonflikte mit dem Flugverkehr, die zunehmend auch die Gerichte beschäftigen. Die Rechtsordnung muss deshalb ein Instrumentarium bereitstellen, um diese Nutzungskonflikte zu lösen und den politisch gewollten Ausbau der Windenergie zu gewährleisten, ohne die Luftfahrt – ebenfalls eine Wachstumsbranche mit erheblichem Aufwuchspotential – zu beschneiden. 1. Windenergieanlagen Im Jahr 1 nach Fukushima beträgt der Anteil der Eneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch in der Bundesrepublik etwa 20 %. Dieser Anteil soll nach dem Willen der Bundesregierung bis zum Jahre 2050 auf nahezu 100 % gesteigert werden. Derzeit hat die Windenergie am Gesamtenergieverbrauch nur einen geringen Anteil, an der Stromproduktion immerhin einen Anteil von etwa 6,5 %. Es wird geschätzt, dass dieser Anteil schon bis zum Jahre 2020 auf etwa 27 % gesteigert werden soll. Die regionale Verteilung der Windenergieanlagen ist recht unterschiedlich. Aus klimatischen Gründen konzentriert sich die Windenergiebranche auf Norddeutschland; der forcierte Ausbau in den nächsten Jahren soll bei den Offshore-Anlagen in Nord- und Ostsee stattfinden. Das Land Niedersachsen will nach seinem am 31.1.2012 verabschiedeten Energiekonzept1 bis zum Jahr 2020 90 % seines Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien beziehen und neben dem Ausbau der Offshore-Windenergie auch den Ausbau des Onshore-Bereichs erleichtern, etwa durch den Verzicht auf Höhenbegrenzungen für Windenergieanlagen. ___________ 1
Download unter www.umwelt.niedersachsen.de/themen/energie/102802.html.
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Norbert Kämper
Aber auch die Binnenländer wollen an dem Ausbau der Windenergie teilnehmen. So hat das Land Nordrhein-Westfalen mit dem Windenergie-Erlass vom 11.07.20112 verkündet, den Anteil der Windenergie von derzeit 3 % an der Stromerzeugung auf mindestens 15 % im Jahre 2020 auszubauen, d.h. die Windenergieerzeugung in neun Jahren zu verfünffachen. Das wird trotz des beabsichtigten Repowering, d.h. der Ersetzung vorhandener Windräder durch größere leistungsfähigere Einheiten, nicht ohne eine massive Erhöhung der Anzahl der Windenergieanlagen (WEA) möglich sein. Um die Effektivität der WEA zu erhöhen, geht der Trend zu immer höheren Anlagen. Derzeit weist ein Großteil der Anlagen noch eine Maximalhöhe von 100 bis 150 m auf; es werden jedoch auch bereits Onshore-Anlagen mit über 260 m Höhe gebaut. Der Grund hierfür ist die Erkenntnis, dass Höhenwinde kontinuierlicher und mit wesentlich größerer Energie unterwegs sind. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Technik mittlerweile auch versucht, diese Höhenwinde zur Energiegewinnung zu nutzen. Größere Höhen können nicht sinnvoll mit starren Windrädern erreicht werden. Die an Seilen mit dem Boden verbundenen Lenkdrachen, sog. Kytes, sind dafür besser geeignet. Sie können nicht nur auf Schiffen, sondern auch an Land zur Gewinnung elektrischer Energie genutzt werden. Eine Höhenbegrenzung hierfür existiert nicht. Es sind bereits Anlagen mit Flughöhen von 500 m geplant. Eine Versuchsanlage ist in Deutschland befristet genehmigt, allerdings mit einer Flughöhenbegrenzung auf 100 m. 2. Luftfahrthindernisse Windräder können Luftfahrthindernisse darstellen. Hinsichtlich der Lenkdrachen, die nicht starr mit dem Boden verbunden sind, sondern nur über Seile, stellt sich die Frage, wie diese luftverkehrsrechtlich zu behandeln sind. Nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 2 Ziff. 7 LuftVG wurden „Drachen“ als Luftfahrzeuge gewertet. Gleichzeitig stellen sie materiell Luftfahrthindernisse dar. Im Luftverkehrsgesetz findet sich zwar keine Definition des Luftfahrthindernisses; die weite Definition des Begriffs „Obstacle“ im ICAO-Regelwerk, Annex 14, bezieht jedoch auch bewegliche Objekte ein, die über Flächen hinausragen, die zum Schutz von Luftfahrzeugen bestimmt sind3. Die Frage, ob Luftfahrzeu___________ 2 Erlass für die Planung und die Genehmigung von Windenergieanlagen und Hinweise für die Zielsetzung und Anwendung (Windenergie-Erlass) vom 11.7.2011 MBl. NRW. S. 317 ff. 3 Eine Übersetzung dieser Definition könnte etwa wie folgt lauten: Alle festen (zeitweilig oder ständig vorhandenen) und alle beweglichen Objekte oder Teile davon, die sich auf einer für die Bodenbewegungen von Luftfahrzeugen bestimmten Fläche befinden oder über eine festgelegte Fläche hinausragen, die zum Schutz von Luftfahrzeugen im Flug bestimmt ist.
Windenergieanlagen und Luftverkehr
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ge gleichzeitig als Luftfahrthindernisse behandelt werden können, versucht der Gesetzgeber mit Hilfe der Herausnahme der Ziff. 7 aus der Legaldefinition des Luftfahrzeugs in § 1 Abs. 2 LuftVG zu regeln. Mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes4 werden die Drachen damit nicht mehr den Luftfahrzeugen zugerechnet. Diese Interpretation wird durch die neue Regelung des § 31 Abs. 2 Nr. 16 lit. h) LuftVG ergänzt – eine Zuständigkeitsvorschrift –, wonach die Länder die Erlaubnis erteilen zu besonderer Nutzung des Luftraums für „den Aufstieg und Betrieb von Geräten, die ohne Luftfahrzeug zu sein, besondere Gefahren für die Luftfahrt mit sich bringen, insbesondere … Drachen …“. In der Begründung zu dieser in den Ausschussberatungen angefügten Änderung wird angemerkt, dass diese Geräte keine Luftfahrzeuge darstellen, sondern Hindernisse für die Luftfahrt5. Auch die Begründung des Regierungsentwurfs geht davon aus, dass vom Boden aus gesteuerte (Lenk-)Drachen aus heutiger Sicht fachlich nicht als Luftfahrzeug, sondern als Hindernis für die Luftfahrt einzustufen seien und deshalb auch luftrechtlich so zu behandeln seien6. Ob damit tatsächlich Klarheit herbeigeführt wurde, ist nicht ganz eindeutig, da die Aufzählung in § 1 Abs. 2 LuftVG nur beispielhaft ist und im Übrigen die Sammeldefinition in der Nummer 11 enthält, wonach auch Luftfahrzeuge sind „sonstige für die Benutzung des Luftraums bestimmte Geräte, sofern sie in Höhen von mehr als 30 m über Grund oder Wasser betrieben werden können“. Das ist bei diesen Lenkdrachen, die auch in wesentlich größeren Höhen betrieben werden sollen, der Fall. Die Luftverkehrsordnung sieht Sicherheitsmindesthöhen vor, die von Luftfahrzeugen einzuhalten sind und nur bei Starts und Landungen unterschritten werden dürfen. Diese beträgt nach § 6 LuftVO über Städten und anderen dicht besiedelten Gebieten oder über Industrieanlagen mindestens 300 m über dem höchsten Hindernis in einem Umkreis von 600 m, in allen übrigen Fällen 150 m über Grund. Damit wird deutlich, dass bereits die vorhandenen Windräder einen erheblichen Einfluss auf den Flugverkehr haben können; als Luftfahrthindernisse führen sie zu einer faktischen Erhöhung der Mindestflughöhen über den betroffenen Gebieten. In der Umgebung von Flugplätzen können sie zu erheblichen Einschränkungen der Anfliegbarkeit führen.
___________ 4
Vom 8.5.2012, BGBl I S. 1032. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom 25.1.2012, BT-Drs. 17/8467, S. 7. 6 BR-Drs. 571/11, S. 20. 5
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3. Beeinträchtigung von Flugsicherungseinrichtungen Während die Hindernissituation noch nachvollziehbar dargestellt werden kann, ist ein anderer Effekt wesentlich komplexer: Windräder lösen Radarechos aus, die im Hinblick darauf, dass diese Windräder beweglich sind, je nach Drehung und Geschwindigkeit von den Radarechos von Luftfahrzeugen kaum oder nicht zu unterscheiden sind. Die einzelnen Windenergieanlagen bilden radartechnisch Störzellen, die sich bei den größeren Windparks zu Störzonen verdichten. Werden solche Störzonen von Luftfahrzeugen überflogen, können diese – wenn der Überflug eine gewisse Zeitdauer überschreitet – radartechnisch nicht mehr identifiziert werden. Die Überflughöhe spielt dabei keine maßgebliche Rolle, weil die gängigen Radargeräte ihre Ziele zweidimensional erfassen. Die Erfassung der Ziele erfolgt nicht kontinuierlich; vielmehr haben die Radar-Rundsuch-Antennen selbst eine Drehgeschwindigkeit von 4–5 Sekunden. Werden die Luftfahrzeuge für mehr als zwei Antennenumdrehungen des Radargeräts nicht erfasst, kommt es zu Zielverlusten, die ein vollständiges Luftlagebild nicht mehr ermöglichen. Möglich sind auch Falschanzeigen oder Spiegelungen, d.h. das LfZ wird an einer anderen Position abgebildet als es sich tatsächlich befindet. Das Ausmaß der Störwirkung ist von zahlreichen Parametern abhängig wie etwa Höhe der WEA, Drehung der Rotoren, Rotationsgeschwindigkeit, Überfluggeschwindigkeit der LfZ, Topografie, weitere vorhandene Bebauung usw.
II. Rechtliche Bewältigung Zur Bewältigung dieser Problematik sieht das Luftverkehrsrecht diverse Regelungen zum Umgang mit Luftfahrthindernissen und zum Schutz von Flugsicherungseinrichtungen vor. Bei der Errichtung von Windparks spielt aber auch das Recht der Raumordnung und der Bauleitplanung eine große Rolle. Noch nicht höchstrichterlich entschieden ist, wie beide Rechtsbereiche, die durchaus nicht miteinander harmonieren, in ein konsistentes Verhältnis gesetzt werden können. 1. Genehmigungsrechtlicher Rahmen Die typische Konfliktlage entsteht, wenn Windenergieanlagen im Einwirkungsbereich von Flugsicherungseinrichtungen oder in der Umgebung von Flugplätzen errichtet werden sollen, es entsteht also ein klassischer nachbarrechtlicher Konflikt zwischen vorhandener bestandsgeschützter fliegerischer Nutzung und heranrückender störender Bebauung. Dieser Konflikt ist im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens zu lösen. Die Errichtung von Windenergieanlagen als bauliche Anlagen ist grundsätzlich baugenehmigungspflichtig;
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seit 2005 unterfallen Windkraftanlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m dem Immissionsschutzrecht. a) Bundes-Immissionsschutzgesetz Windkraftanlagen sind nach Ziff. 1.6 der 4. BImSchV „Spalte 2-Anlagen“7, d.h. im vereinfachten Verfahren nach § 19 BImSchG genehmigungspflichtig, ggf. nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 lit. c) der 4. BImSchV auch nach § 10 BImSchG in einem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung, wenn eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist. Das ist nach Ziff. 1.6 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 1 S. 1 UVPG bei bestimmten Windfarmen der Fall. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer BImSch-Genehmigung sind in § 6 Abs. 1 BImSchG definiert: • Nach Ziff. 1 muss sichergestellt sein, dass die sich aus § 5 BImSchG ergebenden Pflichten erfüllt werden; danach dürfen genehmigungsbedürftige Anlagen keine schädlichen Umwelteinwirkungen, aber auch keine sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteile oder erheblichen Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft hervorrufen. • Nach Ziff. 2 dürfen andere öffentlich-rechtliche Vorschriften der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Das erfordert insbesondere die baurechtliche Zulässigkeit des Vorhabens; eine erforderliche Baugenehmigung wird durch die Konzentrationswirkung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung umfasst8. b) Bauordnungsrecht Für die dem Baurecht unterliegenden Windkraftanlagen ist nach Landesrecht eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen, vgl. etwa § 75 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW. c) Genehmigung der Luftfahrtbehörde Für baurechtlich genehmigungsfreie Vorhaben bedarf die Errichtung dieser Bauwerke in einem großen Bauschutzbereich eines Flughafens der Genehmi___________ 7 Mit dem Gesetz zur Umsetzung der UVP-ÄnderungsRL … vom 27.7.2001 wurde die 4. BImSchV geändert; nach Ziff. 1.6 waren „Windfarmen“ genehmigungspflichtig. Seit dem 1.7.2005 gilt die Genehmigungspflicht für alle WEA ab 50 m Höhe. 8 Nds OVG, Urt. vom 18.7.2007 – 12 LC 56/07 – UA S. 11.
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gung der Luftfahrtbehörde unter ausschließlich luftverkehrssicherheitlichen Erwägungen, § 12 Abs. 2 S. 4 LuftVG. 2. Bauschutzvorschriften, §§ 12 ff. LuftVG Solche, einer immissionsschutzrechtlichen oder einer Baugenehmigung entgegenstehende öffentlich-rechtliche Vorschriften können die Bauschutzvorschriften des Luftverkehrsrechts sein. a) Bauschutzbereich, §§ 12, 17 LuftVG Bestehen nach der luftrechtlichen Genehmigung von Flugplätzen Bauschutzbereiche, dürfen Bauwerke in bestimmten Zonen und Bauhöhen nur mit Zustimmung der Luftfahrtbehörde errichtet werden. Wird diese Zustimmung fristgerecht verweigert, gilt ein Bauverbot; die §§ 12 Abs. 2 und 3 LuftVG enthalten daher materielles Baurecht9. Diese Bauverbote sind auch im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG zu beachten10. Für Landeplätze und Segelfluggelände sah § 17 LuftVG zunächst nur die Möglichkeit vor, einen beschränkten Bauschutzbereich zu bestimmen, wonach im Umkreis von 1,5 km Halbmesser um den dem Flughafenbezugspunkt entsprechenden Punkt die Errichtung von Bauwerken nur mit Zustimmung der Luftfahrtbehörde genehmigt werden darf. Die Bundesregierung hielt diese Regelung offensichtlich nicht für ausreichend. Deshalb wurde durch das 14. Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes § 17 LuftVG geändert und eine Ziff. 2 eingeführt, wonach die Errichtung von Bauwerken, die eine Höhe von 25 m bezogen auf den dem Flughafenbezugspunkt entsprechenden Punkt überschreiten, im Umkreis von 4 km Halbmesser von der Zustimmung der Luftfahrtbehörde abhängig gemacht werden darf. Begründet wird dies explizit damit, dass aufgrund der zahlreichen neuen Windkraftanlagen die Sicherheit des Luftverkehrs in der Umgebung von Flugplätzen nicht mehr gewahrt werden kann, weil der beschränkte Bauschutzbereich nicht ausreicht, um den gesamten Platzrundenverlauf abzudecken. Die Bundesregierung hält deshalb die Erweiterung der Zustimmungsbedürftigkeit auf einen Radius von 4 km um den Landeplatzbezugspunkt für dringend geboten11. ___________ 9 Wysk, in: Grabherr/Reidt/Wysk LuftVG, Stand: Juli 2012, § 12 Rn. 7; BVerwG, Urt. vom 16.7.1965 – IV C 30.65 – BVerwGE 21, 354 LS 2. 10 Wysk, in: Grabherr/Reidt/Wysk LuftVG, Stand: Juli 2012, § 12 Rn. 42; Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 6 BImSchG Rn. 53 (Stand: Juli 2011). 11 BR-Drs 571/11, S. 22 f.
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Die Entscheidung, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, steht allerdings im Ermessen der Luftfahrtbehörde. Es kann daran gezweifelt werden, ob die Luftfahrtbehörden davon Gebrauch machen werden, weil eine Tendenz besteht, die daraus resultierende Folge, die Anwendbarkeit von § 8 LuftVG mit einer Planfeststellungspflicht für Änderungen des Flugplatzes, zu vermeiden. Für Lenkdrachen gelten die vorgenannten Vorschriften sinngemäß, § 15 Abs. 1 LuftVG. b) Bauwerke außerhalb von Bauschutzbereichen, § 14 LuftVG Auch außerhalb von Bauschutzbereichen ist die Zustimmung der Luftfahrtbehörden erforderlich, wenn Bauwerke errichtet werden sollen, die eine Höhe von 100 m über der Erdoberfläche überschreiten. Damit wird der Großteil der Windkraftanlagen, die heute regelmäßig diese Höhe überschreiten, nicht ohne Zustimmung der Luftfahrtbehörden genehmigt werden dürfen. c) Verfahrensschutz, § 18b LuftVG Bei Flughäfen mit Instrumentenflugbetrieb können nach § 18b LuftVG zum Schutz der Verfahrensräume von Nichtpräzisionsanflugverfahren vom Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung Hindernisinformationsbereiche festgelegt werden, in denen Bauwerk nur errichtet werden dürfen, wenn die zuständige Luftfahrtbehörde zuvor über das Vorhaben informiert wurde12. d) Kennzeichnung von Luftfahrthindernissen, § 16 a LuftVG13 Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass nach § 16 a LuftVG auch die Betreiber von Windkraftanlagen auf Verlangen des Bundesaufsichtsamts für Flugsicherung zu dulden haben, dass diese in geeigneter Weise gekennzeichnet werden, wenn und soweit dies zur Sicherheit des Luftverkehrs erforderlich ist.
___________ 12
Vgl. dazu die Richtlinien des BMVBS über die Hindernisfreiheit für Start- und Landebahnen mit Instrumentenflugbetrieb v. 2.11.2001 NfL I 328/01; ausführlich Karsten Baumann, Bau-, Anlagen- und Verfahrensschutz nach der Neufassung des Luftverkehrsgesetzes, in: Ziekow (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungs- und Umweltrechts 2010, 2011, S. 35 ff. 13 Dazu ausführlich Karsten Baumann, a.a.O., S. 23 ff., S. 38 ff.
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e) Verfahren Für die Erteilung der Zustimmungen nach den §§ 12 bis 17 LuftVG sind die (Landes-)Luftfahrtbehörden zuständig, die nach § 31 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Nr. 6 bis 10 LuftVG ihre Entscheidung aufgrund einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation treffen14. Die Zustimmung wird an die für die Erteilung der Baugenehmigung zuständigen Stelle adressiert; das ist entweder die Baugenehmigungsbehörde oder – bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungspflicht unterfallenden Vorhaben – die Immissionsschutzbehörde, die wegen der Konzentrationswirkung des § 13 BImSchG über die Baugenehmigung mit entscheidet.15 Diese Zustimmung hat keine rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bauherrn16. Ihre Verweigerung kann deshalb nicht mit der Verpflichtungsklage gegen die Luftfahrtbehörde erstritten werden; vielmehr ist gegen die Immissionsschutz-/Baugenehmigungsbehörde auf Erteilung der Genehmigung zu klagen. Bei militärischen Flugplätzen treten an die Stelle der Flugsicherungsorganisation und der genannten Luftfahrtbehörden – mit Ausnahme der Anwendung von § 14 LuftVG17 – die Behörden der Bundeswehrverwaltung, § 30 Abs. 2 Satz 4 LuftVG. Das sind derzeit das Amt für Flugsicherung der Bundeswehr sowie die militärischen Luftfahrtbehörden der Bundeswehrverwaltung. f) Materielle Entscheidungskriterien Die Zustimmungsvorbehalte der §§ 12 und 14 LuftVG enthalten keine unmittelbaren materiellen Entscheidungskriterien, nach denen die Luftfahrtbehörden ihre Zustimmung zu erteilen haben bzw. verweigern können. Aus § 12 Abs. 2 S. 3 und 4 LuftVG lässt sich jedoch folgern, dass eine fachliche Beurteilung erfolgen muss – wie gezeigt, nach § 31 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Nr. 6 bis 10 LuftVG aufgrund einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation – und zwar unter luftverkehrssicherheitlichen Erwägungen (Satz 4). Aus § 12 Abs. 4 LuftVG lässt sich folgern, dass Schutzziel nicht nur die Sicherheit der Luftfahrt, sondern auch der Schutz der Allgemeinheit ist18. Das erfordert allerdings nicht – wie dies in manchen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zu lesen ist –, dass durch die Bauvorhaben eine konkrete ___________ 14 15 16 17
537. 18
Dazu im Einzelnen Karsten Baumann, a.a.O., S. 23 ff., 42 f. BVerwG, Urt. vom 30.6.2004 – 4 C 9.03 – BVerwGE – 121, 182, 189. BVerwG, Urt. vom 16.7.1965 – IV C 30.65 – BVerwGE 21, 354 LS 1. OVG Koblenz, Beschl. vom 3.7.2005 – 8 A 12244/04 – NVwZ-RR 2005, 536, BVerwG, Beschl. vom 8.4.1998 – 11 B 40.97 – ZLW 1999, 241.
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Gefahr für den Flugverkehr hervorgerufen wird19. Das VG Minden scheint – allerdings ohne Begründung – die Bauschutzvorschriften als besondere luftaufsichtliche Regelungen zu verstehen und nennt § 29 Abs. 1 S. 1 LuftVG im Zusammenhang mit § 14 LuftVG. Das entspricht nicht – obwohl das VG Minden es in diesem Zusammenhang zitiert – der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses hat vielmehr deutlich gemacht, dass die Versagungsbefugnis nicht zwingend davon abhängt, dass das Bauvorhaben eine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Luftverkehrs20 begründet21. Wysk22 verweist insoweit auf den Prüfungsmaßstab des § 9 Abs. 3 FernstraßenG, der für § 12 LuftVG entsprechend angewendet werden soll. Danach darf eine Zustimmung nur versagt oder mit Bedingungen und Auflagen erteilt werden, wenn dies wegen der Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs, der Ausbauabsichten oder der Straßenbaugestaltung nötig ist. Die Luftfahrtbehörde kann damit auch in Zukunft zu erwartende Gefährdungen der von ihr zu vertretenden Belange einbeziehen. Sie muss dabei vorausschauend die weitere Entwicklung und Ausgestaltung des Luftverkehrs im Auge behalten23. Damit wird durch den Bauschutzbereich auch die Ausbauplanung des Flughafens geschützt, die Grundlage für die Dimensionierung des Bauschutzbereichs ist. Es wird also nur nicht der konkrete, aktuelle Flugbetrieb, sondern die Flugplatzplanung geschützt. Das hat mit Luftaufsicht nichts zu tun. Die Entscheidung der Behörde ist keine Ermessensentscheidung, sondern – allerdings nur inzident24 im Zusammenhang mit der Entscheidung über den Genehmigungsantrag – verwaltungsgerichtlich vollumfänglich überprüfbar25. 3. Anlagenschutz, § 18 a LuftVG a) Materielles Bauverbot Schwieriger zu handhaben als die Bauschutzvorschriften ist die Regelung des § 18 a Abs. 1 Satz 1 LuftVG, wonach Bauwerke nicht errichtet werden dür___________ 19
Vgl. etwa VG Minden, Urt. vom 22.9.2010 – 11 K 445/09 – juris Rn. 43; VG Aachen, Urt. vom 15.7.2008 – 6 K 1367/07 – UA S. 9 f. = ZNER 2008, 276, 277. 20 Wie etwa eine WEA unterhalb einer militärischen Tiefflugstrecke, Nds OVG, Urt. vom 29.4.2008 – 12 LC 20/07 –. 21 BVerwG, Urt. vom 16.7.1965 – IV C 30.65 – BVerwGE 21, 354, 358 f.; BVerwG, Urt. vom 19.11.1965 – IV C 184/65 – BVerwGE 22, 342. 22 Wysk, in: Grabherr/Reidt/Wysk, Luftverkehrsgesetz, Stand: Juli 2012, § 12 Rn. 54. 23 So Wysk, in: Grabherr/Reidt/Wysk, Luftverkehrsgesetz, § 12 Rn. 54 unter Bezug auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.7.1965 – BVerwGE 21, 354, 357; Nds OVG, Urt. vom 18.7.2007 – 12 LC 56/07 – UA S.15. 24 OVG Koblenz, Urt. vom 16.1.2006 – 8 A 11271/05 – NVwZ 2006, 844, 845. 25 Wysk, a.a.O., Rn. 56.
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fen, wenn dadurch Flugsicherungseinrichtungen gestört werden können. Diese 1980 in das LuftVG eingeführte und im Jahre 2009 grundlegend modifizierte26 Regelung beinhaltet ein materielles Bauverbot. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Änderung des Wortlauts mit der Novelle des Jahre 2009, wonach die bloße Möglichkeit einer Störung von Flugsicherungseinrichtungen ausreichend ist, um das Bauverbot auszulösen27. Damit ist entgegen teilweise vertretener Auffassung28 keine konkrete Gefahr für den Luftverkehr im polizeirechtlichen Sinne erforderlich. Hinzuweisen ist insofern auf die Aufgabenstellung der Flugsicherung: Nach § 27 c Abs. 1 LuftVG dient die Flugsicherung nicht nur der sicheren, sondern auch der geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs. Die Aufgabenstellung der Flugsicherungseinrichtungen geht damit über die bloße Gefahrenabwehr hinaus; auch eine Störung der anderen genannten Funktionen, insbesondere der „flüssigen“ Abwicklung des Luftverkehrs, reicht für ein Eingreifen des Bauverbots nach § 18 a LuftVG aus. Im Übrigen ist auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 12 LuftVG zu verweisen. Danach kann die Luftfahrtbehörde auch in Zukunft zu erwartende Gefährdungen der von ihr zu vertretenden Belange einbeziehen29. b) Verfahren § 18 a Abs. 1 Satz 3 LuftVG sieht vor, dass das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung seine Entscheidung, ob die Errichtung einer WEA eine Flugsicherungseinrichtung stören kann, auf Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation trifft und sie der zuständigen Luftfahrtbehörde des Landes mitteilt. Die Auslösung der Prüfung erfolgt aber nicht durch jeden Baugenehmigungsantrag; vielmehr sieht § 18 a Abs. 1 a LuftVG vor, dass das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) die jeweils zuständigen Luftfahrtbehörden der Länder über die Standorte aller Flugsicherungseinrichtungen und die umliegenden Bereiche, in denen Störungen durch Bauwerke zu erwarten sind, unterrichtet. Damit werden sog. „Anlagenschutzbereiche“ definiert30. Durch § 18a Abs. 1 a Satz 3 werden die jeweils zuständigen Luftfahrtbehörden der Länder verpflichtet, das BAF über die Planung von Bauwerken innerhalb von Bereichen nach Satz 1 zu unterrichten. Die Luftfahrtbehörden ___________ 26
Dazu im Einzelnen: Karsten Baumann, a.a.O., S. 23, 27 ff. Dazu Karsten Baumann, a.a.O., S. 28. 28 So aber Stoffels, in: Hobe/von Ruckteschell (Hrsg.), Kölner Kompendium Luftrecht, Band 2, 2009, B. Rn. 1448. 29 s.o. II. 6. 30 Vgl. dazu das Europäische Anleitungsmaterial zum Umgang mit Anlagenschutzbereichen – zweite Ausgabe – September 2009 ICAO EUR DOC 015. 27
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werden dann an den Genehmigungsverfahren beteiligt; die Bau- bzw. Immissionsschutzbehörden sind an die Bauverbote gebunden. Für die Effektivität der Anwendbarkeit von § 18 a LuftVG ist damit entscheidend, dass die Anlagenschutzbereiche entsprechend definiert und mitgeteilt werden. c) Darlegungs- und Beweislast Angesichts der zunehmenden verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten um die Frage, ob das materielle Bauverbot des § 18 a Abs. 1 Satz 1 LuftVG eingreift, ist auf die nach § 18 a Abs. 1 Satz 2 vorgesehene Verteilung der Darlegungsund Beweislast zu verweisen: Danach entscheidet das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation, ob durch die Errichtung der Bauwerke Flugsicherungseinrichtungen gestört werden können. Damit muss diese gutachtliche Stellungnahme grundsätzlich für die Darlegung der Anwendungsvoraussetzungen ausreichen. Die Genehmigungsbehörden sind an die ihnen durch die Luftfahrtbehörden mitgeteilte Entscheidung des BAF gebunden. Sie können keine eigenständige Entscheidung etwa aufgrund eines Privatgutachtens eines Vorhabenträgers treffen. Die Entscheidung des BAF ist zwar gerichtlich inzident überprüfbar. Der der Entscheidung zugrunde zu legenden gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation kommt allerdings aufgrund gesetzlicher Entscheidung ein besonderes Gewicht zu31; sie ist nur in dem Rahmen gerichtlich überprüfbar, den die Rechtsprechung32 für die Kontrolle von Sachverständigengutachten herausgearbeitet hat. Das Gericht hat danach nur zu prüfen, ob • der der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde, • eine geeignete Methode sachgerecht angewendet wurde, • das Ergebnis einleuchtend begründet wurde. Im Streitfall hat der Kläger darzulegen und ggf. nachzuweisen, dass die gutachtliche Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation unrichtig ist.
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Das VG Schleswig räumt dem BAF einen „Risikobewertungsspielraum mit einer Einschätzungsprärogative“ ein, Urt. vom 16.2.2012 – 6 A 107/11 – UA S. 11. 32 BVerwG, Urt. vom 11.7.2001 – 11 C 14.00 – BVerwGE 114, 364, 378.
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4. Schutzbereichsgesetz Die Funktionsfähigkeit von Radaranlagen, die nicht der Flugsicherung, sondern der Luftraumüberwachung oder anderen Luftverteidigungsaufgaben dienen, wird nicht durch das Luftverkehrsgesetz, sondern durch das Schutzbereichsgesetz geschützt. Soweit danach ein Schutzbereich durch Allgemeinverfügung33 des Bundesministeriums der Verteidigung angeordnet ist, bedürfen Bauvorhaben innerhalb dieser Schutzbereiche der Zustimmung der zuständigen Wehrbereichsverwaltung, §§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 9 Abs. 3 SchBerG. Wird eine WEA ohne die danach erforderliche Genehmigung errichtet, kann die zuständige Behörde nach § 8 SchBerG die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands verlangen34. 5. Bauplanungsrecht Die Immissionsschutzbehörde prüft nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BundesImmissionsschutzgesetz auch, ob baurechtliche Vorschriften dem zu genehmigenden Vorhaben entgegenstehen. Windenergieanlagen sind im Außenbereich nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB privilegierte Vorhaben, die dann zulässig sind, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen und die ausreichende Erschließung gesichert ist. Allerdings können dem Vorhaben luftfahrtspezifische öffentliche Belange nach § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB entgegenstehen: a) Rücksichtnahmegebot In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Interesse eines Flugplatzbetreibers, seinen genehmigten Flugbetrieb ungehindert fortzusetzen, ein schutzwürdiges Individualinteresse darstellt, welches als öffentlicher Belang der Genehmigung von Windkraftanlagen entgegenstehen kann35. § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BauGB, der ausdrücklich nur schädliche Umwelteinwirkungen als entgegenstehenden öffentlichen Belang nennt, wird weitergehend ausgelegt und umfasst auch sonstige nachteilige Wirkungen eines Vorhabens36. Während der In___________ 33
BVerwG, Urt. vom 7.9.1984 – 4 C 16.81 – NVwZ 1985, 39 s.a. BVerwG, Beschl. vom 25.1.2002 – 4 B 37.01 – NVwZ-RR 2002, 444. 34 Dazu OVG NRW, Urt. vom 19.2.2001 – 11 A 5502/99 – juris. 35 BVerwG, Urt. vom 18.11.2004 – 4 C 1/04 – NVwZ 2005, 328, 329; Nds OVG, Beschl. vom 21.7.2011 – 12 ME 201/10 – NVwZ-RR 2011, 972, 973; Rh.-Pf. OVG, Urt. vom 16.1.2006 – 8 A 11271/05 – NVwZ 2006, 844, 845. 36 Maslaton, Berücksichtigung des öffentlichen Belangs Luftverkehr bei der Genehmigung von Windenergieanlagen, NVwZ 2006, 777, 778.
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halt des Rücksichtnahmegebots bei Flugplätzen mit Bauschutzbereich im Wesentlichen – aber nicht abschließend – durch das Luftverkehrsgesetz definiert wird, §§ 12 ff. LuftVG, entfaltet es insbesondere bei Landeplätzen und Segelfluggeländen, für die kein Bauschutzbereich festgesetzt wurde, eigenständige Bedeutung. Maßgebliches Entscheidungskriterium ist nach der Rechtsprechung dabei der Gesichtspunkt der zeitlichen Priorität, so dass die an den bestandsgeschützten Flugplatz heranreichende neue störende Bebauung trotz ihrer Privilegierung regelmäßig zurücktreten muss, wenn sie dem Flugplatzbetrieb entgegensteht37. Das gilt im Übrigen auch für Repowering-Projekte, die neue Vorhaben darstellen und keinen übergreifenden Bestandsschutz aus vorhandenen zu ersetzenden Altanlagen herleiten können. Das Rücksichtnahmegebot gilt allerdings gegenseitig, so dass die Betriebsmöglichkeiten des Flugplatzes nicht zwingend optimal fortbestehen müssen, wenn ein praktikables Arrangement gefunden werden kann, um auch die Errichtung von Windenergieanlagen in der Flugplatzumgebung zu ermöglichen38. Denkbar ist hier die Optimierung von Anflugverfahren bzw. Platzrunden. b) Die Funktionsfähigkeit von Funkstellen und Radaranlagen, § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB Ein entgegenstehender öffentlicher Belang kann auch die Störung der Funktionsfähigkeit von Funkstellen und Radaranlagen sein. Mit diesem erst mit dem EAG Bau 2004 in das BauGB eingeführten Tatbestand sollen ausweislich der Gesetzesbegründung insbesondere Flugsicherungseinrichtungen geschützt werden39. Der im Regierungsentwurf zunächst enthaltene Begriff der „Telekommunikationsanlagen“ wurde im Gesetzgebungsverfahren durch den Begriff der „Funkstellen“ ersetzt40, der nicht im Sinne eines allgemeinen Funkverkehrs, z.B. des Mobilfunks, interpretiert wird. Das OVG Münster verweist in diesem Zusammenhang auf die Begriffsverwendung in § 57 Abs. 5 des Telekommunikationsgesetzes, wonach nur ortsfeste Flugnavigationsfunkstellen und Bodenfunkstellen im mobilen Flugfunkdienst erwähnt werden, deren Ausfall die Flugsicherheit beeinträchtigen kann41. Nach Auffassung des OVG rechtfertigt nur die Abwehr von Gefahren für vergleichbar gewichtige öffentliche Belange, ___________ 37
BVerwG, Urt. vom 18.11.2004 – 4 C 1/04 – NVwZ 2005, 328, 330. Vgl. dazu Nds OVG, Urt. vom 18.7.2007 – 12 LC 56/07 – UA S. 16 ff.; Rh.-Pf. OVG, Urt. vom 16.1.2006 – 8 A 11271/05 – NVwZ 2006, 844, 845. 39 Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2009, § 35 Rn. 68. 40 BT-Drs. 15/2250, S. 82. 41 OVG NRW, Urt. vom 18.8.2009 – 8 A 613/08 – ZfBR 2010, 170, Zit. BR-Drs. 756/1/03, S. 42 f.; BT-Drs. 15/2250, S. 82; s. dazu auch BayVGH, Urt. vom 23.11.2011 – 14 BV 10.1811 – Rn. 52 ff., BeckRS 2012, 52486. 38
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genannt werden ferner militärische Belange, die Beschränkung der Baufreiheit durch die Nr. 8. Danach ist im Baugenehmigungsverfahren bzw. immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen, ob bei Errichtung und Betrieb der WEA eine Störung der Radaranlagen oder Funkstellen zu befürchten ist. c) Nachvollziehende Abwägung Ob eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 und 8 BauGB einem nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB privilegierten Vorhaben entgegensteht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wege einer „nachvollziehenden Abwägung“ zu ermitteln42, wobei dieser Begriff von der planerischen Abwägung, der eine planerische Gestaltungsfreiheit der Behörde voraussetzt, strikt zu unterscheiden ist. Die in § 35 Abs. 1 und Abs. 3 BauGB verwendeten Begriffe des „Entgegenstehens“ und des „Beeinträchtigens“ machen dabei keinen prinzipiellen, sondern allenfalls einen graduellen Unterschied bei der Gewichtung der gegen das Vorhaben sprechenden Belange aus. Im Ergebnis findet eine Gesamtabwägung zwischen dem für das Vorhaben sprechenden und allen beeinträchtigten öffentlichen Belangen statt; im Falle des § 35 Abs. 1 BauGB muss – insoweit unterscheidet sich das „Entgegenstehen“ vom „Beeinträchtigen“ – die dem Vorhaben vom Gesetz zuerkannte Privilegierung gebührend in Rechnung gestellt werden43. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Flugplätze mitsamt ihren An- und Abflugverfahren Vorhaben sind, die aufgrund ihrer Umweltauswirkungen und aus Sicherheitsgründen ebenfalls nur im Außenbereich realisiert werden sollen. Sie sind zwar nicht als öffentlicher Belange in § 35 Abs. 1 BauGB aufgeführt, unterliegen aber dem Fachplanungsprivileg des § 38 BauGB, das nicht nur für planfestgestellte Flughäfen, sondern auch für solche mit luftrechtlichen Genehmigungen nach § 6 LuftVG gilt44. Danach sind die §§ 29 bis 37 BauGB auf Vorhaben von überörtlicher Bedeutung nicht anwendbar, weil ihnen als privilegierte Fachplanungsvorhaben Vorrang einzuräumen ist. Da die Belange der Flugsicherheit sehr hochwertige Rechtsgüter schützen45, wird ihnen im Rahmen der Abwägung regelmäßig Priorität einzuräumen sein. So ging die Bundesregierung in ihrer Gesetzesbegründung davon aus, dass „namentlich die Errichtung von Windenergieanlagen im Außenbereich nur zulässig ist, wenn das Vorhaben die Funktionsfähigkeit von Telekommunikati___________ 42
BVerwG, Urt. vom 18.8.2005 – 4 C 13.04 – BVerwGE 124, 132, 142 f. BVerwG, Urt. vom 17.12.2002 – 4 C 15.01 – NVwZ 2003, 733, 734; Urt. vom 19.7.2001 – 4 C 4.00 – NVwZ 2002, 476, 477. 44 BVerwG, Beschl. vom 13.12.2006 – 4 B 73.06 – NVwZ 2007, 459, 460. 45 VG Schleswig, Urt. vom 16.2.2012 – 6 A 107/11 – UA S. 9 f. 43
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ons- und Radaranlagen nicht stört46. Demgegenüber hat das Gesetz über den Vorrang erneuerbarer Energien keinen Einfluss auf die bauplanerische Abwägung47. d) Abwägungsabschichtungsvorbehalt, § 35 Abs. 3 Satz 2 BauGB Eine – nachvollziehende – Abwägung dieser entgegenstehenden öffentlichen Belange im bau- bzw. immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren ist allerdings ausgeschlossen, wenn diese Belange bei der Darstellung von raumbedeutsamen Vorhaben als Ziele der Raumordnung abschließend abgewogen worden sind, § 35 Abs. 3 Satz 2 2. Hs BauGB. Voraussetzung für das Eingreifen dieser Ausschlusswirkung ist allerdings, dass eine solche abschließende Abwägung auch tatsächlich wirksam erfolgt ist48. Die Ausweisung von Vorranggebieten für die Windenergienutzung kann zielförmig erfolgen. Damit stellt sich zunächst die Frage, ob und inwieweit bereits auf der Ebene der Raumplanung Beeinträchtigungen des Flugverkehrs bzw. von Radaranlagen mit entsprechender Ausschlusswirkung für das Genehmigungsverfahren abgewogen werden können. Nach allgemeinen Abwägungsgrundsätzen ist Voraussetzung zunächst, dass die Auswirkungen des zur Genehmigung stehenden Vorhabens bekannt, ermittelbar oder jedenfalls prognostizierbar sind und sodann in die Abwägung eingestellt werden. Das mag bei der Planung von Flächen zur Nutzung durch Windenergieanlagen im Hinblick auf die Hindernissituation noch abschätzbar sein; die Auswertung signaturtechnischer Gutachten zur Abschätzung der Auswirkungen von Windenergieanlagen auf Radaranlagen zeigt jedoch, dass die Störwirkung einer Windenergieanlagen nur individuell zu ermitteln ist und abhängig ist von einer Vielzahl von Einflussfaktoren, die ihrerseits zeitvariabel sind. Zu nennende Faktoren sind etwa die Größe und die Rotationsgeschwindigkeit der Windkraftanlage, Topographie, sonstige Bebauung, insbesondere aber Kumulationseffekte mit weiteren Windenergieanlagen. Da diese Faktoren bei der Aufstellung von Raumordnungsplänen kaum absehbar sind, bestehen erhebliche Zweifel, ob die Störwirkung auf Radaranlagen überhaupt Gegenstand einer abschließenden Abwägung bei der Aufstellung eines solchen Raumordnungsplans sein kann und damit an der Abwägungsabschichtung teilhaben kann. So ging die Bundesregierung bereits in dem Gesetzgebungsverfahren zum Erlass des § 18a LuftVG davon aus, dass sich das Ausmaß möglicher Störun___________ 46
BT-Drs 15/2250 S. 55. BVerwG, Urt. vom 19.2.2004 – 4 CN 16.03 – BVerwGE 120, 138, 143. 48 Nds OVG, Beschl. vom 21.7.2011 – 12 ME 201/10 – NVwZ-RR 2011, 972, 974 m.w.N. 47
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gen von Flugsicherungseinrichtungen nicht eindeutig voraussehen lasse und damit auch nicht der räumliche Bereich, der für Baubeschränkungen in Betracht komme49. Mit dieser Begründung lehnte die Bundesregierung einen Vorschlag des Bundesrates ab, in § 18a Abs. 1 LuftVG die Festlegung von verbindlichen Baubeschränkungsbereichen vorzusehen50. Stattdessen wurde die Entwurfsfassung der Bundesregierung Gesetz, die die Mitteilung eines Anlagenschutzbereichs vorsieht, in dem Störungen von Flugsicherungseinrichtungen zu erwarten sind. Ob eine WEA tatsächlich Flugsicherungsanlagen in einem Anlagenschutzbereich stört, kann nur in einer Einzelfallprüfung aufgrund einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation entschieden werden. Damit wird deutlich, dass in einem Raumplanungsverfahren, in dem genaue Standorte und technische Einzelheiten der WEA noch nicht bekannt sind, aber wegen Ausweisung eines Anlagenschutzbereichs die Störung von Flugsicherungseinrichtungen erwartet werden kann, eine abschließende Abwägung dieser Flugsicherungsbelange nicht möglich ist. Die Bewältigung dieser Problematik muss deshalb der Genehmigungsentscheidung über die Zulassung der WEA vorbehalten bleiben51. Eine zielförmige Ausweisung von Vorranggebieten für Windenergieanlagen in Anlagenschutzbereichen von Flugsicherungseinrichtungen ist damit nicht möglich. Der Abwägungsabschichtungsvorbehalt des § 35 Abs. 3 S. 2 2. Hs. BauGB kann nicht greifen. 6. Verhältnis Baurecht/Luftverkehrsrecht Im Übrigen stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die luftrechtlichen Vorschriften zu den dargestellten baurechtlichen Normen stehen. a) § 29 Abs. 2 BauGB Wird die Zulässigkeit eines Bauvorhabens nach § 35 BauGB bejaht, werden andere öffentlich-rechtliche Vorschriften nach § 29 Abs. 2 BauGB nicht berührt. Damit greifen auch bei Bejahung der bauplanerischen Zulässigkeit einer Windenergieanlage gleichwohl die Anlagen- und Bauschutzvorschriften des Luftverkehrsgesetzes52. ___________ 49
S. 21.
Gesetzentwurf der Bundesregierung für das 9. LuftVGÄndG BT-Drs 8/3431
50 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf des 9. LuftVGÄndG, BTDrs 8/3431 S. 16. 51 Vgl. Nds OVG, Beschl. vom 21.7.2011 – 12 ME 201/10 – NVwZ-RR 2011, 972, 975; vgl. dazu auch BVerwG, Urt. vom 22.11.2000 – 11 C 2.00 – BVerwGE 121, 221, 226. 52 Vgl. OVG Koblenz, Urt. vom 7.3.2005 – 8 A 12244/04 – UPR 2005, 314.
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b) Flugsicherungseinrichtungen Grundsätzlich gilt § 29 Abs. 2 BauGB auch in Bezug auf die Anlagenschutzvorschriften, § 18 a ff. LuftVG. Hier stellt sich jedoch die Frage, was aus der Tatsache zu folgern ist, dass der Gesetzgeber den Schutz vor Störungen von Radaranlagen und Funkstellen im Jahre 2004 in das Baugesetzbuch aufgenommen hat und dort der Abwägung unterworfen hat, obwohl § 18 a LuftVG bereits seit 1980 existiert und diesen Tatbestand jedenfalls weitgehend regelt. Bemerkenswert ist dieser Vorgang insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gesetzesbegründung für das EAG Bau53 im Wesentlichen auf den Schutz der Flugsicherheit abstellt, obwohl Radaranlagen auch für andere Zwecke dienen können. Dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 18 a LuftVG darüber nicht „vergessen“ hat, erweist die Novellierung im Jahre 2009. Darin wurde die Vorschrift von einem Anzeigeverfahren in ein materielles Bauverbot geändert. Danach spricht sowohl der Grundsatz der Spezialität als auch der zeitlichen Priorität für die vorrangige Anwendbarkeit von § 18 a LuftVG. Vergleicht man die Strukturen der Normen, spricht dies ebenfalls für die vorrangige Anwendung des Luftverkehrsrechts: So legt § 18 a LuftVG bundeseinheitlich die Flugsicherungsorganisation als die Stelle fest, die die möglichen Störwirkungen gutachtlich beurteilt. Mit dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung wird eine qualifizierte Fachbehörde mit der Entscheidung betraut, dieses Bauverbot auszusprechen. Demgegenüber trifft die Entscheidung über die nachvollziehende Abwägung von Flugsicherungsaspekten nach § 35 Abs. 3 BauGB die lokal zuständige Baugenehmigungs- bzw. die Immissionsschutzbehörde. Angesichts des hohen Stellenwerts der Flugsicherheit sind die Entscheidungsstrukturen des Luftverkehrsgesetzes sachgerechter als eine allgemeine nachvollziehende Abwägung einer lokalen Bauplanungsbehörde. Ferner sieht das LuftVG für den Fall der möglichen Störung einer Flugsicherungseinrichtung das Bauverbot als gebundene Entscheidung vor, während § 35 Abs. 3 S. 1 BauGB der Baugenehmigungsbehörde einen Abwägungsspielraum belässt. Es ist aber kaum vorstellbar, dass Störungen von Flugsicherungseinrichtungen zur Verwirklichung anderer Bauvorhaben billigend in Kauf genommen werden. Damit wird der Anwendungsbereich von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 BauGB faktisch maßgeblich beschränkt durch die vorrangige Regelung des § 18 a LuftVG, soweit Flugsicherungseinrichtungen innerhalb von Anlagenschutzbereichen nach § 18a Abs. 1a S. 1 LuftVG betroffen sind. ___________ 53
BT-Drs 15/2250, S. 82, Stellungnahme des Bundesrates, der die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zugestimmt hat (S. 93).
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c) Abwägungsabschichtungsvorbehalt Auch die Regelung des § 35 Abs. 3 Satz 2 BauGB kann selbst in dem Fall, dass die Störung von Flugsicherungseinrichtungen durch die Raumplanungsbehörde wirksam „weggewogen“ worden sein sollte, keine Ausschlusswirkung hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 18 a LuftVG entfalten. Das resultiert zunächst daraus, dass nach § 4 Abs. 2 des Raumordnungsgesetzes die Ziele der Raumordnung bei der Zulassung raumbedeutsamer Vorhaben von Privaten nur zu „berücksichtigen“ sind; eine bindende Beachtenspflicht besteht nicht. Ferner gilt auch hier § 29 Abs. 2 LuftVG, wonach die parallele Anwendung fachrechtlicher Vorschriften durch die §§ 30 bis 37 BauGB nicht ausgeschlossen ist.
III. Fazit Nach alledem bleibt festzuhalten, dass die Rechtsordnung durchaus Regelungen vorsieht, den Nutzungskonflikt des Luftraums durch Windenergieanlagen und Luftfahrzeuge zu lösen. Bei konsequenter Anwendung genießen bestandsgeschützte Flugplätze und ihre Flugsicherungseinrichtungen einen vergleichsweise hohen Schutz durch die materiellen Bauverbote des Bauschutzes, §§ 12 ff. LuftVG und des Anlagenschutzes, § 18 a ff. LuftVG. Damit verbleibt die Frage, wie der hohen politischen Priorität der Windenergienutzung Rechnung getragen werden kann, ohne die Luftfahrt maßgeblich zu beschränken oder gar zu gefährden. Auch insoweit sieht das Luftverkehrsrecht durchaus Instrumente vor, etwa die Einrichtung von Flugbeschränkungsgebieten z.B. für die Ausnutzung von Höhenwinden. Solche Maßnahmen werden allerdings eher im Einzelfall, nicht jedoch flächendeckend in Frage kommen. Angesichts der tendenziell immer größeren Windenergieanlagen kann man auch über eine Anhebung von Mindestflughöhen nachdenken. In Bezug auf die Flugsicherungseinrichtungen sind technische Lösungen zu entwickeln, um die Störwirkungen zu reduzieren, und Aufstellkriterien zu definieren. Beispielhaft genannt sei die Verwendung von reflektionsarmen Rotoren bei den Windkraftanlagen oder auch die Weiterentwicklung von Radaranlagen; angesichts der milliardenschweren Subventionen für die Windenergiebranche und der hohen politischen Priorität der Energiewende wären entsprechende Forschungsprogramme sicher sinnvoll. Solche Lösungen sind jedoch nicht im Wege gerichtlicher Auseinandersetzungen, sondern nur in Kooperation der Verantwortlichen zu realisieren. Der
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Rechtsgedanke, der dem baurechtlichen Rücksichtnahmegebot zugrunde liegt, und der eine gegenseitige Rücksichtnahme erfordert, sollte auch insoweit Leitlinie des weiteren Handelns sein.
Der Verordnungsvorschlag über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen – Ein neuer Ansatz zur Reduzierung des Fluglärms? Von Christian Giesecke
I. Im Zuge des Bestrebens der EU-Kommission, die Regelungen für Flughäfen zu überarbeiten, hat die Kommission am 01.12.2011 den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates veröffentlicht1. Ziel dieses Vorschlages soll es sein, auch auf europäischer Ebene eine Lärmbekämpfungsstrategie zu verfolgen. Als Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen über die Nutzung von Flughäfen und dem Schutzbedürfnis der umliegenden Bevölkerung soll die Verordnung durch Auswahl einer optimalen Kombination von Maßnahmen dazu beitragen, Fluglärm durch kosteneffiziente Betriebsbeschränkungen zu mindern. Dabei soll die Lärmbewertung an den einzelnen europäischen Flughäfen nach einem standardisierten und einheitlichen Verfahren erfolgen, so dass einerseits eine Vergleichbarkeit besteht, andererseits das Risiko internationaler Rechtsstreitigkeiten reduziert wird. Die Verordnung soll hierzu eine Verbesserung im Lärmbewertungsprozess schaffen, indem die Schritte des Bewertungsprozesses klar präzisiert und somit zu einer einheitlichen Anwendung führen. Ansätze einer derartigen Regulierung hatte die Kommission bereits mit der Richtlinie 2002/30/EG über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Gemeinschaft2 im Jahr 2002 in Kraft gesetzt. Zur Überprüfung der Wirksamkeit dieser Regelung wurde in den Jahren 2007 bis 2010 eine Vielzahl von Anhörungen durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, dass die Richtlinie nicht zur erhofften Harmonisierung der Entschei___________ 1 2
KOM (2011) 828, 2011/0398 (COD). Abl. EG L 85, 28.3.2002, Seite 40.
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dungsprozesse geführt hat. Zudem muss die Richtlinie aktualisiert werden, um die Veränderungen in der Flottenzusammensetzung zu berücksichtigen, die verschiedenen Elemente des ausgewogenen Ansatzes stärker miteinander zu verknüpfen und neuen Rechtsinstrumenten zur Lärmbekämpfung Rechnung zu tragen. Zudem soll ein stärkeres Augenmerk auf die kapazitären Auswirkungen von lärmbedingten Betriebsbeschränkungen und der effizienten Kapazitätsausnutzung auf Flughäfen der Gemeinschaft gelegt werden. Schließlich soll es das Ziel des Verordnungsvorschlages sein, die europäischen Regelungen zum Flugbetrieb und zur Lärmbekämpfung stärker miteinander zu verknüpfen. Dies betrifft neben den verschiedenen europäischen Regelungen des Luftverkehrs insbesondere die Verknüpfung mit der Umgebungslärmrichtlinie3.
II. Der europarechtliche Ansatz zur Regulierung von Fluglärm basierte ursprünglich auf der Beschränkung von Luftfahrzeugstypen. Auf Grundlage von Anhang 16 zum Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt4 trat bereits im Jahr 1980 die Richtlinie 80/51/EWG zur Verringerung der Schallimmissionen von Unterflugzeugen5 in Kraft, welche die Mitgliedsstaaten verpflichtete, nur noch Flugzeuge zu registrieren und deren Betrieb zuzulassen, die den Anforderungen des Anhang 16, Kapitel 2 entsprachen. Über diese Richtlinie wurden die Regelungen des Anhangs 16 über Ausstellung, Inhalt und gegenseitige Anerkennung eines Lärmzeugnisses übernommen und so ein einheitlicher, europäischer Lärmstandard für Flugzeuge festgesetzt. Durch die Richtlinie 83/206/EWG6 wurden diese Vorschriften auch für Flugzeuge aus Drittstaaten verbindlich, die in das Hoheitsgebiet der EU einfliegen wollten. Im Dezember 1989 trat die Richtlinie 89/629/EWG zur Begrenzung von Schallemissionen von zivilen Unterstrahlflugzeugen in Kraft7. Danach durften nur noch Flugzeuge zum Betrieb zugelassen werden, die dem Kapitel 3 des Anhangs 16 entspra___________ 3
Richtlinie 2002/49/EG vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, Abl. EG L 189, 18.7.2002, S. 12. 4 (Chicagoer) Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt vom 7. Dezember 1944, BGBl. 1956 II S. 412, zuletzt geändert durch Protokoll vom 10. Mai 1984, BGBl. 1996 II S. 210, 1999 II S. 307; Annex 16 unter http://www.bazl.admin.ch/dokumentation/grundlagen/02643/index.html?lang=de. 5 Abl. EG L 18, 14.1.1980, Seite 26. 6 Abl. EG L 117, 4.5.1983, Seite 15. 7 Abl. EG L 363, 13.12.1989, Seite 27.
Der Verordnungsvorschlag über Regeln für Betriebsbeschränkungen
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chen. Im März 1992 trat die Richtlinie 92/14/EWG in Kraft, die einen einheitlichen europäischen Standard für Kapitel 3 Flugzeuge erschuf und Regelung zur Ausmusterung von Kapitel 2 Flugzeugen vorsah8. Als Reaktion auf die Richtlinie 92/14/EWG versahen viele Fluglinien aus Drittstaaten, insbesondere aus den USA, ihre Flugzeuge mit Schalldämpfern, sogenannte „Hushkits“, um auf diese Weise den Vorgaben des Kapitels 3 des Anhangs 16 gerecht zu werden. Dies führte auf europäischer Ebene zum Erlass der Verordnung 925/1999, durch die der Betrieb derartiger Flugzeuge auf dem Hoheitsgebiet der EU untersagt wurde. Dieses Vorgehen führte zu einer internationalen Auseinandersetzung zwischen den USA und der EU, die in einem Verfahren vor der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) gipfelte. Gelöst wurde dieser Streit durch die Verabschiedung der Resolution A 33-79 (bzw. A 35-5) „Consolidated Statement of continuing ICAO policies and practises related to environmental protection“, die insbesondere das Prinzip des „ausgewogenen Ansatzes“ verankerte. Nach diesem soll die Lärmbekämpfung an Flughäfen auf vier Säulen ruhen, wobei lärmbedingte Betriebsbeschränkungen nicht als erstes Mittel, sondern erst nach Abwägung der anderen Maßnahmen des ausgewogenen Ansatzes angewendet werden sollen. Diese Vorgaben hat die Europäische Union über die Richtlinie 2002/30/EG in europäisches Recht übertragen. Ihrer Zielsetzung nach soll diese Richtlinie für die Einführung von lärmbedingten Betriebsbeschränkungen gemeinsame Verfahrensstandards schaffen. Inhaltlich wird dabei der ausgewogene Ansatz übernommen. Aufgrund der Umsetzungspflicht10 wurden in Deutschland die Regelungen der §§ 48a ff. LuftVZO geschaffen. Diese Vorschriften konzentrieren sich allerdings auf die Umsetzung der in der Richtlinie gemachten Verfahrensschritte und führen daher nicht zu einer unmittelbaren Kodifikation des ausgewogenen Ansatzes. Auf dieser Regelungshistorie soll nunmehr die zukünftige Verordnung über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen aufsetzen.
___________ 8
Abl. EG L 76, 23.3.1992, Seite 21, geändert durch die Richtlinie 98/20/EG, Abl. EG L 107, 7.4.1998, Seite 4 und Richtlinie 1999/28/EG, Abl. EG L 118, 6.5.1999, Seite 53. 9 Zu finden unter http://legacy.icao.int/env/a33-7.pdf (A 35-5 unter http://legacy.icao.int/env/a35-5.pdf). 10 Vgl. Art. 16 der Richtlinie 2002/30/EG.
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III. Inhalte Der Verordnungsentwurf ist nach dem typischen europäischen Muster aufgebaut, nach dem auch die folgenden Erläuterungen geordnet sind. In Art. 1–3 finden sich im Wesentlichen die Formalien. Dort sind die Ziele der Verordnung, die Begriffsdefinitionen und Zuständigkeiten geregelt. Mit Art. 4 werden die Vorgaben des ausgewogenen Ansatzes übernommen und konkretisiert. Diese Vorschrift enthält Vorgaben für Lärmminderungsmaßnahmen und soll die Verknüpfung zur Umgebungslärmrichtlinie herstellen. Art. 5 des Verordnungsentwurfes beinhaltet die Vorgaben zur Harmonisierung der Regeln für die Lärmbewertung. Es werden die Rahmenbedingungen für die Bewertung und eine Pflicht zur regelmäßigen Bewertung eingeführt. Über Art. 6 werden Informationspflichten eingeführt, über die Daten über eingesetzte Flugzeuge gesammelt und zum Aufbau einer Datenbank genutzt werden sollen. Art. 7 enthält die Verfahrensvorgaben für die Einführung von Betriebsbeschränkungen mit konkreten Informationspflichten und -fristen. In Art. 8 und 9 sollen Sonderregelungen für den Abzug von Flugzeugen vom Betrieb eines Flughafens bzw. aus dem Gebiet eines Mitgliedsstaates festgelegt werden. Schließlich sollen der Kommissionen in den Artikeln 10 bis 12 umfangreiche Befugnisse eingeräumt werden. Dabei handelt es sich unter anderem um eine Kontrollbefugnis sowie die Delegation zur Rechtssetzung. 1. Art. 4: Allgemeine Lärmschutzregeln Art. 4 Abs. 1 dient der Einführung bzw. Umsetzung des ausgewogenen Ansatzes. Der Begriff des ausgewogenen Ansatzes wird in Art. 2 Ziffer 3 definiert als eine Methode, bei der die möglichen Maßnahmen, insbesondere die Reduzierung des Fluglärms an der Quelle, die Flächennutzungsplanung und -verwaltung sowie lärmmindernde Betriebsverfahren und Betriebsbeschränkungen in einheitlicher Weise geprüft werden, um das Lärmproblem auf einem Flughafen auf die kosteneffizienteste Weise zu lösen. Zum Zwecke der Vereinheitlichung wird so die schrittweise Vorgehensweise für die Mitgliedsstaaten festgelegt. Dementsprechend soll zunächst die Lärmsituation des einzelnen Flughafens bewertet und ein Lärmminderungsziel festgelegt werden. Anschließend sollen die Möglichkeiten zur Minderung der Lärmauswirkungen und zur Erreichung des Lärmminderungsziels festgelegt und die Kosteneffizienz dieser Maßnahmen ermittelt werden. Nach der Auswahl einer konkreten Maßnahme sollen die betroffenen Interessengruppen konsultiert werden. Werden Maßnahmen beschlossen, sind diese zu notifizieren und für die Durchführung ein Streitbeilegungsverfahren zu organisieren.
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Art. 4 Abs. 1 S. 2 des Verordnungsentwurfes stellt die zentrale Vorschrift dar, da die einzelnen Verfahrensschritte durch andere Regelungen der Verordnung präzisiert werden. Für die Bewertung der Lärmsituation an den Flughäfen trifft Art. 5 entsprechende Regelungen. Nach Art. 5 Ziffer 1 besteht die Verpflichtung, nach den Anforderungen der Umgebungslärmrichtlinie regelmäßige Bewertungen der Lärmsituation an den Flughäfen durchzuführen. Wie die Lärmsituation zu bewerten ist, ergibt sich aus den Vorgaben des Anhangs I der Richtlinie. Nach den dortigen detaillierten Vorgaben wird insbesondere die Lärmbewertungsmethode nach dem ECAC-Bericht Doc. 29 „Standardberechnungsmethode für Lärmkonturen und zivile Flughäfen“11 als einheitliche Methode festgelegt. Diese Vorgehensweise weicht von dem bisherigen System in Deutschland ab, das sich maßgeblich nach der „Anleitung zur Berechnung von Lärmschutzbereichen (AzB)“12 richtet. Der Anhang I des Verordnungsentwurfes legt darüber hinaus detaillierte Vorgaben für die Informationen fest, die Grundlage für die Lärmbewertung sein müssen. Die Bewertung wird unter Berücksichtigung des aktuellen Standes, der Prognose ohne neue Maßnahmen und unter Prüfung der zusätzlichen Maßnahmen vorgenommen. Nach Art. 4 Ziffer 1 lit. b) müssen die Mitgliedsstaaten ein Lärmminderungsziel festlegen. Was konkret ein Lärmminderungsziel ist und wie dieses festzulegen ist, schreibt die Verordnung nicht vor. Dies soll vollständig in der Entscheidungshoheit der jeweiligen Mitgliedsstaaten verbleiben. Mit dem Verweis auf Lärmminderungsziele, die sich auch aus Vorschriften der Union ergeben können, wird maßgeblich auf die in der Lärmrichtlinie vorgesehenen Lärmaktionspläne für Großflughäfen verwiesen. Entsprechende nationale Vorgaben finden sich in § 47d BImSchG. Angesichts der Einführung der Lärmgrenzwerte im Fluglärmgesetz stellt sich die Frage, ob in Deutschland davon abweichende Lärmminderungsziele für die einzelnen Flughäfen festgelegt werden können. Denn für die Großflughäfen gelten die Werte des § 2 Abs. 2 FluglG. Da nunmehr auch § 8 Abs. 1. S. 3 LuftVG diese Werte als für die Neuanlage und Änderungen von Flugplätzen für verbindlich erklärt, dürfte der Gestaltungsspielraum in Deutschland zur Abweichung von diesen Vorschriften stark eingeschränkt sein. Diese Vorgaben des Verordnungsentwurfes haben bereits für nicht unerhebliche Kritik gesorgt. Denn es besteht die Befürchtung, dass die in Deutschland bestehenden Standards durch diese Vorgabe unterlaufen werden sollen13. Angesichts des Umstandes, dass die Kommission die Festlegung von Lärmminde___________ 11 Zu finden unter https://www.ecac-ceac.org//publications_events_news/ecac_documents/ecac_docs. 12 Anleitung zur Berechnung von Lärmschutzbereichen vom 19. November 2008, BAnz. Nr. 195a vom 23.12.2008, S. 2. 13 Vgl. z.B. BT-Drucks. 17/8620, 8.2.2012, S. 4.
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rungszielen ausdrücklich in die Hoheit der einzelnen Mitgliedsstaaten legt, erscheint diese Befürchtung an dieser Stelle unberechtigt. Vielmehr dürfte es angesichts der oben dargestellten Situation an den Regelungen in § 47d BImSchG und § 2 Abs. 2 FluglG liegen, dass nationale Spielräume eingeschränkt sind. Nach Art. 4 Ziffer 1 lit. c) müssen die Mitgliedsstaaten anschließend die Möglichkeiten zur Minderung der Lärmauswirkungen ermitteln. Diese Vorgabe wird durch Art. 4 Ziffer 2 konkretisiert. Danach sind bei der Ergreifung von Lärmminderungsmaßnahmen •
die absehbaren Auswirkungen einer Reduzierung des Fluglärms an der Quelle,
•
die Planung und Verwaltung der Flächennutzung,
•
die betrieblichen Verfahren zur Lärmminderung und
•
Betriebsbeschränkungen, jedoch nicht als erstes Mittel
zu berücksichtigen. Die Handlungsspielräume der Mitgliedsstaaten werden daher im Korsett des ausgewogenen Ansatzes zusammengefasst. Eine deutlich stärkere Gewichtung erhält über Art. 4 Ziffer 1 lit. d) die Kosteneffizienz der einzelnen in Betracht zu ziehenden Maßnahmen. Zur Ermittlung der Kosteneffizienz ist nach Art. 5 Ziffer 5 auf die Vorgaben in Anhang II des Verordnungsentwurfs zurückzugreifen. Zur Bewertung der Kosteneffizienz sind danach die Lärmvorteile, die Auswirkungen auf den Flugbetrieb, die Kapazität des Flughafens und das europäische Luftverkehrsnetz zu berücksichtigen. Ebenso können die Gesundheit und Sicherheit der Flughafenanwohner, die Umweltverträglichkeit und Auswirkungen auf die Beschäftigung Berücksichtigung finden. Wie und in welchem Verhältnis diese einzelnen Aspekte zueinander stehen und nach welchen Vorgaben eine Kosteneffizienz dabei zu ermitteln ist, ergibt sich aus der Verordnung allerdings nicht. Da die einzelnen genannten Faktoren ohnehin nur schwer zu quantifizieren sind, besteht bei dieser Bewertungssituation ein erheblicher Ermessensspielraum14. Dies führt unweigerlich dazu, dass die angestrebten einheitlichen Standards in Europa in den einzelne Mitgliedsstaaten durchaus unterschiedlich ausgelegt werden können. Nach dieser Ermittlung ist nach Art. 4 Ziffer 1 lit. e) die entsprechende Maßnahme auszuwählen. Der Begriff der Maßnahme ist in der Verordnung nicht definiert. Es dürfte sich dabei jedoch um den Begriff der Lärmminderungsmaßnahme handeln, der in Art. 2 Ziffer 5 definiert ist. Es handelt sich dabei um jede Maßnahme, die sich auf die Lärmsituation in der Umgebung von Flughäfen auswirkt. Insbesondere fallen darunter Betriebsbeschränkungen, die ___________ 14 Vgl. hierzu auch Ziffer 35 der Begründung des Verordnungsvorschlages, KOM (2011) 828 endgültig, S. 8.
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in Art. 2 Ziffer 6 definiert sind. Dabei handelt es sich um Lärmminderungsmaßnahmen, die den Zugang zu einem Flughafen oder die optimale Nutzung seiner Kapazitäten einschränken. Hierunter sind sowohl der Abzug der „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrzeuge“ sowie partielle, d.h. zeitlich beschränkte Betriebsbeschränkungen an Flughäfen zu verstehen. a) Lärmgrenzwerte für Flugzeuge Der Begriff der „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrzeuge“ ist in Art. 2 Ziffer 4 definiert und orientiert sich an den bereits bestehenden Vorgaben der Richtlinie 2002/3015. Es handelt sich dabei um Flugzeuge, welche die Lärmgrenzwerte des Kapitels 3 des Anhangs 16 des Chicagoer Abkommens nur mit einer bestimmten Marge unterschreiten16. Diese Marge soll durch den Verordnungsentwurfs allerdings deutlich verschärft werden. Während Sie bisher bei 5 EPNdB (Effective Perceived Noise in Decibels) liegt, soll sie nunmehr auf 10 EPNdB angehoben werden. Es steht zu erwarten, dass diese Verschärfung für erheblichen Widerstand in der Luftfahrtindustrie sorgen wird. Denn dadurch werden eine Reihe von derzeit noch nicht in Produktion befindlichen Flugzeugen (z.B. Airbus A 321, Boing 737-300 o.a.) von dieser Vorgabe erfasst und können unter vereinfachten Bedingungen ganz oder teilweise vom Betrieb an bestimmten Flughäfen ausgeschlossen werden. b) Betriebsbeschränkungen Eine weitere Unterart von Lärmminderungsmaßnahmen sind Betriebsbeschränkungen, die in Art. 2 Ziffer 6 definiert sind. Es handelt sich dabei um Maßnahmen, die den Zugang zu einem Flughafen oder die optimale Nutzung seiner Kapazität einschränken, einschließlich solcher Beschränkungen, durch die knapp die Vorschriften erfüllende Luftfahrzeuge von bestimmten Flughäfen abgezogen werden sollen. Ebenso umfasst sind partielle Betriebsbeschränkungen, die dem Betrieb ziviler Luftfahrzeuge in bestimmten Zeiträumen einschränken. Durch diese Definition fallen daher der Ausschluss bestimmter Flugzeugtypen von bestimmten Flughäfen sowie jede Art von Nachtflugbeschränkungen unter den Begriff der Betriebsbeschränkung. Zu beachten ist, dass entgegen der Definition der Richtlinie 2002/30/EG17 nicht lediglich auf die Zugangsbeschränkung zu einem Flughafen, sondern ___________ 15
Art. 2 d) der Richtlinie 2002/30/EG. Hierzu schon oben, unter II. 17 Art. 2 e) der Richtlinie 2002/30/EG definierte die Betriebsbeschränkung wie folgt: „Betriebsbeschränkung ist eine lärmrelevante Maßnahme zur Begrenzung oder Reduzierung des Zugangs ziviler Unterschallflugzeuge zu einem Flughafen. Darin eingeschlossen sind Betriebsbeschränkungen, durch die knapp die Vorschriften erfüllende Luftfahr16
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nunmehr auch auf die Einschränkungen der optimalen Nutzung der Kapazität verwiesen wird. Dies hat zur Folge, dass jede Maßnahme, die letztendlich zu einer kapazitären Einschränkung führt, in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Es wird daher nicht eine nutzerbezogene, sondern eine infrastrukturelle Betrachtungsweise angelegt. Damit wird der Begriff der Beschränkung abgekoppelt von der Beurteilung des tatsächlichen Bedarfs. Denn eine Betriebsbeschränkung liegt bereits dann vor, wenn die optimale Nutzung der Kapazität eingeschränkt wird, unabhängig davon, ob diese Kapazität derzeit tatsächlich in Anspruch genommen wird. Für die rechtliche Situation in Deutschland wird eine maßgebliche Rolle spielen, ob die kapazitäre Festlegung eines Flughafens im Rahmen der Planfeststellung unter den Begriff der Betriebsbeschränkung fällt. Denn dies würde dazu führen, dass bei der Bewältigung des Lärmkonfliktes nunmehr auch die Kosteneffizienz der zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ermitteln und in die Abwägung mit einzustellen wären. Den wirtschaftlichen Auswirkungen durch die Festlegung veränderter Regelungen würde damit eine andere Gewichtung der Abwägung zukommen. Für ein solches Verständnis spricht im vorliegenden Fall die Anknüpfung der Definition an die optimale Nutzung der Kapazität eines Flughafens. Optimaler Weise wird die Kapazität eines Flughafens nur durch seine faktischen Leistungsgrenzen beschränkt. Andererseits wird die Kapazität eines Flughafens aber maßgeblich durch seine Betriebsregelungen festgelegt. Sind aufgrund eines Nachtflugverbotes in der Nacht keine Flugaktivitäten zulässig, so bestehen in diesem Zusammenhang auch keine Kapazitäten. Insofern können die in der Planfeststellung getroffenen Betriebsregelungen auch durchaus als Grundlagen zur Festlegung der Kapazität eines Flughafens, nicht aber als Einschränkung derselben verstanden werden. 2. Art. 5: Lärmbewertungsregeln Artikel 5 enthält, wie bereits oben beschrieben, die grundsätzlichen Regelungen zur Lärmbewertung. Nach Art. 5 Abs. 1 und 2 des Verordnungsentwurfes soll die Lärmsituation um Flughäfen herum unter Berücksichtigung der Vorgaben der Umgebungslärmrichtlinie und unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang I regelmäßig bewertet werden. Sollte sich nach Art. 5 Abs. 3 herausstellen, dass weitere Maßnahmen zur Erreichung oder Erhaltung des Lärmminderungsziels erforderlich sind, so sollen die zuständigen Behörden ___________ zeuge von bestimmten Flughäfen abgezogen werden sollen, sowie partielle Betriebsbeschränkungen, die den Betrieb ziviler Unterschallflugzeuge je nach Zeitraum einschränken.“
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entsprechende Maßnahmen unter Berücksichtigung des ausgewogenen Ansatzes ergreifen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob diese Vorgabe eine Pflicht zum Einschreiten der entsprechenden Behörden postuliert. Sollte dies der Fall sein, so würden sich im nationalen Recht erhebliche Anpassungsbedürfnisse ergeben. Entsprechend der Rechtsprechung des EuGH zur Durchsetzung des europäischen Rechts im Sinne des „effet utile“ ist das nationale Verwaltungsrecht europarechtskonform auszulegen und anzuwenden18. Damit einhergehen würde ein zwangsläufiger Eingriff in die bestehenden und bestandsgeschützten Flughafenzulassungen. Denn im Sinne des „effet utile“ müssten auch diese überwunden werden, um das europäische Recht effektiv zur Anwendung zu bringen. Damit wird es letztendlich von der Zielsetzung der Lärmminderung abhängen, ob und inwieweit lärmbedingte Betriebsbeschränkungen an bestehenden Flughäfen eingeführt werden müssen. Allerdings ist an dieser Stelle, wie ebenfalls bereits ausgeführt, an einem entsprechenden Handlungsspielraum zu zweifeln, da die Festlegung der Lärmminderungsziele nach § 47d BImSchG i.V.m. § 2 Abs. 2 FluglG eigentlich schon entsprechende Vorgaben enthalten. Eingeschränkt würde diese Pflicht zur Einführung von entsprechenden Lärmminderungsmaßnahmen durch die Vorgaben des ausgewogenen Ansatzes. Denn ungeachtet der Strenge des Lärmminderungsziels müssen die zur Erreichung derselben erforderlichen Maßnahmen unter Berücksichtigung der Kosteneffizienz bewertet werden. Das bedeutet, dass Aufwand, Ziel und daraus folgende Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. 3. Art. 6: Informationspflichten In Art. 6 werden umfangreiche Informationspflichten aufgestellt. Zunächst wird festgelegt, dass lärmbedingte Betriebsbeschränkungen unter Berücksichtigung des Lärmwerts des Luftfahrzeuges, so wie er sich aus dem Lärmzeugnis nach Anhang 16 zum Chicagoer Abkommen ergibt, festzulegen sind. Luftfahrzeugbetreiber sollen auf Verlangen der Kommission bestimmte Informationen mitteilen. Abgesehen davon, dass der Begriff des Luftfahrzeugbetreibers19 nicht näher definiert wird, stellt sich die Frage nach der Praktikabilität dieser Regelung. Es ___________ 18 Vgl. nur EuGH, Urt. vom 20. März 1997, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 – Alcan II; Urt. vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz. 19 Art. 3 c) der Verordnung (EG) Nr. 785/2004 vom 21.4.2004 über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber definiert den Luft-
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dürfte eines nicht unerheblichen personellen Aufwandes bedürfen, die entsprechenden Daten einzuholen. Ungeachtet dessen sind die Flughafenbetreiber verpflichtet, von jedem Flug, bei dem ein Flughafen in der EU angeflogen wird, die Angaben zum verwendeten Lärmzeugnis und zum Eintragungskennzeichen des Flugzeugs zu übermitteln. Die gesammelten Daten sollen genutzt werden, um eine Datenbank aufzubauen und ein genaueres Bild über die Lärmsituation in Europa zu erhalten. 4. Art. 7: Regeln zur Einführung von Betriebsbeschränkungen In Art. 7 werden einige formale, wenngleich bedeutsame Vorgaben für die Einführungen lärmbedingter Betriebsbeschränkungen aufgestellt. Nach Art. 7 Abs. 1 muss die geplante Betriebsbeschränkung den Mitgliedsstaaten, der Kommission und den interessierten Parteien mindesten sechs Monate vor der geplanten Einführung zur Kenntnis gebracht werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Frist mindestens zwei Monate vor dem Zeitpunkt der Slot-Vergabe für die Sommer-/Winterflugplanperiode liegen muss. Des Weiteren ist die geplante Maßnahme ausreichend zu begründen. Neben der erforderlichen Bewertung nach Art. 5 ist der Notifizierung ein Bericht beizufügen, in dem die Gründe der Betriebsbeschränkung, das für den Flughafen festgelegte Umweltziel, die für die Erreichung des Umweltziels erwogenen Maßnahmen sowie die voraussichtliche Kosteneffizienz der einzelnen Maßnahmen darzulegen sind. Eine Sonderregelung für den Abzug von „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrzeugen“ findet sich in Art. 7 Abs. 3. Sofern diese Maßnahme Gegenstand der Betriebsbeschränkung ist, dürfen sechs Monate nach der Notifizierung der Maßnahme keine neuen Flugdienste mit von dieser Maßnahme umfassten Flugzeugen zugelassen werden. Des Weiteren sollen die zuständigen Behörden einen „Abzugplan“ festlegen, nach dem der Abzug der entsprechenden Flugzeuge jährlich gestaffelt ist. Die festzulegende Anzahl orientiert sich dabei jeweils an den Flotten der betroffenen Luftfahrtunternehmen und soll das Alter der Luftfahrzeuge und die Gesamtzusammensetzung der Flotte des jeweiligen Luftfahrtunternehmens berücksichtigen. Insgesamt darf die jährliche Quote der abzuziehenden Flugzeuge 20% nicht überschreiten.
___________ fahrzeugbetreiber wie folgt: „Luftfahrzeugbetreiber ist die Person oder Rechtspersönlichkeit, die ständige Verfügungsgewalt über die Nutzung oder den Betrieb eines Luftfahrzeugs hat, jedoch kein Luftfahrtunternehmen ist; die als Eigentümer des Luftfahrzeugs eingetragene natürliche oder juristische Person gilt als Betreiber, es sei denn, sie kann nachweisen, dass eine andere Person das Luftfahrzeug betreibt.“
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5. Art. 8: Sonderregelungen Eine Ausnahme von diesen Regelungen sieht Art. 8 des Verordnungsentwurfes vor. Für „Entwicklungsländer“ können knapp die Vorschriften erfüllende Luftfahrzeuge von Lärmminderungsmaßnahmen ausgenommen werden, sofern die Luftfahrzeuge die Lärmgrenzwerte von Anhang 16 Kapitel 3 einhalten und fünf Jahre vor Inkrafttreten dieser Verordnung in der Union betrieben wurden, im Register des betreffenden Entwicklungsland eingetragen sind und weiterhin von dort aus betrieben werden. 6. Art. 9: Freistellung Art. 9 des Verordnungsentwurfes sieht eine Sonderfreistellung für außergewöhnliche Umstände vor. Durch Ausnahmeerlaubnisse können Flüge mit knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrtzeuge erteilen, wenn der Flug einen außergewöhnlichen Umstand darstellt oder das Luftfahrzeug oder den Flug ohne Entgelt zum Zweck von Umbauten, Reparaturen oder Wartungen durchführt. 7. Art. 10: Kontrollbefugnis Mit der Kontrollbefugnis in Art. 10 wird eine ganz entscheidende Vorschrift in die Verordnung aufgenommen. Nach dieser Vorschrift ist die Kommission von sich aus berechtigt, Entscheidungen über Betriebsbeschränkungen vor deren Anwendung zu überprüfen. Sofern sie feststellt, dass die Entscheidung den Anforderungen dieser Verordnung oder dem Europarecht im Übrigen nicht entspricht, so kann sie die Entscheidung aussetzen. Inhaltlich ist mit dieser Befugnis nicht anderes wiedergegeben als die Aufgabe der Kommission als „Hüterin der Verträge“20. Neu ist in diesem Zusammenhang allerdings die Möglichkeit, dass die Kommission eine nationale behördliche Entscheidung aussetzen kann21. Bisher war ihr die Möglichkeit zum Einschreiten maßgeblich durch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegeben. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass die Befugnis der Kommission besteht, sofern die Entscheidung über eine Betriebsbeschränkung nicht den Anforderungen der Verordnung entspricht. Da gerade Art. 7 eine ___________ 20 Vgl. nur Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Band I (Stand: Oktober 2011), Art. 17 EUV Rn. 15 ff. 21 Lediglich der Europäische Gerichtshof kann auf Antrag die Durchführung einer angefochtenen Handlung aussetzen, vgl. Art. 278 S. 2 AEUV.
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Reihe von formalen Kriterien aufstellt, besteht die Möglichkeit, dass die Kommission bereits aufgrund eines formalen Verstoßes die behördliche Entscheidung aussetzt. Über die mögliche Dauer der Aussetzung enthält die Verordnung keine Vorgaben. a) Übermittlung an die Kommission Nach Art. 10 Abs. 3 hat die Kommission im Beratungsverfahren mit dem Ausschuss nach Art. 13 und insbesondere unter Berücksichtigung der Kosteneffizienz zu prüfen, ob die Betriebsbeschränkung eingeführt werden darf. Zu diesem Zweck haben die zuständigen Behörden der Kommission Angaben mitzuteilen, aus denen sich die Einhaltung der Verordnung ergibt. Sofern innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung dieser Unterlagen kein Beschluss der Kommission gefasst worden ist, kann die Betriebsbeschränkung angewandt werden. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob für die Einhaltung der Übermittlungsvorgabe nach Art. 10 Abs. 2 lediglich die Übermittlung von Unterlagen ausreicht oder ob diese vollständig und inhaltlich konsistent sein müssen, d.h. sich aus den Unterlagen eindeutig die Einhaltung der Vorgaben der Verordnung ergeben muss. Würde es sich um eine eher formale Anforderung handeln, könnte die Aussetzung relativ einfach unterlaufen werden. Wären die materiellen Anforderungen vollständig zu erfüllen, kann erheblicher Streit darüber entstehen, ob die Unterlagen vollständig waren oder nicht. b) Kontrolle durch die Kommission Rechtspolitisch wurde gegen die „Kontrollbefugnis“ durch die Europakammer des Bundesrates bereits eine Subsidiaritätsrüge gemäß Art. 12 b) EUV erhoben22. Rechtlich handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine europarechtliche Grundlage für einen Beschluss der Kommission im Sinne des Art. 288 AEUV. Die Europakammer begründet ihre Rüge damit, dass der Kommission ein bisher nicht vorhandenes Prüfungs- und Kontrollrecht über die in den Mitgliedsstaaten beabsichtigten Entscheidungen eingeräumt würde. Die Regelung sei überflüssig, da Betriebsbeschränkungen weiterhin allein der Mitgliedsstaaten anhand der örtlichen Gegebenheiten und der lokalen Auswirkungen zu entscheiden seien. Betrachtet man die bisherige Rechtslage, wird man allerdings kritisch hinterfragen können, ob dieses Kontrollrecht der Kommission einen derartig starken Eingriff in die Mitgliedsstaaten darstellt. Die Geltung der Verordnung voraus___________ 22
BR-Drs. 799/11 (Beschluss).
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gesetzt, wäre eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle der eingeführten Betriebsbeschränkung anhand der Vorgaben der Vorordnung ohne weiteres möglich. Im Rahmen einer zulässigen Klage könnten sich entsprechend Betroffene darauf berufen, dass sowohl formelle als auch materielle Anforderungen der Verordnung nicht eingehalten worden seien. Darüber hinaus stünde den Betroffenen eine Beschwerde auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens bei der Kommission nach Art. 258 Abs. 1 AEUV zu23. Da die Kommission über die Vereinbarkeit von europäischem Recht mit nationalem Recht wacht, stünde ihr das Recht zu, die Vereinbarkeit einer konkreten Betriebsbeschränkung mit europäischem Recht zu prüfen. Rechtsfolge wäre in diesem Fall allerdings eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, nicht jedoch ein direktes Eingriffsrecht in die beabsichtigte Maßnahme. Schließlich stehen sowohl einem Mitgliedsstaat oder dem betroffenen Flughafen gegen eine solche Entscheidung der Kommission nach Art. 10 ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 263 Abs. 2, 4 AEUV24 zur Seite. Vergleicht man daher die rechtlichen Situationen, so zeigt sich, dass die Kommission ohnehin das Recht hat, die Einhaltung der Verordnung zu überwachen. Durch die Möglichkeit einer Einzelfallentscheidung wird lediglich die Klage- und Prozesslast von der Kommission auf die Mitgliedsstaaten bzw. den Flughafen verlagert. 8. Art. 11 und 12: Delegation Beachtenswert sind schließlich die Vorschriften der Artikel 11 und 12 des Verordnungsentwurfes. Danach soll der Kommission eine Rechtssetzungsbefugnis übertragen werden. Diese Delegation des legislativen Aktes ähnelt der Vorgabe des Art. 80 GG25. Die Kommission soll das Recht bekommen, die Definition für knapp die Vorschriften erfüllende Luftfahrtzeuge zu ändern, Lärmhöchstwerte für Flugzeuge festzulegen sowie die Methodik und den technischen Bericht nach Anhang I des Verordnungsentwurfes zu ändern. Diese Rechtssetzungsbefugnis soll nach Art. 12 widerruflich sein. Die Wirksamkeit eines solchen Rechtsaktes soll davon abhängen, dass das Europäische Parlament und der Rat innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Übermittlung eines solchen Rechtsaktes mitgeteilt haben, dass sie keine Einwände haben. ___________ 23
Vgl. hierzu Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Band III (Stand: Oktober 2011), Art. 258 AEUV Rn. 14 ff. 24 Zur Individualnichtigkeitsklage vgl. Booß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Band III (Stand: Oktober 2009), ex-Art. 230 EGV, Rn. 45 f. 25 Gemeinschaftsrechtlich beruht die Ermächtigung auf Art. 290 AEUV, vgl. auch Erwägungsgrund (11) des Verordnungsvorschlags.
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Eine solche Rechtssetzungsbefugnis der Kommission ist im Bereich des Luftverkehrsrechts ungewöhnlich. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen, die mit solchen Veränderungen zusammenhängen, erscheint die Übertragung dieser Befugnisse auch nicht unproblematisch. Sie gewähren der Kommission ein einschneidendes Recht in die Luftverkehrspolitik sowie die Beurteilungen über lärmbedingte Betriebsbeschränkungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Auch wenn letzteres lediglich über den Zugriff der Methodik erfolgt, können gerade diese grundlegenden Änderungen zu erheblichen Auswirkungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten führen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine solche Delegation bedenklich. Da die Kommission ohnehin die Möglichkeit hat, eine in Kraft getretene Verordnung legislativ zu ändern, erschließt sich nicht unmittelbar, aus welchem Grund eine solche Befugnis zwingend erforderlich sein soll.
IV. Fazit Im Ergebnis wirft der Verordnungsentwurf eine Reihe von Punkten auf, die inhaltlich einer eingehenden Erörterung bedürfen. Es stellt sich durchaus die Frage, ob dieser Entwurf den Lärmschutz verbessern oder verschlechtern wird. Da sich die Vorgaben maßgeblich auf die Methodik der Lärmbewertung beziehen, gleichzeitig aber der Kosteneffizienz einen bedeutsamen Stellenwert geben, dürfte damit eine Balance zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Aspekten zu erreichen sein. Denn die Wahrung der gesundheitlichen Aspekte hängt insbesondere davon ab, wie die einzelnen Mitgliedsstaaten ihren Lärmminderungs- bzw. Lärmschutzziele definieren. Je strenger diese Vorgaben sind, desto gewichtiger müssen entsprechende Kosteneffizienzgesichtspunkte sein, um einer solchen Maßnahme entgegengehalten werden können. Nicht unbedenklich erscheint es, dass auf Grundlage des Verordnungsentwurfes in bereits bestehende Betriebsgenehmigungen eingegriffen werden soll. Im Sinne einer Planungssicherheit erscheint es nicht zielführend, dass über die Eingriffsrechte der Kommission und die Geltendmachung eines „effet utile“ der Luftfahrtindustrie die bestehende Planungssicherheit genommen werden soll. Auch aus Sicht des Lärmschutzes erscheint dies nur vordergründig als zielführend. Denn die Diskussion um die konkreten Lärmstandards muss jeweils in den einzelnen Mitgliedsstaaten geführt werden. Im Ergebnis dürfte ein solcher Verordnungsentwurf – mit den noch zu erwartenden Änderungen – zu einer stärkeren Betrachtung der Details des ausgewogenen Ansatzes führen. Betrachtet man die bisherige Rechtsprechung26, so ___________ 26
BVerwG, 1.11.2007, 4 VR 3000/07, NVwZ 08, 217; VGH Kassel, 21.8.2009, 11 C 349/08.T.
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fällt auf, dass die Vorgaben des ausgewogenen Ansatzes bisher keine nennenswerten Auswirkungen auf die deutsche Rechtssituation hatten. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass diese Erwägungen im Rahmen der Abwägung in entsprechender Weise berücksichtigt worden sind. Die Konkretisierung dieser Vorgaben durch den Verordnungsentwurf wird die konkrete Abwägungssituation dahingehend verändern, diesen Belangen stärkere Berücksichtigung zuzumessen. Dies betrifft, angesichts der starken Besiedelungsdichte in Deutschland, maßgeblich die Frage der Betriebsbeschränkungen und die damit verbundene Kosteneffizienz. Ob dies angesichts des Bewertungsspielraumes bei der Beurteilung der Kosteneffizienz zu einem anderen Ergebnis führen wird, muss sich aus dem praktischen Umgang mit einer solchen Verordnung zeigen.
Kohlekraftwerke und slowakische Braunbären – Wie geht es weiter mit der (deutschen) Umweltverbandsklage? Von Jörg Berkemann
I. Prägender Befund: Die Verbandsklagen der Århus-Konvention 1998 Die fortschreitende Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts führt zu grundlegenden Veränderungen im Umweltrecht. Das betrifft das Umweltverfahrensrecht, teilweise das materielle Umweltschutzrecht und inzwischen und folgerichtig auch ein unionsrechtlich geprägtes Umweltprozessrecht. In Schnittstellen ist der deutliche Rückgang der deutschen „Schutznormtheorie“ zugunsten einer öffentlichkeitsbeteiligten Interessenbetroffenheit und in ersten Ansätzen auch die Minderung der ergebnisbezogenen Kausalitätsbetrachtung zugunsten einer qualitativen Verfahrenskorrektheit festzustellen.1 Die frühere und leidenschaftlich behandelte „deutsche“ Frage nach Ziel, Anlass, Sinn und Zweck einer Umweltverbandsklage ist keine mehr. Die Würfel fielen 1998 dort, wo man es wohl kaum erwartet hatte, nämlich mit der ÅrhusKonvention.2 Der deutsche Gesetzgeber, der Umweltverbandsklage widerstrebend, hat sich dazu vom EuGH 2011 belehren lassen müssen.3 ___________ 1 Vgl. besonders EuGH, Urt. vom 7.1.2004 – Rs. C-201/02 – EuGHE 2004, I-723 = DVBl 2004, 370 = NVwZ 2004, 593 – Delena Wells vs. Secretary of State for Transport, Local Government and the Regions; ähnlich auch EuGH, Urt. vom 3.7.2008 – Rs. C-215/06 – EuGHE 2008, I-4911, Rn. 49 = NuR 2008, 562 – Kommission vs. Irland; EuGH, Urt. vom 25.7.2008 – Rs. C-142/07 – EuGHE 2008, I-6097, Rn. 33 – Ecologistas en Acción-CODA vs. Ayuntamiento de Madrid; Schlussanträge GAin Kokott vom 30.4.2008 – Rs. C-142/07 Rn. 62. 2 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (BGBl. II 2006, S. 1252-1284), verbindliche Veröffentlichung United Nations, Treaty Series, vol. 2161, p. 447. Deutscher Text auch bei Jörg Berkemann/Günter Halama, Handbuch zum Recht der Bau- und Umweltrichtlinien der EU, 2. Aufl. 2011, S. 433460. Vgl. allgemein Vera Rodenhoff, Die EG und ihre Mitgliedstaaten als völkerrechtliche Einheit bei umweltvölkerrechtlichen Übereinkommen, 2008. 3 EuGH, Urt. vom 12.5.2011 – Rs. C-115/09 – DVBl 2011, 757 = NVwZ 2011, 801 = UPR 2011, 268 = NuR 2011, 423 = EuZW 2011, 510 = EuGRZ 2011, 273 = EurUP 2011, 145 = ZUR 2011, 368 = ZNER 2011, 286 = NJW 2011, 2779 = NWVBl 2011, 342 = BayVBl 2011, 628 – Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V. vs. Bezirksregierung Arnsberg.
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1. Die konventionsrechtliche Ausgangslage (1998) a) Entstehung und Zielsetzung Die Århus-Konvention (AK) ist die erste völkerrechtliche Vereinbarung über internationale Mindeststandards im Bereich des allgemeinen Umweltschutzrechts.4 An ihr wurde seit 1994 vier Jahre lang gearbeitet. Die Konvention heißt vollständig „Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“. Es handelt sich um ein Übereinkommen der UN/ECE (United Nations Economic Commission for Europe [Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa]). Das Übereinkommen wurde formell am 25. Juni 1998 in Århus im Rahmen der vierten Pan-Europäischen Ministerkonferenz „Umwelt für Europa“ paraphiert.5 Leiter der deutschen Delegation war Ministerialrat Eckhart Meyer-Rutz vom Bundesumweltministerium. Bereits während der Ausarbeitung der Konvention entstanden erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die Strukturen einer Verbandsklage. Auch wenn noch nicht alle Dokumente über die Verhandlungen offen liegen, lässt sich so viel sagen: Die deutsche Seite beharrte auf einer an § 42 Abs. 2 VwGO ausgerichteten Struktur einer Verbandsklage. Hingegen war vor allem die damalige EG-Kommission der Ansicht, man müsse zum Zwecke der Effektivität der Umsetzung des Konventionsinhaltes sich eher an das Modell der französischen Interessensklage anlehnen. Bereits 1993 hatte die Kommission eine Arbeitsgruppe zu access to justice eingesetzt. Diese hatte wesentliche Fortschritte nicht erreichen können. Die Meinungsunterschiede lagen nicht zuletzt in einer Verständigung über die allgemeinen Ziele der auszuhandelnden Konvention begründet. Immerhin konnte man sich nach Aufnahme der eigentlichen Verhandlungen auf drei Kernbereiche einigen, welche zu regeln wären. Ziel der Århus-Konvention sollte es sein, den Zugang zu Umweltinformationen, die Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltrelevanten Verfahren und die Rechtsdurchsetzung in Umweltangelegenheiten zu stärken.6 Damit sollte ein Beitrag ___________ 4 Vgl. dazu Lothar Knopp, Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz und Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, in: ZUR 2005, 281–284; Astrid Epiney, Zu den Anforderungen der Aarhus-Konvention an das europäische Gemeinschaftsrecht, in: ZUR Sonderheft 2003, 176–184; zur Entstehungsgeschichte u.a. Christian Walter, Internationalisierung des deutschen und europäischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts – am Beispiel der Arhus-Konvention, in: EuR 2005, 302-338 (304 ff.). 5 United Nations, Treaty Series, vol. 2161, p. 447. 6 Zum Inhalt der Århus-Konvention vgl. die Darstellungen u.a. bei Christian Walter, Internationalisierung des deutschen und europäischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts – am Beispiel der Aarhus-Konvention, in: EuR 40 (2005),
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zum Schutz der Umwelt und zur Verbesserung der Umweltqualität geleistet werden. Das Übereinkommen umfasst demgemäß drei unterschiedliche Regelungsbereiche (sog. Säulen), nämlich Information, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz.7 Zu der letztgenannten dritten Komponente sollte die Konvention im Regelungsbereich festlegen, dass „Mitglieder der Öffentlichkeit“, sofern sie etwaige innerstaatliche Kriterien erfüllen, Zugang zu einem verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben sollten. Die skizzierten Meinungsverschiedenheiten wurden einem Kompromiss zugeführt, wie der nachstehend abgedruckte Text des Art. 9 Abs. 2 UAbs. 1 AK aufweist. Jeder Konventionsstaat konnte selbst entscheiden, ob er dem „deutschen“ Modell der Schutznorm oder dem eher französischen Modell der „Interessentenklage“ folgen wollte. Für den Fall, dass das Recht der Konventionspartei ein anderes Rechtsschutzsystem kennt, bestimmt Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 3 AK ergänzend, dass anerkannte Nichtregierungsorganisationen (NGO) gleichwohl „auch als Träger von Rechten, die im Sinne des Buchstaben b verletzt werden können“, gelten. Deutlicher kann die Zielsetzung der Konvention schwerlich angegeben werden.8 Die NGO sind nach der Lesart der Konvention zumindest im Sinne ___________ 302-338 (305 ff.); Martin Scheyli, Aarhus-Konvention über Informationsgang, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz in Umweltbelangen, AVR 38 (2000), S. 217–252; Astrid Epiney/Kasper Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht – Rechtsvergleich, europa- und völkerrechtliche Vorgaben und Implikationen für die Schweiz, Berlin 2002. 7 Darstellungen bei Martin Scheyli (Fn. 6); Felix Ekardt, Information, Partizipation, Rechtsschutz: Prozeduralisierung von Gerechtigkeit und Steuerung in der Europäischen Union – unter besonderer Berücksichtigung der Aarhus-Konvention, 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Münster 2008. 8 Wie hier Hans-Joachim Koch, Die Verbandsklage im Umweltrecht, in: NVwZ 2007, 369-379 (376); Alexander Schmidt/Peter Kremer, Das Umweltrechtsbehelfsgesetz und der „weite Zugang zu Gerichten“ – Zur Umsetzung der auf den Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten bezogenen Vorgaben der sog. Öffentlichkeitsrichtlinie 2003/35/EG, in: ZUR 2007, 57-63 (60) hinsichtlich der RL 2003/35/EG; ferner Thomas Bunge, Rechtsschutz bei der UVP nach der Richtlinie 2003/35/EG, in: UR 2004, 141– 148 (143); Felix Ekardt/Katharina Pöhlmann, Europäische Klagebefugnis: Öffentlichkeitsrichtlinie, Klagerechtsrichtlinie und ihre Folgen, in: NVwZ 2005, 532-534 (532); Josef Falke, Die Aarhuskonvention und der Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, in: Josef Falke/Sabine Schlacke, Neue Entwicklungen im Umwelt- und Verbraucherrecht, Berlin 2004, S. 99–130 (113 f.); Ralf Alleweldt, Verbandsklage und gerichtliche Kontrolle von Verfahrensfehlern: Neue Entwicklungen im Umweltrecht. Zum Einfluss der Aarhus-Konvention und der Richtlinie 2003/35/EG auf die deutsche Rechtsordnung, in: DÖV 2006, 621–631 (625); Meinhard Schröder, Postulate und Konzepte zur Durchsetzbarkeit und Durchsetzung der EG-Umweltpolitik, in: NVwZ 2006, 389395 (393); Sabine Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz: Phänomenologie und Systematik überindividueller Klagebefugnisse im Verwaltungs- und Gemeinschaftsrecht, insbesondere am Beispiel des Umweltrechts, Tübingen 2009, S. 242; Martin Gellermann, Europäisierter Rechtsschutz im Umweltrecht, in: Jörn Ipsen/Bernhard Stüer
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einer Fiktion eigene Rechtsträger, wenn dies nach nationalem Recht prozessuale Voraussetzung für den Zugang zu Gerichten sein sollte.9 Damit will die Konvention erkennbar dem etwaigen Einwand rechtstechnisch begegnen, das nationale Recht sehe in seinem Prozessrecht eine Verfahrensposition zugunsten einer NGO nicht vor. Art. 9 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 2 AK entzog und entzieht damit dem Gesetzgeber des Vertragsstaates eine abweichende Regelungsbefugnis. Die NGO sollten offenkundig gegenüber Individualklägern „privilegiert“ werden.10 b) Text des Art. 9 Århus-Konvention 1998 In ihrer sog. dritten Säule legt die Århus-Konvention fest, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie bestimmte innerstaatliche Kriterien erfüllen, einen „weiten Zugang“ zu einem verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben sollen, um Verstöße gegen nationales Umweltrecht anfechten zu können (Art. 9 Abs. 2 AK). Die Konvention räumt diesen Rechtsanspruch jenen ein, die entweder ein „ausreichendes Interesse“ haben oder aber alternativ eine „Rechtsverletzung“ geltend machen, sofern das nationale Verwaltungsverfahrensrecht dies als Voraussetzung verlangt. Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 AK lautet: (2) Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, a) die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ b) eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozessrecht einer Vertragspartei dies als Voraussetzung erfordert, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht und/oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Ent-
___________ (Hrsg.), Europa im Wandel. Festschrift für Hans-Werner Rengeling zum 70. Geburtstag, Köln 2008, S. 233–248 (240) zu Art. 10a UVP-RL 85/337/EWG; abweichend Thomas von Danwitz, Zur Ausgestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Einführung der Verbandsklage anerkannter Umweltschutzvereine nach den Vorgaben der Richtlinie 2003/35/EG und der sog. Aarhus-Konvention. Rechtsgutachten, erstattet dem VDEW e.V., 2005, S. 40 ff.; zu kurz gegriffen die Interpretation bei Matthias Schmidt-Preuß, Gegenwart und Zukunft des Verfahrensrechts, in: NVwZ 2005, 489-496 (495). 9 Wie hier Martin Gellermann, Europäisierte Klagerechte anerkannter Umweltverbände, in: NVwZ 2006, 7–14 (9); Felix Ekardt/Katharina Pöhlmann, (Fn. 8); Thomas Bunge, Rechtsschutz bei der UVP nach der Richtlinie 2003/35/EG, in: ZUR 2004, 141– 148 (143); Andrea Versteyl, Erweiterung der Klagebefugnis der Verbände durch den EuGH?, in: EurUP 2009, 133-139 (134); a. A. ohne systemimmanente Bewertung Matthias Schmidt-Preuß, (Fn. 8), S. 495. 10 Ralf Alleweldt, (Fn. 7), S. 626; Martin Gellermann (Fn. 9), S. 8.
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scheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die Artikel 6 und – sofern dies nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht vorgesehen ist und unbeschadet des Absatzes 3 – sonstige einschlägige Bestimmungen dieses Übereinkommens gelten. Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmt sich nach den Erfordernissen innerstaatlichen Rechts und im Einklang mit dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen dieses Übereinkommens einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder nichtstaatlichen Organisation, welche die in Artikel 2 Nummer 5 genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend im Sinne des Buchstaben a. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die im Sinne des Buchstaben b verletzt werden können. Absatz 2 schließt die Möglichkeit eines vorangehenden Überprüfungsverfahrens vor einer Verwaltungsbehörde nicht aus und lässt das Erfordernis der Ausschöpfung verwaltungsbehördlicher Überprüfungsverfahren vor der Einleitung gerichtlicher Überprüfungsverfahren unberührt, sofern ein derartiges Erfordernis nach innerstaatlichem Recht besteht. (3) Zusätzlich und unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 genannten Überprüfungsverfahren stellt jede Vertragspartei sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen.
c) Die in Deutschland „ungeliebte“ Konvention Die Ratifizierung des Abkommens bereitete in Deutschland vor allem politische Schwierigkeiten. Bereits anlässlich der 4. Pan-Europäischen Ministerkonferenz in Århus weigerte sich die deutsche Seite, die auch von ihr verhandelte Konvention auf Regierungsebene zu bestätigen.11 Dies wurde bei den NGO und einigen Regierungsvertretern als „adding insult to injury“ wahrgenommen und kritisiert.12 Im Sommer 1998 lehnte es die Bundesregierung (CDU/CSU/FDP) ab, die aufgelegte Konvention zu zeichnen. Möglicherweise bemerkte man jetzt erst, worauf man sich mit dem bereits paraphierten Konventionstext eingelassen hatte. In der Erklärung der damaligen Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Angela Merkel (CDU), ___________ 11 Bericht über die Vierte Ministerkonferenz „Umwelt für Europa“, Århus, Dänemark (23.–25. Juni 1998), in: ECE/CEP/41 p. 69 Annex VII. 12 Zur Rolle der NGO in dieser Phase vgl. etwa Astrid Epiney, The Role of NGOs in the Process of Ensuring Compliance with MEAs, in: Ulrich Beyerlin/Peter-Tobias Stoll/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Ensuring Compliance with Multilateral Environmental Agreements: Academic Analysis and Views from Practice, Leiden/Boston 2006, S. 319–352.
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vom 23. Juni 1998 hieß es: „Zuvor ist die Klärung schwieriger Einzelfragen im Hinblick auf die konkrete Umsetzung der Konvention in das deutsche Rechtssystem – und dies auch gemeinsam mit den Ländern – erforderlich.“13 Überraschend war dies nicht. Bereits in dem Abschlusskommuniqué des DeutschFranzösischen Umweltrates (auf Ministerebene) vom 26. Mai 1998 (Straßburg) heißt es: „Die deutsche Seite drückt ihre Besorgnis hinsichtlich einiger Bestimmungen aus, die zu einer Komplizierung des Verfahrens führen könnten“. Was innerdeutsch noch zu klären war, erschließt sich daraus allerdings nicht. Dass man in einem Föderativsystem lebt, wusste man ja. Nein, die politische Wahrheit war das nicht. Als man im Dezember 2006 die Konvention gesetzgeberisch ratifizierte, blieben föderative Bedenken unerwähnt, weil es sie nicht gab und nicht gegeben hatte.14 Die Bundesregierung nahm jedenfalls im Sommer 1998 den diplomatischen Affront in Århus gegenüber den anderen Staaten hin. Ob das Außenamt in dieser Phase involviert war, ist dem Autor nicht bekannt.15 Eine formelle Zeichnung der Konvention durch Deutschland geschah erst nach den Bundestagswahlen durch die neue Bundesregierung (SPD/Bündnis 90-DIE GRÜNEN). Am 21. Dezember 1998 zeichnete Botschafter Dieter Kastrup, Ständiger Vertreter bei der UNO, die Konvention, und zwar als letzter der EU-Mitgliedstaaten. Die Bundesregierung erklärte bei der Zeichnung der Konvention zu Protokoll („upon signature“): The text of the Convention raises a number of difficult questions regarding its practical implementation in the German legal system which it was not possible to finally resolve during the period provided for the signing of the Convention. These questions require careful consideration, including a consideration of the legislative consequences, before the Convention becomes binding under international law. The Federal Republic of Germany assumes that implementing the Convention through German administrative enforcement will not lead to developments which counteract efforts towards de-regulation and speeding up procedures.
Welche „schwierigen Fragen“ der Text in Bezug auf seine praktische Umsetzung in die deutsche Rechtsordnung aufwarf, blieb auch jetzt noch unklar. Gab es derartige Fragen, dann war allerdings eine sorgfältige Prüfung angezeigt. Als Grund wurde zunächst erneut angegeben, dass innerstaatlich noch ___________ 13 Zitiert nach der Berliner Zeitung vom 24.6.1998, S. 1. Ähnlich der BMUPressedienst 88/98 vom 25.6.1998. 14 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Übereinkommen) vom 4.9.2006 (BTags-Drs. 16/2497). 15 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Vera Rodenhoff, Die EG und ihre Mitgliedstaaten als völkerrechtliche Einheit bei umweltvölkerrechtlichen Übereinkommen, 2008, S. 159 f.
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„föderale Aspekte in Deutschland nicht abschließend geklärt seien“. Das war, insbesondere in gemeinschaftsrechtlicher Perspektive, ein offenkundig sachfremdes Argument. Später wurde mehrfach darauf hingewiesen, man wolle die Ratifizierung in enger Abstimmung mit der Gemeinschaft vornehmen.16 Auch dies war sachfremd, nachdem die EG die Konvention ihrerseits bereits vorbehaltslos gezeichnet hatte und die Konventionsstaaten nicht mit dem Kreis der Mitgliedstaaten der EG/EU identisch sind. Nach seinem Art. 20 Abs. 1 AK trat das Übereinkommen am 30. Oktober 2001 in Kraft. Eine alsbaldige Ratifizierung wurde nicht vorangetrieben.17 Im Sommer 2006 hatten 39 Vertragsparteien das Übereinkommen ratifiziert, angenommen, genehmigt oder waren ihm in anderer Weise beigetreten. Am 7. Juni 2002 ließ die Bundesregierung erklären, sie bereite die abschließende Ratifikation der Konvention vor.18 Hinzu gefügt wurde – und der polemische Unterton war schwerlich zu überhören –, für die (jetzige) Bundesregierung stehe bei der Ratifikation der Konvention nicht Schnelligkeit, sondern die Gewährleistung einer hohen Umsetzungsqualität im Vordergrund. Ergänzend wurde erklärt, die Bundesregierung halte es nicht für sinnvoll, „das deutsche Recht unabhängig von geplanten Rechtsetzungsakten der Europäischen Gemeinschaft an die Erfordernisse der Århus-Konvention anzupassen.“ Die Folge der einstweiligen Nichtratifizierung war, dass seit dem Inkrafttreten der Århus-Konvention am 31. Oktober Deutschland auf internationaler Ebene lediglich als Beobachterund Signatarstaat agieren konnte. Als verhandlungsberechtigter Vertragspartner während der Vertragstaatenkonferenzen (z. B. in Lucca im Oktober 2002) und untergeordneten Arbeitstreffen waren nur die Staaten stimmberechtigt, die das Abkommen ratifiziert hatten. Das Abkommen wurde zunächst also nicht ratifiziert, obwohl der Abschnitt V des Koalitionsvertrages der erneuerten rotgrünen Bundesregierung vom 16. Oktober 2002 dies vorsah. Sachgründe gab es nicht, dies umso weniger, als die EG bereits am 23. Juni 2003 eine erste die Konvention umsetzende Richtlinie erlassen hatte (RL 2003/35/EG).19 Deutschland geriet nunmehr unter gemeinschaftsrechtlichen Zeitdruck. ___________ 16
Vgl. Antwort der BReg. auf die Kleine Anfrage der Abg. Eva Bulling-Schröter und der Fraktion der PDS (BTags-Drs. 14/9184), in: BTags-Drs. 14/9493 vom 18.6.2002, S. 2. 17 Vgl. auch die „Kleine Anfrage“ der Fraktion der PDS vom 25.4.2000 zum Ratifizierungsverfahren, in: BTags-Drs. 14/3254; vgl. ferner Christian Walter, (Fn. 6), S. 307 f. 18 Antwort BReg. vom 7.6.2000 auf die Kleine Anfrage der Abg. Eva-Maria Bulling-Schröter und der Fraktion der PDS (BTags-Drs. 14/3254), in: BTags-Drs. 14/3568, S. 2. 19 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.5.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG
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(3) Seit dem 18. April 2005 lag der deutschen Öffentlichkeit ein Referentenentwurf für eine Ratifizierung vor. Eine weitere regierungsamtliche Förderung blieb zunächst aus.20 Nach erneutem Regierungswechsel brachte die Bundesregierung am 4. September 2006 einen „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Übereinkommen)“ in den Bundestag zum Zwecke der nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebenen Ratifizierung ein.21 Die gesetzgebenden Gremien stimmten zu. Die Ratifizierung war am 15. Januar 2007 abgeschlossen. Mit der Ratifikation wurde Deutschland die 40. Vertragspartei der Århus-Konvention. Der maßgebende Konventionstext ist nach Art. 22 AK in englischer, französischer und russischer Sprache gefasst. Die im BGBl. II S. 1392 veröffentlichte deutsche Übersetzung ist eine mit Österreich und der Schweiz abgestimmte Fassung. Sie ist also nicht konventionsamtlich.22 Bislang haben 44 Staaten die Konvention ratifiziert. 2. Die unionsrechtliche Umsetzung der Konvention (1) Die damalige EG, jetzige EU, ist Vertragspartei der Århus-Konvention. Bei dem Übereinkommen handelt es sich also aus der Sicht der Union um ein sog. gemischtes Abkommen.23 Darunter versteht man ein Abkommen, bei dem die Außenkompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilt sind. Umweltabkommen, welche in die Vertragsabschlusskompetenz der EG/EU fallen, wurden nach Art. 300 Abs. 7 EG a.F. (vgl. Art. 218 AEUV) integrierter Bestandteil des Gemeinschaftsrechts.24 Insoweit muss zwischen Außen- und Innenverhältnis unterschieden werden.25 ___________ und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl. vom 25.6.2003 L 156/17). 20 Entwurf (G I 4-42120-6/0), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Referat G I 4 Berlin, 21.2.2005, abgedruckt z.B. bei Wolfgang Durner/Christian Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Ǻrhus-Konvention, Berlin 2005, S. 171-195, abrufbar auch unter www.bmu.de/files/bue rgerbeteiligung/downloads/application/pdf/umweltrechtsbehelfsgesetz/pdf. 21 BTags-Drs. 16/2497. 22 Nach Art. 1 S. 1 des Ratifizierungsgesetzes vom 15. Januar 2007 handelt es sich bei dem hinzugefügten deutschen Text um eine „amtliche deutsche Übersetzung“. 23 Christian Walter, (Fn. 6), S. 307 ff.; vgl. zum Begriff allg. EuGH, Urt. vom 30.5.2006 – Rs. C-459/03 – EuGHE 2006, I-4636 = EuZW 2006, 464 – Kommission vs. Irland. 24 Vgl. auch EuGH, Urt. vom 15.7.2004 – Rs. C-213/03 – EuGHE 2004, I-7357 = AbfallR 2004, 245 (L) – Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région vs. Électricité de France (EDF); EuGH, Urt. vom 7.10.2004 – Rs.
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Diese primärrechtliche Trennung ist von erheblicher Bedeutung für die Frage, in welchem Maße der Inhalt der Århus-Konvention gegenüber den Mitgliedstaaten der Union unmittelbar verpflichtend sein kann. Zum maßgebenden Zeitpunkt war die gemeinschaftliche Umweltpolitik in Art. 174 EG geregelt, nunmehr Art. 191 AEUV. Danach trägt die Gemeinschaftspolitik zur Verfolgung bestimmter Ziele bei, nämlich Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität, Schutz der menschlichen Gesundheit, umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen sowie Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme. Nach Art. 175 Abs. 1 EG beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Art. 251 EG und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen über das Tätigwerden der Gemeinschaft zur Erreichung der in Art. 174 EG genannten Ziele. Die seinerzeitigen Bestimmungen des Art. 300 EG hat Art. 218 AEUV ersetzt. Die Befugnis und die Zuständigkeit zur Auslegung gemischter Übereinkommen sieht der EuGH selbst als kritisch an, auch wenn er sich zumeist zugunsten einer integrationsfreundlichen Handhabung entscheidet.26 Das setzt sich in der noch zu analysierenden Entscheidung zum slowakischen Braunbären fort.27 (2) Am 17. Februar 2005 wurde das Århus-Übereinkommen durch den Beschluss 2005/370 des Rates im Namen der Gemeinschaft genehmigt. Die Genehmigung wurde auf die Art. 175 Abs. 1 EG und Art. 300 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 1 und Abs. 3 UAbs. 1 1 EG gestützt.28 Im Anhang des Beschlusses ___________ C-239/03 – EuGHE 2004, I-9325 – Kommission vs. Frankreich, jeweils Übereinkommen zum Schutz des Mittelmeers vor Verschmutzung (Übereinkommen von Barcelona). 25 Vgl. nunmehr auch Kirstin Schmalenbach, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, AEUV, Art. 216 Rn. 5 ff., Art. 218, Rn. 27 f.; Karen Kaiser, Geistiges Eigentum und Gemeinschaftsrecht – Die Verteilung der Kompetenzen und ihr Einfluss auf die Durchsetzbarkeit der völkerrechtlichen Verträge, Berlin 2004, S. 364 ff. 26 Vgl. etwa EuGH, Urt. vom 11.9.2007 – Rs. C-431/05 – EuGHE 2007, I-7001 = EuZW 2008, 773 – Merck Genéricos – Produtos Farmacêuticos Ldª vs. Merck & Co. Inc. und Merck Sharp & Dohme Ldª; Überblick im Einleitungskapitel bei John Heliskoski, Mixed Agreements as a Technique for Organizing the International Relations of the European Community and its Member States. Kluwer Law International, Den Haag, 2001. 27 EuGH, Urt. vom 8.3.2011 – Rs. C-240/09 – NVwZ 2011, 673 – Lesoochranárske zoskupenie VLK vs. Ministerstvo životného prostredia Slovenskej republiky (Braunbären). Lesoochranárske zoskupenie VLK ist ein nach slowakischem Recht gegründeter Verein mit dem Zweck des Umweltschutzes. 28 Beschl. vom 17. Februar 2005 über den Abschluss des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten im Namen der Europäischen Gemeinschaft (ABl. L 124, S. 1). Der Wortlaut des Århus-Übereinkommens ist dann auf S. 4 ff. dieser Ausgabe des Amtsblatts wiedergegeben.
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2005/370 findet sich eine Erklärung der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 19 AK. In Abs. 2 der Erklärung heißt es, dass „die Umsetzung der aus Artikel 9 Absatz 3 des Übereinkommens erwachsenden Verpflichtungen nicht in vollem Umfang unter die geltenden Rechtsakte fällt, da diese sich auf verwaltungsbehördliche und gerichtliche Verfahren beziehen, mit denen die von Privatpersonen und von den Einrichtungen nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe d, bei denen es sich nicht um die Organe der Europäischen Gemeinschaft handelt, vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen angefochten werden, und dass demzufolge ihre Mitgliedstaaten für die Erfüllung dieser Verpflichtungen zum Zeitpunkt der Genehmigung des Übereinkommens durch die Europäische Gemeinschaft zuständig sind und auch dafür zuständig bleiben werden, es sei denn, dass – bzw. bis – die Gemeinschaft in Ausübung ihrer Zuständigkeiten nach dem EG-Vertrag Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zur Umsetzung dieser Verpflichtungen annimmt“. Bereits hier wird deutlich, dass die Gemeinschaft durchaus zutreffend die unterschiedlichen Regelungsbereiche von Art. 9 Abs. 2 AK und Art. 9 Abs. 3 AK erkannte. Art. 9 Abs. 3 AK stellt ersichtlich eine eigenständige Vorschrift dar: Sie ist nicht etwa als ein Unterfall von Art. 9 Abs. 2 AK konzipiert.29 Es gilt der im Common Law bekannte Rechtssatz „inclusio unius est exclusio alterius“. (3) Bereits vor der Genehmigung des Århus-Übereinkommens durch die Gemeinschaft hatte diese Maßnahmen zur Einbeziehung von Art. 9 Abs. 2 AK getroffen, nämlich durch die Richtlinie 2003/35/EG.30 Im 5. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es dazu: „Die Gemeinschaft hat am 25. Juni 1998 das [Århus-Übereinkommen] unterzeichnet. Damit die Gemeinschaft dieses Übereinkommen ratifizieren kann, sollte das Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß an dieses Übereinkommen angeglichen werden.“ Das war im zeitlichen Ablauf ein etwas ungewöhnlicher Vorgang. Im 12. Erwägungsgrund wurde die Zielsetzung der Richtlinie präzisiert. Das Ziel der vorgeschlagenen Maßnahme, nämlich zur Erfüllung der Pflichten aufgrund des Århus-Übereinkommens beizutragen, könne auf Ebene der Mitgliedstaaten (Konventionsstaaten) nicht ausreichend erreicht werden. Dies könne wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden. Die Mitgliedstaaten nahmen diese Verfahrensweise hin. Die Umsetzungsfrist der RL ___________ 29
Wie hier Schlussanträge GAin Sharpston, Rs. C-240/09, Rn. 76 mit Fußn. 55. Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.5.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl. L 156, S. 17). Die Richtlinie ist nunmehr durch UVP-Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (Abl. Nr. L 26 vom 28.1.2012, S. 1-21) konsolidierend ersetzt. 30
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2003/35/EG wurde auf den 25. Juni 2005 bestimmt. Um die in Art. 9 Abs. 2 AK festgelegten Normen in das Unionsrecht einzubeziehen, wurden mit der RL 2003/35/EG sodann Art. 10a in die RL 85/337/EWG und Art. 15a in die RL 96/61/EG eingefügt. Die RL 2003/35/EG wurde nahezu textgleich mit Art. 9 Abs. 2 AK formuliert. Diese Deckungsgleichheit des Regelungsgegenstands deutet darauf hin, dass Art. 9 Abs. 2 AK in vollem Umfang in das Unionsrecht einbezogen werden sollte. Außerdem ergibt sich aus dem 10. und 11. Erwägungsgrund der RL 2003/35, dass der Richtliniengeber die mit dieser Richtlinie eingeführten Änderungen als hinreichend erachtete, um eben diese Einbeziehung von Art. 9 Abs. 2 AK vollständig zu erreichen. (4) Dagegen konnte Art. 9 Abs. 3 AK nur teilweise in das Unionsrecht einbezogen werden, und zwar nur durch die Verordnung Nr. 1367/2006.31 Diese gilt indes ausschließlich für die Organe der EU. Eine Inkorporierung der Konvention in weiterem Umfang erfolgte bislang nicht. Die Kommission hatte zwar am 24. Oktober 2003 einen erweiternden Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vorgelegt.32 Das Parlament nahm den Vorschlag indes nicht an. Dem Vernehmen nach sind im Parlament Überlegungen vorhanden, die Kommission um eine erneute Vorlage zu ersuchen. In seinem Urteil vom 1. Juli 2008 betont der EuG, dass die Rechtswirkung der Verordnung Nr. 1367/2006 auf die Gemeinschaftsorgane beschränkt sei.33 3. Die doppelte Aufgabe einer „deutschen“ Umsetzung Die mit der Konvention begründete dritte Säule des Gerichtsschutzes ist eine „doppelte“. Die in Art. 9 Abs. 2 AK vorgesehene Klage lässt sich als eine „besondere“ verstehen, einer lex specialis ähnlich. Die Klagemöglichkeiten beziehen sich auf diejenigen administrativen Verfahren, die einer Beteiligung der „betroffenen“ Öffentlichkeit nach Art. 6 AK unterliegen.34 Insoweit knüpft die ___________ 31 Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.9.2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft (ABl. L 264, S. 13). Vgl. dazu Eckard Rehbinder, Die AarhusRechtsprechung des europäischen Gerichtshofs und die Verbandsklage gegen Rechtsakte der Europäischen Union, in: EurUP 2012, 23-31. 32 KOM(2003) 624 endg., Ratsdokument 9967/05 vom 10.6.2005. 33 EuGH, Urt. vom 1.7.2008 – Rs. T 37/04 – EuGH 2008, II-00103*, Rn. 93 – Região autónoma dos Açores vs. Rat. 34 Vgl. auch Sabine Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz: Phänomenologie und Systematik überindividueller Klagebefugnisse im Verwaltungs- und Gemeinschaftsrecht, insbesondere am Beispiel des Umweltrechts, Tübingen 2009, S. 241 f.
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Verbandsklage des Art. 9 Abs. 2 AK an das Entscheidungssystem des Art. 6 AK an und ist daher hinsichtlich des Streitgegenstandes limitierend konzipiert. Art. 9 Abs. 2 AK erfasst daher nicht die Beteiligung an umweltbezogenen Plänen, Programmen und Politiken (Art. 7 AK) und auch nicht die Beteiligung während der Vorbereitung exekutiver Vorschriften oder normativer Instrumente (Art. 8 AK). Das „Ob“ der Zulässigkeit einer Verbandsklage ist mit Art. 9 Abs. 2 AK allerdings entschieden.35 Dagegen betrifft die Rechtsschutzregelung des Art. 9 Abs. 3 AK eine „allgemeine“ Verbandsklage. Klagebefugt sind nach dieser Vorschrift „Mitglieder der Öffentlichkeit“, also nicht nur die betroffene Öffentlichkeit, sondern jedermann, auch Private. Die prozessuale Ausgestaltung nach Art. 9 Abs. 3 AK bleibt allerdings weitgehend dem Vertragsstaat vorbehalten. Mit Art. 9 Abs. 3 AK ist demgemäß die deutsche Konzeption einer prozessual wirksamen Schutznormtheorie grundsätzlich vereinbar.36 Im Schrifttum wird angenommen, Art. 9 Abs. 3 AK überantworte dem Konventionsstaat vollständig die Modalitäten der Überprüfung.37 Diese Auffassung mag in ihrer Absolutheit recht zweifelhaft sein. Der EuGH folgt ihr jedenfalls nicht.38 Bislang hat der deutsche Gesetzgeber keinen Anlass gesehen, im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 AK eine Änderung seines Prozessrechts vorzunehmen, um den Rechtsschutz zugunsten der „Mitglieder der Öffentlichkeit“ zu erweitern. Insoweit hat er es bei dem bisherigen Regelsystem der §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1, 5 VwGO und des § 47 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 VwGO belassen.39
___________ 35 Eberhard Schmidt-Aßmann, Rechtsdurchsetzung im internationalen und nationalen Recht. Beobachtungen zur Annäherung ihrer Instrumente, in: Volker Epping/Horst Fischer/Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Festschrift für Knut Ipsen, 2002, S. 305321 (319). 36 Christian Walter, (Fn. 6), S. 332. 37 So Thomas von Danwitz, Århus-Konvention: Umweltinformation, Öffentlichkeitsbeteiligung, Zugang zu den Gerichten, in: NVwZ 2004, 272-282 (276); Martin Scheyli, (Fn. 6), S. 246; Astrid Epiney/Kasper Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht – Rechtsvergleich, europa- und völkerrechtliche Vorgaben und Implikationen für das deutsche Recht, Berlin 2002, S. 329 f. 38 EuGH, Urt. vom 8.3.2011 (Fn. 27) – Braunbären. 39 Martin Gellermann, (Fn. 6), S. 236; Ralf Alleweldt, (Fn. 8), S. 625.
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II. Befunde und Entwicklungen hinsichtlich des Unionsrechts (Art. 9 Abs. 2 Konvention) 1. Deutsche (nationale) Umsetzung zu Art. 9 Abs. 2 AK – RL 2003/35/EG (1) Deutschland hatte aus zwei Gründen sich um eine Umsetzung der „dritten“ Säule in Art. 9 Abs. 2 AK zu kümmern, nämlich aufgrund eines konventionsbezogenen Grundes und eines unionsrechtlichen Grundes. An die ÅrhusKonvention 1998 dachte man zunächst nicht. Das darin begründete Unterlassen war, nachdem die Konvention gemäß ihres Art. 20 Abs. 1 AK am 30. Oktober 2001 auch gegenüber Deutschland in Kraft getreten war, vertragswidrig. Es ist schon erstaunlich, dass die deutschen Gesetzesmaterialien diese Vertragsverletzung nicht einmal erwähnen. Zu diesem Zeitpunkt war zuständiger Umweltminister des Bundes Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen). Auch hinsichtlich der am 25. Juni 2003 publizierten RL 2003/35/EG legte man keinen Eifer an den Tag. Die RL 2003/35/EG war innerstaatlich bis zum 25. Juni 2005 umzusetzen. Das gelang nicht. Die Durchführung eines beim EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens konnte im Sommer 2006 nur mit der Zusicherung abgewendet werden, man werde die Richtlinie noch im selben Jahr umsetzen. Das geschah dann durch das Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (UmwRG) vom 7. Dezember 2006.40 Immerhin lag seit dem 21. Februar 2005 ein Referentenwurf vor. Den Entwurf hatte das Referat G I 4 des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erarbeitet (Referatsleiter MinR Dr. Sangenstedt). Nach dem Regierungswechsel im Sommer 2005, Neuwahlen und anschließender Neubildung der Bundesregierung (CDU/CSUSPD) wurde der Referentenentwurf im Gesetzesentwurf der Bundesregierung in zwei entscheidenden Punkt geändert. Die Änderung betraf die Klagebefugnis und das Fehlerprogramm. Es ist reizvoll, die beiden Fassungen hinsichtlich der Klagebefugnis der unionsrechtlich als unvermeidbar angesehenen Verbandsklage gegenüberzustellen.
___________ 40 BGBl. I S. 2816, geändert durch BNatSchGNeuregG 2009 vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2542), WasserRNRG vom 31.7.2009 (BGBl. I S. 2585) und DienstlRLUmwÄndG vom 11.8.2010 (BGBl. I S. 1163).
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§ 2 Abs. 1 und 3 UmwRG-RE (21.2.2005)41 (1) Ein Verein nach Absatz 2 kann, ohne eine Verletzung eigener Rechte geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen einlegen. (2) … (3) Rechtsbehelfe nach Absatz 1 sind nur zulässig, wenn der Verein 1. geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, widerspricht, 2. geltend macht, in seinem satzungsmäßigen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes berührt zu sein, und 3. zur Mitwirkung in einem Verfahren nach § 1 Abs. 1 berechtigt war und er sich hierbei in der Sache gemäß den geltenden Rechtsvorschriften geäußert hat oder ihm entgegen den geltenden Rechtsvorschriften keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist. § 2 Abs. 1 UmwRG (7.12.2006)42 (1) Eine nach § 3 anerkannte inländische oder ausländische Vereinigung kann, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen einlegen, wenn die Vereinigung 1. geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht, 2. geltend macht, in ihrem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes durch die Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 oder deren Unterlassen berührt zu sein, und 3. zur Beteiligung in einem Verfahren nach § 1 Abs. 1 berechtigt war und sie sich hierbei in der Sache gemäß den geltenden Rechtsvorschriften geäußert hat oder ihr entgegen den geltenden Rechtsvorschriften keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist.
Der hier kursiv gesetzte Satz stellt die entscheidende Abweichung dar. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann sich der EuGH mit der Frage zu beschäftigen hatte, ob der kursiv gesetzte Satzteil eine zutreffende Umsetzung ___________ 41
Entwurf (G I 4-42120-6/0), (Fn. 20), vgl. dazu auch Lothar Knopp, Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz und Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, in: ZUR 2005, 281-284 (283 f.); Christian Schrader, Neue Entwicklungen in der Verbandsmitwirkung und Verbandsklage, in: UPR 2006, 205-210. 42 Die Gesetzesfassung entspricht dem Gesetzesentwurf der BReg. vom 4.9.2006 (vgl. BTags-Drs. 16/2495, S. 5).
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der RL 2003/35/EG oder ggf. des Art. 9 Abs. 2 AK darstellte. In der Retrospektive lässt sich jedenfalls festhalten, dass das Schrifttum Ende 2006 die Frage mit deutlicher Mehrheit verneinte. Indes, die Wissenschaft fand in Regierung und Parlament kein Gehör. Die näheren Gründe sind bereits anderen Orts beschrieben.43 Seit 2008 war das Aarhus Convention Compliance Committee mit einer gegen Deutschland gerichteten Beschwerde befasst. Ihr Gegenstand war ein Konventionsverstoß im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 und 3 AK. Darauf wird noch gesondert eingegangen. 2. Der „deutsche“ Verstoß [Trianel] – EuGH-Urteil vom 11. Mai 2011 (Rs. C-115/09) (1) Bei den deutschen Obergerichten bildeten sich seit Sommer 2005, nämlich mit Ablauf der Umsetzungsfrist, etwa vier Meinungskreise über die Bedeutung der RL 2003/35/EG für eine gemeinschaftsrechtlich geprägte „deutsche“ Verbandsklage. Eine erste Gruppe sah keine wirklichen Probleme (VGH Kassel, zunächst OVG Lüneburg und OVG Koblenz).44 Eine zweite Gruppe versuchte, die Frage als entscheidungsunerheblich anzusehen. Das bot sich insbesondere im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes an (OVG Lüneburg, BVerwG).45 Einige Gerichte erachteten den Umweltverbandskläger mit seinem Vorbringen gemäß § 2 Abs. 3 UmwRG als präkludiert. Sie konnten so die eigentliche Rechtsfrage unentschieden lassen (VGH München, OVG Berlin-Brandenburg, OVG Münster, BVerwG)46 Das war ein durchaus korrektes Vorgehen, setzte allerdings die ___________ 43
Vgl. näher Jörg Berkemann, Die Umweltverbandsklage nach dem Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 – Die „noch offenen“ Fragen, in: NuR 2011, 780-787; ders., Die unionsrechtliche Umweltverbandsklage des EuGH – Der deutsche Gesetzgeber ist belehrt „so nicht“ und in Bedrängnis, in: DVBl 2011, 1253-1262. 44 VGH Kassel, Urt. vom 16.9.2009 – 6 C 1005/08.T – NuR 2010, 428, Rn. 60; VG Karlsruhe, Beschl. vom 12.8.2009 – 4 K 1648/09 – juris; OVG Lüneburg, Beschl. vom 7.7.2008 – 1 ME 131/08 – NVwZ 2008, 1144, Rn. 13 (unter offenkundig fehlerhafter Anwendung des Art. 10a Abs. 2 UVP-RL 85/337/EWG); wohl auch OVG Koblenz, Urt. vom 29.10.2008 – 1 A 11330/07 – DVBl 2009, 390, Rn. 39 ff. 45 OVG Lüneburg, Beschl. vom 5.1.2011 – 1 MN 178/10 – BauR 2011, 990, Rn. 53; OVG Lüneburg, Beschl. vom 10.3.2010 – 12 ME 176/09 – NordÖR 2010, 255; wohl auch BVerwG, Beschl. vom 22.3.2010 – 7 VR 1.10 – juris. 46 VGH München, Beschl. vom 18.2.2011 – 22 CS 10.2460 – juris, Rn. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 24.11.2010 – OVG 12 A 3.10 – juris, Rn. 74; VG Ansbach, Beschl. vom 13.9.2010 – AN 11 S 10.01506 – juris, Rn. 20; OVG Münster, Beschl. vom 19.8.2010 – 11 D 26/08.AK – juris, Rn. 60; OVG Münster, Urt. vom 9.12.2009 – 8 D 10/08.AK – DVBl 2010, 724, Rn. 64; VGH München, Urt. vom 23.6.2009 – 8 A 08.40001 – UPR 2010, 38; vgl. auch BVerwG, Beschl. vom 14.9.2010
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Antwort auf die vermeintlich leichtere Frage voraus, ob das Präklusionsrecht seinerseits gemeinschaftskonform war.47 Andere Gerichte konnten aus unterschiedlichen Gründen die Frage unbeantwortet lassen (OVG Münster, VGH Mannheim).48 Dieser zweiten Gruppe gehörte die überwiegende Mehrheit an. Versuche, aus der RL 2003/35/EG für das Immissionsschutzrecht einen drittschutzbezogenen Systemwechsel zu entwickeln, wurden jedenfalls zurückgewiesen (OVG Koblenz).49 Nur ein Gericht entschloss sich, den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang zugrunde zu legen und Art. 10a Abs. 1 RL 85/337/EWG unmittelbar anzuwenden. Das OVG Schleswig hielt sowohl die Klagebefugnis im Normenkontrollverfahren für gegeben als auch die entsprechende Einschränkung der Begründetheitsprüfung (vgl. § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 UmwRG) für unionsrechtswidrig.50 Als vierte Gruppe der befassten Obergerichte entschloss sich nur das OVG Münster, das Problem einem Verfahren der Vorlage an den EuGH zu übergeben. Der Sachverhalt ist letztlich recht einfach: Das beigeladene Unternehmen Trianel beabsichtigt in NRW ein Steinkohlekraftwerk zu errichten und zu betreiben. Das Werk unterliegt der UVP. Das ist unumstritten. In einer Entfernung von bis zu 8 km zu dem Vorhabenstandort befinden sich fünf FloraFauna-Habitat-Gebiete. Der klagende Umweltverband BUND griff im Wege der Anfechtungsklage die erteilten Bescheide an. Mit Beschluss vom 5. März 2009 legte das OVG Münster dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung der RL 2003/35/EG vor.51 Nach der Einschätzung des vorlegenden Gerichtes wi___________ – 7 B 15.10 – NVwZ 2011, 364; BVerwG, Beschl. vom 11.11.2009 – 4 B 57.09 – UPR 2010, 103. 47 Bejahend BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 – 7 C 21.09 – NVwZ 2012, 176, Rn. 31; ebenso BVerwG, Beschl. vom 11.11.2009 (Fn. 46), Rn. 6; BVerwG, Beschl. vom 14.9.2010 (Fn. 46), Rn. 10; BVerwG, Beschl. vom 17.6.2011 – 7 B 79.10 – juris, Rn. 10; OVG Münster, Urt. vom 9.12.2009 – 8 D 10/08.AK – DVBl. 2010, 724 Rn. 75 ff.; OVG Münster, Urt. vom 20.1.2012 – 2 D 141/09.NE – juris Rn. 53; VGH Mannheim, Urt. vom 20.7.2011 – 10 S 2102/09 – NuR 2012, 204 Rn. 79. 48 VG Hamburg, Beschl. vom 13.1.2010 – 15 E 3302/09 – juris, Rn. 44; VG Hannover, Urt. vom 18.11.2009 – 11 A 4612/07 – ZfB 2010, 244; VGH Mannheim, Beschl. vom 17.11.2009 – 10 S 1851/09 – juris; VG München, Urt. vom 15.10.2009 – M 24 K 08.4960 – juris; VG Ansbach, Urt. vom 7.10.2009 – AN 11 K 09.01439 – juris; OVG Münster, Beschl. vom 24.9.2009 – 8 B 1342/09.AK – NuR 2010, 198, Rn. 44; OVG Münster, Beschl. vom 24.9.2009 – 8 B 1343/09.AK – juris; OVG Bremen, Urt. vom 4.6.2009 – 1 A 9/09 – NordÖR 2009, 460. 49 Vgl. etwa OVG Koblenz, Urt. vom 29.10.2008 (Fn. 44). 50 OVG Schleswig, Urt. vom 12.3.2009 – 1 KN 12/08 – NordÖR 2009, 418; Zweifel an der Vereinbarkeit auch OVG Hamburg, Beschl. vom 9.2.2009 – 5 E 4/08.P – NordÖR 2009, 210. 51 OVG Münster, Beschl. vom 5.3.2009 – 8 D 58/08.AK – DVBl 2009, 654-658 = NVwZ 2009, 987 = NuR 2009, 369 = ZNER 2009, 57 = EurUP 2009, 153 = NWVBl 2009, 322 = UPR 2009, 276 = ZUR 2009, 380. Vgl. dazu Jörg Berkemann, UmweltRechtsbehelfsgesetz (UmwRG) auf dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfstand – Zum
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dersprachen die Regelungen in dem angefochtenen Bescheid den innerstaatlichen Vorgaben des Naturschutzrechts, mit denen die FFH-RL 92/43/EWG umgesetzt wird. An einer Sachentscheidung sah sich das Gericht gehindert. Dem klagenden Umweltverband fehle gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG die erforderliche Klagebefugnis. Das maßgebende Habitatschutzrecht vermittle keinen Drittschutz. (2) Der EuGH entschied am 12. Mai 2011 im Sinne der Vorlage, auch wenn diese äußerlich ergebnisoffen formuliert worden war.52 Da dem Gerichtshof ei___________ Vorlagebeschluss des OVG Münster vom 5. März 2009 und anderes, in: NordÖR 2009, 336-344; Martin Dippel/Jörg Niggemeyer, Europarechtswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG? – Zugleich Besprechung von OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 5.3.2009 (EurUP 2009, S. 153 ff.), in: EurUP 2009, 199-202; Ulrike Feldmann, Anmerkung, in: EurUP 2009, 310; Erich Gassner, Zur spezifischen Ermächtigung von Umweltverbänden zur Klageerhebung, in: NuR 2012, 37-39; Brita Henning, Erweiterung der Klagerechte anerkannter Umweltverbände – Chance auf mehr Umweltschutz oder Investitionshindernis?, in: NJW 2011, 2765-2768; Andrea Versteyl (Fn. 9); Rainer Wolf, Die Genehmigung von Kohlekraftwerken im Zeichen der Europäisierung des Rechtsrahmens, in: NuR 2010, 244-253. 52 EuGH, Urt. vom 12.5.2011 (Fn. 3). Vgl. dazu Markus Appel, Umweltverbände im Ferrari des deutschen Umweltrechtsschutzes – Anmerkung zur Trianel-Entscheidung des EuGH, Urt. vom 12.5.2011 – C-115/09 NuR 2011, 423, in: NuR 2011, 414-416; Jörg Berkemann, (Fn. 43); ders., (Fn. 43); Thomas Bunge, Die Klagemöglichkeiten anerkannter Umweltverbände aufgrund des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes nach dem Trianel-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, in: NuR 2011, 605-614; Guido Dammholz, Erweitertes Klagerecht für Umweltverbände, in: NL-BzAR 2011, 311-313; Thorsten Deppner, Mehr Klagerechte für Umweltverbände. Der Europäische Gerichtshof erklärt das deutsche Umweltrechtsbehelfsgesetz für europarechtswidrig, in: FoR 2011, 94-95; Wolfgang Durner/Martin Paus, Unionsrechtswidrigkeit des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes, in: DVBl 2011, 759-763; Dorothee Fahrbach, Klagerecht der Umweltverbände nach dem UmwRG. Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 12.5.2011 – C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, in: AbfallR 2011, 180-183; Frank Fellenberg/Gernot Schiller, Rechtsbehelfe von Umweltvereinigungen und Naturschutzvereinigungen nach dem „Trianel-Urteil“ des EuGH (Rs. C-115/09), in: UPR 2011, 321-329; Erich Gassner, (Fn. 51); Jeanine Greim, Anmerkung zu EuGH, Urt. vom 12.5.2011, Az.: C-115/09, in: UPR 2011, 271-273; Mathias Hellriegel, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 12.5.2011, C-115/09, EuZW 2011, 510 – Erweiterung der Klagerechte von Umweltverbänden, in: EuZW 2011, 512-514; Brita Henning, (Fn. 51); Tobias Leidinger, Europäisiertes Verbandsklagerecht und deutscher Individualrechtsschutz. Das Trianel-Urteil des EuGH und seine Folgen für das deutsche Verwaltungsrechtssystem, in: NVwZ 2011, 1345-13; Christoph Meitz, Entscheidung des EuGH zum deutschen Umweltrechtsbehelfsgesetz. Gleichzeitig Besprechung des Urteils vom 15.5.2011 – C-115/09, NuR 2011, 423, in: NuR 2011, 420-422; Bilun Müller, Die deutsche Schutznormtheorie gilt nicht mehr bei umweltrechtlichen Verbandsklagen. Die Trianel-Entscheidung des EuGH vom 12. Mai 2011 – Rs. C-115/09, in: EurUP 2011, 166-171; Dietrich Murswiek, Umweltrecht: Verbandsklage. UVP-RL Art. 10a; FFH-RL Art. 6; UmwRG § 2 Klagebefugnis in Bezug auf nicht drittschützende Normen, in: JuS 2011, 1147-1149; Eckard Rehbinder, (Fn. 31); Alexander Schink, Neue rechtliche Anforderungen an Genehmigung und Betrieb von Anlagen in der Stahlindustrie, in: DVBl 2012, 197-206; Sabine Schlacke, Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 12.5.2011 – C-115/09; DVBl 2011,
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ne unmittelbare Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit Unionsrecht versagt ist, lesen sich seine beiden Leitsätze etwas gestelzt. Aber sie sind inhaltlich ohne Zweifel. Der EuGH befand wie folgt. 1. Art. 10a der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in der durch die Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 geänderten Fassung steht Rechtsvorschriften entgegen, die einer Nichtregierungsorganisation im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in der durch die Richtlinie 2003/35 geänderten Fassung, die sich für den Umweltschutz einsetzt, nicht die Möglichkeit zuerkennen, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der Projekte, die im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 in der durch die Richtlinie 2003/35 geänderten Fassung „möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben“, genehmigt werden, vor Gericht die Verletzung einer Vorschrift geltend zu machen, die aus dem Unionsrecht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt, weil diese Vorschrift nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schützt. 2. Eine solche Nichtregierungsorganisation kann aus Art. 10a Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 85/337 in der durch die Richtlinie 2003/35 geänderten Fassung das Recht herleiten, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der Projekte, die im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 in der geänderten Fassung „möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben“, genehmigt werden, vor Gericht die Verletzung von aus Art. 6 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2006/105/EG des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung hervorgegangenen nationalen Rechtsvorschriften geltend zu machen, obwohl das nationale Verfahrensrecht dies nicht zulässt, weil die angeführten Vorschriften nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schützen.
Die vom EuGH gefundene Interpretation ist hinsichtlich der eigentlichen Frage eindeutig. Der Gerichtshof führt ohne weitere Schnörkel aus, dass der deutsche Gesetzgeber das Anliegen der RL 2003/35/EG mit bemerkenswerter Sicherheit verfehlt habe. Im rezensierenden Schrifttum zu der Entscheidung des EuGH findet sich denn auch niemand, der Bedenken angemeldet hätte. Die Sache ist klar und sie war es von Anfang an. Irritierend ist nur die vom Gerichtshof gewählte Formulierung, die NGO könne die Verletzung einer Vorschrift geltend machen, „die aus dem Unionsrecht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt“. Das gibt – wie noch zu behandeln ist – einige Rätsel auf. Seiner praktischen Neigung folgend erklärt der Gerichtshof in seinem zweiten Leitsatz zugleich, dass eine NGO die Verletzung des Art. 6 FFH-RL 92/43/EWG geltend machen könne, auch wenn das nationale Verfahrensrecht ___________ 757 – Zur Frage der Klagebefugnis von Umweltverbänden, in: NVwZ 2011, 804-805; Angela Schwerdtfeger, Erweiterte Klagerechte für Umweltverbände – Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 12.5.2011 in der Rechtssache Trianel, in: EuR 2012, 80-89; Bernhard W. Wegener, Die europäische Umweltverbandsklage, in: ZUR 2011, 363-367.
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dies nicht zulasse, weil die angeführte Vorschrift in der Tat nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schütze. Das OVG Münster gab im Rücklauf mit Urteil vom 1. Dezember 2011 der Klage statt.53 Es hob den angegriffenen Vorbescheid und die 1. Teilgenehmigung für das Steinkohlekraftwerk wegen mangelnder FFH-Verträglichkeit und über die Belastungsgrenze hinausgehender Zusatzbelastungen auf. Eine Nichtzulassungsbeschwerde wurde nicht eingelegt. 3. Fünf Reflexionen zur derzeitigen Rechtslage (Frühjahr 2012) Die Entscheidung des EuGH hat im deutschen Schrifttum eine breite Erörterung auch dazu ausgelöst, welche rechtlichen oder auch rechtspolitischen Folgerungen sich aus ihr ergeben. Die Themenkreise zentrieren sich im Wesentlichen auf fünf Problembereiche. Sie sollen hier in kursorischer Kürze dargestellt werden. Die eigentliche Frage geht letztlich dahin, welche Folgerungen der Gesetzgeber aus der Entscheidung des EuGH ziehen wird. Man kann nur hoffen, dass er nicht erneut beratungsresistent ist. a) Derzeit unvollständige Umsetzung des Art. 11 UVP-RL 2011/92/EU Der deutsche Gesetzgeber hat seine Umsetzungspflicht materiell verletzt. Der unionsrechtliche Vorrang, der seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die maßgebende Richtlinie 2003/35/EG seit dem 25. Juni 2005 gegenüber jeder deutschen Rechtsvorschrift gegeben war, gilt unverändert. Die materielle Rechtslage ist nunmehr so zu betrachten, als hätte der deutsche Gesetzgeber bislang eine auf den Drittschutz bezogene Begrenzung in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG für NGO nicht vorgenommen.54 Die in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG geregelte Beschränkung auf die Geltendmachung solcher Vorschriften, die Rechte Einzelner begründen, stellt jedenfalls in Bezug auf unionsrechtliche Umweltvorschriften keine ausreichende Umsetzung der Vorgaben des seinerzeitigen Art. 10a UVP-Richtlinie 85/337/EWG dar. Der Gerichtshof beurteilt die Rechtslage grundsätzlich ex tunc.55 Das Judikat des EuGH besitzt zwar rechtstechnisch „nur“ deklaratorische Bedeutung. Kein deutsches Gericht wäre jedoch ohne Vorlage befugt, von der Entscheidung des EuGH abzuweichen. Der ___________ 53
OVG Münster, Urt. vom 1.12.2011 (Fn. 51), mit Anm. Bernhard Stüer/Eva-Maria Stüer, in: DVBl 2012, 245-250. 54 Vgl. auch Christoph Meitz, (Fn. 52). 55 EuGH, Urt. vom 27.3.1980 – verb. Rs. 66, 127 und 128/79 – EuGHE 1980, 1237 – Amministrazione delle finanze dello Stato vs. Salumi; ebenso EuGH, Urt. vom 13.12.1983 – Rs. 222/82 – EuGHE 1983, 4083, Rn. 38 – Apple und Pear Development Council vs. K.J. Lewis Ltd u.a.
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deutsche Gesetzgeber ist an das Judikat faktisch gebunden. Will er abweichen, riskiert er nicht nur, dass die deutschen Gerichte ein Vorlageverfahren betreiben. Er riskiert auch ein Vertragsverletzungsverfahren nach Maßgabe des Art. 258 AEUV. Man kann sicher sein, dass die Kommission nicht zögern würde, dieses Verfahren einzuleiten. Dafür ist hinreichender Beleg, dass die Kommission bereits einmal die Arbeitsweise des deutschen Gesetzgebers hinsichtlich der Umsetzung der RL 2003/35/EG beanstandet hatte. b) Direktwirkung des Art. 11 UVP-RL 2011/92/EU Im Fall fehlender oder fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie entsteht eine Regelungslücke. Diese ist im Sinne des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs dahin zu schließen, dass die Richtlinie unmittelbar als Rechtsgrundlage anzuwenden ist.56 Das ist allerdings nur zulässig, wenn [1] die Richtlinie nicht fristgemäß oder inhaltlich nicht ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde, [2] die jeweilige Bestimmung der Richtlinie inhaltlich unbedingt ist; d.h. die Richtlinie abschließend, vollständig, uneingeschränkt, bedingungsunabhängig und in ihrer Zielsetzung geeignet ist, ohne Erlass einer (unionsrechtlichen oder innerstaatlichen) Ausführungsregelung unmittelbar angewandt zu werden, und [3] die jeweiligen Bestimmungen der Richtlinie hinreichend genau sind. Aus der Richtlinie heraus muss sich selbst ergeben, dass ein bestimmtes Verhalten – ohne Wenn und Aber – geboten ist. Die unionsrechtliche Regelung ist „Gesetz“ im Sinne des Vorbehaltes des § 42 Abs. 2 VwGO. Die Frage der unmittelbaren Wirkung wurde unter anderem mit der Erwägung verneint, der Richtlinie fehle es insoweit an der erforderlichen Bestimmtheit.57 Sie eröffne dem nationalen Gesetzgeber verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. So könnte der deutsche Gesetzgeber, um den Richtlinienauftrag einer Stärkung des Verfahrensrechts zu erfüllen, beispielsweise mit einer Änderung oder völligen Abschaffung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften reagieren oder die bislang das deutsche Prozessrecht prägende Schutznormlehre modifizieren oder ganz aufgeben.58 Die unmittelbare Wirkung wird auch mit ___________ 56
Zusammenfassend Jörg Berkemann, in: ders./Günter Halama, Handbuch (Fn. 3), S. 218 ff. 57 So Wolfgang Durner, Direktwirkung europäischer Verbandsklagerechte? – Überlegungen zum Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2003/35/EG am 25 Juni 2005 und zur unmittelbaren Anwendbarkeit ihrer Vorgaben über den Zugang zu Gerichten, in: ZUR 2005, 285-290 (288 ff.); ebenso VG Saarland, Urt. vom 7.10.2009 – 5 K 10/08 – BauR 2010, 254 (L) = juris. 58 So etwa OVG Münster, Urt. vom 27.10.2005 – 11 A 1751/04 – NuR 2006, 320; VG Karlsruhe, Beschl. vom 15.1.2007 – 8 K 1935/06 – NuR 2007, 428; zustimmend Andrea Versteyl, Erweiterung der Öffentlichkeitsbeteiligung und des Rechtsschutzes im Anlagenzulassungsrecht, in: AbfallR 2008, 8-13 (11); ebenso Thomas von Danwitz,
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der Erwägung verneint, dass es noch einer innerstaatlichen Regelung bedürfe, wer als klagebefugter Verband im Sinne des Art. 1 Abs. 2 UVP-RL anzuerkennen sei.59 Die Möglichkeit einer Direktwirkung der Öffentlichkeitsbeteiligung und damit auch insoweit des Art. 10a UVP-RL war nie wirklich zweifelhaft.60 Die Unbedingtheit kann auch dann noch gegeben sein, wenn dem Mitgliedstaat ausdrücklich eine Wahlbefugnis zusteht, aber gleichzeitig zwingende Mindestanforderungen vorgeschrieben sind.61 Der literarische Streit ist jedenfalls müßig geworden. Der EuGH wischt ihn vom Tisch. Der Gerichtshof dekretiert in seinem Urteil vom 12. Mai 2011 ohne theoretisches Räsonieren die unmittelbare Anwendung der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist.62 Art. 10a Abs. 3 Sätze 2 und 3 der anzuwendenden RL 2003/35/EG träfen „genaue Regelungen, die keinen weiteren Bedingungen unterliegen“ (Rn. 57). Zu den ___________ (Fn. 37), S. 278, 281; Christian Walter, (Fn. 4), S. 334, 336; Matthias Schmidt-Preuß (Fn. 8). 59 Ralf Alleweldt, (Fn. 8), S. 630; Wolfgang Durner, (Fn. 57), S. 289. 60 Vgl. Hans Walter Louis, Die Übergangsregelungen für das Verbandsklagerecht nach den §§ 61, 69 Abs. 7 BNatSchG vor dem Hintergrund der europarechtlichen Klagerechte für Umweltverbände aufgrund der Änderungen der IVU- und der UVPRichtlinie zur Umsetzung des Aarhus-Übereinkommens, in: NuR 2004, 287-292 (291); Hans Walter Louis/Alexandra Stück, Die Rechtsbehelfsbefugnis der anerkannten Naturschutzvereine im Niedersächsischen Naturschutzgesetz im Lichte der Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Richtlinie 2003/35/EG der Europäischen Union, in: NdsVBl 2005, 225-228 (S. 225); Maxi Keller, Rechtsschutzdefizite Dritter gegen Genehmigungserteilungen für Windenergieanlagen in der AWZ?, in: ZUR 2005, 184-191 (191); Mario Genth, Ist das neue Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz europarechtskonform?, in: NuR 2008, 28-32 (30); Sabine Schlacke, (Fn. 34), S. 279; Frank Niederstadt/Ruth Weber, Verbandsklagen zur Geltendmachung von Naturschutzbelangen bei immissionsschutzrechtlichen Genehmigungen, in: NuR 2009, 297-304 (303 f.); Martin Gellermann, (Fn. 6), S. 12 f.; Jörg Berkemann, (Fn. 43); Martin Kment, Das neue UmweltRechtsbehelfsgesetz und seine Bedeutung für das UVPG. Rechtsschutz des Vorhabenträgers, anerkannter Vereinigungen und Dritter, in: NVwZ 2007, 274-280 (277); Dietrich Murswiek, Ausgewählte Probleme des allgemeinen Umweltrechts. Vorsorgeprinzip, Subjektivierungstendenzen am Beispiel der UVP, Verbandsklage, in: Verw 38, 243-279 (2005); Rüdiger Nebelsieck/Jan-Oliver Schrotz, Europäisch gestärkte Anwälte der Natur, in: ZUR 2006, 122-129 (129). 61 EuGH, Urt. vom 14.7.1994 – Rs. C-91/92 – EuGHE 1994, I-3325, Rn. 17 = DVBl 1994, 1124 – Paola Faccini Dori vs. Recreb; EuGH, Urt. vom 24.10.1996 – Rs. C-72/95 – EuGHE 1996, I-5403, Rn. 48 = DVBl. 1997, 40 – (Kraaijeveld BV u. a. vs. Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland; EuGH, Urt. vom 3.10.2000 – Rs. C-303/98 EuGHE 2000, I-7963, Rn. 68 = EuZW 2001, 53 – (Sindicato de Médicos de Asistencia Pública (Simap) vs. Conselleria de Sanidad y Consumo de la Generalidad Valenciana; EuGH, Urt. vom 17.7.2008 – Rs. C-226/07 – EuGHE 2008, I- 5999 = HFR 2008, 1092 – Flughafen Köln/Bonn GmbH vs. Hauptzollamt Köln; EuGH, Urt. vom 12.2.2009 – Rs. C-138/07– EuGHE 2009, I-731, Rn. 61 = EuZW 2009, 329 – Belgische Staat vs. Cobelfret NV. 62 Wie hier Thomas Bunge, (Fn. 52), S. 609; so auch GAin Sharpston, in: Rs. C-115 (Statement Rn. 87 ff.); verneinend noch VGH München, Beschl. vom 15.7.2009 – 14 N 08.2736 – juris; VGH Kassel, (Fn. 44); OVG Münster, Urt. vom 27.10.2005 (Fn. 57).
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Rechten, deren gerichtliche Geltendmachung den NGO nach Art. 10a UVP-RL 85/337/EWG möglich sein müssten, gehörten die aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangenen Vorschriften und insbesondere die aus Art. 6 FFHRL 92/43/EWG hervorgegangenen nationalen Rechtsvorschriften. Das sind einfache, klare Worte. Die sich aus dem unionsrechtlichen Anwendungsvorrang ergebende Regelungslücke wird durch die unmittelbare Anwendung des Art. 10a Abs. 2 RL 2003/35/EG ausgefüllt, nunmehr Art. 11 RL 2011/92/EU. Dieser Auffassung folgt inzwischen das BVerwG.63 c) Vergleichbare Rechtslage nach Art. 25 IED-RL 2010/85/EU Die Sichtweise des Urteils des EuGH vom 12. Mai 2011 ist ohne weiteres auf die sog. Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU) zu übertragen.64 Die Verbandsklagemöglichkeit des früheren Art. 15a Abs. 2 RL 96/61/EG in der Fassung der RL 2003/35/EG entspricht textgleich Art. 10a Abs. 2 85/337/EWG. Sie befindet sich nunmehr in Art. 25 RL 2010/85/EU. Die neue Richtlinie ist das derzeit umfangreichste immissionsschutzrechtliche Regelwerk in der EU. Die Richtlinie vereint sieben Vorläufer-Richtlinien mit Bezug zu Industrieemissionen und entwickelt diese teilweise verfahrensmäßig und inhaltlich weiter. Die Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie in nationales Recht der EU-Mitgliedstaaten muss zum größten Teil zum 6. Januar 2013 abgeschlossen sein. Dies wird in Deutschland insbesondere mit Novellen des BImSchG, des WHG und des Krw-/AbfG vollzogen. Das § 1 Abs. 1 UmwRG wird textlich angepasst werden. d) Gerichtliche Kontrollintensität – auf dem Wege zur Vollprüfung? Der EuGH hat in seinem Urteil vom 12. Mai 2011 nur über die Klagebefugnis des Umweltverbandsklägers befunden. Indes gelten seine Erwägungen in derselben Weise für den Umfang der gerichtlichen Sachprüfung, nachfolgend im Gesetzestext kursiv hervorgehoben. Die maßgebende Vorschrift (§ 2 Abs. 5 Satz 1 UmwRG) lautet: Rechtsbehelfe nach Absatz 1 sind begründet, 1. soweit die Entscheidung nach § 1 Abs. 1 oder deren Unterlassen gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die
___________ 63 BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 (Fn. 47) zu § 2 Abs. 5 S. 1 UmwRG; vgl. auch VGH Mannheim, Urt. vom 20.7.2011 – 10 S 2102/09 – ZUR 2011, 600, Rn. 67. 64 Richtlinie 2010/75/EU vom 24.11.2010 des Europäischen Parlaments und des Rates über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. L 334 vom 17.12.2010, S. 17.
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Entscheidung von Bedeutung sind, verstößt und der Verstoß Belange des Umweltschutzes berührt, die zu den von der Vereinigung nach ihrer Satzung zu fördernden Zielen gehören, 2. in Bezug auf Bebauungspläne, soweit die Festsetzungen des Bebauungsplanes, die die Zulässigkeit eines UVP-pflichtigen Vorhabens begründen, gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen und Rechte Einzelner begründen, verstoßen und der Verstoß Belange des Umweltschutzes berührt, die zu den von der Vereinigung nach ihrer Satzung zu fördernden Zielen gehören. Bei Entscheidungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 muss zudem eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen.
Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 29. September 2011 inzwischen kurzer Hand und ohne ein Verfahren der Vorabentscheidung die entsprechende Unwirksamkeit des § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 UmwRG ausgesprochen.65 Bis zur erforderlichen Anpassung des UmwRG könnten anerkannte Umweltschutzvereinigungen Verstöße gegen Umweltvorschriften, die aus Unionsrecht hervorgegangen sind, unmittelbar auf der Grundlage des Art. 10a RL 85/337/EWG rügen, heißt es im Leitsatz des Gerichtes. Ohne dies zu erwähnen, hat das Gericht zutreffend nach den Grundsätzen der sog. „acte claire“-Doktrin entschieden.66 Dem ist fallbezogen zu folgen.
___________ 65
BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 (Fn. 47) zu VGH Kassel, Urt. vom 16.9.2009 (Fn. 44), mit Anm. Martin Gellermann, in: NuR 2012, 112-114. Das BVerwG hatte im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hierauf gerichtete Anträge abgelehnt, vgl. BVerwG, Beschl. vom 22.3.2010 (Fn. 45). Diese Entscheidung war „technisch“ erschreckend fehlerhaft. Zu diesem Zeitpunkt konnte man ohne Weiteres erkennen, dass § 2 Abs. 5 Nr. 1 UmwRG unionswidrig war. OVG Münster, Beschl. vom 5.3.2009 (Fn. 51) hatte im Vorabentscheidungsverfahren den EuGH angerufen. Das entstandene Schrifttum hatte einen klaren Standpunkt eingenommen. Deutlich besser OVG Lüneburg, Beschl. vom 10.3.2010 – (Fn. 45), mit Anm. Jörg Berkemann, Klagebefugnis von Umweltverbänden und vorläufiger Rechtsschutz, in: NordÖR 2010, 233-235. Im Hinblick auf einen bestehenden Zweifel, ob § 2 Abs. 5 Nr. 1 UmwRG mit seiner Einschränkung der Rügebefugnis auf die die Rechte Einzelner begründenden Rechtsvorschriften europarechtskonform ist, oblag es dem BVerwG, die potentielle Unionswidrigkeit der Norm in die nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung einzustellen. Das unterblieb. An der Durchsetzung des Unionsrechts besteht grundsätzlich ein höheres Interesse als an der Anwendung des potentiell unionsrechtswidrigen nationalen Rechts, vgl. zutreffend OVG Koblenz, Beschl. vom 4.11.2003 – 8 B 11220/03 – NVwZ 2004, 363 = UPR 2004, 388. 66 EuGH, Urt. vom 6.12.2005 – Rs. C-461/03 – EuGHE 2005, I-10143 – Gaston Schul Douane vs. Expediteur; EuGH, Urt. vom 6.10.1982 – Rs. 283/81 – EuGHE 1982, 3415 = DVBl. 1983, 267 – Srl C.I.L.F.I.T. und u.a. vs. Ministero della Sanita; vgl. Ulrich Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, 2006, S. 145 Rn. 360; Juliane Kokott/Thomas Henze/Christoph Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, in: JZ 2006, 633-641. Zu § 2 Abs. 5 UmwRG ähnlich Thomas Bunge, (Fn. 52), S. 610.
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Sieht man indes genauer hin, so erweist sich eine Parallelität von Klagebefugnis und Klagebegründung, von der das BVerwG ausgeht, keineswegs als sicher, eher als brüchig. Dass dieses auseinanderfallen kann, zeigt im deutschen Recht etwa das Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO. De lege lata sind nach § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 UmwRG Rechtsbehelfe eines NGO begründet, soweit die angegriffene Entscheidung im Sinne des § 1 Abs. 1 UmwRG gegen Rechtsvorschriften, „die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die Entscheidung von Bedeutung sind, verstößt“. Es ist indes durchaus zweifelhaft, ob mit diesem Entscheidungsprogramm Art. 11 RL 2011/92/EU bzw. dessen Vorgänger, Art. 10a UVP-RL 85/337/EWG zutreffend umgesetzt worden ist, selbst wenn man das normierte Drittschutzinteresse in Bezug auf eine NGO ohne weiteres als unionsrechtswidrig ansieht. In den angezogenen Bestimmungen des Unionsrechtes wird zur Anfechtungslage als Prüfungs- und Entscheidungsprogramm eine Begrenzung auf unionsrechtlich geprägtes oder auf nationales Umweltrecht nämlich nicht normiert. Hier deutet sich ein entscheidender Unterschied zwischen Art. 9 Abs. 2 AK in Verb. mit Art. 11 RL 2011/92/EU einerseits und Art. 9 Abs.3 AK, auf den noch gesondert einzugehen sein wird, andererseits an. Im Einzelnen zeigt sich: Der gerichtliche Zugang wird nach Art. 10a Abs. 2 UVP-RL 85/337/EWG (nunmehr Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU) eröffnet, um die „materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit“ von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten. Das ist wortidentisch mit Art. 9 Abs. 2 AK. Der 21. Erwägungsgrund der RL 2011/92/EU nimmt darauf ausdrücklich Bezug. Der Richtlinientext lautet dort: „Artikel 9 Absätze 2 und 4 des Århus-Übereinkommens sieht Bestimmungen über den Zugang zu gerichtlichen oder anderen Verfahren zwecks Anfechtung der materiell- und verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen in Fällen vor, in denen gemäß Artikel 6 des Übereinkommens eine Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen ist.“ Auf Art. 9 Abs. 3 AK wird also nicht Bezug genommen. Die Wortwahl des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU deutet an, dass die Klage zu einer umfassenden Prüfung aller verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Verwaltungsentscheidung führen soll, wenn ein „taugliches“ (klagefähiges) Anfechtungsobjekt gegeben ist. Das würde bedeuten, dass dem Gericht bei zulässiger Klage eine Totalprüfung (Vollkontrolle) obliegt.67 Eine Begrenzung des gerichtlichen Kontrollprogramms auf umweltrechtliche Kriterien ist im Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU jedenfalls nicht gegeben. Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU legt zudem die Deutung nahe, dass eine behördliche Entscheidung auch dann rechtsfehlerhaft sein kann und der gerichtlichen Korrektur bedarf, wenn „nur“ ein Verfahrensmangel besteht, also kein materiell-rechtlicher Man___________ 67
So nunmehr auch Thomas Bunge, (Fn. 52), S. 610.
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gel gegeben ist. Die Frage der Reichweite des gerichtlichen Kontrollprogramms hat erstmals Dietrich Murswiek 2005 aufgeworfen. Er hat sie im Sinne einer „Totalprüfung“ bejaht.68 Das Schrifttum hat sie zunächst nicht aufgegriffen, offenbar, weil man mehr oder minder auf das Problem der Klagebefugnis der Verbandskläger fixiert war. Der Frage ist indes nicht mehr auszuweichen, nachdem der „deutsche“ Filter der limitierten Klagebefugnis aufgrund des Urteils des EuGH vom 11. Mai 2011 als beseitigt anzusehen ist. Erste gerichtliche Überlegungen liegen inzwischen vor. Als erstes deutsches Gericht hat der VGH Mannheim die Frage nach einer „vollumfängliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung“ gestellt und dies verneint.69 Für eine Totalprüfung, also auch hinsichtlich nicht umweltrechtlich bezogener Rechtsvorschriften, bestehe keine Rechtsgrundlage. Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 AK gehe über die Zielsetzung der Ǻrhus-Konvention und der RL 2003/35/EG deutlich hinaus. Er bedürfe daher einer einschränkenden Auslegung anhand seines systematischen Zusammenhangs innerhalb der Ǻrhus-Konvention und der diese Konvention umsetzenden Richtlinien. In ihrem Gesamtzusammenhang bezögen sich diese Regelungssysteme stets nur auf die Frage der zu schützenden Umwelt. Die Sichtweise des VGH Mannheim ist verständlich. Ob eine Reduktion des Richtlinienrechts im Hinblick auf die bestimmende konventionsrechtliche Vorgabe des Art 9 Abs. 2 AK möglich ist, ist indes eine delikate Frage. Diese kann man nicht so einfach mit einem teleologischen Argument beantworten. Das interpretatorische Modell der teleologischen Reduktion arbeitet gleichsam mit der Annahme einer redaktionellen „Schlamperei“. Angesichts der seinerzeit sehr umstrittenen Auseinandersetzungen um die Fassung des Art. 9 AK enthält die Annahme des VGH Mannheim zumindest eine kühne These. Der VGH Mannheim hat es dezidiert abgelehnt, im Verfahren der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV den Umfang der gerichtlichen Kontrollintensität durch den EuGH prüfen zu lassen. Seine Arbeitsweise ist handwerklich einfach misslungen. Das Gericht hat nicht erkannt, dass es die RL 2003/35/EG im Lichte des Art. 9 Abs. 2 AK auszulegen und anzuwenden hat, nicht etwa umgekehrt. Das noch zu behandelnde Urteil des EuGH vom 8. März 2011 ist ihm gänzlich unbekannt. Unbekannt sind ihm ersichtlich auch die Auslegungsregeln der Art. 31, 32 des Wiener Übereinkommens (WÜV) über das Recht der Ver___________ 68
Vgl. Dietrich Murswiek, (Fn. 60); jetzt auch Thomas Bunge, (Fn. 52), S. 608. VGH Mannheim, Urt. vom 20.7.2011 (Fn. 62), Rn. 68 unter Bezugnahme auf Jeanine Greim, (Fn. 52), S. 272, ebenso wohl Martin Gellermann, (Fn. 9), S. 9; Wolfgang Durner, (Fn. 57), S. 290; nunmehr ablehnend OVG Münster, Urt. vom 20.1.2012 – 2 D 141/09.NE – juris Rn. 46 ff.; Frank Fellenberg/Gernot Schiller (Fn. 52), S. 324 f.; Annette Kleinschnittger, Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 12.5.2011 zum Verbandsklagerecht für Umweltverbände, in: I+E – Zeitschrift für Immissionsschutzrecht und Emissionshandel 2011, 280-287 (286). 69
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träge vom 23. Mai 1969. Für Deutschland gilt das Übereinkommen seit dem 20. August 1987. Es gilt für Deutschland unbeschadet dessen, dass nicht jeder Konventionsstaat der Århus-Konvention zugleich Signatarstaat des Wiener Übereinkommens ist. Nach Art. 31 Abs. 1 WÜV ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Art. 31 Abs. 2 WÜV hebt die Bedeutung des Vertragswortlautes hervor. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben. Der übereinstimmende Wortlaut deutet an, dass die Klage zu einer umfassenden Prüfung aller verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Entscheidung führen soll. Unbekannt ist dem Obergericht auch, dass nach Art. 32 WÜV ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden können, um die sich unter Anwendung des Art. 31 WÜV ergebende Bedeutung zu bestätigen. Die Entscheidungsgründe lassen nicht erkennen, dass sich das Gericht insoweit um eine historische Aufklärung bemüht hat. Da dem Autor die Verhandlungsmaterialien nicht in vollem Umfang zugänglich sind, kann die Beweisfrage derzeit nicht abschließend entschieden werden. Veröffentlichte textliche Materialien sind kaum vorhanden. Sie gelten wohl noch als ein Arkanum der Vertragspartner. Die rekonstruierbaren Strukturen des Verhandlungskontextes zu Art. 9 AK sind allerdings in ihren Grundzügen hinreichend bekannt, um als interpretatorisch relevant angesehen zu werden. Prima facie spricht jedenfalls nichts dafür, dass den Vertragsparteien der Århus-Konvention in der Texterarbeitung eine derartige Unschärfe, die eine teleologische Reduktion begründen könnte, unabsichtlich unterlaufen sein sollte.70 Es gibt auch, wie sogleich zu erörtern ist, durchaus innere Gründe, welche gegen ein Versehen der Konventionspartner sprechen. Nicht zu leugnen ist allerdings, dass das Urteil des EuGH vom 11. Mai 2011 nicht einmal im Ansatz das Interpretationsproblem der gerichtlichen Prüfungsintensität erkennen lässt. Entscheidungserheblich war es ohnedies nicht, um die Klagebefugnis in concreto zu bejahen. Jede teleologische Reduktion entscheidet sich interpretatorisch gegen den Wortlaut. Auch wenn es keine ausgebaute Auslegungslehre des EuGH71 gibt, verlangt die Begründung einer Reduktion, dass zwei Kriterien positiv beantwortet werden können: Es muss ein unbeabsichtigter „Verbalisierungsfehler“ in dem Sinne bestehen, dass Textfassung und gewollte Ziel___________ 70
Vgl. näher auch Jörg Berkemann, (Fn. 43), S. 985 f. Vgl. präzise Ino Augsberg, Methoden des europäischen Verwaltungsrechts, in: Jörg Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, Baden-Baden, 2011, S. 147-169. 71
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setzung nachweisbar auseinanderfallen. Des Weiteren muss hinreichend sicher sein, dass bei fehlender Korrektur die Rechtsordnung irritiert ist und dadurch gemeinwohlbezogenen Schaden nimmt. Hinsichtlich dieses letztgenannten Kriteriums steht eine teleologische Reduktion im Unionsrecht zusätzlich vor der Frage, wie es sich mit dem vom EuGH praktizierten Gedanken des „effet utile“ verhält. Dieser Gedanke ist längst zu einem integrationsfreundlichen „effet maximal“ mutiert.72 Der Konventionsgeber hat vielleicht zwei andere Regelungen für ausreichend angesehen, um zu erreichen, dass der Umweltschutz im gerichtlichen Verfahren im Mittelpunkt steht. Zum einen können nur bestimmte umweltschutzbezogene Verhaltensweisen (Objekte) überhaupt gerichtlich angegriffen werden. Dazu verweist Art. 9 Abs. 2 UAbs. 1 AK auf den Katalog des Art. 6 AK. Art. 10a Abs. 1 RL 85/337/EWG nimmt dies mit der allgemeinen Bezugnahme auf die nach der Richtlinie vorgesehene Beteiligung der Öffentlichkeit auf. Das heißt: Das Objekt und der Genehmigungstatbestand steuern den Bezug zum Umweltschutzrecht. Zum anderen findet sich eine mittelbare Begrenzung in der vorausgesetzten Qualität des Verbandsklägers. Er muss (satzungsrechtlich) eine Organisation sein, die sich für den Umweltschutz einsetzt. Auch dies ist eine Rückbindung an das Erfordernis, den Umweltschutz zu verfolgen (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2 UmwRG). Beides sind limitierende Effekte. Sie lassen es umgekehrt zu, die Kontrolldichte nicht auf Vorschriften zu begrenzen, die dem Umweltschutz dienen. Jedenfalls ist eine Ansicht plausibel, dass die Verbandsklage die Beeinträchtigung einer umweltschutzbezogenen Situation soll verhindern können, aus welchen Rechtsgründen letztlich auch immer. Dass eine teleologische Reduktion des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU geboten ist, um unionswidrige Störungen zu vermeiden, lässt sich nach allem schwerlich belegen. Es handelt sich auch bei einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle immer noch um eine „Umweltangelegenheit“ im Sinne der Zielvorgabe des Art. 1 AK. Das hätte der VGH Mannheim erwägen können. Jedenfalls war ein anderes Gericht problembewusster und handwerklich genauer als dieses Obergericht. Der belgische Conseil d’État richtete im Frühjahr 2009 an den EuGH ein auf die Auslegung des Art. 10a Abs. 2 RL 85/337/EWG gerichtetes Interpretationsersuchen.73 Eine der Vorlagefragen des Conseil d’État lautete: „Ist Art. 10a der Richtlinie 85/337 im Hinblick auf das Aarhus-Übereinkommen dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten auferlegt, Zugang zu einem Überprü-
___________ 72 Vgl. EuGH, Urt. vom 27.6.1991 – Rs. C-348/89 – EuGHE 1991, I-3277, Rn. 44 – Mecanarte – Metalúrgica da Lagoa Ldª vs. Chefe do Serviço da Conferência Final da Alfândega do Porto. 73 Conseil d’État (Belgien), Beschl. vom 27.3.2009, eingereicht beim EuGH am 6.4.2009, betr. Flughäfen Lüttich-Bierset und Charleroi-Brüssel-Süd; publiziert in ABl. C 153 vom 4.7.2009. Das Verfahren betrifft verschiedene wallonische Projekte, die durch Gesetzesdekrete der Region genehmigt wurden.
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fungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle zu gewähren, damit die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen hinsichtlich jeder materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Frage sowohl der materiellrechtlichen als auch der verfahrensrechtlichen Regelung der Genehmigung von Projekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterworfen sind, angefochten werden kann?“74
Das so angestoßene Vorlageverfahren nahm seinen üblichen Verlauf. Unter dem 19. Mai 2011 legte die Generalanwältin Sharpston ihre Schlussanträge vor. Am selben Tag wurde die Sache vor der Großen Kammer verhandelt. Die Generalanwältin führte aus: „Die Antwort lässt sich aus dem Wortlaut der Art. 9 des Aarhus-Übereinkommens und 10a der UVP-Richtlinie ableiten und lautet, dass diese Vorschriften den Mitgliedstaaten auferlegen, Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen, die in den Geltungsbereich dieser Instrumente fallen, zu gewähren hinsichtlich aller materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Regelungen der Genehmigung von Projekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterworfen sind.“75 Die Generalanwältin verstand mithin das Interpretationsersuchen genau im Sinne der Frage einer erforderlichen gerichtlichen Totalprüfung. Zu einer Äußerung des EuGH ist es allerdings nicht gekommen. Der Gerichtshof hat die ihm gestellte Interpretationsfrage nach der gerichtlichen Prüfungsintensität in seinem Urteil vom 18. Oktober 2011 mangels Entscheidungserheblichkeit nicht näher beantwortet.76 Demgemäß bleibt es eine unionsrechtlich unverändert offene Frage. Die Sache ist also keineswegs ausgestanden. Das BVerwG hat die Frage der Kontrollintensität in einem Urteil vom 29. September 2011 zwar gesehen, aber wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit unentschieden gelassen.77 Die Vorlage des belgischen Conseil d’État bleibt auch hier unerwähnt. Man muss dem VGH Mannheim und dem BVerwG vorhalten, dass beide Gerichte in der Rechtsdatenbank des EuGH nicht oder nicht hinreichend recherchiert hatten. Sie kannten die Vorlage des belgischen Conseil d’État ersichtlich nicht. Auf diese Vorlage war zudem zweimal im Fachschrifttum hingewiesen worden.78 ___________ 74
Text (vom Verf. insoweit kursiv gesetzt), wiedergegeben in EuGH, Urt. vom 18.10.2011 – Rs. C-128/09 (Boxus u. Roua/Région wallonne), juris, Rn. 19. Der Vorlagebeschluss selbst steht dem Autor nicht zur Verfügung. 75 GAin Sharpston, Schlussanträge vom 19.5.2011 – Rs. C 128/09 – juris, Rn. 95, 97, der kursiv gesetzte Text vom Autor. 76 EuGH, Urt. vom 18.10.2011 (Fn. 74), Rn. 49 ff. Vgl. auch zum selben Sachverhalt EuGH, Urt. vom 16.2.2012 – Rs. C-182/10 – juris – Marie-Noëlle Solvay u. a./Région wallonne. 77 BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 (Fb. 47). 78 Vgl. erstmals Christoph Sobotta, EuGH – neue Verfahren im Umweltrecht, in: ZUR 2009, 450-452 (450 mit Fußn. 7) zu den verbundenen Rechtssachen C-128/09 bis
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Das wirft kein gutes Licht auf die Professionalität beider Gerichte in Fragen des unionsrechtlichen Umweltschutzrechtes. Immerhin war die Frage für den VGH Mannheim entscheidungserheblich. Angesichts der Vorlage des belgischen Conseil d’État hätte er interpretatorische Zweifel im Sinne einer sog. „acte claire“-Doktrin wahrlich nicht unterdrücken dürfen. Er hätte in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH auch aussetzen können. § 94 VwGO ist entsprechend anwendbar, wenn unionsrechtliche Fragen, die in einem Verfahren entscheidungserheblich sind, bereits Gegenstand eines beim EuGH anhängigen Verfahrens sind.79 Das hätte natürlich die Kenntnis der Vorlage vorausgesetzt. Es entbehrt schließlich nicht der juristischen Pikanterie, dass der VGH Mannheim den klägerischen Bezug auf das Urteil des EuGH vom 15. Oktober 2009 (Djurgården-Lilla Värtans Miljöskyddsförening)80 als nicht einschlägig ansah,81 hierauf indes unter anderem der belgische Verfassungsgerichtshofes eine Vorlage zur Auslegung des
___________ C-131/09, C-134/09 und C-135/09 (Boxus u.a.); nochmals, wenngleich verkürzend Christoph Sobotta, EuGH – neue Verfahren im Umweltrecht, in: ZUR 2010, 496-499 (496 mit Fußn. 3). Danach fragte das belgische Verfassungsgericht im Vorlageverfahren, ob bestimmte gesetzliche Maßnahmen vom Anwendungsbereich des Übereinkommens und der Richtlinie ausgenommen seien (Rechtssache C-182/10 – Solvay u.a.), eingereicht am 9.4.2010, ABl. C 179, S. 18). Die Vorlageentscheidung ist in deutscher Sprache im Belgischem Staatsblad vom 16.2.2009 (2009/202412 = S. 40655) veröffentlicht und im Internet (reflex.raadvst-consetat.be/.../arbitra%5C2788b.p) abrufbar. Der EuGH hat mit Urt. vom 16.2.2012 (Fn. 76) die Vorlage beschieden. 79 BVerwG, Beschl. vom 10.11.2000 – 3 C 3.00 – BVerwGE 112, 166 = DVBl. 2001, 915 = NVwZ 2001, 319 im Hinblick auf ein anhängiges Vertragsverletzungsverfahren; BVerwG, Beschl. vom 4.5.2005 – 4 C 6.04 – BVerwGE 123, 322 (341) = DVBl. 2005, 1375 = NVwZ 2005, 1061 = UPR 2005, 438 im Hinblick auf eine erhobene Nichtigkeitsklage eines der EG nicht angehörenden Staates [Schweiz]; BVerwG, Beschl. vom 15.3.2007 – 6 C 20.06 – juris im Hinblick auf ein Vorlageverfahren; OVG Bautzen, Beschl. vom 18.12.2009 – 3 E 94/09 – juris; OVG Lüneburg, Beschl. vom 29.9.2008 – 11 LC 281/06 – ZfWG 2008, 386; OVG Bremen, Beschl. vom 1.8.2008 – 1 S 89/08 – NVwZ-RR 2008, 851; VGH Kassel, Beschl. vom 12.2.2008 – 7 A 165/08 – ZfWG 2008, 149 (L); OVG Magdeburg, Beschl. vom 12.12.2008 – 1 O 153/08 – DÖV 2009, 299; VGH Mannheim, Beschl. vom 22.3.2004 – 13 S 585/04 – InfAuslR 2004, 284; VGH Mannheim, Beschl. vom 21.10.2009 – 6 S 166/09 – VBlBW 2010, 124; VGH München, Beschl. vom 25.9.2007 – 24 B 07.304 – juris; vgl. ebenso EuGH, Urt. vom 14.12.2000 – Rs. C-344/98 – EuGHE 2000, I-11369 = DVBl. 2001, 271 = NJW 2001, 1265 – Masterfoods Ltd vs. HB Ice Cream Ltd. 80 EuGH, Urt. vom 15.10.2009 – Rs. C-263/08 – EuGHE 2009, I-9967 = NVwZ 2009, 1553 – Djurgården-Lilla Värtans Miljöskyddsförening vs. Stockholms kommun genom dess marknämnd, vgl. dazu Jan Ziekow, Europa und der deutsche Verwaltungsprozess – Schlaglichter auf eine unendliche Geschichte, in: NVwZ 2010, 793-799; Thomas Bunge, „Weiter Zugang zu den Gerichten“ nach Art. 10a der UVP-Richtlinie, in: ZUR 2010, 20-24. 81 VGH Mannheim, Urt. vom 20.7.2011 (Fn. 63), Rn. 69.
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Art. 9 AK und der RL 2003/35/EG gestützt hatte.82 Allerdings hatte das vorlegende Gericht keine gesonderte Vorlagefrage nach der gerichtlichen Prüfungsintensität gestellt. e) Regelungsbereich einer „umweltschützenden“ Rechtsvorschrift Streicht man in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG und in § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 UmwRG den inkriminierenden Satzteil „Rechte Einzelner begründen“, ist die Klage des Verbandsklägers dann begründet, wenn eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 S. 1 UmwRG einer Rechtsvorschrift, die dem Umweltschutz dient und für die Entscheidung von Bedeutung ist, widerspricht. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG führt dazu pauschal jegliche Vorschrift an, welche dem Umweltschutz dient. Ob diese Bestimmung unionsrechtlich veranlasst ist, wird in § 2 UmwRG nicht als Vor-aussetzung angegeben. Eine Rechtsvorschrift im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG oder des § 2 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 UmwRG muss also nur der Umwelt als solcher dienen (law relating to the environment). Damit ist die Bewahrung von Belangen gemeint, welche einzeln oder in ihrer Gesamtheit die schutzbedürftige Umwelt konstituieren. Die innere Aussagekraft des Urteils des EuGH vom 12. Mai 2011 zu dieser Frage ist nicht leicht festzustellen.83 Die Voraussetzung, dass eine Vorschrift dem „Umweltschutz“ dient, ist aus der Sicht der §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Abs. 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UmwRG erkennbar umfassend zu verstehen. Ob die jeweilige „umweltschützende“ Rechtsvorschrift unionsrechtlich veranlasst ist, wird in der derzeitigen Fassung des § 2 also nicht als Voraussetzung angegeben. Irritationen löst die Entscheidungsformel des erörterten Urteils des EuGH gleichwohl aus. Die oben wieder gegebene Entscheidungsformel fasst den Begriff des Umweltschutzes nicht in gleicher Weise umfassend wie der deutsche Gesetzestext. Der Gerichtshof formuliert anders: Danach muss der Verbandskläger kraft Unionsrechts vor Gericht die Verletzung einer Vorschrift geltend machen können, „die aus dem Unionsrecht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt“. Das ist zumindest äußerlich eine Einschränkung gegenüber der deutschen „Restfassung“. Die Entscheidungsformel muss man vor dem Hintergrund der Entscheidungsgründe verstehen. Diese variieren sprachlich. Die Gründe kennen mehrere Fassungen, nämlich „aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangene Rechtsvorschriften“ (Rn. 46), „Rechtsvorschriften der Union im Bereich der Umwelt“ (Rn. 48), „unmittelbar anwendbare Vorschriften des Umweltrechts der Union“ (Rn. 48) und eine „Vorschrift, die aus ___________ 82 Verfassungsgerichtshof (Belgien), Urt. vom 30.3.2010 – Nr. 30/2010, veröffentlicht in deutscher Sprache im Belgischen Staatsblaad (Moniteur Belge) vom 11.06.2010, S. 365742, dort Rn. B.9.3; beschieden durch EuGH, Urt. v. 16.2.2012 (Fn. 76). 83 Vgl. dazu näher auch Jörg Berkemann, (Fn. 43), S. 785.
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dem Unionsrecht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt“ (Rn. 50). Die letztgenannte Wendung hat Eingang in die Entscheidungsformel des Gerichtshofes gefunden. Alle Fassungen, die der EuGH in seinen Entscheidungsgründen wählte, enthalten eine Verknüpfung mit dem Unionsrecht. Das muss man nicht dahin verstehen, dass der deutsche Gesetzgeber gehindert ist, einen umfassenden Begriff des Umweltschutzes und darauf bezogener Rechtsvorschriften dem Verbandsklagerecht zugrunde zu legen. Vielmehr ist die Entscheidungsformel aus der prozessualen Situation der Vorabentscheidung auszulegen. Der EuGH ist gehalten, die ihm gestellten Vorlagefragen zu beantworten. Die Vorlagefrage ist ihrerseits durch die Prozesssituation bestimmt, in der sich das anfragende Gericht befindet. So lässt sich der interpretatorische Fragehorizont recht einfach rekonstruieren. Jedenfalls erscheint es voreilig, der Fassung der Entscheidungsformel bereits eine definitive Antwort zu entnehmen, wie der EuGH die aufgeworfene Interpretationsfrage zur gerichtlichen Kontrollintensität beantwortet wissen will. Denn eines ist gewiss: Die Reichweite der Begründetheitsprüfung kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass man in der Zulässigkeitsfrage einen äußerst restriktiven Filter vorsieht. Hier gilt das Bild, dass Generalanwältin Sharpston wählte: Ebenso wie ein Ferrari mit verschlossenen Türen helfe eine intensive Kontrolldichte in der Praxis wenig, wenn das System als solches für bestimmte Kategorien von Klagen nicht zugänglich sei.84 Folgt man der Sentenz des EuGH, wird der Meinungsstreit mutmaßlich also in zweifacher Hinsicht ausbrechen. Es wird zum einen gefragt werden, wann eine deutsche Rechtsvorschrift „aus dem Unionsrecht hervorgegangen“ ist und den „Umweltschutz bezweckt“. Ein erstes Positionspapier des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zeigt bereits die eine Front.85 Zum anderen wird die Aussagekraft und Verbindlichkeit der Entscheidung des EuGH selbst diskutiert werden. Man kann ahnen, wie sehr erneut die Kampfeszonen um die Reichweite der Verbandsklage besetzt werden. Etwas quer zu diesem zu erwartenden Interpretationsstreit liegt die Frage, welche Konsequenzen der deutsche Gesetzgeber aus der ersten Entscheidung des EuGH vom 8. März 2011 zu Art. 9 Abs. 3 AK (Slowakischer Braunbär) ziehen wird oder noch ziehen sollte.86 Stellt man das Judikat in Zusammenhang mit der wenige Monate zuvor ergangenen Entscheidung des EuGH zur unionsrechtlichen Reichweite des Art. 9 Abs. 3 AK, dann könnte sich daraus eine weitere Deutungsperspektive ergeben. Dort hatte der Gerichtshof ausgeführt, Art. 9 Abs. 3 AK sei so weit wie möglich auszulegen, „um es einer Umweltschutzvereinigung … zu ermöglichen, eine Entscheidung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens ergangen ___________ 84 85 86
GAin Sharpston, in: Rs. C-115 – Statement Rn. 77. BDI (Umwelt und Technik) – Dokumenten-Nr. D 0470 vom 11.10.2011. EuGH, Urt. vom 8.3.2011 (Fn. 27).
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ist, das möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht, vor einem Gericht anzufechten“. Art. 9 Abs. 3 AK kennt keine Reduktion auf ein unionsrechtlich „geprägtes“ Umweltschutzrecht. Auf das Urteil des EuGH vom 7. März 2011 wird noch gesondert eingegangen. 4. Legislatorische Reparaturarbeiten a) Unionsrechtliche Regelungsverpflichtungen Der Mitgliedstaat darf die Pflicht zur Umsetzung nicht einfach auf sich beruhen lassen. Die Umsetzungspflicht der nunmehrigen RL 2011/92/EU besteht für den deutschen Gesetzgeber unverändert fort. Sie ist unverzüglich zu erfüllen. An der unionsrechtlichen Rechtslage hat sich nichts geändert (vgl. Art. 14 RL 2011/92/EU). Der EuGH hat stets den Einwand zurückgewiesen, der Richtlinieninhalt gelte nach Ablauf der Umsetzungsfrist ohnehin unmittelbar.87 Auch eine sich bildende Rechtsprechung, die eine richtlinienkonforme Auslegung zum Inhalt hat, erfüllt die Umsetzungspflicht nicht.88 Wegen der weitreichenden Folgen einer unterlassenen fristgerechten Umsetzung für das innere Gefüge der EU zögert der EuGH nicht, die Verletzung der Umsetzungspflicht mit den ihm zu Verfügung stehenden Mitteln zu sanktionieren. Kommt der Gesetzgeber seiner Umsetzungspflicht nicht alsbald nach, riskiert er ein Vertragsverletzungsverfahren. Üblicherweise wartet die Kommission etwa ein Jahr nach Erlass einer „kassatorischen“ Entscheidung des EuGH, bevor sie ein Vertragsverletzungsverfahren beginnt. Der Gesetzgeber sollte am besten den inkriminierten Satzteil in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG streichen und von prozessualen Winkelzügen absehen. Das wäre die einfachste Lösung. Ihm sollte bewusst sein, dass das noch zu behandelnde Judikat des EuGH zum slowakischen Braunbären eine Entschlossenheit des Gerichtshofes erkennen lässt. Bereits bestandskräftige Planungsund Genehmigungsentscheidungen können aufgrund des Trianel-Urteils nicht wieder aufgerufen werden. Ungeklärt ist allerdings die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Bestandskraft einer früheren Genehmigung gegenüber einem potentiellen Verbandskläger eingetreten sein kann.89 ___________ 87
EuGH, Urt. vom 11.12.1997 – Rs. C-83/97 – EuGHE 1997, I-7191 = DVBl 1998, 181 = NVwZ 1998, 721 – Kommission vs. Deutschland (FFH-RL 92/43/EWG). 88 Vgl. EuGH, Urt. vom 4.12.1997 – Rs. C-207/96 – EuGHE 1997, I-6869 = EWS 1998, 181 – Kommission vs. Italien. 89 Vgl. Jörg Berkemann, Gemeinschaftskonformes und gemeinschaftswidriges Überleitungsrecht des Umweltverbandsklagerechts (UmwRG), in: DVBl 2010, 1403-1413 (1411).
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b) Entwurfsarbeiten des Umweltbundesministeriums (Dezember 2011) Ein Referentenentwurf des BMU vom 14.12.2011 (ZG III 4 42120-11/10) – Datenblatt 17/16071 liegt inzwischen vor. Der Entwurf betrifft das „Erste Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes sowie zur Änderung anderer umweltrechtlicher Vorschriften“. In ihm heißt es u.a.: Artikel 1 Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes 1. … 2. § 2 wird wie folgt geändert: a) In Absatz 1 Nummer 1 werden die Wörter „Rechte einzelner begründen“ gestrichen. b) Absatz 5 Satz 1 wird wie folgt gefasst: „Rechtsbehelfe nach Absatz 1 sind begründet, 1. soweit die Entscheidung nach § 1 Absatz 1 oder deren Unterlassen, gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen und für die Entscheidung von Bedeutung sind, verstößt, 2. in Bezug auf Bebauungspläne, soweit die Festsetzung des Bebauungsplans, die die Zulässigkeit eines UVP-pflichtigen Vorhabens begründen, gegen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, verstoßen. und der Verstoß Belange des Umweltschutzes berührt, die zu den von der Vereinigung nach ihrer Satzung zu fördernden Zielen gehören.“ 3. In § 4 Absatz 1 wird nach Satz 1 folgender Satz eingefügt: „Satz 1 Nummer 1 gilt auch, wenn eine durchgeführte Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit nicht dem Maßstab des § 3a Satz 4 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung genügt.“ 4. § 5 wird wie folgt geändert: a) … b) … c) Folgender Absatz 4 wird angefügt: Entscheidungsverfahren nach § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, Genehmigungsverfahren nach § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 oder Rechtsbehelfsverfahren nach § 2, die am 12. Mai 2011 anhängig war oder nach diesem Tag eingeleitet worden sind und die am ... [Einsetzen: Datum des Inkrafttretens dieses Gesetzes], noch nicht rechtskräftig abgeschlossen worden sind, sind nach den Vorschriften dieses Gesetzes in der ab dem … [Einsetzen: Datum des Inkrafttretens dieses Gesetzes] geltenden Fassung zu Ende zu führen.“
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Der Referentenentwurf reduziert das verbandsklagebezogene Umweltschutzrecht nicht auf „unionsbasierte“ oder „unionsrechtlich geprägte“ Umweltschutzbestimmungen. Das gilt sowohl für die Zulässigkeit als auch für die Begründetheit der Verbandsklage. § 2 Abs. 1 und § 2 Abs. 5 Satz 1 UmwRG-RE erfassen – wie bisher – alle Umweltrechtsvorschriften, unabhängig von ihrer unionsbezogenen oder nationalen Provenienz. Ob diese zugleich individuellen Drittschutz vermitteln, ist auf der Grundlage des Urteils des EuGH vom 12. Mai 2011 für die Umweltverbandsklage erkanntermaßen ohne rechtliche Bedeutung. Die noch zu referierende Begründung des Referentenentwurfs lehnt ausdrücklich eine Reduktion auf „unionsbasierte“ Umweltschutzbestimmungen, auch im Hinblick auf die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 AK, ab. In der Tat würde es recht schwer fallen, hier eine klare Abgrenzung für Umweltvorschriften „mit unionsrechtlichem Hintergrund“ zu finden. Gewiss gibt es „sichere Kandidaten“, aber zugleich sehr viele, deren Zuordnung zunächst zweifelhaft sein kann. Das erzeugt ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. Dem könnte man letztlich nur mit einem nationalen Katalogsystem begegnen. Auch ein Verweis darauf, ob eine nationale Vorschrift Ergebnis einer „Umsetzung“ des Unionsrechtes ist, führt zu keiner größeren Klarheit.90 Die den Gesetzen oder Verordnungen beigefügten amtlichen Hinweise auf Umsetzung einer Unionsnorm sind pauschal. Die eingetretene Europäisierung des Umweltrechtes widerstreitet einem Trennungs- und Reduktionsdogma, auch wenn formal noch zwei duale Rechtsordnungen bestehen. Zu beobachten ist in seiner Gesamtheit ein Rechtszustand, der zutreffend als eine „neue gemischte Rechtsordnung“ bezeichnet worden ist.91 Das ist z.B. für die Frage des Vorsorgeprinzips des § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG von erheblicher Bedeutung. Man wird sagen können, dass dieses Prinzip durch primärrechtliches Unionsrecht „geprägt“ wird (vgl. Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV). Das wäre wohl zweifelsfrei.92 Damit würde das Vorsorgeprinzip zu den rügefähigen Umweltvorschriften des Unionsrechts zu zählen sein.93 Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Kontrollierbarkeit sind indes Grundpfeiler der Judikatur des EuGH. Damit spielt man nicht. ___________ 90 Das ist der Vorschlag des BDI (Umwelt und Technik) – Dokumenten-Nr. D 0470 vom 11.10.2011. 91 Vgl. Michael Kloepfer, Die europäische Herausforderung – Spannungslagen zwischen deutschem und europäischem Umweltrecht, in: NVwZ 2002, 645-657 (654); Klaus Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, S. 3 Rn. 3 92 Vgl. Erwägungsgrund 2 und Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2008/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.1.2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. L 24, S. 8), i.e. kodifizierte Fassung der RL 96/61/EG des Rates vom 24.9.1996 – IVU-RL – sowie Erwägungsgrund 2 und Art. 11 Buchst. a) der die IVU-Richtlinie ersetzenden Richtlinie 2010/75/EU vom 24.11.2010 über Industrieemissionen (ABl. L 334, S. 17) – Industrieemissions-RL. 93 So VGH Mannheim, Urt. vom 20.7.2011 (Fn. 63), Rn. 76; OVG Münster, Urt. vom 1.12.2011 (Fn. 51).
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5. Weitere Baustellen im UmwRG – Vorlage des BVerwG a) Vorlagefrage: Überleitungsrecht (§ 5 Abs. 1 UmwRG) Das Verbandsklagerecht des UmwRG gilt nach seinem § 5 Abs. 1 Halbs. 1 UmwRG für Verfahren nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG, die nach dem 25. Juni 2005 eingeleitet worden sind oder hätten eingeleitet werden müssen. § 5 Abs. 1 UmwRG selbst kennt zwei Stichtage, nämlich den 25.6.2005 und den 15.12.2006. Das erstgenannte Datum ist das Ende der Umsetzungsfrist für die RL 2003/35/EG, das zweite Datum ist der Tag des Inkrafttretens des UmwRG. Ausgeblendet hat der Gesetzgeber den Tag des Inkrafttretens der RL 2003/35/EG, also den 25.6.2003. Ausgespart ist ferner der Zeitraum zwischen dem Ablauf der Umsetzungsfrist und dem Inkrafttreten des UmwRG, auch wenn sich insoweit Näheres leicht erschließt. Die maßgebende RL 2003/35/EG selbst enthält keine Übergangsbestimmungen. Ausgespart hat der Gesetzgeber schließlich jeden zeitlichen Bezug zur Århus-Konvention. Es ist im Schrifttum bezweifelt worden, ob diese Überleitungsregelung richtlinienkonform ist.94 Die Judikatur des 4. (baurechtlichen) Senates des BVerwG war indes dahin verstanden worden, dass unionsrechtliche Bedenken gegen die Überleitungsregelung nicht gegeben seien.95 Der 7. (immissionsschutzrechtliche) Senat sieht dies zutreffend anders. In einem Vorentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 1 AEUV fragt er den EuGH, ob Art. 6 Abs. 1 RL 2003/35/EG dahin auszulegen sei, „dass die Mitgliedstaaten verpflichtet gewesen sind, die zur Umsetzung von Art. 10a RL 85/337/EWG ergangenen Vorschriften des nationalen Rechts auch für solche behördlichen Genehmigungsverfahren für anwendbar zu erklären, die zwar vor dem 25. Juni 2005 eingeleitet worden waren, in denen die Genehmigungen aber erst nach diesem Zeitpunkt erteilt wurden“.96 Die Frage des intertemporären Rechts ließe ___________ 94
Jörg Berkemann, (Fn. 89); Christian Schweighofer, Verpflichtung nationaler Gerichte zur rückwirkenden Anwendung einer Richtlinie auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Frist zur Umsetzung der Richtlinie, wenn das nationale Recht die Rückwirkung ermöglicht, in: European Law Reporter 2009, S. 9-15. 95 Vgl. OVG Koblenz, Urt. vom 12.2.2009 – 1 A 10722/08 – UPR 2009, 316 Rn. 143 mit Bezug auf Beschluss vom 21.1.2008 – ZfBR 2008, 289 (Antrag vom 31.1.2002, Planfeststellungsbeschluss vom 20.6.2006); vgl. ähnlich BVerwG, Urt. vom 13.12.2007 – 4 C 9.06 – BVerwGE 130, 83 Rn. 37 = DVBl 2008, 525 = NVwZ 2008, 563 – Änderungsgenehmigung zur Nutzung des ehemaligen NATO-Militärflugplatzes Memmingen (dort nicht entscheidungserheblich); BVerwG, Urt. vom 16.10.2008 – 4 C 5.07 – BVerwGE 132, 123 Rn. 36 = NVwZ 2009, 459 – Zivile Nutzung des ehemaligen Militärflugplatzes Weeze-Laarbruch. 96 BVerwG, Beschl. vom 10.1.2012 – 7 C 20.11 – AbfallR 2012, 91 (L) = juris, anhängig EuGH – Verfahren Rs. C-72/12. Inhaltlich weicht der vorlegende 7. Senat von
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sich auch der Überleitungsregelung des Art. 7 der RL 2003/35/EG selbst zuordnen. Der Sache nach handelt es sich um eine Variante einer Vorwirkung der Richtlinie. Bemerkenswert ist, dass das BVerwG die Vorgaben der ÅrhusKonvention 1998 unerwähnt lässt. Einem Mitgliedstaat ist es unionsrechtlich verwehrt, den maßgebenden Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist in seine nationale Rechtsordnung für die Anwendung der Richtlinie zu verschieben.97 Es ist ihm nicht erlaubt, den Ablauf der Umsetzungsfrist für unerheblich zu erklären. Demgemäß ist ohne unionsrechtlichen Belang, zu welchem Zeitpunkt der deutsche Gesetzgeber der Umsetzungsfrist der RL 2003/35/EG nachgekommen ist. Es ist unionsrechtswidrig, dass der deutsche Gesetzgeber, wenn er schon die Umsetzungsfrist nicht wahrte, keine geeignete Übergangsregelung schuf, um die gemeinschaftsrechtlich vorgesehene Klagemöglichkeit effektiv nutzen zu können. Es ist schon erstaunlich, dass der deutsche Gesetzgeber diese unionsrechtliche Judikatur nicht beherrscht. Die Vorlage des BVerwG für das „Auskunftsverfahren“ nach Art. 267 Abs. 1 AEUV setzt die Auslegungsbedürftigkeit gerade der Gemeinschaftsnorm voraus. Es müssen also interpretatorische Zweifel bestehen. Ob diese „objektiv“ gegeben sind, hat das nationale Gericht grundsätzlich selbst zu beurteilen. Ein Gericht ist nicht zur Vorlage verpflichtet, wenn nach seiner Auffassung das anzuwendende Gemeinschaftsrecht hinreichend klar und eindeutig und auf der Grundlage der Judikatur des EuGH eine zweifelsfreie Entscheidung möglich ist (sog. „acte claire“-Doktrin). Der vorlegende Senat sieht Zweifel. Sehr überzeugend ist das nicht. Ein Zweifel kann entstehen, wenn unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts und der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung innerhalb der Union die Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen begründet ist. Das ist im vorliegenden Falle schwerlich zu erwarten, wenn das BVerwG als Revisionsgericht das Stichtagsprinzip des „Einleitens“ in § 5 Abs. 1 UmwRG für unionsrechtswidrig ansieht. Die Vorlage an den EuGH soll der einheitlichen Auslegung des Richtlinienrechts in der gesamten EU dienen. Darum geht es hier nicht, sondern nur darum, dem deutschen Gesetzgeber die unionsrechtlichen Leviten zu lesen.98
___________ der entstandenen Judikatur des 4. Senates ab. Ein Vorlagegrund nach § 11 VwGO ist dies nicht. 97 Vgl. EuGH, Urt. vom 11.8.1995 – Rs. C-431/92 – EuGHE 1995, I 2189 = DVBl 1996, 424 = NVwZ 1996, 369 = NuR 1996, 102 – Kommission vs. Deutschland (Wärmekraftwerk Großkrotzenburg). 98 Jörg Berkemann, (Fn. 89).
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b) Vorlagefrage: Fehlerprogramm des § 4 Abs. 1 UmwRG Das UmwRG enthält mit § 4 UmwRG eine eigene Vorschrift über die Bedeutung von Verfahrensfehlern, insbesondere für den Fall des Fehlens einer erforderlichen UVP. Die Aufhebung einer Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 kann gemäß § 4 Abs. 1 UmwRG verlangt werden, wenn eine nach den Bestimmungen des UVPG erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung oder erforderliche Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit nicht durchgeführt worden ist und nicht nachgeholt wurde.99 Der deutsche Gesetzgeber nimmt derzeit im Fehlerprogramm des § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwRG einen formalen Standpunkt ein. Er fragt nur, ob eine erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung oder eine erforderliche Vorprüfung des Einzelfalls vorgenommen wurde. Das wirft die Frage auf, ob diese legislatorische Begrenzung unionsrechtswidrig ist. Das wird im Schrifttum vielfach angenommen.100 Das BVerwG (7. Senat) schließt sich dieser Kritik der Sache nach an, ohne allerdings die Diskussionslage näher darzustellen. Als erörterungsbedürftig sieht das Gericht die Frage der zwar durchgeführten, aber fehlerhaften UVP und eine unzureichende Öffentlichkeitsbeteiligung.
___________ 99
Vgl. auch Anja Kleesiek, Zur Problematik der unterlassenen Umweltverträglichkeitsprüfung. Zugleich eine Untersuchung der Vereinbarkeit des § 46 VwVfG mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht, 2010, S. 259 ff. 100 Zu § 4 Abs. 1 UmwRG vgl. Markus Appel, Subjektivierung von UVP-Fehlern durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz?, in: NVwZ 2010, 473-479; Jörg Berkemann, (Fn. 43); Thomas Bunge, (Fn. 52); Till Elgeti/Lars Dietrich, UVP-(Vorprüfungs)pflichtigkeit bergrechtlich zuzulassender Flutungen von Grubenbauen und der Aufhebungsanspruch nach § 4 Abs. 1 UmwRG, in: NuR 2009, 461-465; Marcus Karge, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Verwaltungsprozessrechts, 2010; Martin Kment, (Fn. 60); Dietrich Murswiek/Lena Ketterer/Oliver Sauer/Holger Wöckel, Ausgewählte Probleme des Allgemeinen Umweltrechts – Subjektivierungstendenzen – Umweltinformationsrecht, in: Verw 44 (2011), S. 235-272; Markus Ogorek, Anfechtung von Planfeststellungsbeschlüssen durch Gemeinden nach Inkrafttreten des UmweltRechtsbehelfsgesetzes, in: NVwZ 2010, 401-405; Sabine Schlacke, Zur Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern nach § 4 UmwRG, in: ZUR 2009, 80-82; Anna-Maria Schlecht, Die Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern im deutschen Umweltrecht. Einwirkungen der Aarhus-Konvention und des Gemeinschaftsrechts auf die Grenzen gerichtlicher Kontrolle, 2010, S. 222 ff.; Alexander Schmidt/Peter Kremer, (Fn. 8), Wolf Friedrich Spieth/Markus Appel, Umfang und Grenzen der Einklagbarkeit von UVP-Fehlern nach Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, in: NuR 2009, 312-317; Jan Ziekow, Das UmweltRechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Rechtsschutzes, in: NVwZ 2007, 259-267 (Fn. 100).
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aa) Vorlagefrage: Durchgeführte, aber fehlerhafte UVP (1) Die kausalunabhängige Aufhebung einer Genehmigung kann nach derzeitiger Gesetzeslage nicht mit der Begründung beansprucht werden, dass aufgrund einer mangelhaften Durchführung der Vorprüfung des Einzelfalls oder einer unzutreffenden Interpretation des Vorprüfungsergebnisses zu Unrecht von einer UVP abgesehen wurde.101 Die durchgeführte, aber fehlerhafte Vorprüfung oder UVP erfasst § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwRG nicht. Das schließt die Relevanz des Verfahrensverstoßes zwar nach allgemeiner Meinung noch nicht aus. Maßgebend ist alsdann jedoch § 46 VwVfG oder die jeweiligen fachgesetzlichen Regelungen. Hier bleibt es nach den Vorstellungen des Gesetzgebers bei der allgemeinen „Fehlerlehre“.102 Ob dies auch bei schwersten inhaltlichen Mängeln der UVP zu gelten hat, ist unionsrechtlich fragwürdig. Die allgemeine „deutsche“ Fehlerlehre erfordert, dass ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften nur beachtlich ist, wenn er für das Ergebnis ursächlich wurde. Es gilt in jedem Falle der Rechtsgedanke des § 46 VwVfG. Das BVerwG spricht auch davon, ob die „konkrete Möglichkeit“ gegeben ist, dass sich der Verfahrensverstoß ausgewirkt haben kann.103 Gegenüber dem prozeduralen Impetus der RL 2003/35/EG ist dies offenbar kritisch.104 (2) Das BVerwG (7. Senat) teilt die Kritik. Das Gericht hat § 4 Abs. 1 Satz 2 UmwRG zum Gegenstand einer Vorlage an den EuGH gemacht.105 Gefragt wird gemäß Art. 267 AEUV, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet gewesen sind, die Anwendbarkeit der im Hinblick auf die Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit einer Entscheidung zur Umsetzung von Art. 10a RL 85/337/EWG ergangenen Vorschriften des nationalen Rechts auch auf den Fall einer zwar durchgeführten, aber fehlerhaften Umweltverträglichkeitsprüfung zu erstrecken. Das BVerwG (7. Senat) hält die Vorlage auch für entscheidungserheblich. Das ist sie nach Maßgabe der mitgeteilten Beschlussgründe offenkundig nicht. Das Gericht erliegt einem schweren Auslegungsfehler. § 4 Abs. 1 ___________ 101
So dezidiert OVG Schleswig, Beschl. vom 9.7.2010 – 1 MB 12/10 – NVwZ-RR 2011, 9, Rn. 6 = NordÖR 2010, 368; ebenso bereits VGH Kassel, Urt. vom 24.9.2008 (Fn. 62). 102 Vgl. Jan Ziekow, (Fn. 100), S. 265. 103 BVerwG, Urt. vom 18.11.2004 – 4 CN 11.03 – BVerwGE 122, 207 = DVBl 2005, 386 = NVwZ 2005, 442. 104 Vgl. Klaus Meßerschmidt, (Fn. 91), S. 554 Rn. 126; Günter Halama, in: Jörg Berkemann/Günter Halama, Handbuch (Fn. 2), Rn. 81 ff., 86 f. 105 BVerwG, Beschl. vom 10.1.2012 (Fn. 96); Vorinstanz: OVG Koblenz, Urt. vom 12.2.2009 (Fn. 95). Das Berufungsgericht übersah übrigens die mit BVerwG, Urt. vom 20.8.2008 – 4 C 11.07 – BVerwGE 131, 352, Rn. 26 = DVBl. 2008, 1445 = NVwZ 2008, 1349 (Putenmast) eingeleitete Änderung der Rechtsprechung des BVerwG. Das vorlegende Revisionsgericht (7. Senat) tat es ihm gleich.
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UmwRG ist im Fehlerprogramm keineswegs abschließend. Das würde eine kodifikatorische Entscheidung des Gesetzgebers für das normierte Fehlerprogramm voraussetzen. Das ist nicht der Fall.106 Eine derartige verdrängende Exklusivität besteht nicht.107 Das „normale“ Fehlerprogramm ist im UmwRG nicht näher dargestellt. Es wird in der Begründetheitsprüfung des § 2 Abs. 5 S. 1 UmwRG als gegeben vorausgesetzt. Richtig ist, dass der systematische Ort des § 4 Abs. 1 UmwRG im Verhältnis zu § 2 Abs. 5 UmwRG innerstaatlich noch nicht hinreichend geklärt ist. Damit beschäftigt sich der 7. Senat indes mit keinem Wort. Danach muss man wohl annehmen, dass er die Problemstellung – die im Schrifttum breit erörtert wird – offenbar nicht kennt. Die Sache ist im Ergebnis allerdings einfach: Die in § 4 Abs. 1 UmwRG angeordnete Rechtsfolge der Kassation gilt exklusiv nur für seinen von ihm besonders erfassten Gegenstandsbereich. Etwas anderes wäre offensichtlich mit Art. 10a Abs. 2 RL 2003/35/EG (nunmehr Art. 11 Abs. 2 RL 2011/92/EU) unvereinbar. Die vom BVerwG (7. Senat) zugrunde gelegte Reduktionsthese ist also offensichtlich falsch. Das Ziel des Gesetzgebers war allein, im Falle des Fehlens einer Vorprüfung oder einer Vollprüfung die Prüfung der ergebnisbezogenen Kausalität auszuschließen. Der „historische“ Gesetzgeber wollte damit den Vorgaben folgen, die sich aus der Rechtsprechung des EuGH insoweit ergaben.108 Ob er dies hinreichend getan hat, ist eine andere Frage. Der EuGH hatte für den Fall einer fehlenden Umweltverträglichkeitsprüfung bereits dieses für das befasste Gericht als hinreichend angesehen, entweder die angegriffene Entscheidung aufzuheben oder aber das gerichtliche Verfahren auszusetzen, um die Umweltverträglichkeitsprüfung nachholen zu können. Damit wollte der EuGH allein eine Erörterung der Kausalität des „wesentlichen“ Verfahrensmangels ausschließen.109 Konnte diese Absicht wirklich zweifelhaft sein? Das BVerwG (7. Senat) ist also mit seiner Auffassung eines Umkehrschlusses einem Anfängerfehler erlegen.110 Das BVerwG (7. Senat) hat die innere Mechanik des § 4 Abs. 1 UmwRG überhaupt nicht verstanden. Das Gericht hat in systematischer Auslegung gar nicht bemerkt, dass § 4 Abs. 1 UmwRG insoweit lex specialis zu § 2 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UmwRG ist. Dies muss man ver___________ 106 Insoweit undeutlich Martin Kment, in: Werner Hoppe/Martin Beckmann (Hrsg.), UVPG, 4. Aufl. 2012, UmwRG § 4 Rn. 7 ff; vgl. auch Markus Ogorek, (Fn. 100). 107 Martin Gellermann, (Fn. 6), S. 245; etwas unklar Martin Kment, (Fn. 60), S. 277. 108 Vgl. EuGH, Urt. vom 7.1.2004 (Fn. 1), vgl. auch BTags-Drs. 16/2495 S. 6, 13/14. 109 Vgl. auch Anna-Maria Schlecht, (Fn. 100), S. 140 ff., 222 ff.; Angela Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der AarhusKonvention. Zugleich ein Beitrag zur Fortentwicklung der subjektiven öffentlichen Rechte unter besonderer Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts, 2010, S. 244 ff. 110 In gleicher Weise kaum überzeugend OVG Schleswig, Beschl. vom 9.7.2010 (Fn. 101), Rn. 6.
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wundert feststellen. Es ist auch erstaunlich, dass sich nach Ansicht des BVerwG der Verbandskläger in Bezug auf inhaltliche Fehler schlechter stehen würde als ein Individualkläger. Dieser könnte nämlich – wenn auch häufig erfolglos – immerhin geltend machen, dass die „konkrete Möglichkeit“ einer Kausalität gegeben sei. Offenbar ist dem BVerwG (7. Senat) die Rechtsprechung des EuGH zum Grundsatz der Äquivalenz unbekannt. Dies alles ist um zu verwunderlicher, als das vom 7. Senat selbst zitierte Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 hierauf verweist.111 Hat der Senat also das Urteil des EuGH nicht verstanden? Erneut wundert man sich. Das Gericht hätte also im Revisionsverfahren zunächst prüfen müssen, ob aus revisionsprozessualer Sicht inhaltliche Mängel bei der Umweltverträglichkeitsprüfung gegeben waren. Diese Prüfung ist ausweislich seiner Beschlussbegründung nicht vorgenommen worden. Man kann nicht erklären, wie es zu diesem Anfängerfehler kommen konnte. Im Schrifttum ist nirgendwo eine vergleichbare Auffassung vertreten worden. Eines ist jedenfalls gewiss: Wäre es so wie der zuständige Senat meint, dann wäre aus anderen Gründen eine Vorlage entbehrlich gewesen. Es wäre nämlich im Sinne der „acte claire“-Doktrin offensichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber gegen das Richtlinienecht verstoßen hätte. In diesem Falle hätte sich zumindest eine vertiefende Prüfung einer richtlinienkonformen Interpretation angeboten. Das Gericht verneint dies zwar, indes ebenfalls nur oberflächlich. Viel bedeutsamer wäre es gewesen, wenn das BVerwG den EuGH in ganz anderer Weise befragt hätte. Durchaus kritisch anzusehen ist nämlich, ob die vom Gesetzgeber in § 3a Satz 4 UVPG 2006 ausgesprochene Begrenzung der gerichtlichen Kontrollintensität unionsrechtlich unbedenklich ist. Nach § 3a Satz 4 UVPG ist die Einschätzung, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung unterbleiben kann, im gerichtlichen Verfahren nur darauf hin zu überprüfen, ob die Vorprüfung entsprechend den Vorgaben von § 3c UVPG durchgeführt worden ist und ob das Ergebnis „nachvollziehbar“ ist. Letzteres ist zumindest anzunehmen, wenn die Vorprüfung entweder Ermittlungsfehler aufweist, die so schwer wiegen, dass sie auf die „Nachvollziehbarkeit“ des Ergebnisses durchschlagen, oder wenn das Ergebnis außerhalb des Rahmens zulässiger Einschätzungen liegt.112 Der EuGH überlässt die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit allerdings weitgehend dem nationalen Gericht und beschränkt sich hierzu auf eine Plausi___________ 111
EuGH, Urt. vom 12.5.2011 (Fn. 3). Vgl. VGH München, Urt. vom 14.9.2011 – 9 N 10.2275 – juris, Rn. 31; OVG Hamburg, Beschl. vom 24.2.2010 – 5 Bs 24/10 – UPR 2010, 455, Rn. 19; weitgehend ähnlich OVG Münster, Urt. vom 3.12.2008 – 8 D 14/07.AK – juris, Rn. 69 f., zurückhaltender OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 29.7.2010 – OVG 11 S 45.09 – juris, Rn. 9. 112
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bilitätskontrolle.113 Es ist danach allein Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihm dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Ob sich dem nationalen Gericht die Entscheidungserheblichkeit nur angesichts einer bestimmten, indes durchaus zweifelhaften Auslegung des innerstaatlichen Rechts stellt, prüft der EuGH nicht.114 Die Prüfungsbereitschaft des BVerfG ist im konkreten Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG wesentlich intensiver. bb) Vorlagefrage: Unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit (1) Das Fehlen einer Beteiligung der Öffentlichkeit anerkennt § 4 Abs. 1 UmwRG nicht als einen „absoluten“ Verfahrensfehler. Mängel, welche etwa die Bekanntmachung des Vorhabens nach § 10 Abs. 3 und 4 BImSchG, die Erörterung der Einwendungen nach § 10 Abs. 6 BImSchG und/oder die Bekanntgabe des Genehmigungsbescheides nach § 10 Abs. 7 und 8 BImSchG und damit die Öffentlichkeitsbeteiligung im Sinne des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung bzw. der entsprechenden Bestimmungen in Art. 6 Abs. 2 bis 6 und Art. 10a UVP-RL betreffen, anerkennt § 4 UmwRG nicht als einen absoluten Fehler. Nach dem Vorgesagten würde sich damit im Prüfungs- und Entscheidungsprogramm des Gerichtes die Kausalitätsfrage stellen. In der Sprache des BVerwG heißt dies, dass zu entscheiden ist, ob die „konkrete ___________ 113 EuGH, Urt. vom 16.12.1981 – Rs. 244/80 – EuGHE 1981, 3045 (3062), Rn. 17 = RIW 1982, 426 – Pasquale Foglia vs. Mariella Novello; EuGH, Urt. vom 8.11.1990 – Rs. C-231/89 – EuGHE 1990, I-4003 (4018), Rn. 23 – Krystna Gmurzyska-Bscher vs. Oberfinanzdirektion Köln; EuGH, Urt. vom 13.3.2001 – Rs. C-379/98 – EuGHE 2001, I-2099 (2176), Rn. 38 = DVBl. 2001, 633 – Preussen Elektra AG vs. Schleswag AG (Deutsches Stromeinspeisungsgesetz); EuGH, Urt. vom 19.6.2003 – Rs. C-315/01 – EuGHE 2003, I-6351 (6399), Rn. 37 = NVwZ 2003, 1106 – Gesellschaft für Abfallentsorgungs-Technik GmbH [GAT] vs. Österreichische Autobahnen und Schnellstraßen AG; EuGH, Urt. vom 10.12.2002 – Rs. C-153/00 – EuGHE 2002, I-11319 (11349 f.), Rn. 31 = EuZW 2003, 280 – Strafverfahren Paul der Weduwe; EuGH, Urt. vom 29.11.1978 – Rs. 83/78 – EuGHE 1978, 2347 (2369), Rn. 25 = NJW 1979, 1093 – Pigs Marketing Board vs. Raymond Redmond; EuGH, Urt. vom 28.11.1991 – Rs. C-186/90 – EuGHE 1991, I-5773 (5795), Rn. 8 – Giacomo Durighello vs. Instituto nazionale della previdenza sociale (INPS); EuGH, Urt. vom 15.12.1995 – Rs. C-415/93 – EuGHE 1995 I-4921 (5059), Rn. 59 = DVBl. 1996, 167 = NJW 1996, 505 – Union royale belge des sociétés de football association ASBL u. a. vs. Jean-Marc Bosman u. a.; EuGH, Urt. vom 3.6.2008 – Rs. C-308/06 – EuGHE 2008, I-4057 Rn. 31 = EuZW 2008, 439 – International Association of Independent Tanker Owners (Intertanko) u. a. vs. Secretary of State for Transport. 114 Vgl. Jörg Berkemann, in: ders./Günter Halama, Handbuch (Fn. 2), S. 304 f. Rn. 516.
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Möglichkeit“ einer anderweitigen Entscheidung besteht.115 Eine bloß „abstrakte“ Möglichkeit reicht dafür nicht aus.116 Im Ergebnis liegt die Argumentationslast damit beim angreifenden Kläger. Dass diese Problemsicht mit der verfahrensbezogenen Grundtendenz der Judikatur des EuGH nicht übereinstimmt, darf man als gesichertes Wissen des BVerwG durchaus annehmen.117 (2) Hat eine Vorprüfung oder eine Vollprüfung nicht stattgefunden, kann auch die Öffentlichkeit an der maßgebenden Entscheidung nicht beteiligt worden sein. Hat die Behörde eine Vorprüfung oder eine Vollprüfung vorgenommen, schließt dies demgegenüber nicht aus, dass bei dieser Entscheidung die betroffene Öffentlichkeit nicht oder nur unzureichend beteiligt wurde. Weder die RL 2003/35/EG noch § 4 Abs. 1 UmwRG behandeln diese Frage. Nach der vor allem Mitte der 1990er Jahre entstandenen Rechtsprechung des BVerwG, waren Verfahrensmängel – wie erwähnt – nur beachtlich, wenn die „konkrete Möglichkeit“ bestand, dass sich der Verfahrensfehler auf das Entscheidungsergebnis ausgewirkt hat. Diese Verknüpfung von materieller Richtigkeit und Verfahrenskorrektheit schloss nach dieser Rechtsprechung die Annahme aus, dass das UVPG einem von einem UVP-pflichtigen Vorhaben Betroffenen eine selbständig durchsetzbare Verfahrenspositionen vermittelte. (3) Das BVerwG (7. Senat) stellt in dem bereits erörterten Vorabentscheidungsersuchen in Frage, ob die ständige Rechtsprechung des BVerwG nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2003/35/EG fortbestehen könne.118 Das Gericht formuliert folgende Vorlagefragen: Ist Art. 10a der Richtlinie 85/337/EWG in den Fällen, in denen das Verwaltungsprozessrecht eines Mitgliedstaats entsprechend Art. 10a Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 85/337/EWG vom Grundsatz her bestimmt, dass für die Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit der Zugang zu einem gerichtlichen Überprüfungsverfahren von der Geltendmachung einer Rechtsverletzung abhängt, dahin auszulegen,
___________ 115 Vgl. BVerwG, Urt. vom 12.8.2009 – 9 A 64.07 – BVerwGE 134, 308, Rn. 31; BVerwG, Urt. vom 13.12.2007 (Fn. 95), Rn. 38 ff.; BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 – 4 C 5.95 – BVerwGE 100, 238 (250) = DVBl 1996, 677 = NVwZ 1996, 788; BVerwG, Urt. vom 21.3.1996 – 4 C 1.95 – DVBl 1996, 915 = NVwZ 1997, 493; BVerwG, Urt. vom 20.5.1998 – 11 C 3.97 – NVwZ 1999, 67; BVerwG, Urt. vom 9.6.2004 – 9 A 11.03 – BVerwGE 121, 72 = DVBl 2004, 1546 = NVwZ 2004, 1486; BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – juris; BVerwG, Urt. vom 30.5.1984 – 4 C 58.81 – BVerwGE 69, 256 (269 f.) = DVBl 1984, 1075 = NVwZ 1984, 718. 116 BVerwG, Urt. vom 30.5.1984 (Fn. 115); BVerwG, Urt. vom 5.12.1986 – 4 C 13.85 – BVerwGE 75, 214 (228) = DVBl 1987, 573 = NVwZ 1987, 578; BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 (Fn. 115); BVerwG, Urt. vom 12.8.2009 (Fn. 115). 117 Vgl. auch Jörg Berkemann, Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Planungsrecht, in: Wilfried Erbguth/Winfried Kluth (Hrsg.), Planungsrecht in der gerichtlichen Kontrolle. Kolloquium zum Gedenken an Werner Hoppe, Berlin 2011, S. 11-56 (25 f.). 118 BVerwG, Beschl. vom 10.1.2012 (Fn. 96), Rn. 40.
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a) dass eine gerichtliche Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, für die die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten, nur dann Erfolg haben und zur Aufhebung der Entscheidung führen kann, wenn nach den Umständen des Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass die angegriffene Entscheidung ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre, und wenn durch den Verfahrensfehler zudem zugleich eine dem Kläger zustehende materielle Rechtsposition betroffen ist oder b) dass im Rahmen der gerichtlichen Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit Verfahrensfehler bei Entscheidungen, für die die Bestimmungen der Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten, in weiterem Umfang beachtlich sein müssen? Wenn die vorgenannte Frage im Sinne von b) zu beantworten ist: Welche inhaltlichen Anforderungen sind an Verfahrensfehler zu stellen, damit diese bei der gerichtlichen Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung zugunsten eines Klägers Berücksichtigung finden können?
Das Gericht meint dazu, die RL 85/337/EWG – in ihrer ursprünglichen Fassung – enthalte keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der nationale Gesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, privaten Dritten eine weitergehende Klagemöglichkeit zu eröffnen, als sie das nationale Recht allgemein bei der Verletzung von Verfahrensvorschriften eröffnet. Es ist bereits unklar, aus welchen Gründen es auf die ursprüngliche Fassung der Richtlinie ankommen sollte. Das Gericht stellt die Vorlagefrage selbst unter die Voraussetzung, dass die deutsche Überleitungsregelung unionswidrig ist.119 Dann kommt es auf die ursprüngliche Fassung nicht an, sondern allein auf die RL 2003/35/EG. Der angegriffene Planfeststellungsbeschluss stammt vom 26. Juni 2006, ist also nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangen. Das Planfeststellungsverfahren war im Jahre 2002 begonnen worden. Als die Umsetzungsfrist verstrichen war, lag also ein eingeleitetes und noch nicht abgeschlossenes UVP-pflichtiges Verfahren vor. Das BVerwG hatte offenbar den zeitlichen und sachlichen Zusammenhang seiner gestuften Fragen aus den Augen verloren. Dem BVerwG (7. Senat) gelingt es kaum, dem EuGH einen näheren Argumentationszusammenhang darzulegen, aus welchen Gründen die gestellte Vorlagefrage für sein Verfahren entscheidungserheblich und wie sie aus der Sicht des vorlegenden Gerichtes unionsrechtlich zu beantworten ist. Einen nachvollziehbaren inhaltlichen Ableitungszusammenhang gibt es nicht. Die Vorlage ist unter normalen Maßstäben unzulässig. Das nationale Gericht muss in seiner Vorlage konkretisierend die Sach- und Rechtslage schildern, in der sich die von ihm aufgeworfenen Fragen stellen. Es muss zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutern, auf denen diese Fragen beruhen. Anderenfalls ist dem EuGH eine sachdienliche, d. h. fallbezogene Auslegung des Unionsrechts kaum mög___________ 119
BVerwG, Beschl. vom 10.1.2012 (Fn. 96).
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lich.120 Dies gilt ganz besonders in solchen Bereichen der Umweltpolitik, die durch komplexe tatsächliche und rechtliche Verhältnisse gekennzeichnet sind. Der EuGH hat allgemeine „Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die innerstaatlichen Gerichte“ veröffentlicht. Der Gerichtshof beschreibt darin aus seiner Sicht, in welcher Weise die Vorlage gestaltet sein sollte.121 Das alles ist dem BVerwG (7. Senat) offenbar unbekannt. Jedenfalls interessiert es nicht. Das BVerwG sagt nämlich nicht einmal, welche Norm der RL 2003/35/EG es für interpretationsbedürftig ansieht. Es heißt in der Vorlagebegründung nur: „Fraglich ist aber, ob die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2003/35/EG fortbestehen kann. Falls dies zu verneinen und die Frage 3 damit im Sinne von b) zu beantworten ist, stellt sich die weitere Frage, welche inhaltlichen Anforderungen an Verfahrensfehler zu stellen sind, damit diese bei der gerichtlichen Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung zugunsten eines Klägers Berücksichtigung finden können (vgl. Frage 3, letzter Teil).“ Das sind recht naive Bemerkungen. Eine innere Begründung enthalten sie nicht. Eine nähere interpretatorische Erörterung fehlt in jeder Hinsicht. Das ist für den EuGH nicht hilfreich. Es ist leider für ein Oberstes Bundesgericht schlicht niveaulos, allein die bisherige eigene Rechtsprechung zur „konkreten Möglichkeit“ einer anderweitigen Entscheidung darzustellen und anschließend nur zu fragen „ob die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2003/35/EG fortbestehen kann.“ Das muss das vorlegende Gericht selbst entscheiden. Für den Verneinungsfall möchte das BVerwG dann noch wissen, welche inhaltlichen Anforderungen an Verfahrensfehler zu stellen sind, damit diese bei der gerichtlichen Anfechtung der verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeit zu berücksichtigen sind. Es wird also nach einer Art Kriterienkatalog im Sinne eines unionsrechtlichen Kochbuchs gefragt. Das wird das BVerwG sich selbst zu überlegen haben. Man darf prophezeien, dass der Gerichtshof eine entsprechende Antwort geben wird. (4) Zwei Gesichtspunkte runden das Bild des Mangels an Professionalität des 7. Senates des BVerwG in concreto ab: Der zuständige Senat bemerkte er___________ 120 Vgl. EuGH, Urt. vom 12.9.1996 – verb. Rs. C-58/95 u. a. – EuGHE 1996, I-4345 = NJW 2003, 2596 – Gantner Electronic GmbH vs. Basch Exploitatie Maatschappij BV; EuGH, Urt. vom 14.7.1998 – Rs. C-284/95 – EuGHE 1998, I-4301 = EuZW 1999, 252 – Safety Hi-Tech Srl vs. S. & T. Srl.; EuGH, Urt. vom 16.7.1992 – Rs. C-83/91 – EuGHE 1992, I-4871 (4932 ff.), Rn. 25, 32 = EuZW 1992, 546 – Wienand Meilicke vs. ADV/ORGA F. A. Meyer AG. 121 Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die innerstaatlichen Gerichte, abrufbar www.curia.eu.int/de/insit/txtdocfr/autrestxts/txt.pdf.
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sichtlich nicht, dass ein anderer Senat desselben Gerichtes längst entschieden hatte, dass die These von der „konkreten Möglichkeit“ im Rahmen UVPpflichtiger Vorhaben aufzugeben sei. Der 4. Senat entschied dies – in einem sehr überlegten obiter dictum – in seinem Urteil vom 20. August 2008.122 Dieses Judikat war eine Abkehr von der vom 7. Senat referierten Rechtsprechung. Der 4. Senat sah sich – zutreffend – nicht zu einer Vorlage an den EuGH veranlasst. Des Weiteren: Sedes materiae ist nicht die RL 2003/35/EG als solche. Man kann exakt beschreiben, welche Norm auslegungsbedürftig ist. Es ist Art. 10a Abs. 2 RL 85/337/EWG, und zwar dort die Worte „hinsichtlich jeder materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Frage“. Eine derartige Präzision wäre jedenfalls wünschenswert gewesen. Es war übrigens dasselbe Auslegungsproblem, dass den belgischen Conseil d’État im Frühjahr 2009 zu einer Vorlage an den EuGH bewogen hatte.123 Dies war – wie behandelt – dem 7. Senat des BVerwG ohnehin nicht bewusst. Das alles ist recht rätselhaft. (5) Auch bei der Frage der Beteiligung der Öffentlichkeit nimmt das BVerwG (7. Senat) an, das § 4 Abs. 1 UmwRG eine abschließende, d.h. kodifizierende Regelung darstellt. Danach wäre nicht nur die grob verfahrensfehlerhafte Beteiligung der Öffentlichkeit, sondern auch die gänzlich unterlassene, obwohl gebotene Öffentlichkeitsbeteiligung für den Bestand der angegriffenen Entscheidung unerheblich. Dieser Testfrage stellt sich das vorlegende Gericht nicht. Es kann indes keinem Zweifel unterliegen, dass der EuGH ein derartiges Ergebnis als offensichtlich unionsrechtswidrig beurteilen wird. Kann man die Kausalitätsfrage bei einer unterlassenen Beteiligung der Öffentlichkeit wirklich sachgerecht beantworten? Das ist wohl schwerlich möglich.124 Die mittelbare Annahme des vorlegenden Gerichtes, auch die unterlassene, aber gebotene Öffentlichkeitsbeteiligung sei in einem UVP-pflichtigen Vorhaben im deutschen Recht in jeder Hinsicht sanktionslos, ist nicht zu verstehen. Spätestens hier hätte das Gericht sein Auslegungsverständnis zu § 4 Abs. 1 UmwRG zu überdenken allen Anlass gehabt. Die Beteiligung der Öffentlichkeit als „zweite Säule“ der Århus-Konvention 1998 ist die zentrale Aussage der unionsrechtlichen Umweltpolitik. Man denke nur an die Plan-UP-RL 2001/42/EG, an die Wasserrahmen-RL 2000/60/EG oder an die Umgebungslärm-RL 2002/49/EG. Für den EuGH ist die verfahrenskorrekte Beteiligung der Öffentlichkeit ebenfalls ein „Herzensanliegen“.125 Es geht dem Gerichtshof um die „Mobilisierung“ der Öf___________ 122
BVerwG, Urt. vom 20.8.2008 (Fn. 105). Conseil d’État (Belgien), (Fn. 73). 124 Kritisch früher bereits Sabine Schlacke, Das neue Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, in: NuR 2007, 8-16 (13); Jan Ziekow, (Fn. 100), S. 265; Martin Kment, (Fn. 60), S. 276; wohl auch ders., in: Werner Hoppe/Martin Beckmann (Hrsg.), UVPG, 4. Aufl. 2012, Einleitung Rn. 48. 125 Vgl. etwa Sabine Schlacke/Christian Schrader/Thomas Bunge, Informationsrechte, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz im Umweltrecht, 2009, S. 420 ff.; Betti123
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fentlichkeit als eine potentielle Gegenmacht zur Durchsetzung einer europäischen Umweltpolitik, flankierend durch eine Informationspolitik.126 Das Ziel der UVP-RL 85/337/EWG ist eine „Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Auswirkungen eines Projekts auf die Umwelt aufgrund konkreter Angaben des Projektträgers“ zu erreichen.127 Der EuGH wird daher die Annahme der Sanktionslosigkeit im deutschen Recht mit leichter Hand markieren. Nach dem in das Unionsrecht eingeführten System der Gewaltenteilung sind die Mitgliedstaaten in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Bestimmungen dafür verantwortlich, die Vorschriften des Unionsrechts in Übereinstimmung mit ihren nationalen Rechtsordnungen umzusetzen, anzuwenden und durchzusetzen, allerdings vorbehaltlich der Erfordernisse des Grundsatzes der Effektivität. Dieser primärrechtliche Grundsatz ist jedenfalls verletzt, wenn die unterlassene oder grob fehlerhafte Beteiligung der Öffentlichkeit sanktionslos bliebe.128 Der Grundsatz der Effektivität kann im Einzelfall so stark in den Vordergrund treten, dass er gegenüber dem deutschen Verfahrensrecht einen Anwendungsvorrang der allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsätze auslöst.129 Eine derartige Lage kann eintreten, wenn das deutsche Verfahrensrecht die Durchset___________ na Werres, Information und Partizipation der Öffentlichkeit in Umweltangelegenheiten nach den Richtlinien 2003/4/EG und 2003/35/EG, in: DVBl 2005, 611-619. Vgl. weiterführend Bilun Müller, Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht der Europäischen Union und ihre Einwirkungen auf das deutsche Verwaltungsrecht am Beispiel des Immissionsschutzrechts, 2010, S. 65 ff., 105 ff. 126 Vgl. Felix Ekardt/Katharina Pöhlmann, (Fn. 8), S. 534; Noreen von Schwanenflug/Sebastian Strohmayr, Rechtsschutz von Kommunen gegen UVP-pflichtige Vorhaben – Änderung durch die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie der EG?, in: NVwZ 2006, 395-401 (399); Jan Ziekow, Strategien zur Umsetzung der Århus-Konvention in Deutschland. Einbettung in das allgemeine Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht oder sektorspezifische Sonderlösung für das Umweltrecht?, in: EurUP 2005, 154164 (162). 127 EuGH, Urt. vom 11.8.1995 (Fn. 97). 128 Vgl. auch EuGH, Urt. vom 16.12.1976 – Rs. 33/76 – EuGHE 1976, 1989, Rn. 5 – Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG vs. Landwirtschaftskammer für das Saarland; EuGH, Urt. vom 16.12.1976 – Rs. 45/76 – EuGH 1976, 2043, Rn. 13 bis 16 – Comet BV vs. Produktschap voor Siergewassen; EuGH, Urt. vom 10.4.1984 – 14/83 – EuGHE 1984, 1891, Rn. 15 – Von Colson und Kamann; vgl. ferner EuGH, Urt. vom 14.12.1995 – Rs. C-312/93 – EuGHE 1995, I-4599, Rn. 12 = DVBl 1996, 249- Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS bs. Belgischer Staat; EuGH, Urt. vom 13.3.2007 – Rs. C-432/05 – EuGHE 2007, I-2271, Rn. 43 = NJW 2007, 3555 – Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern; EuGH, Urt. vom 15.4.2008 – Rs. C-268/06 – EuGHE 2008, I-2483, Rn. 46 – Impact vs. Minister for Agriculture and Food u.a.; EuGH, Urt. vom 7.6.2007 – Rs. C-222/05 u.a. – EuGHE 2007, I-04233, Rn. 28 – J. van der Weerd u.a. vs. Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit. Vgl. auch Anja Kleesiek, (Fn. 99), S. 96 ff. 129 Vgl. EuGH, Urt. vom 22.6.1989 – Rs. 103/88 – EuGHE 1989, 1839 (1870), Rn. 30 f. = DVBl. 1990, 689 = NVwZ 1990, 649 – Fratelli Costanzo SpA vs. Stadt Mailand (Vergaberichtlinie 71/305/EWG).
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zung des Unionsrechts entweder praktisch unmöglich macht oder doch wesentlich erschwert.130 Welche Sanktionen das Unionsrecht für einen Fall der Nichtbeachtung verlangt, behandelt die RL 2003/35/EG nicht. In dem vergleichbaren Fall einer unterlassenen UVP entschied der EuGH, dass als Sanktion entweder die Kassation der angegriffenen Entscheidung oder das Aussetzen des gerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel der Nachholung in Betracht komme.131 Das lässt sich auf die misslungene Öffentlichkeitsbeteiligung ohne weiteres übertragen. Der grundlegende Gedanke der Århus-Konvention 1998 ist, für die Transparenz und Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen durch die Möglichkeit einer effektiven Öffentlichkeitsbeteiligung im Sinne einer Bürgerpartizipation zu sorgen, um damit einen besseren Schutz der Umwelt und eine Steigerung der Umweltqualität zu erreichen. Staatlich unabhängige Einrichtungen wie Umwelt-NGO sollen dabei Umweltinteressen wahrnehmen und sich auch tatsächlich für diese einsetzen können. Das gilt erst recht für eine Beteiligung der „betroffenen“ Öffentlichkeit für näher gekennzeichnete Entscheidungen. Nach Art. 2 Abs. 2 UAbs. 2 Buchst. b) der RL 2003/35/EG hat die Öffentlichkeit das Recht, „Stellung zu nehmen und Meinungen zu äußern, wenn alle Optionen noch offen stehen und bevor Entscheidungen über die Pläne und Programme getroffen werden“. Das gesamte System der zweiten „Säule“ der Århus-Konvention 1998 zielt darauf, die Öffentlichkeit durch eine effektive Beteiligung in den Entscheidungsprozess zu integrieren. 6. Legislatorische Reformarbeiten zum Fehlerprogramm (1) Betrachtet man die entstandene Diskussion, so ist das eingetreten, was der seinerzeitige Referentenentwurf vom 21. Februar 2005 hatte verhindern wollen.132 Der Entwurf hatte, ihm weitgehend folgend noch der Gesetzentwurf ___________ 130
Vgl. EuGH, Urt. vom 24.3.2009 – Rs. C-445/06 – EuGHE 2009, I-2119 = NVwZ 2009, 771 – Danske Slagterier vs. Deutschland (Vorlagebeschluss des BGH vom 12.10.2006 – III ZR 144/05 – NVwZ 2007, 362); EuGH, Urt. vom 9.2.1999 – Rs. C343/96 – EuGHE 1999, I-579 (611), Rn. 25 ff. = NVwZ 1999, 634 – Dilexport vs. Amministrazione delle Finanze dello Stato; EuGH, Urt. vom 11.7.1991 – Rs. C-87/90 bis C-89/90 – EuGHE 1991, I-3757, Rn. 26 = EuZW 1993, 60 – A. Verholen u. a. vs. Sociale Verzekeringsbank Amsterdam. 131 EuGH, Urt. vom 7.1.2004 (Fn. 1); vgl. auch weiterführend Martin Kment, Planerhaltung auf dem Prüfstand: Die Neuerungen der §§ 214, 215 BauGB 2007 europarechtlich betrachtet, in: DVBl 2007, 1275-1282; ders., Die Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften im europäischen Recht, in: EuR 2006, 201-235. 132 Entwurf (G I 4-42120-6/0), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Referat G I 4 Berlin, 21.2.2005, vgl. Fn. 20, vgl. dazu auch Lothar Knopp, (Fn. 41), S. 283 f.; Christian Schrader, (Fn. 41).
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der Bundesregierung vom 4. September 2006 (BT-Drs. 16/2495), ein „offenes“ und vollständiges Fehlerprogramm mit folgender Fassung vorgeschlagen: „(1) Abweichend von § 46 VwVfG oder den entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen kann die Aufhebung einer Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 verlangt werden, wenn wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt worden sind. Wesentliche Verfahrensvorschriften im Sinne von Satz 1 sind verletzt, wenn 1. nach den Bestimmungen des Gesetzes über die UVP, nach der VO über die UVP bergbaulicher Vorhaben oder nach entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften a) eine erforderliche UVP oder b) eine erforderliche Vorprüfung des Einzelfalles über die UVP-Pflichtigkeit, oder 2. einer oder mehrere vorgeschriebene Verfahrensschritte der UVP a) nach § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 bis 4 (Vorlage der entscheidungserheblichen Unterlagen über die Umweltauswirkungen des Vorhabens), § 7 Satz 1 (Beteiligung anderer Behörden), § 8 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 2 und 3 (Grenzüberschreitende Behördenbeteiligung), § 9 (Beteiligung der Öffentlichkeit), § 9a Abs. 1 (Grenzüberschreitende Öffentlichkeitsbeteiligung) des UVPG oder die Bewertung der Umweltauswirkungen nach § 12 des UVPG oder b) nach den entsprechenden Vorschriften des Bergrechts oder nach entsprechenden landes-rechtlichen Vorschriften nicht durchgeführt worden sind. § 45 Abs. 2 des VwVfG und andere entsprechende Rechtsvorschriften bleiben unberührt.“
Gegen diese Gesetzesfassung erhob der Bundesrat grundsätzliche Einwände. Nach seiner Auffassung ginge die Einräumung einer Klagemöglichkeit für Umweltvereinigungen und Privatpersonen gegen Zulassungsentscheidungen, die unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften der UVP zu Stande gekommenen sind, „über das europarechtlich zwingend Gebotene hinaus und würde zu gravierenden Verzögerungen volkswirtschaftlich bedeutsamer Planungs- und Investitionsentscheidungen führen“. Der Bundesrat empfahl deshalb, die Bestimmung ganz zu streichen.133 Die dann Gesetz gewordene Fassung geht auf eine die Ansicht des Bundesrats aufgreifende Empfehlung des federführenden Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zurück.134 Zudem hielt man die von der Bundesregierung vorgesehene Fassung für zu unbestimmt und damit zu weit gehend. Diese fehlende Flexibilität der ___________ 133 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 22.9.2006 (BR-Drs. 552/06 [Beschluss]). 134 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht vom 8.11.2006 (BT-Drs. 16/3312).
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Gesetz gewordenen Fassung rächt sich jetzt. Das BVerwG (7. Senat) ist ein erstes Opfer. (2) Der bereits erwähnte Referentenentwurf des BMU vom 14.12.2011 (ZG III 4 42120-11/10) sieht hinsichtlich des § 4 Abs. 1 UmwRG eine Ergänzung vor. „Satz 1 Nummer 1 gilt auch, wenn eine durchgeführte Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit nicht dem Maßstab von § 3a Satz 4 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung genügt.“
In der Begründung des Referentenentwurfs heißt es, dass die vorgeschlagene Ergänzung der „Klarstellung“ diene. Wenn die zuständige Behörde eine UVP-Vorprüfung im Einzelfall durchgeführt und im Ergebnis eine UVPPflicht verneint habe, bestehe hiergegen das subjektiv-öffentliche Rügerecht nach § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UmwRG. Im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens sei dann zu prüfen, ob die Erforderlichkeit einer UVP zu Unrecht abgelehnt worden sei, weil die behördliche Vorprüfung nicht dem Mindestmaßstab von § 3a S. 4 UVPG genüge. Der Referentenentwurf sieht diese „Klarstellung“ als notwendig an, da einzelne Verwaltungsgerichte § 4 UmwRG einengend auslegten und damit dem Sinn dieser Vorschrift und dem bestehenden Zusammenhang mit § 3a Satz 4 UVPG nicht gerecht würden.135 So hat in der Tat der VGH Kassel (2008, 2009) entschieden, dass als Verfahrensfehler im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 1 UmwRG in Fällen der Vorprüfung grundsätzlich nur das gänzliche Fehlen, nicht aber die fehlerhafte Durchführung einer Vorprüfung des Einzelfalls gerügt werden kann.136 Diese Auffassung verkennt nach Ansicht des Referentenentwurfs, dass es nach § 4 Abs. 1 S. 1 Nr.1 UmwRG allein darauf ankommt, ob eine nach dem UVPG erforderliche UVP nicht durchgeführt worden ist. Das Unterbleiben einer UVP könne sowohl auf der Nichtanwendung als auch auf der fehlerhaften Anwendung von Vorschriften beruhen, die das Bestehen einer UVP-Pflicht regelten. Hierzu gehörten unter anderem sowohl § 3b Abs. 1 UVPG in Verbindung mit Spalte 1 der Anlage 1 zum UVPG (zwingende UVP-Pflicht) als auch § 3c UVPG in Verbindung mit Spalte 2 der Anlage 1 zum UVPG (UVP-Pflicht im Einzelfall). Diese Kritik ist berechtigt: Würde § 4 Abs. 1 S. 1 UmwRG die Fälle einer (möglicherweise) fehlerhaften Vorprüfung der UVP-Pflichtigkeit nicht erfassen, könnte die Vorschrift des § 3a S. 4 UVPG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren jedenfalls der Verbandsklage keine praktische Relevanz entfalten. ___________ 135
Vgl. zutreffend kritisch im Hinblick auf einen denkbaren Systemfehler Jan Ziekow, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Rechtsschutzes, in: NVwZ 2007, 259-267 (265), undeutlich Martin Kment, in: Werner Hoppe/Martin Beckmann (Hrsg.), UVPG, 4. Aufl. 2012, UmwRG § 4 Rn. 12 f. 136 Vgl. VGH Kassel, Urt. vom 24.9.2008 (Fn. 62); VGH Kassel, Urt. v. 16.9.2009 (Fn. 44).
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Das Zusammenspiel zwischen § 3a S. 4 UVPG einerseits und § 4 Abs. 1 UmwRG andererseits ist seinerzeit nur nicht hinreichend normativ umgesetzt worden. Das hat der VGH Kassel richtig erkannt. Der Referentenentwurf will diesen Mangel beseitigen.137 Die weiterführende Frage, ob § 3a Satz 4 UVPG überhaupt den Erfordernissen des Art. 10a Abs. 2 UVP-RL 85/337/EWG (nunmehr Art. 11 RL 2011/92/EG) genügt, stellt sich der Entwurf aus naheliegenden Gründen nicht.
III. Befunde und Entwicklung hinsichtlich (Art. 9 Abs. 3 Århus-Konvention) 1. Der slowakische Braunbär – EuGH, Urteil vom 8. März 2011 (Rs. C-240/09) (1) Die Rechtsschutzregelung des Art. 9 Abs. 3 AK statuiert eine allgemeine umweltrechtsbezogene Verbandsklage. Klagebefugt sind nach dieser Vorschrift „Mitglieder der Öffentlichkeit“, also nicht nur die betroffene Öffentlichkeit, sondern jedermann. Des Weiteren ist der Klagegenstand des Art. 9 Abs. 3 sehr umfassend. Vor Gericht angefochten werden können Handlungen und begangene Unterlassungen, die gegen umweltbezogene Bestimmungen des jeweiligen innerstaatlichen Rechts verstoßen. Dieser Bereich beschränkt sich also nicht einmal auf das unionsrechtlich vorgegebene Umweltschutzrecht. Die Konventionsparteien haben die Möglichkeiten des Art. 9 Abs. 2 AK nicht für ausreichend angesehen, um die Zielsetzung des Übereinkommens nur durch das gerichtliche Verfahren nach Art. 9 Abs. 2 AK justiziell hinreichend zu flankieren. Sie gehen also über das Unionsrecht weit hinaus. Das ist konsequent. Denn nicht jeder Konventionsstaat gehört auch der EU an. Daher haben sie in Art. 9 Abs. 3 – nämlich „unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 ge___________ 137 Es wirkt wie eine Entschuldigung, wenn der nunmehrige Referentenentwurf vom 14.12.2011 auf eine Äußerung in BTags-Drs. 16/2495, S. 11 (Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG – Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) verweist. Dort heißt es: „Wird dabei das Ergebnis der behördlichen Vorprüfung bestätigt, erübrigt sich eine weitere Prüfung des Rechtsbehelfs. Wurde eine Vorprüfung des Einzelfalls allerdings entgegen den gesetzlichen Vorgaben nicht durchgeführt, kann dies nach §4 Abs. 1 Satz 2 des vorliegenden Gesetzes einen schwerwiegenden Verfahrensfehler darstellen. Hier muss eine Vorprüfung des Einzelfalls nachgeholt werden, sofern eine Bestätigung der Entscheidung letztlich in Betracht kommen soll.“ Der jetzige Referentenentwurf übersieht, dass die Fassung des damaligen Regierungsentwurfs vom 4.9.2006, der noch von der Maßgeblichkeit „schwerwiegender Verfahrensfehler“ ausging, nicht Gesetz wurde. Nicht den Verwaltungsgerichten ist eine bestimmte Judikatur vorzuhalten. Vielmehr hatte der Gesetzgeber selbst im parlamentarischen Verfahren den Durchblick verloren.
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nannten Überprüfungsverfahren“ – eine Erweiterung vorgenommen, die sie allerdings formal der Umsetzung des jeweiligen Konventionsstaates überantworten. Nach Maßgabe nationalen Rechts sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass solche Handlungen oder Unterlassungen angefochten werden können, „die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen“. Dieser Konventionstext ist mit der parlamentarischen Ratifizierung seit Anfang 2007 in Deutschland völkerrechtsgebundenes Recht. Legislatorische Konsequenzen haben der Bund oder die Länder aus diesem Status allerdings bislang nicht gezogen. Es hat erkennbar auch keine politische Kraft gekümmert, dass gegen Deutschland vor dem Compliance Committee des UN ECEAarhus-Übereinkommens ein Verfahren gegen zur Ausgestaltung der Umweltverbandsklage nach dem UmwRG anhängig gemacht wurde (Az. ACCC/C/2008/31). In der Begründung des Gesetzes zur Ratifizierung der Århus-Konvention bleibt Art. 9 Abs. 3 AK unerwähnt.138 Indes ist es durchaus üblich, im parlamentarischen Ratifizierungsverfahren den zu ratifizierenden Text inhaltlich nicht näher zu kommentieren. (2) Dieses nationale Desinteresse an der Umsetzung des Art. 9 Abs. 3 AK könnte sich jetzt rächen. Der EuGH hat sich in seinem Urteil vom 3. März 2011 erstmals mit der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 AK befasst.139 Der Gerichtshof hat die Bestimmung – durchaus überraschend – unionsrechtlich und damit innergemeinschaftlich „aktiviert“. Zum Sachverhalt: Die Klägerin (Lesoochranárske zoskupenie VLK) ist eine Personenvereinigung, die in der Slowakischen Republik im Bereich des Umweltschutzes tätig ist. Sie entspricht einem deutschen Umweltverein. Anfang 2008 wurde die Klägerin darüber informiert, das zuständige Ministerium habe dem Antrag einer Jagdvereinigung stattgegeben, vom Schutz der geschützten Tierart Braunbär Ausnahmen zuzulassen. Der Braunbär (ursus arctos) wird in Anhang II der FFH-RL 92/43/EG als Tierart von gemeinschaftlichem Interesse aufgeführt, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen.140 Nach Anhang IV ist der Braunbär eine streng zu schützende Tierart. Die Klägerin ___________ 138
Entwurf der BReg. eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Übereinkommen) vom 4.9.2006 (BTags-Drs. 16/2497). 139 EuGH, Urt. vom 8.3.2011 (Fn. 27). Vgl. dazu Jörg Berkemann, (Fn. 43); Bilun Müller, (Fn. 52); Liane Radespiel, Zur unmittelbaren Wirkung von Art. 9 Abs. 3 der Aarhus Konvention im Unionsrecht sowie zur Auslegung dieser Norm im Sinne eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, in: ZUR 2011, 238-240; Eckard Rehbinder, (Fn. 31); Sabine Schlacke, Stärkung überindividuellen Rechtsschutzes zur Durchsetzung des Umweltrechts. Zugleich Anmerkung zu EuGH, Urt. vom 8. März 2011 – Rs. C240/09, in: ZUR 2011, 312-316. 140 RL 92/43/EWG vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7).
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beantragte, das Ministerium solle sie bei weiteren Verwaltungsverfahren, die Ausnahmen zum Gegenstand hätten, beteiligen. Das Ministerium lehnte dies ab. Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht. Darin machte sie geltend, in den fraglichen Verfahren seien ihre Rechte und rechtlich geschützten Interessen aus dem Århus-Übereinkommen unmittelbar betroffen. Das Übereinkommen habe auch unmittelbare Wirkung. Das erstinstanzliche Gericht folgte diesem Vorbringen nicht und wies die Klage ab. Die Klägerin rief nunmehr im Rechtsmittelverfahren den Obersten Gerichtshof der Slowakei an. Dieser legte dem EuGH im Verfahren der Vorabentscheidung mehrere Fragen vor. Der slowakische Gerichtshof war vor allem an einer Antwort interessiert, ob Art. 9 Abs. 3 AK als Bestandteil der Gemeinschaftsordnung in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar sei und ob Art. 9 Abs. 3 AK die klassische Konzeption der Aktivlegitimation verändert habe. Würden diese Fragen zu bejahen sein, wollte der Gerichtshof ergänzend wissen, ob Art. 9 Abs. 3 AK dahin ausgelegt werden könne, dass unter den Begriff „von … Behörden vorgenommene Handlungen“ auch die Handlung zu fassen sei, die im Erlass einer Entscheidung bestehe, mit der Folge, dass die Möglichkeit des Zugangs der Öffentlichkeit zum gerichtlichen Verfahren selbst auch das Recht umfasse, die Entscheidung der Behörde anzufechten, deren Rechtswidrigkeit sich auf die Umwelt auswirke. In ihren Schlussanträgen votierte die GAin Sharpston dahin, dass es Sache der nationalen Gerichte sei, zu bestimmen, ob Art. 9 Abs. 3 AK in ihrer eigenen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung habe.141 Denn die EU habe nach ihrem Beitritt zu diesem völkerrechtlichen Vertrag bis heute keine Rechtsvorschriften zur Inkorporierung dieser speziellen Vorschrift des Übereinkommens in die Unionsrechtsordnung in Bezug auf die den Mitgliedstaaten daraus erwachsenden Verpflichtungen erlassen. (3) Die Entscheidung des EuGH ist unerwartet „unionsfreundlich“.142 Sie verlangt große Aufmerksamkeit. Bei ihr geht es nicht um Querelles d’Allemands. Vielmehr handelt es sich möglicherweise um einen umfassenden, zentralen Zugriff des EuGH zur Durchsetzung auch des nationalen Umweltschutzrechtes. Damit würde der Gerichtshof in eine neue Dimension seiner Integrationsabsichten vorstoßen. Die vorgelegte zentrale Frage, ob aus Art. 9 Abs. 3 AK eine innerstaatliche Klagebefugnis abgeleitet werden könne, besitzt bereits außerordentliche Brisanz. Das wird im nachfolgend mitgeteilten Leitsatz nur versteckt sichtbar. Es ist eine „geteilte“ Entscheidung. Der Leitsatz enthält zwei trennbare Aussagen: Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in
___________ 141 142
GAin Sharpston, Schlussanträge in der Rs. C-240/09 Rn. 69 ff. Vgl. im nachfolgenden Text ähnlich bereits der Autor, (Fn. 43).
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Umweltangelegenheiten, das mit dem Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, hat im Unionsrecht keine unmittelbare Wirkung. Das vorlegende Gericht hat jedoch das Verfahrensrecht in Bezug auf die Voraussetzungen, die für die Einleitung eines verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Überprüfungsverfahrens vorliegen müssen, so weit wie möglich im Einklang sowohl mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 dieses Übereinkommens als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltschutzvereinigung wie dem Lesoochranárske zoskupenie zu ermöglichen, eine Entscheidung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens ergangen ist, das möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht, vor einem Gericht anzufechten.
Die Vorlagefrage selbst wird im ersten Satz deutlich verneint. Danach hat Art. 9 Abs. 3 AK im Unionsrecht keine unmittelbare Wirkung. Anderes war kaum zu erwarten. Obwohl die Århus-Konvention 1998 ein gemischtes Abkommen ist, hindert dies natürlich nicht, die Teilfragen zu trennen. Das unternimmt der Gerichtshof und folgt damit uneingeschränkt, wenngleich mit eigener Diktion, den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston. Das einzige Entgegenkommen gegenüber dem vorlegenden Gericht, so könnte man denken, ist die Annahme der Zulässigkeit der Vorlage. Der Gerichtshof bejaht dazu seine Prüfungskompetenz.143 Das Ergebnis hält sich in üblichen Bahnen, auch wenn die Schlussanträge der GAin Sharpston einen breiten argumentativen Aufwand zeigen. Mit der verneinenden Antwort hätte es eigentlich sein Bewenden haben können. Der EuGH tastet sich indes an eine zweite Aussage heran. In der Rückblende erkennt man, dass dies argumentativ durchaus zielstrebig geschieht. Daher bleibt es spekulativ, ob die beiden voneinander abgrenzbaren Sätze des Leitsatzes des Gerichtshofes einer schwierigen Meinungsbildung innerhalb der streitentscheidenden Großen Kammer geschuldet sind.144 Der ___________ 143 Vgl. u. a. EuGH, Urt. vom 30.4.1974 – Rs. 181/73 – EuGHE 1974, 449, Rn. 4 ff. – R. & V. Haegeman vs. Belgischer Staat; EuGH, Urt. vom 26.10.1982 – Rs. 104/81 – EuGHE 1982, 3641, Rn. 13 – Hauptzollamt Mainz vs. C.A. Kupferberg & Cie KG a.A.; EuGH, Urt. vom 10.7.1985 – Rs. 118/83 – EuGHE 1985, 2583, Rn. 20 – CMC Cooperativa muratori e cementisti u.a. vs. Kommission; EuGH, Urt. vom 30.9.1987 – Rs. 12/86 – EuGHE 1987, 3719, Rn. 7 – Meryem Demirel vs. Stadt Schwäbisch Gmünd; EuGH, Urt. vom 10.1.2006 – Rs. C-344/04 – EuGHE 2006, I-403, Rn. 36 = NJW 2006, 351 – International Air Transport Association und European Low Fares Airline Association vs. Department for Transport; EuGH, Urt. vom 30.5.2006 (Fn. 23). 144 Nicht ohne Reiz ist es, die Richtbänke zu vergleichen: Richterbank Rs. C-240/09 (Große Kammer): Präsident V. Skouris, die Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.C. Bonichot (Berichterstatter), K. Schiemann und D. Šváby, der Richter A. Rosas, die Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter U. Lõhmus, A.Ó Caoimh und M. Safjan sowie die Richter M. Berger; Generalanwältin: E. Sharpston – Richterbank Rs. C-115/09 (Vierte Kammer): Kammerpräsident J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Richter K. Schiemann, A. Arabadjiev und L. Bay Larsen sowie die Richterin C. Toader; Generalanwältin: E. Sharpston.
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EuGH führt in seiner Begründung zunächst aus: Die AK sei integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung. Gleichwohl sei es erforderlich, die von der Union übernommenen Verpflichtungen von denjenigen abzugrenzen, für die allein die Mitgliedstaaten verantwortlich blieben.145 Der EuGH hält es für allerdings möglich, dass eine „spezielle Frage“, zu der bislang noch keine Rechtsvorschriften der Union ergangen sind, dem Unionsrecht unterliegt, wenn sie bereits in einer völkerrechtlichen Vereinbarung geregelt wurde und die Vereinbarung sowohl von der Union als auch von ihren Mitgliedstaaten geschlossen wurde. In dieser Auffassung schimmert der Gedanke des self-executing durch, den der Gerichtshof bei nicht umgesetzten Richtlinien inzwischen in großer Bandbreite praktiziert. Auch die innerstaatlich nicht alsbald umgesetzte ÅrhusKonvention ist ein säumiges Verhalten. Der EuGH formuliert hier ähnlich. Dann müsse allerdings dem Abkommen eine klare und präzise Verpflichtung zu entnehmen sein, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Rechtsakts abhängen.146 Der EuGH verneint diese Voraussetzungen für Art. 9 Abs. 3 AK. Das Abkommen enthalte keine klare und präzise Verpflichtung, welche die rechtliche Situation Einzelner unmittelbar regeln könnte. Daher sei es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht, hier der RL 92/43/EG, erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Das Ergebnis ist in Abgrenzung zu Art. 9 Abs. 2 AK einleuchtend. Eine Auslegung des Art. 9 Abs. 3 AK kann schwerlich dieselbe Intention erreichen, welche gesondert in Art. 9 Abs. 2 AK vereinbart wurde. Die Kommission selbst hatte mit ihrer Parlamentsvorlage vom 24. Oktober 2003 angenommen, es bedürfe der unionsrechtlichen Umsetzung des Art. 9 Abs. 3 AK (KOM(2003) 624 endg.) und war mit ihrem entsprechenden Richtlinienvorschlag gescheitert. Dieser Vorgang bleibt beim EuGH unerwähnt, er setzt sich vielmehr über das politische Scheitern schweigend hinweg. Das hat durchaus ein demokratisches „Geschmäckle“, zeigt aber auch einen Gerichtshof, der es in seinem Integrationsbemühen leid ist, Versäumnisse politischer Instanzen nur diagnostizieren zu können. Dafür kann man Verständnis haben. Immerhin gibt es einen immanenten Widerspruch. Die Union hat mit der Unterzeichnung der Århus-Konvention ihrerseits zugesagt, dass sie im Rahmen ___________ 145
So auch EuGH, Urt. vom 14.12.2000 – Rs. C-300/98 und C-392/98 – EuGHE 2000, I-11307, Rn. 33 = EuGRZ 2001, 27 – Parfums Christian Dior SA vs. TUK Consultancy BV u.a. (TRIPS-Abkommen); EuGH, Urt. vom 11.9.2007 (Fn. 26). 146 Vgl. EuGH, Urt. vom 12.4.2005 – Rs. C-265/03 – EuGHE 2005, I-2579, Rn. 21 = EuZW 2005, 337 – Igor Simutenkov vs. Ministerio de Educación y Cultura und Real Federación Española de Fútbol; EuGH, Urt. vom 13.12.2007 – Rs. C-372/06 – EuGHE 2007, I-11223, Rn. 82 – Asda Stores Ltd vs. Commissioners of Her Majesty’s Revenue and Customs.
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der Anwendung des Unionsrechts sicherstellen wird, dass die Mitgliedstaaten adäquates Prozessrecht haben, um umweltbezogene Bestimmungen unionsrechtlicher Qualität gerichtlich durchsetzen zu können. Gleichzeitig soll sie nach Maßgabe ihres Primärrechtes die prozessuale Verfahrensautonomie ihrer Mitgliedstaaten respektieren. Offenkundig will der EuGH diesen als Widerspruch angesehenen Zustand behutsam auflösen. Das geschieht in einem kaum zu erwartenden obiter dictum. Der Gerichtshof meint: Der nationale Richter habe, wenn eine vom Unionsrecht und insbesondere eine durch RL 92/43/EG geschützte Tierart betroffen sei, sein nationales Recht im Hinblick auf die Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Umweltrecht der Union erfassten Bereichen so auszulegen, dass es so weit wie möglich im Einklang mit den in Art. 9 Abs. 3 AK festgelegten Zielen stehe. Richtig daran ist ohne Frage, dass das jeweilige unionsrechtliche Umweltschutzrecht als „umweltbezogene Bestimmung“ des innerstaatlichen Rechts im Sinne des Art. 9 Abs. 3 AK verstanden werden kann. Aus der Sicht des Konventionsrechtes ist es nämlich gleichgültig, aus welchen Rechtsquellen sich das innerstaatliche Recht speist. Dass dazu auch fallbezogenen die RL 92/43/EG und der in der Richtlinie bestimmte Artenschutz gehört, ist nicht zweifelhaft. Der EuGH meint dazu erläuternd: Wenn eine Vorschrift sowohl auf Sachverhalte, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen, als auch auf Sachverhalte, die dem Unionsrecht unterliegen, anzuwenden ist, besteht ein klares Interesse daran, dass diese Vorschrift unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, einheitlich ausgelegt wird. Es müsse eine voneinander abweichende Auslegung verhindert werden.147 Das ist gewiss einleuchtend und eröffnet dem Gerichtshof insoweit eine interpretierende Prüfungskompetenz im Falle der Koinzidenz der Bestimmungen. Der EuGH geht indes darüber in extremer Weise hinaus. Das nationale Gericht habe sein Verfahrensrecht soweit wie möglich im Einklang sowohl mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 AK als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltschutzvereinigung zu ermöglichen, eine Entscheidung, die möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht, vor einem nationalen Gericht anzufechten. Man täusche sich nicht. Die benutzte Wendung „soweit wie möglich“ („to the fullest extent possible“) liest sich zunächst nur als eine vorsichtige Ermunterung für das vorlegende Gericht. Tatsächlich greift der Gerichtshof weit in die prozessuale Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ein. Eine Beteiligung der Öffentlichkeit ist in der RL ___________ 147
Vgl. EuGH, Urt. vom 17.7.1997 – Rs. C-130/95 – EuGHE 1997, I-4291, Rn. 28 = EuZW 1997, 726 – Bernd Giloy vs. HZA Frankfurt am Main-Ost; EuGH, Urt. vom 16.6.1998 – Rs. C-53/96 – EuGHE 1998, I-3603, Rn. 32 = NJW 1999, 2103 – Hermès International vs. FHT Marketing Choice BV (zu Art. 50 TRIPS).
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92/43/EG nicht einmal im Ansatz angelegt. Mit dem Judikat liegt vielmehr eine rechtsschöpferische Entscheidung vor, für deren Ergebnis eine Begründung kaum gegeben wird. Gleichwohl lohnt es sich, den Begründungsversuch des Gerichtshofs sich näher anzusehen. Nur dann erhält man eine gewisse Möglichkeit, die Tragweite des Judikates für weitere Konfliktlagen abzuschätzen. In Gründen heißt es in den maßgebenden vier kurzen Absätzen: 48. Dabei dürfen nach gefestigter Rechtsprechung die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil Impact, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49. Daher kann – ohne den effektiven Schutz des Umweltrechts der Union in Frage zu stellen – nicht in Betracht gezogen werden, Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus so auszulegen, dass die Ausübung der durch das Unionsrecht gewährleisteten Rechte praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde. 50. Daraus folgt, dass der nationale Richter dann, wenn eine mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Habitatrichtlinie geschützte Art betroffen ist, sein nationales Recht im Hinblick auf die Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Umweltrecht der Union erfassten Bereichen so auszulegen hat, dass es so weit wie möglich im Einklang mit den in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus festgelegten Zielen steht. 51. Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahrensrecht in Bezug auf die Voraussetzungen, die für die Einleitung eines verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Überprüfungsverfahrens vorliegen müssen, so weit wie möglich im Einklang sowohl mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltschutzorganisation wie dem Zoskupenie zu ermöglichen, eine Entscheidung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens ergangen ist, das möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht, vor einem Gericht anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2007, Unibet, C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnr. 44, und Impact, Randnr. 54).
Sieht man sich diese Begründung näher an, dann bemerkt man, auf welch unsicherem Boden sich der Gerichtshof argumentativ bewegt. Es herrscht erkennbar der rechtspolitische Wille, weniger das tragende juristische Argument. Dieser Befund macht es schwer, die weitere Entwicklung dieser hier begonnenen Judikatur einzuschätzen. Der Gerichtshof verweist zunächst auf seine Judikatur, nach der die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet seien müssten als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Rn. 48).
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Die Klagen dürften die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.148 Beide Grundsätze gehören zum Standardrepertoire des Gerichtshofes.149 Aber die Begründungsweise befindet sich in außerordentlicher Nähe der Zirkularität. Nach dem konkreten Sachverhalt steht fest, dass es im slowakischen Recht insoweit keine Möglichkeit der Klage gibt. Es war vielmehr gerade die Frage, ob es eine entsprechende Klagebefugnis geben müsste. Die Frage nach der Äquivalenz ist mithin zu verneinen. Damit stellt sich insoweit auch die Frage der Effektivität nicht. Sie kann nur in einem ganz anderen Sinne aufgeworfen werden. Damit nähert man sich der eigentlichen These des Gerichtshofes. Es geht ihm darum, die prozessuale Durchsetzungsfähigkeit des materiellen Umweltschutzrechtes der EU zu erreichen. Oder anders, wie es Rn. 49 deutlicher sagt: Der effektive Schutz des materiellen Umweltrechts der Union darf nicht in Frage gestellt werden. Fehlt eine prozessuale Möglichkeit der Durchsetzung, wird nach der Sicht des Gerichtshofes die Ausübung der durch das Unionsrecht gewährleisteten Rechte praktisch unmöglich gemacht. Das ist nichts anderes als der statuierte Rechtssatz, das Unionsrecht verlange, dass das gesetzte materielle Unionsrecht im Mitgliedstaat stets durchsetzungsfähig sein müsse. Eine genauere Begründung wird für diese Auffassung nicht gegeben. Der gebildete Rechtssatz wird nur dekretiert. Immerhin ließe sich für den Umweltschutzbereich auf ein prozessuales Verständnis des Schutzgebotes des Art. 191 Abs. 2 AEUV rekurrieren. In Rn. 50 zieht der EuGH aus seiner These alsdann die prozessuale Folgerung, dass der nationale Richter dann, wenn unionsrechtliches Umweltschutzrecht im Mittelpunkt stehe, sein nationales Recht so auszulegen habe, dass es so weit wie möglich eine Durchsetzung erlaube. Der Gerichtshof übergeht damit die sich zunächst öffnende Frage, ob ein defizitäres nationales Prozessrecht eine unionsrechtliche – hier also wohl primärrechtliche – Handlungspflicht des Mitgliedstaates begründet, dieses diagnostizierte prozessuale Defizit zu beseitigen. In dogmatischer Sicht würde dies verlangen, den Mitgliedstaat ggf. im Vertragsverletzungsverfahren aufzufordern, das benötigte nationale Prozessrecht zu schaffen. Der Gerichtshof übergeht diese Überlegung und wendet sich in rechtlicher Pragmatik sofort dem Modus einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 9 Abs. 3 AK zu. Hier ist der eigentliche Bruch seiner Argumentation. Es war zunächst zutreffend festgestellt worden, dass Art. 9 Abs. 3 AK keine unmittelbare Wirkung habe, sondern den Erlass ___________ 148
EuGH, Urt. vom 15.4.2008 (Fn. 128). EuGH, Urt. vom 15.4.2010 – Rs. C-542/08 – EuGHE 2010, I-3189, Rn. 19, 28 – Friedrich G. Barth vs. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Österreich); EuGH, Urt. vom 26.1.2010 – Rs. C-118/08 – EuGHE 2010, I-635, Rn. 31, 33 = EuGRZ 2010, 183 – Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL vs. Administración del Estado; EuGH, Urt. vom 30.9.2003 – Rs. C-224/01 – EuGHE 2003, I-10239, Rn. 58 = DVBl 2003, 1516 = NVwZ 2004, 79 – Gerhard Köbler vs. Republik Österreich. 149
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eines weiteren Rechtsaktes bedinge. Diesen gibt es weder unionsrechtlich noch im Ausgangsfall innerstaatlich. Damit fehlt es für eine unionsrechtskonforme Auslegung an einem Objekt der Interpretation. Wenn der Gerichtshof gleichwohl Art. 9 Abs. 3 AK mit einem unionsrechtlichen Inhalt auffüllt, dann ist dies eine Art Scheinmanöver. In Wahrheit soll die These der Parallelität von materiellem Umweltschutzrecht der EU und unionsrechtlich bezogenem Prozessrecht durchgesetzt werden. Dafür mag sich – fallbezogen – Art. 9 Abs. 3 AK als eine interpretatorische Einflugschneise anbieten. Damit ist eine vordergründige Legitimationsbasis reklamiert. Für die grundsätzlichen Erwägungen des Gerichtshofes ist diese indes konstruktiv nicht nötig. Das Ergebnis des EuGH hat mithin kaum noch etwas mit der Vorgabe des Art. 9 Abs. 3 AK zu tun. Das macht es recht schwer, eine weitere Rechtsprechung des EuGH zu prognostizieren. Die tragenden Motive des Gerichtshofes sind indes unschwer zu erkennen. Es ist die Mobilisierung der Öffentlichkeit zur Durchsetzung des unionsrechtlichen materiellen Umweltschutzes. Die Klagebefugnisse gerade von Verbänden, die keine eigenen Rechtsverletzungen, sondern Verletzungen objektiven Umweltrechts geltend machen könnten, sollen erkennbar gestärkt werden. Aber der Gerichtshof sieht sich auf dem prozessual richtigen Weg. Die Psychologie ist auf seiner Seite. Wer mit Art. 9 Abs. 3 AK auch als EU etwas verspricht und dies nicht einhält, kann sich als Mitgliedstaat nicht beklagen. Dieser einfachen Richterweisheit folgt hier der EuGH. Daher wird man erwarten können, dass der EuGH auch in künftigen Fällen, in denen eine Öffentlichkeit gehindert wird, innerstaatliches Prozessrecht in Fällen des unionsrechtlichen Umweltschutzrechtes in Anspruch zu nehmen, kreativ entscheiden wird. Ob sich Art. 9 Abs. 3 AK gegenüber § 42 Abs. 2 VwGO damit als unmittelbar wirksamer Prozessrechtssatz durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Das Ende der deutschen Schutznormtheorie für den Bereich des unionsrechtlichen Umweltschutzrechtes ist damit auch hier sichtbar. 2. Juridische Entwicklungsmöglichkeiten (1) Die Wirkungen des Urteils des EuGH vom 8. März 2011 für die verwaltungsgerichtliche Spruchpraxis sind sehr schwer einzuschätzen. Das beruht auf der überraschenden Ableitung der leitsatzmäßigen Aussage des Gerichtshofes. Dieser lassen sich immerhin Hinweise entnehmen. Die Sichtweise des EuGH ist eine Verpflichtung zur sachgerechten Interpretation des nationalen Verfahrensrechts im Sinne einer Effektuierung. Man bemerkt, dass der Gedanke des effet utile bestimmend sein soll. Zielvorgabe ist der Zweck des Art. 9 Abs. 3 AK. Dieser wird dahingehend bestimmt, dass im Sinne eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ein Kläger befugt sein muss, eine Entscheidung, die möglicherweise im Widerspruch zum Umwelt-
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recht der Union steht, anzugreifen. Insoweit darf man das Judikat als eine prozessuale Ermunterung verstehen. Umgekehrt werden Aussagen zur inhaltlichen Prüfungskompetenz vermieden. Das war allerdings vom Ausgangsfall auch nicht intendiert. Da Anknüpfungspunkt das nationale „Verfahrensrecht“ ist, kann dieses sowohl dem Verwaltungsverfahren als auch dem nationalen Prozessrecht angehören. Beide Rechtsbereiche sollen nach Meinung des EuGH ersichtlich konventionskonform interpretiert werden, soweit dies „möglich“ ist. Das ist der Fall, wenn der jeweilige Text nach seinem Wortlaut sich einer exegetischen Ausdeutung öffnet, also keine strikte, d.h. abdrängende Bindung erkennen lässt. § 42 Abs. 2 VwGO würde dies für die Klagebefugnis insoweit erlauben, als Art. 9 Abs. 3 AK in dem Verständnis des Gerichtshofes gerade „anderes“ bestimmt. Wie die Beurteilung des Ausgangsfalls fallbezogen bestätigt, geht es dem EuGH gerade darum, eine irgendwie geartete „Schutznormtheorie“ zugunsten des Umweltverbandes durch eine Vorrangregel zugunsten des Art. 9 Abs. 3 AK auszuschalten. Auf die subjektiv-rechtliche Betroffenheit kann und soll es nicht ankommen. Leider sind die dogmatischen Ableitungen der Begründung so knapp, dass es wohl noch einiger weiterer erläuternder Judikate des Gerichtshofes bedarf. (2) Inzwischen hat das VG Wiesbaden (2011) versucht, die Entscheidung des EuGH in die Praxis umzusetzen.150 Die erhobenen Klagen richteten sich darauf, dass das beklagte Land einen vorhandenen Luftreinhalteplan ändern solle. Kläger sind ein Anlieger an einer Straßenkreuzung und ein anerkannter Umweltschutzverband. Das VG gab den als zulässig angesehenen Klagen statt. Das Gericht meint, die unmittelbar betroffene Anlieger und der Umweltschutzverband hätten Anspruch auf einen Luftreinhalteplan. Dieser müsse geeignete Maßnahmen enthalten, um den Zeitraum von Grenzwertüberschreitungen so kurz wie möglich zu halten. Die Klagebefugnis des Umweltschutzverbandes leitete das Gericht unmittelbar aus den „Vorgaben“ des Urteils des EuGH vom 8. März 2011 zu Art. 9 Abs. 3 AK ab. Der Entscheidung komme zwar keine Allgemeinverbindlichkeit zu, „wohl aber eine Leitfunktion, denn mit einem Abweichen des EuGH von diesen einmal durch Urteil festgelegten Auslegungsgrundsätzen ist bei gleichen Sachverhalten nur dann zu rechnen, wenn sich die Rahmenbedingungen wesentlich geändert haben“. Das wird verneint. Der VGH Kassel (2012) erwägt im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, ob Art. 9 Abs. 3 AK in der Deutung des EuGH dazu führt, den Verfahrensregelungen der §§ 10, 19 BImSchG zugunsten einer Gemeinde drittschützende Bedeutung zuzuweisen.151 Zwar handele es sich bei der klagenden ___________ 150
tig. 151
VG Wiesbaden, Urt. vom 10.10.2011 – 4 K 757/11.WI – juris, nicht rechtskräf-
VGH Kassel, Beschl. vom 19.3.2012 – 9 B 1916/11 – juris Rn. 34 (Vorinstanz: VG Frankfurt, Beschl. vom 2.9.2011 – 8 L 1767/11.F – unv.
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Gemeinde nicht um einen Umweltverband. Jedoch könne dies der Gemeinde auf der Grundlage der neuesten Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH und nachfolgend des BVerwG im Falle eines möglichen Verstoßes gegen europäisches Recht vermutlich nicht erfolgreich entgegen gehalten werden. Der VGH Kassel bezieht sich für seine Ansicht auf das erörterte Urteil des BVerwG vom 29. September 2011 zu § 2 Abs. 5 UmwRG.152 Die Frage bleibt unentschieden. Das Gericht bestätigt der Behörde, dass diese die UVPVorprüfung beanstandungsfrei durchgeführt und nachvollziehbar begründet habe. Hinsichtlich des § 3a Satz 4 UVPG äußerte es keine unionsrechtliche Bedenken. 3. Legislatorische Reformarbeit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 AK (1) Der deutsche Gesetzgeber hat die Århus-Konvention 1998 zwar ratifiziert. Er hat aber bislang keine legislatorischen Maßnahmen getroffen, den Inhalt der Konvention gerade in Erfüllung der Konventionsverpflichtung gezielt in das deutsche Recht umzusetzen. Die Umsetzung ist bislang nur mittelbar geschehen, nämlich in Erfüllung von Richtlinien der EU, soweit diese ihrerseits die Konvention in Unionsrecht umsetzen. Das ist vor allem durch die RL 2003/4/EG (Umweltinformation) und RL 2003/35/EG (Öffentlichkeitsbeteiligung und Zugang zu Gerichten) geschehen. Insbesondere Art. 9 Abs. 3 AK wurde bislang nicht in deutsches Recht umgesetzt. Auch das Urteil des EuGH vom 8. März 2011 (Rs. C-240/09 – Slowakischer Braunbär) gibt dem deutschen Gesetzgeber offenbar bislang keinen Anlass, in eine Phase der Umsetzung einzutreten. Immerhin gibt es mittelbare Anzeichen, dass das Urteil in der Ministerialbürokratie „angekommen“ ist. Das zeigt sich versteckt in der Begründung des bereits erwähnten Referentenentwurfs vom 14. Dezember 2011 (ZG III 4 42120-11/10) zur Novellierung des § 2 UmwRG. Dort heißt es, allerdings unter Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 (Rs. C-115/09 – Trianel): „Deshalb lässt das Urteil nicht den Schluss zu, dass Rechtsbehelfe anerkannter Umweltvereinigungen, soweit umweltrechtliche Vorschriften ohne unionsrechtlichen Bezug betroffen sind, weiterhin auf die Rüge der Verletzung drittschützender Normen beschränkt werden können. Bei der Umsetzung des Urteils muss der Bundesgesetzgeber vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, dass sowohl die Europäische Union als auch die Bundesrepublik Deutschland Vertragsparteien des UN ECEAarhus-Übereinkommens sind und damit zugleich den Verpflichtungen dieses Übereinkommens unterliegen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass derzeit auch vor dem Compliance Committee des UN ECE-Aarhus-Übereinkommens ein Verfahren gegen die
___________ 152
BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 (Fn. 47).
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Bundespublik Deutschland zur Ausgestaltung der Umweltverbandsklage nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz anhängig ist (Az. ACCC/C/2008/31). In diesem Verfahren wird Deutschland ein Verstoß gegen Artikel 9 Absatz 2 des AarhusÜbereinkommens vorgeworfen. Während des Parallelverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof war das Compliance-Verfahren bei der UN ECE ausgesetzt; es wurde inzwischen jedoch wieder aufgenommen. Dabei geht es um die eigenständigen Verpflichtungen Deutschlands als Vertragspartei des Aarhus-Übereinkommens. Deutschland ist seit dem 15. Januar 2007 Vertragspartei gemäß dem Ratifikationsgesetz vom 9. Dezember 2006 (BGBl. II S. 1251). Artikel 9 Absatz 2 des Aarhus-Übereinkommens ist seinem Wortlaut nach mit Artikel 10a der UVP-Richtlinie der EU identisch. Auch nach der Entstehungsgeschichte beider Vorschriften kann nicht angenommen werden, dass Artikel 9 Absatz 2 in seinem sachlichen Regelungsgehalt hinter Art. 10a der UVP-Richtlinie zurückbleibt. Daher ist die Auslegung, die Artikel 10a der UVP-Richtlinie durch den Europäischen Gerichtshof gefunden hat, für das Verständnis von Artikel 9 Absatz 2 des AarhusÜbereinkommens gleichermaßen bedeutsam. Im Unterschied zur letztgenannten Vorschrift gilt Artikel 9 Absatz 2 des Aarhus-Übereinkommens jedoch nicht nur für Umweltbestimmungen, die auf Unionsrecht beruhen, sondern bezieht auch die sonstigen Umweltvorschriften einer Vertragspartei ein. Zu den Bestimmungen, deren Verletzung nach Artikel 9 Absatz 2 des Aarhus-Übereinkommens von Umweltorganisationen gerügt werden können, gehören folglich auch solche, die zum originären nationalen Regelungsbestand zählen. Vor diesem Hintergrund kann sich die Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes nicht darauf beschränken, anerkannten Umweltvereinigungen den Zugang zu Gerichten nur in Bezug auf unionsbasierte Umweltvorschriften zu ermöglichen. § 2 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 5 Nummer 1 und 2 müssen vielmehr so ausgestaltet werden, dass anerkannte Umweltvereinigungen Verstöße auch gegen andere nicht drittschützende Umweltvorschriften gerichtlich geltend machen können. Hierzu ist es erforderlich, die bisherige Beschränkung auf Vorschriften, die „Rechte einzelner begründen“, insgesamt entfallen zu lassen.“
Diese nur auf Art. 9 Abs. 2 AK gestützte Begründung dient dem Entwurf dazu, einen denkbaren Einwand abzuwehren, die „deutsche“ Schutznormtheorie könne jedenfalls für solche Umweltschutznormen aufrecht erhalten bleiben, die keinen unionsrechtlichen Bezug haben. Der Entwurf will aus Gründen der prozessualen Rechtsklarheit von jeder Unterscheidung zwischen unionsrechtlich bezogenem und sonstigem Umweltschutzrecht absehen. Damit nähert sich der Entwurf der Sache nach zugleich Art. 9 Abs. 3 AK an. Dort ist eine vergleichbare Unterscheidung nicht vorgesehen. Diese wäre auch konventionswidrig. Die zu eröffnende Möglichkeit der Anfechtbarkeit bezieht sich auf jede umweltbezogene Bestimmung des innerstaatlichen Rechts. Zudem wäre es sachwidrig, zwischen dem Umweltschutzrecht der EU-Staaten und der sonstigen Konventionsparteien zu unterscheiden. Gleichwohl steht die Nagelprobe noch aus. Art. 9 Abs. 3 AK erfasst auch die von Privatpersonen vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen. Dafür bietet das UmwRG keinerlei Ansätze. Es wird also die Frage sein, ob eine deutsche NGO den prozessualen Mut findet, eine auf § 1004 BGB in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3
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AK gestützte zivilprozessuale Klage zu erheben, um unionsgeprägtes Umweltschutzrecht vor den Zivilgerichten durchzusetzen. Jedenfalls ist die inhaltliche Sentenz des EuGH in seinem Urteil vom 8. März 2011 (Rs. C-240/09 – Slowakischer Braunbär) nicht auf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten begrenzt. Nur Art. 9 Abs. 2 AK setzt den Verwaltungsprozess voraus. Die Einschränkung, die der Gerichtshof in seinem Urteil inhaltlich vorgenommen hat, bezieht sich nur darauf, dass das „Umweltrecht der Union“ berührt sein muss. Im Übrigen hat jedes Gericht sein gerichtliches Verfahren so weit wie möglich im Einklang mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 AK auszulegen. Das mag manches Zivilgericht überraschen.
IV. Beschwerdeverfahren nach der Århus-Konvention 1998 (1) Kommt eine Konventionspartei den sich aus der Århus-Konvention ergebenden Verpflichtungen nicht oder nicht ordnungsgemäß nach, können Betroffene eine Beschwerde (communication) an das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) richten. Das Verfahren stützt sich auf Art. 15 AK. Die Beschwerde muss gewisse Voraussetzungen erfüllen. Sind diese gegeben, tritt das ACCC in eine nähere Prüfung des Sachverhaltes ein. Fall es der Beschwerde zustimmt, spricht es an den Konventionsstaat Empfehlungen aus. Beschwerdebefugt sind auch Einzelpersonen, insbesondere NGOs. Das Committee, es besteht aus sechs Personen, verständigt sich über den Sachverhalt und bereitet im Allgemeinen zunächst einen Entscheidungsentwurf vor, den der Beschwerdeführer und der Konventionsstaat kommentieren dürfen. Wenn keine substantiellen Bemerkungen zu dem Entwurf vorgetragen werden, wird auf einem späteren Meeting eine abschließende Empfehlung beschlossen. In diesem Zusammenhang können auch noch weitere Erwägungen hinzugefügt werden.153 Die Verfahrensdauer beträgt im Durchschnitt gut ein Jahr. (2) Der deutsche Umweltverein NABU (Berlin) erhob am 1. Dezember 2008 im Verfahren nach Art. 15 AK eine Beschwerde zum ACCC (Beschwerdeverfahren ACCC/C/2008/31). Geltend gemacht wurde (in deutscher Übersetzung). „Es gibt im deutschen Recht keine Vorschrift, die es einer individuellen Person oder einer Umweltorganisation erlauben würde, die Frage klären zu lassen, bis zu welchem Grad deutsche Gesetzgebung mit den Anforderungen des Art. 9 Abs. 2, Abs. 3 übereinstimmt. Deutsches Recht verstößt auch insoweit gegen Art. 9 Abs. 3 als es normalerweise Umweltorganisationen nicht erlaubt, Hand___________ 153
Die Publikation „Case Law of the Aarhus Convention Compliance Committee (2004-2008)“, hrsg. von A. Andrusevych, T. Alge, C. Clemens, enthält eine Fallsammlung der ausgesprochenen Empfehlungen. Die Veröffentlichung wird von der „Society and Environment“ getragen.
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lungen oder Unterlassungen privater Personen anzugreifen, die gegen deutsches Umweltrecht verstoßen, sofern nicht eigene Rechte der Organisation verletzt wurden.“ Der im Jahr 2000 von der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen unter dem Titel „The Aarhus Convention: An Implementation Guide“ veröffentlichte Leitfaden zu Auslegung der Århus-Konvention 1998 hat einen gewissen offiziösen Charakter. Eine verbindliche Interpretation enthält er allerdings nicht.154 Im Leitfaden heißt es zu Art. 9 Abs. 3 AK (S. 130) immerhin: „Paragraph 3 creates a further class of cases where citizens can appeal to administrative or judicial bodies. It follows on the eighteenth preambular paragraph and the Sofia Guidelines to provide standing to certain members of the public to enforce environmental law directly or indirectly. In direct citizen enforcement, citizens are given standing to go to court or other review bodies to enforce the law rather than simply to redress personal harm. Indirect citizen enforcement means that citizens can participate in the enforcement process through, for example, citizen complaints. However, for indirect enforcement to satisfy this provision of the Convention, it must provide for clear administrative or judicial procedures in which the particular member of the public has official status. Otherwise it could not be said that the member of the public has access to such procedures. Public enforcement of the law, besides allowing the public to achieve the results it seeks, has also proven to be a major help to understaffed environmental enforcement agencies in many countries. In some countries, moreover, the citizen enforcer can even collect civil monetary penalties from the owner or operator of a facility transgressing environmental law or rules on behalf of the appropriate government agency.“
Der beschwerdeführende NABU hat sich diese Interpretation zunutze gemacht. Das Verfahren vor dem ACCC wurde während des Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH (Rs. C-115/09 – Trianel) einvernehmlich ausgesetzt. Unter dem 18. Mai 2011 wurde es wieder aufgenommen. Vorgesehen war eine Erörterung im Committee am 27./28. Juni 2011 (Chisinau). Deutschland sah sich indes in der Auswertung des EuGH-Urteils noch nicht in der Lage, alsbald zu antworten. Mit Schreiben vom 6. Juli 2011 bekräftigte der NABU seine Beschwerde, auch im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 AK. Die dann folgende Erwiderung des Bundesumweltministeriums vom 27. Juli 2011 lässt das Urteil des EuGH vom 8. März 2011 unerwähnt. Es wird unter anderem die Auffassung verteidigt, dass das deutsche Recht im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 AK nicht gehindert sei, die Schutznormthese zu implementieren. Die Sache wurde im ACCC auf die 36. Sitzung am 27. März 2012 angesetzt, dann verschoben auf den 29. März 2012. Eine weitere Sitzung des ACCC wurde auf den 26./29. Juni 2012 (37. Sitzung [Genf]) bestimmt.155 Das Bundesumweltmi___________ 154
Vgl. EuGH, Urt. vom 14.02.2012 – Rs. C-204/09 – juris, Rn. 36 – Flachglas Torgau GmbH vs. Deutschland. 155 36. Sitzung des Committees am 27.3.2012 in Genf (ECE/MP.PP/C.1/2012/1).
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nisterium erhielt eine neue Erklärungsfrist zum 30. April 2012. Die Konventionsstaaten folgen durchgehend den „Empfehlungen“ des ACCC.
Gebiets- und Artenschutz – Die Rechtsprechung von EuGH und BVerwG Von Bernhard Stüer Der europäische Gebietsschutz wird maßgeblich durch die Vogelschutz-RL1 und die Habitat-RL2 bestimmt. Die (ältere) Vogelschutzrichtlinie aus dem Jahre 1979 stellte sehr strenge Anforderungen an den Gebietsschutz. Die (jüngere) Habitatschutzrichtline aus dem Jahre 1992 ermöglicht für Pläne und Projekte eine Verträglichkeits- und Abweichungsprüfung. Nur wenn das Vorhaben im Hinblick auf die Erhaltungsziele des Gebietes als Ganzes oder seiner wesentlichen Bestandteile unverträglich ist und auch durch eine Abweichungsprüfung nicht gerechtfertigt werden kann, ist es unzulässig. Werden prioritäre Arten der Lebensraumtypen in Mitleidenschaft gezogen sind, ist zunächst die EUKommission einzuschalten.3 Auch der Artenschutz ist weitgehend von europarechtlichen Vorgaben der FFH-und Vogelschutz-RL bestimmt. Diese Vorgaben sind durch die BNatSchG-Novelle 2010 in §§ 44, 45 BNatSchG umgesetzt worden. Die Rechtsprechung des BVerwG hat diese Umsetzung als europarechtskonform bezeichnet.4
I. Europarechtliche Vorgaben für den Vogelschutz Vorgaben für den europäischen Vogelschutz sind in Art. 4 Vogelschutz-RL enthalten. Danach unterliegen Gebiete, welche die fachlichen Voraussetzungen eines europäischen Vogelschutzgebietes erfüllen, einem strengen Schutzsys___________ 1 Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten ABl. Nr. L 103 S. 1, zuletzt geändert durch EU-Beitrittsakte 2003 v. 16.4.2003, ABl. Nr. L 236 S. 33. 2 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ABl. Nr. L 206 S. 7, zuletzt geändert durch Anhang III Nr. 30 ÄndVO (EG) 1882/2003 v. 29.9.2003 – ABl. Nr. L 284 S. 1. 3 Stüer, Habitatschutz – Rechtsprechungsbericht 2005-2010, NuR 2010, 677. 4 Stüer, Artenschutz – Rechtsprechungsbericht 2005-2010, BauR 2010, 1521.
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tem. Eingriffe, mit denen sich erhebliche negative Auswirkungen verbinden, sind danach grundsätzlich unzulässig. Faktische Vogelschutzgebiete, die zwar die fachlichen Kriterien für eine Meldung erfüllen, aber bisher nicht durch die Ausweisung eines Naturschutzgebietes oder eines Landschaftsschutzgebietes oder durch eine entsprechende gesetzliche Regelung in nationales Recht umgesetzt worden sind, entfalten eine generelle Wehrfähigkeit gegenüber Eingriffen, die das Gebiet auch nur möglicherweise beeinträchtigen könnten. 1. Gebietsauswahl Das im Allgemeinen unter der Abkürzung IBA bekannte Verzeichnis der Gebiete von großer Bedeutung für die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten5 enthält, obwohl es für die betreffenden Mitgliedstaaten rechtlich nicht verbindlich ist, wissenschaftliche Beweismittel für die Beurteilung der Frage, ob ein Mitgliedstaat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, diejenigen Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären, die zahlen- und flächenmäßig für die Erhaltung der geschützten Arten am geeignetsten sind.6 Für ein Gebiet, das die Kriterien für eine Ausweisung als Vogelschutzgebiet erfüllt, sind besondere Schutzmaßnahmen zu treffen, die geeignet sind, das Überleben und die Vermehrung der in Anhang I der Vogelschutz-RL aufgeführten Vogelarten sicherzustellen.7 Ein Mitgliedstaat ist nicht berechtigt, bei der Auswahl und Abgrenzung eines besonderen Schutzgebiets wirtschaftliche Erfordernisse zu berücksichtigen. Das geht auch dann nicht, wenn sie zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses darstellen, wie sie in Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL genannt sind.8 Der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Auswahl der geeignetsten Gebiete bezieht sich nicht darauf, diejenigen Gebiete zu besonderen Schutzgebieten zu erklären, die nach ornithologischen Kriterien am geeignetsten erscheinen, sondern nur auf die Anwendung dieser Kriterien für die Be___________ 5
Inventory of Important Bird Areas in the European Community. EuGH, Urt. vom 20.9.2007 – C-388/05, Slg2007, I-7555-7584 = ABl. EU 2007, Nr. C 269, 8-9 = NuR 2007, 678 = NVwZ 2008, 657 – Vertragsverletzung Italiens „Valloni e steppe pedegarganiche“. 7 EuGH, Urt. vom 7.12.2000 – C-374/98, Slg 2000, I-10799 = ABl. EG 2001, Nr. C 79, 6 = DVBl 2001, 359 = ZUR 2001, 75 = NuR 2001, 210 = NVwZ 2001, 549-550; Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2010 Anm. 3; Murswiek, JuS 2001, 824; Maaß, ZUR 2001, 80 – Vertragsverletzung Frankreich. 8 EuGH, Urt. vom 11.7.1996 – C-44/95, Slg1996, I-3805 = ABl. EG 1996, Nr. C 336, 12 = ZUR 1996, 251 = EuZW 1996, 597 = DVBl 1997, 38 = NuR 1997, 36; Otto, NJ 1998, 163; Winter, ZUR 1996, 254 – Bundesrepublik Deutschland Lappel Bank. 6
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stimmung der Gebiete, die für die Erhaltung der betreffenden Arten am geeignetsten sind.9 2. Schutzpflichten Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutz-RL erlegt den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, geeignete Maßnahmen zu treffen, um insbesondere die Beeinträchtigung der Lebensräume in den nach Art. 4 Abs. 1 der Vogelschutz-RL ausgewiesenen besonderen Schutzgebieten sowie in den für die Erhaltung der Wildvogelfauna geeignetsten Gebieten zu vermeiden. Folglich kann hinsichtlich dieser Gebiete ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutz-RL nur dann vorliegen, wenn die betreffenden Gebiete zu den zahlen- und flächenmäßig für die Erhaltung geschützter Arten geeignetsten Gebieten im Sinne von Art. 4 Abs. 4 UA 4 der Vogelschutz-RL gehören, in dem die Kriterien für eine solche Einstufung aufgeführt sind, und wenn tatsächlich eine Beeinträchtigung der Gebiete eingetreten ist.10 Ein Verstoß gegen diese Bestimmung liegt allerdings nur dann vor, wenn das betreffende Gebiet zu den zahlen- und flächenmäßig für die Erhaltung geschützter Arten geeignetsten Gebieten im Sinne von Art. 4 Abs. 1 UA 4 der Vogelschutz-RL gehört, der die Kriterien für eine solche Einstufung enthält.11 Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen.12 Ein Mitgliedstaat der EU ist nicht verpflichtet, in die Festlegung der Erhaltungsziele für ein Vogelschutzgebiet alle im Standarddatenbogen aufgeführten Vogelarten einzubeziehen. Vielmehr kommt es darauf an, inwieweit den Auflistungen im Standarddatenbogen die Erklärung zu entnehmen ist, dass das Gebiet gerade aufgrund bestimmter Vogelarten ausgewählt wurde.13 ___________ 9
EuGH, Urt. vom 19.5.1998 – C-3/96, Slg 1998, I-3031 = ZUR 1998, 141 = DVBl 1998, 888 = UPR 1998, 379 = NuR 1998, 538; Iven, NuR 1998, 528 – Vertragsverletzung Niederlande: Ausweisung Vogelschutzgebiete. 10 EuGH, Urt. vom 25.11.1999 – C-96/98, Slg 1999, I-8531 = ABl. EG 2000, Nr. C 63, 1-2 = NuR 2000, 206 = ZUR 2000, 222 – Vertragsverletzungsverfahren Frankreich: Sumpfgebiet des Poitou. 11 EuGH, Urt. vom 18.3.1999 – C-166/97, Slg 1999, I-1719-1747 = ABl. EG 1999, Nr. C 188, 4-5 = ZUR 1999, 148 = NuR 1999, 501; Maaß, ZUR 1999, 150 – Vertragsverletzung Frankreich. 12 EuGH, Urt. vom 18.3.1999 – C-166/97, (Fn. 11) NuR 1999, 501. 13 BVerwG, Beschl. vom 17.7.2008 – 9 B 15.08, NuR 2008, 659 = NVwZ 2008, 1115 = DVBl 2008, 1199; Nolte, jurisPR-BVerwG 2/2009 Anm. 5; Gatz, jurisPRBVerwG 24/2008 Anm. 2 – Hochmoselbrücke I (B 50n).
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3. Faktische Vogelschutzgebiete Gebiete, die nicht zu Vogelschutzgebieten erklärt wurden, obwohl dies nach Art. 4 Abs. 1 UA 4 der Vogelschutz-RL erforderlich gewesen wäre („faktische Vogelschutzgebiete“), unterliegen nicht der Schutzregelung des Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitat-RL, sondern der strengeren Regelung des Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutz-RL.14 Der Übergang in das Schutzregime der Habitat-RL setzt nach Art. 7 HabitatRL eine endgültige rechtsverbindliche außenwirksame Erklärung eines Gebietes zum besonderen Schutzgebiet (Vogelschutzgebiet) voraus. Die Meldung eines Gebietes an die Europäische Kommission und die einstweilige naturschutzrechtliche Sicherstellung eines Gebietes lösen den Regimewechsel (noch) nicht aus. Ein Straßenbauvorhaben in einem „faktischen“ (nicht erklärten) Vogelschutzgebiet ist nach Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutz-RL grundsätzlich unzulässig, wenn es durch die Verkleinerung des Gebiets zum Verlust mehrerer Brut- und Nahrungsreviere führen würde, die einem Hauptvorkommen einer der Vogelarten in Anhang I der Vogelschutz-RL dienen.15 An dem damit begründeten Schutzstatus hat die Habitat-RL – unabhängig von dem maßgebenden Schutzregime – nichts geändert.16 Der Wechsel des Schutzregimes gemäß Art. 7 FFH-RL von Art. 4 Abs. 4 Satz 1 V-RL zu Art. 6 Abs. 2 FFH-RL tritt unabhängig davon ein, ob eine Schutzgebietsausweisung die materiell-rechtlichen Anforderungen nach Art. 4 Abs. 1 und 2 V-RL (409/79) oder nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL an die zu treffenden Schutzmaßnahmen erfüllt.17 4. Übergang in das Habitatschutzsystem Art. 4 Abs. 4 der Vogelschutz-RL über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichtet die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästi___________ 14
EuGH, Urt. vom 7.12.2000 – C-374/98 –, Slg. 2000, 1-10799 – Basses Corbieres. BVerwG, Urt. vom 1.4.2004 – 4 C 2.03, BVerwGE 120, 276 = DVBl 2004, 1115 = NVwZ 2004, 1114 – Hochmoselbrücke I. 16 BVerwG, Urt. vom 19.5.1998 – 4 C 11.96, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 138 – B 15 – Saalhaupt-Neufahrn; BVerwG, Beschl. vom 13.3.2008 – 9 VR 9.07, Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33; Nolte, jurisPR-BVerwG 23/2008 Anm. 4; Fehrensen, NuR 2008, 483 – A 4 Jagdbergtunnel (Jena), dort auch Auswahl und Abgrenzung der geeigneten Gebiete im Sinne des Art. 4 Vogelschutz-RL. 17 BVerwG, Beschl. vom 14.4.2011 – 4 B 77.09 –; vgl. Beschl. vom 4.11.2010 – 9 B 85.09 –; Beschl. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 –; Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 –; EuGH, Urt. vom 13.12.2007 – C-418/04 – Habitatschutz. 15
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gung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den besonderen Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten haben die Verpflichtungen, die sich u.a. aus dieser Bestimmung ergeben, auch dann zu beachten, wenn das betreffende Gebiet nicht zum besonderen Schutzgebiet erklärt wurde, obwohl dies hätte geschehen müssen.18 Art. 7 der Habitat-RL bestimmt ausdrücklich, dass Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitat-RL anstelle des Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Vogelschutz-RL für die Gebiete gilt, die nach Art. 4 Abs. 1 oder 2 der Vogelschutz-RL zu besonderen Schutzgebieten erklärt wurden.19 Wenn die Erklärung des betreffenden Vogelschutzgebiets im Einklang mit den Anforderungen des Europäischen Naturschutzrechts erfolgt ist, steht der Umstand, dass das Bundesland an anderer Stelle ein weiteres Vogelschutzgebiet hätte ausweisen müssen, dem Regimewechsel (Art. 7 FFH-RL) nicht entgegen.20
II. Europarechtliche Vorgaben für den Habitatschutz Die Habitat-RL ergänzt die Vogelschutzgebiete um Gebiete des Habitatschutzes, die gemeinsam mit den Vogelschutzgebieten ein kohärentes Netz „Natura 2000“ bilden sollen. Der strenge Schutz eines räumlich begrenzten Vogelschutzes wird bei ordnungsgemäßer Umsetzung in das räumlich umfassendere Schutzsystem nach Art. 7 Habitat-RL von einem geringeren Schutz des erweiterten Habitatschutzsystems abgelöst.
___________ 18
EuGH, Urt. vom 20.9.2007 – C-388/05, Slg2007, I-7555 = ABl. EU 2007, Nr. C 269, 8 = NuR 2007, 678 = NVwZ 2008, 657= EurUP 2008, 196 – Vertragsverletzung Italiens „Valloni e steppe pedegarganiche“. 19 EuGH, Urt. vom 7.12.2000 – C-374/98, Slg 2000, I-10799 = ABl. EG 2001, Nr. C 79, 6 = DVBl 2001, 359 = NuR 2001, 210 = NVwZ 2001, 549; Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2010 Anm. 3; Murswiek, JuS 2001, 824; Maaß, ZUR 2001, 80 – Vertragsverletzung Frankreich. 20 BVerwG, Beschl. vom 3.6.2010 – 4 B 54.09 – NVwZ 2010, 1289 = NuR 2010, 573 m. Anm. Stephan Gatz, jurisPR-BVerwG 18/2010 Anm. 2 – Verkehrslandeplatzausbau.
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1. Gebietsauswahl Die Auswahl der Gebiete, die ausschließlich nach fachlichen Kriterien erfolgen muss21, ist durch eine entsprechende Gebietsmeldung an die EUKommission weitgehend abgeschlossen. Änderungen oder Nachmeldeerfordernisse können sich nur dann ergeben, wenn die bisherige Gebietsmeldung den aktuellen fachlichen Anforderungen nicht gerecht wird. 2. Verträglichkeitsprüfung Strenge Anforderungen hat der EuGH an die Verträglichkeit eines Vorhabens gestellt und dazu ausgeführt: Eine Tätigkeit wie die mechanische Herzmuschelfischerei, die seit vielen Jahren ausgeübt wird, für die jedoch jedes Jahr eine Lizenz für einen begrenzten Zeitraum erteilt wird, wobei jedes Mal aufs Neue beurteilt wird, ob und, wenn ja, in welchem Gebiet diese Tätigkeit ausgeübt werden darf, fällt unter den Begriff „Plan“ oder „Projekt“ im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL.22 Nach Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL bedeutet eine Prüfung der Pläne und Projekte auf Verträglichkeit für das betreffende Gebiet, dass vor deren Genehmigung unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sämtliche Gesichtspunkte der Pläne oder Projekte zu ermitteln sind, die für sich oder in Verbindung mit anderen Plänen oder Projekten die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigen können. Die zuständigen Behörden dürfen unter Berücksichtigung dieser Prüfung die Genehmigung nur erteilen, wenn sie Gewissheit darüber erlangt haben, dass sich das Vorhaben nicht nachteilig auf dieses Gebiet als solches auswirkt. Dies ist dann der Fall, wenn aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen gibt.23 Auch in weiteren Entscheidungen betont der EuGH, dass das Habitatschutzsystem strenge Anforderungen an die Verträglichkeit eines Vorhabens stellt. Ein nationales Gericht kann bei der Untersuchung der Rechtmäßigkeit der Genehmigung eines Planes oder eines Projekts im Sinne von Art. 6 Abs. 3 ___________ 21 EuGH, Urt. vom 7.11.2000 – C-371/98, Slg 2000, I-9235 = ABl. EG 2001, Nr. C 28, 2 = DVBl 2000, 1841 = NuR 2001, 206 = NVwZ 2001, 1147 – Mündungsgebiet des Severn; Urt. vom 7.11.2000 – C-371/98, Slg. 2000, 1-9235 – First Corporate Shipping; Urt. vom 14.1.2010 – C-226/08, DVBl 2010, 242 = NuR 2010, 114 = NVwZ 2010, 310; Stüer, DVBl 2010, 245; Gärditz, DVBl 2010, 247 – Papenburg – Bedarfsausbaggerung. 22 EuGH, Urt. vom 7.9.2004 – C-127/02, Slg. 2004, 1-7405 – Herzmuschelfischerei. 23 EuGH, Urt. vom 7.9.2004 – C-127/02 – Slg. 2004, 1-7405 – Herzmuschelfischerei.
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der Habitat-RL prüfen, ob die durch diese Bestimmung gezogenen Grenzen für den Ermessensspielraum der zuständigen nationalen Behörden eingehalten worden sind, auch wenn diese Richtlinie trotz Ablaufs der hierfür gesetzten Frist nicht in das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt worden ist. Denn die praktische Wirksamkeit der Habitat-RL würde abgeschwächt, wenn in einem solchen Fall die Bürger sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die nationalen Gerichte sie nicht berücksichtigen könnten.24 Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL, der für Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines besonderen Schutzgebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten „erheblich“ beeinträchtigen könnten, eine Pflicht zur Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen aufstellt, kann einen Mitgliedstaat nicht ermächtigen, nationale Vorschriften zu erlassen, die Bewirtschaftungsprojekte aufgrund des geringen Umfangs der veranschlagten Kosten oder aufgrund der in Rede stehenden besonderen Tätigkeitsbereiche allgemein von der Pflicht zur UVP ausnähmen.25 Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL in Verbindung mit deren Art. 7 bestimmt, dass Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines nach Art. 4 der Vogelschutz-RL zum Schutzgebiet erklärten Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die dieses jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Schutzgebiet festgelegten Erhaltungszielen erfordern.26 Ermittlungs- und Bewertungsdefizite, die der einem Planfeststellungsbeschluss zugrunde gelegten FFH-Verträglichkeitsprüfung anhaften und nicht in Anwendung von § 17e Abs. 6 S. 1 FStrG unbeachtlich sind, können grundsätzlich nur durch ein ergänzendes Verfahren nach §§ 17d, 17e Abs. 6 S. 2 HS 1 FStrG behoben werden, das auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen FFHVerträglichkeitsprüfung, einer aktualisierten Bewertung des Artenschutzes und einer von Ermittlungs- und Bewertungsdefiziten nicht beeinflussten fachplanerischen Abwägung mit einer erneuten, den früheren Planfeststellungsbeschluss ___________ 24 EuGH, Urt. vom 7.9.2004 – C-127/02, Slg 2004, I-7405 = NuR 2004, 788; Nolte, jurisPR-BVerwG 22/2007 Anm. 1; Gellermann, NuR 2004, 769 – Herzmuschelfischerei. 25 EuGH, Urt. vom 6.4.2000 – C-256/98, Slg 2000, I-2487 = NuR 2000, 565 – Vertragsverletzung Frankreich. 26 EuGH, Urt. vom 29.1.2004 – C-209/02, Slg 2004, I-1211 = NVwZ 2004, 841 = NuR 2004, 656; Nolte, jurisPR-BVerwG 22/2007 Anm. 1 – „Wörschacher Moos“ Erweiterung einer Golfanlage.
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insoweit ersetzenden Zulassungsentscheidung der zuständigen Behörde abschließt.27 a) Halle Westumfahrung Die strengen Anforderungen an die Verträglichkeitsprüfung sind vom BVerwG im Urteil zur Halle-Westumfahrung fortgeschrieben worden: Wird im nationalen Recht die Zulassungsschwelle der FFH-Verträglichkeitsprüfung (Art. 6 Abs. 3 S. 2 Habitat-RL) unter Rückgriff auf die Prüfschwelle der Vorprüfung (Art. 6 Abs. 3 S. 1 Habitat-RL) mit dem Begriff der „erheblichen Beeinträchtigung“ definiert, ist dies unionsrechtlich nicht zu beanstanden. Grundsätzlich ist jede Beeinträchtigung von Erhaltungszielen erheblich und muss als „Beeinträchtigung des Gebiets als solchen“ gewertet werden. Mit Blick auf die Erhaltungsziele des FFH-Gebiets stellt allein der günstige Erhaltungszustand der geschützten Lebensräume und Arten ein geeignetes Bewertungskriterium dar, wenn die vorrangig naturschutzfachliche Fragestellung zu beantworten ist, ob ein Straßenbauvorhaben das Gebiet erheblich beeinträchtigt. Zu prüfen ist, ob sicher ist, dass ein günstiger Erhaltungszustand trotz Durchführung des Vorhabens stabil bleiben wird. Für einen günstigen Erhaltungszustand von Lebensräumen und von Arten spielen unterschiedliche naturschutzfachliche Kriterien eine Rolle. Dementsprechend können für geschützte Arten andere Reaktions- und Belastungsschwellen als für geschützte Lebensraumtypen abgeleitet werden. Offen bleibt, ob und ggf. in welchem Umfang ein direkter Flächenverlust, den ein Straßenbauvorhaben für ein Biotop zur Folge hat, unter Berufung auf Bagatellschwellen gerechtfertigt werden kann. Wenn durch Schutz- und Kompensationsmaßnahmen gewährleistet ist, dass ein günstiger Erhaltungszustand der geschützten Lebensraumtypen und Arten stabil bleibt, bewegen sich die nachteiligen Wirkungen des Vorhabens unterhalb der Erheblichkeitsschwelle. Das Schutzkonzept erlaubt dann auch ohne Abweichungsprüfung die Zulassung des Vorhabens. Notwendiger Bestandteil des Schutzkonzepts kann insbesondere bei wissenschaftlicher Unsicherheit über die Wirksamkeit von Schutz- und Kompensationsmaßnahmen die Anordnung von Beobachtungsmaßnahmen (Monitoring) sein. Um in diesem Fall ein wirksames Risikomanagement zu gewährleisten, müssen begleitend Korrektur- und Vorsorgemaßnahmen für den Fall angeord___________ 27 BVerwG, Beschl. vom 10.12.2009 – 9 A 9.08, NuR 2010, 117 = NVwZ 2010, 320 = DVBl 2010, 199 – FFH-Verträglichkeitsprüfung. Zu eigenständigen Länderregelungen BVerwG, Urt. vom 13.5.2009 – 9 A 73.07, NuR 2009, 711 = NVwZ 2009, 1296 = DVBl 2009, 1323; m. Anm. Nolte, jurisPR-BVerwG 1/2010 Anm. 5 – A 4 Kerpen/Düren: Naturschutzverein.
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net werden, dass die Beobachtung nachträglich einen Fehlschlag der positiven Prognose anzeigt. Derartige Korrektur- und Vorsorgemaßnahmen müssen geeignet sein, Risiken für die Erhaltungsziele wirksam auszuräumen. Fortbestehende vernünftige Zweifel an der Wirksamkeit des Schutzkonzepts stehen einer Zulassung des Vorhabens entgegen. Die FFH-Verträglichkeitsprüfung kann ebenso wenig mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen werden, wenn ein durch das Vorhaben verursachter ökologischer Schaden durch das Schutzkonzept nur abgemildert würde. Die dann allenfalls konfliktmindernden Vorkehrungen sind nur als Kohärenzsicherungsmaßnahmen zu berücksichtigen, falls eine Abweichungsentscheidung getroffen werden soll (Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL). Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL konkretisiert das EU-rechtliche Vorsorgeprinzip (Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG) für den Gebietsschutz im Rahmen des Europäischen ökologischen Netzes „Natura 2000“. Das Vorsorgeprinzip verlangt nicht, die FFH-Verträglichkeitsprüfung auf ein „Nullrisiko“ auszurichten. Rein theoretische Besorgnisse scheiden als Grundlage für die Annahme erheblicher Beeinträchtigungen aus, die dem Vorhaben entgegengehalten werden können. In Ansehung des Vorsorgegrundsatzes ist die objektive Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr erheblicher Beeinträchtigungen im Grundsatz nicht anders einzustufen als die Gewissheit eines Schadens. Wenn bei einem Vorhaben aufgrund der Vorprüfung ernsthaft die Besorgnis nachteiliger Auswirkungen entstanden ist, kann dieser Verdacht nur durch eine schlüssige naturschutzfachliche Argumentation ausgeräumt werden, mit der ein Gegenbeweis geführt wird. Ein Gegenbeweis im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung setzt die Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse voraus und macht die Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen erforderlich. Dies bedeutet nicht, dass Forschungsaufträge zu vergeben sind, um Erkenntnislücken und methodische Unsicherheiten der Wissenschaft zu beheben. Derzeit nicht ausräumbare wissenschaftliche Unsicherheiten über Wirkungszusammenhänge sind dann kein unüberwindbares Zulassungshindernis, wenn das Schutzkonzept ein wirksames Risikomanagement entwickelt hat. Außerdem ist es zulässig, mit Prognosewahrscheinlichkeiten und Schätzungen zu arbeiten. Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL beinhaltet nicht nur einen materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab, sondern ist auch eine Vorgabe für das behördliche Zulassungsverfahren. Kern des angeordneten Verfahrens ist die Einholung fachlichen Rats der Wissenschaft bei einer Risikoanalyse, -prognose und -bewertung. Um den Beleg dafür zu liefern, dass der beste wissenschaftliche Standard erreicht worden ist, sind die im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung ge-
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wonnenen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse grundsätzlich zu dokumentieren. Lücken oder sonstige Mängel der Dokumentation sind spätestens durch die Dokumentation entsprechender Ergänzungen und Korrekturen in der Zulassungsentscheidung zu beseitigen. Dies schließt ergänzenden Vortrag der Planfeststellungsbehörde im gerichtlichen Verfahren zur Erläuterung der getroffenen Entscheidung und ihrer Grundlagen sowie in diesem Rahmen zur Erwiderung auf Einwände nicht aus. Die Erhaltungsziele sind, solange ein FFH-Gebiet nicht nach dem einschlägigen Landesnaturschutzrecht zu einem Schutzgebiet erklärt worden ist, der Gebietsmeldung zu entnehmen. Neben Festlegungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der dort vorkommenden Lebensräume und Arten nach den Anhängen I und II der Habitat-RL können in der Gebietsmeldung die für einen geschützten Lebensraumtyp charakteristischen Brutvogelvorkommen als Erhaltungsziel definiert werden, und zwar auch außerhalb eines Vogelschutzgebietes. Lebensraumtypen und Arten, die in der Gebietsmeldung nicht genannt sind, können dagegen kein Erhaltungsziel des Gebiets darstellen. Sind bei einer fachplanungsrechtlichen Planfeststellung nicht zu sämtlichen sich konkret abzeichnenden Risiken, die das Vorhaben für Erhaltungsziele des Gebiets auslöst, die besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse abgerufen, dokumentiert und berücksichtigt worden, schlagen derartige Mängel notwendig auf eine Abweichungsentscheidung durch. Um ein Vorhaben zuzulassen, das ein FFH-Gebiet einschließlich einzelner prioritärer Lebensraumtypen beeinträchtigt, müssen damit ähnlich gewichtige Gemeinwohlbelange verfolgt werden, wie sie der Richtliniengeber in Art. 6 Abs. 4 UA 2 der Habitat-RL als Anwendungsbeispiele ausdrücklich benannt hat. In der Abweichungsentscheidung muss das Gewicht der für das Vorhaben streitenden Gemeinwohlbelange auf der Grundlage der Gegebenheiten des Einzelfalls nachvollziehbar bewertet und mit den gegenläufigen Belangen des Habitatschutzes abgewogen worden sein. Wenn für das Vorhaben zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses streiten, stellt sich nicht mehr die Frage, ob auf das Vorhaben insgesamt verzichtet werden kann (sog. Nullvariante). Planungsalternativen, die sich nur mit unverhältnismäßigem Aufwand verwirklichen lassen würden, bleiben außer Betracht. Von einer zumutbaren Alternative kann ebenso dann nicht mehr die Rede sein, wenn eine Planungsvariante deswegen auf ein anderes Projekt hinausläuft, weil die vom Vorhabenträger in zulässiger Weise verfolgten Ziele nicht mehr verwirklicht werden könn-
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ten. Zumutbar ist es nur, Abstriche vom Zielerfüllungsgrad in Kauf zu nehmen.28 b) Hessisch Lichtenau II Auch im Urteil zur Autobahn A 44 (VKE 20 – Hessisch Lichtenau) schreibt das BVerwG die strengen Anforderungen an die Verträglichkeit eines Vorhabens fort. Das vorläufige Schutzregime, dem potenzielle FFH-Gebiete unterliegen, erfordert es nicht, bereits bei der Linienbestimmung eine Verträglichkeitsprüfung i.S.d. Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL für die Gesamtplanung durchzuführen. Ist eine solche Verträglichkeitsprüfung im Linienbestimmungsverfahren unterblieben, weil sie nach nationalem Recht (noch) nicht vorgeschrieben war, so muss sie auch nicht im Planfeststellungsverfahren für einen Teilabschnitt der Gesamtplanung nachgeholt werden. Die im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung zur Anwendung kommende Methode der Bestandserfassung und -bewertung geschützter Lebensraumtypen oder Arten ist nicht normativ festgelegt. Die Methodenwahl muss aber dem für die Verträglichkeitsprüfung allgemein maßgeblichen Standard der „besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ entsprechen. Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse, die der Planfeststellungsbehörde erst im Anschluss an eine durchgeführte Verträglichkeitsprüfung bis zum Erlass des Planfeststellungsbeschlusses bekannt werden, hat diese bei ihrer Beurteilung zu berücksichtigen. Gleiches trifft für Sachverhaltsänderungen zu, von denen die in das Planfeststellungsverfahren eingebundenen Fachbehörden innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs Kenntnis erlangen. Kompensationsmaßnahmen i.S.d. naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung sind nur ausnahmsweise geeignet, die andernfalls fehlende FFH-Verträglichkeit eines Vorhabens sicherzustellen, da sie in der Regel erst deutlich ver___________ 28 BVerwG, Urt. vom 17.1.2007 – 9 A 20.05 – BVerwGE 128, 1 = NVwZ 2007, 1054 = DVBl 2007, 706; Nolte, jurisPR-BVerwG 2/2009 Anm. 5; 22/2007 Anm. 1, 23/2008 Anm. 4, 5/2010 Anm. 6, 6/2009 Anm. 6; 7/2008 Anm. 1, 7/2010 Anm. 3; Gatz, jurisPR-BVerwG 5/2008 Anm. 4; Bönsel, NuR 2007, 796; Günes, EurUP 2007, 220; Stüer, NVwZ 2007, 1147; Steeck, NVwZ 2009, 616; Kremer, ZUR 2007, 299 – Westumfahrung Halle, Abgrenzung zu Urt. vom 16.3.2006 – 4 A 1075.04, BVerwGE 125, 116 – Schönefeld, m. Hinw. auf EuGH, Urt. vom 10.1.2006 – C-98/03, Slg. 2006, I-53; Urt. vom 27.1.2000 – 4 C 2.99, BVerwGE 110, 302 – Hildesheim I; Urt. vom 15.1.2004 – 4 A 11.02 –, BVerwGE 120, 1; Beschl. vom 26.11.2007 – 4 BN 46.07; VGH Kassel, Urt. vom 2.1.2009 – 11 B 368/08.T; OVG Münster, Urt. vom 13.12.2007 – 8 A 2810.04.
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zögert wirken und ihr Erfolg selten mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Sicherheit vorhergesagt werden kann.29 Vorhabenbedingte Verluste von Flächen eines Lebensraumtyps des Anhangs I der Habitat-RL stellen dann keine erhebliche Beeinträchtigung i.S.d. Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL dar, wenn sie lediglich Bagatellcharakter haben. Als Orientierungshilfe für die Beurteilung, ob ein Flächenverlust die Bagatellgrenze überschreitet, können die im einschlägigen Konventionsvorschlag des Bundesamts für Naturschutz erarbeiteten Kriterien herangezogen werden.30 c) Ortsumgehung Celle: „Dach-VP“ nicht geboten Allerdings ist nach Auffassung des BVerwG eine „Dach-VP“, mit der zugleich auch die Verträglichkeit aller Folgeabschnitte geprüft wird, nicht erforderlich. Vielmehr kann sich die Verträglichkeitsprüfung auf den jeweils planfestgestellten Abschnitt beschränken. Derzeit noch ungeklärte Fragen des Habitatschutzes zwingen daher nicht dazu, dass bei einer Planung eines Verkehrsweges auf das Instrument der Abschnittsbildung verzichtet wird, wenn in einem Folgeabschnitt voraussichtlich eine FFH-Verträglichkeitsprüfung stattfinden muss. Es gilt keine Beweisregel des Inhalts, dass das Habitatschutzrecht sich als ein unüberwindbares Planungshindernis erweist.31 d) Schadstoffeintrag oberhalb der „Critical Loads“ Strenge Anforderungen an den Habitatschutz stellt das BVerwG in der Hildesheim II-Entscheidung auch bei Schadstoffbelastungen auf, die den kritischen Wert von „Critical Loads“ weiter erhöhen. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Projekt ein FFH-Gebiet in seinen für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestandteilen durch betriebsbedingte Schad- und Nährstoffeinträge i.S.v. Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL, § 34 Abs. 2 BNatSchG erheblich beeinträchtigen kann, sind gleichartige Belastungen aus anderen Quellen (Vor-/Hintergrundbelastung) zu berücksichtigen. ___________ 29 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299 = NuR 2008, 633; Nolte, jurisPR-BVerwG 1/2010 Anm. 5, 2/2009 Anm. 5, 23/2008 Anm. 4, 5/2010 Anm. 6, 6/2009 Anm. 6, 6/2010 Anm. 6, 7/2010 Anm. 3; Gatz, jurisPR-BVerwG 24/2009 Anm. 5; Steeck, NVwZ 2009, 616 – A 44 Hessisch Lichtenau II (VKE 20). 30 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299 = NuR 2008, 633 = DVBl 2008, 1199 – A 44 Hessisch Lichtenau II (VKE 20). 31 BVerwG, Beschl. vom 23.11.2007 – 9 B 38.07, NuR 2008, 176 = UPR 2008, 112; Nolte, jurisPR-BVerwG 2/2009 Anm. 5, 6/2009 Anm. 6, 7/2008 Anm. 1 – Ortsumgehung Celle.
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Schöpft bereits die Vorbelastung die Belastungsgrenze der „Critical Loads“ aus oder überschreitet sie diese sogar, so läuft prinzipiell jede Zusatzbelastung dem Erhaltungsziel zuwider und ist deshalb erheblich i.S.v. Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL, § 34 Abs. 2 BNatSchG.32 Liegt die Zusatzbelastung allerdings in einem Bereich von nicht mehr als 3 % der Critical Loads, stellt sie nach gesicherter fachwissenschaftlicher Einschätzung keinen signifikanten Ursachenbeitrag zur Schädigung der Lebensräume in den Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung dar. Sie fällt deshalb unter den aus dem EU-rechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Bagatellvorbehalt und führt daher nicht zur Unverträglichkeit eines Vorhabens.33 Ob nach dem Ergebnis der Vorprüfung erhebliche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele von FFH-Gebieten durch Stickstoffeinträge ernstlich zu besorgen sind und deshalb eine FFH-Verträglichkeitsprüfung erforderlich ist, beantwortet sich nicht nach den Luftkonzentrationswerten der TA Luft oder der 22. BImSchV; vielmehr ist hierfür das Konzept der Critical Loads heranzuziehen.34 Die nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL gebotene Vorprüfung braucht allerdings nicht formalisiert durchgeführt zu werden. Kann im Zeitpunkt des Erlasses eines Planfeststellungsbeschlusses eine Beeinträchtigung der Erhaltungsziele eines FFH-Gebiets ohne vertiefte Prüfung ausgeschlossen werden, so stellt der Verzicht auf eine Verträglichkeitsprüfung unabhängig davon, auf welche Weise die Planfeststellungsbehörde sich diese Gewissheit verschafft hat, keinen Rechtsfehler dar.35 Diese Irrelevanzschwelle wird nur eingehalten, wenn die Summe der Schadstoffeinträge der in die Summationsbetrachtung einzubeziehenden Pläne und Projekte diese Schwelle nicht überschreitet; nicht ausreichend ist, dass lediglich ___________ 32 BVerwG, Beschl. vom 10.11.2009 – 9 B 28.09, DVBl 2010, 176 = NVwZ 2010, 319 = NuR 2010, 190; Stüer, DVBl 2010, 178; Nolte, jurisPR-BVerwG 5/2010 Anm. 6, 6/2010 Anm. 6 – FFH-Verträglichkeitsprüfung – Hildesheim II. Zur Bewertung der Schadstoffprognose durch die Vorinstanz BVerwG, Beschl. vom 29.10.2009 – 9 B 41.09 – A 40 Bochum-Wattenscheid. 33 BVerwG, Urt. vom 14.4.2010 – 9 A 5.08 – Hessisch Lichtenau Ost/Hasselbach. 34 BVerwG, Urt. vom 29.9.2011 – 7 C 21.09 –; im Anschluss an EuGH, Urt. vom 12.5.2011 – C-115/09 – DVBl 2011, 757; vgl. BVerwG, Beschl. vom 9.8.2010 – 9 B 10.10 – Buchholz 406.400 § 61 BNatSchG 2002 Nr. 12; im Anschluss an BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 und vom 14.4.2010 – 9 A 5.08 – BVerwGE 136, 291; vgl. Beschl. vom 26.11.2007 – 4 BN 46.07 – Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 29 Rn. 11. 35 BVerwG, Urt. vom 14.7.2011 – 9 A 12.10 – NuR 2011, 866 – Ortsumgehung Freiberg; vgl. Urt. vom 22.1.2004 – 4 A 4.03 – Buchholz 406.400 § 61 BNatSchG 2002 Nr. 4 S. 27 f.
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der Schadstoffeintrag des einzelnen Vorhabens die Irrelevanzschwelle einhält.36 e) Trianel-Kraftwerk in Lünen Wird ein Vorbescheid ohne erforderliche FFH-Verträglichkeitsprüfung erteilt, kann diese Prüfung ausnahmsweise nachgeholt werden. Das setzt zumindest voraus, dass deren Unterlassen nicht auf einem vorsätzlichen, willkürlichen Fehlverhalten von Vorhabenträger und Genehmigungsbehörde zur Umgehung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beruht und dass der Fehler vor Erteilung der – das gestufte Genehmigungsverfahren abschließenden – Betriebsgenehmigung geheilt wird.37 Die Nachholung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung in einem späteren Teilgenehmigungsverfahren erfordert bei UVP-pflichtigen Vorhaben, die einer Öffentlichkeitsbeteiligung bedürfen, eine erneute Öffentlichkeitsbeteiligung. In die nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL gebotene Summationsbetrachtung sind die Auswirkungen anderer Pläne und Projekte einzustellen, deren Ausmaß verlässlich absehbar ist. Welche parallelen Verfahren in die Summationsbetrachtung einzubeziehen sind, beurteilt sich nach der zeitlichen Reihenfolge der Projekte (sog. Prioritätsprinzip). Maßgebliches Kriterium ist insoweit der Zeitpunkt der Einreichung eines „prüffähigen Antrags“.38 f) Windenergieanlage Nicht minder strenge Anforderungen an die Verträglichkeit eines Vorhabens stellt das BVerwG auch an Windenergieanlagen. Nach den Schutzanforderungen der Habitat-RL ist jede Beeinträchtigung von Erhaltungszielen erheblich und muss als Gefährdung des Gebiets als solches gewertet werden. Umgekehrt sind Beeinträchtigungen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL nur dann unerheblich, wenn Erhaltungsziele nicht nachteilig berührt werden. Fehlt es an empirisch gesicherten und wissenschaftlich niedergelegten Erkenntnissen über die Auswirkungen von Vorhaben der vorliegenden Art auf den Bestand eines Vogelschutzgebiets, so muss und kann sich das Gericht zur ___________ 36 OVG Münster, Urt. vom 1.12.2011 – 8 D 58/08.AK – DVBl 2012, 244 m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2012, 245. 37 OVG Münster, Urt. vom 1.12.2011 – 8 D 58/08.AK – DVBl 2012, 244 m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2012, 245. 38 OVG Münster, Urt. vom 1.12.2011 – 8 D 58/08.AK – DVBl 2012, 244 m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2012, 245.
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Überprüfung der behördlichen Entscheidung hierüber nur durch die Anhörung von Sachverständigen Gewissheit verschaffen. In Bezug auf eine vom Erhaltungsziel eines Europäischen Vogelschutzgebiets erfasste Tierart soll langfristig gesehen eine Qualitätseinbuße vermieden werden. Stressfaktoren, wie sie mit der Errichtung, aber insbesondere mit dem Betrieb einer Windenergieanlage der vorgesehenen Art einhergehen, dürfen somit die artspezifische Populationsdynamik nicht in einem Ausmaß stören, dass die Tierart kein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraums mehr bilden kann. Die so beschriebene Belastungsschwelle, die bei einem Betrieb einer Windenergieanlage stets in Betracht zu nehmen ist, kann dabei unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls gewisse Einwirkungen zulassen, solange diese das Erhaltungsziel nicht nachteilig berühren.39 g) Schutzpflichten für noch nicht gelistete Gebiete: Das „Dragaggi-Delta“ Ist ein Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung noch nicht gelistet, ist dessen Schutzstatus in der Tendenz gegenüber einem in die Kommissionsliste aufgenommenen Gebiet gemindert, wie der EuGH im Dragaggi-Urteil dargelegt hat. Die in Art. 6 Abs. 2 bis 4 der Habitat-RL vorgesehenen Schutzmaßnahmen müssen noch nicht getroffen werden. Die Mitgliedstaaten sind allerdings verpflichtet, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die im Hinblick auf das mit der Richtlinie verfolgte Erhaltungsziel geeignet sind, die erhebliche ökologische Bedeutung, die diesen Gebieten auf nationaler Ebene zukommt, zu wahren.40 Für solche Gebiete stellt die Anlegung der materiell-rechtlichen Maßstäbe des Art. 6 Abs. 3 und 4 Habitat-RL in aller Regel einen „angemessenen Schutz“ im Sinne des EuGH dar.41 Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Eingriffe zu verhindern, welche die ökologischen Merkmale der Gebiete, die in der der Kommission übermittelten nationalen Liste aufgeführt sind, ernsthaft beeinträchtigen könnten.42
___________ 39
BVerwG, Beschl. vom 26.2.2008 – 7 B 67.07 – BauR 2008, 1128 – Windenergieanlage: Verträglichkeitsprüfung. 40 EuGH, Urt. vom 13.1.2005 – C-117/03 – Slg. 2005, 1-167 – Dragaggi. 41 EuGH, Urt. vom 13.1.2005 – C-117/03; BVerwG, Beschl. vom 7.9.2005 – 4 B 49.05 –. 42 EuGH, Urt. vom 14.9.2006 – C-244/05 – NVwZ 2007, 61 – A 94 – Isental.
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h) In der Tendenz reduzierte Anforderungen für Vogelschutzgebiete Während für FFH-Gebiete hinsichtlich der Inanspruchnahme von Lebensraumtypen ein sehr strenger Maßstab angelegt wird, wird die Inanspruchnahme von Gebietsteilen eines Vogelschutzgebietes in der Tendenz mit etwas großzügigeren Maßstäben gemessen. Bleibt ein günstiger Erhaltungszustand der geschützten Vogelarten trotz Durchführung des Vorhabens stabil43, besteht für alle von Beeinträchtigungen betroffenen Vogelarten die Möglichkeit, innerhalb des Vogelschutzgebiets auszuweichen und kann das Vogelschutzgebiet auch ausreichendes Potenzial bieten, kann das Vorhaben trotz einer Inanspruchnahme von mehreren ha verträglich sein.44 i) Prioritäre Arten Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 und 2 FFH-RL (43/92) knüpfen nach Wortlaut und Systematik an „negative Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung“ an. Gegenstand der Verträglichkeitsprüfung ist die Verträglichkeit eines Projekts mit den Schutzzielen des betreffenden Gebiets. Gehört der Schutz eines prioritären Lebensraumtyps nicht zu den Erhaltungszielen des Gebiets, kann die Verträglichkeitsprüfung bezogen auf diesen Lebensraumtyp nicht – wie in Art. 6 Abs. 4 FFH-RL vorausgesetzt – zu einem negativen Ergebnis führen.45 3. Abweichungsprüfung Bewirk ein Vorhaben gemessen an den Erhaltungszielen des Gebietes zu einem unverträglichen Eingriff, ist es grundsätzlich unzulässig. Es kann dann nur aufgrund einer Abweichungsprüfung zugelassen werden, wenn zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses das Vorhaben rechtfertigen, zumutbare Alternativen nicht zur Verfügung stehen und die erforderlichen Kohärenzmaßnahmen zur Sicherung des Kohärenzsystems „Natura 2000“ getroffen worden sind. Hierzu hat der EuGH folgende Grundsätze aufgestellt: Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL, der es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, einen Plan oder ein Projekt durchzuführen, dessen Prüfung nach Art. 6 Abs. 3 S. 1 der Habitat-RL ___________ 43
BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299. BVerwG, Urt. vom 24.11.2011 – 9 A 23.10 – A 281 – Bremer Wesertunnel. 45 BVerwG, Beschl. vom 14.4.2011 – 4 B 77.09 –; vgl. Beschl. vom 4.11.2010 – 9 B 85.09 –; Beschl. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 –; Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 –; EuGH, Urt. vom 13.12.2007 – C-418/04 – Habitatschutz. 44
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negative Ergebnisse erbracht hat, ist als Ausnahme von dem in Art. 6 Abs. 3 S. 2 festgelegten Genehmigungskriterium eng auszulegen. So ist die Durchführung eines Plans oder Projekts nach Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL insbesondere von der Voraussetzung abhängig, dass das Fehlen von Alternativlösungen nachgewiesen wird. Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL verstößt, wenn er trotz negativer Ergebnisse der UVP ein Projekt durchführt, ohne nachgewiesen zu haben, dass für dieses Projekt keine Alternativlösungen vorhanden waren.46 a) Projektbegriff (Überleitungsregelung) Art. 6 Abs. 3 und 4 der Habitat-RL ist dahin auszulegen, dass fortlaufende Unterhaltungsmaßnahmen in der Fahrrinne von Ästuarien, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind und die bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Habitat-RL nach nationalem Recht genehmigt wurden, bei ihrer Fortsetzung nach Aufnahme des Gebiets in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung gemäß Art. 4 Abs. 2 UA 3 der Habitat-RL einer Verträglichkeitsprüfung nach diesen Vorschriften zu unterziehen sind, soweit sie ein Projekt darstellen und das betreffende Gebiet erheblich beeinträchtigen könnten. Wenn diese Unterhaltungsmaßnahmen u. a. im Hinblick darauf, dass sie wiederkehrend anfallen, auf ihre Art oder auf die Umstände ihrer Ausführung als einheitliche Maßnahme betrachtet werden können, insbesondere, wenn sie den Zweck haben, eine bestimmte Tiefe der Fahrrinne durch regelmäßige und hierzu erforderliche Ausbaggerungen beizubehalten, können sie als ein einziges Projekt im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitat-RL angesehen werden.47 Das Vorhaben könnte dann durch eine Verträglichkeits- und ggf. Abweichungsprüfung zugelassen werden. b) Zwingende Gründe Das Vorhaben muss durch zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein. Die Gewichtung des öffentlichen Interesses muss dabei den Ausnahmecharakter einer Abweichungsentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Habitat-RL berücksichtigen. Nicht jedem Vorhaben, welcher das Erfordernis der Planrechtfertigung erfüllt, kommt ein besonderes Gewicht zu. Kohärenzsicherungsmaßnahmen können das Gewicht des Integritätsinteres___________ 46
EuGH, Urt. vom 26.10.2006 – C-239/04 – Slg 2006, I-10183. EuGH, Urt. vom 14.1.2010 – C-226/08 – DVBl 2010, 242; Stüer, DVBl 2010, 245; Gärditz, DVBl 2010, 247 – Papenburg – Bedarfsausbaggerung. 47
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ses mindern. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass sie einen Beitrag auch zur Erhaltung der Integrität des FFH-Gebiets leisten.48 Ein im Rahmen der Prüfung des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL berücksichtigungsfähiger Abweichungsgrund liegt vor, wenn ein Vorhaben den Vorgaben der fachplanerischen Planrechtfertigung entspricht. Damit gilt der diesbezüglich für die Überprüfung von Verkehrsprognosen entwickelte rechtliche Maßstab auch bei der Prüfung von Abweichungsgründen im Sinne des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL. Ob der Abweichungsgrund der FFH-Belange überwiegt, hängt von dem Ergebnis der im Weiteren erforderlichen konkreten Abwägung ab.49 c) Alternativenprüfung Im Vergleich zu dem Vorhaben dürfen keine zumutbaren Alternativen zur Verfügung stehen. Hierzu hat das BVerwG im Hildesheim-Urteil folgende Grundsätze aufgestellt: Eine Alternativlösung ist im Sinne des Art. 6 Abs. 4 UA 1 der Habitat-RL nicht vorhanden, wenn sich diese nur mit einem unverhältnismäßigen Kostenaufwand verwirklichen ließe. Die Beurteilung unterliegt nicht der fachplanerischen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 FStrG oder einer anderweitigen Ermessensentscheidung der Planfeststellungsbehörde. Sollen mit dem Bau einer Ortsumgehungsstraße innerörtliche Unfallschwerpunkte entschärft und weitere Verkehrsunfälle mit Todes- und Verletzungsfolgen vermieden werden, so können diesem Ziel „Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen“ im Sinne des Art. 6 Abs. 4 UA 2 der Habitat-RL zugrunde liegen. Gleiches gilt, wenn bestehende schädliche Umwelteinwirkungen durch Lärm und Autoabgase zugunsten der Anwohner der Ortsdurchfahrtsstraße vermieden oder erheblich verringert werden sollen. Sollen mit dem Bau einer Ortsumgehungsstraße innerörtliche Unfallschwerpunkte entschärft werden und führt dies zwangsläufig zu einer erheblichen Beeinträchtigung eines FFH-Gebiets, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt, erfordern „Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen“ (Art. 6 Abs. 4 UA 2 der Habitat-RL) eine konkrete Ermittlung und Bewertung des bisherigen Unfallgeschehens im Vergleich zu dem Zustand nach Durchführung der Planung im Sinne
___________ 48 BVerwG, Urt. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 – BVerwGE 134, 166; Gatz, jurisPRBVerwG 24/2009 Anm. 5 – Flughafen Münster/Osnabrück. 49 BVerwG, Beschl. vom 14.4.2011 – 4 B 77.09 –; vgl. Beschl. vom 4.11.2010 – 9 B 85.09 –; Beschl. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 –; Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 –; EuGH, Urt. vom 13.12.2007 – C-418/04 – Habitatschutz.
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einer Gesamtbilanzierung. Bei abschnittsweiser Planung hat sich die erforderliche Prognose auf die Gesamtplanung zu erstrecken.50 Eine Alternativlösung im Sinne des Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL ist nur dann gegeben, wenn sich das Planungsziel trotz ggf. hinnehmbarer Abstriche auch mit ihr erreichen lässt. Der Vorhabenträger braucht sich auf eine technisch mögliche Alternativlösung nicht verweisen zu lassen, wenn sich Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL am Alternativstandort als ebenso wirksame Zulassungssperre erweist wie an dem von ihm gewählten Standort. Der Vorhabenträger darf von einer Alternativlösung Abstand nehmen, die technisch an sich machbar und rechtlich zulässig ist, ihm aber Opfer abverlangt, die außer Verhältnis zu dem mit ihr erreichbaren Gewinn für Natur und Umwelt stehen.51 Hat die Behörde im Planfeststellungsverfahren keine grundlegend neue Alternativenprüfung durchgeführt, so ist dies im Hinblick darauf, dass die vom Kläger bevorzugte Trassenführung bereits in einem früheren Stadium als ungeeignet ausgeschieden wurde, nicht zu beanstanden. Eine weniger geeignete Variante, kann die Behörde schon aufgrund einer Grobanalyse in einem früheren Stadium ausscheiden.52 In der Alternativenprüfung, die einer Abweichungsentscheidung vorauszugehen hat, brauchen Planungsalternativen nur so weitgehend ausgearbeitet und untersucht zu werden, dass sich einschätzen lässt, ob sie für – prioritäre oder nicht prioritäre – FFH-Schutzgüter ein erhebliches Beeinträchtigungspotenzial bergen.53 d) Eingriff in andere Fachplanungen Alternativen scheiden ebenfalls aus, wenn sie einen unvertretbaren Eingriff in andere Fachplanungen bedeuten. Die eisenbahnrechtliche Zweckbindung von Bahnanlagen stellt dabei ein in der fernstraßenrechtlichen Planfeststellung unüberwindbares Planungshindernis dar, das es ausschließt, die der Bindung
___________ 50 BVerwG, Urt. vom 27.1.2000 – 4 C 2.99 – BVerwGE 110, 302 – Ortsumgehung Hildesheim I. 51 BVerwG, Urt. vom 17.5.2002 – 4 A 28.01 – BVerwGE 116, 254 – A 44 – Hessisch Lichtenau I. 52 BVerwG, Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – BVerwGE 131, 274; Nolte, jurisPRBVerwG 1/2010 Anm. 5; ders., jurisPR-BVerwG 6/2009 Anm. 6; Schübel-Pfister, JuS 2009, 517; Gellermann, NuR 2009, 85; Louis, NuR 2009, 91; Steeck, NVwZ 2009, 616 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen (Lückenschluss A 30). 53 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299 – A 44 VKE 20 Hessisch Lichtenau II (VKE 20).
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unterliegenden Bahnflächen für das geplante Straßenbauvorhaben in Anspruch zu nehmen.54 e) Kohärenzsicherung Die Ausgestaltung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen nach Art. 6 Abs. 4 UA 1 der Habitat-RL hat sich funktionsbezogen an der erheblichen Beeinträchtigung auszurichten, derentwegen sie ergriffen werden. Der Funktionsbezug ist das maßgebliche Kriterium nicht nur zur Bestimmung von Art und Umfang der Kohärenzsicherungsmaßnahmen, sondern auch zur Bestimmung des notwendigen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Gebietsbeeinträchtigung und den Maßnahmen. Für die Eignung einer Kohärenzsicherungsmaßnahme genügt es, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wirksamkeit besteht. Bei der Entscheidung über Kohärenzsicherungsmaßnahmen verfügt die Planfeststellungsbehörde über eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative.55 Die Maßnahmen zur Sicherung des Zusammenhangs des Netzes „Natura 2000“ müssen nicht stets bereits zum Zeitpunkt der Genehmigung erheblicher Beeinträchtigungen eines FFH-Gebiets wirksam sein.56 Die Regelung von Einzelheiten des Kohärenzausgleichs kann einem ergänzenden Planfeststellungsbeschluss vor allem dann vorbehalten bleiben, wenn die Durchführung der notwendigen Kohärenzsicherungsmaßnahmen nicht ungewiss ist. Eingriffe in Natur und Landschaft können auch auf Flächen zulässig sein, auf denen Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft durch einen an anderer Stelle vorgenommenen Eingriff auszugleichen sind.57 f) Beteiligung der EU-Kommission Eine Stellungnahme der Kommission gemäß Art. 6 Abs. 4 UA 2 der Habitat-RL ist nicht bereits dann einzuholen, wenn in einem FFH-Gebiet ein priori___________ 54 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – A 44 VKE 20 Hessisch Lichtenau II (VKE 20). 55 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – A 44 VKE 20 Hessisch Lichtenau II (VKE 20). 56 BVerwG, Beschl. vom 14.4.2011 – 4 B 77.09 –; vgl. Beschl. vom 4.11.2010 – 9 B 85.09 –; Beschl. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 –; Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 –; EuGH, Urt. vom 13.12.2007 – C-418/04 – Habitatschutz. 57 BVerwG, Beschl. vom 31.1.2006 – 4 B 49.05 – DVBl 2006, 579 – A 380Wartungshalle.
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tärer Lebensraumtyp lediglich vorhanden ist.58 Vielmehr ist eine Kommissionsbeteiligung erst dann erforderlich, wenn geschützte prioritäre Arten oder Lebensraumtypen nach der Habitat-RL in Mitleidenschaft gezogen werden.59 g) Summationswirkungen Bei der Verträglichkeitsprüfung sind auch Summationswirkungen zu berücksichtigen. Die Verträglichkeitsprüfung ist demnach auch auf solche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung oder eines Europäischen Vogelschutzgebiets zu erstrecken, die sich durch Pläne und Projekte im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten ergeben können. Dazu müssen die Auswirkungen der anderen Pläne und Projekte und damit das Ausmaß der Summationswirkung jedoch verlässlich absehbar sein. Das ist im Fall eines Projektes wie dem Vorhaben der Errichtung und des Betriebs einer Windkraftanlage grundsätzlich erst dann der Fall, wenn die hierfür erforderliche Genehmigung erteilt ist.60 Ein Projekt, das „in Zusammenwirkung“ mit dem Vorhaben ein FFH-Gebiet tatsächlich erheblich beeinträchtigen kann, ist auch dann nach Art. 6 Abs. 3 S. 1 Habitat-RL einer Verträglichkeitsprüfung zu unterziehen, wenn es in größerer Entfernung zu dem Vorhaben durchgeführt wird. Es hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, wie nahe verschiedene Projekte räumlich beieinander liegen müssen, um in diesem Sinne ein geschütztes Gebiet „in Zusammenwirkung“ erheblich beeinträchtigen zu können.61 Ob sich die gebotene Gewissheit von Summationswirkungen schon zu einem früheren Zeitpunkt ergeben kann, ist bisher noch nicht abschließend geklärt.62 h) Mängel der Verträglichkeitsprüfung in der Abweichungsentscheidung Vorsorglich durchgeführte Abweichungsprüfungen sind nicht generell unzulässig. Vielmehr kann es sich in Zweifelsfällen durchaus empfehlen, trotz der ___________ 58
So in der Tendenz noch BVerwG, Urt. vom 17.1.2007 – 9 A 20.05 – BVerwGE 128, 1 – Halle-Westumfahrung. 59 BVerwG, Urt. vom 9.7.2009 – 4 C 12.07 – BVerwGE 134, 166; Gatz, jurisPRBVerwG 24/2009 Anm. 5 – Flughafen Münster/Osnabrück. 60 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – A 44 VKE 20 Hessisch Lichtenau II (VKE 20). 61 BVerwG, Beschl. vom 5.12.2008 – 9 B 28.08 – NVwZ 2009, 320; Nolte, jurisPRBVerwG 9/2009 Anm. 1 – Neubau A 94 (Abschnitt Dorfen). 62 BVerwG, Urt. vom 21.5.2008 – 9 A 68.07, A 281 – Buchholz 406.400 § 34 BNatSchG 2002 Nr. 1 – Summationswirkungen.
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voraussichtlich bestehenden Verträglichkeit des Vorhabens vorsorglich eine Abweichungsprüfung anzuschließen. Hierzu hat das BVerwG im Beschluss zur Hochmoselquerung folgende Grundsätze aufgestellt: Die fehlerhafte Annahme der Planfeststellungsbehörde, ein Vorhaben sei mit den Erhaltungszielen eines FFH-Gebiets verträglich, schlägt auf eine hilfsweise getroffene Abweichungsentscheidung i.S.d. Art. 6 Abs. 4 der Habitat-RL ausnahmsweise dann nicht durch, wenn die Behörde die tatsächlich in Rechnung zu stellenden Beeinträchtigungen im Wege der Wahrunterstellung qualitativ und quantitativ zutreffend zugrunde gelegt hat. Es können dann im Wege einer „Worst-Case-Betrachtung“ hilfsweise die qualitativ und quantitativ in Rechnung zu stellenden Beeinträchtigungen und ihre Erheblichkeit unterstellt und der Abwägung zugrunde gelegt werden.63 i) Mangelnde Kausalität In Fortentwicklung der bereits im Urteil zur Eifelautobahn (A 60)64 aufgestellten Grundsätze hält das BVerwG auch im Bereich der Abweichungsprüfung an dem Erfordernis der Kausalität eines Fehlers für das Ergebnis fest. Mängel der Abweichungsprüfung sind in entsprechender Anwendung des § 17e Abs. 6 S. 1 FStrG danach unerheblich, wenn sie sich auf das Prüfungsergebnis nicht ausgewirkt haben können. Sind in einem FFH-Gebiet nur nicht prioritäre Lebensraumtypen oder Arten erheblich beeinträchtigt, während prioritäre Lebensraumtypen oder Arten nicht beeinträchtigt werden können, so können auch ohne vorherige Kommissionsbeteiligung Allgemeinbelange der Verkehrssicherheit und des Umweltschutzes bei der Beurteilung eines Abweichungsgrundes i.S.d. Art. 6 Abs. 4 UA 1 Habitat-RL zumindest ergänzend berücksichtigt werden.65 j) Nachträgliche Vollzugsanpassung Eine Übereinstimmung mit Europarecht kann durch nachträgliche Vollzugsanpassung hergestellt werden. Denn weder EG-Recht noch nationales Recht beinhalten einen Rechtssatz des Inhalts, dass ein mit dem Vollzug einer ___________ 63 BVerwG, Beschl. vom 17.7.2008 – 9 B 15.08 – NuR 2008, 659; Nolte, jurisPRBVerwG 2/2009 Anm. 5; Gatz, jurisPR-BVerwG 24/2008 Anm. 2 – Hochmoselbrücke II (B 50n). 64 BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 – 4 C 5.95 – BVerwGE 100, 238 – Eifelautobahn A 60; Urt. vom 18.11.2004 – 4 CN 4.03 – BVerwGE 122, 207 – Diez; Stüer/Hönig DVBl 2004, 481. 65 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – A 44 VKE 20 Hessisch Lichtenau II (VKE 20).
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Neuregelung des nationalen Rechts einhergehender Verstoß gegen Europarecht bis zur Aufhebung des nationalen Rechtsakts fortdauert.66 k) Ergänzendes Verfahren Ein Verstoß gegen die Vogelschutz-RL kann in einem ergänzenden Verfahren nach § 17 Abs. 6 c FStrG behoben werden, indem die Voraussetzungen für den Wechsel in das Schutzregime der Habitat-RL geschaffen und die Schutzund Ausnahmebestimmungen des Art. 6 Abs. 3 und 4 der Habitat-RL bzw. des § 34 BNatSchG 2002 nachträglich angewandt werden.67 4. Rechtsschutz In mehreren Entscheidungen hat sich das BVerwG auch mit der Frage des Rechtsschutzes im Bereich des Habitat- und Vogelschutzes befasst und dazu folgende Grundsätze aufgestellt: a) Mühlenberger Loch Die Vogelschutz-RL und die Habitat-RL verleihen einem einzelnen nicht das Recht, Verstöße gegen die Bestimmungen zum Schutz der Vogelschutzund der FFH-Gebiete zu rügen. Das Luftverkehrsrecht unterscheidet nicht zwischen privat- und gemeinnützigen Vorhaben. Auch für die Planfeststellung eines nur privaten Verkehrszwecken dienenden Sonderflugplatzes gelten die allgemeinen Anforderungen der Planrechtfertigung und des Abwägungsgebots einschließlich der Grundsätze über die Anordnung von Schutzvorkehrungen und Entschädigung nach § 9 Abs. 2 LuftVG und § 74 Abs. 2 VwVfG. Maßgebend für die Planrechtfertigung sind allein die Ziele des Luftverkehrsgesetzes. Die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur gehören nicht dazu. Sie können aber als öffentliche Belange im Rahmen der Abwägung Bedeutung erlangen. Besteht ein auch öffentliches Interesse am Ausbau eines privaten Verkehrszwecken dienenden Sonderlandeplatzes, kann dieses sich in Verbindung mit den privaten Verkehrsinteressen des Flugplatzunternehmers im Wege der Abwägung gegen die Lärmschutzbe___________ 66 BVerwG, Beschl. vom 8.1.2009 – 7 B 48.08 – Buchholz 451.9 Art. 28 EGVertrag Nr. 2 – Europarechtswidrigkeit der Verpackungsverordnung. 67 BVerwG, Urt. vom 1.4.2004 – 4 C 2.03 – BVerwGE 120, 276 – Hochmoselbrücke I.
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lange der Anwohner durchsetzen, auch wenn passiver Schallschutz oder Entschädigung gewährt werden muss.68 b) Rechtsschutz gegen die Gebietslistung Jedenfalls nach Aufnahme eines Gebiets in die Liste der „FFH-Gebiete“ durch die EU-Kommission ist sowohl eine Klage, mit der begehrt wird festzustellen, dass der Beschluss einer Landesregierung, ein Gebiet zur Aufnahme in diese Liste vorzuschlagen, rechtswidrig ist, als auch eine Klage, mit der verlangt wird, das Land zur „Rücknahme“ seines Vorschlags zu verurteilen, unzulässig. Eine Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes gegen drohende Verwaltungsakte in Form einer – vorbeugenden – Feststellungsklage ist grundsätzlich unzulässig. Ausnahmsweise gilt etwas anderes, wenn ein besonderes qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis die Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert.69 Auch sind Klagen gegen die Kommission wegen Aufnahme eines Gebietes in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung unzulässig.70 c) Rechtsschutz der Verbände Umweltverbände können auf der Grundlage der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie bei UVP-pflichtigen Vorhaben die Verletzung von europarechtlichen Vorschriften des Umweltrechts rügen, auch wenn sie keinen Bezug zu den Rechten Einzelner haben.71
___________ 68
BVerwG, Urt. vom 26.4.2007 – 4 C 12.05 – BVerwGE 128, 358; Gatz, jurisPRBVerwG 17/2007 Anm. 5; Hofmann, ZUR 2007, 470 – Mühlenberger Loch. 69 BVerwG, Beschl. vom 12.6.2008 – 7 B 24.08 – NuR 2008, 575 – Meldung von FFH-Gebieten. 70 EuG, Beschl. vom 14.7.2008 – T 366/06; EuGH, Beschl. vom 23.9. 2009 – C421/08 P – NuR 2010, 76. 71 EuGH, Urt. vom 12.5.2011 – C-115/09 – DVBl 2011. 757 – Trianel-Kraftwerk in Lünen.
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III. Artenschutz Wer das Bau- und Fachplanungsrecht über einen etwas längeren Zeitraum beobachtet, der wird Wellenbewegungen feststellen, die in der Regel über etwa 3 bis 5 Jahre reichen. Nach einem jahrelangen Dornröschenschlaf bildet den Aufmacher ein juristischer Paukenschlag, mit dem ein Thema die Fachöffentlichkeit aufrüttelt. Es folgt eine hektische Betriebsamkeit über den sich zuspitzenden Konfliktstoff, der kaum noch beherrschbar erscheint. Auf dem Höherpunkt der juristischen Eskalation befällt die Fachwelt vielfach Ratlosigkeit. Nicht selten sind Gemeinden, die bereits in zwei Anläufen mit der Aufstellung eines Bebauungsplans vor dem OVG/VGH gescheitert sind, ebenso wie Planfeststeller, die ihre Beschlüsse nicht über die Hürden der Gerichtsbarkeit haben bringen können, mutlos und fast wie am Boden zerstört. Es folgt dann eine Phase des Wiederaufbaus, bei dem alles zum Staunen der Fachwelt wie von selbst zu gelingen scheint. Die juristischen Debatten um die Fehlerlehre von Bauleitplänen oder Planfeststellungsbeschlüssen mit dem wohlmeinenden Rat des BVerwG, sich nicht ungefragt auf die Suche von Fehlern zu begeben72, die Umweltverträglichkeitsprüfung73, die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, die Vergnügungsstätten74 oder die Steuerung der Windenergie75 – sie alle sind nur einige signifikante Beispiele derartiger Entwicklungen. Über solche Phänomene ist auch hier zu berichten. Dieses Stadium hat nun auch der Artenschutz erreicht. Nachdem sich die stauende juristische Fachwelt zunächst über die europarechtlichen Regelungen in Art. 12 bis 16 Habitat-RL und Art. 5 und 9 Vogelschutz-RL (VRL) die Augen gerieben hat, kann sie inzwischen offenbar wieder zur Tagesordnung übergehen. Das wird die Praxis freuen. Denn die juristischen und fachlichen Durststrecken waren schon recht lang. Während sich das BVerwG in der Entscheidung zum Polizeipräsidium Magdeburg76 noch für einen harmonischen Ausgleich von Vorhabeninteressen und naturschutzrechtlichen Integritätsinteressen eingesetzt hatte, verlangte das BVerwG bereits seit den Urteilen zum Flughafen Berlin/Brandenburg77 eine Beachtung des Artenschutzes, der nicht einfach
___________ 72 73
A 60. 74
BVerwG, Urt. vom 7.9.1979 – IV C 7.77 – BauR 1980, 40 – Fehlersuche. BVerwG, Urt. vom 25.1.1996 – 4 C 5.95 – BVerwGE 100, 238 – Eifelautobahn
BVerwG, Beschl. vom 22.5.1987 – 4 N 4.86 – BVerwGE 77, 308. BVerwG, Urt. vom 13.3.2003 – 4 C 4.02 – BVerwGE 118, 33 – Luftballon. 76 BVerwG, Urt. vom 11.1.2001 – 4 C 6.00 – BVerwGE 112, 321. 77 BVerwG, Urt. vom 16.3.2006 – 4 A 1075.04 – BVerwGE 125, 116 – Schönefeld m. Anm. Gatz jurisPR-BVerwG 19/2008 Anm. 2. 75
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durch andere Belange weggewogen werden könne. Das Stralsund-Urteil78 und weitere Urteile schrieben diese Linie fort.79 Mit dem Urteil zur Querspange Bochum80, das durchaus das Zeug hat, als bahnbrechende Entscheidung in die Rechtsgeschichte des Artenschutzes einzugehen, hat diese Entwicklung ihren Höhepunkt und vielleicht auch zugleich weitgehend ihren Abschluss erreicht. Die grundlegenden Fragen des europäischen Artenschutzes dürften wohl als geklärt gelten. Allenfalls Einzelheiten in der Anwendung der gesetzlichen Regelungen sind noch offen. 1. Kleine Artenschutznovelle 2007 Die europarechtlichen Anforderungen an den Artenschutz waren zunächst nicht richtig umgesetzt, urteilte der EuGH81 zum BNatSchG 2002. Dies wurde erst durch die kleine Artenschutznovelle 2007, die in §§ 44, 45 BNatSchG 2010 übernommen wurde, nachgeholt. Die neuere Rechtsprechung des BVerwG erklärt nun diese Umsetzung auf der ganzen Linie für europarechtskonform. Dies gilt insbesondere für die Verbotstatbestände in § 44 Abs. 1 und Abs. 5 BNatSchG ebenso wie die Ausnahmeregelungen in § 45 Abs. 7 BNatSchG. 2. Bestandserfassung Die Prüfung, ob naturschutzrechtliche Verbote, insbesondere solche wie § 44 BNatSchG, eingreifen, setzt eine ausreichende Ermittlung und Bestandsaufnahme der im Trassenbereich vorhandenen Tierarten und ihrer Lebensräume voraus. Das verpflichtet die Behörde aber nicht, ein lückenloses Arteninventar zu erstellen. Die Untersuchungstiefe für die Ermittlung und Bestandsaufnahme ___________ 78
BVerwG, Urt. vom 21.6.2006 – 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166; Nolte, jurisPRBVerwG 1/2010 Anm. 5, 18/2008 Anm. 6, 22/2007 Anm. 1, 25/2006 Anm. 2, 6/2009 Anm. 6; Kratsch, NuR 2007, 27 – Ortsumgehung Stralsund, m. Hinw. auf EuGH, Urt. vom 10.1.2006 – C-98/03 – NVwZ 2006, 319, dort auch zu den Merkmalen eines dem Beeinträchtigungsverbot des Art. 4 IV 1 VRL unterliegenden faktischen Vogelschutzgebietes. 79 BVerwG, Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – BVerwGE 131, 274; Nolte, jurisPRBVerwG 1/2010 Anm. 5, 6/2009 Anm. 6; Schübel-Pfister, JuS 2009, 517; Gellermann, NuR 2009, 85; Louis, NuR 2009, 91; Steeck, NVwZ 2009, 616 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen – Lückenschluss A 30; Stüer, BauR 2010, 1521. 80 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum. A 4 Rn. 42, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39. 81 Urt. vom 10.1.2006 – Rs. C-98/03 – Slg. 2006, I-53 – Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland.
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der vorhandenen Tierarten und ihrer Lebensräume hängt maßgeblich von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall ab.82 Behauptete artenschutzrechtliche Mängel oder Unsicherheiten eines Planfeststellungsbeschlusses, die nach Art und Umfang im Rahmen eines naturschutzfachlichen Monitorings oder einer qualifizierten begleitenden ökologischen Bauüberwachung aufgefangen (erkannt und behoben) werden können, können der Anfechtungsklage eines von der enteignungsrechtlichen Vorwirkung Betroffenen grundsätzlich nicht zum Erfolg verhelfen. Nach Erlass des Planfeststellungsbeschlusses durchgeführte Erhebungen in einem Naturraum sind in der Regel nicht geeignet, eine der Planung zugrunde liegende frühere, nach Methodik und Umfang ordnungsgemäße artenschutzrechtliche Bestandsaufnahme in Frage zu stellen.83 Das Urteil zur Bochumer Querspange fügt allerdings hinzu84: Eine spätere Änderung der artenschutzrechtlichen Betroffenheiten wäre dann zugunsten des Projektes zu berücksichtigen, wenn mit hinreichender Sicherheit feststünde, dass – etwa wegen einer dauerhaft nachteiligen Änderung des Habitatpotenzials – eine zuvor vorhandene Lebensstätte endgültig verloren gegangen ist. 3. Einschätzungsprärogative Bei der Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind, steht der Planfeststellungsbehörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative sowohl bei der ökologischen Bestandsaufnahme als auch bei deren Bewertung zu, namentlich bei der Quantifizierung möglicher Betroffenheiten und bei der Beurteilung ihrer populationsbezogenen Wirkungen. Die gerichtliche Kontrolle ist darauf beschränkt, ob die Einschätzungen der Planfeststellungsbehörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind und nicht auf einem unzulänglichen oder gar ungeeigneten Bewertungsverfahren beruhen.85 Eine naturschutzfachliche Meinung ist einer anderen Einschätzung nicht bereits deshalb überlegen oder ihr vorzugswürdig, weil sie „strengere“ Anforderungen für richtig hält. Das ist erst dann der Fall, wenn sich diese Auffassung als allgemein anerkannter Standpunkt der Wissenschaft durchgesetzt hat und ___________ 82 BVerwG, Beschl. vom 18.6.2007 – 9 VR 13.06 – Buchholz 406.400 § 42 BNatSchG 2002 Nr. 2 – B 178n – Löbau-Obercunnersdorf. 83 BVerwG, Urt. vom 12.8.2009 – 9 A 64.07 – BVerwGE 134, 308 – Autobahn A 33: Bielefeld-Steinhagen. 84 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – Rn. 42. 85 BVerwG, Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – BVerwGE 131, 274 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen – Lückenschluss A 30.
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die gegenteilige Meinung als nicht (mehr) vertretbar angesehen wird86. Ein solcher fachlicher Beurteilungsspielraum ist auch im Zusammenhang mit der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung anerkannt worden87. 4. Signifikant erhöhtes Tötungsrisiko Nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ist es verboten, wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören. Das Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ist nur erfüllt, wenn auch unter Berücksichtigung der vorgesehenen Schadensvermeidungsmaßnahmen ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko besteht, urteilten die Leipziger Richter bereits im Urteil zu Hessisch Lichtenau.88 Nahrungshabitate und potenzielle Brutreviere sind vom Schutzbereich des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG nicht umfasst.89 Wanderkorridore der Amphibien sind keine Wohn- oder Zufluchtsstätten i.S.v. § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG.90 Bei der Frage, ob ein artenschutzrechtlicher Verbotstatbestand erfüllt ist – wie etwa das Tötungsverbot gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG – steht der Planfeststellungsbehörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu. Die in diesem Rahmen getroffenen, auf fachgutachtliche Stellungnahmen gestützten Annahmen der Planfeststellungsbehörde unterliegen einer gerichtlichen Prüfung nur dahin, ob sie im Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sind und nicht auf einem Bewertungsverfahren beruhen, das sich als unzulängliches oder gar ungeeignetes Mittel erweist, um den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden.91 ___________ 86 BVerwG, Urt. vom 13.5.2009 – 9 A 73.07 – BVerwGE 134, 145; m. Anm. Nolte, jurisPR-BVerwG 1/2010 Anm. 5 – A 4 Kerpen/Düren: Naturschutzverein. 87 BVerwG, Urt. vom 17.1.2007 – 9 C 1.06 – BVerwGE 128, 76 – Bad Laer. 88 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – Hessisch Lichtenau II; Urt. vom 18.3.2009 – 9 A 39.07 – BVerwGE 133, 239; Nolte, jurisPRBVerwG 1/2010 Anm. 5, 2/2009 Anm. 5, 23/2008 Anm. 4, 5/2010 Anm. 6, 6/2009 Anm. 6, 7/2010 Anm. 3; Gatz, jurisPR-BVerwG 24/2009 Anm. 5; Steeck, NVwZ 2009, 616 – A 44 Ratingen/Velbert. 89 BVerwG, Beschl. vom 13.3.2008 – 9 VR 9.07 – Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33; Nolte, jurisPR-BVerwG 23/2008 Anm. 4; Fehrensen, NuR 2008, 483 – A 4 Jagdbergtunnel – Jena. 90 BVerwG, Beschl. vom 8.3.2007 – 9 B 19.06 – DVBl 2007, 639; Weidemann, DVP 2009, 475 – Durchtrennung der Wanderkorridore von Amphibien. 91 BVerwG, Beschl. vom 28.12.2009 – 9 B 26.09 – NuR 2010, 191; Nolte, jurisPRBVerwG 7/2010 Anm. 3 – naturschutzrechtliches Verbandsklagerecht, m. Hinw. auf Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen.
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5. Störung § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG verbietet es, wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören; eine erhebliche Störung liegt nach der Definition des 2. Halbsatzes vor, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert. Die darin zum Ausdruck kommende populationsbezogene Bestimmung der Erheblichkeitsschwelle steht mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. b Habitat-RL und Art. 5 Buchst. d VRL im Einklang, die beide einen art- bzw. populationsbezogenen Schutzansatz verfolgen.92 Der Begriff der Population ist Art. 2 Buchst. l der Verordnung EG Nr. 338/97 des Rates vom 9.12.1996 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Überwachung des Handels (ABl EG Nr. L 61 S. 1) entnommen und wortgleich in § 6 Abs. 2 Nr. 6 BNatSchG definiert. Er erfasst eine biologisch oder geographisch abgegrenzte Zahl von Individuen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie derselben Art oder Unterart angehören und innerhalb ihres Verbreitungsgebietes in generativen oder vegetativen Vermehrungsbeziehungen stehen. Eine lokale Population erfasst diejenigen (Teil-)Habitate und Aktivitätsbereiche der Individuen einer Art, die in einem für die Lebens(raum)ansprüche der Art ausreichenden räumlichfunktionalen Zusammenhang stehen (vgl. BTDrucks 16/5100 S. 11).93 6. Beschädigungs- und Störungsverbot Nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG ist es untersagt, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören (Beschädigungs- und Störungsverbot). Was als Fortpflanzungs- oder Ruhestätte i.S.d. Art. 12 Abs. 1 d der Habitat-RL anzusehen ist, ist eine in erster Linie naturschutzfachliche Frage, die je nach den Verhaltensweisen der verschiedenen Arten unterschiedlich beantwortet werden kann. Danach kann die Gesamtheit mehrerer im Dienst der Fortpflanzungs- oder Ruhefunktion stehender Plätze, die in räumlichem Zusammenhang einen Verbund bilden, als geschützte Fortpflanzungs- bzw. ___________ 92
BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 42, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39 m. Hinw. auf Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 Rn. 237 – Hessisch Lichtenau II; Urt. vom 12.8.2009 – 9 A 64.07 – BVerwGE 134, 308 Rn. 89 – Autobahn A 33: Bielefeld-Steinhagen. 93 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 48, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39.
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Ruhestätte im Sinne des Art. 12 Abs. 1 d der Habitat-RL sein. Im deutschen Artenschutzrecht kommt dieser funktionale Gesichtspunkt bei der Anwendung des § 44 Abs. 5 S. 2 und 3 BNatSchG zum Tragen.94 Die Beseitigung eines Brutreviers mit regelmäßig benutzten Brutplätzen durch eine vollständige Baufeldbefreiung erfüllt den artenschutzrechtlichen Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG. Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen nach § 15 Abs. 2 BNatSchG sind grundsätzlich nicht geeignet, die Verwirklichung artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände nach § 44 Abs. 1 BNatSchG zu verhindern.95 Abweichend von dem Grundsatz, dass es für die gerichtliche Kontrolle eines Planfeststellungsbeschlusses auf die Sach- und Rechtslage bei dessen Erlass ankommt, sind Rechtsänderungen, die zum Fortfall eines Rechtsverstoßes des Beschlusses führen, bei der Überprüfung zu berücksichtigen.96 Art. 9 Abs. 1 VRL, der Abweichungen von den in Art. 5 VRL enthaltenen Verbotstatbeständen nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zulässt, steht der Ausnahme nicht entgegen. Der Zerstörungs- und Beschädigungstatbestand des Art. 5 Buchst. b VRL ist deutlich enger gefasst als der Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG und schützt nur das selbstgebaute, aktuell belegte Nest bzw. das Nest eines artbedingt auf die Wiederverwendung des konkreten Nestes angewiesenen Vogels.97 7. Wahrung der ökologischen Funktion Für nach § 15 BNatSchG zulässige Eingriffe in Natur und Landschaft sowie für Vorhaben im Sinne des § 18 Abs. 2 S. 1 BNatSchG, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuches zulässig sind, gelten die Zugriffs-, Besitz- und Vermarktungsverbote nach Maßgabe der Sätze 2 bis 5. Sind in Anhang IV Buchstabe a der Richtlinie 92/43/EWG aufgeführte Tierarten, europäische Vogelarten oder solche Arten betroffen, die in einer Rechtsverordnung nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG aufgeführt sind, liegt ein Verstoß gegen das Verbot des § 44 Abs. 1 Nr. 3 und im Hinblick auf damit verbundene unvermeidbare Beeinträchtigungen wild lebender Tiere auch gegen das Verbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 ___________ 94
BVerwG, Urt. vom 18.3.2009 – 9 A 39.07 – BVerwGE 133, 239; Nolte, jurisPRBVerwG 1/2010 Anm. 5 – A 44 Ratingen/Velbert; BVerfG, Beschl. vom 14.1.2010 – 1 BvR 3009/09 – Nichtannahme. 95 BVerwG, Urt. vom 21.6.2006 – 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166 – Stralsund. 96 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 – Hessisch Lichtenau II. 97 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 70, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39.
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BNatSchG nicht vor, soweit die ökologische Funktion der von dem Eingriff oder Vorhaben betroffenen Fortpflanzungs- oder Ruhestätten im räumlichen Zusammenhang weiterhin erfüllt wird. Soweit erforderlich, können auch vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen festgesetzt werden (§ 44 Abs. 5 S. 1 und 2 BNatSchG). Hierdurch werden entsprechende Spielräume ermöglicht, solange die ökologische Funktion im räumlichen Zusammenhang weiterhin erfüllt werden kann. Art. 5 b VRL schließt es nicht aus, § 44 Abs. 5 S. 2 und 3 BNatSchG auf aktuell nicht besetzte Fortpflanzungsstätten von Exemplaren europäischer Vogelarten anzuwenden.98 Führt ein Planvorhaben zu Beeinträchtigungen, die den Vorgaben der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung widersprechen, so ist der mit dem Vorhaben verbundene Eingriff in Natur und Landschaft unzulässig mit der Folge, dass gemäß § 42 Abs. 5 Satz 1 BNatSchG 2007 auch anderen von ihm ausgehenden Beeinträchtigungen die artenschutzrechtliche Privilegierung des § 42 Abs. 5 Satz 2 und 3 BNatSchG 2007 verwehrt bleibt. Setzt die artenschutzrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens die Erteilung von Ausnahmen für mehrere artenschutzrechtlich relevante Beeinträchtigungen voraus, die dieselbe Art betreffen, so sind die Ausnahmevoraussetzungen in einer Gesamtschau der Beeinträchtigungen zu prüfen.99 8. Ausnahmen Werden die Verbotstatbestände des § 44 Abs. 1 BNatSchG erfüllt, können nach § 45 Abs. 7 BNatSchG Ausnahmen erteilt werden. Dies setzt zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer und wirtschaftlicher Art voraus. Eine Ausnahme darf nur zugelassen werden, wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand einer Population nicht verschlechtert. Art. 9 Abs. 2 VRL ist zu beachten. Die Anforderungen an diese Voraussetzungen steigen mit dem Maß der Beeinträchtigung der naturschutzrechtlichen Integritätsinteressen. Bei vergleichsweise geringfügigen Beeinträchtigungen oder fernliegenden Risiken entspricht es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Ball auch bei den Anforderungen an die Ausnahmevoraussetzungen vergleichsweise flach zu halten. Verbleibende Unsicherheiten können durch ein Monitoring und durch ein ___________ 98
BVerwG, Urt. vom 18.3.2009 – 9 A 39.07 – BVerwGE 133, 239. BVerwG, Urt. vom 14.7.2011 – 9 A 12.10 – NuR 2011, 866 – Ortsumgehung Freiberg; vgl. Urt. vom 22.1.2004 – 4 A 4.03 – Buchholz 406.400 § 61 BNatSchG 2002 Nr. 4 S. 27 f. 99
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Maßnahmenbündel aufgefangen werden, das nur für den Fall eines ungünstigen Verlaufs angeordnet wird.100 Art. 9 Abs. 1 VRL, der Abweichungen vom Störungsverbot des Art. 5 Buchst. d VRL unter eingeschränkten Voraussetzungen zulässt, steht der Ausnahme nach § 45 Abs. 7 BNatSchG nicht entgegen. Der Störungstatbestand des Art. 5 Buchst. d VRL setzt voraus, dass sich die Störung der unter den Schutz der Vogelschutzrichtlinie fallenden Vogelarten auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt. Das ist mit Blick auf das Schutzziel der Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (vgl. die Präambel und Art. 1 VRL) sowie das Verschlechterungsverbot (Art. 13 VRL) nicht der Fall, wenn der aktuelle Erhaltungszustand der betroffenen Arten sichergestellt ist101. Art. 5 Buchst. d VRL enthält damit bereits auf der Tatbestandsebene einen umfassend populationsbezogenen Ansatz, während nach deutschem Recht der über die jeweiligen lokalen Populationen hinausgehende Zustand der „Populationen einer Art“ erst auf der zweiten Prüfungsstufe im Rahmen der Ausnahmeentscheidung nach § 45 Abs. 7 BNatSchG Bedeutung gewinnt. Für das mit dem Störungsverbot verfolgte Schutzziel spielt dies jedoch keine Rolle. Das BVerwG hat – ebenso wie beim Beschädigungs- und Zerstörungsverbot – keinen Zweifel daran, dass es dem nationalen Gesetzgeber mit Rücksicht auf den Spielraum, den gemeinschaftsrechtliche Richtlinien ihm bei der Wahl von Form und Mitteln zur Zielerreichung belassen und belassen müssen, frei stand, den gemeinschaftsrechtlich geforderten Schutzstandard auf dem gewählten Weg zu erreichen.102 9. Zwingende Gründe Der Eingriff muss durch zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein. Voraussetzung ist insoweit nicht, dass Sachzwänge vorliegen, denen niemand ausweichen kann. Ausreichend ist ein durch Vernunft und Verantwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln.103 Dabei dürfen die Anforderungen an das Vorliegen von Abweichungsgründen im allgemeinen Artenschutzrecht nicht überspannt werden. So kann es genügen, wenn das Vorliegen des Abweichungsgrundes im Planfeststellungsbe___________ 100
BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 60, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39. 101 BVerwG, Urt. v. 21.6.2006 – 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166 Rn. 44 – Stralsund. 102 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 53, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39 m. Hinw. auf Urt. vom 18.3.2009 – 9 A 39.07 – BVerwGE 133, 239 Rn. 70. 103 BVerwG, Urt. vom 12.3.2008 – 9 A 3.06 – BVerwGE 130, 299 Rn. 153.
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schluss bzw. in der in Bezug genommenen planfestgestellten Unterlage plausibel dargelegt wird oder augenscheinlich und für jedermann greifbar vorliegt.104 10. Keine zumutbaren Alternativen Vorhabenträger und Planfeststellungsbehörde dürfen von einer Alternativlösung Abstand nehmen, die technisch an sich machbar und rechtlich zulässig ist, aber anderweitige, auch naturschutzexterne Nachteile aufweist, die außer Verhältnis zu dem mit ihr erreichbaren Gewinn für Natur und Umwelt stehen.105 11. Keine Verschlechterung des Erhaltungszustandes Der Erhaltungszustand der Populationen einer Art darf sich nicht verschlechtern. Anders als beim Verbotstatbestand des § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG ist im Rahmen der Ausnahme nicht der Erhaltungszustand des von dem Vorhaben unmittelbar betroffenen lokalen Vorkommens maßgeblich, sondern eine gebietsbezogene Gesamtbetrachtung anzustellen, die auch die anderen (Teil-)Populationen der Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet in den Blick nimmt.106 Nicht jeder Verlust eines lokalen Vorkommens einer Art ist mit einer Verschlechterung des Erhaltungszustands der Populationen der betroffenen Art gleichzusetzen. Dass einzelne Exemplare oder Siedlungsräume im Zuge der Verwirklichung eines Planvorhabens vernichtet werden oder verloren gehen, schließt nicht aus, dass die Population als solche in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das über das Plangebiet hinausreicht, als lebensfähiges Element erhalten bleibt.107 Bei der Beurteilung, ob dies der Fall ist, ist der Planfeststellungsbehörde, da insoweit ornithologische Kriterien maßgeblich sind, ein Beurteilungsspielraum einzuräumen.108 Dies gilt auch für die Entscheidung, an welchem Standort Maßnahmen zum Ausgleich des vorhabenbedingten Verlustes ergriffen werden sollen. ___________ 104 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 55, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39 m. Hinw. auf Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – BVerwGE 131, 274 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen. 105 BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 57, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39 m. Hinw. auf Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 14.07 – BVerwGE 131, 274 – Nordumfahrung Bad Oeynhausen zu Art. 9 Abs. 1 V-RL. 106 BVerwG, Urt. vom 21.6.2006 – 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166 Rn. 44 – Stralsund. 107 BVerwG, Urt. vom 16.3.2006 – 4 A 1075.04 – BVerwGE 125, 116 Rn. 572. 108 BVerwG, Urt. vom 21.6.2006 – 9 A 28.05 – BVerwGE 126, 166 – Stralsund.
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Im Falle eines ungünstigen Erhaltungszustands der Populationen der betroffenen Art sind Ausnahmen nach Art. 16 Abs. 1 Habitat-RL zulässig, wenn sachgemäß nachgewiesen ist, dass sie weder den ungünstigen Erhaltungszustand dieser Populationen weiter verschlechtern noch die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands behindern; darüber hinaus müssen keine „außergewöhnlichen Umstände“ vorliegen.109 Das Ziel, den Verlust von Individuen und Lebensstätten auszugleichen und den Erhaltungszustand der betroffenen Art zu stabilisieren, erfordert es nicht, dass die Ausgleichsmaßnahmen am Ort des Eingriffs ergriffen werden müssen. Die anzustellende gebietsbezogene Betrachtung erlaubt es dem Vorhabenträger und der Planfeststellungsbehörde vielmehr, das natürliche Verbreitungsgebiet der betroffenen Art großräumiger in den Blick zu nehmen und auch solche Orte für Ausgleichsmaßnahmen zu wählen, die keine unmittelbaren Rückwirkungen auf den von dem Vorhaben betroffenen Siedlungsraum erwarten lassen. Mit Blick auf den Zweck der Maßnahme ist daher jeder Standort innerhalb des natürlichen Verbreitungsgebietes der Art, an dem die Planfeststellungsbehörde durch entsprechende Festsetzungen im Planfeststellungsbeschluss den Kompensationserfolg herbeiführen kann, als geeignet anzusehen. Dies wird den räumlichen Bereich regelmäßig auf den jeweiligen Zuständigkeitsbereich der Planfeststellungsbehörde beschränken. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass die Planfeststellungsbehörde durch entsprechende vertragliche Vereinbarung die Durchführung der Maßnahme außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs sicherstellt.110 12. Gebiets- und Artenschutz: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die für den Habitatschutz geltenden Anforderungen können nicht unbesehen und unterschiedslos auf den allgemeinen Artenschutz übertragen werden. Vielmehr sind die Anforderungen an den Artenschutz in mehrfacher Hinsicht weniger streng als die des Gebietsschutzes. Während ein Projekt die Anforderungen an die Gebietsverträglichkeit nur einhält, wenn keine vernünftigen Zweifel daran verbleiben, ist der artenschutzrechtliche Verbotstatbestand erst dann erfüllt, wenn dessen Erfüllung aus naturschutzfachlicher Sicht feststeht. Worst-Case-Betrachtungen und Restrisiken sind da nicht am Platz.
___________ 109
BVerwG, Beschl. vom 17.4.2010 – 9 B 5.10 – NJW 2010, 2534. BVerwG, Urt. vom 9.6.2010 – 9 A 20.08 – DVBl 2011, 36 – Querspange Bochum A 4 Rn. 60, m. Anm. Stüer/Stüer, DVBl 2011, 39. 110
Gebiets- und Artenschutz – Die Rechtsprechung von EuGH und BVerwG
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IV. Naturschutz und Vorhabeninteressen auf Harmonisierung angelegt Der Gebiets- und Artenschutz bleibt auch weiterhin spannend. Für die Praxis ist allerdings tröstlich zu wissen, dass die Barrieren nicht unüberwindbar sind, wenn das naturschutzrechtliche Prüfungssystem ordnungsgemäß abgearbeitet worden ist.
Aktuelle Fragen zum Schienenverkehrslärmschutz – Technische und rechtliche Entwicklungen Von Frank Berka
I. Vorbemerkung1 Der Eisenbahnverkehr hat in Deutschland inzwischen eine 177-jährige Tradition. Auch wenn sich die deutschen Eisenbahnunternehmen immer wieder unterschiedlicher Kritik stellen müssen, so sind sie in aller Regel doch ein zuverlässiger Partner für Reisende und Güterverkehrskunden. Deswegen verwundert es nicht, dass für beide Bereiche steigendes Verkehrsaufkommen prognostiziert wird.2 Die Deregulierung im Eisenbahnwesen bringt es mit sich, dass sich auf dem Deutschen Schienennetz unterdessen ca. 400 Eisenbahnverkehrsunternehmen bewegen.3 Und auch der öffentliche Personennahverkehr mit seinen Straßen-, U- und Stadtbahnen erfreut sich stetig steigender Beliebtheit und Nachfrage.4 Nach wie vor gehört der Transport von Personen und Gütern auf der Schiene zu den umweltfreundlichsten Verkehrsarten. Es gibt nur noch wenige – museal oder touristisch eingesetzte – Dampflokomotiven. Dieselloks und -triebwagen werden mit Rußfiltern aus- oder nachgerüstet. Der spezifische CO2Verbrauch pro Personenkilometer liegt Angaben der Allianz pro Schiene zufolge bei 59,8 g (2010) und ist zwischen den Jahren 2000 und 2010 um 26 % ___________ 1 Der Autor ist Sachbereichsleiter „Planfeststellung, Recht“ in der Außenstelle Hannover des Eisenbahn-Bundesamtes. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. 2 Vgl. BMVBS – Investitionsrahmenplan 2011-2015 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes, Entwurf, Stand 14.12.2011, Kapitel 3.1; Quelle: http://www.bmvbs.de/cae/ servlet/contentblob/76848/publicationFile/49179/investitionsrahmenplan-2011-bis-2015 -irp.pdf. 3 Vgl. Tabelle des EBA, Stand: 9.2.2012; Quelle: http://www.eba.bund.de/cln_031/n n_202596/DE/Infothek/Eisenbahnunternehmen/EVU/evu__node.html?__nnn=true. 4 Quelle: http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2012-02/22822604-steigende-ertraege-reichen-fuer-oepnv-finanzierung-nicht-aus-14-euroforum-jahrestagung-oepn v-mobilitaet-2030-24-und-25-april-2012-hotel-intercontin-007.htm.
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gesunken.5 Die DB Energie GmbH betreibt eigene Wasserkraftwerke und investiert inzwischen auch in Windenergieanlagen.6 Die S-Bahn Hamburg GmbH verkehrt seit Januar 2010 ausschließlich mit Strom, der aus regenerativen Energiequellen gewonnen wird.7 Trotz dieser vorzeigbaren Bilanz verbleiben im Spannungsverhältnis zwischen Schienenverkehr und Umwelt mehrere Problemfelder, von denen eines nachfolgend näher betrachtet werden soll. So stellt sich nicht erst seit der Lärmkartierung aufgrund der EU-Umgebungslärmrichtlinie8 der Schall, der von fahrenden Zügen ausgeht, neben der Neuanlage von Bahnstrecken als das zentrale Umweltproblem des Schienenverkehrs dar. Verkehrslärmschutz ist in der eisenbahnrechtlichen Planfeststellung seit Jahren der meistdiskutierte Umweltbelang. Und das öffentliche Interesse richtet sich nicht nur auf den Neu- oder Ausbau von Strecken, sondern zunehmend auch auf die so genannten Bestandsstrecken, beispielsweise am Mittel- und Oberrhein oder die „Güterumgehungsbahnen“. Nachfolgend sollen zunächst die öffentliche Diskussion und aktuelle technische Entwicklungen skizziert werden. Anschließend sollen die gegenwärtigen Fragen der Rechtssetzung und Rechtsprechung sowie Lösungsansätze aufgezeigt werden.
II. Die öffentliche Diskussion Bürgerbeteiligung spielt im Eisenbahnwesen nicht erst seit den Debatten und Demonstrationen um das Bahnknotenprojekt „Stuttgart 21“ eine bedeutende Rolle. Schon sehr lange ist festzustellen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger – vorwiegend Anwohnerinnen und Anwohner, aber auch andere Menschen – ___________ 5 Quelle: http://www.allianz-pro-schiene.de/presse/pressemitteilungen/2011/040-um weltdatenbank-2011/chartsumweltdatenbankupdate2011.pdf. 6 Quelle: http://www.deutschebahn.com/de/nachhaltigkeit/umwelt/klimaschutz/erneuerbare_energien. 7 Quelle: http://www.welt.de/regionales/hamburg/article5428440/Hamburgs-S-Bahn -faehrt-nur-noch-mit-Oekostrom.html, http://www.s-bahn-hamburg.de/s_hamburg/view/ aktuell/presse/20120126.shtml. 8 Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.6.2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm (ABl. L 189 vom 18.7.2002, S. 12-25), geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1137/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2008 (ABl. L 311 vom 21.11.2008, S. 1), umgesetzt insbesondere durch §§ 47a-47f Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.9.2002 (BGBl. I S. 3830), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8.11.2011 (BGBl. I S. 2178).
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individuell oder in Bürgerinitiativen engagieren, wenn die DB Netz AG eine Neu- oder Ausbaustrecke plant. Man würde diesem Interesse nicht gerecht werden, wenn man ihm nur Eigennutz oder gar das St. Florians-Prinzip9 unterstellen wollte. Vielmehr ist festzuhalten, dass bürgerschaftliches Engagement in der eisenbahnrechtlichen Planfeststellung wesentlich von Werten wie Vernunft und Gerechtigkeit und dabei auch von Aspekten des Immissions- und Gesundheitsschutzes getragen wird. Gerade bei den Einwendungen und Erörterungen zum Schallschutz fällt immer wieder auf, mit welchem großen fachlichen Sachverstand die betroffenen Einwender und ihre Vertreter in den Anhörungsverfahren agieren. Das teilweise sehr hohe Niveau des Vorbringens lässt die Feststellung zu, dass die Vorhabenträger und die Betroffenen häufig auf Augenhöhe argumentieren. Und das gilt nicht nur für die Planfeststellung, sondern auch ganz allgemein für die öffentliche Diskussion um den Schienenverkehr und den Lärmschutz. Daraus folgt, dass Vorhabenträger, Eisenbahnunternehmen und Planungs- und Aufsichtsbehörden gut beraten sind, sich stets über die aktuellen technischen und rechtlichen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Die nachfolgenden Ausführungen sollen dazu einen kleinen Beitrag leisten.
III. Aktuelle technische Entwicklungen Bei den aktuellen technischen Entwicklungen ist zu differenzieren zwischen der Vermeidung der Entstehung von Schienenverkehrslärm und der Verhinderung bzw. zumindest der Verminderung der Ausbreitung des bereits entstandenen Schalls. Während die sog. innovativen Schallschutzmaßnahmen zur Verfolgung des letztgenannten Ziels eingesetzt werden sollen, setzen Bahn und Politik im Hinblick auf die Vermeidung von Lärm auf Verbesserungen im Bereich der Fahrzeugbremsen. 1. Der Rad-Schiene-Kontakt und die Verbundstoff-Klotzbremse Die maßgebliche Geräuschquelle im Schienenverkehr ist der Rad-SchieneKontakt.10 Sobald ein Fahrzeug auf einem Gleis bewegt wird, entsteht ein ___________ 9 Eine Verhaltensweise, potentielle Bedrohungen oder Gefahrenlagen nicht zu lösen, sondern auf andere zu verschieben, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/St.-FloriansPrinzip. 10 Weitere Geräuschquellen können sich durch aerodynamische Fahrgeräusche im Hochgeschwindigkeitsverkehr, durch Lüfter an Triebfahrzeugen, durch Aggregate auf
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Rollgeräusch. Dieses wird wesentlich vom Grad der Verriffelung der Schienenlaufflächen und der Rauheit der Radlaufflächen bestimmt. Das lässt es naheliegend erscheinen, über einen integrierten Ansatz nachzudenken, das Rollgeräusch durch eine Verbesserung aller Laufflächen zu reduzieren. Dabei ist jedoch festzustellen, dass im Hinblick auf die Schienen die technischen Möglichkeiten einer Verbesserung in der Vergangenheit bereits nahezu ausgereizt wurden. Die Wirksamkeit des akustischen Schleifens (sog. „Besonders überwachtes Gleis“) ist weitgehend erforscht und allgemein anerkannt.11 Dieses und auch das sog. Oberbauschleifen12 kann einen zusätzlichen akustischen Nutzen nur entfalten, soweit die Radlaufflächen der Fahrzeuge keine oder eine möglichst geringe eigene Rauheit aufweisen. Die Rauheit der Radlaufflächen wird maßgeblich von der Bremsbauart des Fahrzeugs bestimmt. Bei Fahrzeugen mit Scheibenbremsen oder Radscheibenbremsen (z.B. moderne Lokomotiven, Triebwagen und Reisezugwagen) wirken die Bremsbeläge auf die Bremsscheiben ein – und damit nicht auf die Radlaufflächen. Ältere Lokomotiven und Wagen haben dagegen sog. Klotzbremsen, bei deren Betätigung Bremsklötze seitlich auf die Radlaufflächen gedrückt werden und die Reibung zwischen Klotz und Fläche nicht nur für das Abbremsen sorgt, sondern leider auch zu einer Aufrauhung der Räder führt. Problematisch sind dabei aus verschiedenen Gründen die Güterwagen.13 Zum einen werden die meisten im Einsatz befindlichen Güterwagen noch lange verkehren, ehe sie durch neue Wagen ersetzt werden. Zum anderen werden auch diese neuen Wagen in der überwiegenden Mehrzahl noch mit Klotzbremsen und nicht mit Scheibenbremsen ausgerüstet. Die herkömmlichen Klotzbremsen werden auch Grauguss-Klotzbremsen genannt und bestehen aus grauem Gusseisen. Der neue Lösungsansatz besteht ___________ Fahrzeugdächern und durch den Fahrzeugaufbau selbst (insbesondere bei Kesselwagen) ergeben. 11 Vgl. dazu die Verfügung des Eisenbahn-Bundesamtes vom 16.3.1998, Az. Pr.1110 Rap/Rau 98, und die unter Beachtung dieser Verfügung erlassenen Planfeststellungsbeschlüsse sowie die dazu ergangene Rechtsprechung, z.B. BVerwG, Beschl. vom 22.8.2007 – 9 B 8/07 –, NVwZ 2007, 1427-1428. 12 Unter dem Begriff „Oberbauschleifen“ ist das Schienenschleifen aus Gründen der Fahrwegunterhaltung und / oder des Fahrkomforts zu verstehen. 13 2010 sind in Deutschland insgesamt knapp 154.000 Güterwagen eingestellt; Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCterwagen. Nach Angaben des BMVBS und der Deutschen Bahn AG sind es sogar 183.000 Güterwagen, von denen ca. 150.000 für eine Umrüstung in Frage kommen (europaweit: 600.000 bis 700.000 / umrüstbar ca. 370.000); Quellen: http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/StB-LA/pilot-undinnovationsprogramm-leiser-gueterverkehr.html und http://www.bmvbs.de/cae/servlet/ contentblob/75838/publicationFile/48335/eckpunktevereinbarung-vom-juli-2011.pdf.
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darin, diese durch Verbundstoff-Klotzbremsen (Bremssohlen aus Verbundstoff) zu ersetzen. Derzeit werden zwei unterschiedliche Sohlentypen erprobt. Die LL-Sohle (Low-Low-Sohle) hat einen vergleichbaren Reibwert wie Grauguss-Sohle, so dass bei einer Umrüstung lediglich die Sohlen auszutauschen sind. Sie hat im bisherigen Entwicklungsstadium jedoch den Nachteil, dass Rad und Sohle offenbar schneller als bei der Grauguss-Sohle verschleißen und damit die Betriebskosten des Wagens steigen. Die weniger verschleißanfällige K-Sohle (Komposit-Sohle) hat den Nachteil, dass sie einen anderen Reibwert als Grauguss-Sohle hat und damit ein umfassender Umbau der Bremse erforderlich wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es anwendungsfähige alternative Bremssohlen gibt, dass aber auch technische Einzelfragen noch abschließend geklärt werden müssen, bis uneingeschränkte Zulassungen alternativer Produkte vorliegen.14 Bund und Bahn erwarten Gesamtkosten für die Umrüstung der deutschen umrüstbaren Güterwagen von ca. 300 mio. Euro und eine daraus resultierende Lärmreduzierung von 10 dB(A) für einen umgerüsteten Zug.15 Das würde bedeuten, dass sich die empfundene Lautstärke der Güterzugvorbeifahrt halbieren würde. 2. Innovative Schallschutzmaßnahmen Im Rahmen des Konjunkturprogramms II hat die Bundesregierung auch Finanzmittel für die Erforschung der Wirksamkeit so genannter innovativer Schallschutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Für insgesamt 80 Millionen Euro werden über das gesamte Bundesgebiet verteilt derzeit 13 neue Technologien – im Rahmen von insgesamt 88 Einzelvorhaben – erprobt.16 Dabei handelt es sich um Maßnahmen am Fahrweg selbst und auf dem Ausbreitungsweg.
___________ 14
Wegen technischer Einzelheiten und weiterführender Hinweise wird empfohlen, die Internetseite des BMVBS zu besuchen, insbesondere http://www.bmvbs.de/Shared Docs/DE/Artikel/StB-LA/pilot-und-innovationsprogramm-leiser-gueterverkehr.html. 15 Pressemitteilung des BMVBS Nr. 144/2011 vom 5.7.2011, Quelle: http://www. bmvbs.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2011/144-ramsauer-laermabhaengige-tras senpreise.html. 16 Pressemitteilung des BMVBS Nr. 016/2012 vom 31.1.2012, Quelle: http://www. bmvbs.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2012/016-ramsauer-kopa-schiene.html?li nkToOverview = DE%2FPresse%2FPressemitteilungen%2Fpressemitteilungen_node.ht m l%3Fgtp%3D36166_list%25253D2%23id78106.
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Schall gar nicht erst entstehen lassen sollen beispielsweise Schienenstegbedämpfer und Brückenabsorber.17 Die Schienenstegbedämpfer werden direkt an den Schienen montiert. Brücken sollen „entdröhnt“ werden. Die Ausbreitung von Schienenverkehrslärm reduzieren sollen beispielsweise niedrige Schallschutzwände und Lärmschutzwände aus Gabionen. Niedrige Schallschutzwände (mit einer Höhe von bis zu 76 cm) werden wie Bahnsteigkanten sehr eng am Gleis und dabei noch im Lichtraumprofil erstellt.18 Sie erhalten eine hochabsorbierende Verkleidung. Ihre Beugungskante liegt sehr günstig zur Schienenoberkante. Gabionen sind mit Steinen gefüllte Drahtkörbe. Sie sehen optisch wesentlich ansprechender als klassische Schallschutzwände aus. Die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen lässt sich derzeit noch nicht näher abschätzen. Denn die Maßnahmen mussten im Rahmen des Konjunkturprogramms II erst einmal baulich-technisch hergestellt werden. Die abschließende Auswertung der Erprobung wird für Mitte 2012 erwartet.19
IV. Rechtssetzung Die in Kapitel III.2. beschriebenen innovativen Schallschutzmaßnahmen führen derzeit noch nicht zu Aktivitäten auf der Ebene der Rechtssetzung, sie könnten jedoch die ersten Anwendungsfälle des „Innovationskapitels“ einer neuen Schall 03 sein. 1. Neue Schall 03 In den Jahren 2002–2006 hat ein Expertengremium unter Vorsitz des BMVBS und Beteiligung von Behörden, Unternehmen, Verbänden und Fachgutachtern eine neue „Schall 03 – Richtlinie zur Berechnung der Schallimmis-
___________ 17 Weitere Maßnahmen am Fahrweg: Schienenschmiereinrichtungen, Hochgeschwindigkeitsschienenschleifen, Weichenbeschäumung, verschäumtes Schottergleis, Unterschottermatten und besohlte Schwellen. 18 Weitere Maßnahmen im Ausbreitungsweg: Kombination von Lärmschutzwänden (klassisch oder aus Gabionen) und Fotovoltaik, Lärmspoiler an Lärmschutzwänden und C-förmige Schallreflexionswand. 19 Bundestagsdrucksache 17/8733, veröffentlicht unter http://dipbt.bundestag.de/dip 21/btd/17/087/1708733.pdf.
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sionen von Eisenbahnen und Straßenbahnen“ erarbeitet.20 Diese soll die noch immer geltenden Schall 0321 und Akustik 0422 aus dem Jahr 1990 ersetzen. Wegen der Methodik des Rechenverfahrens der 16. BImSchV23 und aufgrund einer statischen Verweisung in Anlage 2 zu § 3 der 16. BImSchV können die bestehenden Rechenvorschriften nicht ohne weiteres durch ein neues Regelwerk ersetzt werden. Vielmehr ist ein Verordnungsverfahren erforderlich. Das BMVBS hatte seinerzeit auch begonnen, eine Änderungsverordnung zur 16. BImSchV zu entwerfen, ehe dieses zugunsten anderer Aufgaben zurückgestellt wurde. Inzwischen räumt das BMVBS dem Verordnungsverfahren wieder eine höhere Priorität ein. Derzeit werden aufgrund des neuerlichen Fortschritts – der Entwurf aus dem Jahr 2006 ist auch schon wieder über fünf Jahre alt – kleinere Änderungen an der Schall 03 beraten. Nach Fertigstellung des Verordnungsentwurfs werden eine Ressortabstimmung mit dem BMU und eine Anhörung der beteiligten Kreise erfolgen. Danach ist die Zustimmung des Bundesrats einzuholen. Es ist anzunehmen, dass die Verordnung frühestens im Jahr 2013 in Kraft treten wird. Im oben angesprochenen Kapitel „Berücksichtigung anderer Bahntechnik und von schalltechnischen Innovationen“ ist ein Anerkennungsverfahren für „Bahntechnik, die in den Tabellen und Datenblättern dieser Richtlinie nicht aufgeführt ist“, geregelt.24 Während das Procedere der Anerkennung umfassend geregelt wird, bleibt offen und der Entscheidung des Verordnungsgebers vorbehalten, wer die „zuständige Stelle“ ist, die das Anerkennungsverfahren durchführen soll. 2. Schienenbonus Innerhalb des Schienenverkehrslärmschutzes ist kein Detailaspekt so umstritten wie der Schienenbonus. Dieser wurde 1990 in der 16. BImSchV (und in der Schall 03) als Korrektursummand zur Berücksichtigung der geringeren Störwirkung des Schienenverkehrs vom Verordnungsgeber normativ festgelegt ___________ 20
Ausführlich Berka, „Was ändert sich im Bahnlärm, wenn die neue Schall 03 eingeführt wird?“ in: Ronellenfitsch/Schweinsberg, „Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts XIII“, S. 79. 21 „Richtlinie zur Berechnung der Schallimmissionen von Schienenwegen“, im März 1990 von der Zentrale Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn eingeführt. 22 „Richtlinie für schalltechnische Untersuchungen bei der Planung von Rangierund Umschlagbahnhöfen“, am gleichen Tag in gleicher Weise eingeführt. 23 16. BImSchV – Verkehrslärmschutzverordnung vom 12.6.1990 (BGBl. I S. 1036), geändert durch Gesetz vom 19.9.2006 (BGBl. I S. 2146). 24 Kapitel 11 des aktuellen Entwurfs der neuen Schall 03.
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und hat seine Rechtsgrundlage in § 43 BImSchG. Fachliche Grundlagen waren eine Feldstudie und andere Untersuchungen, bei denen die Lästigkeit (als psychologische Störwirkung) des Jahres-Mittelungspegels von Schienenverkehrslärm mit dem von Straßenverkehrslärm verglichen wurde. Seit seiner Einführung wird der Schienenbonus von Vorhabenträgern, Planfeststellungsbehörden und Gerichten anerkannt. Nachdem er jedoch in der Öffentlichkeit vielfach infrage gestellt wurde, haben die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 für die 17. Legislaturperiode, Zeilen 1595-1598 verabredet: „Die Akzeptanz für einen weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur hängt entscheidend davon ab, dass die Lärmbelastung der Bevölkerung reduziert wird. Wir wollen deshalb den Lärmschutz ausweiten. Dazu wollen wir den Schienenbonus schrittweise reduzieren mit dem Ziel, ihn ganz abzuschaffen.“ Ein gutes Jahr später hat auch das Bundesverwaltungsgericht mahnende Worte gefunden und in einem Urteil vom Dezember 201025 ausgeführt (zit. Leitsatz): „Der Verordnungsgeber ist gehalten, die weitere Rechtfertigung des so genannten Schienenbonus auf der Grundlage der vorliegenden Studien der Lärmwirkungsforschung zu überprüfen.“ Der Deutsche Bundestag hat sich des Schienenbonus angenommen und am 18.03.2011 auf der Grundlage der Drs. 17/486126 u.a. beschlossen: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel auf, den Schienenbonus schrittweise abzuschaffen und dem Deutschen Bundestag hierzu einen Gesetzentwurf so rechtzeitig vorzulegen, dass die Vorhabenträger ab 2012 ihre Planungen für den neuen Bundesverkehrswegeplan ohne Schienenbonus planen können.“ So schnell ist es dann nicht gekommen, aber der Bundestag (konkret: der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung) hat am 14.12.2011 eine Sachverständigenanhörung zum Thema Verkehrslärm durchgeführt und dabei auch den Schienenbonus thematisiert.27 Die Bundesvereinigung gegen Schienenlärm e.V. hat im Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung über die Anhörung einen Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP veröffentlicht.28 Das mit dem Datum 07.12.2011 versehene und soweit erkennbar noch nicht anderweitig veröffentlichte Dokument trägt den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundes___________ 25
BVerwG, Urt. vom 21.12.2010 – 7 A 14.09 –, UPR 2011, 223-227. Quelle: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/048/1704861.pdf. 27 Weiterführende Unterlagen sind im Internet hinterlegt: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a15/Oeffentliche_Anhoerungen/Archiv/Verkehrslaerm _14_12_2011/index.html. 28 Quelle: http://www.schienenlaerm.de/schall03/Entwurf-BImschG-2011-12.pdf. 26
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Immissionsschutzgesetzes“ und beinhaltet eine neue Fassung von § 43 Abs. 1 Satz 2 BImSchG. Die Abschaffung des Schienenbonus soll danach an das Inkrafttreten der nächsten Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes29 gekoppelt werden. Finde sich ein Finanzierer der Mehrkosten, dann könne von der Anwendung des Schienenbonus schon vorher abgesehen werden. Dieser Entwurf wurde jedoch soweit erkennbar bislang nicht in ein Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Zuletzt erklärte die Bundesregierung in der Fragestunde vom 29.02.2012 gegenüber dem Bundestag, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Umsetzung des Ziels „Abschaffung des Schienenbonus“ aktuell kein Gesetz vorgesehen habe, sondern eine (weitere) Änderungsverordnung zur Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV) entwerfe, die sich derzeit in der Hausabstimmung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung befinde.30 Anschließend wären die Gremienbeteiligungen gemäß § 43 BImSchG durchzuführen: Anhörung der beteiligten Kreise (§ 51 BImSchG), Einholung der wohl erforderlichen Zustimmung des Bundesrats und Befassung des Bundestages. Daraus folgt für die Eisenbahnplanfeststellung, dass ein Vorhabenträger bis auf Weiteres bei der Berechnung der Schienenverkehrslärmimmissionen einen Schienenbonus von 5 dB(A) ansetzen kann. Ob in besonderen Situationen schon vorab auf den Schienenbonus verzichtet werden könnte, so wie das derzeit offenbar auf der Neu- und Ausbaustrecke Karlsruhe – Basel vorgesehen ist,31 wirft zahlreiche zusätzliche Rechtsfragen auf. Da ist zum einen an den Grundsatz der Gleichbehandlung von Lärmbetroffenen zu denken, an den das Bundesverwaltungsgericht richtigerweise immer wieder erinnert.32 Dieser gilt zumindest für alle von einer bestimmten Planung betroffenen Personen. Möglicherweise sind der Bund und die DB Netz AG aber auch gehalten, den Lärmbetroffenen anderer Planungen einen gleichen Schutz zu gewähren, wenn sie einmal ein höheres Schutzniveau gewähren („Präzedenzfall“). Andererseits erscheint es durchaus denkbar, dass im Falle von Zuwendungen Dritter für einen verbesserten Lärmschutz auch der Bund als Zuwendungsgeber und die DB Netz AG als Vorhabenträgerin noch einmal zusätzliche Mittel für einen verbesserten Schallschutz ohne präjudizierende Wir-
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Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes vom 25.11.1993 (BGBl. I S. 1874), zuletzt geändert durch Verordnung vom 31.10.2006 (BGBl. I S. 2407). 30 Quelle: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17161.pdf. 31 Quelle: http://rheintalbahn.wordpress.com/tag/schienenbonus m.w.N. 32 BVerwG, Urt. vom 20.1.2010 – 9 A 22/08 –, NVwZ 2010, 1151-1156 und juris m.w.N.
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kung für andere Vorhaben in die Hand nehmen dürfen, weil ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung der Planungen eingetreten sei.33 Aus der Praxis der Planfeststellung heraus erscheint es sinnvoll, den Schienenbonus nicht schrittweise, sondern in einem Akt (oder gar nicht) abzuschaffen und dafür eine sinnvolle Stichtagsregelung zu finden. Es sollte zunächst nicht die Ermächtigungsgrundlage (§ 43 BImSchG – durch Schaffung einer Ausnahme von der Ausnahme), sondern die auf dieser Grundlage erlassene Verordnung (16. BImSchV – durch den Wegfall der ursprünglichen Ausnahme) geändert werden, um eine möglichst unkomplizierte und klar verständliche Rechtslage zu schaffen. 3. Lärmabhängiges Trassenpreissystem Ein völlig neuer Weg zur Lärmbekämpfung ist die Schaffung eines finanziellen Anreizes für Eisenbahnverkehrsunternehmen und Fahrzeughalter über ein lärmabhängiges Trassenpreissystem. Eine Zugtrasse ist – so die Legaldefinition in § 2 Nr. 1 EIBV34 – derjenige Anteil der Schienenwegkapazität eines Betreibers der Schienenwege, der erforderlich ist, damit ein Zug zu einer bestimmten Zeit zwischen zwei Orten verkehren kann. Vereinfacht gesagt erwirbt ein Eisenbahnverkehrsunternehmen beim Betreiber des Schienenwegs das Recht, einen konkreten Schienenweg zu einer bestimmten Zeit mit einem Zug zu befahren – und bezahlt dafür einen Trassenpreis. Und das Entgelt für diesen Trassenpreis soll zukünftig auch über die mit der Zugfahrt verbundenen Lärmemissionen bestimmt werden. Genau genommen handelt es sich bei diesem Thema nicht um eine Frage der Rechtssetzung, denn das BMVBS und die Deutsche Bahn wollen das Trassenpreissystem auf der Grundlage des geltenden formellen Rechts (Richtlinie 2001/14/EG35, umgesetzt durch das Allgemeine Eisenbahngesetz36 und die Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung) einführen. ___________ 33
Vgl. BVerwG, Urt. vom 15.3.2000 – 11 A 31/97 –, NVwZ 2001, 79-81 und juris. Verordnung über den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur und über die Grundsätze zur Erhebung von Entgelt für die Benutzung der Eisenbahninfrastruktur vom 3.6.2005 (BGBl. I S. 1566), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2011 (BGBl. I S. 3044). 35 Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.2.2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. L 75 vom 15.3.2001 S. 29-46), zuletzt geändert durch Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 zur Änderung der Richtlinie 91/440/EWG des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft sowie der Richtlinie 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der 34
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Im Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 für die 17. Legislaturperiode wurde die politische Absicht in den Zeilen 1598-1599 vorgezeichnet: „Gleichzeitig wollen wir eine lärmabhängige Trassenpreisgestaltung bei der Bahn.“ Zur Umsetzung dieser Absicht haben das BMVBS und die Deutsche Bahn AG am 05.07.2011 eine sog. Eckpunktevereinbarung abgeschlossen. Demnach soll die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems zum Fahrplanwechsel am 09.12.2012 erfolgen. Die Laufzeit der Vereinbarung beträgt zunächst acht Jahre und ist mit dem Ziel verbunden, dass bis dahin keine Güterwagen mehr auf dem Schienennetz der DB Netz AG verkehren, die die Lärmgrenzwerte der TSI Noise37 überschreiten. Die Eckpunktevereinbarung beruht auf zwei Säulen. Eine Grundlage ist die formale Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems über die Veröffentlichung der Schienennetz-Benutzungsbedingungen der DB Netz AG für die Jahre 2012/2013 (SNB 2013) und folgende. Die andere Säule ist ein vom Bund und aus den angehobenen Trassenpreisen finanziertes Bonus-System für die Wagenumrüstung. Die Einzelheiten des Mittelabflusses und des Verwendungsnachweises sollen in einer Förderrichtlinie des BMVBS geregelt werden. Die Änderung der Schienennetz-Benutzungsbedingungen, insbesondere das von der DB Netz AG einzurichtende Umrüstregister, und die Bonusgewährung schaffen eine nicht unerhebliche zusätzliche Bürokratie für alle Beteiligten. Der Nutzen liegt in einer Steigerung der Akzeptanz des Schienengüterverkehrs bei der Bevölkerung insgesamt und einer deutlichen Beschleunigung der Lärmreduzierung für die betroffenen Anlieger. Er ist den Aufwand wert. Es ist zu hoffen, dass alle Marktteilnehmer und -aufseher diesen Nutzen mittragen werden und die geänderten Schienenwege-Benutzungsbedingungen und die geplante Förderrichtlinie von ihnen nicht in Frage gestellt werden.38
___________ Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 315 vom 3.12.2007 S. 44-50). 36 Allgemeines Eisenbahngesetz vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2378, 2396; 1994 I S. 2439), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2011 (BGBl. I S. 3044). 37 Beschl. 2011/229/EU der Kommission vom 4.4.2011 über die Technische Spezifikation für die Interoperabilität (TSI) zum Teilsystem „Fahrzeuge – Lärm“ des konventionellen transeuropäischen Bahnsystems (ABl. Nr. L 99 vom 13.4.2011 S. 1). 38 Zu den rechtlichen Bewertungen des BMVBS und der DB Netz AG siehe http://www.bmvbs.de/cae/servlet/contentblob/75838/publicationFile/48335/eckpunkteve reinbarung-vom-juli-2011.pdf.
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V. Rechtsprechung Die jüngeren Entscheidungen der Gerichte zum Lärmschutz mögen nicht ganz so spektakulär erscheinen wie die innovativen Techniken und die geplante Rechtssetzung. Dennoch soll an dieser Stelle auf eine aktuelle Entscheidung eingegangen werden. 1. Das Coswig-Urteil a) Reflexionen Im Fall der Coswig-Entscheidung – gemeint ist das sächsische Coswig an der Ausbaustrecke Leipzig-Dresden – des Bundesverwaltungsgerichts39 machte die Klägerin sinngemäß geltend, die auf der anderen Seite der Bahn geplante hochabsorbierende Schallschutzwand verursache Reflexionen, so dass schon deswegen auch auf ihrer Seite eine Schallschutzwand zu errichten sei.40 Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ist dem nicht gefolgt. Vielmehr nehme die 16. BImSchV die Schall 03 in Bezug, und dort sei geregelt, dass die Schallreflexionen hochabsorbierender Schallschutzwände keine Berücksichtigung in der Berechnung der Immissionspegel fänden. Diese Regelung sei nach wie vor vom Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers gedeckt. b) Grundrechtliche Zumutbarkeitsschwelle Bemerkenswert an dem Urteil ist, dass das Gericht diese Einordnung nicht nur im Rahmen des einfachrechtlichen Schutzanspruchs aus §§ 41-43 BImSchG i.V.m. der 16. BImSchV, sondern auch unter dem Blickwinkel der grundrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle vornimmt. Dabei fällt auf, dass das Gericht in der Urteilsbegründung ausdrücklich von einer „in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten grundrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle von 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts“ ___________ 39
Eine von zwei Entscheidungen zum Vorhaben, und zwar: BVerwG, Urt. vom 15.12.2011 – 7 A 11.10 –, soweit erkennbar noch nicht veröffentlicht; Pressemitteilung des BVerwG Nr. 112/2011: http://www.bverwg.de/enid/76b8d456d990fdce89d374a495 5a6852,04b52f7365617263685f646973706c6179436f6e7461696e6572092d0931343030 36093a095f7472636964092d09353737/Pressemitteilungen/Pressemitteilung_9d.html 40 Vgl. dazu auch Berka, „Was ändert sich im Bahnlärm, wenn die neue Schall 03 eingeführt wird?“ in: Ronellenfitsch/Schweinsberg, „Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts XIII“, S. 79, 83.
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spricht.41 Damit werden diese Werte soweit ersichtlich erstmals nicht mehr als für den konkreten Einzelfall sachgerecht relativiert,42 sondern als feste Grenzwerte für die grundrechtliche Zumutbarkeit definiert. In einer Berechnung der Immissionspegel für den Vergleich mit der grundrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle brauchen die Reflexionen hochabsorbierender Schallschutzwände nicht einbezogen werden, da der Verordnungsgeber das auf der einfachrechtlichen Ebene auch nicht vorgesehen hat. Diese Entscheidung ist insofern zu begrüßen, als dass sich damit die Rechenverfahren auf den beiden Prüfungsebenen nicht unterscheiden, sondern die für einen Immissionsort gefundenen Beurteilungspegel jeweils mit den Grenzwerten der 16. BImSchV oder der grundrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle verglichen werden können. Als Konsequenz aus der – sachgerechten – Schlussfolgerung des Gerichts ist aber auch festzuhalten, dass der Schienenbonus, solange es ihn noch gibt, ebenfalls auf beiden Ebenen – einfachrechtlich und grundrechtlich – zur Anwendung kommt. Denn er entspricht bis zu einer Änderung der einfachrechtlichen Normen ebenso wie andere Wertungen dem Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetz- und Verordnungsgebers.43 Forderungen, dass die Beurteilungspegel, die mit der grundrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle verglichen werden, ohne Einbeziehung des Schienenbonus ermittelt werden, sind also bis zu dessen Abschaffung zurückzuweisen. 2. Die weitere Rechtsprechung Wegen der Linienförmigkeit beider Verkehrswege lohnt im Eisenbahnrecht immer wieder ein Blick auf die Rechtsprechung zu (Bundesfern-)Straßen. Die Entscheidung des BVerwG vom 19.10.201144 ist sicher auch auf die Eisenbahn übertragbar. Die Frage des Beschwerdeführers betrifft den nachträglichen Lärmschutz für eine nach der Planfeststellung errichtete bauliche Anlage. Sie lautet wörtlich: „Setzt die Geltendmachung eines Anspruchs auf Gewährung nachträglichen Lärmschutzes nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG durch einen Be___________ 41 Die grundrechtliche Zumutbarkeitsschwelle wurde zuletzt vom BVerwG im Urt. vom 9.7.2008 – 9 A 5/07 –, DVBl 2008, 1311-1313 und juris, thematisiert, ohne dass eine Festlegung fester Schwellenwerte erfolgt wäre; unter Verweisung auf den BGH zuvor ausdrücklich gegen die Festlegung fester Immissionsgrenzwerte: BVerwG, Urt. vom 12.4.2000 – 11 A 18/98 –, BVerwGE 111, 108-122 und juris. 42 Vgl. Berka, in: Kunz, „Eisenbahnrecht“, A.6.2 – Kommentierung zur 16. BImSchV, Einleitung, Rdnr. 12. 43 Vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2 BImSchG und Anlage 2 zu § 3 der 16. BImSchV, vgl. auch BVerwG, Urt. vom 21.12.2010 – 7 A 14/09 –, UPR 2011, 223-227 und juris. 44 BVerwG, Beschl. vom 19.10.2011 – 9 B 9/11 –, NVwZ 2012, 46-47 und juris.
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troffenen – unterhalb der Schwelle der nachträglichen Lärmsanierung – zwingend voraus, dass eine bauliche Anlage auf dessen Grundstück zum Zeitpunkt des Planfeststellungsbeschlusses bereits vorhanden oder durch Baugenehmigung hinreichend konkretisiert gewesen ist oder genügt vielmehr, dass die bauliche Anlage zum Zeitpunkt des Vorliegens nicht voraussehbarer Wirkungen des Vorhabens auf dem Grundstück vorhanden oder, wenn nicht vorhanden, zumindest durch Baugenehmigung hinreichend konkretisiert gewesen ist? Das BVerwG erklärt unter Hinweis auf seine frühere Entscheidung vom 07.03.2007,45 dass diese Frage bereits im Sinne der erstgenannten Alternative beantwortet sei. Es genügt also nicht, dass das Objekt, auf das sich die nachträglich eingetretene und ursprünglich nicht vorhersehbare Wirkung richtet, selbst erst nach der Planfeststellung hinreichend planerisch konkretisiert und errichtet wurde.
VI. Ausblick Es bleibt abzuwarten, wie sich die aufgezeigten technischen und rechtlichen Entwicklungen letztendlich im Einzelnen und zusammen betrachtet auswirken werden. Dabei deutet sich an, dass die Lärmemissionen durch Schienenverkehr in den nächsten Jahren trotz des erwarteten Verkehrszuwachses – insbesondere im Güterverkehr – abnehmen werden. Offen sind dabei der Zeitpunkt und das Maß des Rückgangs. Man wird sehen, wie schnell Wagenumbauprogramme greifen, wie weit das „Besonders überwachte Gleis“ weitere Anwendungsstrecken findet und welche Auswirkungen lärmabhängige Trassenpreise auf das Verhalten der Eisenbahnunternehmen haben werden. Im Hinblick auf die innovativen Schallschutzmaßnahmen ist allerdings vor übereiltem Optimismus zu warnen. Diese werden voraussichtlich zum Teil sinnvolle Ergänzungen, aber keine Allheilmittel sein. Und ein kombinierter Einsatz oder eine Kombination mit „klassischen aktiven Schallschutzmaßnahmen“ wie Schallschutzwänden und -wällen würde wohl in der Regel auch nicht zu einer Addition der Effekte führen. Vielmehr dürften sich die Wirkungen teilweise neutralisieren. Der Schall, den die eine Schutzmaßnahme absorbiert, wird die andere Schutzmaßnahme schon nicht mehr erreichen. Es wird in den meisten Fällen wohl auf ein „Entweder – Oder“ hinauslaufen: Entweder wird eine innovative Maßnahme vorgesehen oder eine konventionelle Schallschutzwand. Zumindest im dicht bebauten Raum dürfte es dabei nur wenige Konstellationen geben, bei denen eine innovative Schallschutzmaßnahme von den ___________ 45
BVerwG, Urt. vom 7.3.2007 – BVerwG 9 C 2.06 –, BVerwGE 128, 177.
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Kosten und der Wirkung her gegenüber einer herkömmlichen Schallschutzwand vorzugswürdig ist. Der für die eisenbahnrechtliche Lärmvorsorge und -sanierung bedeutendste Einschnitt wird der Wegfall des Schienenbonus sein. Die Erhöhung der Beurteilungspegel um 5 dB(A) wird nicht durch den Einsatz innovativer Schallschutzmaßnahmen ausgeglichen werden können. Eine Kompensation wird allenfalls durch den vermehrten Einsatz lärmarmer Verbundstoff-Klotzbremsen erfolgen können. Und diese müssen erst einmal mit einem bestimmten Rechenwert zugelassen worden sein, um in einer schalltechnischen Untersuchung Berücksichtigung finden zu können. Daraus folgt, dass in den Genehmigungsverfahren nach dem Wegfall des Schienenbonus voraussichtlich umfangreichere aktive und passive Schallschutzmaßnahmen planfestzustellen sind als zuvor. Das, was aus Sicht des Immissions- und Gesundheitsschutzes höchst begrüßenswert ist, wird sich auf die Wirtschaftlichkeit von Neu- und Ausbaumaßnahmen negativ auswirken. Es bleibt abzuwarten, ob es sich für die eine oder andere Baumaßnahme als immissionsfachliches oder wirtschaftliches k.o.-Kriterium erweisen wird.46 Andererseits werden im Rahmen zahlreicher Projekte schon jetzt bis zu fünf und sechs Meter hohe Schallschutzwände gebaut.47 Vermehrt weisen Kommunen und Anwohner in Planfeststellungsverfahren auf die negativen Auswirkungen so hoher Wände hin. Unter Hinweis auf das Orts- und Landschaftsbild sowie Verschattungswirkungen wird zumindest den Forderungen anderer Verfahrensbeteiligter nach höheren Wänden – wenn nicht sogar den Planungen des Vorhabenträgers – widersprochen. Sollten also die Schienenverkehrslärmemissionen in den nächsten Jahren wie erwartet zurückgehen und dabei auch der Verkehrszuwachs überkompensiert werden, so wird es einen neuen Typ Vorhaben geben. Kommunen und Bürgerinitiativen werden auf die Infrastrukturbetreiber zugehen und fordern, die Schallschutzwände teilweise zurückzubauen. Das wird sicher nicht die zwei, drei oder vier Meter hohen Schallschutzwände aus Lärmvorsorge oder Lärmsanierung betreffen. Aber die fünf bis sechs Meter hohen Schallschutzwände, die in den letzten Jahren gebaut wurden und wohl auch noch eine Zeit lang gebaut werden, dürften irgendwann in ihrer Höhe hinterfragt werden. ___________ 46
Vgl. auch Bundestagsdrucksache 17/8733, veröffentlicht unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/087/1708733.pdf. 47 Aufgrund der Sog- und Druckverhältnisse im Eisenbahnwesen, das sich insoweit gravierend vom erheblich harmonischeren Straßenverkehr unterscheidet, finden die technischen Machbarkeiten hier ihre Grenzen, will man nicht zu weit von den Gleisachsen abrücken und damit die Absorptionswirkungen wieder reduzieren.
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Nach der Einführung einer neuen Schall 03 und der Anerkennung der Emissionskennwerte für alternative Klotzbremsen wird man mit überarbeiteten Verkehrsprognosen und dann wohl ohne einen Schienenbonus neue schalltechnische Untersuchungen erarbeiten und Vergleichsrechnungen aufstellen können. Diese werden in jedem Einzelfall zeigen, ob kein, ein oder gar zwei Meter Höhe einer Schallschutzwand belastungsneutral wieder abgebaut werden können. Eine solche Entwicklung wird sicher nicht in den nächsten Jahren kommen, aber irgendwann im nächsten Jahrzehnt wird sie eintreten.
Verkehrsgutachten: Methodik, Aussagekraft und Grenzen Von Volker Blees
I. Vorbemerkung Verkehrsgutachten spielen in Genehmigungsverfahren für Verkehrswegevorhaben häufig eine zentrale Rolle, indem sie den argumentativen Kern für den Nachweis der Notwendigkeit des Vorhabens, seiner Vorteilhaftigkeit und/oder seiner Auswirkungen bilden. Verkehrsgutachten werden in der Regel von Verkehrsingenieuren mit Hilfe der einschlägigen Methoden ihres Fachs erstellt und in ihrer Fachsprache verfasst. Beides erschließt sich dem verkehrsplanerischen Laien nicht ohne weiteres. Zugleich besteht aber bei Juristen, die mit dem Genehmigungsverfahren befasst sind, großes Interesse, das Zustandekommen und die Ergebnisse eines Verkehrsgutachtens nachvollziehen zu können. Nachfolgend wird daher der Versuch unternommen, aus Ingenieursicht die methodische Herangehensweise bei der Erstellung von Verkehrsgutachten darzustellen, um Planfeststellern und anderen mit Verkehrsgutachten befassten Juristen das Verständnis zu erleichtern. Der Fokus des Beitrags liegt darauf, einen generellen Zugang zur Materie sowie einen Eindruck von den Stärken und den Grenzen von Verkehrsgutachten zu vermitteln. Notwendigerweise wird die komplexe Materie hierfür vereinfacht.
II. Einführung: Wozu dienen Verkehrsgutachten? Aufgabe von Verkehrsgutachten ist es, Entscheidungen über verkehrliche Maßnahmen vorausschauend und systematisch vorzubereiten und zu unterstützen. Die inhaltliche Bandbreite von in Verkehrsgutachten behandelten verkehrlichen Maßnahmen reicht dabei von baulichen Maßnahmen wie etwa dem Neuund Ausbau von Straßen und Schienenwegen über betriebliche Maßnahmen wie etwa Lichtsignalschaltungen oder Verkehrsbeeinflussungssysteme bis hin zu sonstigen Maßnahmen, etwa aus dem Handlungsfeld der Besteuerung und Gebührenerhebung (z.B. City-Maut) oder der Verkehrsinformation. Im Mittelpunkt juristischen Interesses stehen in der Regel – im Rahmen von Planfeststellungs- oder Bauleitplanverfahren – Verkehrsgutachten zu baulichen Maßnahmen. Aber auch bei betrieblichen Maßnahmen und Handlungsstrategien wie
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etwa die Einführung von Umweltzonen geraten Verkehrsgutachten zunehmend ins Blickfeld gerichtlicher Überprüfung. Planungstheoretisch betrachtet können Verkehrsgutachten grundsätzlich zwei verschiedene Typen von Entscheidungen unterstützen: • Entscheidungen über die Wahl aus mehreren Maßnahmenalternativen (Alternativenentscheidungen), wie sie etwa in Linienbestimmungsverfahren vorkommen, sowie • Entscheidungen über die Realisierung bestimmter verkehrlicher Maßnahmen (Ja-/Nein-Entscheidungen). In der Praxis mischen sich häufig diese beiden Typen, indem die Hauptfunktion eines Verkehrsgutachtens in der Legitimation einer a priori für notwendig gehaltenen Maßnahme liegt: Die „Ob-Frage“ ist dann bereits vorab mit positiv beantwortet, und Aufgabe des Verkehrsgutachtens ist es, eine durchsetzungsfähige Variante der Maßnahme zu finden bzw. argumentativ zu unterlegen1. Verkehrsgutachten bereiten Entscheidungen vor, welche in mehreren Dimensionen bedeutsam sind: • Ökonomische Relevanz: Die Entscheidung über eine verkehrliche Maßnahme zieht Investitions- und Betriebskosten nach sich. Für die Nutzer des Verkehrssystems entstehen verkehrsökonomische Folgewirkungen von Maßnahmen, beispielsweise aufgrund veränderter Reisezeiten und Wegelängen. Das Verkehrsgutachten muss demzufolge die ökonomischen Wirkungen einer Maßnahme beschreiben. • Ökologische Relevanz: Die Umsetzung einer verkehrlichen Maßnahme hat Auswirkungen auf die Umwelt, sei es unmittelbar, beispielsweise durch bauliche Eingriffe in die vorhandene Landschaft, sei es mittelbar, etwa durch Veränderungen der verkehrsbedingten Emissionen infolge der Maßnahme. Das Verkehrsgutachten muss die erforderlichen Grundlagen für die Ermittlung dieser Wirkungen liefern. • Politische Relevanz: Eine verkehrliche Maßnahme, vor allem eine solche größerer Dimension, ist nur dann entscheidungsfähig und politisch durchsetzbar, wenn ihr Nutzen nachvollziehbar dargestellt und gegen negative Wirkungen abgewogen ist. Das Verkehrsgutachten muss hier als Grundvoraussetzung für die Akzeptanz von Planung die zu erwartenden Wirkungen auf das Verkehrsgeschehen, also etwa Zu- und Abnahmen von Verkehrsströmen liefern und auch deren Herleitung glaubwürdig und transparent darstellen. ___________ 1
Zu dieser Eigendynamik von Planung insbesondere bei größeren Vorhaben und lang laufenden Planungen siehe Selle (2011).
Verkehrsgutachten: Methodik, Aussagekraft und Grenzen
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Die zentrale Fragestellung an das Verkehrsgutachten lautet mithin in allen Relevanzdimensionen: Welche Wirkungen hat die Maßnahme? Zur Beschreibung der Wirkungen verkehrlicher Maßnahmen können und sollen Verkehrsgutachten (je nach konkretem Planungsobjekt) Aussagen über folgende Merkmale des Verkehrsgeschehens treffen: • Räumlich und zeitlich differenzierte Belastungen von Verkehrsanlagen: Wie viele Fahrzeuge oder Fahrgäste sind auf einzelnen Netzabschnitten und an Knoten zu erwarten, wie weit wird die Leistungsfähigkeit der einzelnen Netzelemente ausgeschöpft? • Anzahl der Ortsveränderungen eines definierten Gebiets, ggf. differenziert nach verschiedenen Merkmalen der Ortsveränderung: Woher und wohin finden wie viele Wege statt, zu welchen (Tages-)Zeiten, mit welchen Verkehrsmitteln und zu welchen Zwecken? • Weitere mit dem Verkehrsgeschehen unmittelbar verbundene Merkmale: welche Reisezeiten bestehen zwischen verschiedenen Quellen und Zielen des Verkehrs, wie viele Personen- oder Fahrzeugkilometer werden im Planungsgebiet zurückgelegt, wie viel Zeit im System verbracht usw.? • Abgeleitete Größen: Welche Emissionen entstehen durch den Verkehr, welche Kosten müssen die Verkehrsteilnehmer aufbringen usw.? Eine Einordnung und Beurteilung dieser Wirkungen wird erst durch Vergleiche möglich: Der Wert einer verkehrlichen Maßnahme bemisst sich im Vergleich zum Jetzt-Zustand (Status quo), zu einem künftigen Zustand ohne diese Maßnahme (so genannter Planungsnullfall) oder zu einer alternativen Maßnahme. Verkehrsgutachten ermitteln folglich immer die verkehrlichen Wirkungen bzw. die oben genannten Merkmale des Verkehrsgeschehens für verschiedene Planfälle und stellen diese einander gegenüber.
III. Methodik: Wie gehen Verkehrsgutachten vor? 1. Grundidee der Verkehrsmodellierung Die Ermittlung und Darstellung der Wirkungen einer verkehrlichen Maßnahme steht, wie zuvor beschrieben, im Mittelpunkt jeden Verkehrsgutachtens. Zur Ermittlung der Wirkungen einer jedweden Maßnahme stehen nun grundsätzlich zwei Lösungswege zur Verfügung: das Experiment in der Realität und die Simulation der Realität im Modell. Da das Experiment naheliegender Weise nur für wenige verkehrliche Fragestellungen in Betracht zu ziehen ist – wer würde etwa testweise eine Umgehungsstraße bauen wollen, um deren Ver-
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kehrswert zu messen? – ist die Modellierung des Verkehrsgeschehens das Mittel der Wahl. Allgemein gesprochen sind Modelle vereinfachte Abbilder der Realität, wobei der Abbild-Begriff hier nicht nur die äußere Gestalt umfasst2, sondern auch die inneren Wirkzusammenhänge. Die Bildung oder Erstellung eines Modells lässt sich als Prozess in drei Stufen beschreiben: 1. Ausschnittbildung: Aus der gesamten Realität werden nur jene Elemente berücksichtigt, die für die Modellfragestellung von Bedeutung sind. Für ein Verkehrsmodell ist dies das Verkehrssystem mit all seinen Elementen, während etwa ökologische oder soziale Systeme außen vor bleiben können. 2. Abstraktion: Auch der Ausschnitt der Realität ist noch zu komplex, um sinnvoll in einem Modell erfasst zu werden. Daher werden die Elemente abstrahiert, d.h. auf jene Aspekte reduziert, die für die Fragestellung relevant sind. In gängigen Verkehrsmodellen ist etwa die exakte Kurvenführung und Beschaffenheit einer Straße nicht von Belang: sie kann im Modell durch eine Gerade zwischen zwei Punkten ersetzt werden. 3. Modellformulierung: Schließlich sind die inneren Wirkzusammenhänge zwischen den einzelnen abstrahierten Elementen zu beschreiben. In Verkehrsmodellen findet sich hierfür eine Vielzahl mathematischer Formulierungen, etwa für den Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit einer Straße und der Qualität des Verkehrsflusses, oder zwischen einem Arbeitsplatzstandort und dessen verkehrlicher Anziehungskraft. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Modellbildungsprozess dem Grunde nach – wenngleich in der Regel unbewusst und von Intuition bestimmt – auch bei Alltagsentscheidungen abläuft. Die Verkehrsmodellierung erfordert demgegenüber freilich ein systematisches und exaktes Vorgehen. Das generelle Vorgehen bei der Modellanwendung in Verkehrsgutachten ist in Abbildung 1 schematisch dargestellt. Zunächst wird das heutige Verkehrsgeschehen mit Hilfe von Daten und Informationen über Verkehrsnetz, verkehrserzeugende Raumstrukturen, Verkehrsverhalten und tatsächliche Verkehrsströme im Modell abgebildet. Die der Modellierung zu Grunde liegende Basisthese ist nun, dass das Modell, wenn es das heutige Verkehrsgeschehen hinreichend gut abbildet, auf Veränderungen genauso reagiert, wie die Realität reagieren würde, wenn die Veränderungen real stattfänden. Auf diese Weise wird es möglich, Veränderungen im Modell vorzunehmen und deren Wirkungen „abzulesen“. ___________ 2
Dies wäre bspw. bei (Spiel-)Automodellen oder Architekturmodellen der Fall.
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Abbildung 1: Generelles Vorgehen bei Verkehrsmodellen in Verkehrsgutachten
Zu berücksichtigen sind dabei zwei Typen von Veränderungen: Die verkehrlichen Maßnahmen, die im Fokus des Verkehrsgutachtens stehen, aber auch die allgemeinen Veränderungen des Verkehrsgeschehens, die sich über die Zeit unabhängig von den zu prüfenden Maßnahmen ergeben (z.B. Veränderungen der Motorisierung oder der Nutzerkosten). Für den Aufbau von Verkehrsgutachten leitet sich daraus ein Vorgehen in drei Schritten ab: Im ersten Schritt ist das aktuelle Verkehrsgeschehen zu modellieren (Status quo). Im zweiten Schritt sind jene Veränderungen im Modell abzubilden, die sich bis zum Prognosehorizont unabhängig von den zu untersuchenden Maßnahmen ergeben (Planungsnullfall). Im dritten Schritt schließlich sind zusätzlich zu diesen „Ohnehin-Veränderungen“ die zu untersuchenden Maßnahmen zu modellieren (Planfall); dabei können auch verschiedene Planfälle einander gegenübergestellt werden. Es entspricht der Natur eines Modells, mit Ungenauigkeiten behaftet zu sein, da es notwendiger Weise die Realität vereinfacht abbildet. Die Güte und Aussagequalität eines Modells hängen dabei systematisch von zwei Faktoren ab: von der Qualität der Eingangsdaten sowie von der Güte der eigentlichen Modellspezifikation, also der Abbildung der inneren Wirkungszusammenhänge. Es ist zu beachten, dass beide Faktoren einander bedingen (vgl. Abbildung 2): Versucht man bei der Modellbildung, möglichst viele reale Sachverhalte und Zusammenhänge zu berücksichtigen (hohe Komplexität), so senkt man damit den so genannten Spezifikationsfehler, also den Fehler, der durch Vereinfachungen gegenüber der Realität entsteht. Zugleich steigen dadurch die Anforderungen an Umfang und Differenziertheit der Eingabedaten. Eingabedaten sind aber ihrerseits regelmäßig mit Mess- und Übertragungsfehlern behaftet. Je
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mehr Daten also im Modell verwendet werden, desto größer ist auch der Fehler, den diese Daten ins Modell „mitbringen“. Versucht man umgekehrt, mit wenigen, genauen Daten auszukommen, so kann man nur ein sehr einfaches Modell entwickeln (geringe Komplexität), das dann wiederum einen größeren Spezifikationsfehler aufweist.
Abbildung 2: Qualitativer Zusammenhang zwischen Modellfehler und Modellkomplexität
In der Verkehrsmodellierung gab es über lange Zeit hinweg einen theoriegetriebenen Trend zu immer komplexeren Modellierungsverfahren und -algorithmen. Erst in jüngerer Zeit wird verstärkt hinterfragt, welche Daten in der verkehrsplanerischen Praxis überhaupt mit vertretbarem Aufwand und hinreichender Genauigkeit zur Verfügung gestellt werden können. 2. Abbildung des Status quo-Verkehrsgeschehens Wie im vorigen Abschnitt ausgeführt, werden im Modell reale Sachverhalte vereinfacht abgebildet. Bei der Modellierung des Verkehrsgeschehens sind es zwei Wirklichkeitsbereiche, die zu berücksichtigen sind: • Verkehrsinfrastruktur: Die Infrastruktur bildet gleichsam das „Gefäß“, in dem sich der Verkehr abspielt. Die einzelnen Elemente der Infrastruktur wie Straßenabschnitte oder Straßenknoten verfügen über spezifische Eigenschaften wie Lage, Verkehrskapazitäten, zulässige Geschwindigkeiten oder Netzzusammenhang, die für ihre Nutzung maßge-
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bend sind. Bei der Modellierung des öffentlichen Verkehrs ist zusätzlich das Fahrtenangebot (Fahrplan) abzubilden. Verkehrsnachfrage: Die Nachfrage entspricht den tatsächlichen stattfindenden Ortsveränderungen. Sie wird bestimmt einerseits von den „Verkehrsgelegenheiten“, also von der Art und der räumlichen Verteilung von Quellen und Zielen wie Wohnungen, Schulen und Arbeitsplätzen, sowie andererseits von den Möglichkeiten, Verkehrsbedürfnissen und Präferenzen der mobilen Menschen.
Die Infrastruktur sowie die Quellen und Ziele des Verkehrs werden innerhalb von Verkehrsmodellen in so genannten Netzmodellen abgebildet. Abbildung 3 zeigt hierfür ein schematisches Beispiel. Die Straßen und Wege sind als einfache Kanten abgebildet, die in Knoten miteinander verbunden sind. Für alle im Modell enthaltenen Kanten und Knoten sind die maßgebenden Attribute hinterlegt wie Lage, Länge, Anzahl der Fahrspuren, zulässige Geschwindigkeiten, Vorfahrtregelungen an Knoten usw. Welche Straßen und Wege ins Modell aufgenommen werden, hängt von dessen Anwendungszweck ab: Für ein nationales Verkehrsmodell mögen lediglich überörtliche Straßen von Bedeutung sein, in einem kommunalen Modell können auch Wohn- und Fußwege eine Rolle spielen. Die Quellen und Ziele des Verkehrs werden durch so genannte Verkehrszellen oder Verkehrsbezirke repräsentiert. Für jede Zelle sind im Modell alle maßgebenden Strukturdaten hinterlegt, wie etwa die Anzahl der Einwohner, der Arbeitsplätze, der Schulplätze, Art und Größe von Einkaufs- und Freizeitgelegenheiten usw. In Abbildung 3 sind zwei kleinere Orte jeweils identisch mit einer Verkehrszelle, während die größere Stadt in mehrere Zellen aufgeteilt ist. Auch hier hängt es wieder vom Anwendungszweck des Modells ab, wie fein die Zellen eingeteilt werden: in einem nationalen Modell mag eine Einteilung auf Landkreisebene ausreichend sein, in einem kommunalen Modell kann jeder Bebauungsblock eine eigene Zelle bilden.
Abbildung 3: Schematisches Beispiel für ein Netzmodell
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Nach dem Aufbau des Netzmodells als „Gefäß“ der Verkehrsentstehung bzw. des Verkehrsablaufs besteht der nächste Schritt der Verkehrsmodellierung darin zu ermitteln, von wo nach wo wie viel Verkehr mit welchen Verkehrsmitteln fließt. Hierfür werden komplexe Berechnungen unter Verwendung der Strukturdaten, empirischer Befunde zum Mobilitätsverhalten sowie ökonomischen Nutzen- und Bewertungsfunktionen durchgeführt. Vereinfacht lassen sich die dahinter stehenden Überlegungen wie folgt veranschaulichen: • Wie viel Verkehr in einer Zelle entsteht oder in diese Zelle fließt, hängt von den verkehrserzeugenden Gelegenheiten in der Zelle ab. So ist aus empirischen Befunden bekannt, dass jede Person pro Tag im Mittel rund 3,3 Wege zurücklegt. Wohnen in einer Zelle 100 Personen, so legen diese zusammen hochgerechnet 330 Wege zurück. Ebenso anschaulich ist, dass etwa ein Kita-Platz in einer Zelle je Tag einen Hinweg zur Kita und einen Rückweg erzeugt. • Wohin der in einer Zelle entstehende Verkehr fließt, hängt von der Verteilung und Erreichbarkeit der möglichen Ziele ab. Schon aus allgemeiner Anschauung gilt: je weiter ein Ziel entfernt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es gewählt wird. Mit Hilfe von empiriegestützten Bewertungs- und Widerstandsfunktionen sowie ZielwahlWahrscheinlichkeiten lässt sich so eine so genannte Verkehrsbeziehungsmatrix errechnen, in der abgebildet ist, von welcher zu welcher Verkehrszelle pro Tag wie viele Wege zurückgelegt werden. • Mit welchen Verkehrsmitteln die Wege zurückgelegt werden, hängt wesentlich von der Verfügbarkeit und von der Attraktivität der verschiedenen Verkehrsmittel für jede einzelne Quell-Ziel-Relation ab. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Reisegeschwindigkeit: je schneller ein Ziel mit einem bestimmten Verkehrsmittel im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln erreichbar ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es gewählt wird. Auch hier kommen bei der Modellberechnung empiriegestützte Bewertungs- und Widerstandsfunktionen zur Anwendung. • Auf welchen Routen schließlich die Wege zurückgelegt werden, hängt wiederum von der Attraktivität verschiedener Routen im Vergleich zueinander ab. Maßgebend ist hier erfahrungsgemäß die Reisezeit: in der Regel wird die zeitkürzeste Route gewählt. Auch hier kommen bei der Modellberechnung empiriegestützte Bewertungs- und Widerstandsfunktionen zur Anwendung. Festzuhalten ist, dass in einem Verkehrsmodell eine Vielzahl verschiedener Eingabedaten, empirischer Daten zum Mobilitätsverhalten sowie Bewertungsund Widerstandsfunktionen verwendet werden. Um sicherzustellen, dass das aufgebaute Modell tatsächlich das Verkehrsgeschehen im Status quo abbildet, muss es an Hand von realen Verkehrsdaten geeicht werden. Hierzu werden die Modellergebnisse mit den Ergebnissen realer
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Verkehrszählungen und Befragungen verglichen. Sind die Abweichungen unbefriedigend groß, so muss das Modell entsprechend angepasst und verbessert werden. Dies erfordert in aller Regel händische Anpassungen an den Parametern der verschiedenen Bewertungs- und Widerstandsfunktionen. Hier kommt in der Regel Erfahrungswissen der Modelanwender zum Tragen, da es Optimierungsverfahren im engeren Sinn für diese Problemstellung nicht gibt. Wissenswert ist, dass es in Deutschland keine allgemeingültige Kenngröße für die Übereinstimmung zwischen Modellergebnis und realen Verkehrsdaten gibt. Erst recht gibt es keinen Maßstab dafür, ab welcher Übereinstimmung ein Modell als gut gelten kann. In der Praxis werden Modelle verwendet, bei denen das Modellergebnis im Mittel um 10% bis 20% von den gezählten Werte abweicht; Differenzen von mehr als 50% an einzelnen Netzabschnitten sind keine Seltenheit. 3. Prognose künftigen Verkehrsgeschehens Wie in Abschnitt III.1. bereits dargestellt, bildet die Abbildung des Verkehrsgeschehens des Status quo lediglich die Grundlage für den eigentlichen Gegenstand des Interesses: die Wirkungen bestimmter verkehrlicher Maßnahmen. Um diese zu ermitteln, muss eine Prognose angestellt werden, indem das Modell variiert und verändert wird. Zunächst sind im Modell Veränderungen zu berücksichtigen, welche sich unabhängig von den konkret zu untersuchenden Maßnahmen vollziehen. Dies sind beispielsweise Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung (Demographischer Wandel), strukturelle Veränderungen im Untersuchungsraum (Entwicklung neuer Siedlungsflächen, Schließung von Schulen und Arbeitsstätten, …), veränderte Verkehrsmittelverfügbarkeit (steigende Motorisierung, Führerschein mit 17, …), aber auch veränderte Mobilitätsgewohnheiten („Renaissance des Fahrrads“, …). Wie schon an den einzelnen Beispielen anschaulich wird, liegen Angaben und Prognosen zu diesen Veränderungen in sehr unterschiedlicher Konkretheit und Qualität vor. Während etwa die Siedlungsentwicklung recht gut aus Plänen der Raumordnung und Bauleitplanung abgeleitet werden kann, sind Ausblicke auf Veränderungen der Mobilitätskultur doch meist mit recht großen Unsicherheiten behaftet. Daraus ergibt sich zwangsläufig bereits für diesen so genannten Planungsnullfall eine gewisse Unsicherheit der Modellergebnisse. Im nächsten Schritt wird aufbauend auf dem Planungsnullfall die zu untersuchende Maßnahme im Modell berücksichtigt, indem beispielsweise das Netzmodell ergänzt und angepasst wird.
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Abbildung 4 zeigt symbolisch die Veränderungen im Prognosefall gegenüber dem Status quo mit einem Neubaugebiet als maßnahmenunabhängige generelle Veränderung und einer neuen Straße als zu untersuchender Maßnahme.
Abbildung 4: Schematische Darstellung von Veränderungen im Netzmodell für die Prognosefälle.
Wenn das Netzmodell und alle erforderlichen sonstigen Parameter entsprechend den Prognosen angepasst sind, wird ein neuer Rechenlauf mit dem Modell durchgeführt. Von dessen Ergebnis wird unterstellt, dass es das Verkehrsgeschehen im zukünftigen Zustand abbildet.
IV. Einordnung: Stärken und Grenzen der Verkehrsmodellierung Die Methoden der Verkehrsmodellierung, wie sie im vorangegangenen Kapitel vereinfacht dargestellt wurden, haben in jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung einen hohen Stand erreicht. Es steht außer Frage, dass es für die Mehrzahl der Planungs- und Investitionsentscheidungen im Verkehrswesen keine ernsthaften methodischen Alternativen zur Verkehrsmodellierung gibt. Gleichwohl erscheint es aus den Erfahrungen der Praxis erforderlich, Grenzen und potenzielle Schwachstellen der Modellanwendung aufzuzeigen und so eine Einordnung der Aussagekraft von Verkehrsgutachten in Entscheidungsprozessen zu erleichtern. Verkehrsmodelle nach dem Stand der Technik sind, wie in Kapitel III. ausgeführt, außerordentlich komplex. Sie verwenden eine Vielzahl heterogener Eingangsdaten und -annahmen und enthalten damit auch viele potenzielle Fehlerquellen. Input-Daten in wünschenswerter Qualität sind häufig nicht verfügbar.
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Innerhalb des Modells ist eine Vielzahl von Parametern und Kenngrößen zum Netz sowie zu den Bewertungs- und Widerstandsfunktionen hinterlegt. Selbst bei fachlich hervorragender Arbeit gibt es breite Korridore „richtiger“ Annahmen oder Parameter, die relevante Auswirkungen auf die Ergebnisse haben. Um Fehler an diesen Stellen – Dateninput und Parametrisierung des Modells – zu vermeiden, sind aufwändige Datenerhebungen ebenso unverzichtbar wie eine sorgfältige Kalibrierung und Validierung des Modells. Um auszuschließen, dass eine gute Übereinstimmung des Modellergebnisses mit den realen Erhebungswerten ein Zufallsergebnis einer spezifischen Parameterkonstellation ist, sind ferner Robustheitstests des Modells ratsam, bei denen einzelne Parameter variiert werden und die Stabilität der Ergebnisse überprüft wird. Wie oben bereits angemerkt, fehlt derzeit – zumindest in Deutschland – ein Kanon der Qualitätskriterien und Qualitätsmaßstäbe für Verkehrsmodelle. Dies wiegt umso schwerer, als bei Verkehrsbehörden und Aufgabenträgern des Verkehrs häufig nur ein Basis-Know-How zur Verkehrsmodellierung vorliegt. Vielfach werden Verkehrsmodelle bei Ingenieurbüros in Auftrag gegeben, ohne dass die Anforderungen an das Modell hinsichtlich der Art und der Qualität der Ergebnisse ausreichend bestimmt wären. In diesem Fall weiß weder das Ingenieurbüro genau, was es liefern soll, noch der Auftraggeber, was er bekommen möchte und bekommt. Die Bewertungsalgorithmen innerhalb von Verkehrsmodellen verwenden in der Regel Kosten, insbesondere Zeitkosten, als Optimierungskriterium. Damit ist der Anwendungsbereich von Verkehrsmodellen per se auf die Wirkungsermittlung für solche Maßnahmen beschränkt, die Wirkungen auf Kosten bzw. Reisezeiten haben, also insbesondere auf Infrastrukturmaßnahmen wie den Neu- und Ausbau von Straßen und Schienenwegen. Nicht-infrastrukturelle Maßnahmen wie Information und Marketing, die in jüngerer Zeit vor allem in der städtischen Verkehrsplanung erheblich an Bedeutung gewonnen haben und nachweislich Wirkungen zeitigen, bleiben somit bei der Verkehrsmodellierung außen vor. Schließlich sind auch die Unsicherheiten zu erwähnen, denen notwendiger Weise Prognosen über die allgemeine, nicht maßnahmenbezogene Verkehrsentwicklung unterliegen. Ein anschauliches Beispiel sind die Prognosen über die Entwicklung der Pkw-Dichte am Beispiel der Stadt Darmstadt (Abbildung 5). In der kommunalen Verkehrsplanung wird die Pkw-Dichte traditionell als Leitgröße für die Mobilitätsentwicklung herangezogen. Wie die Grafik zeigt, sind die Prognosen der Generalverkehrspläne 1964 und 1979 jeweils binnen
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weniger Jahre von der Realität überholt worden, d.h. die Mobilitätsentwicklung zu Gunsten des Pkw wurde über Jahrzehnte hinweg unterschätzt3.
600
400 300 Tatsächlicher Pkw‐Bestand
200
Prognose des Pkw‐Bestands im Generalverkehrsplan 1964 Prognose des Pkw‐Bestands im Generalverkehrsplan 1979
100
19 54
19 50
0
19 58 19 62 19 66 19 70 19 74 19 78 19 82 19 86 19 90 19 94 19 98 20 02 20 06
Pkw je 1.000 Einwohner
500
Abbildung 5: Pkw-Dichte in Darmstadt, Prognosen der Generalverkehrspläne 1964 und 1979 sowie reale Entwicklung
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hin zu weisen, dass Ex-PostEvaluationen von Verkehrsprognosen, also Vergleiche der prognostizierten Verkehrsentwicklung mit der tatsächlich eingetretenen, praktisch nie durchgeführt werden. Die Chance, aus etwaigen Differenzen zu lernen und künftige Modelle zu verbessern, wird so leichthin vertan. Angesichts der oben dargestellten (notwendigen!) Unsicherheiten bei den Prognoseannahmen erscheint es zumindest fragwürdig, dass in Verkehrsgutachten die Angabe nur eines, des „richtigen“ Ergebnisses der Wirkungsberechnungen üblich ist. Angaben über mögliche Schwankungsbreiten oder gar über ein Konfidenzintervall im statistischen Sinne sind die Ausnahme. Dies gilt auch für eine Diskussion möglicher unterschiedlicher Entwicklungen in Abhängigkeit von unterschiedlichen Prognoseannahmen. Notwendig, in der Praxis aber nicht selbstverständlich erscheint schließlich eine eingehende Dokumentation des Vorgehens bei der Modellierung ein___________ 3 Mittlerweile hat sich die Entwicklung umgekehrt: während viele Verkehrsprognosen – getragen von den Erfahrungen der Vergangenheit – weiterhin von einem allenfalls gedämpften Verkehrswachstum ausgehen, weisen Ergebnisse von Verkehrserhebungen in vielen Regionen Deutschlands auf eine Stagnation oder gar einen Rückgang der Verkehrsmengen seit etwa 2000 hin.
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schließlich der verwendeten Inputdaten und Parameter sowie der händischen Korrekturen und Eingriffe. Nur dann ist auch eine externe Plausibilitätsprüfung der Modellergebnisse sinnvoll machbar.
V. Zusammenfassung und Ausblick Verkehrsgutachten spielen in Genehmigungsverfahren für Verkehrswegevorhaben häufig eine zentrale Rolle, indem sie den argumentativen Kern für den Nachweis der Notwendigkeit des Vorhabens, seiner Vorteilhaftigkeit und/oder seiner Auswirkungen bilden. Verkehrsgutachten stützen sich im Kern auf Verkehrsmodelle, welche wiederum ein hochkomplexes Instrumentarium für die Abbildung des Verkehrsgeschehens und für die Abschätzung der Wirkungen verkehrlicher Maßnahmen darstellen. Die Notwendigkeit der Anwendung von Verkehrsmodellen steht außer Frage und ihr Einsatz hat sich bereits für viele Entscheidungen über verkehrliche Maßnahmen praktisch bewährt. Angesichts knapper werdender öffentlicher Finanzen und einer zunehmenden gesellschaftlichen Skepsis gegenüber Verkehrswegeinfrastruktur-Vorhaben steigen auch die Anforderungen an Verkehrsgutachten und speziell an Verkehrsmodelle. Vor dem Hintergrund erscheint es unerlässlich, einheitliche Qualitätsstandards für Verkehrsmodelle zu definieren. Diese sollten unter anderem umfassen • die Definition der Zielsetzungen und Qualität der Verkehrsmodellanwendungen, • die Offenlegung der Modellgenauigkeit in standardisierter Form, • die Transparenz über Modellmechanismen und händische Eingriffe, • die Offenlegung der Rahmenbedingungen und Eingangsdaten sowie eine • Standardisierte Dokumentation. Die deutsche Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) wie auch die österreichische Forschungsgesellschaft Straße-SchieneVerkehr (FSV) befassen sich derzeit in Arbeitskreisen mit der Definition solcher Standards. Es wäre zu wünschen, dass diese Arbeiten rasch zum Abschluss kommen und Eingang in die Praxis finden. Darüber hinaus können Sensitivitätsanalysen und das Arbeiten mit ErgebnisKorridoren den Umgang mit Modellergebnissen erleichtern und Verkehrsgutachten auf das zurückführen, was sie sind: Unterstützung für Entscheidungen.
Die Bewältigung von Anwohnerkonflikten an Bahnbaustellen Von Till Bannasch
I. Die Bauausführung von Großbauvorhaben der Bahn – Warum ist das Thema aktuell? Die Bauausführung von Großvorhaben der Bahn rückt zunehmend in den Fokus des Rechts und der Politik, weil sie immer größere Konflikte verursacht. Viele betroffene Anwohner bewerten das tatsächliche Konfliktpotential (1.) der mehrjährigen Bauabwicklungen sogar kritischer als den Betrieb der Strecke nach Fertigstellung. Überdies hat sich in den vergangenen Jahren bei der rechtlichen Bewältigung baubedingter Konflikte ein doppelter Regimewechsel vollzogen. Die Bauausführung gewinnt im Planfeststellungsverfahren an Bedeutung. Zugleich zieht sich die Zivilrechtsprechung aus dem Schutz gegen die Bauausführung planfestgestellter Vorhaben zurück (2.). 1. Zum spezifischen Konfliktpotential von Bahnbaustellen Lag der Schwerpunkt der Investitionen im Eisenbahnbau in den 90-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorwiegend im Wieder-/Neuaufbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern und dort zu einem erheblichen Teil auf Bauvorhaben auf freier Strecke, so dominieren seit der Jahrtausendwende in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Rechtsprechung vorwiegend Projekte des Um- und Ausbaus im Bestand die Diskussion. Der traditionelle Vorteil der Eisenbahn gegenüber der Straße, dass sie die Stadtzentren an-, aber auch durchfährt, erweist sich dabei als ein wesentlicher Nachteil. Innerstädtische Großbaustellen beinhalten naturgemäß ein Vielfaches an Konfliktpotential gegenüber Bauvorhaben auf dem freien Land. Die besonderen technischen Anforderungen an Schienenwege verschärfen dieses Konfliktpotential. Aufgrund der strengen Vorgaben zu maximalen Gradienten und Kurvenradien ist die Bahn bei ihrer Trassenführung unflexibler als die Straße. Im Zweifelsfall müssen Gebäude und andere Infrastruktur der Bahn weichen oder sich anpassen, um ihr Platz zu schaffen. Die Redewendung „sich Bahn brechen“ kennzeichnet dies treffend.
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Straßenbrücken und -unterführungen werden abgerissen, verlängert oder bei mangelndem innerstädtischem Platzangebot an andere Stelle verlegt, ebenso Leitungen und sonstige Wegeführungen. Gebäude müssen weichen. Bei Eingriffen in Gewerbebetriebe kann es erforderlich werden, diese insgesamt zu verlagern, wenn der Flächenverlust eine interne Restrukturierung ausschließt. In der mehrjährigen Bauphase ist die kommunale Infrastruktur zeitweise gar nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Auch der notwendige Aktionsraum für die Ausführung von Baumaßnahmen, die Herstellung von Baustraßen und Baustelleneinrichtungsflächen kann zu empfindlichen Eingriffen in die Umgebung führen. Eine weitere Ursache des hohen Konfliktpotentials von Aus- und Umbauvorhaben der Bahn liegt im Bauen unter Betrieb.1 Anders als die Straße hat die Bahn meist keine Umleitungsstrecke zur Verfügung und muss deshalb beim Umbau den Betrieb auf der Bestandsstrecke aufrecht erhalten. Während der Bauphase summieren sich die bau- und die betriebsbedingten Immissionen. Die Betriebsimmissionen können baubedingt zunehmen, z.B. durch den Einsatz mangelhaft schallgedämpfter Bauweichen oder durch Abbremsen und Wiederanfahren von Zügen an Baustellen. Das Bauen unter Betrieb stellt außerdem hohe Anforderungen an die Sicherheit der Bauarbeiter. Diese werden durch akustische Signale vor herannahenden Zügen gewarnt. Solche Rottenwarnanlagen können Emissionspegel von über 130 dB(A) erzeugen. Diesen erheblichen Eingriffen stehen im innerstädtischen Bereich konkurrierende Nutzungsansprüche von hohem individuellem und wirtschaftlichem Interesse entgegen. Es steigt das Risiko baubedingter Sachbeschädigungen durch Staub, Verschmutzungen, Erschütterungen und Veränderungen des Untergrundes. Wegen der höheren Bevölkerungsdichte werden gesundheitsschädliche Immissionen wahrscheinlicher und die intensive wirtschaftliche Nutzung der Stadtkerne führt zu erheblichen nachteiligen Wirkungen auf Gewerbetreibende und Vermieter, die im Einzelfall die Existenz gefährdende Ausmaße erreichen können. Es ist also kein Wunder, wenn innerstädtische Großbaustellen der Bahn angesichts ihres massiven Konfliktpotentials Widerstände der betroffenen Anwohner auslösen. 2. Der Regimewechsel bei der Bewältigung baubedingter Konflikte Noch vor wenigen Jahren herrschte die Einschätzung vor, die Bauausführung planfestgestellter Anlagen löse im Allgemeinen keine Konflikte aus, die es ___________ 1
Freystein, Erfahrungen aus sieben Jahren Bauaufsicht des EBA, in: Ronellenfitsch/Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts VII, Hamburg 2002, 81 (85 f.).
Die Bewältigung von Anwohnerkonflikten an Bahnbaustellen
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erforderlich machen würden, darüber im Planfeststellungsverfahren zu entscheiden. Die Planfeststellung sei durch die Regelung der Einzelheiten der Anlage selbst ohnehin schon so kompliziert, dass ihr nicht auch noch die Entscheidung über jede technische Einzelheit der Bauausführung zugeordnet werden könne.2 Die Praxis, die Bauausführung aus der Planfeststellung auszuklammern, sei rechtlich nicht zu beanstanden, soweit der Stand der Technik für die zu bewältigenden Probleme geeignete Lösungen zur Verfügung stelle und die Beachtung der entsprechenden technischen Regelwerke sichergestellt sei.3 Zwar war theoretisch anerkannt, dass im Einzelfall die Modalitäten der Bauausführung eines planfestgestellten Vorhabens eine solche qualitative planerische Bedeutung haben können, dass sie Gegenstand des Planfeststellungsbeschlusses sein müssen. Dies sei der Fall, wenn die Art und Weise der Bauausführung nicht als eine bloße Frage des technischen Vorgehens zu verstehen sei, sondern einen planerischen Konflikt hervorrufe, der im Planfeststellungsbeschluss selbst zu bewältigen sei. Dann müsse die Bauausführung ausnahmsweise Teil des Abwägungsmaterials sein und im Planfeststellungsbeschluss berücksichtigt werden.4 Nichts geändert hat sich seitdem an der rechtsdogmatischen Grundaussage, die Bauausführung sei nur dann Gegenstand der Planfeststellung, wenn sie Konflikte auslösen könne, die in der planerischen Abwägung zu berücksichtigen seien. Geändert haben sich jedoch die tatsächliche Wertung der baubedingten Konflikte und damit ihre Abwägungsrelevanz. Dies mag zum einen an der Verschiebung der Großbaustellen der Bahn in die Stadtkerne und an dem dadurch erhöhten Konfliktpotential liegen, zum anderen auch an einer erhöhten Sensibilität der Betroffenen. Auch die von der Bahn eingereichten Planfeststellungsunterlagen enthalten seit einigen Jahren zunehmend detailliertere Materialien zur Bauausführung. Beschränkte sich dies früher auf die Darstellung der während der Bauphase zusätzlich in Anspruch genommenen Flächen, für die die Bahn die enteignungsrechtliche Vorwirkung des Planfeststellungsbeschlusses benötigte, enthalten die Planfeststellungsunterlagen heute in der Regel zusätzliche Angaben zum Baustraßenplan, zu logistischen Grundsatzfragen der Bauabwicklung, zur Zeitdauer der Baustelle und zu den baubedingten Immissionen. Dementsprechend steigt auch die Regelungsdichte der Planfeststellungsbeschlüsse, so z. B. für das Vorhaben „Stuttgart 21“, für das auf mehreren Textseiten Nebenbestimmungen zur Bauausführung erlassen wurden.5 ___________ 2
Geiger, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts 2004, Rdnr. 274. BVerwG, Urt. vom 5.3.1997, 11 A 5/96, Juris-Leitsatz 1. 4 Geiger, a.a.O., Rdnr. 276. 5 Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahnbundesamtes vom 28.1.2005, AZ.: 59160 Pap-PS 21-PFA 1.1 (Talquerung); http://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/uploads/tx_smediamediathek/PFA_1_1.pdf (Stand: 22.07.2012), S. 28-30, 125-127. 3
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Dieser Trend zur Verlagerung der Bewältigung baubedingter Konflikte, vor allem der Baustellenimmissionen, in die Planfeststellungsverfahren beschäftigt zunehmend auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da die Oberverwaltungsgerichte noch keine einheitliche Linie gefunden haben und das Bundesverwaltungsgericht sich noch nicht umfassend dazu geäußert hat,6 soll unter II. zunächst das materielle Bauausführungsrecht näher beleuchtet werden. Die Verlagerung der Problembewältigung in die Planfeststellungsverfahren gewinnt weitere Bedeutung dadurch, dass sich die Zivilrechtsprechung aus dem Rechtsschutz gegen die Bauausführung von planfestgestellten Vorhaben fast vollständig zurückzieht. Der Bundesgerichtshof hat es in seiner Grundsatzentscheidung zum City-Tunnel Leipzig abgelehnt, zivilrechtliche Entschädigungsansprüche wegen Lärmbelästigung aus § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB zu gewähren, wenn das betreffende Vorhaben planfestgestellt ist. Das gelte selbst dann, wenn das Vorhaben die durch den Planfeststellungsbeschluss gezogenen Grenzen zulässiger Einwirkung auf die Anliegergrundstücke überschreite, sich also nicht im Rahmen des Planfeststellungsbeschlusses halte.7 Auch für das Institut des enteignenden Eingriffs ist bei planfestgestellten Vorhaben kein Raum mehr. Die privatrechtsgestaltende Wirkung des Planfeststellungsbeschlusses hat insoweit Vorrang vor allen kodifizierten zivilrechtlichen Entschädigungsansprüchen und vor den richterrechtlichen Ansprüchen des Staatshaftungsrechts.8 Dieser doppelte Regimewechsel hat erhebliche Konsequenzen für den Rechtsschutz der betroffenen Anwohner. Bestand früher das Problem darin, dass Rechtsschutz während eines bereits laufenden Bauvorhabens schon aus zeitlichen Gründen nur schwer zu erlangen war, bietet die Vorverlagerung in die Planfeststellung den theoretischen Vorteil, baubedingte Konflikte frühzeitig präventiv bewältigen zu können. Da aber im Planfeststellungsverfahren die Art der Bauausführung kaum zu konkretisieren ist und aufgrund des oft erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen Planfeststellung und Baubeginn später ganz andere Betroffenheiten entstehen können, laufen die Anwohner Gefahr, nach der strikten materiellen Präklusionsregelung des § 18 a Nr. 7 AEG mit ihren Einwendungen frühzeitig ausgeschlossen zu werden. Unter III. wird deshalb über___________ 6 Das BVerwG hat durch Beschluss vom 21.11.2011, 7 B 29/11 die Revision gegen ein Urteil des Bayrischen VGH wegen der Auslegung der Eingreifwerte der AVV Baulärm zugelassen. Die Entscheidung könnte zu einer Vereinheitlichung der Anwendungspraxis der AVV Baulärm beitragen. 7 BGH, Urt. vom 30.10.2009, V ZR 17/09, Juris-Rdnr. 26. 8 BVerfG, Beschl. vom 23.2.2010, 1 BVR 2736/08, Juris-Rdnr. 53; BGH, Urt. vom 21.1.1999, III ZR 168/97, Juris-Leitsatz 2; de Witt, Anmerkung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23.2.2010, 1 BVR 2736/08, DVBl 2010, 661; Dobmann, Entschädigungsansprüche der Anlieger wegen Beeinträchtigung während des Baus planfestgestellter Anlagen, NVwZ 2011, 9 ff.
Die Bewältigung von Anwohnerkonflikten an Bahnbaustellen
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blicksweise auf die Entwicklungen des Verfahrensrechts und des Rechtsschutzes zur Bauausführung eingegangen.
II. Das materielle Bauausführungsrecht Aus Sicht der Anwohner gefährden Bahnbaustellen insbesondere die Gesundheit (1.), sowie das Eigentum und die Funktionsfähigkeit von Gewerbebetrieben (2.).
1. Schutz der Gesundheit vor Bahnbaustellen Schutz der Gesundheit vor Bahnbaustellen gewährt vor allem das Immissionsschutzrecht. Das BImSchG und die untergesetzlichen Regelwerke sind auf Bahnbaustellen anwendbar (1.1), so dass für Baustellen als in der Regel nicht genehmigungsbedürftige Anlagen die §§ 22 ff. BImSchG gelten, welche Betreiberpflichten zur Vermeidung und Minimierung von Immissionen festlegen (1.2). Besonders relevant sind hierbei die baubedingten Erschütterungen (1.3) und der Baulärm (1.4). Im Einzelfall mögen auch Lichtimmissionen von Nachtbaustellen zu Beeinträchtigungen des Schlafes führen; meist jedoch sind Lichtimmissionen wegen der Gefährdung nachaktiver Insekten eher ein naturdenn ein immissionsschutzrechtliches Problem. Große Bedeutung haben im Nahbereich von Baustellen auch Staubimmissionen. Bei Ihnen liegt der Schwerpunkt jedoch eher auf dem Eigentumsschutz und auf der Beeinträchtigung von Gewerbebetrieben als auf dem Gesundheitsschutz, weshalb auf sie unter 2. eingegangen wird. a) Anwendungsbereich des BImSchG Das BImSchG gilt gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen. § 2 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BImSchG sind für Baustellen nicht einschlägig, zu Nr. 4 siehe unten. Das BImSchG ist also anwendbar, wenn Baustellen dem Anlagenbegriff unterfallen. Auf Baustellen werden Maschinen, Geräte und sonstige ortsveränderliche technische Einrichtungen und Fahrzeuge i. S. d. § 3 Abs. 5 Nr. 2 BImSchG eingesetzt. Demnach ist bereits jede einzelne Baumaschine eine Anlage. Baustellen sind darüber hinaus auch als Gesamtheit Anlagen i. S. d. § 3 Abs. 5 Nr. 3 BImSchG, nämlich Grundstücke, auf denen Arbeiten durchgeführt werden, die
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Emissionen verursachen können (emissionsgeeignete Grundstücke).9 Es ist zweckmäßig, Baustellen unter Nr. 3 zu fassen, da eine Einzelbetrachtung der jeweiligen Baumaschine nach Nr. 2 dem komplexen Zusammenwirken verschiedenster Emissionsquellen auf einer Baustelle nicht gerecht würde und im Übrigen auch nicht jeder Lärm von einer Maschine oder einem Gerät verursacht wird, z.B. Kommunikationsgeräusche. Die Baustelle ist eine funktionale Anlageneinheit.10 Der letzte Halbsatz des § 3 Abs. 5 Nr. 3 BImSchG, wonach öffentliche Verkehrswege vom Anlagenbegriff ausgenommen sind, gilt nicht für Baustellen an öffentlichen Verkehrswegen, mithin auch nicht für Bahnbaustellen. Die Verkehrswege wurden nach der amtlichen Begründung deshalb vom Anlagenbegriff ausgenommen, „weil sie nicht das die Anlagen kennzeichnende Merkmal der örtlichen Begrenzung aufweisen.“11 Nach herrschender Auffassung in der Literatur liegt der Grund für die Ausnahme vom Anlagenbegriff zwar nicht in der mangelnden Abgrenzbarkeit, sondern in der Sonderregelung der Verkehrsimmissionen nach §§ 41-43 BImSchG. Im Ergebnis besteht jedoch Einigkeit, dass die Ausnahme vom Anlagenbegriff nur für den Betrieb des Verkehrswegs selbst gilt, also weder für Nebenanlagen des Verkehrsweges12 noch für – räumlich abgrenzbare – Baustellen zu dessen Errichtung oder Unterhaltung.13 Die Anwendbarkeit des BImSchG auf Bahnbaustellen beschränkt sich auch nicht gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 BImSchG auf die §§ 41-43. Zwar gelten diese explizit für den Bau von Eisenbahnen. Zweck der Regelung ist aber auch hier die besondere Behandlung des betriebsbezogenen Verkehrslärmschutzes nach §§ 41-43 BImSchG i.V.m. der 16. BImSchV, wovon die Baustellen nicht erfasst sind. § 2 Abs. 1 Nr. 4 und der letzte Halbsatz des § 3 Abs. 5 Nr. 3 BIm___________ 9
Dietrich, Die immissionsschutzrechtliche Beurteilung von Baustellenlärm, NVwZ 2009, 144 (144). 10 VG München, Urt. vom 7.11.2005, M 8 K 05.1908, Juris-Rdnr. 33; Bodanowitz, Rechtliche Grundlagen des Baulärmschutzes, NJW 1997, 2351 (2351); Jarass, a.a.O., § 3 Rdnr. 77. 11 BT-Drs. 7/179, S. 29, zitiert nach Kutscheid, in: Landmann/Rohmer § 3 BImSchG Rdnr. 23 (Stand: März 1999). 12 Kutscheid, a.a.O., § 3 BImSchG Rdnr. 28 c (Stand: März 1999); Jarass, BImschG, 8. Aufl. 2010, § 3 Rdnr. 80; Bodanowitz, Rechtliche Grundlagen des Baulärmschutzes, NJW 1997, 2351 (2351). 13 Bodanowitz, a.a.O., S. 2351; Dietrich, a.a.O., S. 144; Michler, Die Berücksichtigung von Baustellenimmissionen in der Planfeststellung, Vortrag auf der XVII. Eisenbahnrechtlichen Tagung in Tübingen am 07./08.09.2011, zur Veröffentlichung vorgesehen in „Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts XVII“, Kapitel I. 1.; Barner, Die Berücksichtigung von Baustellenimmissionen in der Planfeststellung, in: Ziekow (Hrsg.), Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung, Berlin 2002, S. 373 (377).
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SchG sind zusammen zu lesen. Der erste nimmt die Verkehrswege als solche vom Anwendungsbereich aus, der zweite – klarstellend – auch die Grundstücke, auf denen sich die Verkehrswege befinden.14 Baustellen unterfallen somit dem Anwendungsbereich und dem Anlagenbegriff des BImSchG. In der Regel handelt es sich bei Baustellen um nicht immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlagen nach §§ 22 ff BImSchG. Das gilt auch für Baustellen, die der Errichtung einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlage dienen, weil die Baustelle als Anlage unabhängig von dem Gegenstand beurteilt wird, dessen Errichtung sie dient.15 In bestimmten Fällen kann sich aber eine immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbedürftigkeit nach § 4 BImSchG i.V.m. der 4. BImSchV ergeben, wenn z. B. auf einer Baustelle zum Zweck der Verarbeitung von Tunnelausbruch oder sonstigem Abbruchmaterial eine immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlage zum Brechen und Klassieren von Gestein nach Nr. 2.2 des Anhangs zur 4. BImSchV eingesetzt wird. Dann gelten die Betreiberpflichten des § 5 BImSchG. b) Die Betreiberpflichten des § 22 BImSchG Für Baustellen gelten somit im Normalfall die Betreiberpflichten des § 22 BImSchG, d.h. insbesondere die Pflicht zur Verhinderung schädlicher Umwelteinwirkungen, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind gem. § 22 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BImSchG, und die Pflicht zur Minimierung der nach dem Stand der Technik unvermeidbaren schädlichen Umwelteinwirkungen nach § 22 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG. Die Schädlichkeit bestimmt sich nach der Legaldefinition der Immissionen in § 3 Abs. 1 BImSchG i.V.m. den zur Konkretisierung nach §§ 23, 48 BImSchG erlassenen untergesetzlichen Regelwerken. Nach § 24 BImSchG kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchsetzung der Betreiberpflichten erforderlichen Anordnungen treffen und gem. § 25 BImSchG bei Nichtbefolgung die Anlage stilllegen. Die Betreiberpflichten des § 22 Abs. 1 BImSchG gelten als solche unbedingt und ohne ermessensbedingte Relativierung oder Ausnahme- oder Befreiungsmöglichkeiten. Nach dem Stand der Technik vermeidbare Immissionen müssen vermieden werden. Das gilt auch für die Definition der Schädlichkeit von Umwelteinwirkungen. Fragwürdig sind deshalb Ansätze, die bereits auf dieser Ebene versuchen, durch die Einbeziehung wertender Elemente wie z.B. der öffentlichen Interessen, die für ein Vorhaben streiten, oder der Akzeptanz für das Vorhaben, zwischen Betreiber- und Betroffeneninteressen abzuwägen und da___________ 14 15
Jarass, a.a.O., § 3 Rdnr. 79. Bodanowitz, a.a.O., S. 2352.
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von die Schädlichkeit abhängig zu machen.16 Im Einzelfall mag es aufgrund entsprechender Tatbestandsmerkmale in den untergesetzlichen Regelwerken eine Grundlage dafür geben; siehe dazu die Ausführungen zur AVV Baulärm unter 1.4. Der Wortlaut der §§ 22 Abs. 1, 3 Abs. 1 BImSchG gibt das aber nicht her. Im Ergebnis ist es auch gar nicht nötig, die Betreiberpflichten a priori zu relativieren, weil es genug „Einfallstore“ für solche Erwägungen auf der Tatbestands- wie auf der Rechtsfolgenseite gibt. § 22 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 BImSchG stellen auf den in § 3 Abs. 6 BImSchG definierten Stand der Technik ab. In der Anlage zu § 3 Abs. 6 BImSchG werden u.a. die Kosten-Nutzen-Relation von Maßnahmen und weitere relativierende Kriterien aufgeführt. Außerdem eröffnet § 24 BImSchG auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen der zuständigen Behörde, ob und wie sie einschreitet. In der Planfeststellung stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Einbeziehung der Betreiberpflichten des § 22 BImSchG in die Festsetzung von Schutzauflagen zur Bauausführung nach § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG es zulässt, die materiellen Maßstäbe abwägend zu modifizieren und abzuschwächen. Dazu siehe unter III. c) Der Schutz vor baubedingten Erschütterungen Da es für den Erschütterungsschutz weder Rechtsverordnungen noch normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften gibt, wendet die Praxis zur Konkretisierung der Schädlichkeitsgrenze des § 3 Abs. 1 BImSchG bei der Beurteilung des Schutzes von Menschen in Gebäuden gegen Erschütterungseinwirkungen die DIN 4150-2 an.17 Nach ihrer Maßgabe erlegt die Planfeststellungsbehörde gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG dem Träger des Vorhabens Schutzmaßnahmen zugunsten der Anwohner auf. Auf Streitfragen dazu, wie die DIN 4150-2 bei der Beurteilung betriebsbedingter Immissionen anzuwenden ist und ob ihre Beurteilungsmaßstäbe insgesamt sachgerecht sind, soll hier nicht näher eingegangen werden. Interessant ist die DIN 4150-2 hinsichtlich der baubedingten Erschütterungen aus vier Gründen: Erstens regelt die DIN 4150-2 sowohl die betriebsbedingten als auch unter Nr. 6.5.4 die baubedingten Erschütterungseinwirkungen, stellt also ein einheitliches Regelwerk für Erschütterungsimmissionen und deren Einwirkung auf Menschen in Gebäuden unabhängig von der Erschütterungsquelle dar. Insoweit ist die DIN dem Lärmschutzrecht zwei Schritte voraus. Denn dieses ist in den betriebs- und den baubedingten Immissionsschutz zersplittert; außerdem ist der ___________ 16 17
Ebenso m.w.N. Michler, a.a.O., I. 2. a. VGH München, Urt. vom 24.1.2011, 22 A 09.40044, Juris-Rdnr. 119 m.w.N.
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Immissionsschutz gegen Baumaßnahmen auf mehrere, nicht aufeinander abgestimmten Regelwerke verteilt (siehe unter 1.4). Zweitens gibt die DIN 4150-2 unter Nr. 6.5.4 ein Stufenmodell vor, bei dem die Unter- bzw. Überschreitung bestimmter Anhaltswerte (Maßstab für die Erschütterungsintensität) bestimmte Schutzmaßnahmen erforderlich macht. Es findet also – wenn auch vergleichsweise lose – eine Priorisierung von Schutzmaßnahmen entsprechend der Einwirkungsintensität statt. Drittens enthält die DIN zu den baubedingten Erschütterungen ein zeitabhängiges Modell. Gemäß Tabelle 2 sinken die zulässigen Anhaltswerte mit der Zahl der Einwirkungstage baubedingter Erschütterungen. Maßgeblich ist hierbei nicht die Gesamtlaufzeit von der Einrichtung bis zur Aufhebung der Baustelle, sondern die Zahl der tatsächlichen Tage, an denen es zu Erschütterungseinwirkungen kommt. Während der ersten sechs Einwirkungstage sinkt der maximal zulässige Anhaltswert linear. Vom 7. bis zum 26. Tag bleibt er auf einer Stufe darunter konstant, ebenso vom 27. bis zum 78. Tag.18 Damit trägt die DIN 4150-2 der Tatsache Rechnung, dass baubedingte Erschütterungen einerseits sehr unregelmäßig auftreten und in Einzelfällen aufgrund des Einsatzes besonderer Techniken auch höhere Erschütterungseinwirkungen nötig werden können, auf der anderen Seite aber die Betroffenheit sich nicht nur an der Erschütterungsintensität, sondern auch an der der Häufigkeit ihres Auftretens über einen längeren oder kürzeren Zeitraum bemisst. Viertens schließlich verweist die DIN 4150-2 unter Nr. 6.5.4.2 darauf, dass ab dem 79. Einwirkungstag eine individuelle Beurteilung nach den besonderen Gegebenheiten des Einzelfalles vorzunehmen ist. Im Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes für die 2. S-Bahn-Stammstrecke in München wurde auf dieser Grundlage festgelegt, dass ab dem 79. Einwirkungstag die Anhaltswerte der DIN 4150-2 für betriebsbedingte Erschütterungen zugrunde zu legen sind. Nach dieser Auffassung wird also ab dem 79. Einwirkungstag eine Baustelle aufgrund ihrer langen Dauer so behandelt, als wäre sie eine dauerhaft betriebene Anlage. Die Rechtsprechung hat dieses Konzept gebilligt.19 d) Der Schutz vor baubedingtem Lärm Die Vorschriften für den Lärmschutz an Baustellen sind – wie im Lärmschutzrecht nicht anders zu erwarten – stark zersplittert, weisen Lücken auf und sind nicht aufeinander abgestimmt. Die TA Lärm ist gemäß Nr. 1 lit. f) auf ___________ 18 Die Grenzen von 6, 26 und 78 Tagen errechnen sich vermutlich aus einer 7-TageWoche minus 1 Sonntag, einem 30-Tage-Monat minus 4 Sonntagen und einem 90-TageQuartal minus 12 Sonntagen. 19 VGH München, Urt. vom 24.1.2011, 22 A 09.40049, Juris Rdnr. 118 ff.
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Baustellen nicht (unmittelbar) anwendbar.20 Dies gilt selbst für den Fall, dass eine Baustelle über mehrere Jahre hinweg rund um die Uhr betrieben wird.21 Ob und wo sie analog anwendbar ist, wird noch zu erörtern sein. Von Bedeutung sind die 32. BImSchV, verschiedene landesrechtliche Regelungen sowie insbesondere die AVV Baulärm. Einer gesonderten Betrachtung bedürfen dabei die baubedingten Verkehre auf der Baustelle und den umgebenden öffentlichen Straßen sowie die Rottenwarnanlagen, mit denen die Gleisarbeiter vor herannahenden Zügen gewarnt werden. aa) Die 32. BImSchV Die 32. BImSchV (Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung) hat bei ihrem Inkrafttreten im Jahr 2002 die bis dahin gültige 15. BImSchV (Baumaschinenlärmverordnung) sowie eine Reihe weiterer Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die noch auf Grundlage des Gesetzes zum Schutz gegen Baulärm von 1965 erlassen worden waren, abgelöst.22 Sie beruht im Wesentlichen auf der Richtlinie 2000/14/EG vom 08.05.200023 über umweltbelastende Geräuschimmissionen von zur Verwendung im Freien vorgesehenen Geräten und Maschinen, geändert durch die Richtlinie 2005/88/EG vom 14.12.2005.24 Anwendbar ist die 32. BImSchV gemäß § 1 auf die Maschinen, die in Art. 2 der Richtlinie 2000/14/EG i.V.m. Anhang 1 aufgeführt sind. Ausgenommen von der Richtlinie sind gemäß Art. 2 Abs. 2, 1. Spiegelstrich alle Geräte und Maschinen, die in erster Linie für den Gütertransport oder die Beförderung von Personen auf Straßen, Schienen, auf dem Luft- oder Wasserweg bestimmt sind. Verkehrsimmissionen der Eisenbahn an einer unter laufendem Betrieb durchgeführten Baustelle werden somit von der 32. BImSchV nicht erfasst. Die Richtlinie hat im Wesentlichen zwei Regelungsbereiche: §§ 3 ff. regeln das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Geräten und Maschinen, welche nur erlaubt sind, wenn diese bestimmte technische Anforderungen erfüllen, die in der Richtlinie ausführlich definiert sind. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 der 32. BImSchV i.V.m. Art. 12 und Anhang B der Richtlinie 2000/14/EG definiert für die Geräte- und Maschinentypen maximal zulässige Schallleistungspegel. Langfristig wird dies dazu beitragen, dass auf Baustellen ___________ 20
Dietrich, a.a.O., S. 145. VGH BaWü, Urt. vom 8.2.2007, 5 S 2257/05, Juris-Leitsatz 1 u. Rdnr. 131 zu Stuttgart 21, PFA 1.2. 22 Nachweise im Einzelnen bei Michler, a.a.O., III. Rdnr. 91. 23 EG-Amtsblatt vom 3.7.2000, L 162/1. 24 EU-Amtsblatt vom 27.12.2005, L 344/44. 21
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immer mehr technisch verbesserte und leisere Maschinen zum Einsatz kommen, die den Baulärmschutz insgesamt optimieren. Für die Planfeststellung sind diese Vorschriften nur von mittelbarer Bedeutung, weil mit „Inverkehrbringen“ gem. § 2 Nr. 1 der 32. BImSchV nur die erstmalige entgeltliche oder unentgeltliche Bereitstellung eines Gerätes oder einer Maschine auf dem deutschen Markt für den Betrieb oder die Benutzung in Deutschland bzw. auf dem Gemeinschaftsmarkt gemeint ist. Ebenso betrifft die Inbetriebnahme gem. § 3 Nr. 2 der 32. BImSchV nur die erstmalige Benutzung eines Gerätes oder einer Maschine in Deutschland oder der EG. Der Einsatz alter, schon früher erstmals in den Verkehr gebrachter oder in Betrieb genommener Maschinen und Geräte mit höheren Schallleistungspegeln wird durch die Richtlinie und die 32. BImSchV also nicht unmittelbar ausgeschlossen. Dennoch finden sich in Planfeststellungsbeschlüssen des EisenbahnBundesamtes gelegentlich Regelungen, die die DB Netz AG als Vorhabenträgerin allgemein dazu verpflichten, die 32. BImSchV einzuhalten. In dieser Pauschalität wirken sich die Nebenbestimmungen allerdings auf den Maschineneinsatz nicht aus. Das erstmalige Inverkehrbringen und die erstmalige Inbetriebnahme der Maschinen durch den Bauunternehmer ist nicht Gegenstand der Planfeststellung. Zu überlegen ist aber, ob eine Nebenbestimmung zulässig ist, die die Vorhabenträgerin dazu verpflichtet, bei der Ausführung von Bauarbeiten nur Maschinen zuzulassen, die den aktuellen technischen Anforderungen entsprechen, die für das erstmalige Inverkehrbringen oder die erstmalige Inbetriebnahme nach der 32. BImSchV und der Richtlinie 2000/14/EG gelten, insbesondere die in der Richtlinie genannten maximal zulässigen Schallleistungspegel einhalten. Aus Sicht des Planfeststellungsrechts spricht nichts grundsätzlich gegen eine solche Nebenbestimmung, wenn der Ausschluss veralteter Baumaschinen einen relevanten Beitrag zur Baulärmvermeidung leisten kann. Da die 32. BImSchV und die Richtlinie schon über 10 Jahre gelten, gehen ihre Standards jedenfalls nicht über den Stand der Technik hinaus, sondern dürften vielfach nur mehr den niedrigeren Anforderungen der allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen. Auch generelle Kosten-Nutzen-Relationen i.S.d. Anhangs zu § 3 Abs. 6 BImSchG dürften dem inzwischen nicht entgegenstehen, weil angesichts des Verschleißes und der Lebensdauer von Baumaschinen inzwischen erwartet werden kann, dass die Bauwirtschaft ihren Maschinenpark nach über 10 Jahren Geltungsdauer weitgehend auf dieses Niveau umgestellt hat bzw. es zumutbar ist, noch vorhandene Alt-Maschinen auszusortieren. Demnach lässt sich sogar argumentieren, dass unbeschadet einer expliziten Anordnung im Planfeststellungsbeschluss der Einsatz veralteter Baumaschinen, die nicht mindestens dem Standard der 32. BImSchV entsprechen, gem. § 22 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BImSchG vermeidbar und deshalb zu unterlassen ist. Allerdings hat eine – wenn auch nur deklaratorische – Nebenbestimmung im Planfeststellungsbeschluss den Vorteil, dass sie die Auftragsvergabe bindet. Andernfalls müssten entsprechende Vorgaben unter Berufung auf § 22 Abs. 1
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S. 1 Nr. 1 BImSchG in die Ausschreibung aufgenommen werden. Das kann im Rahmen der Vergabe Streitigkeiten über die Zulässigkeit vergabefremder Kriterien auslösen, wenn unterstellt wird, dass damit bestimmte Fabrikate bevorzugt werden sollen. Eine klare Regelung im Planfeststellungsbeschluss vermeidet das. Direkte Bedeutung für die Bauausführung planfestgestellter Bahnvorhaben haben die §§ 7 und 8 der 32. BImSchV, die Betriebsregelungen für Geräte und Maschinen vorsehen. Die im Anhang zur 32. BImSchV aufgeführten Geräte und Maschinen dürfen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 an Sonn- und Feiertagen ganztätig sowie an Werktagen in einem Nachtzeitraum von 20 bis 7 Uhr gar nicht betrieben werden, bestimmte Gerätetypen darüber hinaus nach Nr. 2 auch nicht in den Ruhezeiten zwischen 7 und 9 Uhr, 13 bis 15 Uhr und 17 bis 20 Uhr, es sei denn sie erfüllen besondere Qualitätsanforderungen. Zu den betroffenen Gerätetypen zählen u. a. Pistenraupen, Transportbetonmischer, Muldenfahrzeuge, Baggerlader und andere Geräte und Maschinen, ohne die eine größere Baustelle, wie sie für die Bahn typisch ist, kaum betrieben werden kann. Faktisch führt der Ausschluss dieser Maschinen somit nach § 7 Abs. 1 Satz 1 der 32. BImSchV zu einem Nacht-, Feier- und Sonntagsbauverbot. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 der 32. BImSchV gilt die Regelung allerdings nicht für Bundesfernstraßen und Schienenwege von Eisenbahnen des Bundes. Bei einer reinen Wortlautinterpretation spielen also die zeitlichen Beschränkungen des Satzes 1 für Bahnbaustellen keine Rolle. Doch ist § 7 Abs. 1 Satz 2 der 32. BImSchV teleologisch zu reduzieren.25 Denn der Zweck der Vorschrift besteht ausweislich der Gesetzesmaterialien darin, Verkehrsbelangen Rechnung zu tragen.26 Hierzu hat der Hessische VGH die Auffassung vertreten, § 7 Abs. 1 Satz 2 der 32. BImSchV beziehe sich auf den Betrieb der Verkehrswege und erfasse im Falle von Eisenbahnen vor allem Lokomotiven,27 solle mithin dazu dienen, nachts und an Sonn- und Feiertagen den Eisenbahnbetrieb auf der Strecke weiterhin zu ermöglichen. Diese Auslegung geht jedoch fehl. Denn Lokomotiven unterfallen als Fahrzeuge, die dem Transport von Gütern und Personen dienen, gemäß § 1 Abs. 1 der 32. BImSchV i.V.m. Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/14/EG schon gar nicht deren Anwendungsbereich. Gilt aber die Betriebszeitenbeschränkung des § 7 Abs. 1 Satz 1 der 32. BImSchV von Vornherein gar nicht für Lokomotiven, so bedarf es auch keiner Ausnahme davon nach Satz 2. Der Sinn der Regelung dürfte vielmehr darin bestehen, dass an bestehenden Bundesfernstraßen und Schienenwegen oft Unterhaltungs-, Sanierungs- und ___________ 25 Dies ebenfalls erwägend, aber im Ergebnis zugunsten des weiteren Wortlauts a.A.: Michler, a.a.O., III. 2. 26 Nachweise bei Hansmann, in: Landmann/Rohmer, 32. BImSchV, § 7 (Stand: April 2004). 27 HessVGH, Urt. vom 17.11.2011, 2 C 2165/09.T, Juris-Rdnr. 271.
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Erweiterungs- oder Umbauarbeiten stattfinden, während derer der laufende Verkehr nicht gestoppt werden kann.28 Bei Baustellen unter Betrieb ist es im Interesse der Vermeidung von Verkehrsbehinderungen und im Interesse der Sicherheit der Bauarbeiter häufig geboten, nachts zu bauen, insbesondere wenn die Strecke vorübergehend gesperrt werden muss. Gleiches gilt gerade für die Bahn an Feiertagen, wenn weniger Güterzüge verkehren und die Taktfolge im Personennahverkehr ausgedünnt ist. Nur aus diesen Gründen macht die Ausnahme vom Nachtbauverbot Sinn. Konsequenterweise ist die Ausnahmeregelung dann aber eng auszulegen und nur auf bestehende Straßen und Schienenwege anzuwenden, an denen unter Betrieb gebaut wird, seien es nun Unterhaltungs-, Sanierungs- oder Aus- und Umbauvorhaben. Für Neubaustrecken und für Ausbaustrecken, die in Parallellage zu einer Bestandstrasse ohne Verbindung mit dieser und somit ohne Beeinflussung des laufenden Betriebs errichtet werden, gibt es kein sachliches Bedürfnis für eine Ausnahme vom Verbot der Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit. Hier muss Satz 1 weiterhin Geltung haben.29 Es ist somit hinsichtlich des Baus von Eisenbahnstrecken danach zu differenzieren, ob die Baustelle in den laufenden Betrieb eingreift. Wenn ja, rechtfertigt dies Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeiten, wenn nein, sind diese ausgeschlossen. bb) Weitergehendes Landesrecht Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 3 der 32. BImSchV können auch die Länder für nicht bundeseigene Schienenwege das Sonn-, Feiertags- und Nachtbauverbot nach Satz 1 einschränken. Gemäß § 7 Abs. 2 der 32. BImSchV können sie von den zeitlichen Einsatzbeschränkungen des Abs. 1 im Einzelfall Ausnahmen zulassen. Da die Beschränkung des Abs. 1 an Schienenwegen unter Betrieb ohnehin nicht gilt und an Bahnbaustellen, die nicht unter Betrieb geführt werden, kaum Bedarf dafür bestehen wird, dürfte es sich insoweit jedoch um eine eher seltene Konstellation handeln. Gemäß § 7 Abs. 3 der 32. BImSchV bleiben überdies weitergehende landesrechtliche Vorschriften zum Schutz von Wohn- und sonstigen lärmempfindlichen Nutzungen und allgemeine Vorschriften des Lärmschutzes insbesondere zur Sonn- und Feiertagsruhe und zur Nachtruhe unberührt. Auch § 22 Abs. 2 BImSchG erlaubt ausdrücklich weitergehende öffentlich-rechtliche Regelungen zu den Betreiberpflichten und eröffnet damit den Landesgesetzgebern Spiel___________ 28 So mit Nachweisen zur Begründung aus dem Gesetzgebungsverfahren auch Michler, a.a.O. 29 A.A. Michler, a.a.O., III. 2.
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räume.30 Diese Regelung besitzt praktische Relevanz, weil in zahlreichen Landesgesetzen entsprechende Regelungen enthalten sind. Exemplarisch seien hier einige Regelungen erläutert, wobei nicht überprüft wurde, ob die teilweise schon älteren landesrechtlichen Vorschriften nach der Neustrukturierung der konkurrierenden Gesetzgebung des Art. 73 GG noch von der Gesetzgebungskompetenz der jeweiligen Bundesländer gedeckt sind: § 6 Abs. 1 des Feiertagsgesetzes für Baden-Württemberg (BadWürttFtG) verbietet an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen öffentlich bemerkbare Arbeiten, die geeignet sind, die Ruhe des Tages zu beeinträchtigen. Gemäß § 6 Abs. 3 Nr. 1 BadWürttFtG gilt dies zwar nicht für den Betrieb der Eisenbahnen. Für Baumaßnahmen an der Trasse gelten die Ausnahmen jedoch nicht. Deshalb bedarf es im Regelfall zur Durchführung entsprechender Arbeiten einer Befreiung durch die Kreispolizeibehörde gemäß § 12 Abs. 1 BadWürttFtG, da eine allgemeine Ausnahme für Bahnbaustellen, die gemäß § 12 Abs. 2 BadWürttFtG durch das Innenministerium erlassen werden könnte, nicht existiert. § 4 Abs. 1 des Landesimmissionsschutzgesetzes für Rheinland-Pfalz (RPLImSchG) verbietet generell von 22 Uhr bis 6 Uhr Betätigungen, die zu einer Störung der Nachtruhe führen können. Im Einzelfall sind nach Abs. 3 durch die zuständige Behörde weitere Ausnahmen möglich. Zusätzlich enthält § 7 Abs. 1 RPLImSchG eine Beschränkung des Einsatzes von Sirenen und akustischen Signal- und Alarmgeräten, die außerhalb des Geländes, auf dem sie sich befinden, nicht erheblich belästigend wirken dürfen. Dies gilt gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 zwar nicht für Sirenen zur Alarmierung der Feuerwehr oder zur Warnung der Bevölkerung. Rottenwarnanlagen der Bahn sind von Abs. 2 aber nicht erfasst, haben also die Anforderungen des Abs. 1 einzuhalten. Schließlich erweitert § 9 RPLImSchG den Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der 32. BImSchV (Nacht-, Sonn-, Feiertagsbauverbot) auch auf Lärm erzeugende Arbeitsgeräte und Werkzeuge, die nicht in der 32. BImSchV aufgeführt sind. Ausnahmen oder Befreiungen von den §§ 7 und 9 RPLImSchG sieht dieses nicht vor. cc) Die AVV Baulärm Zentrale Norm für den Lärmschutz an Baustellen ist die AVV Baulärm,31 erlassen auf Grundlage des Gesetzes zum Schutz gegen Baulärm vom 9.9.1965. Mit Inkrafttreten des Bundesimmissionsschutzgesetzes zum 1.4.1974 wurde das Baulärmschutzgesetz gem. § 72 Abs. 2 BImSchG aufgehoben, die AVV Bau___________ 30 Bodanowitz, a.a.O., S. 2354 f. mit ausführlichen Nachweisen zu den landesrechtlichen Regelungen. 31 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Schutz gegen Baulärm – Geräuschimmissionen – vom 19.8.1970 (Beilage zum BAnz. Nr. 160 v. 01.09.1970).
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lärm jedoch gem. § 66 Abs. 2 BImSchG übergeleitet, so dass sie seitdem unverändert weitergilt. Im Zuge des Änderung des § 66 Abs. 2 BImSchG im Jahr 2005 wurden alle dort übergeleiteten Verwaltungsvorschriften gestrichen, ausgenommen die AVV Baulärm.32 Der Gesetzgeber hat sie damit ausdrücklich bestätigt. Gemäß § 2 des Baulärmschutzgesetzes hatte der Betreiber von Baumaschinen dafür zu sorgen, dass „Geräusche der Baumaschinen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, und Vorkehrungen getroffen werden, die die Ausbreitung unvermeidbarer Geräusche von der Baustelle auf ein Mindestmaß beschränken, soweit dies erforderlich ist, um die Allgemeinheit vor Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen zu schützen.“
Diese Formulierung entspricht mit geringen sprachlichen Nuancen den späteren § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 BImSchG zu den Betreiberpflichten und § 3 Abs. 1 BImSchG zur Definition der schädlichen Umwelteinwirkungen. Die AVV Baulärm knüpft also auch materiell nahtlos an § 22 BImSchG als neue Bezugsnorm33 an und ist geeignet, dessen Begriffe zu konkretisieren, insbesondere die Erheblichkeitsschwelle von Immissionen.34 Bereits § 3 Abs. 2 Nr. 2 Baulärmschutzgesetz setzte für den Erlass der AVV Baulärm die Anhörung eines technischen Ausschusses nach § 8 Baulärmschutzgesetz und die Zustimmung des Bundesrates voraus. Dem technischen Ausschuss gehörten sachverständige Mitglieder verschiedener Ministerien, der Landesregierungen, der Baumaschinenindustrie, Bauwirtschaft, der Wissenschaft, der VDI-Kommission „Lärmminderung“, der Gewerkschaften etc. an. Dieses Prozedere war vergleichbar mit den Anforderungen, die heute §§ 48, 51 BImSchG an den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften nach Anhörung der beteiligten Kreise stellen. Durch die ausdrückliche Nennung der AVV Baulärm in § 66 Abs. 2 BImSchG hat auch der Gesetzgeber selbst klargestellt, dass er sie als maßgebliche Regelung zum Schutz gegen Baulärm ansieht. Bestätigt wurde dies durch die Änderung des § 66 Abs. 2 BImSchG im Jahre 2005, bei der mit Ausnahme der AVV Baulärm alle anderen übergeleiteten Verwaltungsvorschriften gestrichen wurden.35 Die AVV Baulärm wurde auch gerade dazu aufrecht erhalten, um die Anwendungslücke durch den Ausschluss von Baustellen nach Nr. 1 lit f) TA Lärm zu schließen.36 Die Anwendungsbestimmung in § 66 Abs. 2 BImSchG führt zwar nicht dazu, dass die AVV Baulärm unmittel___________ 32
Jarass, a.a.O., § 66 Rdnr. 2. VG München, Urt. vom 7.11.2005, M 8 K 05.1908, Juris-Rdnr. 30. 34 Dietrich, a.a.O., 146. 35 Michler, a.a.O., III. 3. 36 Hansmann/Röckinghausen, in: Landmann/Rohmer, § 66 BImSchG Rdnr. 3 (Stand: März 2010). 33
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baren Gesetzrang erhält.37 Insgesamt aber sprechen das Verfahren zu ihrem Erlass, ihre Funktion, naturwissenschaftlich-technische Sachverhalte auszugestalten, und die Nennung durch den Gesetzgeber dafür, die AVV Baulärm grundsätzlich als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift mit beschränkter Außenwirkung anzusehen.38 Die gegenteilige Auffassung, die der AVV Baulärm nur den Rang einer einfachen Verwaltungsvorschrift zugesteht, die nicht mehr verbindlich sei, weil ihr gesicherte neue Erkenntnisse entgegenstehen,39 mag in der Sache bezüglich einzelner Teile der AVV Baulärm zutreffen, z.B. bei den veralteten Verfahren zur Emissions- und Ausbreitungsberechnung (siehe unten). Das lässt jedoch andere Regelungsbereiche der AVV Baulärm, insbesondere die Festlegung von Immissionsrichtwerten, unberührt. Der AVV Baulärm kann deshalb nicht insgesamt der Charakter einer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift abgesprochen werden. Die Geltung der AVV Baulärm wird auch nicht durch das Inkrafttreten der 32. BImSchV im Jahr 2002 in Frage gestellt. Die Zweifel des VG München an der Fortgeltung der AVV Baulärm40 sind unberechtigt, weil die 32. BImSchV keinerlei Immissionsrichtwerte festlegt, sondern nur das Inverkehrbringen und den Betrieb von Maschinen einschließlich der Betriebszeiten regelt (s.o.). Sie hat demzufolge einen ganz anderen Regelungsbereich als die AVV Baulärm.41 Außerdem hat der Gesetzgeber nach dem Inkrafttreten der 32. BImSchV im Jahr 2002 durch die Änderung des § 66 Abs. 2 BImSchG im Jahr 2005 ausdrücklich noch einmal die Geltung der AVV Baulärm bestätigt. Die AVV Baulärm gilt gemäß Nr. 1 für den Betrieb von Baumaschinen auf Baustellen, soweit die Baumaschinen gewerblichen Zwecken dienen oder im Rahmen wirtschaftlicher Unternehmen Verwendung finden. Dies trifft auf alle Baustellen der DB Netz AG zu. Sowohl die DB nach ihrer Privatisierung als auch die beauftragten Baufirmen stellen wirtschaftliche Unternehmen dar. Baustelle ist gemäß Nr. 2.1 der AVV Baulärm der Bereich, in dem Baumaschinen zur Durchführung von Bauarbeiten Verwendung finden, einschließlich der Plätze für die Aufbereitung von Baumaterialien und die Herstellung von Bauteilen. Öffentliche Verkehrswege, auf denen Baumaterialien an- oder abtransportiert werden, zählen nicht dazu. Zu den Baumaschinen zählen gemäß Nr. 2.2 auch die auf der Baustelle betriebenen Kraftfahrzeuge, d.h. insbesondere LKW. Sobald diese sich jedoch außerhalb der Baustelle bewegen, gelten sie ___________ 37
Hansmann/Röckinghausen, a.a.O., Rdnr. 4; Jarass, a.a.O., § 66 Rdnr. 2. Michler, a.a.O., III 3. a.; Dietrich, a.a.O., S. 148; VG München, Urt. vom 7.11.2005, M 8 K 05.1908, Juris-Rdnr. 31. 39 Hansmann/Röckinghausen, a.a.O., § 66 BImSchG Rdnr. 4 m.w.N.; Bodanowitz, a.a.O., 2353. 40 VG München, Beschl. vom 24.2.2005, M 2 E 05.715, Juris-Rdnr. 21. 41 Dietrich, a.a.O., S. 145. 38
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nicht mehr als Baumaschine, sondern als Kraftfahrzeug. Der Anwendungsbereich der AVV Baulärm endet deshalb räumlich an der Grenze zwischen der Baustelle, Baustraße oder Baustelleneinrichtungsfläche zur öffentlich gewidmeten Straße. Baumaschinen wurden in § 1 Abs. 2 des Baulärmschutzgesetzes definiert als „maschinelle Einrichtungen, die als technische Arbeitsmittel bei der Durchführung von Bauarbeiten auf Baustellen Verwendung finden“. Darunter fallen sämtliche Maschinen und Geräte, mit denen unmittelbar Bauarbeiten ausgeführt werden. Zwar gilt das Baulärmschutzgesetz nicht mehr. Die Begriffsdefinition kann aber aufgrund statischer Verweisung auf das Baulärmschutzgesetz im Rahmen der fortgeltenden AVV Baulärm weiterhin angewendet werden. Gegen die Regelungen der AVV Baulärm werden teilweise erhebliche Bedenken geltend gemacht. Obwohl sie mittlerweile wohl die am längsten in Kraft gebliebene Vorschrift des öffentlichen Lärmschutzrechts ist, sind dennoch viele Rechtsfragen ihrer Anwendung bis heute ungeklärt. Auf sieben Problemkreise soll näher eingegangen werden: Problemkreis 1: Veraltete Mess-, Prognose- und Beurteilungsverfahren Aufgrund ihres Alters von fast 50 Jahren werden gegen die AVV Baulärm Bedenken bezüglich ihrer Vorgaben zur Methodik der Ermittlung der Immissionspegel geltend gemacht. Die Vorgaben zur Ermittlung des Beurteilungspegels in Nr. 6 der AVV Baulärm einschließlich der Anlagen genügen nicht mehr dem heutigen Erkenntnisstand der Akustik und der Lärmforschung, da sie primär auf Lärmmessungen beruhen, die für Prognosen nichts helfen, und da die Ausbreitungsberechnung nach einem zu einfachen Modell erfolgt. Insoweit ist die AVV Baulärm überholt und nicht mehr anwendbar, weil sie nicht den Stand der Technik darstellt.42 Soweit es um die Ermittlung von Geräuschimmissionen und die Ausbreitungsberechnung geht, kann auf die aktuelleren Berechnungsvorschriften zurückgegriffen werden, auf die auch die TA Lärm und ihr Anhang verweisen, z.B. die DIN ISO 9613. Der Anwendungsausschluss in Nr. 1 f) der TA Lärm bezüglich der Baustellen gilt nämlich nicht für das Mess-, Prognose- und Beurteilungsverfahren.43 Die Praxis arbeitet bei der Beurteilung von Baulärm deshalb überwiegend mit den Berechnungsverfahren entsprechend der TA Lärm. Problemkreis 2: Richtwerte und Toleranz-/Eingreifwerte der AVV Baulärm Die AVV Baulärm enthält in Nr. 3.1.1 gebietsabhängige Immissionsrichtwerte. Diese entsprechen mit marginalen Abweichungen im Wortlaut der Ge___________ 42 OVG Bremen, Urt. vom 13.1.2005, 1 D 224/04, Juris-Rdnr. 175; Hansmann, a.a.O., TA Lärm, Nr. 1, Rdnr. 19. 43 Feldhaus/Tegeler, Rdnr. 20 zu Nr. 1 TA Lärm, Stand: August 2005.
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bietsbeschreibungen den Immissionsrichtwerten nach Nr. 6.1 der TA Lärm. Der Nachtzeitraum wird in Nr. 3.1.2 – kongruent mit der 32. BImSchV – von 20 Uhr bis 7 Uhr festgesetzt. Nr. 3.1.3 Satz 2 AVV Baulärm legt außerdem für den Nachtzeitraum ein zusätzliches Spitzenpegelkriterium von maximal 20 dB(A) Zuschlag auf den Immissionsrichtwert fest.44 Immissionsrichtwerte wurden in § 3 Abs. 2 Nr. 2 Baulärmschutzgesetz definiert als „Richtwerte für die von Baustellen ausgehenden Geräuschimmissionen, bei deren Überschreiten Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen der Allgemeinheit zu besorgen sind.“ Dies ist fast identisch mit der Definition der schädlichen Umwelteinwirkungen in § 3 Abs. 1 BImSchG. Eine Überschreitung der Immissionsrichtwerte der AVV Baulärm verursacht deshalb grundsätzlich schädliche Umwelteinwirkungen, so dass die Betreiberpflichten des § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 BImSchG greifen müssten. Die Systematik der AVV Baulärm weicht aber an dieser Stelle von der TA Lärm erheblich ab. Denn gemäß Nr. 4.1 der AVV Baulärm sollen Maßnahmen zur Minderung der Baulärmgeräusche erst dann angewendet werden, wenn der Beurteilungspegel den Immissionsrichtwert um mehr als 5 dB(A) überschreitet. Auch Nr. 4.1 der AVV Baulärm sieht die dort aufgeführten Maßnahmen zur Baulärmminderung (Einrichtung der Baustelle, Maßnahmen an den Baumaschinen, Verwendung geräuscharmer Baumaschinen, Anwendung geräuscharmer Bauverfahren, Beschränkung der Betriebszeiten bestimmter Maschinen) erst bei Überschreitung des Beurteilungspegels um mehr als 5 dB(A) vor. Nach Nr. 5.2.1 der AVV Baulärm hingegen kann die Stilllegung von Baumaschinen schon angeordnet werden, wenn weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Überschreitung der Immissionsrichtwerte zu verhindern, und zugleich die Stilllegung zum Schutz der Allgemeinheit dringend erforderlich ist. Gemäß Nr. 5.2.2 der AVV Baulärm kann jedoch hiervon wiederum abgesehen werden, wenn es um Baumaßnahmen zur Beseitigung eines Notstands oder im Rahmen akuter Gefahrenabwehr geht oder diese im öffentlichen Interesse dringend erforderlich sind und die Bauarbeiten ohne die Überschreitung der Immissionsrichtwerte gar nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt werden können. Hinter diesen Regelungen ist keine klare Systematik erkennbar. Die Toleranz-/Eingreifwerte nach Nr. 4 AVV Baulärm stehen in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu den Immissionsrichtwerten. Der Zweck der Immissionsrichtwerte, die Betreiberpflichten zu konkretisieren, impliziert eigentlich, dass schon ___________ 44 Das übersieht wohl Dietrich, Die immissionsschutzrechtliche Beurteilung von Baustellenlärm, NVwZ 2009, 144 (146), der bemängelt, die AVV Baulärm enthalte keine Regelungen zu Geräuschspitzen und daraus folgert, sie stehe insoweit im Widerspruch zum Bundes-Immissionsschutzgesetz. Dagegen zu Recht Michler, a.a.O., III. 3. c. aa.
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bei ihrer einfachen Überschreitung gem. § 22 Abs. 1 BImSchG Vermeidungsund Minderungsmaßnahmen angezeigt sind und nicht erst bei einer Überschreitung um weitere 5 dB(A). Dieser Widerspruch eröffnet erhebliche Wertungsspielräume. Erweitert werden diese dadurch, dass das Schutzkonzept der AVV Baulärm verschiedene Minderungsmöglichkeiten vorsieht, die jedoch unter besonderen Voraussetzungen doch nicht gelten oder Ausnahmen zulassen. Diese Unbestimmtheiten mögen partiell gewollt sein, um den Besonderheiten des Einzelfalls und der großen Variationsbreite von Baulärm Rechnung tragen zu können. Das Bedürfnis für eine ausreichende Flexibilität bei der Bewältigung von Baulärm hätte aber einer besser nachvollziehbaren systematischen Struktur von Richtwerten und Schutzmaßnahmen nicht grundsätzlich entgegengestanden. Diese Defizite der AVV Baulärm werden besonders evident bei mehrjährigen Großbaustellen sichtbar, die sich oft stärker auf die Umgebung auswirken als ein dauerhaft betriebenes Gewerbe. In solchen Fällen ist es nicht angemessen, Maßnahmen zum Schutz der Anwohner erst bei Überschreitung der Toleranzwerte zu ergreifen. Dies gilt umso mehr, als die Anwohner von Großbaustellen der Bahn oft nicht nur dem Baustellenlärm, sondern parallel dazu dem Betriebslärm der Eisenbahntrasse und dem Verkehrslärm der Transport-LKW auf der öffentlichen Straße ausgesetzt sind. Die Rechtsprechung hat sich über das Verhältnis der Immissionsrichtwerte zu den Toleranzwerten der AVV Baulärm bei mehrjährigen Dauerbaustellen unterschiedlich geäußert. Der Hessische VGH hat geurteilt, das Gebot an den Vorhabensträger zur Einhaltung der Richtwerte der AVV Baulärm im Planfeststellungsbeschluss sei nicht zu beanstanden. Strengere Werte könnten aber nicht verlangt werden.45 Aus der Entscheidung geht allerdings nicht klar hervor, auf welcher Grundlage das Eisenbahn-Bundesamt in diesem Fall die Richtwerte zugrunde gelegt und ob es deren Anwendung im Einzelnen modifiziert hatte. Zu den Toleranzwerten sagt die Entscheidung nichts. Das VG Hamburg ist der Auffassung, durch die Toleranzwerte sollten jedenfalls nicht generell die Richtwerte der Nr. 3.1 nach oben erweitert werden. Es solle nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es auf Baustellen typischerweise zu Schwankungen der Lärmbelastung kommt, auf die nicht in jedem Fall mit Lärmminderungsmaßnahmen reagiert werden könne. Bei mehrjährigen Baustellen sei deshalb sicherzustellen, dass die Überschreitung der Richtwerte unter Ausnutzung der Toleranzwerte sich auf einzelne Bausituationen beschränke.46 ___________ 45 46
HessVGH, Urt. vom 17.11.2011, 2 C 2165/09.T, Juris-Rdnr. 269 und 271. VG Hamburg, Beschl. vom 30.10.2006, 19 E 3517/06, Juris-Rdnr. 45.
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Der VGH München hingegen meint, die Toleranzwerte konkretisierten auch bei Bauvorhaben von sechs Jahren Dauer die Zumutbarkeitsschwelle. Das bedeutet praktisch, dass die Anwohner sechs Jahre lang Immissionen um 5 dB über den Richtwerten zu dulden haben. Begründet wird dies auch damit, bei Bauvorhaben der öffentlichen Hand müsse wegen der Sozialbindung des Eigentums mehr Baulärm hingenommen werden als bei einem privaten Bauvorhaben.47 Das geht nach Auffassung des Verfassers deutlich zu weit. Es steht zu hoffen, dass das Bundesverwaltungsgericht in der anstehenden Revisionsentscheidung48 dieses Urteil aufhebt. Noch weiter als der Bayerische VGH geht der VGH Baden-Württemberg, nach dessen Auffassung es gerade bei Vorhaben im öffentlichen Interesse gerechtfertigt ist, Maßnahmen gegen Baulärm erst dann zu ergreifen, wenn der Richtwert über mehr als zwei Monate um mehr als 5 dB(A) überschritten werde.49 Das bedeutet praktisch, dass die Toleranzwerte dauerhaft ausgeschöpft werden dürfen und sogar ihre Überschreitung erst nach mindestens 2 Monaten Schutzmaßnahmen erfordert. Die Immissionsrichtwerte spielen beim VGH Baden-Württemberg gar keine Rolle mehr. Er meint, die „innere Systematik der AVV Baulärm“ sehe Maßnahmen nach Nr. 4.1 eben erst bei Überschreitung der Toleranzwerte vor. Wozu dann die Richtwerte dienen, diskutiert er nicht. Der VGH Baden-Württemberg begründet seine Auffassung unter Berufung auf Ausführungen des Lärmgutachters der DB Netz AG in der mündlichen Verhandlung damit, die Unterscheidung zwischen Richtwert und Toleranzwert in der AVV Baulärm beruhe auf einer Art von Messabschlag wie in Nr. 6.9 TA Lärm. Dieses Argument ist schon deshalb schwach, weil die Messverfahren inzwischen deutlich genauer sind50 als zum Zeitpunkt des Erlasses der AVV Baulärm und ohnehin heute beim Baulärm für die Mess-, Prognose- und Beurteilungsmethoden auf die TA Lärm zurückgegriffen wird (s.o.). Der Messabschlag ist stark umstritten und bezieht sich in Nr. 6.9 der TA Lärm ausschließlich auf (repressive) Überwachungsmessungen. Dort lässt er sich als Sicherheitsabschlag zugunsten des Unternehmens rechtfertigen, damit die Behörde nur dann repressiv einschreitet, wenn ohne Zweifel die Beurteilungspegel über den Richtwerten liegen.51 Im Urteil des VGH Baden-Württemberg ging es aber nicht um eine Messung, sondern um eine Baulärmprognose. Der VGH deutet ___________ 47
VGH München, Urt. vom 24.1.2011, 22 A 09.4004, Juris-Rdnr. 100. Zulassungsbeschluss vom 21.11.2011, 7 B 29/11, fortgeführt als Revisionsverfahren unter 7 C 29/11. 49 VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 8.2.2007, 5 S 2257/05, Juris-Rdnr. 135 ff. zu Stuttgart 21. 50 Hansmann, in: Landmann/Rohmer, Nr. 6 TA Lärm, Rdnr. 36 (Stand: Dezember 2006). 51 Hansmann, a.a.O. 48
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deshalb an, der Zweck des ‚Messabschlags‘ in der AVV Baulärm könne in diesem Fall darin liegen, dass in der Praxis die prognostizierten Beurteilungspegel „ohnehin nach dem Prinzip der oberen Abschätzung“ gewonnen würden und die Messwerte praktisch immer niedriger lägen.52 Das kann aber nicht der Grund für die Einführung der Toleranzwerte bei Erlass der AVV Baulärm gewesen sein, da diese ausschließlich von Messwerten ausgeht und nicht von Prognosen. Außerdem ist angesichts der erheblichen Prognoserisiken der AVV Baulärm (siehe dazu unten) keineswegs gesagt, dass die Abschätzungen tatsächlich immer zugunsten der Betroffenen auf der sicheren Seite erfolgen. Die Argumentation mit dem Messabschlag überzeugt deshalb nicht. Der VGH Baden-Württemberg weist denn auch am Ende seiner Ausführungen darauf hin, der hohe Zuschlag auf die Richtwerte in der AVV Baulärm beruhe womöglich darauf, dass dieser nicht dauerhaft entstehe. Das entspricht dem Ansatz des VG Hamburg. Anders als dieses zieht der VGH daraus aber nicht den Schluss, bei lang andauernden Baulärmbelastungen eine dauerhafte Ausschöpfung der Toleranzwerte zu unterbinden, sondern lässt sogar noch deren Überschreitung bis zu 2 Monaten zu. Das geht erst Recht zu weit. Die heterogene Rechtsprechung bietet Anlass für einen Strukturierungsversuch. Dabei wäre es im Ergebnis sicher nicht sachgerecht, jegliche Baustelle anhand der Immissionsrichtwerte der AVV Baulärm und damit praktisch wie einen dauerhaften Gewerbebetrieb nach der TA Lärm zu beurteilen. Die weichen Formulierungen der AVV Baulärm zur Notwendigkeit von Lärmminderungsmaßnahmen und die verschiedenen Ausnahmemöglichkeiten zeigen, dass der Normgeber die Wechselhaftigkeit von Bauzuständen erkannt hat, die mit einem Gewerbebetrieb nicht direkt zu vergleichen sind, der weitgehend konstant produziert. Die Arten von Geräuschen, die von einer Baustelle ausgehen, sind allerdings dem Gewerbelärm ähnlicher als dem Verkehrslärm, da auch Gewerbelärm oft nur phasenweise auftritt und lästige Tonhaltigkeiten etc. beinhalten kann. Ziel der AVV Baulärm kann es auch nicht sein, das Bauen zu verhindern, sondern es so zu ermöglichen, dass dabei die Belange der Anwohner angemessen berücksichtigt werden. Für nur vorübergehende Sonderbauzustände mit besonderen Immissionsauswirkungen muss es deshalb Öffnungsmöglichkeiten geben. Insoweit kann kein starres Richt- oder Grenzwertsystem vorgegeben werden. Dies gilt umso mehr, als der kurzfristige Einsatz besonders lauter Bautechniken, z.B. durch besonders große und schwere Maschinen, sich auch zum Vorteil der Betroffenen auswirken kann, wenn durch den Einsatz effektiverer Maschinen die Bauzeit insgesamt verkürzt und damit der Belastungszeitraum minimiert wird. Das gilt auch für eine zu strenge Handhabung des Nacht-, Sonn- und Feiertagsbauverbots. ___________ 52
VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rdnr. 136.
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Zugleich muss aber gesehen werden, dass bei Erlass der AVV Baulärm 1970 wohl nicht derart große und komplexe Baustellen im Visier des Normgebers waren, wie sie heute z.B. durch Stuttgart 21 oder durch den Ausbau der Rheintalbahn um ein 3. und 4. Gleis mit prognostizierten Bauzeiten von acht bis zehn Jahren in den Zentren größerer Städte Realität sind. Außerdem enthält Baulärm erhebliche Lästigkeitspotentiale, weil er sehr unregelmäßig auftritt und die Vielzahl verschiedener Maschinen und Arbeitsweisen eine hohe Variationsbreite störender Geräusche entfaltet. Es sei daran erinnert, dass die DB in der Diskussion über den Eisenbahnbetriebslärm jahrzehntelang den Korrekturwert von –5 dB(A) zur Berücksichtigung der geringeren Störwirkung des Schienenverkehrslärms nach Anlage 2 zu § 3 der 16. BImSchV („Schienenbonus“) lärmpsychologisch mit der Regelmäßigkeit des Auftretens von Schienenlärm und der daraus folgenden sozialen Akzeptanz begründet hat. Dann müsste sie auf Baulärm konsequenter Weise sogar einen Malus vergeben, weil er im Vergleich zum Gewerbelärm zeitlich deutlich unregelmäßiger und mit höherer Variabilität der Geräusche auftritt und weil Bahnbaustellen in ihrem Zeitablauf besonders unberechenbar sind, was gerade lärmpsychologisch besonders störend wirkt. Der Verfasser plädiert deshalb dafür, bei der Auslegung der AVV Baulärm bzw. bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen nach § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG nach dem Vorbild der DIN 4150-2 zu den baubedingten Erschütterungen auch die Richt- und Toleranzwerte der AVV Baulärm in ein klares Verhältnis zur Dauer der Beeinträchtigung zu setzen.53 Es bedarf eines Stufensystems, das mit zunehmender Bauzeit die Eingreifschwelle für die Dauerbelastung der Anwohner durch Baulärm schrittweise von den Toleranz- bis zu den Richtwerten senkt, zugleich aber die Möglichkeit eröffnet, in kurzen Phasen für besondere Bauzustände Überschreitungen zuzulassen. Um die Einhaltung der maximalen Dauerbelastung zu gewährleisten und einen Missbrauch der Öffnungsklauseln für kurzzeitige besondere Bauzustände zu verhindern, bedarf es einer durchgehenden Baulärmüberwachung. Was im Naturschutzrecht bereits gängige Praxis ist, sollte beim Menschenschutz ebenfalls eine Selbstverständlichkeit werden. Problemkreis 3: Fehlende Summation von Bau- und Betriebslärm Auf Bahnbaustellen tritt das Problem der Summation von Bau- und Betriebslärm besonders deutlich auf, weil die baubedingten Betriebszustände z.B. durch den Einbau provisorischer Weichen sowie Brems- und Anfahrvorgänge von Zügen an nächtlichen Bahnbaustellen mit phasenweiser Vollsperrung den Betriebslärm erhöhen können. Summiert sich Lärm aus verschiedenen Quellen, die nach unterschiedlichen Rechtsvorschriften und Grenz-/Richtwerten zu beur___________ 53 Für eine zeitabhängige Festlegung der Zumutbarkeitsschwelle auch Michler, a.a.O., I. 2. c.
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teilen sind, ist nach der Rechtsprechung eine Gesamtlärmbetrachtung grundsätzlich nicht notwendig. Der Gesetzgeber sei bei der anlagenbezogenen Segmentierung des untergesetzlichen Regelwerks mit den jeweiligen Grenz- und Richtwerten und den zugehörigen Berechnungsvorschriften bewusst davon ausgegangen, dass zu den Lärmbelastungen durch einen Anlagentyp bis zu den hierfür gültigen Grenz- und Richtwerten auch die Lärmbelastungen des anderen Anlagentyps hinzutreten könnten. Diese mögliche Zusatzbelastung sei erkannt und als zumutbar angesehen worden. Eine Gesamtlärmbetrachtung über die in den Vorschriften konkret genannten Einzelfälle hinaus sei deshalb nicht erforderlich.54 Eine rein additive Summation von Lärmpegeln ist außerdem schon aus physikalisch-technischen Gründen angesichts verschiedener Berechnungsverfahren und verschiedener Geräuschcharakteristiken gar nicht möglich.55 Die gegenteilige (herrschende?) Meinung in der Literatur,56 wonach aufgrund des akzeptorbezogenen Ansatzes des Bundesimmissionsschutzgesetzes stets eine Gesamtlärmbetrachtung vorzunehmen sei,57 hat sich bisher in der Rechtsprechung nicht durchsetzen können. Lediglich die Grundrechte, namentlich der Gesundheitsschutz nach Art. 2 Abs. 2 GG und der Eigentumsschutz nach Art. 14 GG, bilden eine Schranke gegen übermäßige Belastungen aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Emissionsquellen an einem Immissionsort. Eine Gesamtlärmbewertung ist deshalb nach der Rechtsprechung dann erforderlich, wenn bereits eine gesundheits- oder eigentumsgefährdende Lärmbelastung vorliegt oder durch neu hinzutretenden Lärm eine solche geschaffen würde.58 Die Grenze zur Gesundheitsbeeinträchtigung wird nach wie vor sehr hoch bei Dauerlärmpegeln von 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts angesetzt, obwohl nach heutigen lärmmedizinischen Erkenntnissen bei Dauerbelastung eher Werte von 55 dB(A) nachts und 65 dB(A) tags angemessen wären.59 Im Einzelfall mag sich eine solche Situation aus der Addition von Bau- und Betriebslärm an einer Bahnbaustelle ergeben, so dass die Gesamtlärmbeeinträchtigung zusätzliche Schutzmaßnahmen erforderlich macht. ___________ 54
BVerwG, Urt. vom 16.5.2001, 7 C 16/00, Juris-Rdnr. 17. Dietrich, a.a.O., S. 147 m.w.N.; Bodanowitz, a.a.O., S. 2354. 56 Grundlegend dazu Michler, a.a.O., III. 3. c. bb. sowie ders., Lärmsummationen, VBlBW 2004, 361 ff. 57 Dietrich, a.a.O., S. 144 u. 146 m.w.N. 58 BVerwG, Urt. vom 21.3.1996, 4 C 9/95, Juris-Leitsatz 2 und Rdnr. 35 ff. sowie Urt. vom 23.2.2005, Juris-Leitsatz 3 und Rdnr. 41 und VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 10.11.2010, 5 S 955/09, Juris-Leitsatz 2 und Rdnr. 36 jeweils zur Addition von Verkehrslärm verschiedener Verkehrsanlagen; VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 9.2.2010, 3 S 3064/07, Juris-Rdnr. 128 ff. zur Addition von Verkehrs- und Gewerbelärm. 59 Sachverständigenrat für Umweltfragen, Jahresgutachten 2008, S. 663. 55
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Über die Rechtsprechung hinaus gehen Teile der Literatur, die aufgrund des akzeptorbezogenen Ansatzes des BImSchG generell eine Gesamtlärmbetrachtung fordern.60 Vorgeschlagen wird zu diesem Zweck, die Sonderfallprüfung nach Nr. 3.2.2 der TA Lärm analog anzuwenden.61 Das begegnet grundsätzlichen Bedenken. Der explizite Anwendungsausschluss in Nr. 1 lit. f) der TA Lärm für Baustellen kann nicht einfach durch Analogien umgangen werden, zumal wenn man die AVV Baulärm als normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift ansieht. Ein Abweichen von der AVV Baulärm lässt sich nur dort vertreten, wo sie ihren konkretisierenden Geltungsanspruch aufgrund naturwissenschaftlich-technischer Erkenntnis nicht mehr erfüllen kann, weil gerade diese spezifischen Erkenntnisse überholt sind, wie z.B. bei den Mess- und Prognoseverfahren (s.o.). Bei der Festlegung der Immissionsrichtwerte als Konkretisierung der Zumutbarkeitsschwelle und der Entscheidung, ob Lärm aus verschiedenen Quellen summiert oder getrennt betrachtet wird, handelt es sich aber nicht primär um eine naturwissenschaftliche Frage, sondern um eine gesetzgeberische Wertung.62 Aufgrund der unveränderten Bestätigung der AVV Baulärm bei der Änderung des § 66 Abs. 2 BImSchG im Jahr 2005 ist deshalb statt einer Analogie eher der Umkehrschluss naheliegend, dass der Gesetzgeber in der TA Lärm eine Sonderfallprüfung für Lärmsummationen wollte, in der AVV Baulärm aber gerade nicht. Das kann nicht über eine Analogie ausgehebelt werden. Zu unterscheiden hiervon ist die Frage, nach welchen Vorschriften baubedingte Erhöhungen des Betriebslärms zu beurteilen sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich hierzu in seiner Entscheidung zur Umfahrung der A 3 von Würzburg geäußert. Im Zuge dieser Baumaßnahme wurde die A 3 einschließlich der Errichtung einer provisorischen Mainbrücke um einige zig Meter seitlich auf eine Interimstrasse verschwenkt, um auf der Bestandstrasse einen Hang abgraben und diese tiefer legen zu können. Die Interimstrasse rückte näher an ein Wohngebiet heran. Das Bundesverwaltungsgericht hat es abgelehnt, die Interimstrasse anhand der 16. BImSchV zu beurteilen, weil sich der Anwendungsbereich des § 41 BImSchG grundsätzlich nicht auf bauliche Provisorien erstrecke. § 41 BImSchG gewähre keinen temporären Lärmschutz. Eine Erhöhung der Beurteilungspegel durch Heranrücken der provisorischen Trasse an die Wohnbebauung könnten die betroffenen Anwohner deshalb nur insoweit rügen, als hierdurch gesundheitsgefährdende Werte überschritten würden.63 Das ist insoweit richtig, als der verlagerte Verkehrslärm nicht als Baustellenlärm ___________ 60
Sparwasser/v. Komorowski, Die neue TA Lärm in der Anwendung, VBlBW 2000, 348 (350 f.). 61 Dietrich, a.a.O., S. 147. 62 Michler, a.a.O., I. 2. a. 63 BVerwG, Urt. vom 3.3.2011, 9 A 8/10, Juris-Leitsatz 4 und Rdnr. 60 ff.
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gewertet werden kann, weil die Interimsstraße nicht die Funktion einer Baustelle erfüllt. Allerdings ist nicht einzusehen, warum das Provisorium nicht als durch den Planfeststellungsbeschluss gem. § 2 Abs. 6 FStrG i.V.m. der tatsächlichen Überlassung für den Verkehr gewidmete öffentliche Verkehrsfläche eingestuft wurde. Dann wären doch § 41 BImSchG i.V.m. der 16. BImSchV anzuwenden gewesen. Da die Interimstrasse als neuer Fahrstreifen anzusehen ist, hätte sie gem. § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 der 16. BImSchV als wesentliche Änderung eingestuft und demzufolge Schallschutz gewährt werden müssen. Gleiches gilt für Bahnbaustellen bei baubedingten Verschwenkungen von Trassen. Kommt es hingegen baubedingt ‚nur‘ zu Eingriffen in die Bestandstrasse und z.B. zur Umleitung von Zügen, ist zu prüfen, ob i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV ein wesentlicher baulicher Eingriff vorliegt und sich dadurch der Verkehrslärm um mindestens 3 dB(A) erhöht. Problemkreis 4: Grenzen zuverlässiger Prognosen Die AVV Baulärm sieht die Ermittlung der Beurteilungspegel durch Messung vor. Das zielt auf Schutzmaßnahmen ab, die erst während des bereits laufenden Bauvorhabens ergriffen werden können. Für die Planfeststellung ist das untauglich, weil es hier vorab zu prognostizieren gilt, welche Baulärmbelastungen auftreten. Diese Prognosen sind aber mit einem sehr hohen Maß an Fehlerrisiken versehen, so dass selbst die Prognose einer erwartbaren Bandbreite an Immissionen kaum möglich ist. Das hat mehrere Gründe: In der Planfeststellung kann kaum die Art der Baumaschinen festgelegt werden, die später zum Einsatz kommen. Die Details der bautechnischen Ausführung werden oft erst im Rahmen der Ausschreibung festgelegt bzw. sogar durch die anbietenden Baufirmen, da die DB Netz AG die Bauausführungsplanung zusammen mit der Bauleistung ausschreibt. Angesichts der erheblichen Zeiträume zwischen Planfeststellung und Baubeginn können im Ergebnis auch Bautechniken zum Einsatz kommen, die zum Zeitpunkt der Planfeststellung noch gar nicht bekannt waren. Die konkrete Bauausführung ist oft vom Baugrund abhängig sowie von den statischen Berechnungen und den Sicherheitsanforderungen an die Bauwerke, die nicht im Einzelnen vorab geplant werden können.64 Die Einsatzdauer und der genaue Einsatzort sowie die Zahl der eingesetzten Baumaschinen und der Einsatzzeitpunkt (nacheinander oder parallel) sind bei einer Großbaustelle nicht vorherzusagen.
___________ 64
Instruktiv dazu: Freystein, Erfahrungen aus sieben Jahren Bauaufsicht des EBA, in: Ronellenfitsch/Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts VII, Hamburg 2002, 81 (83).
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Die durchschnittliche tägliche Betriebsdauer einer Baustelle ist nach Nr. 6.7.1 der AVV Baulärm von erheblicher Bedeutung, weil über einen Zeitkorrekturfaktor bis zu 10 dB(A) vom Beurteilungspegel abzuziehen sind. Wie lange eine Baustelle täglich oder nachts betrieben wird, ist kaum vorhersagbar. Und was bedeutet durchschnittliche tägliche Betriebsdauer? Werden hier nur Tage gezählt, an denen überhaupt gearbeitet wird oder alle Werktage oder gar alle Tage einschließlich der Sonn- und Feiertage? Führen längere Baupausen – z.B. wegen Geldmangels oder Streitigkeiten der DB Netz AG mit den bauausführenden Firmen – zur Senkung des Belastungsdurchschnitts? Ist das prognostizierbar? Problemkreis 5: Umsetzbarkeit der Kontrollmessungen Die AVV Baulärm sieht in Nr. 6 ff. die Ermittlung der Beurteilungspegel durch Messung vor. Dies führt in der Praxis zu erheblichen Problemen, weil Baulärm gerade an Strecken unter Betrieb bei einer Messung nur schwer von den Hintergrundgeräuschen zu unterscheiden ist. Bei Großbaustellen bedürfte es angesichts der wechselnden Bauzustände über einen längeren Zeitraum einer Vielzahl von Messstellen. Parallel dazu müsste das Geschehen auf der Baustelle per Video überwacht werden, um bei der Auswertung der Messungen die Werte eindeutig bestimmten Bauvorgängen oder anderen Lärmquellen zuordnen zu können. Man stelle sich also den Stuttgarter Talkessel vor, gespickt mit hunderten von Messanlagen und Kameras, sowie die unzähligen Gutachter, die bei der Auswertung die gefilmten Vorgänge den Messergebnissen zuordnen, um anschließend den Baulärm aus dem Gesamtlärm herauszufiltern. Nur so könnten der Lärm einzelner Baumaßnahmen bewertet und dafür Schutzmaßnahmen konzipiert werden. Dies ist aber praktisch nicht umsetzbar. Problemkreis 6: Baustellenverkehre Zur Baustelle gehört zweifelsohne auch der auf der Baustelle, Baustraße oder Baustelleneinrichtungsfläche abgewickelte Verkehr, vor allem mit Transport-LKW einschließlich der Be- und Entladegeräusche.65 Dieser Lärm wird dem Baulärm zugerechnet und nach AVV Baulärm beurteilt. Nicht zur Baustelle gehört dagegen der Verkehr mit Baumaschinen, insbesondere LKW, auf öffentlich gewidmeten Verkehrswegen. Die Aussage, zur Baustelle gehöre auch der Verkehr in deren „unmittelbarer Nachbarschaft“,66 ist in dieser Pauschalität heute nicht mehr richtig. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in einigen früheren Entscheidungen zur alten TA Lärm den Verkehr auf öffentlichen Straßen im näheren Umfeld einer Anlage derselben zugerechnet, wenn er wesentlich durch sie verursacht, ihr zuzuordnen und vom üb___________ 65
Bodanowitz, a.a.O., S. 2351. Bodanowitz, a.a.O., mit einigen älteren Rechtsprechungsnachweisen; unpräzise von einem „funktionalen Zusammenhang sprechend“ auch Barner, a.a.O., S. 376. 66
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rigen Straßenverkehr unterscheidbar war.67 Die zitierte Entscheidung erging jedoch vor Inkrafttreten der neuen TA Lärm 1998, die im Gegensatz zur alten TA Lärm erstmals ausdrücklich in Nr. 7.4 eine Regelung zur Bewertung des anlagenbezogenen Verkehrs auf öffentlichen Straßen enthält. Dort wird klargestellt, dass maßgebliche Beurteilungsgrundlage für diesen Lärm die 16. BImSchV bleibt. Entsprechend § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV fordert auch Nr. 7.4 der TA Lärm eine Erhöhung des Verkehrslärms um mindestens 3 dB(A), damit Maßnahmen nötig werden. Hieraus ergibt sich, dass der Verkehrslärm separat vom Anlagenlärm beurteilt wird. Gegenüber der 16. BImSchV enthält Nr. 7.4 der TA Lärm nur insoweit eine Minderung der Anforderungen, als es keines erheblichen baulichen Eingriffs an der Straße bedarf, sondern eben der Bau der Anlage zuzüglich des 3 dB(A)-Kriteriums ausreicht. Werden Baustellenverkehre durch Wohngebiete mit einer geringen Verkehrsdichte geführt, um an die Bahntrasse und die Baustelle zu gelangen, kann das 3-dB(A)-Kriterium durchaus erfüllt sein. Da die AVV Baulärm noch keine der Nr. 7.4 der TA Lärm entsprechende Regelung zur Behandlung des vorhabenbedingten Verkehres auf öffentlichen Straßen im Umfeld von 500 m um das jeweilige Vorhaben herum beinhaltet, könnte man die analoge Anwendung der Nr. 7.4 der TA Lärm erwägen.68 Dagegen spricht aber wiederum der Anwendungsausschluss in Nr. 1 lit. f) der TA Lärm und die Bestätigung der unveränderten AVV Baulärm durch den Gesetzgeber 2005. So bleibt noch der direkte Rückgriff auf die 16. BImSchV. Dieser ist möglich, wenn die öffentlichen Straßen im Umfeld der Baustelle zum Zwecke der Abwicklung des LKW-Baustellenverkehrs ertüchtigt werden müssen und darin ein erheblicher baulicher Eingriff i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 der 16. BImSchV liegt.69 Zu erwägen ist auch eine analoge Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 der 16. BImSchV im Fall der wesentlichen Funktionsänderung z.B. von einer Anwohnerstraße zur Baustellenerschließungsstraße. In Nummer 28 der Verkehrslärmschutzrichtlinien 97 ist dieser Fall geregelt: „Wird durch eine bauliche Maßnahme eine Straßenverbindung zu einer bereits vorhandenen Straße hergestellt und ändert sich hierdurch die Verkehrsfunktion der vorhandenen Straße grundsätzlich (durch Öffnung oder Anbindung werden Sackgasse bzw. reine Anliegerstraße zur Hauptdurchgangsstraße), so erstreckt sich der Schall-
___________ 67
Grundlegend dazu die Entscheidung zum Kurhausparkplatz Bad Aibling, BVerwG, Urt. vom 27.8.1998, 4 C 5/98, Juris-Leitsatz 2 und Rdnr. 37. 68 Dafür: Michler, a.a.O., III. 1. 69 In dieser Richtung auch VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 11.2.2004, 5 S 402/03, Juris-Leitsätze 6 und 7 sowie Rdnr. 82 ff. zum Abtransport des Ausbruchs für den Katzenbergtunnel durch LKW. Der VGH knüpft allerdings an § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG an und gelangt von dort zu § 1 der 16. BImSchV. Mangels erheblichen baulichen Eingriffs und mangels Überschreitung des 3 dB(A)-Kriteriums lehnt er Lärmschutz für den Kläger ab.
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schutzbereich auf den baulich nicht veränderten Streckenabschnitt bis zu der nächsten Verknüpfung mit einer nicht nur untergeordneten Straße (Bundes-, Landes-, Kreis- oder Gemeindeverbindungsstraße), wobei die Verknüpfung selbst nicht miteinbezogen ist. Eine derartige Funktionsänderung liegt nicht vor, wenn durch den Bau einer neuen Ein- oder Anschlussstelle eine (auch erhebliche) Verkehrssteigerung auf der bestehenden Straße eintritt.“70
Dieser Gedanke lässt sich auf den Fall übertragen, dass Anwohnerstraßen bisher an der Bahnlinie enden (Sackgassen), aufgrund der dahinter liegenden Baustelle aber zur Durchfahrtsstraße für LKW werden. Ein Indiz dafür können auch bauliche Eingriffe zur Ertüchtigung dieser Straßen sein, selbst wenn sie nicht die Erheblichkeitsschwelle erreichen. Nach Ansicht des Verfassers ist deshalb in solchen Fällen eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV möglich. Unbenommen bleibt es den örtlichen Straßenverkehrsbehörden straßenverkehrsrechtliche Anordnungen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm zu erlassen, wie z.B. Tonnagebeschränkungen